Europa und Erinnerung: Erinnerungsorte und Medien im 19. und 20. Jahrhundert 9783839448762

Wie wird kollektive Erinnerung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts geschaffen? Die Beiträger_innen des Bandes zeigen

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German Pages 260 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. ,Meistererzählungen‘: Europa und Erinnerung
Wyld’s Great Globe
Die Bastille
Vom Hochverräter zum Leitbild
August 1914
Fremdenlegion postkolonial
II. Gewalterzählungen: Zivilisationsbruch und Erinnerung
Armenien und die visuelle ‚Erfindung‘ der Überlebenden im frühen 20. Jahrhundert
Das sandige Gelände von Babij Jar
Der kleine Junge aus dem Warschauer Ghetto
Adolf Eichmann hinter Glas
III. Nachkriegserzählungen: Verarbeitung und Erinnerung
Die Rote Flagge auf dem Reichstag
Gegendenkmäler
Atombombe
Auswahlbibliografie
Danksagung
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Europa und Erinnerung: Erinnerungsorte und Medien im 19. und 20. Jahrhundert
 9783839448762

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Alexandra Przyrembel, Claudia Scheel (Hg.) Europa und Erinnerung

Histoire  | Band 159

Alexandra Przyrembel (Prof. Dr.), geb. 1965, leitet den Arbeitsbereich Geschichte der Europäischen Moderne der FernUniversität in Hagen. Claudia Scheel (M.A.), geb. 1966, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Geschichte der Europäischen Moderne der FernUniversität in Hagen.

Alexandra Przyrembel, Claudia Scheel (Hg.)

Europa und Erinnerung Erinnerungsorte und Medien im 19. und 20. Jahrhundert

Die Drucklegung wurde unterstützt durch das interne Forschungsförderprogramm der FernUniversität in Hagen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Wyld’s Great Globe, erschienen in: Illustrated London News 7 June, 1851. Gemeinfrei. Online verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Georama#/media/File:Great_Globe.png, [12.7.19]. Lektorat: Claudia Scheel, Paula Stöckmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4876-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4876-2 https://doi.org/10.14361/9783839448762 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung: Erinnerungsorte als Konfliktgeschichte

Alexandra Przyrembel und Claudia Scheel | 7

I. ,Meistererzählungen‘: Europa und Erinnerung Wyld’s Great Globe: Weltausstellungen im 19. Jahrhundert

Claudia Scheel | 27 Die Bastille: Ein Erinnerungsort revolutionärer Demokratie

Wolfgang Kruse | 47 Vom Hochverräter zum Leitbild: Wallenstein im Museum

Arthur Schlegelmilch | 63 August 1914: Aufbruch in das Katastrophenzeitalter

Wolfgang Kruse | 83 Fremdenlegion postkolonial

Lucas Hardt | 97

II. Gewalterzählungen: Zivilisationsbruch und Erinnerung Armenien und die visuelle ‚Erfindung‘ der Überlebenden im frühen 20. Jahrhundert

Alexandra Przyrembel | 123 Das sandige Gelände von Babij Jar

Alexandra Przyrembel | 141

Der kleine Junge aus dem Warschauer Ghetto

Florian Gregor | 153 Adolf Eichmann hinter Glas

Catherine Davies | 173

III. Nachkriegserzählungen: Verarbeitung und Erinnerung Die Rote Flagge auf dem Reichstag: Der 8. Mai 1945

Saskia Geisler | 189 Gegendenkmäler: Umstrittene Kriegserinnerungen

Arndt Neumann | 207 Atombombe: Erinnerungsort des Kalten Krieges

Sibylle Marti | 227

Auswahlbibliografie | 243 Danksagung | 257

Einleitung Erinnerungsorte als Konfliktgeschichte Alexandra Przyrembel und Claudia Scheel

Im April 2019, als diese Einleitung entstand, brannte Notre Dame – eines der zentralen Wahrzeichen von Paris. Die Bilder der in Flammen stehenden Kathedrale gingen innerhalb von wenigen Minuten um die ganze Welt. Gerade in diesem Jahr erscheint Frankreich angesichts der Straßenproteste durch die Gilets jaunes und in Anbetracht der in den letzten Jahren verübten Terror-Anschläge besonders zerrissen.1 Dieser Riss, der die französische Gesellschaft durchzieht, zeigt sich schon an dem Disput über die Restaurierung der gotischen Kathedrale aus dem 12. Jahrhundert: dem „Spendenwettstreit“, der um die Wiederherstellung des katholischen Symbols entbrannte.2 Bereits Pierre Nora, Erfinder des Konzeptes der Erinnerungsorte, sah in dem katholischen Wahr-

1

Der Anschlag gegen Charlie Hebdo wurde im November 2015 verübt. Auf dem Cover vom 18.4.2019 zeigt das Magazin die flammenden Türme und spielt ironisch auf die notwendigen Reformen an, vgl. https://charliehebdo. fr/ [14.5.2019].

2

Christian Schubert, Spendenwettstreit nach dem Schock, FAZ vom 16.4.2019, unter: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/feuer-in-notre-damespendenwettstreit-fuer-den-wiederaufbau-16143736.html [14.5.2019].

8 | Alexandra Przyrembel und Claudia Scheel

zeichen eines der repräsentativen Beispiele, das als „Gedächtnisvehikel“ Wirkungskraft für die „Herausbildung der politischen Identität Frankreichs“ entfaltete: So sind das Erscheinen des Romans Der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts oder auch die Auseinandersetzungen um die Haltung der Katholiken unter dem Vichy-Regime als wichtige Stationen dieser Konfliktgeschichten über eines der zentralen Wahrzeichen der französischen Metropole zu deuten.3 Mehrere Jahrzehnte, nachdem der französische Historiker Pierre Nora den Begriff der Lieux de mémoire geprägt hatte, um die Herausbildung eines gemeinsamen „kommemorativen Erbes“ von Gemeinschaften zu beschreiben, hat sich der Begriff der Erinnerungsorte zu einer Leitkategorie der Geschichtswissenschaft entwickelt.4 Kaum ein Begriff, allein möglicherweise die Ansätze der Globalgeschichte, erlebte im letzten Jahrzehnt in der Geschichtswissenschaft eine derartige Konjunktur.5 Dies mag der Fluidität wie der gleichzeitigen Griffigkeit des Begriffes geschuldet sein, dem gerade in seiner deutschen Übersetzung – Erinnerungsort – eine materielle und in erster Linie topographische Dimension innewohnt. Denn der Begriff des Erinnerungsortes

3

Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Aus dem Französischen von Wolfgang Kaiser, Berlin 1990, S. 7; Sylvie Goutas, Allégorie de la charité dans la peinture et le roman français du XIXe siècle: charité d’Esmeralda dans Notre-Dame de Paris de Victor Hugo, in: NineteenthCentury French Studies 46 (2017), S. 26-41; Frederic Le Moigne, 19441951: Les deux corps de Notre-Dame de Paris, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 78 (2003), S. 75. Lissette Lopez Szwydky, Victor Hugo’s Notre‐ Dame de Paris on the Nineteenth‐Century London Stage, in: European Romantic Review 21 (2010), S. 469-487.

4

Nora, From Lieux de mémoire to Realms of Memory, XXIV; siehe auch: Siebeck, Cornelia, Erinnerungsorte, Lieux de Mémoire, 2017, online verfügbar unter http://docupedia.de/zg/Siebeck_erinnerungsorte_v1_de_2017 [14.5.2019].

5

Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013.

Einleitung | 9

wird – dem Nora’schen Konzept widersprechend – oftmals synonym mit anderen Orten des Gedenkens (wie Mahn- oder Gedenkstätten) verwendet. In der deutschen Übersetzung des Konzeptes wird dessen Popularisierung sowie seine Überschneidung mit Phänomenen der ,angewandten Geschichte‘ (Public History) besonders deutlich.6 Beeinflusst durch die Arbeiten des französischen Soziologen Maurice Halbwachs zum ,kollektiven Gedächtnis‘ und ausgehend von der Vorstellung, die Wahrnehmung einer gemeinsamen Geschichte verdichte sich in deren besonders exponierten Kristallisationspunkten, hatte sich Nora zum Ziel gesetzt, zentrale Aspekte dieses kulturellen Gedächtnisses Frankreichs exemplarisch am Beispiel der Erinnerungsorte freizulegen.7 Mit seinen drei Bänden zu den Lieux de mémoire verfolgte Nora ein spezifisches Forschungs- und Publikationsprogramm: Die von ihm herausgegebenen Sammelbände umfassten immerhin weit mehr als hundert Erinnerungsorte und entpuppten sich als Publikumserfolg.8 Dies mag auch dem Sachverhalt geschuldet sein, dass der französische Historiker in Frankreich über den engeren Zirkel der akademischen Zunft hinaus bekannt ist. Mit den Lieux de mémoire verfolgte Nora das Ziel,

6

Einen Überblick über das Konzept der Public History geben: Irmgard Zündorf, Zeitgeschichte und Public History, online verfügbar unter: http://docupedia.de/zg/Zuendorf_public_history_v2_de_2016 [14.5.2019].

7

Vgl. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1965 (Original Paris 1950) und Ders.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985 (Original Paris 1925). Siehe auch Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2000 und Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.

8

Die drei Teile der unter der Leitung von Pierre Nora herausgegebenen Lieux de mémoire behandeln La République (1984), La Nation (1986) und Les France (1993).

10 | Alexandra Przyrembel und Claudia Scheel

„an die Stelle einer allgemeinen, thematischen, chronologischen oder linearen Untersuchung eine in die Tiefe gehende Analyse der Orte – in allen Bedeutungen des Wortes – zu setzen, in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat.“ 9

Bei dem Begriff der Erinnerungsorte handelt es sich demnach um eine Metapher, um ein analytisches Instrument, mit denen die Tiefenschichten nationaler Erinnerung über einen längeren Zeitraum freigelegt werden sollen. Das Konzept der Erinnerungsorte zirkulierte international. 10 Doch waren es vor allem deutsche Historiker11, die das Forschungsprogramm Noras auf die Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert übertrugen. Die Herausgeber der deutschen Erinnerungsorte definierten diese als „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität“, deren Geschichte und historische Entwicklung zu loci memoriae aufgezeigt werden sollten. Von Anfang an stand fest, dass Noras Ansatz nicht ohne Probleme auf die deutsche Geschichte übertragen werden konnte. Dies ist einerseits der Erfahrung der Shoah geschuldet, die nach 1945 auf den unterschiedlichsten Ebenen in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften gegenwärtig war. In wissenschaftshistorischer Hinsicht drückte sich diese Arbeit am Gedächtnis in einem wachsenden Interesse an dem Konzept der Erinnerungskultur aus, die neben einem kulturwissenschaftlichen Fokus (vertreten durch Aleida und Jan Assmann) mit den Arbeiten der Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich auch einen psychoanalytischen Ansatz verfolgten. 12

9

Nora, Zwischen Gedächtnis und Geschichte, S. 7.

10 Zusammenfassend: Stefan Berger/William John Niven (Hg.), Writing the history of memory, London u.a. 2014. 11 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 12 Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern.

Einleitung | 11

Neben dem Erbe der Shoah sahen Hagen Schulze und Etienne François, die Herausgeber der Deutschen Erinnerungsorte, ihr Vorhaben, den Begriff des Erinnerungsortes als Ausgangspunkt einer Nationalgeschichtsschreibung zu wählen, ebenso gerahmt von der Geschichte der deutschen Teilung nach 1945.13 Die auf mehrere Bände angelegten Deutschen Erinnerungsorte mit ihren systematischen Zugängen – z.B. ,Volk‘, ,Zerrissenheit‘, ,Schuld‘ – unterstreichen die Komplexität des Forschungsprogramms einer Gedächtnisgeschichte entlang sich immer wieder neu „formierende(n) Konstellationen und Beziehungen“ vor dem Hintergrund der spezifisch ,deutschen‘ Rahmenbedingungen.14 Die Vielschichtigkeit dieses Forschungsprogramms zeigt sich so auch in den verhandelten Themen, die beispielsweise unter dem Stichwort ,Erbfeind‘ versammelt sind: Anhand der Biografie von Joseph Süß Oppenheimer, der vor allem aufgrund des antisemitischen Films Jud Süß im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Ikone des Antisemitismus wurde, werden die Verflechtungen von Stereotypen-Forschung und Erinnerungsorten aufgezeigt.15 Der Fall des Joseph Süß Oppenheimer ist übrigens als eines der wenigen Beispiele zu bezeichnen, in dem die Konstruktions- und Wirkungsgeschichte jenseits der Essayform über einen längeren Zeitraum untersucht wurde. Dabei wurde bereits auf die Bedeutung unterschiedlichster Medien (wie Flugschriften, Romane, Theaterstücke, Filme und nicht zuletzt Prozessakten)

Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 2004; Jan und Aleida Assmann (wie Anmerkung 7). 13 Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bände, München 2001. Vgl. Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: Ders. (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11-27. 14 Etienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 9-24. 15 Siehe den Beitrag Jud Süß von Na’ama Sheffi, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, S. 422-437.

12 | Alexandra Przyrembel und Claudia Scheel

verwiesen, die ,Jud Süß‘ zu einer ikonischen Figur des Antisemitismus seit dem frühen 18. bis in das späte 20. Jahrhundert machten.16 Aus der Überzeugung heraus, deutsche Geschichte und deutsche Gedächtniskulturen ließen sich nur in einem europäischen Zusammenhang erfassen und verstehen, führten Schulze und François den Begriff der ,geteilten Erinnerungsorte‘ ein.17 Das Anliegen, mit der Auswahl der Begriffe und Kategorien auch die „gegenseitige Anerkennung und Zusammenführung von gegensätzlichen Gedächtniskulturen“ in den zuvor geteilten deutschen Staaten zu fördern (eine Problematik, die aufgrund des ,Eisernen Vorhangs‘ als eine gesamteuropäische gelten kann), wurde durch eine dominierende westdeutsche Perspektive relativiert.18 Noch ambitionierter als die Suche nach repräsentativen Strängen von ,deutschen‘ Erinnerungsorten ist der Versuch, gemeinsame Kristallisationspunkte der Gedächtnisbildung für die ,europäische‘ Geschichte herauszuarbeiten. Gerade angesichts der politischen Kontroversen um

16 Barbara Gerber, Jud Süß: Aufstieg und Fall im frühen 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung, Hamburg 1990. 17 Vgl. François: Auf der Suche nach europäischen Erinnerungsorten, in: Helmut König et al. (Hg.), Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008, S. 90. Unter

geteilten

Erinnerungsorten

sollen

die

„materiellen

bzw.

immateriellen Orte [verstanden werden, CS], die eine symbolische Schnittstelle zwischen zwei Kulturräumen darstellen, die aber für diese benachbarten

Länder

und

ihre

Gedächtniskulturen

gleichermaßen

bedeutend sind.“ Ebd. 18 François/Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, S. 11. Vgl. Rezension von Christoph Cornelißen in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 2, online verfügbar: http://www.sehepunkte.de/2003/02/2200.html

[14.5.2019].

Folgerichtig

erschien 2009 ein eigener Band mit Erinnerungsorten der DDR. Ferner liegen für den deutschsprachigen Raum Publikationen jüngeren Datums zu kolonialen, regionalen oder lokalen Erinnerungsorten vor.

Einleitung | 13

die Einwanderung nach Europa im Jahr 2015 und das britische Votum für einen Ausstieg aus der Europäischen Union ist die Frage nach einer gemeinsamen Geschichte ein besonderes Politikum. Das Ringen um eine gemeinsame europäische Identität, die ihre Legitimität auch über eine gemeinsame Geschichte erfährt, hat eine lange Vorgeschichte. Schon Johann Gottfried Herder zweifelte in seinem Essay Über Denkmale der Vorwelt aus dem Jahr 1792 an der Existenz gemeinsamer ,europäischer‘ Gründungsmythen und unterstrich mit seinem Ausspruch gleichzeitig die Präsenz orientalischer Deutungshorizonte: „Kein Europäisches Band vermag die Völker zu binden, wie z.B. die Indier an ihren Ganga, an ihre heiligen Örter und Pagoden gebunden sind.“19 Vermutlich sollte ein solches ,europäisches‘ Projekt stärker noch die Bedeutung sozialer Schichten für die Konstruktion von Erinnerungsorten herausarbeiten. Kurzum: Wenn in dem vorliegenden Band also von ,Europa und Erinnerung‘ die Rede ist, so soll hier nicht eine gemeinsame Geschichte entlang spezifischer Erinnerungsorte konstruiert werden. Wir wollen in den hier versammelten Bild-Geschichten vielmehr drei Aspekte herausarbeiten, die bisher in den vorliegenden Sammelbänden zu den Erinnerungsorten nicht bzw. allenfalls untergeordnet behandelt wurden. Es scheint ein Allgemeinplatz zu sein, dass ein Erinnerungsort medial kommuniziert, erst ,geschaffen‘ und seine Wirkung wesentlich bestimmt wird durch die Form, in der er vermittelt wird: Medien sind keineswegs ,neutral‘, sondern sie haben eine materielle, soziale und letztlich ebenso performative Dimension.20 Obwohl alle wegweisenden Gedächtnistheorien (Halbwachs, Nora, Assmann)

19 Johann Gottfried Herder, Über Denkmale der Vorwelt, zit. n.: Pim den Boer/Heinz Durchhardt/Georg Kreis, Einleitung, in: Pim den Boer et al. (Hg.), Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, S. 7-12, hier S. 8. Zum globalhistorischen Kontext siehe: Sebastian Conrad, Enlightenment in Global History: A Historiographical Critique, in: The American Historical Review 117 (4/2012), S. 999-1027. 20 Ebd., S. 57.

14 | Alexandra Przyrembel und Claudia Scheel

die ,Medialität‘ des kollektiven Gedächtnisses betonen, wurde dem Zusammenspiel von Medien und Erinnerungsorten sowie den auch hierüber hergestellten Transformationsprozessen nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.21 Aufgrund ihrer Medialität ,wandern‘ Erinnerungsorte von einem Genre zum nächsten: Die Bilder von Eichmann in Jerusalem, so der Titel von Hannah Arendts Berichten über den Prozess, entfalteten ihre Wirkung aufgrund der unterschiedlichen Medien, mit der die Figur des Schreibtischtäters geschaffen wurde.22 Gerade dieses Fallbeispiel kann auch als Ausgangspunkt für den zweiten Aspekt herangezogen werden: Die Konstruktion von Erinnerungsorten bzw. deren zeitweiliges Verschwinden sind oftmals Ergebnis gesellschaftlich ausgehandelter Konflikte. 23 Gerade der in Zeitungsartikeln oder auch in Leserbriefen geführte Streit über Arendts Prozessschilderungen zeigt, dass Erinnerungsorte oftmals über Konflikte konstituiert werden. In diesem Fall wird die grundsätzliche moralische Frage verhandelt, wer die Massenverbrechen des NS-Regimes verübte. Die Debatte hierüber hatte spezifische nationale Kontexte, sie wurde in Israel anders geführt als in der Bundesrepublik oder in den Vereinigten Staaten. Der dritte Aspekt ist wiederum verknüpft mit dem Aushandlungsprozess, der mit der Konstituierung von Erinnerungsorten entlang von Konfliktgeschichten verbunden ist: Sie können einhergehen mit Phasen oder Praktiken des Verschwindens, Schweigens oder auch des NichtWissens. Für dieses Phänomen wurde in der Kolonial- und Wissensge-

21 Ebd. 22 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. A report of the banality of evil, London 1963. 23 Claus Leggewie, Europas geteilte Geschichte. Am Beispiel des Erinnerungskonfliktes um ,Aljoscha‘, in: Stefan Berger/Joana Seiffert, Erinnerungsorte. Chancen, Grenzen und Perspektiven eines Erfolgskonzeptes in den Kulturwissenschaften, Essen 2014, S. 229-247.

Einleitung | 15

schichte der Begriff ,Agnotology‘ gefunden.24 Dieser Begriff zielt auf das Verschwinden von Wissensbeständen ab. Wir argumentieren, dass Erinnerungsorte immer wieder neu verhandelt werden. Dieses Phänomen kann beispielsweise an dem eingangs erwähnten Hofjuden Joseph Süß Oppenheimer in besonderer Weise verdeutlicht werden: Nachdem die Figur des ,Jud Süß‘ im frühen 18. Jahrhundert zum Medienereignis geworden war, versandete die Erinnerung an ihn im Laufe des 19. Jahrhunderts, um dann während der Weimarer Republik und der NSZeit wieder seine mediale Wirkung zu entfalten.25 Im Zentrum der Essays dieses Bandes stehen die folgenden Fragenbündel, die in unterschiedlicher Akzentuierung aufgegriffen werden: Lassen sich bestimmte Ereignisse festmachen, über die eine gemeinsame ,europäische‘ Erinnerung über nationale Kontexte hinweg geschaffen wird? Veränderte sich die Wahrnehmung bestimmter Erinnerungsorte im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts? Und welche Rolle hatten Medien (und hier vor allem Fotografien) für den Deutungswandel von Erinnerungsorten? In Anknüpfung an Shmuel Eisenstadt gehen wir für diesen Zeitraum von der Vielfalt der europäischen Moderne aus, wobei Medien bzw. ihre Rezeption oftmals beschleunigend wirkten.26

24 Londa Schiebinger, Agnotology and Exotic Abortifacients: The Cultural Production of Ignorance in the Eighteenth Century Atlantic World, in: Proceedings of the American Philosophical Society 149 (2005), S. 316-343. 25 Alexandra Przyrembel/Jörg Schönert (Hg.), „Jud Süß“: Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild, Frankfurt am Main 2006. 26 Zusammenfassend: Shmuel Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den „Multiple Modernities“, 2006, http://www.europa.clio-online.de/2006/Article=113 [14.5.2019].

16 | Alexandra Przyrembel und Claudia Scheel

BILD-GESCHICHTEN: ERZÄHLUNGEN ÜBER ERINNERUNGSORTE IM (EUROPÄISCHEN) 19. UND 20. JAHRHUNDERT Das Konzept des Erinnerungsortes bewegt sich mit den Erinnerungskulturen, der Mediengeschichte, der Public History sowie der ,klassischen‘ Kultur- und Sozialgeschichte an der Schnittstelle unterschiedlicher Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft. Für die in den vorliegenden Essays verhandelten Bild-Geschichten stellt der ,iconic turn‘ einen der zentralen Ausgangspunkte dar. Nachdem die Geschichtswissenschaft Bilder vornehmlich dokumentarisch verwandte, leitete der ,iconic turn‘ auch unter Historikern einen Perspektivenwechsel hinsichtlich eines kritischen Umgangs mit Bildquellen ein.27 Dabei erwies sich der Begriff des „aktiven Bildes“, den der Kunsthistoriker Horst Bredekamp prägte, als anregend. Dieser zielt auf die „reagierende wie gestaltende“ Wirkung von Bildern ab.28 Allein dieses Forschungsprogramm erweist sich als äußerst ambitioniert. Aus sozialund medienhistorischer Perspektive müsste neben der Rekonstruktion von Wirkungszusammenhängen ebenso die spezifische Entstehungsgeschichte wie die konkreten Distributionswege herausgearbeitet werden. Technische Innovationen (wie die Erfindung der Telegrafie oder des

27 Gerhard Paul (Hg.), BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013; siehe auch die kritische Fallanalyse des berühmten Vietnam-Fotos: Gerhard Paul, Die Geschichte hinter dem Foto. Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg, in: Zeithistorische Forschungen (2005), S. 224-245, online abrufbar unter: http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2005/id=4632 [14.5.2019]. 28 Horst Bredekamp, Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 1, Mainz 2004, S. 29-66, zit. n. Gerhard Paul, Visual History, online verfügbar unter: https://docupedia.de/zg/Visual_History_Version_3.0_Gerhard_Paul [30.4.2019].

Einleitung | 17

World Wide Web) oder auch die Professionalisierung beispielsweise der Fotografien im Rahmen von Bildagenturen gestalten die Distribution und Zirkulation ,medial‘ kommunizierten Wissens durch Fotografien.29 Das Wissen über die Gewalt, die gegenüber der armenischen Bevölkerung ausgeübt wurde, verbreitete sich auch aufgrund des Fortschritts in der Telegrafie global.30 Angesichts der Vielzahl der in Frage kommenden Topoi muss die Auswahl der Bild-Geschichten über Erinnerungsorte bruchstückhaft erscheinen. Im Zentrum der Bild-Geschichten dieses Sammelbandes stehen zwölf Essays, die in einer chronologischen Abfolge angeordnet sind. Gleichzeitig wird mit der Struktur die These vertreten, dass die ,extreme Gewalt‘ gegenüber der armenischen Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Kontext der Shoah einen ,Zivilisationsbruch‘ markierte. In einem ersten Teil Meistererzählungen sind diejenigen Essays versammelt, die in ihren Texten die Geschichte der europäischen Moderne kritisch aufnehmen. Ausgehend von der ersten Londoner Weltausstellung über die nationalistische Wirkungsgeschichte des Kriegshelden Wallenstein im 19. Jahrhundert bis hin zur postkolonialen Erzählung über die Fremdenlegion in den späteren Dekaden des 20. Jahrhunderts umspannen die fünf Beiträge, die unter diesem Titel vereint sind, ganz unterschiedliche Konfliktgeschichten. Der begehbare Globus, der eine der Hauptattraktionen der ersten Weltausstellung im Jahr 1851 war und der zum viel zitierten Symbol für den Imperialismus des 19. Jahrhunderts wurde, markiert einen der zentralen zeitlichen Fix-

29 Annelie Ramsbrock/Annette Vowinckel/Malte Zierenberg (Hg.), Fotografien im 20. Jahrhundert. Verbreitung und Vermittlung, Göttingen 2013; Annette Vowinckel, Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016. 30 Ute Daniel/Axel Schildt, Einleitung, in: Ute Daniel/Axel Schildt (Hg.), Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 9-34.

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punkte europäischer ,Meistererzählungen‘.31 Claudia Scheel zeigt in ihrem Beitrag, dass insbesondere Wyld’s Great Globe ein im 19. und 20. Jahrhundert häufig imitiertes Medien-Spektakel darstellt, der mit dem frühen Verweis auf koloniale Großmachtphantasien die ,Ambivalenz‘ der europäischen Moderne markiert. Wie kaum ein zweites Ereignis verdichtete der Sturm auf die Bastille den Aufbruch der Französischen Revolution. Wolfgang Kruse arbeitet in seinem Beitrag heraus, wie die Rezeption des Sturms auf die Bastille am 14. Juli 1789 bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 zu einem transnationalen Erinnerungsort und zum Sinnbild der Revolution in Europa par excellence wurde. Gewiss ist es kein Zufall, dass drei Beiträge die mediale Ikonografie von Krieg und seinen Helden als Erinnerungsorte des (europäischen) 19. und 20. Jahrhunderts analysieren. Von der historischen Forschung als ,Urkatastrophe‘ bezeichnet, markiert gerade der Erste Weltkrieg einen Wendepunkt in der Geschichte der europäischen Moderne. Ausgehend von der (vermeintlichen) Kriegsbegeisterung, die sich im August 1914 in Deutschland verbreitete, dekonstruiert Wolfgang Kruse eine Fotografie, die Adolf Hitler angeblich inmitten einer begeisterten Masse auf dem Münchener Odeonsplatz zeigt. Denn weder erwies sich die Kriegseuphorie als allumfassend noch ist die Anwesenheit Hitlers auf dem Platz tatsächlich überliefert. Ausgehend von Wallenstein, dem legendären Feldherren des Dreißigjährigen Krieges, untersucht Arthur Schlegelmilch dessen national umkämpfte Erinnerungsgeschichte, wie sie im Streit über die Wallenstein-Statue im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien zum Ausdruck kommt. Und schließlich markieren auch die Filme über die Fremdenlegion, über die Männlichkeit und Postkolonialismus im Kontext der Dekolonisation

31 Konrad H. Jarausch, Die Krise der nationalen Meistererzählung. Ein Plädoyer für plurale, interdependente Narrative, in: Historical Research Supplement 24, (2012), S. 273-291.

Einleitung | 19

ausgetragen werden, eine Konfliktgeschichte.32 Alle Beiträge betonen die intermedialen Bezüge, die zwischen der visuellen Repräsentation des jeweiligen Erinnerungsortes und anderen Formen der medialen Darstellung (der Ausstellung, dem Museum, dem Roman oder auch dem Film) bestehen. Der zweite Teil Gewalterzählungen versammelt jene Beiträge, in denen über Extremformen der Gewalt nachgedacht wird. So arbeitet Alexandra Przyrembel in ihrem Beitrag heraus, dass das Wissen über den Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915/16 angesichts neuer Distributionswege zeitnah zu den Verbrechen in globaler Dimension zirkulierte. Gleichzeitig bildete sich über die spezifische visuelle Darstellung der Opfer eine bestimmte Erzählung der Überlebenden heraus. Dieses Zusammenspiel von Wissen und Nicht-Wissen (-Wollen) über Extremformen der Gewalt während der Shoah thematisiert Alexandra Przyrembel in ihrem Beitrag über Babij Jar. Ausgehend von dem fotografisch dokumentierten Versuch der Nationalsozialisten, die Erinnerung an die Massenerschießung der jüdischen Zivilbevölkerung in Babij Jar im September 1941 auszulöschen, werden verschiedene Phasen, mediale Formen sowie künstlerische Ausdrucksformen der Gedächtnisarbeit vorgestellt, wie z.B. die Sinfonie Babi Yar des russischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch. Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass jenseits des Schweigens das Wissen über Babij Jar als Ort der Massenexekution des Holocaust im Umlauf war. Überhaupt spielte im Kontext des Gedenkens an den Holocaust die Ikonografie der Überlebenden eine besondere Rolle. Ausgehend von einer Fotografie eines Kindes aus dem Warschauer Ghetto untersucht Florian Gregor die unterschiedlichen (nationalen) Deutungslagen, die aus diesem Bild eines jüdischen Jungen einen der zentralen Erinnerungsorte und Ikonen des Holocaust werden lässt. Kom-

32 Zur Verflechtung zwischen Nationalsozialismus und Algerien am Beispiel Frankreichs vgl. Christoph Kalter, Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt am Main 2011, S. 143-195.

20 | Alexandra Przyrembel und Claudia Scheel

plementär zu dieser emblematischen Figur des Opfers ist das Bild Adolf Eichmanns im Glaskasten, in dem der ehemalige SSObersturmbannführer während seines Jerusalemer Prozesses zu Beginn der 1960er Jahre saß. Gerade dieser Prozess war angesichts des Bildes des ,normalen‘ Bürokraten und Schreibtischtäters, das Hannah Arendt mit ihren Berichten für den New Yorker gezeichnet hatte, umkämpft. In ihrem Beitrag rekonstruiert Catherine Davies diese moralische Dimension von Eichmann als Erinnerungsort, die mit zunehmendem zeitlichem Abstand und der Aufnahme durch die populäre Kultur (wie etwa dem Film) zu Ehren der Figur des Überlebenden an Bedeutung zu verlieren scheint. Im dritten Teil Nachkriegserzählungen sind schließlich Beiträge enthalten, die auf das Kriegsgeschehen und die Gegenwart von Kriegsgefahr im Nachkriegseuropa abheben. Dabei arbeiten alle drei Essays die Inszenierung bzw. die Komposition der Fotografie respektive des Denkmals heraus. So zeigt Saskia Geisler in ihrem Beitrag, dass es sich bei der berühmten Fotografie Das Hissen der Roten Flagge auf dem Reichstag von Jewgeni Chaldej vom Mai 1945 um eine Komposition des Künstlers handelt. Gerade diese Fotografie hat sich als Erinnerungsort der Kapitulation der Nationalsozialisten etabliert, nämlich als Sieg der Roten Armee. Auch der Beitrag von Arndt Neumann wendet sich nochmals den Erinnerungsorten des Zweiten Weltkrieges zu. In seinem Beitrag über Gegendenkmäler arbeitet er exemplarisch an der Diskussion über die Hamburger Debatte, die über das Kriegerdenkmal von 1936, das Gegendenkmal von 1985/1986 und den Gedenkort für Deserteure am Bahnhof Dammtor geführt wurde, die Verflechtung nationaler und lokaler Erinnerungsorte heraus. Auch dieser Beitrag unterstreicht noch einmal die Relevanz von Konfliktgeschichten, die prägend für die Konstruktion von Erinnerungsorten entlang der Achsen von Wissen und Nicht-Wissen wirken. Mit dem letzten Beitrag dieses Sammelbandes wird die globale Dimension von (europäischen) Erinnerungsorten, die bereits im ersten Kapitel über die Weltausstellungen im 19. Jahrhundert angeklungen war, aufgegriffen: In ihrem Beitrag über den Atompilz der Wasserstoffbombe Bravo, die im März 1954 von den

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Vereinigten Staaten im Pazifik gezündet worden war, zeigt Sibylle Marti auf, wie der rote Pilz zum archaischen Symbol wurde, mit dem sich die ,Kulturen der Angst‘ in den Nachkriegsgesellschaften verknüpften. Erinnerungsorte sind demnach, ob sie nun in lokalen, nationalen oder globalen Kontexten ausgetragen werden, emotional kodiert.

LOKAL, TRANSNATIONAL, GLOBAL: ERINNERUNGSORTE UND IHRE VERFLECHTUNGEN Die folgenden zwölf Essays über Erinnerungsorte verfolgen das Ziel, die Verflechtungen von Erinnerungsorten und Bildern für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts entlang gesellschaftlich verhandelter Konfliktgeschichten genauer in Beziehung zu setzen. Abschließend sei mit der globalhistorischen Perspektivierung ein zentraler Aspekt genannt, wie das Konzept der Erinnerungsorte als Konfliktgeschichte für das europäische 19. und 20. Jahrhundert genauer ausgelotet werden könnte. Anknüpfend an die Versuche, Erinnerungsorte in transnationaler bzw. (post-)kolonialer Perspektive zu verorten, könnte sich die globalhistorische Perspektivierung der Erinnerungskulturen als produktiv erweisen.33 Im Gefolge einer von vielen Historikern als notwendig erlebten De-Zentrierung der nationalen Geschichtsschreibung wurde 33 Als bedeutendes Forschungsfeld transnationaler Erinnerungskultur diente zunächst

vor

allem

Zentraleuropa

oder

auch

der

Ostsee-

und

Mittelmeerraum als nationenübergreifende Räume: Robert Traba/Hans Henning Hahn (Hg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Paderborn 20122015; Bernd Henningsen et al., Transnationale Erinnerungsorte: Nord- und südeuropäische Perspektiven, Berlin 2009; Jacques Le Rider et al. (Hg), Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck u.a. 2002. Ähnlich: Matthias Weber et al. (Hg.), Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven, München 2011.

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der Versuch unternommen, die Verflechtung von kolonialen Erfahrungen mit nationalen Erinnerungskulturen genauer in den Blick zu nehmen. Vor dem Hintergrund dieser Gegenwart des Kolonialen hat sich die Forderung nach einer (post-)kolonialen Erweiterung der national entworfenen Erinnerungsorte als eigener Forschungsansatz profiliert. 34 Noch in Noras französischen Erinnerungsorten, die immerhin mehr als hundert Einträge versammeln, findet sich kein Eintrag zur Kolonialvergangenheit Frankreichs und ihrer Verflechtungsgeschichte.35 Die aktuellen Debatten über die Rückerstattung kolonialer Objekte durch Museen oder auch die juristische Anerkennung des Völkermordes an den Herero und Nama dokumentieren die Gegenwart der kolonialen Vergangenheit. Dass diese Präsenz nicht allein auf die Sphäre des Politischen begrenzt ist, sondern auch in den Alltag hineinragt, wird durch die Forderung nach einer Umbenennung von Straßennamen unterstrichen, mit denen die Heroen des Kolonialismus einst gewürdigt wurden.36 Wenn allerdings die (Neu-)Justierung des Konzeptes ,Erinnerungsorte‘ eines der Ziele postkolonialer Geschichtsschreibung ist, so wäre doch konkreter nach einer Verflechtung von Geschichtsvorstellungen und Erinnerungskulturen zwischen Europa und den ehemaligen Kolonien zu fragen. In dieser Hinsicht wäre eine Berücksichtigung der Verarbeitung von Erinnerungen an den deutschen Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama wünschenswert, wie sie von Gesine Krüger in ihrer Studie Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein in Namibia

34 Jürgen Zimmerer, Kolonialismus und kollektive Identität: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, in: Ders. (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt am Main 2013, S. 9-37, hier S. 14. 35 Hinweise zur Debatte über Straßennamen Hamburgs bzw. Berlins finden sich u.a. bei Zimmerer, Kolonialismus und kollektive Identität, S. 10. 36 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw14-pa-kulturmedien-631622 [6.5.2019]. Siehe bereits Zimmerer, Kolonialismus und kollektive Identität, S. 9-37.

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bereits vor zwanzig Jahren vorgelegt wurde. 37 Gerade diese Konfliktgeschichten über den Ort der Kolonial- und Gewaltgeschichte zeigen, dass Erinnerungsorte immer wieder neu ausgehandelt werden und eng verknüpft sind mit Fragen von Geschichtsbewusstsein und dem Nachdenken über den Ort des Nationalen.38 Die Imagination von Erinnerungsorten als Teil von Gemeinschaften ist zudem eng verwoben mit den Kommunikationsformen der ,angewandten‘ Geschichte – sei es im World Wide Web, auf Twitter, im Film oder im Museum. 39 ,Doing history‘ ist somit eine bedeutende Dimension des Konstruktionsprozesses von Erinnerungsorten.40 Die Frage nach den gemeinsamen bzw. trennenden Erfahrungen jenseits des Eurozentrismus ist eine der zentralen Forderungen der Globalgeschichte. Eine globalhistorische Perspektivierung des Nora’schen Konzeptes bedeutet, das Konzept des Erinnerungsortes

37 Gesine Krüger, Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein: Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904 bis 1907, Göttingen 1999; siehe auch Holger Stöcker, Ein afrikanischer Dinosaurier in Berlin. Der Brachiosaurus branai als deutscher und tansanischer Erinnerungsort, in: WerkstattGeschichte 77 (2018), S. 65-83. 38 Patrick Schmidt, Zwischen Medien und Topoi: Die Lieux de mémoire und die Medialität des kulturellen Gedächtnisses, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 38; Christian Gudehus/ Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar 2010. 39 Siehe hierzu die sehr interessante Buchreihe des Wagenbach-Verlags: Wolfgang Ullrich, Selfies. Digitale Bildkulturen, Berlin 2019. 40 Zur Doing History siehe SarahWillner/Georg Koch/Stefanie Samida, Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur, Münster 2016.

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fundamentaler aus seinen europäischen Traditionen herauszulösen.41 Gerade bestimmte historische Ereignisse – wie beispielsweise der Terroranschlag, der im September 2001 auf das New Yorker World Trade Center durch das Terrornetzwerk Al-Qaida verübt wurde – könnten hier einen Ausgangspunkt darstellen, um die Beziehung auszuloten, die zwischen einem globalen Moment und seiner Wirkung als Erinnerungsort besteht.42 Wird also in dem vorliegenden Band ,Europa und Erinnerung‘ thematisiert, so stehen die Verflechtungen gemeinsamer Erfahrungen und gleichzeitig die Widersprüche und unterschiedlichen Konfliktlinien im Zentrum, mit denen Erinnerungsorte in ihren jeweiligen (trans-)nationalen Bezügen ausgehandelt werden. Ausgehend von einem Bild, meist einem Foto, erörtern die Beiträge dieses Bandes, wie Ikonografie und andere ,Gedächtnismedien‘ zusammenwirken, um Erinnerungsorte des 19. und 20. Jahrhunderts zu schaffen, zu verwerfen und ggf. wieder neu zu inszenieren. Dabei geht es „weder um Wiederauferstehung, noch um Rekonstruktion, nicht einmal um Darstellung, sondern um Wiedererinnerung“ der Erinnerungsorte als Konfliktgeschichten, die überdeckt, gezielt verschwiegen, vergessen oder inszeniert waren: sei es die Erinnerung an Babij Jar, an Eichmann in Jerusalem oder den Atompilz des Kalten Krieges.43

41 Richard Drayton/David Motadel, Discussion: the futures of global history, in: Journal of Global History 13, (2018), S. 1-21; Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2013. 42 Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019. 43 Pierre Nora, Wie lässt sich heute eine Geschichte Frankreichs schreiben?, in: Ders. (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2001, S. 15-23.

I. ,Meistererzählungen‘: Europa und Erinnerung

Wyld’s Great Globe Weltausstellungen im 19. Jahrhundert Claudia Scheel

Abb. 1: Eine Attraktion der ersten Weltausstellung in London war Wyld’s Great Globe. In: The Illustrated London News, 7. Juni 1851.1 1

https://de.wikipedia.org/wiki/Georama#/media/File:Great_Globe.png, [22.12.2015].

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„Ein riesiges, in seiner Weise mit nichts Anderem vergleichbares Bild wird sich den Blicken der erstaunten Welt in wenigen Tagen darstellen. England, das gewerbefleißigste Land der Erde […] hat alle Nationen der Erde zu dem großen Feste geladen, wo der Beschauer an der reichen Tafel schwelgen soll, welche der stets vorwärtsringende Menschengeist ihm bestellt hat, wo der Reichthum und die tausendfache Mannigfaltigkeit des Lebens sich in den Produkten spiegeln, die alle für den denkenden Betrachter den Stämpel des Klimas, der Sitten, der Gewohnheiten, des Bildungsgrades, der Eigenthümlichkeit, ja der Geschichte der Nationen tragen, aus der sie hervorgegangen.“ 2

Diese Worte sind einem deutschsprachigen Führer zur ersten Weltausstellung in London entnommen. Sie mögen für heutige Ohren umständlich und nur bedingt spektakulär klingen. Dennoch beschreiben sie auf prägnante Weise die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts. Angelegt als technisch-kunstgewerbliche Leistungsschau unterschieden sich diese von allen bis dahin bekannten Messen durch ihren Anspruch auf eine umfassende Darstellung der Welt, durch die Vermittlung von Weltbildern und imaginären Bildern der Welt. Dieses Konzept der ,Welt als Ausstellung‘ visualisiert sinnfällig der eingangs abgebildete Globus: Im Zentrum von Londons Vergnügungsviertel, mitten auf dem Leicester Square, befand sich ein Jahrzehnt lang der Great Globe des Geographen James Wyld. Ursprünglich für die Great Exhibition des Jahres 1851 entworfen, hatte das Kugelpanorama mit einem Durchmesser von mehr als 18 Metern auf dem Messegelände keinen Platz gefunden. Die Innenwände des begehbaren Hohlkörpers bedeckten Reliefkarten aus Gips: perfekte Nachbildungen der Erde nach neuestem geographischem Wissen. Insofern erweisen sich Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts – hier durch den Globus

2

Ein Besuch in London während der großen Industrie-Ausstellung: Ein verläßlicher Führer und Wegweiser für den deutschen Reisenden, aus den besten Quellen bearbeitet, Wien 1851. Online unter http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/weltausstellung1851a/0006?sid=46d5235785c5270b65 bceb14d2ed691f, [17.2.2016].

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versinnbildlicht – als Gedächtnisort und „Leit- und Metamedium moderner Zivilisation“3 zugleich; an ihnen können die Kontexte mediatisierter europäischer Erinnerung aufgezeigt und hinterfragt werden. Der Historiker Alexander C. T. Geppert bezeichnete die Weltausstellung des 19. Jahrhunderts so auch als das „populärste und massenwirksamste Medium“ ihrer Zeit, gar als „mediales Äquivalent zum World Wide Web der Gegenwart“4: So wie heute das ,Netz‘ Menschen in aller Welt verbindet, brachten Weltausstellungen im 19. Jahrhunderts dank ihres „enormen, alle anderen Medienformen übertreffenden Besucheraufkommens“5 Menschen, Waren und Wissen unterschiedlicher Nationen zusammen. Infolge beschleunigter Industrialisierung und Technisierung, zunehmend globaler Verflechtung, Innovationen auf den unterschiedlichsten Gebieten der Wissenschaft und Kunst, aber auch angesichts der Blütezeit des europäischen Imperialismus und einer immer offensichtlicher werdenden innereuropäischen Konkurrenz wirken die Großveranstaltungen als Produkt und Spiegel ihrer Zeit auch erinnerungsstiftend. Wie kaum ein anderes Großereignis jener Zeit symbolisieren sie, allen voran die englischen und französischen Veranstaltungen von der aufsehenerregenden Londoner Premiere des Jahres 1851 bis zur mit über 50 Millionen Besuchern alle Rekorde brechenden Pariser Exposition Universelle (1900) die Europäische Moderne in ihrer Ambivalenz. Denn der Präsentation zukunftsweisender industriegesellschaftlicher Errungenschaften auf Weltausstellungen

3

Alexander C.T. Geppert, Weltausstellungen, in: Europäische Geschichte Online, hg. v. Institut für Europäische Geschichte (Mainz) 2013, https:// www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/astrofuturismus/publikationen/Geppert_-_ Weltausstellungen.pdf, [4.6.2019].

4

Beide Zitate ebd. Einem möglichen Einwand der Unvergleichbarkeit der Weltausstellungen – in erster Linie doch Ausdruck einer bürgerlichen Elitenkultur – mit dem populärkulturellem Medium Internet kann jedoch der Aspekt der medialen Reichweite und Resonanz beider Informations- und Kommunikationsträger entgegengehalten werden.

5

Ebd.

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waren, wie zu zeigen sein wird, immer auch die Widersprüchlichkeiten und Nebenfolgen der Moderne inhärent, welche ihren Ausdruck u.a. im Eurozentrismus, Kolonialismus, Imperialismus oder aber auch im übersteigerten Nationalismus der europäischen Gastländer fanden. Auf diese Weise sind Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts als Erinnerungsort der Europäischen Moderne zu fassen. Die Geschichtswissenschaft versteht – anknüpfend an Pierre Noras Forschungsparadigma der lieux de mémoire – unter Erinnerungsorten symbolische Repräsentationen: Zum einen stellen sie Bezugspunkte in der gemeinsamen Identität einer Gruppe dar, zum anderen bezeichnen sie als diskursive Chiffren gedachte Orte, die für das kollektive Gedächtnis dieser Gruppe eine bestimmte Signifikanz besitzen.6 Weltausstellungen spielen somit in europäischen Gedächtnis- und Identitätsdiskursen eine wichtige Rolle, indem sie den institutionellen Rahmen für die Schaffung transnational geteilter Erfahrungen bildeten, die als ,Versatzstücke‘ europäischer Identität auch europaweit erinnert werden können. So bedienten die Weltausstellungen mit ihren Licht- und Schattenseiten europäische Kolonialphantasien und Reisesehnsüchte und boten zugleich ein konkretes Forum zur Formulierung (konkurrierender) nationaler und imperialer Interessen oder politisch-gesellschaftlicher Anliegen von gesamteuropäischer Relevanz. Und nicht zuletzt spiegelten die Großveranstaltungen durch die mit Stolz präsentierten Innovationen in Ökonomie, Wissenschaft und Kunst ebenso wie mit ihren fulminanten, die Welt gewissermaßen mit den Sinnen erfahrbar machenden Attraktionen eine „Kultur des Fortschritts“, die der britische Historiker David Blackbourn als erinnerungs- und identitätsstiftendes Merkmal der Europäischen Moderne beschrieben hat.7

6

Vgl. dazu Cornelia Siebeck, Erinnerungsorte, Lieux de Mémoire, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2.3.2017. Online verfügbar unter http://docupedia.de/zg/Siebeck_erinnerungsorte_v1_de_2017 [20.4.2019].

7

Vgl. David Blackbourn, The Long Nineteenth Century. History of Germany, 1780-1918, New York 1998, S. 207.

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ATTRAKTION ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND UNTERHALTUNG: WYLD’S GREAT GLOBE Seit der ersten Stunde verliehen – wenn auch meist nur auf Zeit – spektakuläre architektonische Ensembles und bahnbrechende Ingenieurskunst der jeweiligen Weltausstellung und ihrer gastgebenden Metropole ein unverwechselbares Profil. Prominentes Beispiel der frühen Messen ist neben dem Pariser Eiffelturm – seit 1889 Wahrzeichen der französischen Hauptstadt und nationales Symbol par excellence – der vom Gartenbauarchitekten Joseph Paxton 1851 entworfene Crystal Palace. Diese Ikone moderner Architektur beeindruckte die Zeitgenossen mit bis dahin unvorstellbaren Dimensionen. Im Hyde Park aus Gusseisenelementen und Glassegmenten im Stile britischer Gewächshäuser errichtet, war das lichtdurchflutete, 560 mal 125 Meter umspannende Ausstellungsgebäude viermal so groß wie der Petersdom und wurde zum architektonischen Vorbild zahlreicher (Bahnhofs)bauten aus Glas und Eisen in ganz Europa.8 Erinnerungskulturell in seinem Schatten steht der oben vorgestellten Great Globe, der das Konzept der Weltausstellung, die Welt mit den Sinnen erfahrbar zu machen, jedoch augenscheinlicher illustriert als der Kristallpalast selbst. In Massen strömten die Schaulustigen herbei, um für erst fünf, bald schon für nur einen Penny Eintrittsgeld die vier Ebenen des Globus zu durchwandern und in der Begleitbroschüre nachzuschlagen, welche Kontinente, Weltmeere oder ferne 8

Vgl. den Artikel „Gusseisenarchitektur“ von Bernhard Rösch (2017), in: Labor RDK, einer aus dem Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte hervorgegangenen forschung:

Online-Plattform

zur

kunsthistorischen

Objekt-

http://www.rdklabor.de/w/?oldid=98206#B._Bedeutende_Bau

ten_und_neue_Aufgaben [28.4.2019]. Als Beispiele für Bahnhofshallen in Gusseisen-Glas-Konstruktion nennt der Kunsthistoriker Rösch den (1865 eröffneten, anlässlich der Weltausstellungen von 1889 und 1900 erweiterten) Pariser Gare du Nord, den Hauptbahnhof Frankfurt am Main (1888) und den Bahnhof Atocha in Madrid (1888-1892).

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Länder der Blick gerade traf. Wylds Anspruch, eine wissenschaftlich exakte Kopie der Erde geschaffen zu haben, bot dem Satiremagazin Punch wiederholt Anlass zu spöttischen Bemerkungen. So mokierte sich ein Journalist über die fehlende Erdumdrehung: Rotation um den Leicester Square habe er lediglich bei einem Betrunkenen auf der Suche nach dem Eingang beobachtet.9 Ein anderer Punch-Reporter wiederum beschrieb ironisch die Vorteile der Reise durch Wylds Globe: Dort gebe es keine Bettler wie in Irland, keine Revolutionen wie in Frankreich und keine Mönche oder Mücken wie in Italien. Und obendrein erwarte den Besucher die großartige Entdeckung, dass das Innere des Globus nicht – wie von Geologen stets vermutet – mit Gasen, Feuer oder Wasser gefüllt, sondern vielmehr durch eine immense Schicht von Leitern belegt sei.10 Letztlich aber dominierte die Auffassung, „ein Besuch des Globus [käme] einer komfortablen Reise um die Welt“ gleich.11 Aufgrund dieser öffentlich zur Schau gestellten Wissenschaft, der zwecks gleichzeitiger Belehrung und Belustigung des Publikums eine gewisse Effekthascherei kaum abgesprochen werden kann, nahm das Georama einen Trend vorweg, der zum Ende des 19. Jahrhunderts immer offenkundiger wurde: Die Weltausstellung wandelte sich von der nationalen Präsentation im Zeichen des industriellkulturellen Fortschritts zu einem die Grenzen von Bildung und Unterhaltung aufweichenden Massenspektakel, das mit Themenschauen und vermeintlichen Rekonstruktionen exotischer oder historischer Lebenswelten, aber auch mit simulierten See- (Maréorama, Paris 1900) und Eisenbahnfahrten (Transsibirische Eisenbahn, ebenda) zu imaginären

9

Vgl. Bernard Lightmann, Spectacle in Leicester Square: James Wyld’s Great Globe, 1851-61, in: J. Kember, J. Plunkett, J.A. Sullivan (Hg.), Popular Exhibitions, Science and Showmanship, 1840-1910, London 2012, S. 34.

10 Zit. n. ebd., S. 33, (Übersetzung von Claudia Scheel). 11 Zit. n. Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790-1870, Paderborn 2011, S. 7.

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Reisen durch Zeit und Raum lud, die auf das Ausstellungspublikum eine gleichsam faszinierende wie verstörende Wirkung ausgeübt haben müssen: „Das Maréoama hat auch seine Gefahren, die durch übergroßen Naturalismus hervorgerufen werden. […] Die Dampfpfeife ertönt, Kommandoworte erschallen, das Schiff fährt ab. In demselben Augenblick macht sich in dem Wasser, das ein Bassin bis an den unteren Rand der Wandelbilder füllt, ein wellenförmiges Rollen bemerkbar. Das Stampfen des Schiffes wird stärker, seitwärts tauchen Seegras und Wracktrümmer auf, und ehe man noch von Marseille nach den Dardanellen gelangt ist, spürt man ein unheimliches Gefühl im Magen, das die Illusion einer Seereise bis ins Unheimliche steigert. Bei einigermassen empfindlicher Disposition kann man für einen Franc – so viel kostet die ganze Tour – alle Phasen der Seekrankheit durchmachen.“12

DIE FORMENSPRACHE ALS ERINNERUNGSKULTURELLES SIGNUM Keineswegs zufällig entfaltete sich die „Formensprache der Weltausstellung“ (Geppert) in industriell-kultureller Rivalität zwischen Großbritannien und Frankreich. Nur die führende Kolonialmacht und ihr größter Konkurrent verfügten um die Mitte des 19. Jahrhunderts über die notwendige Infrastruktur zur Organisation eines Personen- und Warentransports derartigen Ausmaßes.13 Zwar fanden ab den 1870er Jahren entsprechende Großveranstaltungen auch in anderen europäischen Metropolen statt, so z.B. in Wien (1873), Barcelona (1888) oder auch Brüssel (1897). Darüber hinaus wurden Weltausstellungen auch in die britische Selbstverwaltungskolonie Australien (Melbourne 1880)

12 Georg Malkowsky, Die Pariser Weltausstellung in Wort und Bild, Berlin 1900, S. 180. 13 Vgl. Martin Wörner, Die Welt an einem Ort. Illustrierte Geschichte der Weltausstellungen, Berlin 2000, S. 10.

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oder in die USA (Philadelphia 1876, Chicago 1893) exportiert. 14 Doch das Vereinigte Königreich, das Paris 1851 als Initiator dieser Ausstellung neuen Typs zuvorgekommen war, und Frankreich mit der unverzüglichen Replik und dem Ehrgeiz, den britischen Rivalen in den Jahren 1855, 1867, 1878, 1889 und 1900 durch immer aufwändiger gestaltete Inszenierungen der Welt in den Schatten zu stellen, waren die Triebkräfte des Mediums Weltausstellung – und damit, wie der Historiker Friedrich Lenger formulierte, „Schrittmacher der Moderne“ schlechthin15. Die unter diesen Voraussetzungen entstandenen spezifischen Präsentationsformen und die ihnen immanenten progressiven Entwicklungslinien, die in den europäischen Identitäten und Erinnerungen Spuren hinterlassen haben, gilt es im Folgenden in den Blick zu nehmen. Um das Neuartige der Weltausstellungen zu erfassen, soll in aller Kürze auf ältere Formen des Ausstellungswesens eingegangen werden. Zu den Messen, Jahr- und Wochenmärkten des Mittelalters hatten sich in der Frühen Neuzeit Naturalienkabinette, Kunst- und Wunderkammern gesellt. Letztere zeugten bereits von dem Bestreben, die Welt en miniature festzuhalten – freilich noch bestimmt durch die mitunter exzentrischen Vorlieben des jeweiligen Sammlers. Während sich bei ihnen bereits die Idee des Zusammentragens und des Zurschaustellens beobachten lässt, rückten die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an verschiedenen europäischen Orten stattfindenden Gewerbemessen

14 So untersuchte die britische Historikerin Brenda Hollweg am Beispiel der Chicagoer Weltausstellung deren Bedeutung als „Gedächtnisort“ und zeigte auf, wie über die publizistische Reflektion der Ausstellung die Konstruktion, Vermittlung und Bewahrung einer US-amerikanischen kulturellen Identität vermittelt wurde. Vgl. Brenda Hollweg, Recollecting the Past: Erinnerungs(schau)spiele in den Texten zur World’s Columbian Exhibition in Chicago 1893, in: Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, hg. v. E. Fuchs, Leipzig 1999 S. 103-126. 15 Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 27.

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den Aspekt des marktgebundenen Handels stärker in den Vordergrund. Als erste Messe dieser Art gilt die im revolutionären Paris durchgeführte Gewerbeausstellung von 1798, die sich auf die Förderung es Gewerbefleißes und die Präsentation nationaler Erzeugnisse beschränkte.16 Auf Initiative der Royal Society of Arts und ihres Vorsitzenden, Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, dem Gatten Queen Victorias, wurde am 1. Mai 1851 die Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations in London eröffnet. Der Name war Programm: Die Ausstellung folgte einem weitaus universelleren Prinzip, als es ihre Vorgänger getan hatten. So zeigten über 17.000 Aussteller aus Großbritannien, aus 15 britischen Kolonien und 25 weiteren Nationen mehr als eine Million Exponate. Gut sechs Millionen Besucher aus dem Inund Ausland zog es bis zum 11. Oktober 1851 in die Metropole des britischen Empire. Dabei ging der Anspruch, innerhalb eines begrenzten Zeitraums an einem eigens dafür geschaffenen, temporären Ort möglichst alle Nationen und ein breites internationales Publikum einzubeziehen, Hand in Hand mit dem Streben nach umfassendenzyklopädischer, zugleich sinnlich fassbarer Zurschaustellung von Waren, Wissen und Kunstgewerbe aus aller Welt. Wurden im Crystal Palace noch alle Exponate unter einem Dach gezeigt, genügte ein Gebäude bald nicht mehr, um alles Ausstellungswürdige zu fassen. Bereits bei der zweiten Londoner Exposition des Jahres 1862, die nach dem französischen Vorbild von 1855 die gewerbliche Leistungsschau um eine umfangreiche Kunstausstellung ergänzte17, wurden für die Vorführung der Maschinen eigene Messe-

16 Vgl. Volker Barth, Mensch versus Welt. Die Pariser Weltausstellung von 1867, Darmstadt 2007, S. 9-10. 17 Für die entstehende moderne Kunst spielte die Pariser Weltausstellung von 1855 eine wichtige Rolle. So organisierte Gustave Courbet, nachdem seine Gemälde für die offizielle Salonausstellung abgelehnt worden waren, einen eigenen Pavillon du Réalisme. Dieser ersten Ausstellung eines unabhängigen Künstlers sollten zahlreiche weitere folgen.

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hallen angebaut. Und um das für Paris 1867 postulierte Ziel der vollständigen „Inventarisierung der Welt“18 erfüllen zu können, rief die Ausstellungskommission das Nationenpavillon-Prinzip ins Leben. Den teilnehmenden Ländern wurden auf dem Gelände des Marsfeldes Flächen für die Errichtung von Pavillons zur Verfügung gestellt. Diese folgten weniger einer strikt differenzierten Klassifikation allen menschlichen Schaffens als vielmehr der Eigenpräsentation der Aussteller in landestypischen Gebäuden – quasi als „architektonische Visitenkarte“19 der jeweiligen Nation. Allerdings mischte sich in die Selbstdarstellung insbesondere der von europäischen Kolonialmächten direkt oder indirekt beherrschten überseeischen Gebiete mitunter der Blick der Ausstellungskommissionen, sei es durch die forcierte Verwendung von Europäern vertrauten und daher als authentisch erachteten Symbolen, sei es durch den aus Kostengründen in Anspruch genommenen Rückgriff auf Architekten, Handwerker und Ingenieure des Gastgeberlandes. So nimmt es kaum wunder, dass dem ägyptischen Ensemble des böhmischen Architekten František Smoranz (Wien 1873) „eine bedenkliche Concession an europäische Form und europäische Sitte“20 bescheinigt wurde. Noch weiter vom ,echten‘ Orient entfernte sich der persische Pavillon – ein Phantasiebau, „grade phantastisch und bunt genug, um eben für orientalisch gelten zu können, aber weder von Persern gebaut noch nach persischem Muster.“

18 Wörner, Welt an einem Ort, S. 74. 19 Ebd., S. 54. 1867 hatten sich erstmals 16 Nationen in 33 Pavillons präsentiert, vgl. Barth, Mensch versus Welt, S. 266. 20 Carl Friedrich Adolf von Lützow (Hg.), Kunst und Kunstgewerbe auf der Wiener Weltausstellung 1873, Leipzig 1875, S. 99. Dort findet sich auch das folgende Zitat. Lützow war Kunsthistoriker und Archäologe.

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FEIER DES FORTSCHRITTS UND DER ‚BLICK ZURÜCK‘ Durch das Aufgreifen zeitgenössischer Strömungen und Stimmungslagen verwiesen die nationalen Selbstdarstellungen – allen vorweg die der gastgebenden Länder – auf zentrale Ingredienzien des modernen europäischen Zeitgefühls, das den ,Erinnerungsort Weltausstellung‘ konstituiert. In diesem Zusammenhang ist vor allem der entschiedene Fortschrittsglaube zu nennen, der die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts dominierte. Von Mäh-, Näh- und Schreibmaschine über Telefon, Radio und Automobil bis hin zu Aluminium oder Stahlbeton: Dem staunenden internationalen Publikum wurden innovative Weltneuheiten vorgeführt, die der ,westlichen‘ Lebensart ihre bis heute gültige Gestalt verleihen. Kein Geringerer als der Pionier des Science-FictionRomans, Jules Verne, setzte der zeittypischen Begeisterung für Wissenschaft und Technik ein Denkmal. Als häufiger Gast der Pariser Exposition von 1867 ließ er sich zur legendären Nautilus inspirieren. Wie ein ,Who is Who‘ zeitgenössischer Aussteller lesen sich die am Bau des U-Boots beteiligten Unternehmen: „Der Kiel kommt von Creuzot, die Welle der Schraube von Pen & Co. in London, die Rumpfplatten von Leard in Liverpool, die Schrauben von Scott in Glasgow, die Behälter von Cail & Co. in Paris, die Maschine von Krupp in Essen; der Schnabel kommt aus Schweden, die Instrumente aus den USA und so fort.“21

Umgekehrt griffen die Großveranstaltungen in die Infrastruktur der Gastgebermetropole ein, da die reibungslose An- und Abreise der Gäste ein funktionierendes Verkehrsnetz voraussetzte. Seine Metro verdankte Paris der Weltausstellung 1900, auch der Bau der Londoner Tube ab 1860 wurde von der Great Exhibition angestoßen. Überhaupt

21 So Kapitän Nemo in Vernes Roman 20.000 Meilen unter dem Meer (erschienen1869/70), zit. n. Wörner, Welt an einem Ort, S. 142.

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wurden in den Metropolen dank der in den 1850er und 1860er Jahren veranstalteten Weltausstellungen „die Standards entwickelt, denen eine europäische Großstadt genügen musste und die bald auch über Europas Grenzen hinaus prägend wurden“.22 Nicht umsonst hat Volker Barth das „Aufblühen der französischen Capitale zur Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ als Folge der „Haussmannisierung“ von Paris im Zuge der Weltausstellung des Jahres 1867 beschrieben.23 Doch es gab ihn auch, den ,Blick zurück‘: Inszenierte Vergangenheiten wie die Nachbildung Alt-Antwerpens – historisches Dorfleben inklusive – (Antwerpen, 1894) konnten angesichts der im Übermaß zur Schau gestellten epochalen ökonomischen und soziokulturellen Fortschrittlichkeit ein möglicherweise aufkommendes Unbehagen an der Moderne kompensieren. Mit Blick auf die ,Entzauberung‘ (Max Weber) der modernen Welt – Folge des Siegeszuges der Rationalisierung und der Vernunft über Irrationalität und Mystizismus – mag der Rückzug in die Tradition durch die Zurschaustellung historischer, oder genauer gesagt: historisierender Szenerien als Versuch der (Wieder-)Verzauberung der Welt gedeutet werden.24

22 Lenger, Metropolen, S. 30. 23 Vgl. Barth, Mensch versus Welt, S. 377 (Zitat 1) bzw. 373 (Zitat 2). So sei das „urbane Ausstellungsmodell auf eine sich ebenfalls gerade nach einem visionären Konzept umgestaltende Stadt“ getroffen. Ebd., S. 372. Hierzu siehe auch: Der Umbau von Paris unter Haussmann, in: Lenger, Metropolen, S. 34-41. Die Formel von der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ stammt von Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: Ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1974, S. 170-184. 24 Vgl. Barth, Mensch versus Welt, S. 18 und Wörner, Welt an einem Ort, S. 192. Wörner spricht in diesem Zusammenhang von der Befriedigung einer „romantisch-verklärten Sehnsucht nach der ,guten alten Zeit‘“. Volker Barth erkennt in der „Heterotopie aus sich überlagernden Räumen und Zeiten“ Moderne‘

gar

ein

frühes

innewohnenden

Wetterleuchten Krisenhaftigkeit,

einer die

der durch

,klassischen ebenjene

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KOLONIALPHANTASIEN UND IMPERIALER WETTSTREIT Demungeachtet blieb die Überzeugung von der Allmacht des Fortschritts wirkungsmächtig und mündete in ein europäisches Selbstbild, das von dem eigenen Zivilisationsvorsprung gegenüber vorgeblich ,primitiven‘ überseeischen Nationen ausging. Folglich wurden Kolonialländer auf die Präsentation von Rohstoffen und Gaben der Natur begrenzt, während sich die Europäer mit ebenso kultivierten wie innovativen Erzeugnissen, Technologien und Kunstwerken in Szene setzten. In diesem Kontext spielte für das wirtschaftlich überlegene Europa globaler Handel und die Suche nach Absatzmärkten eine wichtige Rolle. Über das rein Ökonomische hinaus feierte sich die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Errungenschaften und Idealen. So wurde 1878 auf dem Champs de Mars der Kopf der Freiheitsstatue – ein Geschenk der Franzosen an die amerikanische Nation – gezeigt, bevor die Figur Jahre später ihre Reise nach New York antrat. Veranschaulicht und verfestigt wurde die Feier der Freiheit und des Fortschritts durch die gleichzeitige Zurschaustellung überseeischer Kulturen in Indischen Abteilungen, Kongodörfern, Lappenlagern und anderen exotischen Ensembles. Sie war durch eine eurozentrische Perspektive gekennzeichnet, die zugleich „imperiale Ordnungen von Wissen und Macht“ generierte (Geppert) und die Neugier der ,westlichen‘ Besucher auf fremde Länder und Kulturen befriedigen sollte. Eine seit 1867 unentbehrliche Attraktion auf Weltausstellungen stellte die ,Straße von Kairo‘ dar. Wo pittoresk der Putz von den Gebäuden bröckelte, konnte man das Morgenland mit allen Sinnen erleben. So mancher Ausstellungsbesucher glaubte ob des „überlaute[n] Treibens des Orients“, des Schreiens und Rufens der zur Szenerie

Entzauberung und (Wieder-)Verzauberung charakterisiert ist. Zum Begriff der ,klassischen Moderne‘ vgl. Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987, insbesondere: S. 11-12.

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gehörenden Bewohner – ihres Zeichens als Orientalen verkleidete Europäer –, in ein „Tollhaus“25 geraten zu sein. Regelrecht voyeuristische Züge nahm die Sehnsucht nach Exotik im Fall der auch auf Weltausstellungen ausgerichteten Völkerschauen an. Unter dem Deckmantel der Wissenschaft folgten die kommerziellen Spektakel bestimmten Inszenierungsmustern, die gängige Klischees über die dargestellte Volksgruppe bedienten und verfestigten.26 So trugen Völkerschauen zur Etablierung imperialer Stereotype bei, indem sie den angeblichen Kontrast zwischen fortschrittlicher ,westlicher‘ Zivilisation und rückständiger Primitivität der außereuropäischen ,Wilden‘ geradezu bildhaft vor Augen führten. Wolfram Kaiser hat jedoch darauf hingewiesen, dass „die vielfach fraglos entstellende Repräsentation von ,Eingeborenen‘ aus Kolonien der Europäer und Amerikaner auf den Ausstellungen […] lange vereinfachend als Reflexion hierarchischer weltgesellschaftlicher Beziehungen und einer in der atlantischen Welt vorherrschenden sozialdarwinistischen Ideologie interpretiert“ wurde: Die Organisatoren aber hätten überwiegend profitorientierte Interessen, weniger ideologische Ziele verfolgt, die präsentierten Außereuropäer durchaus auch Chancen besessen, für sich zu werben sowie herkömmliche Klischees und Vorurteile abzubauen.27

25 Beide Zitate von Georg Malkowsky, Besucher der Pariser Weltausstellung von 1900, zit. n. Wörner, Welt an einem Ort, S. 128. 26 Vgl. Anne Dreesbach, Kolonialausstellungen, Völkerschauen und die Zurschaustellung des „Fremden“, in: Europäische Geschichte Online vom 17.2.2012,

http://ieg-ego.eu/de/threads/hintergruende/europaeische-begeg

nungen/anne-dreesbach-kolonialausstellungen-voelkerschauen-und-diezurschaustellung-des-fremden [4.1.2018]. 27 Vgl. Wolfram Kaiser: Die Welt im Dorf, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 22-23/2000), hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2000, http://www.bpb.de/apuz/25581/die-welt-im-dorf?p=all [4.1.2018]. Als Beispiel nennt Kaiser eine singhalesische Kellnerin, die selbstbewusst ihren traditionellen Nasenschmuck verteidigte und die Kritikerinnen mit den gesundheitsschädlichen Folgen ,westlicher‘ Korsetts konfrontierte.

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Immer aber spiegelten die Großveranstaltungen auch das europäische Machtgefüge – wenn nämlich der ausgerufene friedliche Wettstreit der Nationen durch politische Wetterlagen getrübt wurde. Bewusst machten sich Kolonialmächte Weltausstellungen im Interesse politischer Ambitionen und Expansionsbestrebungen dienstbar. Reibereien um die Größe der Ausstellungsfläche wurden zum Symbol für das britischfranzösische Ringen um die Vorherrschaft auf den Weltmärkten. Angesichts des ,Wettlaufs um Afrika‘, der kolonialen Aufteilung des Kontinents durch die europäischen Großmächte zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg, und der nun auch von Deutschland, Belgien und Italien ausgehenden kolonialen Konkurrenz nutzten die etablierten Kolonialmächte das Medium, um ihre Machtansprüche in Übersee zu demonstrieren und zu rechtfertigen. Insbesondere in Zeiten innenpolitischer Krisen hatte imperiale Propaganda Hochkonjunktur – versprachen sich die Ausstellungsmacher von glänzenden nationalen Selbstinszenierungen doch einen „nachhaltigen Beitrag zur nationalen politischen Integration“.28 Der hierbei auf Weltausstellungen entfachte Stolz auf das eigene Kolonialreich sollte sich im 20. Jahrhundert als schwer lastende Hypothek für den Dekolonisationsprozess erweisen. Namentlich das ,Dauergastgeberland‘ des 19. Jahrhunderts, Frankreich, bekam dies im algerischen Unabhängigkeitskrieg und in Indochina zu spüren.

ORTE DER KOMMUNIKATION UND DES WISSENSTRANSFERS Auch in einer weiteren Hinsicht waren die großen Expositionen mehr als regelmäßig wiederkehrende Leistungsschauen mit Entertainmentcharakter – verstanden sie sich doch durch ihren Anspruch, „die 28 Ebd.: Insbesondere die Dritte Französische Republik (1870-1940) habe auf die integrative Kraft der Weltausstellungen von 1889 und 1900 gesetzt, um die von der Dreyfuss-Affäre erschütterte Republik zu stabilisieren.

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gesamte Bandbreite menschlicher Industrie“ auszustellen, als eine „Enzyklopädie der Menschheit“, gar als „dreidimensionale Nachschlagewerke“ gesammelten Wissens.29 Zudem dienten sie unterschiedlichen Akteuren als Orte des transnationalen Austauschs und der Kommunikation. Stets boten Weltausstellungen Gelehrten, Forschern und Intellektuellen aus verschiedenen Teilen der Welt ein Forum zur wissenschaftlichen Diskussion und Verständigung. Dank institutioneller Beziehungen zwischen Museen und Weltausstellungen lebte dort zusammengetragenes Wissen in Sammlungen weiter. Diese sind – wie auch am Beispiel des Great Globe beobachtet – Ausdruck einer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „auf breiter Front einsetzende[n] Popularisierung der Wissenschaften: […] über die reine Anschauung des Wissens hinaus [sollten] weitere Formen der Wissensaneignung bereitgestellt und so neues Wissen produziert werden“. 30 Das Londoner South Kensington Museum (heute: Victoria & Albert Museum) wurde, um ein Beispiel zu nennen, 1852 eigens zu diesem Zweck gegründet und beherbergt gegenwärtig die weltweit größte Sammlung von Kunstgewerbe und Design.31 Anfänglich zu beobachtende Bestrebungen, „den temporären Charakter der Ausstellungen aufzugeben und die dort versammelten Zeugnisse menschlicher Kultur dauerhaft zugänglich zu machen“, wurden nach der Jahrhundertwende zwar nicht weiterverfolgt, doch waren Weltausstellungen die „Initialzündung“ für die europaweite Gründung zahlreicher Kunstgewerbemuseen, aber auch anderer Museumsarten.32

29 Zit. n. Barth, Mensch versus Welt, S. 104. Barth bezieht sich hier auf die Pariser Weltausstellung von 1867. 30 Ebd., S. 105-106. 31 Vgl. https://www.vam.ac.uk/, [4.6.19]. 32 Vgl. Martin Wörner, Vergnügung und Belehrung: Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851-1900, Münster u.a. 1999, S. 237-302, Zitate auf S. 237 und 238. Wörner nennt als weitere Museumsarten, auf deren Gründung bzw. Inhalte Weltausstellungen maßgeblichen Einfluss hatten, u.a. das historische, volkskundliche, das Hygiene-, National- oder Freilichtmuseum.

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Die von Weltausstellungen geschaffenen Kommunikationsräume boten – zumindest anfänglich – auch der Verhandlung aktueller gesellschaftspolitischer Fragen eine Bühne. Im Zeichen fortschreitender Industrialisierung und eingedenk der nur wenige Jahre zurückliegenden sozialen Erhebungen von 1848/49 standen die Erziehung und Hebung der Arbeiterklasse im Fokus des Interesses. Mit Führungen, Stipendien und Ermäßigungen wie dem ,Shilling-Tag‘ erleichterte man einem weniger begüterten Personenkreis von Handwerkern, kleinen Beamten und Arbeitern den Besuch der Great Exhibition. Jene leisteten als ,Multiplikatoren‘ einen wichtigen Beitrag zum Wissenstransfer auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Ganz nebenbei wurden die Londoner Messen zum Ort der Begegnung von Arbeiterdelegationen aus England und Frankreich, was 1864 in der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation mündete. Als Beitrag zur Lösung der prekären Wohnsituation von Arbeiterfamilien ließen sowohl Prinz Albert (1851) als auch Frankreichs Kaiser Napoleon III. (1867) entsprechende Modellhäuser konzipieren. Die Entwürfe wurden in der Praxis jedoch nicht umgesetzt und zeugten von einer gewissen Realitätsferne der bürgerlichen Ausstellungorganisatoren – bewegten die Arbeiter und Arbeiterinnen doch ganz andere Anliegen wie die Forderung nach Lohnerhöhungen, kürzeren Arbeitszeiten oder Beschränkungen der Frauenarbeit.33 Schenkt man dem deutschen Liberalen Friedrich Naumann Glauben, traten sozialreformerische Bestrebungen zum Ende des Jahrhunderts gänzlich in den Hintergrund. Anlässlich seines Besuchs der Pariser Exposition von 1900 konstatierte der Politiker, die Arbeiter spielten bei dieser „großen Handelsparade des Kapitalismus“ nicht einmal mehr die Rolle des „Chors auf dem Theater“. 34 Dennoch bildeten Weltausstellungen im 19. Jahrhundert eine Plattform zur Formulierung und Verhandlung emanzipatorischer Ideen – und dies zu

33 Vgl. Barth, Mensch versus Welt, S. 193-194, Zitat auf S. 194. 34 Beide Zitate aus: Friedrich Naumann: Ausstellungsbriefe, Berlin-Schöneberg 1909, S. 68.

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einer Zeit, in der kaum Möglichkeiten für eine breite Kommunikation auf internationaler Ebene existierten.

BEDEUTUNGSWANDEL DER WELTAUSSTELLUNGEN IM 20. JAHRHUNDERT Erinnerungsorte sind nicht statisch und unterliegen im Laufe der Zeit einer stetigen Umformung und somit einem beständigen Bedeutungswandel. Weltausstellungen verloren auch um die Jahrhundertwende nicht an Faszination und kultureller Prägekraft. So knüpfte die Exposició Internacional de Barcelona noch im Jahre 1929 durch die Präsentation sowohl stilbildender Architektur (Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe) als auch traditioneller Elemente (Spanisches Dorf mit Trachtenumzügen) an gewohnte Ausstellungsmuster an. Eine deutliche Zäsur stellte erst der Zweite Weltkrieg dar, in dessen Vorfeld die symbolische Dimension der Weltausstellungen einen Bedeutungswechsel durchlaufen hatte – war sie doch des „Verhandlungscharakters unterschiedlicher Modernekonzepte“35 verlustig gegangen und in die Fänge propagandistischer Vereinnahmungen geraten. Eine für die europäische Erinnerung signifikante Fotografie entstand auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1937: Dort warben – mit monumentalen Pavillons zur Linken bzw. Rechten des Eiffelturms – das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion für die je eigene Ideologie. 36 In

35 Vgl. Wolfram Kaisers Abstract zum Forschungsprojekt „Contested Modernity. Zur diskursiven Strukturierung globaler Moderne auf den Weltausstellungen“, online verfügbar unter http://www-gewi.kfunigraz.ac. at/moderne/heft10k.htm#k3 [9.12.2018].

Alexander

Geppert

machte

allerdings darauf aufmerksam, dass sich die Forschung zwar über den im 20. Jahrhundert erlittenen Bedeutungsverlust der Weltausstellungen einig ist, nicht aber über den genauen Zeitpunkt, an dem dieser Prozess eingesetzt hat. 36 Vgl. Abb. 17 in Wörner, Welt an einem Ort, S. 63.

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diesem Gegenüber von sowjetischem und deutschem Ausstellungspavillon fand die ideologische Polarisierung der Zwischenkriegszeit einen ihrer deutlichsten Ausdrücke. 37 Zudem wurde offensichtlich, dass nun nicht mehr die französisch-britische Konkurrenz, sondern diejenige zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion die Schau bestimmte: Totalitäre Gesellschaftsentwürfe hatten den liberalen Fortschrittsgedanken abgelöst und rückten in steigendem Maß die Schattenseiten des Fortschritts in den Vordergrund. Auch die für das Jahr 1942 geplante Esposizione Universale di Roma (EUR), die den italienischen Faschismus auf der internationalen Bühne einer Weltausstellung hoffähig machen sollte, ist in diesem Kontext zu nennen. Zur Durchführung der Veranstaltung kam es wegen der Kriegshandlungen nicht mehr. Den Römern aber blieb die EUR in Form des gleichnamigen Stadtbezirks in uniformer, von faschistischer Ideologie geprägter Architektur erhalten. Als Wettstreit der Systeme im Kalten Krieg fanden die Expositionen der Nachkriegszeit in immer größeren zeitlichen Abständen statt. Stand die erste Weltausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Brüsseler EXPO von 1958, nicht zuletzt auch durch die Wahl ihres Wahrzeichens, des Atomiums, noch im Zeichen des Glaubens an die friedliche Nutzung der Atomenergie, wurde die Atomkraft im Zuge einer immer lauter werdenden Kritik in steigendem Maße als Gefahr für Umwelt und Menschheit, aber auch mit der Atombombe, mit den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges assoziiert.38 Inhaltlich rückten fortan Zukunftsfragen, hauptsächlich ökologischer oder geopolitischer Natur, in den Mittelpunkt der nun wieder stärker als technologische Leistungsschauen konzipierten Weltausstellungen. Mit enttäuschenden 18 Millionen Besuchern der EXPO 2000

37 Vgl. u.a. Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008, S. 267-279. 38 Vgl.

dazu:

Jochen

Henning,

Das

Atomium.

Das

Symbol

des

Atomzeitalters, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 210-217.

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in Hannover, der ersten Weltausstellung auf deutschem Boden, ist um die Wende zum 21. Jahrhundert eine gewisse, den Sinn und Zweck dieser Großereignisse hinterfragende Skepsis nicht zu übersehen. Aufgrund ihrer spezifischen und zeitbezogenen Präsentationsformen und Funktionen waren Weltausstellungen im 19. Jahrhundert „Selbstbild der Moderne“39 und somit Orte, an denen diese europäisch dominierte Moderne mit allen Sinnen erlebt und erfahren werden bzw. zur Folie europäischer Identitätsbildung und Erinnerung gerinnen konnte. Im Laufe des 20. Jahrhunderts übernahmen Radio, Film, Fernsehen und schließlich auch das Internet die Rolle einer Vermittlungsinstanz der globalen Kommunikation – und damit eine Aufgabe, ein Jahrhundert zuvor nur Weltausstellungen zu erfüllen vermocht hatten. Daher können die neuen Medien und neuartige Erfahrungsräume wie Themenund Erlebnisparks, das Reisen und der Massentourismus einen Erklärungsansatz für den Bedeutungsverlust bieten, die Weltausstellungen nach 1945 zumindest in der westlich geprägten Welt ebenso wie als erinnerungskultureller Ort der Europäischen Moderne erfuhren.

39 Vgl. Barth, Mensch versus Welt, S. 13.

Die Bastille Ein Erinnerungsort revolutionärer Demokratie Wolfgang Kruse

Abb. 2: Bastillesturm und Julisäule.1 Die Lithografie wurde zur ersten Feier des neuen Nationalfeiertages am 14. Juli 1880 veröffentlicht.

1

Kat. Nr. 152 aus der Ausstellung des Landesmuseums Mainz und der Universitätsbibliothek Mainz,1989.

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Was bedeutet es, wenn eine der erfolgreichsten europäischen IndieRockbands der letzten Jahre sich den Namen Bastille gibt und diese Wahl mit dem Geburtstag ihres Leadsängers Dan Smith am 14. Juli begründet?2 Offenbar taugen die in der Französischen Revolution geschliffene Stadtfeste und das Datum ihrer Erstürmung durch die revolutionären Pariser Volksmassen am 14. Juli 1789 noch heute als sinnhafter Bezugspunkt für eine populäre öffentliche Wirkung und Aufmerksamkeit. Mehr noch, gemeinsam sind sie als ein nicht nur französischer, sondern auch als ein europäischer Erinnerungsort par excellence zu begreifen, in dem Geschichte, in dem insbesondere die Geschichte der modernen, revolutionär begründeten Demokratie durchaus auf gegenwartsbezogene Weise präsent ist. Um die Entstehung und Bedeutung dieses Erinnerungsortes genauer erschließen zu können, erscheint es notwendig, seine Geschichte in den Blick zu nehmen.

DREI ZEIT- UND BEDEUTUNGSEBENEN Als die Dritte Französische Republik im Mai 1880 den Beschluss fasste, den 14. Juli zum französischen Nationalfeiertag zu erheben, begründete der radikale Abgeordnete Antoine Achard diesen Schritt mit der doppelten Bedeutung, die inzwischen mit dem Begriff der Bastille verbunden war: „Der Bastillesturm“, so führte er aus, „beschloß die alte Welt und eröffnete die neue Welt.“3 Bei genauerer Betrachtung finden sich in dieser Bewertung sogar drei Zeit- und Bedeutungsebenen, die seit langem mit dem Bild der Bastille evoziert werden und die in der oben gezeigten, zur ersten Feier des neuen Nationalfeiertages der inzwischen Dritten Französischen Republik in Paris veröffentlichten Lithografie in aller Klarheit zum Ausdruck kommen:

2

Bastille, Bad Blood, London 2013.

3

Zit. n. Hans-Jürgen Lüsebrink/Rolf Reichardt, Die Bastille. Zur Symbolgeschichte von Herrschaft und Freiheit, Frankfurt am Main 1990, S. 247.

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In der unteren rechten Bildhälfte sehen wir die Gefängnis- und Folterkeller der Bastille als Ausdruck für den despotischen Charakter des vergangenen Ancien Régime, darüber findet sich die Erstürmung der Bastille durch die Pariser Bevölkerung am 14. Juli 1789 als Symbol des Kampfes für die Überwindung der alten Ordnung und für die revolutionäre Tradition der französischen Moderne, schließlich erscheint auf der linken Seite die neu gestaltete Place de la Bastille ohne die längst geschliffene Festung, aber mit den Symbolen der politischsozialen Erneuerung: der emblematischen Verdichtung des revolutionären Aufbruchs von 1789 in den Farben der republikanischen Trikolore, der zur Erinnerung an die Gefallenen der Julirevolution von 1830 errichteten, den Platz nunmehr dominierenden Freiheitssäule und der topographischen Neugestaltung des republikanischen Paris durch die Grands Boulevards und modernen Verkehrsmittel der Ära Haussmann als Inkarnation der Moderne und „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ 4. In der historischen Bewertung des Jahres 1880 handelte es sich bei der Erstürmung der Bastille tatsächlich um nichts weniger als um die Grundlegung einer neuen, der eigenen Welt.

SYMBOL ABSOLUTISTISCHER HERRSCHAFT Vor der Französischen Revolution war die Bastille im 18. Jahrhundert bereits zu einem zentralen Gegenstand der öffentlichen Imagination geworden, der erst ihre weitere Karriere als historischer Erinnerungsort ermöglichte. Es kursierte eine Vielzahl von Berichten und Gerüchten, in denen – nicht zuletzt von ehemaligen Häftlingen der Bastille – das Unrecht der Inhaftierung und die Grausamkeit der Haftbedingungen angeprangert wurden. „Die Hölle der Lebendigen, oder: Die Bastille zu Paris“, so hieß es bereits 1719 auf dem Titelblatt einer in Deutschland

4

Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: Ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main 1977, S. 170184.

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veröffentlichten Flugschrift.5 Auch die Prominenz vieler Häftlinge – von Voltaire über Mirabeau bis zum Marquis de Sade – trug zu ihrer Bedeutung im politischen Diskurs des ausgehenden Ancien Régime bei. Obwohl sich am Vorabend der Revolution nur noch wenige Häftlinge in der Bastille befanden und die Haftbedingungen längst von anderer Qualität waren, hatte sich aus solchen Anklagen inzwischen eine weit grundsätzlichere Kritik an der Bastille als Symbol der Despotie entwickelt, die von den emanzipatorischen Grundsätzen der Aufklärung getragen wurde. In der Stadtfeste, so hieß es 1789 in einer Flugschrift, geschehe „nichts nach Regeln oder nach Gesetzen, sondern alles nach dem Befehl der Obern, oder nach der Willkür der Vorgesetzten.“ Dementsprechend stilisierte sich die Bastille selbst in dieser Schrift mit folgenden Worten zur Inkarnation absolutistischer Herrschaft: „Ich, ja ich herrsche im Zentrum der gewaltigsten Stadt der Welt und entfalte hier offen die furchtbare Ausrüstung meiner Macht. […] Ich habe in meinem Innern hervorragende Helden, berühmte Schriftsteller und sozusagen Personen von göttlicher Abstammung eingeschlossen. […] Die schreckliche und geheimnisvolle Einrichtung unserer Zellen macht eine bemerkenswerte Epoche in der Geschichte aus, und wir können uns rühmen, Todesmartern vollzogen zu haben, um die uns selbst die Kannibalen beneidet hätten.“ 6

Die Bastille war für die Protagonisten der Französischen Revolution allerdings nicht nur ein Symbol der Despotie, sondern sie stellte als Stadtfestung auch eine ganz reale Bedrohung dar, die ihre Erstürmung durchaus als revolutionäre Notwendigkeit erscheinen lassen konnte; zumal man am Vorabend des 14. Juli begonnen hatte, die städtischen

5

Vgl. ebd., S. 22.

6

Ausführliche Beschreibung der Bastille und der Art, wie die Gefangenen in derselben behandelt wurden, Berlin 1789, S. 5f., nach den „Remarques Historiques et Anecdotes sur le Château de la Bastille“ aus dem Jahre 1774, zit. n. ebd., S. 28, S. 47.

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Arsenale in die Bastille zu überführen.7 Diese doppelte, symbolische und realpolitische Bedeutung trat besonders deutlich hervor, als die Erstürmung und der Fall der Bastille am nächsten Tag nicht nur öffentlich gefeiert wurden, sondern auch unmittelbar in ihre Zerstörung übergingen und so als Auftakt einer revolutionären Erneuerungsbewegung demonstrativ manifestiert wurden.8 Bereits am Abend des 14. Juli 1789 begann der Bauunternehmer Pierre-Francois Palloy, der sich mit einem Bautrupp an der Erstürmung beteiligt hatte, mit der Abtragung der Stadtfestung, wofür er zwei Tage später auch von der neuen Pariser Stadtregierung einen förmlichen Auftrag erhielt. Etwa ein Jahr später war die Bastille vollständig geschliffen und Palloy verdiente mit dem Verkauf ihrer Steine als revolutionäre ,Reliquien der Freiheit‘ ein Vermögen, das er allerdings für die Propagierung patriotischrevolutionärer Ideen und Kulte schnell wieder verausgabte. Die Bastille war nun Geschichte, doch ihr Symbolwert wirkte weiter, verband sich zunehmend unauflöslich mit ihrer Erstürmung und trug so auch zur Entstehung des ganz neuartigen Begriffs der modernen, gewaltsam die überkommende Ordnung umstürzenden, auf die Volkssouveränität gestützten und in eine offene Zukunft führenden Revolution bei. „Dies ist eine Revolte“, soll der erstaunte König am Abend des 14. Juli 1789 festgestellt haben, während sein Hofherr, der Herzog de Liancourt, die weit darüber hinausweisende Antwort gab: „Nein, Sir, dies ist eine Revolution!“9 Die am Beispiel der Bastille entwickelte Kritik an der Despotie der überkommenen Ordnung war, wie gezeigt, schon vor der Französi-

7

Vgl. Winfried Schulze, Der 14. Juli 1789. Biographie eines Tages, Stuttgart 1989.

8

Vgl. Héloise Bocher, Démolir la Bastille – L’édification d’un lieu de mé-

9

Vgl. Neithard Bulst et al., Revolution: Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in:

moire, Paris 2012. Reinhart Koselleck et al. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 653-788, hier S. 725.

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schen Revolution ausgeprägt gewesen. Erst die Revolution selbst konnte dagegen den Begriff des ,Ancien Régime‘ als Gegenbild zur revolutionären Erneuerung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung hervorbringen, wie er das französische, aber auch das europäische Geschichtsbild in vieler Hinsicht geprägt hat. Die Bastille verkörperte darin nun in allgemeinerer Form den despotischen Charakter der Feudalordnung und des monarchischen Absolutismus als prägendem Regierungssystem des 18. Jahrhunderts, die beide im Gefolge ihrer Erstürmung von der Französischen Revolution beseitigt und durch eine neue, grundsätzlich davon unterschiedene, demokratische Gesellschafts- und Regierungsform ersetzt worden seien. Es ging dabei um den „Trennstrich zwischen dem Ancien Régime und der Revolution, zwischen der göttlichen Gnade und den Menschenrechten, der Willkür und dem Recht und dem Elend und der Brüderlichkeit.“ 10

MYTHISIERUNG DES BASTILLESTURMS Insbesondere das Bild der Bastille in seiner dreifachen, aufeinander verweisenden Bedeutung als Symbol des despotischen Ancien Régime, als Symbol des revolutionären Aufbruchs und schließlich als Symbol für den Aufbau einer neuen, besseren Ordnung der Modernisierung, der Demokratie und der Menschenrechte war geeignet, die Dynamik dieses Umbruchs symbolisch zu repräsentieren und sie damit zu einem Erinnerungsort der französischen wie der europäischen Moderne werden zu lassen. Bereits während der Revolution begann ein Prozess der symbolischen Überhöhung des Bastillesturms, in dem nicht nur die Rolle der Bastille als Inkarnation despotischer Herrschaft, sondern in besonderem Maße auch die Bedeutung ihrer Erstürmung eine geradezu

10 François Furet, Ancien Régime, in: Ders./Mona Ozouf (Hg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2., Frankfurt am Main 1996, hier Bd. 1, S. 979-997, das Zitat mit Bezug auf die Revolutionsdeutung Michelets S. 993.

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mythisierende Ausgestaltung fand. Die Vereinigung der Vainqueurs de la Bastille, der Eroberer der Bastille, konnte so schnell einen beachtlichen politischen Einfluss gewinnen, ehemalige Gefangene der Bastille wurden zu ,Märtyrern der Freiheit‘ stilisiert, regelmäßige Festveranstaltungen, Reden und Denkmalsprojekte am 14. Juli, dem Jahrestag des Bastillesturms, beschworen seine historische Bedeutung als Grundlegung einer neuen Ordnung. Besonders tief in das historische Gedächtnis eingegraben hat sich das sogenannte Föderationsfest, zu dem sich am 14. Juli 1790, dem ersten Jahrestag des Bastillesturms, Nationalgardisten und Soldaten aus ganz Frankreich auf dem Pariser Marsfeld versammelten, um im Beisein einer unüberschaubaren Menschenmenge ihre brüderliche, vom Geist des Bastillesturms inspirierte Verbundenheit im Kampf gegen alle Gegner der Revolution am ,Altar des Vaterlandes‘ zu beschwören.11 Die Ausstrahlung dieses Ereignisses wies schnell auch weit über Frankreich hinaus und erfasste ganz Europa. Überall beschwor man nun die außerordentliche Bedeutung der „berühmten Revolution, welche der Unterdrückung und dem Bastillenwesen miteinander ein Ende machte“, wie es bereits 1789 in einer deutschen Publikation hieß12, und feierte dieses Ereignis in den folgenden Jahren immer wieder neu. Nicht zuletzt für die spezifisch deutsche Wahrnehmung der Bastille und ihrer Erstürmung – und bald der untrennbar damit verbundenen Französischen Revolution insgesamt – waren aber auch andere, weniger eindeutige Stimmen typisch. So wurde die Bastille in dem gleichnamigen Trauerspiel von Ernst Karl Ludwig Ysenburg von Buri zwar ebenfalls als Symbol eines korrupten Despotismus kritisiert, deren Erstürmung durchaus berechtigt gewesen sei. Doch die damit eingeleitete revolutionäre Radikalisierung fand bereits hier nicht die Zustimmung des Autors, der seine Hauptfigur mit der Aufforderung aus dem Leben scheiden ließ:

11 Vgl. Mona Ozouf, Föderation, in: ebd., S. 67-82. 12 Kurzgefaßte Geschichte der Bastille, Leipzig/Frankfurt am Main 1789, zit. n. Lüsebrink/Reichardt, Die Bastille, S. 208.

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„Wohl, meine Freunde! Und nun versprecht mir ruhig nach Hause zu gehen, und jeden neuen Aufstand zu vermeiden – Glaubt mir – jeder Eingriff in die Rechte des Throns bestraft sich selbst fürchterlich an seinen Urhebern, Jede gewaltsame Störung bürgerlicher Ordnung und der Gesetze hat für den Bürger die traurigsten Folgen. Versprecht mir daher, liebe Freunde, versprecht es mir, Paris die Ruhe wiederzugeben.“13

Das etwas später veröffentlichte Folgestück über die „Zerstörung der Bastille“ fiel dann trotz dieser gemäßigten Haltung der Zensur zum Opfer, „weil man Demokratie darin zu wittern glaubte“, wie Buri voll Empörung feststellte.14

SYMBOLISCHE IMAGINATIONEN In der Folgezeit breitete sich die Bastille vor allem als negatives Symbol für Unterdrückung und Entrechtung auch international immer weiter aus. So wurde Ende der 1830er Jahre in einer englischen Flugschrift die „horrible cruelty of the New Poor Law“ am Beispiel eines als „Bath Union Bastille“ charakterisierten Armenhauses dargestellt. 15 Ein Jahrhundert später erschien „the crude structure and chaotic functioning of the colonial prison“ den oft von der französischen Kultur geprägten Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung in Indochina wie etwa Ho Chi Minh als Reinkarnation „of the brutality and squalor of the eighteenth-century Bastille“ und fand so als „Colonial Bastille” auch den Weg auf das Cover einer modernen geschichtswissenschaftli-

13 Ernst Karl Ludwig Ysenburg von Buri, Die Bastille. Ein Trauerspiel in vier Aufzügen (1790), hg. v. Reiner Marx, Saarbrücken 1989, S. 47. 14 Vorwort zu Ernst Karl Ludwig Ysenburg von Buri, Ludwig Capet, oder Der Königsmord, Augsburg 1794, zit. n. Nachwort zu ebd., S. 52f. 15 Peter Simple, The Horrible Cruelty of the New Poor Law, or A Scene in the Bath Union Bastille, Bath 1837.

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chen Untersuchung.16 Und auch das Südafrika der Apartheid-Politik konnte von den Betroffenen gedeutet werden als etwas, „das sich mit seiner riesigen Masse in den dunklen Nischen ganz am Ende meines Bewußtseins niedergelassen hat. Und das mein Denken beherrscht wie jenes legendäre Gefängnis, die Bastille.“17 Das Zentrum symbolischer Imaginationen der Bastille lag jedoch weiterhin in Frankreich, wo vor allem die erinnerungspolitische Beschwörung des Bastillesturms, allerdings ebenfalls mit einer zunehmend gesamteuropäischen Ausstrahlung, eine immer weitere Aktualisierung und Öffnung in die Zukunft erfuhr. So knüpfte schon die Julirevolution von 1830 symbolisch an den Bastillesturm an und beschloss, auf dem leeren Platz der ehemaligen Bastille ein Denkmal für ihre Gefallenen zu errichten. Es sollte, wie der Nationalgardist Bonneville vorschlug, dort errichtet werden, „wo jene verhaßten Türme standen, diese Bastille, deren Mauern allzu lange die Verbrechen der Tyrannei verbargen, bis sie endlich unter der Empörung des seiner Rechte bewußt gewordenen Volkes zusammenbrachen. […] Diese ehemalige Brutstätte des vernichteten Despotismus muß der siegreichen Freiheit ein angenehmer Ort sein.“18

Im Jahre 1840 schließlich wurde am Ort der abgerissenen Bastille die bereits angesprochene, bis heute den gleichnamigen Platz beherrschende Freiheitssäule zur Erinnerung an die in der Julirevolution von 1830 umgekommenen Aufständischen errichtet, gekrönt von einem Genius der Freiheit, der die Fackel des Lichts der Zivilisation trägt. Nur wenig später beinhaltete einer der ersten Feuilleton-Romane der modernen Literatur, Eugène Sues Familienchronik Les Mystères du Peuple, die

16 Peter Zinoman, The Colonial Bastille. A History of Imprisonment in Vietnam, 1862-1940, Berkeley u.a. 2001, das Zitat S. 7. 17 Aus einem Gedicht des südafrikanischen Schriftstellers Dennis Brutus, hier zit. n. Lüsebrink/Reichardt, Die Bastille, S. 264. 18 Zit. n. ebd., S. 241.

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folgende, nun zugleich immer weiter in die Zukunft weisende Glorifizierung: „Ja, der Sieg über die Bastille ist von keinem Makel befleckt; und deshalb hat er eine so große, so gewaltige Bedeutung […] Die im Namen der heiligen Rechte der Menschheit begonnene Revolution muß vollendet werden! […] Die Eroberung der Bastille bedeutet außerdem, daß das Volk begriffen hat, daß keine Freiheit möglich ist, solange eine Festung, das Symbol der militärischen und despotischen Gewalt, mit ihren Kanonen die entwaffnete Stadt bedroht! Der große Tag des 14. Juli bedeutet schließlich auch einen Akt der Brüderlichkeit des Volkes, das mit allen Opfern der Tyrannei Mitleid empfindet. […] Der Bastillesturm, dieser erhabene Sieg, wird ruhmreich unabsehbare Folgen haben; er wird unsere Feinde in heilsamen Schrecken versetzen […]; die französische Revolution wird ihr unsterbliches Prinzip bekräftigen, das in jenen göttlichen Worten zusammengefaßt ist: Freiheit, – Brüderlichkeit, – Gleichheit!“19

So wurde mit dem Sturm auf die Bastille neben den Menschenrechten nun auch die Parole verbunden, die sich in der Folgezeit für die Franzosen im politischen Bereich zu vielleicht dem nationalen Erinnerungsort schlechthin mit einer doch immer wieder auch über die nationale Identitätsstiftung hinausweisenden, die revolutionären Grundlagen der modernen Demokratie insgesamt adressierenden Kraft entwickelt hat: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ 20 Im Kampf um die politische Erbschaft trafen allerdings höchst widersprüchliche Deutungen aufeinander. So kritisierte der französische Sozialistenführer Paul Lafargue bei der Gründung der II. Sozialistischen Internationale 1889

19 Zit. n. Lüsebrink/Reichardt, Die Bastille, S. 229. 20 Vgl. Mona Ozouf, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, in: Pierre Nora (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs. Mit einem Vorwort von Etienne Francois, München 2005, S. 27-62; ferner Gudrun Gersmann, Liberté, Egalité, Fraternité. Zur Aktualität eines Slogans, in: Pim den Boer et al. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2 (Das Haus Europa), München 2012, S. 571-576.

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in Paris, die Bourgeoisie habe „die feudale Bastille wegrasiert, nur um im ganzen Lande kapitalistische Arbeits-Bastillen zu errichten, in denen sie die Kinder, Frauen und Männer des Proletariat zu den Qualen der Überarbeitung“ verdamme.21

ERINNERUNGSORT REVOLUTIONÄR BEGRÜNDETER DEMOKRATIE Doch auch die Perspektive auf einen neuen, proletarisch-sozialistischen Aufstand gegen die ,Bastillen‘ des Kapitalismus, später dann auch des Militarismus und des Faschismus trug dazu bei, die Bedeutung der Bastille und ihrer Erstürmung als Symbol revolutionärer Erneuerung weiter zu befestigen. Im Zeichen des Nationalfeiertags am 14. Juli verbanden sich die Bastille und ihre nun immer unauflöslicher mit ihr verbundene Erstürmung so immer mehr zu einem Erinnerungsort für die revolutionäre Begründung nicht nur der französischen, sondern bald auch der europäischen Republik und Demokratie, ja der modernen Demokratie schlechthin. Dementsprechend konnte der deutsche Journalist Theodor Wolff den revolutionären Sturz der Hohenzollernmonarchie im November 1918 die „größte aller Revolutionen nennen, weil noch niemals eine so fest gebaute, mit so soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen worden ist.“22 Heute ist die Verbindung des Bastillesturms mit den Werten und Parolen der revolutionär begründeten Demokratie aus der politischen Erbschaft nicht allein Frankreichs, sondern des modernen Europa wie der modernen Welt nicht mehr wegzudenken. So wurde die 1789 aus dem Geist des Bastillesturms entworfene Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte generell zu einem Bezugspunkt der modernen Demokratie wie des globalen Völkerrechts und diente 1948 als eine zentrale Grundlage

21 Zit. n. Lüsebrink/Reichardt, Die Bastille, S. 252. 22 Theodor Wolff, Die größte aller Revolutionen, in: Berliner Tageblatt vom 10.11.1918.

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für die Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen.23 Als am Abend des 13. Juli 1989 in Paris unter Beteiligung der führenden Staatsmänner der westlichen Welt am Platz der ehemaligen, nur noch bzw. inzwischen wieder durch Grundrissmarkierungen im Straßenpflaster erkennbaren Bastille die neue, hochmoderne Opéra de la Bastille feierlich eingeweiht wurde, brachte der ganze Zusammenhang des Ereignisses in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, wie sehr inzwischen im Begriff der ,Bastille‘ die positive Bewertung des revolutionären Umsturzes vom 14. Juli 1789 als Gründungsereignis der modernen Demokratie die (weiterhin notwendigerweise, aber immer schwächer mitschwingende) Verurteilung des despotischen Ancien Régime in den Hintergrund geschoben hat: Es ging dabei um La nuit avant le jour/Die Nacht vor dem Tag, wie das aufgeführte Stück von Robert Wilson hieß24, es ging also um die Vorbereitung des 14. Juli als Auftakt des ,Bicentenaire‘, der 200-Jahrfeier der Französischen Revolution, in der vor allem ihre Bedeutung für die Entwicklung der Moderne inszeniert wurde. Der sozialistische Kulturminister Jacques Lang zog aus diesem Anlass sogar bereits ebenso lyrische wie zukunftsgewisse Parallelen zwischen der Großen Revolution der Franzosen und den Freiheitsbewegungen des Jahres 1989 in Europa und der Welt: „1789 renâit à Prague en 1989, à Berlin en 1989, à Moscou en 1989, à Budapest, à Sofia, à Santiago de Chile, à Pékin en 1989. […] Ce soir n’est pas le

23 Vgl. Marcel Gauchet, Menschenrechte, in: Furet/Ozouf (Hg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2, S. 1180-1198; Bardo Fassbender/Dirk van Gunsteren (Hg. u. Übers.), Menschenrechteerklärung: Universal Declaration of Human Rights – Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Neuübersetzung, Synopse, Erläuterung, Materialien, München 2009. 24 http://fresques.ina.fr/en-scenes/fiche-media/Scenes01055/inauguration-del-opera-bastille-le-13-juillet-1989.html [16.1.2015].

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final du Bicentenaire. Ce soir est un prélude; une manière d’ouverture à ce troisième siècle de nos libertés en devenir.“25

Damit griff er in aktualisierender Weise ein Thema auf, dass sein Staatspräsident François Mitterand bereits ein Jahr vor Beginn der Feierlichkeiten zum Programmkern des Bicentenaire erklärt hatte. „Célébrer les grands anniversaires, c’est préparer les grands événements“, hatte er Victor Hugo zitiert, dann selbst hinzugefügt: „Voilà pourquoi nous commémorons en ce jour […] le bicentenaire de 1789.“ Diese selbstgewisse Beschwörung nicht nur der historischen, sondern zugleich auch der zukunftsweisenden Bedeutung des Bastillesturms und der Französischen Revolution hatte im Verlauf der Feierlichkeiten des Jahres 1989 allerdings einige Dellen bekommen. Denn die französische Bevölkerung war offensichtlich weniger hingerissen von den oft selbstgefällig-elitären Inszenierungen. Dies änderte sich erst, als auf der anderen Seite des Rheins, in Deutschland, tatsächlich eine Art neuer Bastillesturm stattzufinden und eine neue Phase der revolutionären Erneuerung eingeleitet schien. „Le mur de Berlin était au communisme ce que la Bastille était à la monarchie“, zog die Zeitung Libération die historische Parallele. Eine Hauptnachrichtensendung des französischen Fernsehens machte mit der Feststellung auf: „200 ans après la Bastille, le Mur“, und auch der französische EUPräsident Jacques Delors stellte den Mauerfall in die Kontinuität des Bastillesturms, als er in einem Interview betonte: „Comme en 1789, le peuple fait l’histoire.“

25 Dies und die folgenden französischen Zitate aus Patrick Garcia, François Mitterand, chef de l’État, commémorateur et citoyen, in: Mots 31/1992, S. 5-26, zit. n. Ulrich Pfeil, Der Bicentenaire, der Fall der Mauer und die Franzosen, in: Reiner Marcowitz (Hg.), Ein ,neues‘ Deutschland? Eine deutsch-französische Bilanz 20 Jahre nach der Vereinigung, Berlin 2013, S. 45-61.

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Aber auch in der rückblickenden Deutung eines zumeist eher abgewogen urteilenden deutschen Historikers rückten die beiden immerhin zweihundert Jahre auseinanderliegenden historischen Ereignisse unter der Perspektive des langwierigen deutschen Weges als westlichrevolutionär begriffene politische Kultur in einen engen Zusammenhang. Heinrich August Winkler stellte in seiner deutschen Geschichte nach 1945 fest: „Die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 war für die DDR das, was der Sturm auf die Pariser Bastille am 14. Juli 1789 für das französische Ancien Régime gewesen war: der Schlag, von dem sich die bisherige Ordnung nicht mehr erholen konnte. Die Mauer war nicht minder als die Bastille ein Symbol der Unfreiheit. Als das Symbol fiel, war das Ende der alten Herrschaft gekommen. Die ,friedliche Revolution‘ in der der DDR hatte das Ziel erreicht, über das alle vorwärtsdrängenden Kräfte einig waren.“ 26

In diesen Kommentaren wird besonders deutlich, wie sehr die Erinnerung an die Bastille inzwischen mit ihrer Erstürmung verbunden und zu einem Symbol der Revolution an sich geworden ist. Denn bis dahin war es kaum üblich gewesen, die beiden Bauwerke als Symbole der Despotie miteinander zu vergleichen, erst der Fall der Berliner Mauer ließ sie in eine gemeinsame, nun revolutionär begriffene Tradition eintreten. Ähnlich wirkungsmächtig präsentierte sich die Verbindung aus der Erinnerung an den Bastillesturm und dem inzwischen zur Parole der Französischen Republik wie der modernen Demokratie schlechthin erhobenen Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, als zu Anfang des Jahres 2015 in Paris die Redakteure der Satirezeitschrift Charly Hebdo von islamistischen Attentätern ermordet wurden. Europa- und weltweit wurde dagegen als Angriff auf die moderne Demokratie demonstriert, in Köln etwa erklärte der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani:

26 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Deutsche Geschichte 1933-1990, München 2000, S. 499.

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„Das geschah mitten in Europa, im Zentrum der französischen Hauptstadt, unweit der Bastille, wo die Bürger 1789 auf die Barrikaden gingen, damit nicht mehr ein einzelner Despot, sondern Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen. Diese Revolution war es, die am Anfang auch unserer Freiheit steht.“27

27 Zit. n. Zeit Online vom 15.1.2015, https://www.zeit.de/2015/03/anschlagparis-muslime-gegenwehr [13.4.2019].

Vom Hochverräter zum Leitbild Wallenstein im Museum Arthur Schlegelmilch

Abb.3: Bildnisbüste Albrecht Wenzel Eusebius von Wallenstein, Marmorstatue in der Feldherrenhalle des Heeresgeschichtlichen Museums1 1

© Heeresgeschichtliches Museum, Wien.

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Als letzte der gemäß kaiserlicher Entschließung vom 28. Februar 1863 in der Feldherrenhalle des neu errichteten „k.k. Hofwaffenmuseums“ aufzustellenden Statuen der „berühmtesten, immerwährenden Nacheiferung würdiger Kriegsfürsten und Feldherren Österreichs“ entstand im Jahr 1877 von der Hand des aus Prag stammenden Bildhauers Ludwig Schimek das Standbild des Feldmarschalls und Generals des kaiserlichen Heeres Albrecht von Wallenstein (1583-1634), dem wohl umstrittensten Heerführer des Dreißigjährigen Krieges, der im Februar 1634 auf kaiserlichen Befehl liquidiert und als Verräter geächtet worden war. 1882 folgte die Platzierung einer Wallenstein-Büste im ersten Obergeschoss (Saal I), sodann ebendort eines Wallenstein-Porträts sowie eines den gewaltsamen Tod Wallensteins darstellenden Gemäldes. Ferner fanden ein Befehlsschreiben Wallensteins an General Pappenheim vom Vorabend der Schlacht bei Lützen (1632) und eine eigenhändige Skizze der damaligen Gefechtsaufstellung Eingang in das Museum.2 Die würdige Gestaltung der Statue, die zudem mit dem Orden vom Goldenen Vlies, der höchsten Auszeichnung der Habsburger, geschmückt wurde und Wallensteins Status als Reichsfürst in der Sockelinschrift bestätigte, deckte sich weitgehend mit dem politischen Selbstverständnis der Familie Waldstein. Als Teil der deutsch-böhmischen Hocharistokratie bekannten sich ihre Mitglieder zum sogenannten ,Verfassungstreuen Grundbesitz‘ und damit zur Gesamtstaatsidee unter habsburgischer Führung. Die offizielle Ehrung ihres bekanntesten Familienmitglieds bedeutete einen signifikanten Gewinn an politischer und gesellschaftlicher Reputation, so dass Ernst Anton von Waldstein (1821-1904) nicht gezögert hatte, auf Anfrage des Kaisers die Finanzierung der Anfertigungskosten der Wallenstein-Statue für das kk.Waffenmuseum zu übernehmen.3

2

Vgl. Das Heeresgeschichtliche Museum. Eine Publikation des Heeresgeschichtlichen Museums/Heeresgeschichtlichen Instituts, Wien 2016, S. 6.

3

In ähnlicher Weise waren schon andere Feldherrenstatuen finanziert worden, teilweise hatten aber auch der Kaiser selbst sowie die vier Erzherzöge

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Bis zu diesem Zeitpunkt hatten der einstige ,Generalissimus‘ und sein unrühmliches Ende vor allem Kontroversen ausgelöst und dazu beigetragen, die kulturellen und politischen Gräben zwischen Deutschen und Tschechen innerhalb des Reiches zu vertiefen. Mithin dominierten Deutungen, die Wallenstein als Projektionsfigur gegensätzlicher nationalpolitischer Bestrebungen instrumentalisierten und so gut wie keinen Raum für ausgleichende Betrachtungsweisen ließen. Vor diesem Hintergrund stellte der Versuch der Etablierung Wallensteins als eines auf die Integration des Gesamtstaats ausgerichteten Erinnerungsorts nicht nur ein Novum, sondern auch ein politisch heikles Unterfangen dar, das sich, wie im Folgenden gezeigt werden wird, gegen die nationalen Stereotypen letztlich nicht durchsetzen konnte. Gleichwohl geben das Wallenstein-Denkmal, wie das k.k. Waffenmuseum, die Feldherrenhalle und viele andere dynastisch und gesamtstaatlich ausgerichtete Maßnahmen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Zeugnis von der geschichtspolitischen Standhaftigkeit der Dynastie und der mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Gruppen und Funktionseliten. In diesem Sinne kann von der Wallenstein-Statue des Heeresgeschichtlichen Museums als einem bis heute nachwirkenden ,Erinnerungsort‘ gesprochen werden.

REHABILITATION OHNE AUFARBEITUNG Die Aufstellung der Wallenstein-Statue im Eingangsbereich der Feldherrenhalle des k.k. Waffenmuseums acht Jahre nach seiner offiziellen Eröffnung (1869) kam auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers zustande. Vorausgegangen war ein langwieriger Begutachtungsprozess, der sich dem Problem der öffentlichen Rehabilitierung und Idealisierung einer Persönlichkeit zu widmen hatte, die inmitten des Dreißigjährigen Kriegs auf Befehl des damaligen habsburgischen Kaisers Ferdinand II. private Mittel bereitgestellt. Vgl. Alice Strobl, Das k. k. Waffenmuseum im Arsenal. Der Bau und seine künstlerische Ausschmückung, Graz 1961, S. 93ff, 99ff.

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liquidiert und der allgemeinen Ächtung ausgesetzt worden war. Bereits im Todesjahr 1634 war dazu der Außführliche und Gründtliche Bericht Der vorgewesten Fridtländischen, und seiner Adhaerenten abscheulichen Prodition, was es damit für ein aigentliche Beschaffenheit gehabt, und was für Boßhafftige Anschläg alberait gemacht worden erschienen; ergänzt durch Flugschriften, Dossiers und Insiderberichte, die allesamt darauf hinausliefen, dass es sich bei dem Delinquenten um einen Verräter und „todwürdigen Verbrecher“ gehandelt habe. Dem Verdikt hatte damals nur die protestantische Seite widersprochen und die Auffassung vertreten, dass mit Wallensteins Ermordung auf Betreiben der „spanischen Rotte“ und „nach der Art der Pfaffen Art und Weise“ ein großes „Pacifikationswerk“ verhindert und zudem das Reichsrecht gebrochen worden sei.4 Mit der Aufstellung der Wallenstein-Statue im k.k. Hofwaffenmuseum vollzog das Herrscherhaus nun vor aller Augen und höchst offiziell eine Kehrtwendung gegenüber der Verdammung von 1634, ohne dafür eine historisch überzeugende Begründung zu liefern. Vielmehr wurde so getan, als sei von einer bereits erfolgten Rehabilitation auszugehen. Als Hauptargument diente dabei nicht etwa die Aufarbeitung der historischen Hintergründe, sondern eine bereits zu Zeiten Kaiser Josephs II. erfolgte Umbettung der sterblichen Überreste Wallensteins von Karthaus Walditz (Kartouzy-Valdice) nach Münchengrätz (Mnichovo Hradiště). Hierauf bezog sich dann auch die vom Kaiser eingesetzte Historikerkommission zur Begründung ihres positiven Votums: „Um auf die Erwägung, ob diesem Feldherrn, dessen Namen zu feiern Geschichte und Poesie sich verbunden haben, ein Platz in der österreichischen Ruhmeshalle einzuräumen ist, wird ehrfurchtsvoll erinnert, dass von der Frage seiner Schuld bei mehreren Anlässen Allerhöchsten Orts Umgang genommen

4

Vgl. Hans Medick, Wallensteins Tod. Auf den medialen Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges, in: Daphnis 37 (2008), H. 1/2, S. 111-130, Zitate auf S. 124.

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und dadurch sein Andenken gleichsam rehabilitiert worden war. So paradierte bei Übertragung seiner irdischen Überreste Anno 1785 nach Münchengrätz die dortige Garnison und der Höchstselige Kaiser Franz I. besuchte später dessen Gruft“.5

Der Verweis auf Wallensteins Umbettung war insofern nicht ganz abwegig, als dem Umgang mit dem Toten vom ersten Tag an symbolische Bedeutung beigemessen worden war. Immer wieder hatte man das „liederlich / unlöblich und schändlich ende“ sowie die detaillierte Schilderung der Leichenschändung als zusätzlichen Beleg für die Richtigkeit des Vorgehens herangezogen.6 Folglich wurde der Familie dann auch nicht erlaubt, die Bestattung im heimatlichen Herzogtum Friedland im nordöstlichen Böhmen vorzunehmen. Vielmehr war Wallensteins sterbliche Hülle in die kleine südwestböhmische Bergstadt Mies (Stříbro) verbracht und dort zwei Jahre gelagert worden. 7

5

Zit. n. Strobl, k. k. Waffenmuseum im Arsenal, S. 100; Manfred Rauchensteiner, Das Heeresgeschichtliche Museum als Gedächtnisort, in: Arbeitskreis Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit e.V. (Hg.), Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Jg. 6, H. 1, Potsdam 2002, S. 35.

6

Vgl. auch das in verschiedenen Zeitungen veröffentlichte „Epitaphium“ mit seinem Anfangsreim: „Hie liegt und fault mit Haut und Bein/Der mächtig Kriegsfürst Wallenstein“. Vgl. ebd., S. 123. Den damit entstehenden Kontrast zu Gustav Adolfs gottgefälligem Heldentod in der Schlacht von Lützen (16.11.1632) und den damit verbundenen propagandistischen Gewinn der protestantischen Seite hatte man dafür billigend in Kauf genommen. Vgl. Gerhild Scholz Williams, Formen der Aufrichtigkeit. Zeitgeschehen in Wort und Bild im „Theatrum Europaeum“ (1618-1718), in: Claudia Benthien/Steffen Martus (Hg.), Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, Tübingen, 2006, S. 343-373, hier: S. 355ff.

7

Vgl. Ordentliche Postzeittungen, Wien 11.3.1634, http://brema.suub.unibremen.de/zeitungen17/periodical/titleinfo/818466 [8.1.2018].

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In dieser Zeit waren die eingezogenen Güter Wallensteins veräußert worden, die jener nach dem Zusammenbruch des böhmischen Ständeaufstands von 1618/20 einst selbst als konfisziertes Rebellengut günstig erworben hatte. Allerdings gewährte man der Witwe Isabella von Harrach „aus christlicher Milde“ die Herrschaft Neuschloß (Nový Hrad) bei Böhmisch-Leipa (Česká Lípa), die sie einst von ihrem Mann geschenkt bekommen hatte.8 Ferner handelte es sich bei einem der Käufer um Maximilian von Waldstein, den Vetter und – unter normalen Umständen – präsumtiven Alleinerben Wallensteins. Der versuchte freilich gar nicht erst sein Erbe einzufordern, sondern bezahlte mit barer Münze und veranstaltete in Wien sogar eine Art DankesFestmahl für den Grafen Gallas und andere Beteiligte des Komplotts von Eger. Mit taktischem Geschick gelang es ihm schließlich, nicht nur das Palais Waldstein auf der Prager Kleinseite zu erwerben, sondern wenig später (1636) auch die Erlaubnis zu erwirken, die Leiche des Onkels in das Kartäuserkloster des Hl. Bruno nach Karthaus Walditz nur wenige Kilometer nördlich von Gitschin (Jičín), der einstigen Hauptstadt des untergegangenen Herzogtums Friedland, zu überführen. 1785 erfolgte schließlich die bereits erwähnte Umbettung nach Münchengrätz (Mnichovo Hradiště). Sie wurde erforderlich, weil der aufgeklärte Reformkaiser und Säkularisierer Joseph II. verfügt hatte, das Kartäuserkloster in ein Zuchthaus umzuwandeln.9 Die offizielle Beurteilung des Friedländers hatte sich inzwischen sichtlich gewandelt. So berichtete das Wienerblättchen vom 22. März 1785, dass [am 18. März] der „Leichnam des Anno 1634 entleibten

8

Vgl. Zdislava Röhsner, Alltagsgeschichten und Heiratssachen – Katharina (1599-1640), Isabella (1601-1655) und Maria Elisabeth von Harrach (1637-1710), verehelichte Waldstein, in: Dies. (Hg.), Wallenstein und noch viel mehr. 850 Jahre Familie Waldstein, Wien 2009, S. 63-86, S. 73.

9

Vgl. Carl Adam Schweigerd, Oesterreichs Helden und Heerführer von Maximilian I. bis auf die neueste Zeit, in Biographien und Charakterskizzen aus und nach den besten Quellen und Quellenwerken geschildert, Bd. 1, 2. Aufl. Wien 1857, S. 773.

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Herzogs von Friedland, Grafen von Waldstein etc. und seiner Gemahlin […] mit vieler Pracht hierher übertragen worden“ sei, nachdem vorher mehrere Mitglieder der Waldstein-Familie „um die Reliquien dieses großen Mannes angesucht“ hätten, die schließlich „von höchsten Orten seiner Exzellenz dem Herrn Vinzenz Grafen von WaldsteinWarthenberg zugesichert“ worden seien. Es folgte eine ausführliche Beschreibung der Aufbahrung „auf einem prächtigen Trauergerüste“, der Parade der örtlichen Militärgarnison zu Ehren des Verstorbenen, der Begleitung des Trauerzugs durch diverse böhmische Adelsfamilien, der „Abhaltung der Exequien unter Trauermusik“ sowie der Anwesenheit „einer zahlreichen Menge Volkes“ trotz widrigster winterlicher Wetterbedingungen. Der Beitrag schloss mit der Bemerkung, dass an nichts gespart worden sei, „um diesem außerordentlichen Begräbnis all das Ansehen und alle die Feyerlichkeiten zu geben, die dieser muthige Held verdienet.“10 Offenbar wollte man 150 Jahre nach den Ereignissen von Eger zu einem versöhnlichen Abschluss der Angelegenheit kommen und Wallensteins Rückkehr in den Schoß der Familie respektive in den Kreis der böhmischen Hocharistokratie symbolisch Ausdruck verleihen. Die Angelegenheit dürfte zudem dadurch erleichtert worden seien, dass der aufgeklärte Kaiser auf der einen Seite und der rational handelnde Kriegsunternehmer des Dreißigjährigen Krieges auf der anderen Seite nicht nur geistesverwandt zu sein schienen, sondern mit dem Barockkatholizismus und dem Jesuitenorden auch dieselben Gegner hatten. Wie die Inschrift auf dem Deckel des Zinksarges verdeutlichte, wurde der Verratsvorwurfs gleichwohl nicht zur Gänze zurückgenommen, sondern galt die Würdigung des Verflossenen expressis verbis nur für den Zeitraum, in dem jener für Gott, Kirche, Kaiser und Vaterland tapfer gekämpft hatte: „Quaeris viator, quis hic jacet? Albertus Eusebius Waldstein Dux Fridlandiae qui anno 1634 die 2. Febr. Egrae fatis cessit aegre. Fulgebat olim splendore

10 Vgl. Wienerblättchen vom 22.3.1785, S. 205-208.

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Martis, dum pro Deo, pro Ecclesia, pro Caesare, pro Patria fortiter pugnavit & triumphavit. Eum, postquam legitime certavit, Deus ad se vocavit, coelestique corona praemiavit. Cujus jam bello fessa hic in pace quiescent ossa.”11

Wallensteins Aufnahme in den erlauchten Kreis der 60 Feldherrenstatuen des k.k. Waffenmuseums besaß vor diesem Hintergrund durchaus eine neue Qualität der Würdigung und Anerkennung des tief Gefallenen. Sie lässt sich nur dann richtig einordnen, wenn Ort und Zeitpunkt der Entscheidung für die Aufstellung der Statue im Jahr 1877 einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.

DAS K.K.-HOFWAFFENMUSEUM IM KONTEXT VON STADTPLANUNG UND DENKMALSPOLITIK Mit der Errichtung des k.k. Hofwaffenmuseums12 verband sich die Absicht, die bewaffnete Macht als neben der Bürokratie wichtigster Stütze des Habsburgerstaats zu würdigen und die besondere Verbun-

11 „Du fragst, Reisender, wer hier liegt? Es ist der Herzog von Friedland, Albrecht Eusebius Waldstein, dem am 2. Februar 1634 zu Eger ein hartes Schicksal traf. Der Kriegsgott Mars war ihm gewogen, solange er für Gott, Kirche, Kaiser und Vaterland tapfer kämpfte und siegte. Gott hat ihn, da er für die richtige Sache gekämpft hat, zu sich gerufen und mit himmlischen Ehren ausgezeichnet. Sein schon im Krieg erschöpfter Körper möge hier in Frieden ruhen.“ 12 Die Bezeichnung wechselte seit der Eröffnung 1869 mehrfach. Ab 1885 lautete die offizielle Bezeichnung k.k. Heeresmuseum, von 1889 bis 1918 k.u.k. Heeresmuseum, ab 1918 Österreichisches Heeresmuseum, ab 1938 Heeresmuseum

Wien,

ab

1945

Heeresgeschichtliches

Museum,

https://www.hgm.at/ [21.1.2018]. Mit der Umbenennung von 1885 verband sich die Abkehr vom ursprünglichen Konzept eines „Zeughauses“ bzw. eines Waffenmuseums zugunsten der Idee eines zentralen militärgeschichtlichen Erinnerungsorts. Vgl. dazu: Das Heeresgeschichtliche Museum, S 6.

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denheit zwischen Krone und Armee zu unterstreichen. Der Komplex des ,Arsenals‘ als eines gewaltigen Festungsneubaus (im heutigen 3. Wiener Bezirk), der nicht zuletzt der Kontrolle und Disziplinierung der Wiener Stadtbevölkerung diente, sollte auf diese Weise historisch legitimiert und symbolisch aufgeladen werden. Vor diesem Hintergrund trifft der Museumsbegriff nur bedingt zu, da es sich zum überwiegenden Teil doch eher um eine Ehrenstätte nach Art der Walhalla bei Regensburg bzw. der Ruhmeshalle in München handelte. Diesen Eindruck vermitteln neben der Feldherrenhalle als erstem Raum das Stiegenhaus (mit zahlreichen Allegorien und den vier siegreichen Feldherren der Revolutionskämpfe von 1848/49 (Haynau, Radetzky, Windischgraetz, Jelačić) sowie die repräsentative ,Ruhmeshalle‘ im ersten Obergeschoss, in dem die Siege der kaiserlichen Armee dargestellt, aber auch die Namen und Lebensdaten von gefallenen Offizieren und Generälen der Kriege aufgeführt sind. Der prächtige Charakter des Museumsgebäudes, für das mit Theophil Hansen der spätere Architekt des Parlamentsgebäudes am Ring hauptverantwortlich zeichnete, unterstreicht den hohen symbolpolitischen Stellenwert des Museumsprojekts zusätzlich.13 Für alle Statuen der Feldherrenhalle galten strenge formale Vorgaben. Ihre Größe war auf 1,86 Meter festgelegt, als Werkstoff war Carrara-Marmor zu verwenden; als schriftliche Erläuterung waren nur der Name und Titel des Dargestellten sowie die Namen des Bildhauers und des Stifters zulässig. Kopfbedeckungen waren nicht vorgesehen. Die Aufstellung der Statuen, unter denen sich im Übrigen auch sogenannte ,Kriegsfürsten‘, d.h. babenbergische Herzöge sowie habsburgische Herrscher befanden, erfolgte unter Ausschluss nationaler Kriterien und damit multinational – für das Gesamtensemble des Hofwaffenmuseums galt die Vorgabe, dass alle Kronländer auf irgendeine Art und Weise vertreten sein sollten. Dementsprechend war es nur konsequent, dass es sich bei den neben Wallenstein gruppierten Figuren um den Ungarn Johann Hunyady (1387-1456), den Böhmen Johann Giskra von

13 Vgl. ebd., S. 4.

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Brandeis (ca. 1499-1470) und den Steiermärker Andreas Baumkircher (1420-1471) handelte, wobei letzterer zum Zeitpunkt seines gewaltsamen Todes ebenfalls als antihabsburgischer Rebell gegolten und dafür mit dem Leben bezahlt hatte.14 Die Akzentuierung des übernationalen Charakters der k.k.Monarchie sowie die besondere Betonung der Verbundenheit mit allen staatsloyalen Kräften deckten sich mit der offiziellen Staats- und Herrschaftsdoktrin des Kaiserhauses zu Beginn der neoabsolutistischen Epoche ab 1849/50. Dem allenthalben grassierenden Nationalismus und dem stark aufkommenden bürgerlichen Liberalismus mit seinen konstitutionellen Forderungen sollte ein attraktives Gegenmodell aus konservativer Wurzel an die Seite gestellt werden. Den städtebaulichen Ausgangspunkt dieses Plans bildete die neugotische Votivkirche nahe der Ringstraße als Mahnmal eines (gescheiterten) Attentats auf Kaiser Franz Joseph sowie als Garnisonskirche für Wien bzw. als staatspatriotischer Denkmalskirche.15 In Zusammenhang mit der Schleifung der alten Festungsmauer und der baulichen Nutzung des ehemaligen Glacis sollten weitere imperiale Großbauten und Plätze folgen, wie sie andernorts, beispielsweise mit dem Pariser Platz/Brandenburger Tor in Berlin oder dem Place de l’Étoile/Arc de Triomphe in Paris bereits bestanden. Im Mittelpunkt stand das als Erweiterung der Hofburg geplante Kaiserforum, dessen Ausführung allerdings nur unvollständig gelang und hinter der bürgerlich-liberalen „Ringstraßenarchitektur“ mit Parlament, Universität, Theater, Oper und Rathaus letztlich weit zurückblieb.16 Das denkmalpolitische Pendant zur städtebaulichen Ent-

14 Vgl. Strobl, k. k. Waffenmuseum im Arsenal, S. 96ff. 15 Vgl. Werner Telesko, Das Haus Habsburg und seine dynastischen „Helden“ im 19. Jahrhundert, in: Wolfgang Müller-Funk/Georg Kugler (Hg.), „Zeitreise Heldenberg“. Lauter Helden. Katalog zur Niederösterreichischen Landesausstellung 2005, Wien 2005, S. 67-74, hier: S. 72. 16 Vgl. Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle, München 1997, S. 41; Peter Stachel, Der Heldenplatz. Zur Semiotik eines österreichischen

Gedächtnis-Ortes,

in:

Stefan

Riesenfellner

(Hg.),

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wicklung umfasste u.a. das Standbild Erzherzog Carls als Sieger der österreichisch-französischen Schlacht bei Aspern (Enthüllung 1860) sowie das Prinz-Eugen-Reiterdenkmal (1865) und das MariaTheresien-Denkmal (1888); den Abschluss bildete im Jahr 1892 das – ebenfalls bereits in den fünfziger Jahren geplante – Radetzky-Denkmal mit der auf Franz Grillparzer zurückgehenden, auf die k.k.-Armee bezogenen Widmung: „In deinem Lager ist Österreich.“ 17

DAS WALLENSTEINBILD IM SPANNUNGSFELD KONKURRIERENDER MEISTERERZÄHLUNGEN UND DER NATIONALITÄTENFRAGE Die Idee, Wallenstein zu einer Identifikations- und Integrationsfigur der k.k.-Reichsidee werden zu lassen, muss letztlich als gescheitert angesehen werden. Tatsächlich bestand vierzig Jahre vor dem Untergang des Habsburgerreiches kaum noch die Möglichkeit, multiethnische und reichspatriotische Metaerzählungen erfolgreich zu etablieren. Dies galt für die Figur Wallensteins – einmal abgesehen von der Verratsproblematik – in besonderer Weise, weil ihre Berücksichtigung, anders als im Fall des Prinzen Eugen oder des Erzherzogs Carl, die sich in erster Linie um die Abwehr äußerer Feinde des Reiches verdient gemacht hatten, ein innenpolitisches Grunddilemma thematisierte: das spannungsreiche Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen bzw. den auf tschechischer Seite verbreiteten Eindruck der Diskriminierung und mangelnden Anerkennung als eigenständiger Nation, als

Steinernes Bewußtsein. Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern, Wien u.a. 1998, S. 619656, hier: S. 632f. 17 Es handelte sich um Grillparzers Gedicht Feldmarschall Radetzky, das am 8. Juni 1848 in der Constitutionellen Donaustadt Zeitung erschienen war. Vgl. Markus Kristan, Denkmäler der Gründerzeit in Wien, in: Riesenfellner (Hg.), Steinernes Bewußtsein, S. 77-165, hier: S. 81ff.

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deren Ausgangspunkt die Niederwerfung des böhmischen Ständeaufstands in der Schlacht am Weißen Berg (1620) einschließlich der nachfolgenden Straf- und Expropriationsmaßnahmen der kaiserlichen Seite mit Wallenstein als führendem Akteur angesehen wurde. Bereits um 1840 hatte sich eine nationaltschechische Gegenerzählung herausgebildet, die in dem am Oberlauf der Elbe in Hermanitz (Heřmanice nad Labem) geborenen Abkömmling eines alteingesessenen böhmischen Herrengeschlechts einen Verräter am tschechischen Volk erblickte.18 Anknüpfend an Wallenstein-kritische Vorarbeiten etwa des deutsch-tschechischen Historikers Anton(ín) Gindely (18291892) avancierte der Historiker Josef Pekař (1870-1937), der schließlich (1895) mit dem Wallenstein-Thema an der tschechischen KarlsUniversität Prag habilitieren sollte,19 zum wichtigsten Vertreter dieser Position. Wallenstein diente ihm dabei zunächst als negative Kontrastfolie, nämlich als Vertreter des degenerierten, weil national indifferenten Teils der böhmischen Hocharistokratie, der sich konfessionell und politisch auf die falsche Seite geschlagen hatte und deshalb dem Untergang geweiht war. Andererseits sah er in Wallensteins Aufstieg den Beweis dafür, dass die militärischen und ökonomischen Ressourcen für die Durchsetzung eines autonomen tschechisch-böhmischen Staats bereits im 17. Jahrhundert vorhanden waren und die Tragödie weiterer

18 Vgl. Joachim Bahlcke, Geschichtsdeutungen in nationaler Konkurrenz. Das Wallensteinbild von Josef Pekař (1870-1937) und seine Rezeption in Böhmen und der Tschechoslowakei, in: Joachim Bahlcke/Christoph Kampmann (Hg.), Wallensteinbilder im Widerstreit. Eine historische Symbolfigur in Geschichtsschreibung und Literatur vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2011, S. 279-312. 19 Unter dem Titel: Dějiny Valdštejnského spiknutí 1630–1634, (Geschichte der Wallenstein-Verschwörung; 1895). In deutscher Sprache: Wallenstein 1630-1634. Tragödie der Verschwörung, Berlin 1937.

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dreihundert Jahre tschechischer Existenz im ,Völkerkerker‘ des Habsburgerreiches nicht zwangsläufig gewesen war. 20 Die ebenfalls bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkommende und sich in der Folge immer weiter zuspitzende nationaldeutsche Wallensteindeutung erkannte in Wallenstein hingegen einen bedeutenden Vorboten deutscher Nationalstaatlichkeit und sah in ihm schließlich sogar „die vorzeitige Incarnation jener Kraft, welche, in drei Persönlichkeiten [gemeint sind Bismarck, Moltke, Roon; A.S.] in die Erscheinung getreten, 240 Jahre nach ihm mit Hilfe des Volkes in Waffen das neue deutsche Kaiserthum, nur mit einer andern Spitze aufrichtete“.21 Nach dem Ersten Weltkrieg bediente sich vor allem die deutsche Minderheit der neu gegründeten tschechoslowakischen Republik des nationaldeutschen Wallensteintopos und spitzte ihn noch weiter zu. Im Zeichen des ,Sudetentums‘ und unter der Ägide der ,Sudetendeutschen Heimatfront‘ (ab 1935 ,Sudetendeutsche Partei‘) belebte sich nochmals die ins Kaiserreich zurückreichende Tradition der Wallensteinfestspiele im westböhmischen Eger/Cheb. Der Historikerschaft wurde in diesem Zusammenhang angetragen, Wallenstein als „eine der größten Gestalten unserer Heimat, als hervorragenden Organisator der Wirtschaft, als Vorkämpfer für eine neue deutsche Ord-

20 Vgl. Arthur Schlegelmilch, Historische Biographik als „wahrer Roman“: Golo Manns Wallenstein-Erzählung, in: Klein, Christian/Schnicke, Falko (Hg.), Legitimationsmechanismen des Biographischen. Kontexte – Akteure – Techniken – Grenzen, Bern u.a. 2016, S. 91-116, S. 102. 21 Edmund Schebek, Die Lösung der Wallensteinfrage, Berlin 1881, zit. n. Rudolf Pfefferkorn, Wallenstein und die Reichsidee. Eine historische Studie von Schiller bis Pekar, Dissertation Berlin/Prag 1945, Hermannsburg 1998, S. 129. Dies war tendenziell auch schon die Position des kgl. preußischen Hofrats Friedrich Foerster in seiner Schrift: Wallensteins Prozeß, Berlin 1834.

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nung“ – „wie es in neuer Zeit Prinz Eugen gewesen“ – herauszustellen.22 Mit der Verbreitung und Radikalisierung nationalistischer Wallensteindeutungen schwanden die Chancen eines auf das Haus Habsburg und den Vielvölkerstaat gerichteten Wallensteinbildes zunehmend. Allerdings bewegte es sich (noch nicht) gänzlich im luftleeren Raum. Namentlich der Wiener Historiker Heinrich Ritter von Srbik bemühte sich um eine Sichtweise, derzufolge „dieser Tscheche von Geburt und Deutsche durch Erziehung, dieser Lutheraner der Jugendzeit und Katholik des Mannesalters […] in sich die Nationalitäten, Religionen, Klassen und sozialen Unterschiede [vereinte], wie er sie in seinen Armeen vereinte und wie er sie zusammenschmelzen wollte im Reich, um aus diesem Chaos einen Staat und ein Vaterland zu schaffen und Mitteleuropa zu einer Nation umzubilden.“23

Dass Srbiks staatstragender Wallensteindeutung letztlich kein Erfolg beschieden war, muss vor allem vor dem Hintergrund der ungünstig verlaufenden Nationalitätenpolitik im Habsburgerreich gesehen werden. Betrachtet man deren Entwicklung zwischen 1849, dem Jahr der Entscheidung für das Waffenmuseum, und 1877, dem Jahr der Aufstellung der Wallensteinstatue, werden gravierende Veränderungen deutlich. Für den Gesamtzeitraum ist zunächst eine Periode des militäri-

22 Ota Konrad, Die Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung 1940-1945: „Wissenschaftliche Gründlichkeit und völkische Verpflichtung“, in: Stefan Albrecht/Jiří Malíř/Ralph Melville (Hg.), Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ 1918-1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer. Vorträge der Tagung der Historischen Kommission für die böhmischen Länder (vormals: der Sudetenländer) in Brünn vom 1. bis 2. Oktober 2004 aus Anlass ihres fünfzigjährigen Bestehens, München 2008, S. 82. 23 Heinrich Ritter von Srbik, Wallensteins Ende. Ursachen, Verlauf und Folgen der Katastrophe, Wien 1921, S. 37.

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schen Niedergangs und schwerer Territorial- und Einflussverluste einschließlich des erzwungenen Ausscheidens Österreichs aus dem deutschen Bundeszusammenhang in Folge der verlorenen Schlacht bei Königgrätz zu konstatieren. Nach Innen markiert das Jahr 1867 mit dem sogenannten ,Ausgleich‘ und der faktischen Zweiteilung des Reichs in einen deutsch dominierten cis- und einen ungarisch dominierten transleithanischen Teil einen entscheidenden Umschlagpunkt. Die faktische Autonomiestellung der Ungarn führte bei einem Teil der tschechischen Bevölkerung, namentlich den sogenannten ,Jungtschechen‘, zur Forderung nach einem ,böhmischen‘ Ausgleich und damit zu einem trialistischen (statt dualistischen) Staatsaufbau. Die Autonomieforderungen der Jungtschechen verbreiteten sich im Laufe der 60er und 70er Jahre zusehends und drängten die gemäßigten Kräfte zurück, so dass für eine Erinnerungs- und Symbolpolitik im Geist von pluralistischer Tradition und ethnisch-kultureller Vielfalt im Beziehungsgeflecht von Tschechen und Deutschen immer weniger Raum blieb. Es sollte dann nur noch wenige Jahre dauern bis es im Rahmen der sogenannten ,Badeni-Krise‘ (1897) zu offenen Auseinandersetzungen kam, die dafür sorgten, das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen weiter zu vergiften.24 Erst nach dem Untergang des Nationalsozialismus und dem Ende der ,Ostmark‘ bzw. dem Zusammenbruch der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) ergaben sich Spielräume für ein erneuertes Wallensteinnarrativ, das nicht mehr den Feldherrn, sondern den Landesherrn Wallenstein in den Mittelpunkt stellte und die müßige Frage nach seiner nationalen Gesinnung außer Acht ließ. So erkannte eine groß angelegte Ausstellung, die 2007/08 unter dem Titel Albrecht of Waldstein and his Era im Prager Waldstein-Palais stattfand, grundsätzlich an, dass Ciceros Diktum „inter arma silent musae“ („Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen“) nicht galt, wo Wallenstein

24 Vgl. Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2009, S. 168ff.

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herrschte. Vielmehr habe das – vor allem italienisch inspirierte – böhmische Barock unter dem Friedländer höchstes europäisches Kunstniveau erreicht. Mit Fug und Recht könne Wallensteins Böhmen als „terra felix“ bezeichnet werden. Auf diesen erinnerungskulturellen Zug sind mittlerweile zahlreiche, mehr oder weniger mit der Biografie Wallensteins verbundene Orte aufgesprungen, neben Prag und Cheb (Eger) das gern als „Böhmisches Paradies“ apostrophierte Kerngebiet des Herzogtums Friedland (von Jicin bis nach Mnichovo Hradiště).25 Dieser Perspektivwechsel der tschechischen Seite weist im Übrigen eine Reihe von interessanten Anknüpfungspunkten mit der wissenschaftlich-populären Wallenstein-Biographie Golo Manns aus dem Jahr 1971 auf, in der ebenfalls die Aufbauleistung und Gestaltungskraft des Landesherrn besonders betont und als Zugangsmöglichkeit zum biographischen Sujet genutzt worden war.26

25 Vgl. Eliška Fučíková, Albrecht of Waldstein and His Era. Prague, Senate of the Parliament of the Czech Republic, Waldstein Riding School, 15.11.2007 bis 17.2.2008, Exhibition Guide, Prag 2007, S. 11; Robert Rebitsch, Wallenstein – ein Mythos, in: Claus Oberhauser (Hg.), Hinter den Kulissen. Beiträge zur historischen Mythenforschung, Innsbruck 2012, S. 53-69. 26 Der touristischen Bewerbung des Gebietes nicht unähnlich schreckte auch Golo Mann nicht vor Imaginationen zurück, wie folgende Passage unterstreichen mag: „Er hätte glücklich sein können. Die blühenden Felder und fetten Weiden ringsumher, das Arbeitsgewimmel um die Bergwerke und die Baugerüste in den Städten, die schöner wurden mit jedem Jahr, das Klappern der Mühlen, die frommen Gesänge der Mönche, das zu Roß sich Tummeln der Studenten und Edelknaben, das demütige Grüßen der wohlgenährten, saubergekleideten Untertanen, wenn die herzogliche Wagenkolonne vorbeirollt – sein Werk, sein Besitz. Was brauchte er mehr? Die Zeitläufte, die ihn hochgetragen hatten, indem er sie wie kein Zweiter zu nutzen gewusst hatte, ließen ihm keine Ruhe.“ Vgl. Golo Mann, Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann, Frankfurt am Main 1971, hier zit. n.

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FAZIT Wallensteins Charakterisierung als eines in vielfacher Hinsicht herausragenden, jenseits konfessioneller und ethnischer Bindungen agierenden Landesherrn und weitgehend autonom agierenden Kriegsunternehmers stellt sich heute als Teil eines wiederentdeckten Erzählstrangs dar, der durch die nationalen Meistererzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts zwischenzeitlich überlagert worden war. Teilweise verknüpft er sich mit einer positiven Würdigung des Habsburgerreiches und der in ihm entwickelten Idee einer multiethnischen Staatsnation, wie sie einst (1853) beispielhaft in einer Schrift des Juristen und Staatssekretärs (im Unterrichtsministerium) Josef Alexander von Helfert – unter Verweis auf Ciceros „Civis Romanus sum!“ – beschrieben worden war, nämlich als Verbund „einer territorial und politisch zusammengehörenden, von dem Bande der gleichen Autorität umschlungenen, unter dem Schutze des gleichen Gesetzes verbundenen Bevölkerung.“ 27 Neben der Betonung der besonderen Verbundenheit von Thron und Armee diente die erinnerungskulturelle Idealisierung Wallensteins ausgangs der 1870er Jahre eben dieser staatsnationalen Ausrichtung, für die man dringend geeignete Identifikationsfiguren benötigte. Die Wallenstein-Statue des k.k. Waffenmuseums konnte diese ihr zugedachte Funktion indes nicht mehr erfüllen, weil sich die sogenannte ,böhmische Frage‘ zum Zeitpunkt ihrer Aufstellung schon zu weit zugespitzt hatte, um den beiden konkurrierenden Nationalitäten ein Symbol des Ausgleichs auf landes- und reichspatriotischer Ebene entgegen zu setzen. Im Gegenzug boten beide Seiten ein jeweils eigenes – aggressives – Wallensteinbild auf, von dem eine stärkere emotionale Schubkraft ausging als dies mit dem Rückgriff auf die Ruhmestaten des kaiserlichen Heeres und seiner Führer noch gelingen konn-

der Lizenzausgabe für die Europäische Bildungsgemeinschaft Verlags GmbH, Berlin/Darmstadt/Wien 1972, S. 284. 27 J.A. Helfert, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Österreich, Prag 1854, S. 1f.

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te.28 Andererseits sollte nicht verkannt werden, dass sich das Modell der Ruhmeshalle im Sinne der symbolischen Verbindung von Geschichte, Kunst und Staat auf der Höhe der Zeit bewegte und von ihm eine nicht unerhebliche Anziehungskraft ausging. So verzeichnete das Heeresmuseum zwischen 1891 und 1913 eine Steigerung der Besucherzahlen von 5.037 auf 53.843; eine Erzherzog-Carl-Ausstellung im Museum für Kunst und Industrie an der Wiener Ringstraße zog 265.043 Besucher an. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an den seit 1849 betriebenen Aufbau einer großen Denkmalsanlage im niederösterreichischen Klein-Wetzdorf. Ihr Initiator und Financier war der als Heereslieferant reich gewordene Unternehmer Joseph Pargfrieder. Im Zentrum des ,Heldenbergs‘ standen die Verdienste der Armee und ihrer Führer in den Kämpfen der Jahre 1848/49, namentlich des Feldmarschalls Radetzky, doch umfasste das Ensemble auch die sogenannte ,Heldenallee‘ mit 44 Büsten bedeutender Heerführer früherer Zeiten, darunter auch das Porträt des „Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein“.29 Zum Wetzdorfer Heldenberg wusste die Wiener VorstadtZeitung vom 12. Januar 1858 zu berichten, dass sich dort „tagtäglich zahlreiche Besucher“ einfänden, um sich von diesem „großartigen wie

28 Dies belegt z.B. der „Historikerstreit“ zwischen Hermann Hallwich und Anton Gindely ausgangs der 1880er Jahre. Vgl. dazu Lothar Höbelt, „Erl“ und die Meistersinger. Streiflichter zur Geschichte der Familie Waldstein in der franzisko-josephinischen Ära, in: Zdislava Röhsner (Hg.), Wallenstein und noch viel mehr. 850 Jahre Familie Waldstein, Wien 2009, S. 169182. 29 Vgl. Stefan Riesenfellner, Steinernes Bewußtsein I. Der „Heldenberg“ – die militärische und dynastische „Walhalla“ Österreichs, in: Ders. (Hg.), Steinernes Bewußtsein, S. 13-30; Hubert Michael Mader, Die Helden vom Heldenberg. Pargfrieder und seine „Walhalla“ der k.k. Armee, Graz 2008, S. 14.

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sinnreichen Denkmal“ beeindrucken zu lassen.30 Freilich ging das öffentliche Interesse immer weiter zurück und so wurde es schließlich notwendig, die Anlage in den Besitz der k.u.k.-Armee zu überführen, um sie vor dem Verfall zu schützen. 1918 folgte die Übernahme durch die Republik Österreich.31

30 Wiener Vorstadt-Zeitung Nr. 12 vom 12.1.1858, S. 1. Zu den Besucherzahlen vgl. Das Heeresgeschichtliche Museum, S. 7. 31 Vgl. Stefan Riesenfellner, Steinernes Bewußtsein I., in: Ders. (Hg.), Steinernes Bewußtsein, S. 13-30; Mader, Helden vom Heldenberg, S. 14.

August 1914 Aufbruch in das Katastrophenzeitalter Wolfgang Kruse

Abb. 4: Hitler bei einer patriotischen Kundgebung auf dem Odeonsplatz in München am 2. August 1914. Die Nazi-Propaganda reproduzierte diese geschickt arrangierte und vermutlich auch gefälschte Fotografie immer wieder.1

1

© Bayerische Staatsbibliothek, Sammlung Hoffmann, hoff-4493.tif.

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Nun würden „in ganz Europa die Lichter“ ausgehen, und „wir werden es nicht mehr erleben, dass sie angezündet werden.“2 Diese schon bei Kriegsbeginn Anfang August 1914 formulierte Einschätzung des englischen Außenministers Edward Grey deckt sich grundsätzlich mit der historischen Bewertung, die dem Beginn des Ersten Weltkriegs auch in der heutigen Rückschau nach mehr als hundert Jahren zumeist beigemessen wird. Der 1. August 1914 steht dabei für den Einbruch militärischer Gewalt in die zivilisatorische Entwicklung Europas und zugleich für den Auftakt zu einem von Krieg und Gewalt geprägten ,Katastrophenzeitalter‘ der totalen Kriege und Bürgerkriege 3, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg sein Ende gefunden hat und sich nie mehr wiederholen dürfe. Trotzdem sind mit dem Kriegsbeginn im August 1914 noch viele weitere, tief im historischen Bewusstsein Europas verankerte Vorstellungen verbunden, die sowohl geschichtswissenschaftlich als auch literarisch auf hoch wirksame Weise ausgestaltet worden sind4 und den August 1914 erst in vollem Sinne zu einem europäischen Erinnerungsort gemacht haben: Kriegsbegeisterung und nationale Einheit gehören ebenso dazu wie die Zusammenarbeit aller nationalen Kräfte für die ,Verteidigung des Vaterlandes‘ im Zeichen des ,Burgfriedens‘ oder, aus anderer Perspektive, der ,Verrat‘ der bislang so kriegsgegnerisch und internationalistisch auftretenden sozialistischen Parteien an ihren Idealen und Anhängern. Auch die Vorstellung von der generationsbildenden Kraft des Kriegsbeginns gehört dazu, der eine ,Generation von 1914‘ geformt habe, die von vielen nicht nur in England auch jenseits der unmittelbaren Kriegsverluste, in der Zerstörung bislang gültiger Wertvorstellungen und Lebensentwürfe als eine ,lost generation‘, eine

2

Edward Grey, Twenty-Five Years 1892-1916, Bd. 2, New York 1925, S. 20.

3

Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995.

4

Vgl. Barbara W. Tuchmann, August 1914, Bern/München 1964; Alexander Solschenizyn, August Vierzehn, Darmstadt 1971.

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verlorene Generation, betrachtet wurde.5 Der Schriftsteller Arnold Zweig hat mit seinem Roman Junge Frau von 1914 dagegen den Aufbruch in eine neue, weiblich geprägte Zukunft beschworen und damit auch der in der Geschichtswissenschaft lange fast einhellig vertretenen, durch die neuere Forschung allerdings deutlich relativierten Vorstellung ein literarisches Denkmal gesetzt, dass die Kriegserfahrung entscheidend zur Emanzipation der Frauen beigetragen habe. 6 Auf der anderen Seite ist mit dem Kriegsbeginn, wie es in einem berühmten Buchtitel seines Namensvetters Stefan Zweig heißt 7, auch heute noch für viele Menschen die Vorstellung von einer im Kern guten Welt von Gestern verbunden, die bei Kriegsbeginn mit rasanter Geschwindigkeit in der Vergangenheit versunken sei; obwohl diese nur vermeintlich ,gute alte Zeit‘ mit ihrem Imperialismus, Militarismus und Nationalismus doch selbst in den Krieg hineingeführt hatte. Andere europäische Völker, die sich in der Zeit der ,Belle Epoche‘ unter der Herrschaft von autoritären Vielvölkerreichen wie dem Zarenreich, der habsburgischen Doppelmonarchie oder dem deutschen Kaiserreich ohne nationale Selbstbestimmung in ,Völkergefängnissen‘ eingesperrt sahen, haben die Vorkriegszeit ebenso wie den Ersten Weltkrieg dagegen immer wieder in einem ganz anderen Licht interpretiert: Polen feiert am 11. November nicht etwa den Jahrestag des Kriegsendes, sondern die Gründung eines unabhängigen polnischen Staates, und in Jugoslawien, später auch in Serbien, wurden dem Attentäter Gavrilo Prinçip, dessen Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares am Anfang des Weges in den Krieg stand, sogar Denkmäler für seine ,Befreiungstat‘ gesetzt. Europäische Erinnerungskulturen sind, wie man hier am Beispiel des Kriegsbeginns sieht, gerade in ihren nationalen Perspektiven oft so vielfältig und widersprüchlich, dass sie zumeist nicht ohne Verkürzun-

5

Robert M. Wohl, The Generation of 1914, Cambridge/Mass. 1981.

6

Arnold Zweig, Junge Frau von 1914, Berlin 1931.

7

Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, London 1941.

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gen oder Verfälschungen auf eine gemeinsame europäische Formel gebracht werden können. Im Folgenden möchte ich mich auf zwei zentrale, eng miteinander verwobene Aspekte konzentrieren, von denen man trotzdem zweifellos sagen kann, dass sie den europäischen Erinnerungsort ,August 1914‘ in vieler Hinsicht nationsübergreifend geprägt haben: Zum einen geht es dabei um die nationale Begeisterung des Kriegsbeginns, die im August 1914 die Völker Europas ergriffen habe. Zum anderen ist insbesondere aus deutscher Perspektive immer wieder die Verbindung zwischen den ,nationalen Erhebungen‘ von 1914 und 1933, ist die Verbindung zwischen dem Beginn des Ersten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Machtergreifung betont worden.

AUGUSTERLEBNIS: KRIEGSBEGEISTERUNG UND NATIONALE AUFBRÜCHE Beginnen wir mit der Kriegsbegeisterung. Die im Juli 1914 stattfindenden Demonstrationen für einen Krieg, der öffentliche Jubel bei der Verkündigung der Mobilmachungen und Kriegserklärungen, die von allen Parteien beschworenen nationalen Einheitsfronten und nicht zuletzt die von Intellektuellen auf allen Seiten entworfenen Sinnstiftungen des Krieges wie der kriegführenden Gesellschaften und Staaten scheinen dem Bild umfassender Kriegsbegeisterung eine unabweisbare Kraft zu geben. „So auch bin ich nicht mehr“ versuchte einer der bedeutendsten zeitgenössischen Sprachkünstler, der österreichische Dichter Rainer Maria Rilke, das nationale Gemeinschaftserlebnis des Kriegsbeginns in Worte zu fassen, „aus dem gemeinsamen Herzen,/ schlägt das meine den Schlag, und der gemeinsame Mund/ bricht den meinigen auf.“8 Diese Erfahrung wurde vielfach zum Ausdruck gebracht, und verband sich zugleich mit dem Gefühl eines nationalen

8

Rainer Maria Rilke, Fünf Gesänge. August 1914, III, in: Kriegs-Almanach, Leipzig 1915, S. 16.

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Aufbruchs: „Wir sind uns wieder gewiß geworden“, „jetzt fühlen wir uns genesen, „alles bekommt nun wieder einen Sinn“, oder auch „jetzt sind wir nichts als deutsch“, so lautete die nach Kriegsbeginn in Deutschland beschworene Metaphorik eines nationalen Heilungsprozesses, die den Krieg auch politisch als einen „Zauberkünstler und Wundertäter“ der Überwindung innerer Gegensätze erscheinen lassen konnte. „Er führt die Welfen zu feurigem Reichsbekenntnis, er läßt den Fluch von Zabern ersticken im Jubelbrausen, mit dem das reichsländische Volk die preußischen Truppen begrüßt. Er läßt die Polen besinnlich werden und über die Theorie vom kleineren Übel nachdenken; und er vollbringt das größte aller Wunder: Er zwingt die Sozialdemokratie an die Seite ihrer deutschen Brüder.“9

Bald kamen weiterreichende Sinnstiftungen des ,Geistes von 1914‘ hinzu, die zu ,Ideen von 1914‘ ausgestaltet und in idealisierende Sinnstiftungen des Krieges überführt wurden. ,Burgfrieden‘, ,union sacré‘ oder eher britisch-pragmatisch ,truce policy‘ lauteten nationsübergreifend die Formeln der kriegspolitisch begründeten nationalen Einheit, und sie verbanden sich bald auch überall mit Ideologisierungen, in denen der organisatorische Zusammenhalt der kämpfenden Nationen glorifiziert wurde. ,Kriegssozialismus‘, ,socialisme de guerre‘ oder ,war socialism‘, aber auch ,Volksgemeinschaft‘ oder ,deutsche Ge-

9

Tägliche Rundschau vom 5.8.1914; die vorhergehenden Zitate: Friedrich Meinecke, Die deutschen Erhebungen 1813, 1848, 1870 und 1914, in: Ders., Die deutsche Erhebung von 1914, Berlin 1915, S. 29; Gustav Roethe, Wir Deutschen und der Krieg, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, gehalten von den Professoren an der Universität Berlin, Berlin 1914, S. 15-46, hier S. 19 (Rede vom 3.9.1914); Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Betrachtungen, München/Leipzig 1915, S. 119; Hermann Bahr, Das deutsche Wesen ist uns erschienen, in: Das Eiserne Buch. Die führenden Männer und Frauen zum Weltkrieg 1914/15, Hamburg 1915, S. 76f.

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meinwirtschaft‘ lauteten die Chiffren, mit denen, an das Gemeinschaftserlebnis des Kriegsbeginns anknüpfend, die gesellschaftliche Organisation der ,Heimatfront‘ idealisiert wurde. Der eigentliche doch profane, interessengeleitete, massenmörderische Krieg erschien in den Kriegsdeutungen führender Dichter und Denker nun als ein ,Kulturkrieg‘, in dem es um die Bewahrung der im ,Augusterlebnis‘ wiedergefundenen nationalen Einheit mit ihren vermeintlich spezifisch deutschen Sinnstiftungen, Identitäten und Lebenshaltungen zu gehen schien. „Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler“, schwadronierte etwa voller Verzückung kein Geringerer als der Dichter Thomas Mann, „nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden.“ Und den Krieg selbst, den die westlichen Kriegsgegner für Zivilisation, und Völkerrecht, Freiheit und Frieden zu führen beanspruchten, bestimmte Mann in umgekehrter Weise ganz deutschtümelnd als einen Kampf zur Bewahrung deutscher Identität und Kultur gegen wesensfremde Bedrohungen, denn „Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht und Literatur.“10 Die „deutsche Freiheit“ wurde dementsprechend antiwestlich konzipiert, als „Freiheit einer freiwilligen Verpflichtetheit für das Ganze, die Freiheit des Gemeinsinns und Disziplin“11, deren Ziel es sei: „Das mit Freude und ganzer Hingebung und unbehindert tun, was man tun soll, das tun wollen, was man tun muß.“12, wie sie in der kriegswirt-

10 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1918, S. 22f. 11 Ernst Troeltsch, Die Ideen von 1914, Rede gehalten in der Deutschen Gesellschaft von 1914 am 30.3.1916, in: Ders., Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, Tübingen 1925, S. 31-58. 12 Adolf von Harnack, Was wir schon gewonnen haben und was wir noch gewinnen müssen, in: Zentralstelle für Volkswohlfahrt; Verein für Volkstümliche Kurse von Berliner Hochschullehrern (Hg.): Deutsche Reden in schwerer Zeit, S. 147-168 (Rede vom 29.9.1914).

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schaftlichen Organisation ihren höchsten Ausdruck zu finden schien. Denker wie der Nationalökonom Johann Plenge versuchten, ausgehend von ihren Analysen der organisatorischen, den sozialen Zusammenhalt der nationalen Volksgemeinschaft garantierenden Grundlagen, den Sinn des Krieges als Sieg des neuen ,deutschen‘ Ordnungsprinzips einer „Volksgenossenschaft des nationalen Sozialismus“ auch geschichtsphilosophisch zu deuten: „Aber wenn man demgemäß das Grundbewußtsein von 1914 als die bewußt gewollte Gesinnung der Eingliederung in das Ganze betont, so ist es auch klar, daß in ihr, obwohl sie der Gegensatz von 1789 ist, damit doch der Geist von 1789, der Geist der Freiheit weiter lebt. […] Freiheit! Gleichheit!! Brüderlichkeit! ,Schaffe mit‘ ist die Freiheit der Tat! ,Gliedere Dich ein‘ die Gleichheit des Dienstes! ,Lebe im Ganzen‘ die Brüderlichkeit des echten Sozialismus!“13

EINE „EMBLEMATISCHE“ FOTOGRAFIE UND IHRE HISTORISCHEN VERZERRUNGEN So wie es hier bereits deutlich anklingt, wird zum anderen und mit guten Gründen immer wieder die Bedeutung des ,großen Augusterlebnisses des deutschen Volkes‘ für die Entwicklung des Nationalsozialismus und für den Auftakt zu einem Zeitalter der totalen Weltkriege betont, die jeweils ohne die zerstörerischen Erfahrungen der Jahre 1914 bis 1918 nicht angemessen erklärt werden können.14 Beide Vorstellungen – die nationale Kriegsbegeisterung des August 1914 und

13 Johann Plenge, 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Berlin 1916, S. 82ff. 14 Zum Zusammenhang vgl. Wolfgang Kruse, Europäische Geschichte im Zeitalter der Weltkriege: Konzepte und Deutungsmuster, in: Monika Hölscher/Viola Krause/Thomas Lutz (Hg.), Geschichte und Geschichtsbilder. Der Erste und Zweite Weltkrieg im internationalen Vergleich, Wiesbaden 2016 (Polis 57), S. 15-34.

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ihre Verbindungen mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg – spiegeln sich in der oben abgebildeten Fotografie wider, die kein anderer als der spätere Leibfotograf Adolf Hitlers, Heinrich Hoffmann 15, am 2. August 1914 in München aufgenommen hat und die seitdem zu einem Emblem für die Begeisterung und die historische Bedeutung des Kriegsbeginns geworden, – oder vielleicht besser: gemacht worden ist. Wir sehen offensichtlich begeisterte Menschen vor der Feldherrenhalle auf dem Münchner Odeonsplatz, darunter, durch einen vergrößernden Kreis noch einmal hervorgehoben, der junge Adolf Hitler, der sich bald darauf, obwohl er Österreicher war, freiwillig zum Dienst in der bayerischen Armee meldete und dort bis 1918 als Soldat am Krieg teilnahm. Dieses Foto, eine offenbar für die Verbindung von deutscher Nation, Krieg und Hitler geradezu „emblematische Photographie“16, die im Laufe der Zeit bis heute immer wieder in Zeitschriften wie in Schulbüchern abgedruckt worden ist, scheint sowohl die Kriegsbegeisterung der Massen als auch das Aufgehen Hitlers in einem nationalistisch erregten und vereinten deutschen Volk zu belegen. Doch wenn man die strengen Maßstäbe geschichtswissenschaftlicher Quellenkritik anlegt, beginnt dieses Bild schnell seine scheinbare Eindeutigkeit zu verlieren und seinen im Kern propagandistisch-ideologischen Charakter zu enthüllen. Das gilt zuerst einmal für den angesichts solcher Fotografien so unabweisbar erscheinenden Eindruck nationalistischer Massenbegeisterung. Doch auch Fotos zeigen immer nur einen Ausschnitt der gesellschaftlichen Realität und gerinnen bei vorschneller Verallgemeinerung leicht zu historischen Verzeichnungen. Ein ebenfalls während der

15 Vgl. Rudolf Herz, Hoffmann und Hitler. Fotografie als Medium des Führer-Mythos, München 1994; Joe Heydecker, Das Hitler-Bild. Die Erinnerungen des Fotografen Heinrich Hoffmann, St. Pölten 2008. 16 Gerd Krumeich, Eine emblematische Photographie? Hitler in der Menge, in: Arbeitskreis Militärgeschichte, Newsletter 6, April 1998, S. 9f.; Sven Felix Kellerhoff, Berühmtes Hitler-Foto möglicherweise gefälscht, in: Die Welt vom 14.10 2010, [15.3.2019].

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Kundgebung am 2. August 1914 in München gedrehter, im Bundesarchiv aufbewahrter Film, der den Fokus weniger eng fasst und eine weiter geöffnete Perspektive einnimmt, konturiert die Situation auf dem Odeonsplatz jedenfalls ganz anders: Vergleichsweise wenige Menschen drängten sich demnach an der Feldherrenhalle, während weite Teile des Platzes von Menschen bevölkert wurden, die an der Kundgebung keinen Anteil nahmen und ihren Alltagsgeschäften nachgingen, bevor sie nicht auf den beginnenden Krieg selbst, sondern vielmehr auf das Medium Film, genauer auf die Tatsache, gefilmt zu werden, reagierten. „Selbst auf dem Teil des Platzes, der auf Hoffmanns Foto abgelichtet ist“, so fasst der Historiker Thomas Weber den Inhalt des Films zusammen, „hat eine Straßenbahn genug Platz, um mit normaler Geschwindigkeit über den Odeonsplatz zu fahren. Zu Beginn der Filmaufnahme sehen wir ruhelose Menschen. Erst als die Kundgebungsteilnehmer bemerken, dass sie gefilmt werden, beginnen sie zu jubeln und ihre Hüte zu schwenken. Genau in diesem Augenblick drückte Heinrich Hoffmann, der unweit des Filmteams stand, auf den Auslöser.“17

Doch einmal abgesehen von der auf eigenständige Weise Begeisterung kreierenden Macht des Mediums Film: Auch ein Tagebucheintrag vom Vortage aus Berlin bestätigt, dass selbst bei der offiziellen Verkündung der Mobilmachung am 1. August, die gemeinhin als entscheidender Auslöser der ,Augustbegeisterung‘ gilt, die Massenstimmung eher bedrückt, jedenfalls uneinheitlich und nur in begrenzten Räumen tatsächlich von überschäumender Begeisterung geprägt war: „Viele Frauen mit verweinten Gesichtern“, hielt der junge Vorwärts-Mitarbeiter Rudolf Franz seine Eindrücke in der Berliner Innenstadt fest,

17 Thomas Weber, Hitlers erster Krieg, Bonn 2012, S. 30.

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„Ernst und Bedrücktheit. Kein Jubel, keine Begeisterung. Unter den Linden ebenso. Beim Schloßplatz Menschenmassen. Hochrufe und singende Gruppen vor dem Kronprinzenpalais. Die Weiterwegstehenden passiv.“ 18

Auch die Frage, ob sich Hitler tatsächlich am 2. August unter dem begeisterten Teil der Menschen auf unserem Foto befunden hat, ist nicht eindeutig zu beantworten. Denn als Hoffmann Ende der 1920er Jahre von Hitler darauf aufmerksam gemacht wurde, dass auch er auf dem Odeonsplatz gewesen sei, konnte dieser den ,Führer‘ auf seinen fünf erhaltenen Fotoplatten erst einmal nicht identifizieren. Erst einige Wochen später präsentierte er eine sechste Platte, auf der er Hitler nun doch noch entdeckt habe: „Nur ganz kurz brauchte ich zu suchen“, erklärte er ganz im Banne des Führer-Mythos, „da steht einer, ja, er ist es, sein Haar fällt in die Stirn. Sein Gesicht kann nicht täuschen, er ist es.“19 Doch nicht nur die Verzögerung weckt Zweifel. Denn in Hoffmans erhaltenem Archiv findet sich nicht nur kein Glasplattennegativ, sondern es finden sich auch verschiedene Versionen des Fotos, was den Verdacht nahelegt, Hitler könnte hineinretuschiert worden sein. Auf dem oben bereits genannten Film ist er jedenfalls nicht zu entdecken. Doch wie dem auch sei, das Foto hat seine historische Wirkung und Bedeutung in jedem Fall erst im Nachhinein, mit Hilfe propagandistisch verwendeter Inszenierungen gefunden. Es wurde erstmals am 12. März 1932 im Parteiblatt Völkischer Beobachter veröffentlicht, nachdem Hitler kurz zuvor im Wahlkampf seine Flucht vor dem Wehrdienst in Österreich vorgeworfen und seine patriotische Haltung in Frage gestellt worden war. Nun diente das Foto dazu, umgekehrt seine Haltung als deutscher Patriot zu betonen und zu feiern: „Mitten in der Menge stand mit leuchtenden Augen – Adolf Hitler“, hieß es

18 Tagebuch Rudolf Franz, 1.8.1914, zit. n. Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1993, S. 59. 19 Zit. n. Kellerhoff, Berühmtes Hitler-Foto möglicherweise gefälscht.

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verklärend im Text. Und nach der Machtergreifung begann erst die eigentliche Karriere der Fotografie mit dem hervorgehobenen Hitler, die seitdem nicht nur in nationalsozialistischen Veröffentlichungen, sondern weit darüber hinaus bis in die Gegenwart als Beleg für Hitlers aktive Beteiligung an der ,nationalen Erhebung‘ von 1914 benutzt wird.

PERSPEKTIVEN KRITISCHER HISTORISCHER FORSCHUNG Auch die kritische historische Forschung hat allerdings dazu beigetragen, den Mythos umfassender nationaler Kriegsbegeisterung nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Bevölkerung zu bestärken. Denn nicht die Massenstimmungen selbst wurden lange systematisch untersucht, sondern es wurde stattdessen immer wieder intensiv nach den Ursachen der so befremdlich erscheinenden, aber doch als unhinterfragte Tatsache vorausgesetzten Begeisterung für einen Krieg gefragt, in dem etwa zehn Millionen Soldaten ums Leben kommen sollten. Obwohl die Forschungen der letzten Jahrzehnte, ausgehend von den Arbeiten des französischen Historikers Jean-Jacques Becker, inzwischen das Bild einer allumfassenden, die Völker Europas ergreifenden nationalistischen Kriegsbegeisterung auch für Deutschland nachhaltig relativiert und vielfältige, auch nach dem Ende der massenhaften Antikriegsproteste der letzten Juliwoche von Begeisterung über Panik bis zu Bestürzung reichende, auf dem Land und in den Arbeiterbezirken noch weit weniger als in den großstädtischen Zentren von Begeisterung geprägte Gefühlsbewegungen herausgearbeitet haben 20,

20 Jean-Jacques Becker, 1914. Comment les Français sont entrés dans la guerre. Contribution à l’étude de l’opinion publique, printemps – été 1914, Paris 1977; für Deutschland neben Kruse, Krieg und nationale Integration, v.a. Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997; Bernd Ulrich, Die Augen-

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ist der Mythos der Kriegsbegeisterung noch immer weit verbreitet und nur schwer zu erschüttern. Besonders in Deutschland ist er seit 1914 so tief im kollektiven Bewusstsein verankert worden, dass die immer wieder heraufbeschworenen Bilder kriegsbegeisterter Menschen und Soldaten jederzeit wieder abrufbar sind. Der amerikanische Historiker Jeffrey Verhey hat demgegenüber gezeigt, wie das Bild begeisterter nationaler Geschlossenheit vom August 1914 an unter dem Signum des ,großen Augusterlebnisses des deutschen Volkes‘ und des ,Geistes von 1914‘ propagandistisch verabsolutiert worden ist und weiterwirkend auch in der politischen Geschichte der Weimarer Republik eine zentrale, letztlich die Demokratie zerstörende Rolle gespielt hat.21 Die in der Weltkriegsideologie propagierte Gegnerschaft gegen die westliche Demokratie und Zivilisation ist hier ebenso zu nennen wie der Glauben an die Notwendigkeit eines starken Staates, die Beschwörung der nationalen Volksgemeinschaft und die Orientierung am Ideal eines nationalen, nicht mehr klassenkämpferisch, sondern volksgemeinschaftlich orientierten Sozialismus. Auch der ehemalige Leiter der Obersten Heeresleitung und seit 1925 Reichspräsident Paul von Hindenburg war bei seinen Entscheidungen, die parlamentarische Regierung der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre zuerst durch autoritäre Präsidialregierungen zu ersetzen und schließlich Adolf Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, zutiefst geprägt von dem Wunsch, den ,Geist von 1914‘ wiederauferstehen zu lassen. Sein letzter großer Biograph urteilt: „Die Ernennung des ,Führers‘ der weitaus stärksten politischen Partei zum Reichskanzler einer Regierung, in der sich erstmals alle aus Hindenburgs Sicht ,nationalen Kräfte‘ zusammengefunden hatte, nahm der Reichspräsident vor, weil das der Gesamtlage seiner Politik entsprach. Hindenburgs politisches

zeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933, Essen 1997. 21 Jeffrey T. Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.

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Lebensziel – die Wiederbelebung des ,Geistes von 1914‘ – ließ sich mit den Mitteln seines Präsidentenamtes allein nicht erreichen. […] Die von Papen zustande gebrachte Regierungskonstellation faßte er daher als politischen Durchbruch auf: Endlich hatten nach vielen Irrungen und Wirrungen die bislang verfeindeten Brüder des ,nationalen Lagers‘ ihre Streitigkeiten begraben und sich der politischen Regie und der Autorität Hindenburgs untergeordnet.“22

KONTINUITÄTEN IM ZEITALTER DER TOTALEN KRIEGE Und nicht zuletzt für die Nationalsozialisten selbst stand ihre ,Machtergreifung‘ 1933 in den Kontinuitäten des ,Augusterlebnisses‘ von 1914. Sie feierten die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler als eine erneute nationale Erhebung des deutschen Volkes, die mit den Worten von Joseph Goebbels „seit dem August 1914 in der Luft“ gelegen habe. „Die deutsche Revolution hat in jenen Augusttagen ihren Anfang genommen“, fügte Robert Ley hinzu. Als am 21. März 1933 schließlich anlässlich der Eröffnung des neugewählten Reichstages – wegen des Reichstagsbrandes in der Potsdamer Garnisonskirche – von Propagandaminister Joseph Goebels der ,Tag von Potsdam‘ feierlich als Versöhnung zwischen dem alten, von Hindenburg repräsentierten Preußen und dem jungen Nationalsozialismus mit Hitler als Repräsentanten in Szene gesetzt wurde, wählte Generalsuperintendent Otto Dibelius für seine die „Wiederkehr des Geistes von 1914“ preisende Predigt genau dieselbe Textstelle aus dem Römerbrief, auf die sich auch schon sein Vorgänger, der Oberhofprediger Ernst von Dryander, am 4. August 1914 bei seiner Predigt zur Eröffnung der ersten Kriegssitzung des Reichtages bezogen hatte: „Ist Gott für uns, wer mag wider

22 Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, hier S. 800f.

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uns sein.“23 Anders als 1914 fand all dies allerdings nicht mehr im Kontext eines alle Kräfte der Nation zusammenfassenden ,Burgfriedens‘ statt. An die Stelle nationaler Integration zum Krieg gegen äußere Feinde war ein exklusives Konzept der ,Volksgemeinschaft‘ getreten. Nun ging es um die Integration aller nationalistisch orientierten Kräfte zum Kampf gegen den ,inneren Feind‘, gegen Kommunisten und Sozialisten, Demokraten und Pazifisten, Juden und andere ,undeutsche‘ Bevölkerungsgruppen. Auch wenn sich die zeitgenössisch gefeierte Verbindung zwischen den ,nationalen Erhebungen‘ von 1914 und von 1933 in der historischen Bewertung längst ins Negative verkehrt hat, wird der August 1914 als Auftakt zum Ersten Weltkrieg, aber auch zu einem weiter reichenden Zeitalter der Weltkriege noch auf unabsehbare Zeit und mit Recht ein zentraler Erinnerungsort der deutschen wie der europäischen Geschichte bleiben. Ob Adolf Hitler nun tatsächlich am 2. August 1914 auf dem Münchner Odeonsplatz gejubelt hat oder nicht, das ist dafür nicht wirklich von Belang. In die ebenso kriegerische wie gewalttätige deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihre Erinnerungskultur bleibt er sowieso unauslöschlich eingewoben.

23 Alle Zitate nach Verhey, Der Geist von 1914, S. 363f. Vgl. auch John Zimmermann, Der Tag von Potsdam, in: Michael Epkenhans/Carmen Winkel (Hg.), Die Garnisonkirche Potsdam. Zwischen Mythos und Erinnerung, Freiburg i.Br. 2013, S. 69-90.

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Abb. 5: Denkmal für die gefallenen Soldaten der Fremdenlegion in Aubagne.1

1

https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%A9gion_%C3%A9trang%C3%A8re# /media/File:Monument_morts_legion2.JPG [14.5.2019].

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Die französische Fremdenlegion ist eine der bekanntesten Militäreinheiten weltweit. Gegenwärtig umfasst sie etwa 9.000 aktive Rekruten aus rund 140 Ländern.2 Abgesehen von Australien und der Antarktis war die Söldnertruppe auf allen Kontinenten der Welt im Einsatz. Daran erinnern die in Gold eingezeichneten Einsatzorte auf dem Globus des oben abgebildeten Denkmals für die gefallenen Soldaten jener Einheit. Neben dem Denkmal an sich verweisen auch dessen Ursprünge auf die globale Dimension der Geschichte der Fremdenlegion. 1931 wurde es im damaligen Hauptquartier der Fremdenlegion im algerischen Sidi-bel-Abbès eingeweiht und nach der Unabhängigkeit Algeriens in die neue Zentrale in Aubagne nahe Marseille überführt. 3 Das monument aux morts wirft ein Schlaglicht auf das Selbstverständnis der Fremdenlegion als eine Truppe, die zumindest potenziell weltweit eingesetzt werden kann. Vor diesem Hintergrund betrachtet lässt sich die Frage, ob die Fremdenlegion ein europäischer Erinnerungsort ist, nur bedingt mit Ja beantworten. Historischen Abhandlungen über Erinnerungsorte liegt meist die These zu Grunde, dass Gemeinschaften ihr Selbstverständnis durch eine geteilte Interpretation bestimmter Symbole konstruieren, die sich dann im Laufe der Zeit verändert.4 Diese Arbeiten kommen kaum umhin, sich zu den Konturen der jeweiligen Erinnerungsgemeinschaft zu positionieren, deren Selbstverständnis sich in den Deutungen der jeweils untersuchten „Orte“ angeblich spiegelt(e). 5 Nicht allein auf-

2

https://www.legion-etrangere.com/mdl/pages.php?id=9&titre=La-Legionetrangere [13.3.2019]; Thibault O’Mahony, La Légion aujourd’hui, in: Guerres mondiales et conflits contemporains 237 (2010), S. 103-108.

3

Zum Transfer wichtiger Denkmäler von Algerien nach Frankreich infolge der algerischen Unabhängigkeit 1962 siehe die Einleitung bei Jan C. Jansen, Erobern und Erinnern. Symbolpolitik, öffentlicher Raum und französischer Kolonialismus in Algerien 1830-1950, München 2013.

4

Etienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Deutsche

5

Siehe dazu: Michael Rothberg, Introduction. Between Memory and

Erinnerungsorte, München 2014, S. 9-24, hier S. 13.

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grund des „methodischen Nationalismus“, der die Erinnerungsforschung lange geprägt hat,6 steht unsere Eingangsfrage unter dem Verdacht, einem „methodischen Eurozentrismus“ Vorschub zu leisten. Ferner ist zu beachten, dass sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Akteure der Erinnerungspolitik transnational agieren, heute mehr denn je. Sie nutzen die verschiedenen Kanäle der Globalisierung, vor allem das Internet, und wenden sich an ein globales Publikum, dessen Resonanz wiederum ihr zukünftiges Handeln beeinflusst.7 Der vorliegende Aufsatz fragt explizit nicht danach, welche Erinnerungsgemeinschaft sich der Fremdenlegion als ein integrierendes Symbol bediente. Vielmehr soll untersucht werden, welche Gemeinschaft anhand des Symbols Fremdenlegion konstruiert wurde und erinnert wird. Dabei liegt der Fokus auf Darstellungen der Fremdenlegion in visuellen Quellen, v.a. in Spielfilmen, die zwischen 1930 und 2010 erschienen. Anhand des Massenmediums Film kann einerseits die gesamt- bzw. übereuropäische Relevanz, Resonanz und Rezeption8 des Erinnerungsortes Fremdenlegion verdeutlicht werden. Andererseits offenbart dieser besondere Quellentyp verschiedene Formen und den Wandel visueller Erinnerungskonstruktionen, die die Vorstellungen über die Fremdenlegion bis in die Gegenwart stark beeinflusst haben. 9

Memory: From Lieux de mémoire to Noeuds de mémoire, in: Michael Rothberg et al. (Hg.), Noeuds de mémoire. Multidirectional memory in postwar French and Francophone culture, New Haven, Conn. 2010, S. 312, hier S. 6. 6

Jansen, Erobern und Erinnern, S. 3.

7

Aleida Assmann/Sebastian Conrad, Introduction, in: Dies. (Hg.), Memory in a global age. Discourses, practices and trajectories, Basingstoke 2010, S. 4.

8

Dies sind die entscheidenden Kriterien für europäische Erinnerungsorte nach Pim den Boer et al., Einleitung, in: Dies. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, München 2012, S. 7-12, hier S. 8-9.

9

Die Bedeutung filmischer Medien für das Geschichtsbewusstsein in einer Gesellschaft wird ausführlich besprochen bei Harald Welzer et al., „Opa

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Die These ist, dass die filmischen Darstellungen der Fremdenlegion eine Dichotomie zwischen Europa und der übrigen Welt sowie zwischen Europäern und Nicht-Europäern konstruierten und sich dabei bestimmter Motive des kolonialen Diskurses bedienten. Dies geschah sowohl bei positiven als auch bei eher negativen Darstellungen der Truppe. So erscheint die Fremdenlegion im Lichte der Erinnerungsforschung als ein postkolonialer Erinnerungsort, der Vorstellungen einer europäischen Gemeinschaft bzw. europäischer Gemeinsamkeiten gegenüber der außereuropäischen (kolonialen und postkolonialen) Welt evoziert.10

DARSTELLUNGEN UND SELBSTVERSTÄNDNIS DER FREMDENLEGION BIS 1945 Die französische Fremdenlegion wurde 1831 unmittelbar im Anschluss an die Julirevolution und den Machtantritt des ,Bürgerkönigs‘ Louis Philippe gegründet. Im Kontext der zunehmenden Bedeutung nationaler Armeen aus Wehrpflichtigen lässt sich der Aufbau einer aus Aus-

war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familien gedächtnis, Frankfurt am Main 2015, S. 105-133; Johannes Etmanski, Der Film als historische Quelle. Forschungsüberblick und Interpretationsansätze, in: Klaus Topitsch/Anke Brekerbohn (Hg.), Der Schuß aus dem Bild. Für Frank Kämpfer zum 65. Geburtstag, München 2004, S. 67-77. 10 „Postkoloniale Erinnerungsorte steigern die Vielschichtigkeit europäischer Identitätskonstruktionen, indem sie die zu untersuchenden nationalen Identitätsbildungs- und innereuropäischen Abgrenzungsstrategien durch gemeinsame europäische auf Abgrenzung von der nichteuropäischen Welt bedachte Konstruktionen ergänzen.“ Jürgen Zimmerer, Kolonialismus und kollektive Identität: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, in: Ders. (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Bonn 2013, S. 9-38, hier S. 17.

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ländern bestehenden Einheit vor allem aus zwei Gründen erklären. Zum einen stellte sie aus Sicht der Pariser Regierung ein probates Instrument zur Integration politischer Flüchtlinge aus Europa dar, die sich zu dieser Zeit in großer Zahl in Frankreich aufhielten. Zum anderen konnte die Söldnertruppe bei unpopulären Gefechten wie dem ein Jahr zuvor begonnenen Feldzug in Nordafrika eingesetzt werden, ohne größeres Aufsehen zu erregen, da es sich ausschließlich um Ausländer und nicht um französische Staatsbürger handelte.11 Die Fremdenlegion wurde seit ihrer Gründung vor allem in außereuropäischen Gebieten eingesetzt. Obgleich ihre Soldaten etwa während des Krimkriegs (1853-1856), im deutsch-französischen Krieg (1870-1871) und auch während des Ersten und Zweiten Weltkriegs innerhalb Europas kämpften, hat Christian Koller sie zu Recht als „ein Instrument des Imperialkrieges“ bezeichnet.12 Ihr Selbstverständnis war stark von der institutionellen Einbindung in die Armée d’Afrique geprägt und die Erinnerung an die Eroberung und die anschließende koloniale Besatzung Algeriens ist in der Truppe bis heute lebendig.13 Als Elitetruppe kam die Fremdenlegion aber auch außerhalb des Kolonialreichs zum Einsatz, um den Einflussbereich des französischen Staates auszuweiten oder zu stabilisieren. Dies war etwa während der Intervention in Mexiko 1862-1867 der Fall, als Napoleon III. vergeblich versuchte, einen von ihm abhängigen Kaiser von Mexiko einzusetzen.14

11 Christian Koller, Die Fremdenlegion. Kolonialismus, Söldnertum, Gewalt 1831-1962, Paderborn 2013, S. 27-33. 12 Ebd., S. 27. 13 So wird etwa bis heute in der Fremdenlegion das Lied Schwarze Rose von Oran gesungen, das während der 1950er Jahre im Gedenken an die Deutschen Legionäre im Algerienkrieg komponiert wurde. Stefan Müller/Martin Specht, Mythos Fremdenlegion. Mein Einsatz in der härtesten Armee der Welt, Berlin 2015, S. 136. 14 Douglas Porch, The French Foreign Legion. A complete history of the legendary fighting force, New York 1991, S. 137-162.

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Vor dem Ersten Weltkrieg waren konkrete Vorstellungen über die französische Fremdenlegion in Europa noch relativ wenig verbreitet. Anders als in den wichtigsten Herkunftsländern der Rekruten war die Söldnertruppe in ihren Anfangsjahren in Frankreich kaum bekannt. Neben der Schweiz und Großbritannien wurde vor allem innerhalb des Deutschen Reichs viel über sie geschrieben und debattiert. Der wichtigste Auslöser dafür war der deutsch-französische Krieg von 1870/71 und die daran anschließende Annexion Elsass und Lothringens durch das Deutsche Reich. Nach der erzwungenen Einbürgerung der dort lebenden Bevölkerung verpflichteten sich tausende Elsässer und Lothringer für den Dienst in der Fremdenlegion, was auf deutscher Seite als Verrat bzw. illegitime Abwerbung deutscher Männer durch den französischen Staat bewertet wurde. So entwickelte sich im deutschsprachigen Raum seit den 1880er Jahren das Genre der „AntiLegionsliteratur“.15 Diese verurteilte in der Regel den Militärdienst unter fremder Flagge und schuf darüber hinaus auch das langlebige Klischee, die Söldnertruppe sei vor allem eine Truppe aus ehemaligen Kriminellen.16 Dieses Stigma und die romantisierende Vorstellung, man könne in der Legion ein neues Leben beginnen, stützten sich vor allem auf die bereits seit 1831 bestehende Möglichkeit, beim Eintritt in die Légion étrangère eine neue Identität anzunehmen. Erst während der Zwischenkriegszeit kursierten Vorstellungen und Gerüchte über die Fremdenlegion in ganz Europa und darüber hinaus. 17 Während des Ersten Weltkriegs hatten sich Angehörige aus über 50 Staaten zum Dienst in der französischen Armee verpflichtet. Eine Kompanie des ersten Regiments der Legion bestand ausschließlich aus Polen.18 Dessen ungeachtet stammten die meisten literarischen und

15 Koller, Die Fremdenlegion, S. 54. 16 Zumindest bis zum Beginn der Dekolonisationskriege war Armut das wichtigste Motiv für den Eintritt in die Fremdenlegion. Ebd., S. 40-41. 17 Ebd., S. 51. 18 Valérie Esclangon-Morin, La Légion étrangère, une particularité française, in: Hommes & migrations (2014), S. 133-137, hier S. 134.

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filmischen Darstellungen über die Fremdenlegion nach 1918 weiterhin aus Westeuropa und nun auch aus den USA. In der Weimarer Republik wurde die von Anti-Legions-Vereinen und staatlichen Behörden getragene Kampagne aus der Vorkriegszeit mit noch gesteigerter Aggressivität fortgeführt.19 Diese sprichwörtliche Verteufelung der Legion auf deutscher Seite leistete westlich des Rheins einer gewissen Glorifizierung der Söldnertruppe Vorschub. Dies zeigte sich etwa in der Publikation z.T. romantisierender Legionärsmemoiren, aber auch in Form der staatlichen Zensur. Der erste französische Kinofilm über die Fremdenlegion Le grand jeu zeichnete 1934 ein durchaus positives bzw. verharmlosendes Bild des Dienstes in der Fremdenlegion. Drill und Schikane kamen dabei nicht vor, dafür jedoch Tänzerinnen, Alkohol und Musik. Für den tragischen Helden (Pierre Richard-Willm), der unglücklich verliebt und in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, kam die Einheit trotz gelegentlicher Momente der Melancholie einem außereuropäischen Zufluchtsort gleich. Le grand jeu griff damit mehrere Elemente des vier Jahr zuvor ausgestrahlten US-Films Marokko auf. Auch dort erschienen der Hauptdarsteller (Gary Cooper) und die übrigen Fremdenlegionäre als Frauenhelden, die im Exil einer marokkanischen Stadt neben einer gewissen Bewunderung der örtlichen Bevölkerung vor allem ein machistisches Unterhaltungsprogramm erleben konnten. Außerdem zeigte der Film die Legion und Nordafrika als Orte der Weltflucht und endete damit, dass die Geliebte des Helden (Marlene Dietrich) sich

19 Dennoch bildeten Deutsche zwischen 1870 und 1962 die mit Abstand größte nationale Gruppe der Fremdenlegion. Siehe dazu die Arbeiten von Eckard Michels, Deutsche in der Fremdenlegion 1870-1965. Mythen und Realitäten,

Paderborn

1999;

Eckard

Michels,

Deutsche

in

der

Fremdenlegion (1945-1962). Mythen und Realitäten, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Mythes et tabous des relations franco-allemandes au XXe siècle = Mythen und Tabus der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Bern u.a. 2012, S. 127-140.

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einer Gruppe von Prostituierten anschloss, um hinter dessen Einheit in die Wüste zu ziehen. Während der Zwischenkriegszeit schaltete sich auch die Fremdenlegion selbst in den Kampf um ihre öffentliche Darstellung ein. Diesbezüglich war der wichtigste Antreiber der später als „Vater der Legion“ bezeichnete General Paul-Frédéric Rollet. In der Absicht, der Legion ein positives Image zu geben, führte er eine neue Uniformierung ein und gründete eine eigene Zeitschrift der Legion. 20 Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums ließ Rollet 1931 das eingangs abgebildete Denkmal in Sidi-bel-Abbès einweihen und initiierte die Publikation des ersten Livre d’Or de la Légion Etrangère, das deren Geschichte verherrlichte und seitdem mehrfach neu aufgelegt wurde. Schließlich legte Rollet mit der Institutionalisierung des Gedenkens an die Schlacht von Camerone den wichtigsten Grundstein für das zukünftige Selbstverständnis der Legion.21 Während der französischen Militärexpedition in Mexiko hatten am 30. April 1863 in Camerone 65 Legionäre trotz ihrer aussichtslosen Lage verbissen gegen eine etwa 2.000 Mann starke mexikanische Armee gekämpft. Ungeachtet der geringen militärstrategischen Bedeutung dieses Gefechts diente es der Identitätspolitik der Fremdenlegion als zentrales Symbol der Tapferkeit und des Todesmutes der Legionäre.22 Bis heute bezeichnet „faire Camerone“ intern einen Kampfeinsatz bis zum Letzten.23

20 Marie Larroumet, Mythe et images de la Légion étrangère. Zugl.: Montpellier, Univ., Diss. 1997, Paris 2004, S. 55-57. 21 Bis heute wird zu den jährlichen Gedenkfeiern die hölzerne Handprothese des in Camerone kommandierenden Capitaine Danjou präsentiert. Auch diese Tradition wurde 1931 eingeführt und geht auf General Rollet zurück. 22 Christian Koller hat die Schlacht von Camerone explizit als wichtigsten „lieu de mémoire“ der Fremdenlegion bezeichnet. Koller, Die Fremdenlegion, S. 99. 23 Müller/Specht, Mythos Fremdenlegion, S. 53.

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TRAGISCHE HELDEN Der von Rollet eingeführte Camerone-Kult prägte nicht nur das Selbstverständnis der Söldnertruppe, sondern beeinflusste auch deren Fremdwahrnehmung. Auch über die Zwischenkriegszeit hinaus fiel die Selbstdarstellung der Fremdenlegion als heroische Eliteeinheit vor allem innerhalb Frankreichs auf fruchtbaren Boden. Dies illustrieren etwa die Filme Pierre Schoendoerffers über den Kolonialkrieg in Indochina, an dem der Regisseur und Autor selbst teilgenommen hatte. 1965 zeigte Schoendoerffer dem Kinopublikum in La 317ème Section das zermürbende Rückzugsgefecht einer Einheit aus Fremdenlegionären, die sich trotz ihrer fortschreitenden Dezimierung durch feindlichen Beschuss, Verletzungen und Krankheiten nicht ergaben. Ebenso wie in dem 1992 erstmals ausgestrahlten Film Schoendoerffers Dien Bien Phu unterstrichen eine historische Kontextualisierung der Handlung aus dem Off und die mehrfache Einblendung von Daten und Uhrzeiten den dokumentarischen Anspruch des Regisseurs. Die Dekolonisierung wurde dabei als Verlustgeschichte inszeniert. Vor allem rühmten die Filme aber den Todesmut und die Opferbereitschaft der Fremdenlegionäre, die auch dann noch darauf drängten, über Dien Bien Phu abzuspringen, als die Schlacht schon verloren war. Auch außerhalb Frankreichs inszenierten neben zahlreichen Romanen mehrere Spielfilme bereits seit den 1930er Jahren Fremdenlegionäre als tapfere Soldaten, die sich in hoffnungslosen Gefechtssituationen niedermetzeln ließen, anstatt zu kapitulieren. So zeigte etwa der auf dem Roman von Percival Christopher Wren basierende Film Beau Geste24 dem Kinopublikum in Großbritannien 1939 das ebenso zermürbende wie aussichtslose Abwehrgefecht einer Einheit von Fremdenlegionären in der marokkanischen Wüste. Im Zentrum der Handlung stand die Geschichte dreier Brüder aus England, die sich

24 Christian Koller hat den wichtigen Einfluss des 1924 erschienenen Romans Beau Geste auf das Image der Fremdenlegion im englischsprachigen Raum betont. Koller, Die Fremdenlegion, S. 64.

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während ihres Dienstes in der Fremdenlegion moralisch einwandfrei verhielten und damit in einen Kontrast zu der übrigen Truppe gestellt wurden. Bei aller Kritik ließ der Film jedoch keinen Zweifel an der besonderen Tapferkeit und dem Militärgeschick der Legionäre. Während des finalen Gefechts bezeichnete der von Gary Cooper verkörperte Held den sadistischen Chef der Truppe, Sergeant Markoff, als brutal, aber auch als den besten Soldaten, den er je gesehen hätte. Fast vierzig Jahre später wurde die Fremdenlegion in der 1977 ausgestrahlten amerikanisch-britischen Koproduktion March or Die in durchaus ähnlicher Manier präsentiert. Der Plot, ein Einsatz von Fremdenlegionären in Marokko, um dort kurz nach dem Ersten Weltkrieg archäologische Ausgrabungen vor dem Widerstand Einheimischer zu schützen, lieferte Stoff für Kritik, aber auch für eine gewisse Bewunderung der Legion. Die Entsendung der Soldaten in ein gefährliches Gebiet unter dem Verweis, es handele sich lediglich um Ausländer und die Bezeichnung der Ausgrabungen als Grabschändungen ließen eine ablehnende Haltung gegenüber dem französischen Staat durchblicken. Dagegen wurde der Widerstand der auf verlorenem Posten kämpfenden Truppe gegenüber dem Ansturm der übermächtigen Truppen des Abdelkrim25 eindeutig als heroisch inszeniert. Kurz vor Ende des Films erwies sogar Abdelkrim persönlich dem getöteten Offizier (Gene Hackman) und den übrig gebliebenen Legionären (u.a. Terence Hill) seinen Respekt. Eine ebenfalls heroisierende Darstellung, die an die Schlacht von Camerone erinnern konnte, lieferte 1998 der US-Streifen Legionnaire.

25 Abdelkrim El-Khattabi war der wichtigste Anführer berberischer Rebellen in ihren Anstrengungen gegen Spanien und Frankreich, in Nordmarokko die Unabhängigkeit der Region Rif zu erreichen. Vor ihrer Niederlage konnten seine Truppen europäischen Armeen während des Rif-Kriegs (1921-1926) empfindliche Niederlagen zufügen, die weltweit beachtet wurden. Vincent Courcelle-Labrousse, La guerre du Rif (1921-1926), in: Abderrahmane Bouchène et al. (Hg.), Histoire de l’Algérie à la période coloniale, 1830-1962, Paris/Algier 2012, S. 451-456.

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Darin wurde die Geschichte eines Boxers aus Marseille (Jean-Claude van Damme) erzählt, der vor der Mafia in die Legion geflohen war und dort mit einer Truppe aus Abenteurern, Verbrechern und Träumern aus aller Welt die harte Grundausbildung durchlief. Seine Einheit wurde nach Marokko versetzt und geriet dort in einem sehr ähnlichen Fort wie dem in Beau Geste gezeigten unter die Belagerung der Truppen Abdelkrims. Letzterer begnadigte schließlich den Helden des Films, der nach zermürbender Schlacht als einziger seiner Einheit überlebte.

TYRANNEN UND DESERTEURE Zwischen 1946 und 1962 trieben die beiden Kolonialkriege in Indochina und Algerien die internationalen Deutungskämpfe um die französische Fremdenlegion auf ihren Höhepunkt. Die Söldnertruppe wurde in beiden Auseinandersetzungen an vorderster Front eingesetzt und warb, zum Ärger der Nachbarstaaten Frankreichs, weiterhin intensiv Rekruten an. Nachdem ihre Truppenstärke in den ersten Jahren nach der Gründung nur etwa 5.000 Mann umfasst hatte, stieg sie während des Ersten Weltkriegs auf etwa 22.000. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erreichte sie dann einen Höchststand von 49.000. Während des Indochinakriegs zählte die Einheit noch etwa 36.000 Legionäre und am Ende des Algerienkriegs rund 21.000.26 Sowohl der Krieg in Indochina als auch der Algerienkrieg waren von massiven Verbrechen der französischen Armee an der Zivilbevölkerung geprägt.27 Dies beflügelte in den Herkunftsstaaten der Legionäre die Kritik gegenüber Frankreich, welche in starker Kontinuität zur Zwischenkriegszeit stand, nunmehr aber auch unter den Vorzeichen

26 Peter Huber, Fluchtpunkt Fremdenlegion. Schweizer im Indochina- und im Algerienkrieg, 1945-1962, Zürich 2017, S. 9; Koller, Die Fremdenlegion, S. 36-37. 27 Zu Algerien siehe insbesondere: Raphaëlle Branche, La torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie. 1954-1962, Paris 2001.

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der NS-Aufarbeitung und des Ost-West-Konflikts geäußert wurde. Der 1959 in der Tschechoslowakei ausgestrahlte Film Černý prapor (Das schwarze Bataillon) griff die Rekrutierung ehemaliger Soldaten der SS durch die Fremdenlegion auf und stellte die Methoden der französischen Kriegsführung im Indochinakrieg in eine direkte Kontinuität mit denen der SS während des Zweiten Weltkriegs. 28 So geriet in Černý prapor ein tschechischer Legionär unter das Kommando eines ehemaligen SS-Offiziers, der während der deutschen Besatzung Pilsens den Vater und die Schwester des Legionärs ermordet hatte. Damit verband der Film ein spezifisch nationales bzw. europäisches Anliegen, die Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs, mit einer vernichtenden Kritik an der Fremdenlegion und dem französischen Kolonialkrieg. Ein weiteres Beispiel ist die in der DDR erstmals 1960 ausgestrahlte vierteilige Serie Flucht aus der Hölle. Darin wurden einerseits von Fremdenlegionären begangene Massaker und Vergewaltigungen während des Algerienkriegs thematisiert. Andererseits beinhaltete die Serie auch eine gezielte Diffamierung der BRD. In enger Anlehnung an die tatsächlichen Aktivitäten der französischen Terrororganisation Rote Hand während des Algerienkriegs29 wurde der westdeutsche Staat als Erfüllungsgehilfe Frankreichs präsentiert. So konnte die Flucht des aus Algerien desertierten Helden erst in der DDR ein Ende finden, wo ihm

28 Zur Rekrutierung ehemaliger SS-Soldaten durch die Fremdenlegion siehe Pierre Thoumelin, L’ennemi utile. 1946-1954, des vétérans de la Wehrmacht et de la Waffen-SS dans les rangs de la Légion étrangère en Indochine, Fareham 2013. 29 Die sogenannte Rote Hand war eine vom französischen Gemeindienst angeleitete Untergrundorganisation, die während des Algerienkriegs Attentate gegen Kritiker der Algérie française im In- und Ausland durchführte. Siehe dazu: Mathilde von Bülow, Myth or Reality? The Red Hand and French Covert Action in Federal Germany during the Algerian War, 1956-61, in: Intelligence and National Security 22 (2007), S. 787-820.

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die Behörden sofort Schutz und Arbeit anboten. Dass die Position der BRD gegenüber Frankreich während des Algerienkriegs komplexer war, musste freilich auf einem anderen Blatt stehen.30 Eine ähnliche Stoßrichtung hatte die 1988 erschienene vietnamesisch-ostdeutsche Koproduktion Dschungelzeit. Hier bot wiederum die Geschichte eines im Indochinakrieg desertierten Legionärs deutscher Herkunft die Vorlage, den französischen Kolonialkrieg, die Fremdenlegion und zumindest indirekt auch die BRD zu diskreditieren. So fiel an dieser Stelle der Entschluss des Helden, Vietnam zu verlassen, erst nachdem dieser erfahren hatte, dass es die DDR, dieses „andere Deutschland“, gab, das deutschen Fremdenlegionären eine Amnestie und Arbeit in Aussicht stellte. Die BRD stellte für den deutschen „Genossen“ keine mögliche Heimat dar.31 Zeit ihrer Existenz wies die von hartem Drill und oftmals gefährlichen Einsätzen geprägte Fremdenlegion eine hohe Rate Fahnenflüchtiger auf. Dementsprechend waren Desertionen auch ein immer wiederkehrendes Motiv in den publizistischen und cineastischen Darstellungen der Söldnertruppe. Ein Beispiel dafür ist die westdeutsche Nachkriegsproduktion Madeleine und der Legionär. Der Film erschien 1958 in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund intensiver politischer, vor allem aber zivilgesellschaftlicher Anstrengungen, um Rückführungen desertierter Fremdenlegionäre in die Bundesrepublik zu ermöglichen.32 Nachdem einige Eingangsszenen den Krieg in Algerien als grausam

30 Siehe dazu: Mathilde von Bülow, West germany, cold war europe and the algerian war, Cambridge 2016. 31 Weiterführend zu dieser Thematik ist die Studie von Heinz Schütte, Zwischen den Fronten. Deutsche und österreichische Überläufer zum Viet Minh, Berlin 2007. 32 Siehe dazu: Claus Leggewie, Kofferträger. Das Algerien-Projekt der Linken im Adenauer-Deutschland, Berlin 1984; Jean-Paul Cahn/KlausJürgen Müller, La République Féderale d’Allemagne et la guerre d’Algérie (1954-1962). Perception, implication et retombées diplomatiques, Paris 2003.

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und ungerecht entlarven sollten, konzentrierte sich die weitere Handlung auf die Flucht von drei desertierten Fremdenlegionären aus Irland, Italien und der BRD. Dass die Flucht des Deutschen nach zahlreichen Strapazen und trotz der Hilfe einer französischen Lehrerin schließlich an der elsässischen Grenze scheiterte, ist als einer der vielen zeitgenössischen Appelle zu verstehen, dem vermeintlichen Abenteuer Fremdenlegion zu entsagen. Dies gilt weitestgehend auch für das 1964 in Frankreich ausgestrahlte Drama L’Insoumis. In Abwandlung der wahren Geschichte des aus der Legion desertierten Luxemburgers Thomas Vlassenroot (Alain Delon) zeigte der Film dessen turbulente Flucht aus Algerien nach Frankreich. Der Film endete damit, dass der Held in Luxemburg zwar seine Tochter wiedersehen konnte. Diese erkannte in ihm jedoch nur einen Fremden und flüchtete, woraufhin der Deserteur zusammenbrach und einer Verletzung erlag. L’Insoumis war in Frankreich kein besonderer Kinoerfolg. Doch allein die Tatsache, dass im Heimatland der Fremdenlegion 1964 ein Film gezeigt werden konnte, der eine zumindest verhaltene Kritik gegenüber jener Einheit an den Tag legte, ist als Ausdruck einer neuen Entwicklung zu verstehen. Bis zur Endphase des Algerienkriegs hatte in Frankreich weiterhin ein eher positives Bild der Fremdenlegion vorgeherrscht. Nachdem der Krieg in Algerien jedoch zunehmend unpopulär geworden war und sich 1961 mehrere Einheiten der Fremdenlegion an dem Putsch von Algier beteiligten, um Präsident de Gaulle zu stürzen und die „Algérie française“ zu erhalten, geriet das Image der Legion in seine bislang schwerste Krise. 33

ENTERTAINER UND GEWALTEXPERTEN Mit dem zeitlichen Abstand zur algerischen Unabhängigkeit wurde der cineastische Umgang mit dem Thema bzw. dem Symbol Fremdenlegi-

33 Koller, Die Fremdenlegion, S. 72-73.

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on zunehmend vielfältiger.34 In Frankreich wendete sich das öffentliche Bild der Fremdenlegion seit den späten 1970er Jahren allmählich wieder ins Positive. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete der vielbeachtete Einsatz des zweiten Fallschirmjägerregiments (2ème REP) der Fremdenlegion in Kolwezi 1978.35 Bei dieser Operation war die Einheit innerhalb kürzester Zeit von Korsika in die rohstoffreiche Region des Süd-Kongo (damals Zaire) geflogen worden, um dort über 2.000 europäische Zivilisten aus der Gewalt der aus Angola eingerückten Rebellenarmee Front national de libération du Congo (FNLC) zu befreien. Dieser Aktion setzte La Légion saute sur Kolwezi 1980 ein filmisches Denkmal. Die Männer des 2ème REP erschienen darin als ebenso effiziente wie wagemutige Kämpfer einer perfekt organisierten Elitetruppe, die unschuldige Europäer vor den brutalen Repressionen afrikanischer Milizen retten konnten. In einem deutlichen Kontrast zu einer derart politisch und moralisch aufgeladenen Inszenierung der Fremdenlegion stand der vier Jahre später ausgestrahlte Film Les Morfalous. Darin spielte Jean-Paul Belmondo einen Legionär, der dem Ideal einer Aufopferung für Frankreich im Zweiten Weltkrieg mit Spott begegnete und sich vor allem durch Machosprüche und als Frauenheld auszeichnete. 1998 erschien Belmondo dann an der Seite von Alain Delon und Vanessa Paradis in Une chance sur deux als ehemaliger Fremdenlegionär. Allerdings zeigte die auf das Thema Vaterliebe ausgerichtete Actionkomödie keine einzige Szene mit direktem Bezug zu der Söldnertruppe und nutzte stattdessen nur die Suggestivkraft des Symbols ,Légion étrangère‘, um dem Publikum das Geschick und den Erfolg eines Privatfeldzugs gegen die russische Mafia zu vermitteln. Nachdem die Fremdenlegion in den USA bereits 1939 durch Laurel und Hardy in

34 Zum Wandel der filmischen Darstellung außereuropäischer Bevölkerungen und Gebiete sowie speziell auch (post-)kolonialer Themen während der 1960er Jahre siehe: Jürgen Dinkel, Dekolonisation und Film – Ein Literaturbericht, in: Werkstatt Geschichte (2015), H. 69, S. 7-22. 35 Ebd., S. 75.

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der Fremdenlegion zum Gegenstand eines Unterhaltungsfilms geworden war, konnte man nun offenbar auch in Frankreich entspannter mit diesem Thema umgehen. Als eher unpolitische Unterhaltungsfilme sind auch Lionheart (USA 1990) und Straight Shooter (BRD 1999) einzuordnen. Im ersten Fall war die Handlung ganz auf die Kampfkünste eines von JeanClaude von Damme gespielten Deserteurs ausgerichtet, der in den USA zum bezahlten Straßenkämpfer wurde, um seine Familie finanziell zu unterstützen. Dabei tauchte die Fremdenlegion nur am Rande auf: Zunächst als erbarmungslose Institution, die den Ausnahmekämpfer ausgebildet hatte und ihn bis nach Los Angeles verfolgte, um ihm nach seinem letzten erfolgreichen Kampf schließlich doch die Freiheit zu schenken. Im zweiten Fall wurde die Geschichte eines bei dem Einsatz in Kolwezi traumatisierten deutschen Fremdenlegionärs inszeniert, der nach dem Krebstod seiner Tochter als moderner Terrorist die Abschaltung eines Atommeilers erzwingen wollte. Deutsche Spezialeinheiten erwiesen sich als unfähig, der Mordserie des Ex-Legionärs ein Ende zu setzten. Lediglich dessen eigens dazu eingeflogener ehemaliger Ausbilder (Dennis Hopper) konnte ihm auf die Spur kommen. Letztendlich diente die Fremdenlegion den Skripten von Une chance sur deux, Lionheart und Straight Shooter mehr oder weniger nur als Folie, um nahezu unbesiegbare Einzelkämpfer in Szene zu setzen, die von der Fremdenlegion als Institution bereits abgeschnitten waren. Die Geschichte der Einheit, die ihre Rekruten bis heute nicht auf den Einzelkampf, sondern auf Teamarbeit trimmt, war für die jeweiligen Handlungen entweder nur am Rande oder gar nicht relevant. Insofern können diese Filme durchaus als Exempel für das von Pierre Nora diagnostizierte Auseinanderdriften von Historie und Gedächtnis in der Moderne erscheinen.36 Allerdings war das Genre des klassischen Legionsfilm, der sich auf die unmittelbaren Erfahrungen eines Mannes mit der Söldnertruppe konzentrierte, diese historisch einordnete und

36 Pierre Nora, Between Memory and History: Les lieux de mémoire, in: Representations 26 (1989), S. 7-24, hier S. 8.

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eine politische Bewertung suggerierte, auch nach der Jahrtausendwende keineswegs tot. Als ein solcher Streifen kann der 2002 zuerst in den USA ausgestrahlte Film Legion of Honor gelten. Dieser entfaltete anhand der Erlebnisse eines britischen und eines französischen Fremdenlegionärs während des Algerienkriegs eine unverhohlene Kritik an der französischen Kolonialherrschaft, die in mehreren Dialogen mit der Großbritanniens verglichen wurde. Der Dienst in der Fremdenlegion erschien dagegen in einem eher günstigen Licht als Schule des Lebens. So hielt der Hauptdarsteller zu einer romantischen Musik während der Abschlusssequenz fest, in den fünf Jahren seines Dienstes sei es ihm darum gegangen, seine Seele zu finden. Vor diesem Hintergrund erscheint der 2010 zuerst in Frankreich ausgestrahlte Film Djinn als ein neuer Typ des Legionsfilms. Darin enthaltene Szenen von Feuergefechten, Übergriffen auf die Zivilbevölkerung und Folter konnten durchaus als realistische Abbilder der Erfahrungen einer kleinen Einheit der Fremdenlegion im Algerienkrieg anmuten. Dass die Militärs kurz vor dem ersten Atombombentest Frankreichs in der Sahara 1960 jedoch von Wüsten-Geistern heimgesucht wurden, die dafür sorgten, dass sich die Militärs entweder selbst oder gegenseitig umbrachten, verweist auf Einflüsse der Genres Fantasy bzw. Horror. Diese Einflüsse legen keine Entkopplung des Gedächtnisses an die Fremdenlegion von deren Historie nahe, sondern zunächst nur die Feststellung, dass der Wandel der visuellen Repräsentation der Fremdenlegion keineswegs abgeschlossen ist. Dies macht die Beharrlichkeit postkolonialer Einflüsse in jenen Filmen umso bemerkenswerter.

DIE FREMDENLEGION ALS POSTKOLONIALER ERINNERUNGSORT 2013 forderte Achille Mbembe, einer der wichtigsten Vordenker postkolonialer Studien, in einem programmatischen Aufsatz:

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„Wir müssen auf Distanz zu positivistischen Einbildungen gehen und die Geschichte des Westens gegen den Strich der westlichen Selbstdarstellungen, ihrer Fiktionen, Evidenzen und manchmal leeren Wahrheiten lesen, ihrer Verschleierungen, Tricks und – man kann es nur wiederholen – ihres Willens zur Macht. […] Die Kolonisation ist nicht von den herrschenden Bildern und symbolischreligiösen Vorstellungen zu trennen, die für die Darstellung des irdischen Lebens im westlichen Denken konstitutiv sind.“37

Von dieser Warte aus betrachtet, treten die bislang dargestellten Unterschiede in den filmischen Darstellungen der Fremdenlegion gegenüber einer zentralen Gemeinsamkeit in den Hintergrund: Ihre Handlungen und Bilder implizieren einen Gegensatz zwischen Europa und der übrigen Welt sowie zwischen Europäern und Nicht-Europäern.38 Mit Blick auf das seit der Zwischenkriegszeit propagierte Selbstverständnis der Fremdenlegion müssen diese Darstellungen als Teil eines postkolonialen Diskurses verstanden werden, der seit dem 19. Jahrhundert eine kulturelle Dichotomie zwischen Europa und dem „Anderen“ konstruiert und ein hierarchisches Verhältnis zwischen diesen beiden Polen unterstellt.39

37 Achille Mbembe, Frankreich provinzialisieren?, in: Sebastian Conrad et al. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2012, S. 224263, hier S. 254. 38 Als eine Ausnahme wäre hier der Film Beau travail von Claire Denis zu erwähnen, der sich mit dem Alltag und den Machtspielen innerhalb einer Einheit der Fremdenlegion in Djibouti befasst. 39 Siehe dazu: Sebastian Conrad/Shalini Randeira, Geteilte Geschichten. Europa in einer postkolonialen Welt, in: Sebastian Conrad et al. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus, S. 32-70, hier S. 43. In einem Aufsatz über Erinnerungsschriften schweizerischer Fremdenlegionäre hat Christian Koller herausgearbeitet, dass diese durch einen kolonialen Blick geprägt seien und als „Teil eines breiteren Diskurses über exotische koloniale Welten“ eingeordnet werden müssten. Christian Koller, (Post-)Koloniale

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In der Regel bekam das internationale Filmpublikum Legionäre als Männer zu sehen, die sich in gefährlichen außereuropäischen Gebieten bewegen mussten. Dazu gehörten in erster Linie die scheinbar endlose Wüste, enge Gassen nordafrikanischer Kleinstädte sowie der von Bergen und Flüssen durchzogene Dschungel Südostasiens. In mehreren Filmen gaben diese besonderen Raumbedingungen darüber hinaus den Feinden der Legionäre Gelegenheit, diesen etwa hinter einer Düne oder im Unterholz aufzulauern. Sowohl den positiv als auch den negativ konnotierten Inszenierungen der Fremdenlegion, die sich entweder mit Desertionen, kriegerischen Auseinandersetzungen oder Erinnerungen an solche befassten, ist gemein, dass europäische Protagonisten dabei versuchten, ein gefährliches, außereuropäisches Terrain zu kontrollieren oder zumindest zu überwinden.40 Diese Darstellung stand durchaus im Einklang mit der seit den 1930er Jahren verfolgten Identitätspolitik der Fremdenlegion und der Darstellung ihrer Rekruten als Vorreiter der westlichen Zivilisation im Kampf gegen die Barbarei.41 In ihrer vorrangigen Eigenschaft als ein „Instrument des Imperialkriegs“42 bewegte sich die Truppe in den

Söldner. Schweizer Fremdenlegionäre in den französischen Kolonien und ihre Erinnerungsschriften, in: Christine Bischoff et al. (Hg.), Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld 2012, S. 289-314, hier S. 306. 40 Dies schließt z.T. an die Beobachtungen Wolfgang Strucks an, der sich ebenfalls den Einflüssen deutscher Kolonialphantasien in Spielfilmen auseinandergesetzt hat. Diesbezüglich bezeichnete er einen Kolonialhelden als einen „Draufgänger, der das fremde Land wie einen großen Abenteuerspielplatz durchstreift und sich schießend, prügelnd, reitend und schwimmend auch aus bereits ausweglosen Situationen immer noch einmal zu befreien weiß.“ Wolfgang Struck, „Der Tiger von Eschnapur“ und „Das indische Grabmal“, in: Jürgen Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne, S. 109-118, hier S. 115-116. 41 Larroument 2004, S. 63-66. Larroumet, Mythe et images, S. 63-66. 42 Koller, Die Fremdenlegion, 26 f.

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zeitgenössischen Vorstellungen stets an der Grenze zwischen der zivilisierten und der unzivilisierten Welt. Sie konnte diese Grenze sogar geradezu verkörpern, sei es aufgrund ihrer unlauteren Kriegsmethoden wie etwa in Černý prapor, oder aufgrund ihres unermüdlichen Kampfes gegen das Vordringen des Kommunismus wie in La 317ème Section. Der 2015 publizierte Bericht eines Fremdenlegionärs über den Moment seiner Rückkehr aus Mali zeigt deutlich, inwiefern das bipolare Bild einer inner- und außereuropäischen Welt innerhalb der Fremdenlegion auch heute noch präsent ist: „Ich sank auf die Knie und küsste den Boden. Europäischen Boden, um genau zu sein. […] Viele von den Jungs taten das, nachdem wir in Paris gelandet waren.“ 43 In den filmischen Darstellungen einzelner Gefechte der Fremdenlegion standen sich meistens Europäer und Nicht-Europäer gegenüber. Dabei versuchten letztere ihre technische Unterlegenheit gegenüber der Legion entweder durch eine, zuweilen als hinterhältig betitelte, Guerillataktik oder durch einen massenhaften Ansturm zu kompensieren. In den weiter oben genannten Produktionen March or die und Legionnaire stürmten die Soldaten des Abdelkrim gleich Indianern in Wild-West-Filmen ohne Feuerschutz auf die Legionäre zu. 44 Inwiefern dies nun absurd, tragisch oder vielleicht mutig war, spielte für die Handlungen bestenfalls eine Nebenrolle. Ob positiv, negativ oder eher komödiantisch dargestellt; maßgeblich war für diese Filme ausschließlich die Perspektive der Fremdenlegionäre, während die Erfahrungen ihrer Feinde im Dunkeln blieben. Welche Eindrücke die Legion bei ihren außereuropäischen Einsätzen auf Seiten der betroffenen Bevölkerung hinterließ, ist nur spärlich oder

43 Müller/Specht, Mythos Fremdenlegion, S. 314. 44 Dierk Walter hat auf die Verwendung kolonialer Klischees im Kino hingewiesen, die darauf angelegt waren, zu zeigen, dass sogenannte Indigene

nichts

vom

Krieg

verstehen.

Dierk

Walter,

Warum

Kolonialkrieg?, in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 14-43.

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gar nicht überliefert.45 Die verschiedenen Filme über die Fremdenlegion nahmen dies zum Anlass, um weiter darüber zu schweigen. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist der 1960 in Frankreich ausgestrahlte Propagandafilm Sergent X, der den Eintritt eines ehemaligen Soldaten in die Fremdenlegion als Heimkehr romantisierte und die Unterstützung der Söldnertruppe bei dem Aufbau erster Bohrtürme in Algerien rühmte. Ungeachtet des damaligen Kontextes, der heißen Phase des Algerienkriegs, kamen in dem Film kein einziger Algerier und auch keine Gefechtsszene vor. An dieser Stelle hatten die nichteuropäischen Subalternen nicht nur keine Stimme,46 sondern auch keine Existenz. Der postkoloniale Diskurs dominierte auch in den Filmen, die Asiaten oder Afrikaner als Fremdenlegionäre im gemeinsamen Kampf mit Europäern zeigten. Zum einen waren letztere auch in dieser Konstellation immer die Hauptcharaktere. Zum anderen wurde das europäische und nicht-europäische Nebeneinander stets als solches thematisiert und nie als natürliches Miteinander gezeigt. Den Anlass dazu lieferten vor allem Sprachprobleme und kulturelle Differenzen, welche die verschiedenen Charaktere in den Filmen ungeachtet aller Einheitsbekundungen der Fremdenlegion immer wieder ansprachen. Homi K. Bhabha hat darauf hingewiesen, dass derartige Widersprüche ein zentrales Charakteristikum des kolonialen Diskurses sind.47 Davor hatte bereits Albert Memmi gezeigt, dass die kolonisierte Bevölkerung symbolisch und rhetorisch zugleich integriert und auf Distanz gehalten werden musste, um die koloniale Herrschaft mit ihren besonderen

45 Koller, Die Fremdenlegion, S. 22. 46 Vgl. den klassischen Text von Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Basingstoke 1988, S. 271-313. 47 Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London, New York 2004. Als Einführung zu Bhabhas Analyse des kolonialen Diskurses siehe: Maria Do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Frankfurt am Main 2015, S. 222-229.

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Möglichkeiten der Ausbeutung aufrechtzuerhalten. Sowohl die vollständige Exklusion als auch die Inklusion der Subalternen hätte das koloniale System zum Einsturz gebracht bzw. durch eine andere Machtkonstellation ersetzt.48 Die Ausläufer dieses paradoxen Diskurses wirkten nach dem Untergang der Kolonialreiche in den Filmen über die Fremdenlegion weiter. Selbst Filme über Desertionen in denen Legionäre von antikolonialen Aktivisten in Algerien oder Vietnam unterstützt wurden, schütteten die postkolonialen Gräben zwischen den Akteuren nicht zu. Auch hier waren die Hauptcharaktere immer Europäer bzw. Weiße, die es außerdem verstanden, sich für die ihnen widerfahrene Hilfe zu revanchieren. Dabei spielte der durch das jeweilige Drehbuch nahe gelegte zivilisatorische Vorsprung stets eine wichtige Rolle. Zum Beispiel schenkte der deutsche Deserteur in der DDR-Serie Flucht aus der Hölle einem algerischen Jungen zum Dank für Brot und Wasser eine Taschenuhr, die dieser sofort begeistert an sein Ohr drückte, um mit einem breiten Lächeln deren Ticken zu lauschen. Die verschiedenen Filme über die Fremdenlegion zeigen deutlich, dass die Vorstellung einer Dichotomie zwischen Europa und der außereuropäischen Welt bis heute sowohl für das Selbstbild der Fremdenlegion als auch für deren Außenwahrnehmung prägend sind. Dies geht so weit, dass man durchaus fragen kann, ob diese Einheit losgelöst von einem postkolonialen Diskurs überhaupt noch dieselbe sein könnte. Selbst in einer Zeit, in der die europäischen Rekruten der Söldnertruppe nur noch eine Minderheit sind, scheint die Fremdenlegion als Institution untrennbar mit einem eurozentristischen Denken verbunden zu sein. So schrieb etwa der Autor Martin Specht am Ende seines 2014 erschienenen Buchs über Deutsche in der Fremdenlegion:

48 Siehe dazu den klassischen Text von Albert Memmi, Portrait du colonisé. Précédé de Portrait du colonisateur, Paris 2012.

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„Inmitten all der asiatischen, schwarzen und fremdartigen Gesichter wirkt der Deutsche exotisch. Dirk ist die absolute Ausnahme unter den Legionären. Seine Herkunft als Europäer macht ihn heutzutage zu einer Ausnahme unter den Fremdenlegionären.“49

49 Martin Specht, „Heute trifft es vielleicht dich“. Deutsche in der Fremdenlegion, Berlin 2014, S. 233.

II. Gewalterzählungen: Zivilisationsbruch und Erinnerung

Armenien und die visuelle ‚Erfindung‘ der Überlebenden im frühen 20. Jahrhundert Alexandra Przyrembel

Abb. 6: 1900 vom Armenian Relief Committee veröffentlichtes Foto.1 1

© Library of Congress, George Grantham Bain Collection.

124 | Alexandra Przyrembel

Die großen europäischen Mächte haben sich mit dem ,Orient‘ und vor allem mit der ‚armenischen Frage‘ über Jahrzehnte hinweg beschäftigt. Schon die vielen Akten, die unter dem Sammelbegriff ,Orientalia‘ im Archiv des Auswärtigen Amtes zu finden sind, belegen das Ausmaß dieses politischen Interesses.2 Diese Akten, die seit Ende des 19. Jahrhunderts geführt wurden und bereits zu diesem Zeitpunkt die Gewaltausschreitungen gegenüber der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich dokumentieren, bestätigen die Beobachtung, dass das ,Reden‘ über die wiederkehrenden Massaker an der armenischen Bevölkerung, vor allem aber über den Genozid 1915/16 den öffentlichen Diskurs in zentraler Weise gestaltete. Dieser Genozid fand unter den Augen der Weltöffentlichkeit statt: Das Sprechen von Diplomaten, Militärs, Journalisten und Missionaren prägte die öffentliche Wahrnehmung der Gewaltverbrechen an der armenischen Bevölkerung und nicht (wie in Anbetracht des Ausmaßes und der Systematik der verübten Verbrechen auch angenommen werden könnte) das Schweigen angesichts der Dimensionen der verübten Gewalttaten. 3 Denn hiervon kann keine Rede sein: Das Wissen über den Genozid in den Jahren 1915 und 1916 war bereits unter den Zeitgenossen vorhanden.4

2

Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes liegt unter dem Sammelbe-

3

Margaret L. Anderson, „Who still Talked about the Extermination of the

griff ,Orientalia‘ ein umfangreicher Bestand von ,Orientakten‘ vor. Armenians?“ German Talk and German Silences, in: A Question of Genocide: Armenians and Turks at the end of the Ottoman Empire, hg. v. Ronald G. Suny/Fatma M. Göçek/Norman M. Naimark, Oxford/New York 2011, S. 199-220. Siehe auch Alexandra Przyrembel, Beredtes Schweigen und globales Wissen über extreme Gewalt im frühen 20. Jahrhundert, in: ZfG (2019), H. 4, S. 293-312. 4

Der systematische Charakter des Genozids an den Armeniern im Hinblick auf die Etappen – Deportation, Hunger, Massenerschießung – wurde in zahlreichen Studien aufgearbeitet: Taner Akçam, A Shameful Act: The Armenian Genocide and the Question of Turkish Responsibility, New York 2006; Donald Bloxham, The Great Game of Genocide: Imperialism,

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Ausgehend von einer Fotografie, die dem riesigen Bestand von mehreren tausend digitalisierten Bildern einer der ersten Nachrichtenagenturen der Vereinigten Staaten (der Bain Collection) entnommen ist,5 soll im Folgenden die Frage erörtert werden, in welcher Weise das visuelle Bildgedächtnis mit der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern verflochten ist: Die oben dargestellte Fotografie zeigt eine armenische Frau in ärmlicher Kleidung, die mit ihren Kindern nach den Gewaltausschreitungen gegenüber den Armeniern in den Jahren 1894 bis 1896 aus Ostanatolien floh, um (wie uns der Eintrag im Digitalen Archiv der Library of Congress wissen lässt), die Hilfe von Missionaren zu suchen. Diese Abbildung wurde im Jahr 1900 im Magazin des Armenian Relief Committee veröffentlicht.6 Die Fotografie erinnert an die Gewaltgeschichte, die das armenische Volk im Osmanischen Reich

Nationalism, and the Destruction of the Ottoman Armenians, Oxford 2005; Ronald Grigor Suny et al. (Hg.), A Question of Genocide. Armenians and Turks at the end of the Ottoman Empire, Oxford/New York 2011; allgemein zur Geschichte des Genozids im 20. Jahrhundert: Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert, München 2011; zur Haltung der Deutschen vgl. Isabel V. Hull, Absolute destruction: military culture and the practices of war in imperial Germany, Ithaca, New York u.a. 2005. 5

Die Fotografie ist Teil der Bain Collection der Library of Congress, die zu einer der frühesten Nachrichtenbildagenturen der Vereinigten Staaten gehört. Die Agentur war weltweit tätig, hatte ihren geographischen Schwerpunkt allerdings in New York City; im digitalen Archiv der Library of Congress liegen knapp 40.000 Bilder vor (siehe auch: https://www. loc.gov/pictures/collection/ggbain/ [26.10.2018]).

6

Alle Angaben zur Bildgeschichte finden sich hier: http://www.loc.gov/ pictures/item/2014707244/ [26.10.2018]. Zum Kontext vgl. Suzanne E. Moranian, The Armenian Genocide and American Missionary relief effort, in: Jay Winter (Hg.), America and the Armenian genocide of 1915. genocide of 1915, New York 2003, S. 185-213.

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wiederholt im Laufe des 19. Jahrhunderts sowie insbesondere als Opfer des Genozids der Jahre 1915/16 erlebte. Fotografien entwickelten sich mit Beginn des massenmedialen Zeitalters seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem zentralen Kommunikationsmedium, das sich insbesondere auch die entstehenden humanitären Bewegungen zu nutzen machten. Fotografien versehrter Körper oder auch Elendsfotografien von Frauen und vornehmlich Kindern gehörten zu den klassischen Motiven des sich bereits im ausgehenden 19., vor allem aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts professionalisierenden Marktes humanitärer Hilfe, der jenseits des Wunsches nach humanitärer Aufklärung auch auf Spenden angewiesen war und derlei Fotografien bewusst einsetzte.7 Die in den Zeitschriften der humanitären Vereine oder auch der Missionsgesellschaften veröffentlichten Fotografien folgten in der Regel einer bestimmten Erzählung. Dabei erweist sich die Ikonografie des Opfers, gezeigt wurde oftmals eine Frau oder ein Kind, bis in das frühe 20. Jahrhundert als erstaunlich persistent.8 In diesem Sinne werden Fotografien Kristallisationspunkte der Erinnerung an die extreme Gewalt, die gegenüber der armenischen Bevölkerung in den Jahren 1894 bis 1896 und 1915/1916 verübt wurden. Bereits anlässlich der Ausschreitungen gegenüber der armenischen Bevölkerung Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich im ,Westen‘ humanitäre Organisationen gegründet, die oftmals auch einen konfessionellen Hintergrund hatten und insbesondere dem Protestan-

7

Heide Fehrenbach/Davide Rodogno, The Morality of Sight: Humanitarian Photography in History, in: Dies. (Hg.), Humanitarian photography: a history, New York 2015, S. 1-21. Die Geschichte der humanitären Bewegungen hat sich jüngst zu einem bedeutenden Forschungsfeld entwickelt, zur Einführung siehe die Darstellung des Politikwissenschaftlers Michael Barnett, vgl. Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca, New York 2011.

8

Svenja Goltermann, Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne, Frankfurt am Main 2017.

Genozid an den Armeniern | 127

tismus und den von diesem gegründeten Missionsgesellschaften nahestanden.9 Die Erinnerung an den Genozid der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich ist in drei unterschiedliche, zum Teil einander widersprechende Kontexte eingebettet10: Erstens zirkulierte ein sogenannter „Leidschatz“ (Aby Warburg) der Erfahrung, in dem die Gewalterfahrungen im Rahmen von Oral-History-Interviews, Autobiografien oder auch Musik die Erinnerungskultur der Überlebenden sowie ihre Trauer festgehalten wurde.11 Zweitens wird am 24. April, dem Völkermordgedenktag, der Verbrechen gedacht.12 Dieses Gedenken an die Opfer findet seinen Ausdruck in zahlreichen Gedenkstätten, die an unterschiedlichen Orten Europas errichtet wurden.13 Und schließlich ist

9

Zur Vorgeschichte siehe Suzanne E. Moranian, The Armenian Genocide and American Missionary relief efforts, in: Jay Winter (Hg.), America and the Armenian Genocide of 1915, New York 2003; zahlreiche Hinweise zu den deutschen humanitären Bewegungen finden sich auch bei: Norbert Saupp, Das Deutsche Reich und die armenische Frage 1878-1914. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät zu Köln 1990; Matthew P. Fitzpatrick, ,Ideal and Ornamental Endeavours‘: The Armenian Reforms and Germany’s Response to Britain’s Imperial Humanitarianism in the Ottoman Empire, 1878-83, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History 40 (2012), S. 183-206.

10 Siehe Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen 2016, hier S. 1401-1443. 11 Mihran Dabag/Kristin Platt, Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich, Paderborn 2015. 12 Siehe u.a. den Abdruck des Statements, den Präsident Barack Obama am 24. April 2014 verfasste, in dem er „full, frank, and just acknowledgement of the facts“ forderte: https://obamawhitehouse.archives.gov/the-press-office/ . 2014/04/24/statement-president-armenian-remembrance-day [15.4 2019]. 13 Siehe u.a. Annette Schaefgen, Schwieriges Erinnern. Der Völkermord an den Armeniern, Berlin 2006. Zum Vorhaben der Errichtung eines

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die Erinnerung an den Genozid drittens geprägt von der offiziellen Erinnerungspolitik der Türkei, die bis heute keine Verantwortung für die extreme Gewalt gegenüber der armenischen Bevölkerung übernommen hat.14 Diese Haltung wirkt auf die internationalen Beziehungen zurück, wie die Debatten im Deutschen Bundestag anlässlich der Gedenkfeiern im Jahre 2015 zeigten.15 Die eingangs zitierte Fotografie der (namenlosen) Armenierin mit ihren Kindern Makarid und Nuvart symbolisiert die absolute Gewalterfahrung während der Massaker an der armenischen Bevölkerung in den 1890er Jahren und sie ist zeitlos zugleich. In zahlreichen Archiven sind vergleichbare Bilder vorhanden, die auch in Missionsblättern oder internationalen Zeitungen wie der New York Times veröffentlicht wurden.16 Diese visuelle Repräsentation der armenischen ,Leidgeschichte‘ wird gerahmt von einer exzessiven Aufarbeitung des Genozids, die wiederum in einer hundertjährigen Deutungsgeschichte dieses Traumas erfolgt. In ihrem Zentrum stehen zwei Fragen: Handelt es sich bei der Extremform der Gewalt gegenüber der armenischen Bevölkerung in den Jahren 1915/16 um einen Genozid, und was ,wusste‘ die ,Weltöffentlichkeit‘ darüber? Die Fotografie verkörpert als visuelle Repräsentation der Überlebenden das Leiden der Armenier und verwendet so eine universelle Bildsprache. Die ,Aufarbeitung‘ des Genozids in

Gedenkortes in Charlottenburg siehe auch http://www.genozid-gedenk staette.de/ueberuns/index.php [30.10.2018]. 14 Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen 2016, S. 141. 15 Zur Haltung des Bundestages vgl. die folgenden Artikel in der FAZ sowie im

Spiegel:

http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bundesregierung-

spricht-nun-doch-vom-voelkermord-13548723.html; http://www.spiegel.de /politik/deutschland/bundestag-verabschiedet-armenien-resolution-a-10954 77.html, [26.10.2018]. 16 Siehe unter anderem die Digitale Bibliothek der Library of Congress; auch Archive der Hilfsorganisationen (wie beispielsweise das Rote Kreuz oder der YMCA) verfügen über ausführliches Bildmaterial; siehe die entsprechenden Online-Präsenzen.

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juristischer, medialer und fiktionaler Hinsicht setzte noch während des Ersten Weltkrieges ein. Bereits zu dieser Zeit herrschte ein umfangreiches Wissen über die Extremform der Gewalt.

VERÖFFENTLICHEN: (JOURNALISTISCHES) SCHREIBEN ÜBER EXTREME FORMEN DER GEWALT In der Sammlung der Bain Collection sind 64 Fotografien überliefert, die das Leiden der Armenier von den 1890er bis in die 1920er Jahre dokumentieren. Erhalten sind Aufnahmen, die jene charakteristischen Überlebenden der Gewalt zeigen: Zu sehen sind Witwen, Waisenkinder oder auch junge Frauen. Die Sammlung zeigt auch Fotografien der Hilfeleistungen, wie sie unter anderem von der amerikanischen Organisation Near East Relief, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Unterstützung der armenischen Überlebenden gegründet wurde, oder auch dem Roten Kreuz gewährt wurden.17 Die Sammlung des Pressefotografen George Grantham Bain, des „fathers of foreign photography“ (New York Times), ist ein weiterer Beleg dafür, dass Fotografien der Überlebenden der genozidalen Gewalt international zirkulierten.18

17 Siehe u.a. folgende Fotografien: 1) armenische Waisenstationen des Near East Relief beim Teppichknüpfen in Nazareth, Palästina (1915/1916) (http://www.loc.gov/pictures/collection/ggbain/item/2002695435/);

sowie

2) Witwen und Kinder (zwischen 1915 und ca. 1920) http://www.loc. gov/pictures/collection/ggbain/item/2014701079/; oder 3) die Fotografie eines Waisenkindes, einziger Überlebender aus einer Familie von 15 Personen (ebenfalls zwischen 1915 und 1920) (http://www.loc.gov/pictures/ collection/ggbain/item/2014706346/). Alle Fotografien wurden am 26.10. 2018 abgerufen. 18 George Grantham Bain. Pioneer News Photographer Dies Here at Age of 79, in: New York Times vom 21.4.1944. Allgemein zu Bildagenturen siehe

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Auch über die globalen Netzwerke der Telegrafie verbreitete sich das Wissen über den Genozid an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts griff die New York Times in ihren Artikeln den Begriff des Holocaust auf. Im Februar 1896 zitierte die amerikanische Zeitung den Bericht der Missionarin Corinna Shattuck, die die Ereignisse in Urfa beschrieb als „butchery, which became a great holocaust“.19 In Frankreich, den Vereinigten Staaten, in Neuseeland, Mozambique oder auch in Rhodesien berichtete die Tagespresse über das Geschehen im Sommer 1915: The Evening Post, Wellington (Neuseeland), oder The Beira Post (Mozambique) verbreiteten Informationen, die von der Nachrichtenagentur Reuters in Umlauf gegeben worden waren.20 Letztere berichtete im September 1915 über die Ermordung von einer halben Million Menschen sowie von Deportationen in ähnlicher Dimension.21 Die New York Times gab etwa 150 Artikel allein im Jahr 1915 über das Schicksal der armenischen Bevölkerung heraus; auch der französische Le Figaro veröffentlichte extensiv zu dieser Thematik und in vergleichbarer Höhe wie die amerikanische Zeitung.22 Kurz: Wenngleich das Ausmaß der verübten Gewalttaten und der zeitliche Ablauf in den Zeitungsartikeln

Annette Vowinckel, Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016. 19 Vgl. Three Days of Butchery. A Woman describes the Massacre of Armenians in Ourfa. Not less than 3.500 were killed, in: New York Times vom 17.2.1896; Another Armenian Holocaust. Five Villages Burnt, Five Thousand Persons made Homeless, and Anti-Christians Organized, in: New York Times vom 10.9.1895; 20 Asiatic Turkey. Ottoman Troops besiege Van, in: Evening Post vom 10.5.1915. 21 The Beira Post, The Armenian Massacres vom 28.9.1915. 22 Der Figaro veröffentlichte mehr als hundert Artikel zu diesem Thema in den Jahren 1915 und 1916. Siehe auch Thomas C. Leonard, „When News is not enough“: American media and Armenian Deaths, in: J. Winter (Hg.), America and the Armenian genocide of 1915, New York 2003, S. 294ff.

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nicht grundlegend erfasst werden konnte, so erkannten die internationalen Berichterstatter dennoch, dass eine neue Dimension der Gewalt – eine systematische Politik der Vernichtung (politics of extermination) – stattfand. In der internationalen Berichterstattung hatte sich eine spezifische Sprachregelung etabliert: Die kommunistische L’Humanité sprach von „extermination d’une race“;23 Harare’s Rhodesia Herald von der teuflischen „destruction of a nation.“24 Gleichwohl sich die Deutungen über die Urheber der Gewalttaten, die je nach Kontext als deutsch oder islamisch interpretiert wurden,25 wie auch die konkreten Forderungen unterscheiden konnten, so ließ die internationale Berichterstattung keinen Zweifel daran, dass sie die neue Qualität der verübten Verbrechen an den Armeniern mit Hilfe einer eindeutigen Terminologie – extermination d’une race, destruction of a nation – einordnete. Neben dieser Berichterstattung in der Presse waren es immer wieder einzelne Intellektuelle, die in ihren Schriften auf das Leid der armenischen Bevölkerung hinwiesen. Die Massaker mit mehr als 100.000 Opfern, verübt unter dem osmanischen Sultan Abdülhamid II., provozierten auf internationaler Ebene Proteste. Im Dezember 1915 veröffentlichte Le Figaro gar eine Petition französischer Intellektuel-

23 Siehe den Artikel: Un Massacre En Arménie. La Responsabilité du gouvernement turc, in: L’Humanité. Journal Socialist vom 22.5.1915. Es wurde eine Intervention durch die US-Amerikaner gefordert, um die „extermination d’une race“ zu verhindern. 24 Vgl. Massacre of a Nation. Armenians almost Exterminated, in: The Rhodesia Herald vom 19.11.1919. Der Artikel bezieht sich auf einen Bericht des Korrespondenten in London, der sich wiederum auf den Bericht von Sir James Bryce (siehe weiter unten) im House of Lords bezieht und zu dem folgenden Schluss kommt: „This diabolical destruction of a nation was carried out with cold and methodological thoroughness.“ 25 Siehe u.a. den Artikel Ecrasez-les!, in: Le Gaulois vom 10.7.1915. Unter dieser Überschrift wird dem deutschen Kaiser die Hauptschuld an den Massakern gegeben. Ähnlich auch Le Figaro vom 26.1.1916; zur besonderen Grausamkeit der Türken siehe auch Le Figaro vom 14.11.1915.

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ler, der sich der Schriftsteller Anatole France, Ferdinand Buisson als Vertreter der League for Human Rights und der Politiker Georges Clemenceau angeschlossen hatten. In ihrem Aufruf Pour les Arméniens, in dem sie dem Beispiel Großbritanniens folgend auch in Frankreich für humanitäre Hilfe warben, heißt es: „On sait que les Arméniens ont été systématiquement massacrés par ordre du gourvenement turc, qui continue avec des raffinement de cruauté l’ouvre d’Abd-ul-Hamid.“

In Russland beteiligte sich auch der Schriftsteller Tschechow an einer Sammlung von Spenden, die mehr als 30.000 Rubel zusammenbrachte. In Frankreich gründeten die Dreyfusarden eine pro-armenische Zeitschrift, wobei die Proteste gemeinsam von links und rechts getragen wurden.26 Im Deutschen Reich hatte sich um den protestantischen Missionar Johannes Lepsius, eine Ikone der armenischen Frage, eine humanitäre Bewegung formiert, die eng verflochten war mit der protestantischen Missionsbewegung.27 Dabei engagierte sich Lepsius bereits im Kontext der Ausschreitungen im ausgehenden 19. Jahrhundert mit seinem Armenischen Hilfswerk für die Belange der Armenier. In seinem Buch Armenien und Europa, das 1896 erstmals erschienen war und mehrfach wieder aufgelegt wurde, trug er unter dem Titel „Blutbäder“ Berichte britischer Konsulate und Zeitungsartikel zusammen, um den Charakter der ausgeübten Gewalt und ihre Systematik zu

26 Margaret L. Anderson, Who still Talked about the Extermination of the Armenians?, S. 220. 27 Weder zu Johannes Lepsius noch zu seinem Vater Karl Richard Lepsius, der Ägyptologe war, liegen Biografien vor. Eng angelehnt an die Missionsgeschichte ist: Andreas Baumann, Der Orient für Christus. Johannes Lepsius – Biographie und Missiologie, Gießen u.a. 2007; zum wissenschaftlichen Orientdiskurs, in dem sich beide bewegten, siehe auch: Suzanne L. Marchand, German orientalism in the age of empire. Religion, race, and scholarship, Washington D.C. 2009.

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dokumentieren.28 Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte sich diesseits und jenseits des Atlantiks eine aufgeklärte Öffentlichkeit zusammengefunden, um die Gewalt gegenüber den Armeniern zu verdammen. Auch angesichts der Nachrichten über die eskalierende Gewalt, die über die internationalen Medien verbreitet wurden, suchten Intellektuelle, Diplomaten, Missionare oder auch Journalisten die internationale Öffentlichkeit. Im Deutschen Reich war es wiederum Johannes Lepsius, der angesichts des Krieges erneut zur Feder griff.29 Die meisten Journalisten wie beispielsweise Paul Weitz, Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Konstantinopel, kamen dieser restriktiven Informationspolitik der Zensur nach; auch im Berliner Tageblatt wurden die Ereignisse im Osmanischen Reich im Genozidjahr 1915 nur einige wenige Male erwähnt; diese Berichte folgen vor allem den türkischen Darstellungen.30 Angesichts der oben skizzierten breiten Informationspolitik der internationalen Berichterstattung, vermutlich aber auch aufgrund der dichten Beschreibung der Ereignisse durch Zeugen herrschte auch im Deutschen Reich ein profundes Wissen über die an der armenischen Bevölkerung verübten Verbrechen. 31 Trotz der aufgrund des Krieges herrschenden Zensur gelang es Johannes Lepsius bereits im Jahr 1916, den Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei zu veröffentlichen, der mit dem Zusatz „Als Hand-

28 Johannes Lepsius, Armenien und Europa. Eine Anklage-Schrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland, Berlin 1897, S. 123ff. Lepsius’ Schrift ist in diversen Bibliotheken einzusehen, die digitalisierte Ausgabe findet sich hier: https://archive.org/ details/armenienundeuro00lepsgoog/page/n3 [6.5.2019]. 29 Das Zensurbuch stellte klar, dass Nachrichten über die armenische Frage der „Vorzensur“ unterlägen. Oberzensurstelle des Kriegspresseamtes (Hg.), Zensurbuch für die deutsche Presse (März 1917), Berlin 1917, S. 7. 30 Margaret L. Anderson, Who still Talked about the Extermination of the Armenians?, S. 190-220, hier S. 206. 31 So u.a. unter den Orientalisten, vgl. ebd., S. 208.

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schrift gedruckt. Streng vertraulich“ versehen war. 32 Wie in seiner vorherigen Schrift stützte sich Lepsius auf die Berichte von Zeitzeugen, wie von Mitgliedern amerikanischer Konsulate, Beamten der Bagdadbahn und armenischen Überlebenden. Aufgrund dieser Materialien kam er zu folgender Einschätzung der Ereignisse: „Die Maßregel der Deportation schlug meist sofort in ein System der Vernichtung um“ – kurz: Die Vertreibung mündete in Exekutionen der Zivilbevölkerung.33 Neben einer minutiösen Rekonstruktion der Ereignisse, die er mit Hilfe des dichten Materials über zentrale Wilajets (Verwaltungsbezirke) in West- und Ostanatolien zusammentrug, nutzte der Missionar seine Schrift auch, um die Verharmlosung der extremen Gewalt im Osmanischen Reich, die er der deutschen Presse unterstellte, zu entlarven und mit Hilfe des vielfältigen Materials zu widerlegen. 34 Auch die von der Presse geäußerte Kritik an der deutschen (Mit-)Verantwortung an den verübten Verbrechen griff Lepsius auf und wies sie als unbegründet und ,propagandistisch‘ zurück.35 Dass Lepsius diesen Bericht überhaupt und dann noch in einer Auflage von mehr als 20.000 Exemplaren veröffentlichte, muss angesichts steigender Papierkosten erstaunen. Im Juli 1915 hatte bereits das protestantische Blatt SonnenAufgang, herausgegeben von dem Deutschen Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient, Details über den Genozid veröffentlicht.36 Aber auch in der ihm nahestehenden kleinen Missionszeitung Der

32 Johannes Lepsius, Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei, Potsdam 1916, https://www.osmikon.de/metaopac/search?View =ostdok&db=369&id=bsb00096424 [26.10.2018]; Die Rolle des Deutschen Reiches in seiner Quellenübersicht dagegen verharmlosend: Johannes Lepsius (Hg.), Deutschland und Armenien. 1914-1918: Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Potsdam 1919. 33 Lepsius, Bericht über die Lage des Armenischen Volkes, S. 133. 34 Ebd., S. 259-293. 35 Ebd., S. 15, 262. 36 Margaret L. Anderson, Who still Talked about the Extermination of the Armenians?, S. 210.

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christliche Orient und in der Muhammedaner-Mission erschienen tapfere Berichte über die humanitäre Arbeit von Missionarinnen und Missionaren.37 Im Deutschen Reich, in Frankreich, in den Vereinigten Staaten und vor allem auch in Großbritannien hatten sich zahlreiche Vereine gebildet, die für die armenische Sache eintraten. Neben diesen humanitären, oftmals protestantisch inspirierten Vereinen engagierte sich insbesondere der britische Historiker und Diplomat Sir James Bryce für die armenischen Belange. Bereits Ende der 1870er Jahre berichtete Bryce der ehrwürdigen Institution The Royal Geographical Society von einer Reise, die er nach Armenien und zum Berg Ararat unternommen hatte. Dieser Bericht entsprach einem für das ausgehende 19. Jahrhundert so typischen Genre, nämlich einer Mischung aus Reisebericht und Zivilisierungsmission, die für die ,westliche‘ Wahrnehmung des Orients charakteristisch war: Konfrontiert mit der ,westlichen Zivilisation‘ könnten sich die Armenier, so Bryce, durchaus in etwas weitaus Größeres entwickeln, als ihre bisherige Geschichte zeige. 38 Einer breiteren, internationalen Öffentlichkeit wurde Bryce bekannt mit dem Bericht The Treatment of Armenians in the Ottoman Empire (1915-16), der die sich entwickelnde humanitäre Krise dokumentierte und der vor allem auch die Interessen der Minderheiten Europas in den Blick nahm.39 Zuvor hatte sich der Diplomat in der New York Times in einem Artikel öffentlich geäußert, in dem er dem Osmanischen Reich „a plan for extirpating Christianity by killing off Christians of the

37 Karen Jeppe, Das Schicksal unseres Waisenhauses im Weltkriege, in: Der christliche Orient und die Muhammedaner-Mission, in: Monatsschrift der Deutschen Orient-Mission 19 (1918), S. 48-50. 38 James Bryce, On Armenia and Mount Ararat, in: The Royal Geographical Society (with the Institute of British Geographers) 22 (1877-78), S. 169186. 39 James Bryce (Hg.), The Treatment of Armenians in the Ottoman Empire 1915-16: Documents presented to Vt. Grey of Fallodon, Secretary of State for Foreign Affairs, London u.a. 1916.

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Armenian race“ unterstellte. Nur das Deutsche Reich habe die Möglichkeit, die Umsetzung dieses Plans aufzuhalten.40 Mit seinem Bericht, veröffentlicht als Parliamentary Blue Book, legte er die umfassendste Dokumentation der Verbrechen gegenüber den Armeniern in englischer Sprache vor, die immerhin mehr als 700 Seiten umfasste. Wie Lepsius konzentrierte sich auch Bryce zunächst anhand von Zeitzeugenberichten auf die regionale Dimension der Verbrechen; in einem zweiten Teil rekonstruierte er die armenische Geschichte, um abschließend die Verbrechen – vor allem auch vor dem Hintergrund einer armenischen ,Teilschuld‘ – einzuordnen.41 Auch hier findet sich die Bewertung einer ,systematischen‘ Durchführung der Verbrechen wieder; seine Dokumentation stützt sich im Wesentlichen auf in zahlreichen Zeitungen erschienene Zeitzeugenberichte.42 In seiner Einleitung schrieb er, dass das von ihm zusammengetragene Material, den Versuch, „to exterminate a whole nation“, belege.43 Neben der umfassenden Dokumentation der Verbrechen reflektierte Bryce in diesem Bericht auch die Rolle Großbritanniens; das britische Empire sollte ihm zufolge nach dem Krieg eine Minderheitenpolitik unterstützen.44

40 Bryce Asks us to Aid Armenia, in: New York Times vom 21.9.1915. 41 Vgl. Kapitel IV.: The Armenian People and the Ottomon Government, in: James Bryce (Hg.), The Treatment of Armenians, S. 617ff. 42 Siehe u.a. den Bericht aus Van, veröffentlicht im Manchester Guardian vom 2.8.1915, hier zit. n. James Bryce (Hg.), The Treatment of Armenians, S.

48.

https://archive.org/details/treatmentofarmen001963mbp/page/n93

[26.10.2018]. 43 James Bryce (Hg.), The Treatment of Armenians, XXI. 44 Michelle Tusan, „Crimes Against Humanity“: Human Rights, the British Empire, and the Origins of the Response to the Armenian Genocide, in: American Historical Review 119 (2014), S. 47-77; siehe auch Keith David Watenpaugh, The League of Nations’ Rescue of Armenian Genocide Survivors and the Making of Modern Humanitarianism, 1920-1927, in: American Historical Review 115 (2010), S. 1315-1339.

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In anderen Worten: In den Jahren, die zwischen der Massenexekutionen unter Abdülhamid II. in den 1890er und dem Genozid der Jungtürken in den Jahren 1915/16 lagen, wurde im ,Westen‘ viel über die Vertreibungen und Massentötungen der armenischen Bevölkerung gesprochen.45 Bereits zu diesem Zeitpunkt waren der Verlauf, die Beteiligung unterschiedlicher Tätergruppen an diesem Genozid und die unterschiedlichen Auswirkungen dieser Politik der Vernichtung auf Männer, Frauen und Kinder bekannt. Die humanitäre Hilfe, die vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges hinsichtlich der verwendeten finanziellen Ressourcen und der vielen Helfer und Helferinnen neue Dimensionen annahm, kam in den ersten Nachkriegsjahren vor allem den Flüchtenden, und hier vor allem den Waisen zugute: Die armenische Bevölkerung, nach dem Zerfall des Osmanisches Reiches verteilt auf die Türkei, Bulgarien und Syrien, wurde nun zum Objekt der Völkerverschiebungen, nachdem die europäischen Imperien zerschlagen und die neuen europäischen Grenzen gezogen worden waren. Seit dem Ende des 19. bis in die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts hinein war die interessierte Öffentlichkeit in Europa – und dies in unterschiedlichen politischen Regimen – über die Extremformen der Gewalt gegenüber der armenischen Bevölkerung informiert. Aber nicht nur im Deutschen Reich oder in Großbritannien, die beide auf eine lange Tradition der ,Orientpolitik‘ zurückblickten, kann diese anhaltende Aufmerksamkeit gegenüber der ,armenischen Frage‘ beobachtet werden. Staaten, die, wie beispielsweise die Schweiz, bis in die späten 1920er Jahre keine diplomatischen Beziehungen zur Türkei pflegten, engagierten sich für die humanitären Belange der armenischen Bevölkerung und sammelten Spenden. Dieses Schweizer Engagement lässt sich unter anderem auch auf die in diesem kleinen Land sehr starke

45 Nora Arissiam, The Armenian Genocide in the Syrian Press, in: Richard Hovannisian (Hg.), The Armenian genocide cultural and ethical legacies, New Brunswick, N.J. 2007, S. 303-308.

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protestantische Missionsbewegung zurückführen.46 In den Vereinigten Staaten wurde bis in die 1920ger Jahre hinein anlässlich der „Armenian Sundays“, organisiert vom Near East Relief, Spenden gesammelt. Bis 1925 nahmen 49 Länder an diesen Ritualen des Gedenkens teil.47 Auch im Zentrum Berlins, in der katholischen St. HedwigsKathedrale, wurden Rituale der Erinnerung praktiziert: So richtete die Gemeinde einen eigenen Gedenkraum für die Opfer des Genozids ein.

,KILLING FIELDS‘ UND DIE FIGUR DER ÜBERLEBENDEN ALS ERINNERUNGSORT Ausgehend von der Fotografie der Armenierin aus den 1890er Jahren, die zwei Bündel Kind auf dem Arm bzw. dem Rücken trägt und eine weitere Tochter an der Hand hält, wurde die Frage untersucht, wie sich Erinnerungsorte angesichts der Erfahrung extremer Gewalt sowie der ausgebliebenen Aufarbeitung durch die Täter und ihrer Nachfahren konstituieren. Diese „Leerstelle“, wie Aleida Assmann das Ausbleiben der Aufarbeitung durch die Täter in ihrem Buch Formen des Vergessens nennt, prägte ebenso die öffentlichen Debatten über die „Killing Fields“ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis in die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts, wie sie im Rahmen dieses Essays nachvollzogen wurden.48 Die Presse des ,Westens‘ hatte bereits in den 1890er Jahren eine deutliche Sprache für den „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner), der systematisch verübten Gewalt gegenüber der ethnischen und religiösen Minderheit der Armenier gefunden. Gleichwohl waren mit dieser Deutung in einigen Fällen anti-muslimische Stereotype über eine spezifi-

46 Vgl. Christoph Dinkel, Die Schweizerische Armenierhilfe. Chronik von 1896 bis in die Zwischenkriegszeit, in: Hans-Lukas Kieser (Hg.), Die armenische Frage und die Schweiz, 1896-1923, Zürich 1999, S. 187-210. 47 Margaret L. Anderson, Who still Talked about the Extermination of the Armenians?, S. 190-220, hier S. 200 und 216. 48 Aleida Assmann, Formen des Vergessens, S. 143.

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sche Grausamkeit der ,Türken‘ verbunden. Zusätzlich entstanden mit der Fotografie neue Möglichkeiten der Visualisierung des Geschehens, die sich in der Figur der Überlebenden verdichten. Die Fotografie der Flüchtenden als Erinnerungsort an den Genozid an die Armenier ist verflochten mit der Geschichte der Aufarbeitung, die – wie für das Deutsche Reich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten herausgearbeitet wurde – eng gekoppelt war an spezifische nationale Kontexte. Im Deutschen Reich stand diese im direkten Zusammenhang mit der Frage nach der Rolle der Deutschen, die seit dem 19. Jahrhundert eine enge Beziehung zum Osmanischen Reich gepflegt und während des Ersten Weltkrieges als Verbündete über eine umfassende Kenntnis über die Deportationen und Massentötungen verfügt hatten. Dieses Wissen zirkulierte aufgrund der globalen Vernetzung der Telegrafie innerhalb kürzester Zeit von Harare bis nach New York. Der Zeitgenosse James Bryce, den wir bereits durch seine Interventionen in der armenischen Frage kennen, fasste diese auch von den Zeitgenossen als fundamental erfahrene Veränderung der Zirkulation von Informationen so zusammen: Er konstatierte, „a new sort of unity is being created among mankind.“49 Ob sich angesichts der schnellen Wege, auf denen sich Informationen verbreiteten, hinsichtlich des humanitären Dramas ein „global consciousness“ herausbildete, erscheint fraglich. Gleichwohl wurde in einigen der zitierten Zeitungsartikel für eine humanitäre Intervention, beispielsweise durch Großbritannien, plädiert. Die internationale Presse hatte für die neuen Dimensionen der Gewalt mit den Wendungen „extermination méthodique“ oder „politics of extermination“ eine neue Terminologie gefunden, um die absolute Gewalt zu beschreiben.

49 Sebastian Conrad/Dominic Sachsenmaier, Introduction: Competing Visions of World Order Global Moments and Movements, 1880s and 1930, in: Dies. (Hg.), Competing Visions of World Order: Global Moments and Movements, 1880s-1930s, New York u.a. 2007, S. 1-25, hier S. 13.

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Die Fotografie der flüchtenden Armenierin mit ihren Kindern wiederum entwickelte sich zum universellen Symbol einer Leidensgeschichte, wie sie für das ,Zeitalter der Extreme‘ – das 20. Jahrhundert – charakteristisch wurde.50 In ihrem Aufsatz Pornography of Pain arbeitete die amerikanische Historikerin Karen Halttunen heraus, dass die Visualisierung des Schmerzes bereits im 18. Jahrhundert nicht nur als „schmutzige Nebenbeschäftigung“ verstanden werden kann, sondern zum integralen Aspekt der „humanitären Sensibilität“ wurde. 51 Im späten 19. Jahrhundert, mit der Verbreitung der Fotografie, wurde diese ,Sensibilität‘ massenmedial eingesetzt und vermarktet. Die Aufnahme der Überlebenden des Massakers an den Armeniern in den 1890er Jahren, die unzähligen anderen, ebenfalls während des Genozids veröffentlichten visuellen Zeugnissen glich, verweist darauf, dass diese Fotografie zu einer Ikone der Extremform von Gewalt wurde. Sie markiert einerseits die universelle Verwundbarkeit des Opfers (Frau und Kinder) und sie erinnert gleichzeitig an die vielen anderen Opfer, die ,unsichtbar‘ bleiben.

50 Michelle Tusan, „Crimes Against Humanity“: Human Rights, the British Empire, and the Origins of the Response to the Armenian Genocide, in: American Historical Review 119 (2014), S. 47. 51 Karen Halttunen, Humanitarianism and the Pornography of Pain, in: American Historical Review 100 (1995), S. 303.

Das sandige Gelände von Babij Jar Alexandra Przyrembel

Abb. 7: Luftaufnahme der Schlucht Babij Jar vom 26.9.1943, aufgenommen von der deutschen Luftwaffe.1

1

© United States Holocaust Memorial Museum Washington D.C.

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„Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal./ Ein schroffer Hang – der eine, unbehauene Grabstein. / Mir ist angst. Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk. / Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude.“2

Mit diesen Zeilen beginnt der russische Dichter Jewgenij Jewtuschenko sein Gedicht Babij Jar, das er 1961 über die Erschießung von mehr als 30.000 Juden in der Schlucht nahe Kiew verfasste. Das Luftbild, aufgenommen von der deutschen Luftwaffe im September 1943, zeigt die Schlucht zwei Jahre nach der Ermordung der Juden Kiews durch deutsche SS-Männer. Die Aufnahme dokumentiert, dass die deutschen Täter keine Spuren ihrer mörderischen Handlung zurückgelassen hatten. Die Leichen der Ermordeten waren wenige Wochen zuvor, im August 1943, von den Deutschen exhumiert und verbrannt worden. Die Luftfotografie gleicht der naturalistischen Momentaufnahme einer Schlucht aus der Vogelperspektive – sie erinnert nicht an die Massenerschießung Tausender Menschen im September 1941. Erinnerungsorte werden medial hergestellt, vor allem auch visuell mit Hilfe von Fotografien. Babij Jar ist ein europäischer, wenn nicht gar ein globaler Erinnerungsort. Fotografien treten in der Erinnerung an Babij Jar allerdings hinter anderen Formen der Überlieferung zurück. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass nur wenige Fotografien existieren, die jene Massentötungen in der Schlucht Babij Jar überhaupt dokumentieren. Bei der Luftfotografie vom 26. September 1943 handelt es sich um ein militärisches Bilddokument, das die Schlucht zeigt, nachdem deutsche ,Säuberungskommandos‘ die Spuren der

2

Paul Celan übertrug das Gedicht Jewgeni Jewtuschenkos aus dem Russischen, siehe Paul Celan, Gesammelte Werke. Bd. 5, Übertragungen II., Frankfurt am Main 1986, S. 281-287. Jewgenij Jewtuschenko spricht sein Gedicht Babij Jar auf Englisch und Russisch, Aufnahme der 13. Symphonie Schostakowitschs, Dirigent Kurt Masur, The New York Philharmonic, Januar 1993, die Rezitation ist zu finden unter: https://www.youtube.com/ watch?v=rJEGrgdGzPE [28.1.2016].

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tausenden Toten beseitigt hatten. Wenige Wochen später wurde Kiew durch die Rote Armee befreit. Babij Jar ist ein zentraler Erinnerungs- und Gedächtnisort in der modernen Geschichte Europas. Und dies in besonders komplexer Weise: Im Laufe des Jahres 1941 hatte sich die nationalsozialistische Verfolgung der europäischen Juden in zentraler Weise gewandelt. Zunehmend bestimmte die gezielte und geordnete Politik der Vernichtung den Judenmord. Babij Jar verkörpert diese veränderte Gewaltpraxis gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Über die Massentötungen in der Schlucht von Babij Jar liegen nur wenige Zeugnisse von Überlebenden vor. Nur wenige Täter, die sich vor Gericht für ihre Taten zu verantworten hatten, berichteten über die Geschehnisse. Einige von ihnen wurden verurteilt. Babij Jar wirft auch die Frage nach dem Verhältnis von Erinnerung, historischen Dokumenten und Geschichtserzählung auf. Und schließlich: Jewtuschenkos Gedicht Babij Jar aus dem Jahr 1961 unterstreicht die Bedeutung literarischer Texte für die Erinnerung an die Shoah. Es symbolisiert zugleich einen Wandel der sowjetischen Erinnerungspolitik gegenüber dem Holocaust: Die ,bottom up‘Forderung des Dichters Jewtuschenko nach einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust, im Rahmen öffentlicher Lesungen inszeniert, initiierte die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Juden in der Sowjetunion und der Ukraine. 3

TUN In der Ukraine ermordeten die Deutschen ein Viertel aller in Europa umgekommenen Juden, dies waren schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen. Bei einer Massenerschießung handelt es sich um die wie3

Siehe hierzu auch den Spiegel-Artikel: Jewtuschenko. Mensch, Du hast Mut, in: Spiegel 22 (1962), S. 52-62. Der Artikel stellt das Gedicht in den Kontext der gegen das politische Regime aufbegehrenden Jugend-Kultur der Sowjetunion.

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derholte Form von Gewalt, die einer inneren Logik, einem ,Sinn‘ folgte. In seinem bedeutenden Werk Die Vernichtung der europäischen Juden betonte der Holocaust-Forscher Raul Hilberg, dass der „Gewaltausbruch […] nicht aus heiterem Himmel [kam]; er fand statt, weil ihm die Täter einen Sinn beimaßen: Er war keine bornierte Strategie zur Erreichung irgendeines Ziels, sondern ein sich selbst genügender Prozeß; ein als Erlebnis erfahrener Vorgang – erlebt und durchlebt von den an ihm Beteiligten.“

4

Hilbergs Beobachtung lässt sich auch an der Durchführung der Massenexekution am Rande der Schlucht Babij Jar belegen. Sie folgte einer bestimmten Ordnung. Nur eine Woche nach der Besetzung Kiews am 19. September 1941 durch die deutsche Wehrmacht ereigneten sich in der Stadtmitte mehrere Explosionen. Die vom NKWD – der sowjetischen Geheimpolizei – entfachten Brände dauerten mehrere Tage an, so dass die Deutschen zeitweise ihre Quartiere räumen mussten. Auf diese Detonationen reagierte die Besatzungsmacht mit einer Besprechung, bei der ,Vergeltungsmaßnahmen‘ gegenüber der jüdischen Bevölkerung Kiews geplant wurden. An dieser Besprechung nahmen der höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln (1895-1946), der Befehlshaber der Einsatzgruppe C Emil Rasch (1891-1948) sowie Paul Blobel (18941951), Befehlshaber des Sonderkommandos 4 a, teil, das der Einsatzgruppe C unterstellt war. Die Ereignismeldung vom 7. Oktober hält fest, dass „in Vereinbarung mit dem Stadtkommandanten“ sämtliche Juden Kiews aufgefordert wurden, „sich am Montag, den 29.9. bis 8 Uhr an einem bestimmten Ort“ einzufinden.5

4

Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 3, Frankfurt

5

Ereignismeldung Nr. 106 vom 7.10.1941, zit. n. Harald Welzer, Täter. Wie

am Main 1994, S. 1061. aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main 2005, S. 105.

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Nachdem die Opfer zusammengetrieben und zur Schlucht geführt worden waren, mussten sie sich entkleiden und ihre Wertgegenstände abgeben. Während der gesamten zwei Tage des 29. und 30. September schossen die Mitglieder des Einsatzkommandos. Die toten Körper der Menschen wurden übereinandergestapelt und anschließend in Massengräbern verscharrt. Befragt zum zeitlichen Ablauf der Exekution, erinnerte sich einer der Schützen: „Nach einem Kilometer eine große natürliche Schlucht. Es war sandiges Gelände. Die Schlucht war ca. 10 Meter tief, etwa 400 Meter lang, oben etwa 80 Meter breit und unten etwa 10 Meter breit. Gleich nach meiner Ankunft im Exekutionsgelände mußte ich mich zusammen mit anderen Kameraden unten in diese Mulde begeben. Es dauerte nicht lange, und es wurden uns schon die ersten Juden über die Schluchtabgänge zugeführt. Die Juden mußten sich mit dem Gesicht zur Erde an die Muldenwände hinlegen. In der Mulde befanden sich drei Gruppen mit Schützen, mit insgesamt 12 Schützen. Gleichzeitig sind diesen Erschießungsgruppen von obenher laufend Juden zugeführt worden. Die nachfolgenden Juden mußten sich auf die Leichen der zuvor erschossenen Juden legen. Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschuß getötet.“

6

Über die Massenerschießung von Babij Jar berichteten die verantwortlichen Täter nach Berlin, dass „als Vergeltungsmaßnahme“ in Kiew „sämtliche Juden verhaftet und am 29. und 30.9. insgesamt 33.771 Juden exekutiert“ worden seien. Dabei seien „Gold, Wertsachen und Bekleidung“ […] „zur Ausrüstung der Volksdeutschen“ sichergestellt worden.7

6

Aussage

K.

Werner

vom

28.5.1964,

Landeskriminalamt

Baden-

Württemberg, zit. n. Hartmut Rüss, Kiev/Babij Jar 1941, in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 102-114, hier S. 108. 7

Tätigkeits- und Lagebericht der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in der UdSSR. Berichtszeit 1.10.-31.10.1942, in: Peter

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In seiner Geschichte des Holocausts in der Ukraine betonte Ilja Altman, dass jedes Gebiet der Ukraine seine eigenen Babij Jars gehabt habe. Die Massenerschießung von Menschen hatte sich in der Ukraine als häufig wiederholte Gewaltpraxis gegenüber Juden etabliert. 8 Paul Blobel, einer der Hauptverantwortlichen der Massentötungen von Babij Jar, beschrieb nach 1945 vor Gericht diese unterschiedlichen Formen der Durchführung von Massenerschießungen. Er berichtete auch von ersten ,Experimenten‘ mit einem Gaswagen.9 Der SS-Mann Blobel war als Führer des Sonderkommandos 4 a für den Massenmord an den Juden Kiews verantwortlich. Er verantwortete ebenso die Exhumierung und Verbrennung der Leichen in der Schlucht Babij Jar durch ein im August 1943 zu diesem speziellen Zweck eingerichtetes Sonderkommando, das Kommando 1005 A. Dieses Kommando, das im Wesentlichen aus Häftlingen eines nahegelegenen Konzentrationslagers und den Wachmannschaften der Ordnungspolizei bestand, führte die ,Säuberungsarbeiten‘ in der Schlucht durch. Die Ermordung der europäischen Juden in der Sowjetunion lag in den Händen unterschiedlicher Tätergruppen. Das Reichssicherheitshauptamt hatte vier Einsatzkommandos (A, B, C und D) – im Grunde genommen Tötungseinheiten – eingerichtet, die das Ziel verfolgten, die Gegner des Nationalsozialismus (und hier vor allem die Juden) zu töten. Die meisten der 3.000 Männer gehörten zur Sicherheitspolizei (also zur Gestapo und Kriminalpolizei) und zum Sicherheitsdienst. Unter diesen Männern befanden sich Beamte, Kraftfahrer oder auch

Klein/Andrej Angrick (Hg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion, 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei. Berlin 1997, S. 222-244, hier S. 232. 8

Ilja Altmann, Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941-1945,

9

Eidesstattliche Erklärung von Paul Blobel vom 6.6.1947 in Nürnberg. Vgl.

Gleichen u.a. 2008, S. 353. http://www.ns-archiv.de/einsatzgruppen/blobel/eidesstattliche-erklaerung1.php [18.1.2016].

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Schreiber – sie alle waren an den Gewalt- bzw. Mordexzessen gegenüber der jüdischen Bevölkerung beteiligt. Dem für die Erschießung der Juden Kiews in der Schlucht Babij Jar verantwortlichen Einsatzkommando C gehörten etwa 800 Männer an; diesem unterstand außerdem ein Reservebataillon der Polizei sowie eine SS-Kompanie. Die Tötung der Juden in der Ukraine beruhte auf einem arbeitsteiligen Prozess, der durch einen regelhaften Ablauf und der Wiederholung – vielmehr: der ,Einübung‘ – spezifischer Formen von Gewalt gekennzeichnet war. Die Massenerschießung von Menschen war eine spezifische Form der Vernichtungsgewalt, die von ihren Exekutoren betrieben wurde, als gingen sie einer Arbeit nach. Die Frage, warum sich ,normale‘ Männer an diesen Massenexekutionen beteiligten und wie sie nach 1945 in der Regel in ein bürgerliches Leben zurückkehren konnten, berührt ein Grundproblem der modernen Gewaltforschung. Übergeordnet geht es in dieser Debatte darum, den Ort der Moderne angesichts dieser Gewaltexzesse näher zu bestimmen. In Abgrenzung zu theoretischen Überlegungen von Norbert Elias, der von einer ,Zivilisierung‘ der Gewalt im Laufe der Moderne spricht, betonen jüngere Forschungen zur Geschichte des Holocausts und des Stalinismus die spezifisch moderne Qualität der Gewaltexzesse: Die Moderne konstituiere den „Ermöglichungsraum totalitärer Vernichtungsgewalt“.10 Die Arbeitsteilung, die sowohl die Massenexekution in der Schlucht von Babij Jar als auch die ,Säuberung‘ der Schlucht von den Opfern strukturierte, spricht für eine solche ,moderne‘ Qualität der Gewaltexzesse. Die Entmenschlichung der Opfer war eine der Voraussetzung dieser Massaker. Dass der Umgang mit toten Körpern eine nahezu irreale Dimension angenommen hatte, wird an folgendem Bericht eines Polizisten deutlich, der an der Bergung und Verbrennung der Leichen in der Schlucht teilgenommen hatte. Er berichtete von der

10 Jörg Baberowski, Einleitung: Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt, in: Ders./Gabriele Metzler (Hg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2012, S. 7-28, hier S. 12.

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folgenden Ansprache, die einer der verantwortlichen SS-Führer im August 1943 zu Beginn der bevorstehenden Aktion 1005 gehalten hatte: „Was Sie hier in dieser Grube sehen, sind keine Menschen, sondern Figuren. Diese Figuren sind – sinngemäß – Gegenstand unserer Aufgabe […] Wir sollten uns bemühen, daß wir nicht auch einmal als Figuren behandelt würden.“11

Die Säuberung der Schlucht gestaltete sich als so arbeitsaufwändig, dass immer mehr Bergungskräfte, in der Regel Häftlinge, eingesetzt wurden. In der Schlucht von Babij Jar wurden im August 1943 100.000 bis 125.000 Menschen verbrannt. Die Öfen brannten in jenen Augusttagen lichterloh, so dass die Kiewer Feuerwehr – im Glauben einen Brand löschen zu müssen – aus der Stadt anrückte.

WISSEN Die Luftaufnahme, die zu Beginn dieses Textes zu sehen ist, zeigt die Schlucht, nachdem die Spuren der Massenerschießung von der SS beseitigt wurden. Vor allem aufgrund von Augenzeugenberichten, die auf unterschiedlichste Weise – in Zeitungsartikeln oder auch im Rahmen gezielter Befragungen – weitergegeben wurden, verbreitete sich das internationale Wissen über Babij Jar innerhalb von nur wenigen Wochen nach der Befreiung Kiews. Berichte von deutschen Augenzeugen waren bereits unmittelbar nach dem Massaker in der deutschen Bevölkerung publik geworden. Victor Klemperer, der berühmte Chronist des Nationalsozialismus, notierte bereits im April 1942 in seinem Tagebuch die Beobachtungen eines Bekannten, der bei der Polizeitruppe als Fahrer eingesetzt war: 11 Vernehmung Hermann Kappen vom 21.2.1964, zit. n. Jens Hoffmann, Das kann man nicht erzählen: „Aktion 1005“ – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten, Hamburg 2008, S. 113.

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„Grauenhafte Massenmorde an Juden in Kiew. Kleine Kinder mit dem Kopf an die Wand gehauen, Männer, Frauen, Halbwüchsige zu tausenden auf einem Haufen zusammengeschossen, ein Hügel gesprengt und die Leichenmasse unter der explodierenden Erde begraben.“

12

Der Zeitzeuge hatte bei der Vermittlung des Wissens über die Massentötungen eine zentrale Funktion. In einem wenige Wochen nach der Befreiung Kiews erschienenen Artikel der Jewish Daily Telegraph Agency schilderte ein Journalist, wie er in Begleitung sowjetischer Offiziere und eines Überlebenden des Arbeitskommandos in der Schlucht von Babij Jar auf „Teile verbrannter Knochen“ stieß.13 Am gleichen Tag veröffentlichte die New York Times den Artikel 50.000 Kiev Jews Reported Killed über die Massenerschießung und berichtete mit Verweis auf Zeitzeugen auch darüber, dass die Leichen im Sommer 1943 von den Deutschen verbrannt worden waren.14 Trotz dieses in der internationalen Presse zirkulierenden Wissens über die Gewaltexzesse der Deutschen gegenüber der jüdischen Bevölkerung dauerte es Jahrzehnte, bis Babij Jar zu einem Ort des öffentlichen Gedenkens wurde. Das Gedicht Babij Jar von Jewgenij Jewtuschenko stellt eine Zäsur im Gedenken an die Ermordung der Juden Kiews dar. Denn es thematisiert zum einen den Holocaust, betont aber andererseits ebenso den ,russischen‘ Antisemitismus. In den letzten Zeilen des Gedichts heißt es:

12 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942-1945, Berlin 1999, S. 68. 13 Artikel vom 29.11.1943 zit. n. Hoffmann, Aktion 1005, S. 118. 14 Vgl. 50.000 Kiev Jews Reported Killed. Soviet Atrocity Group Hears Nazis Machine-Gunned Victims in Sept. 1941, New York Times vom 29.11.1943. Ein Augenzeuge berichtete von den Leichenverbrennungen.

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„Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern./Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten. Mit wütigem, schwieligem Haß, so hassen sie mich – /wie einen Juden./Und deshalb bin ich/ein wirklicher Russe.“

15

ERINNERN Ein zentrales Moment der Massenmorde im September 1941 und der Verwischung von Spuren zwei Jahre später war die Wahl einer sehr spezifischen Sprache. Die Männer – sie waren wie Rasch und Blobel Juristen oder Architekten – gehörten zu besonderen Einheiten, dem Sonderkommando oder auch dem Kommando 1005 A. Auch für ihre Handlungen, die Beteiligung an Massentötungen, wurde eine sehr spezifische Sprache gefunden. Die zu verbrennenden Leichen waren „Figuren“; eine andere Idee war, mit Hilfe einer kodierten Sprache die Anzahl der verbrannten Körper als „Wolkenhöhe“ und die geheimen Berichte hierüber als „Wettermeldungen“ zu verschlüsseln.16 In anderen Worten: Die Frage, wie der Massenmord zu beschreiben war, stellte auch die NS-Täter vor ein nur schwer zu lösendes Dilemma. Sie fanden für ihre Massenmorde eine besonders technokratische Sprache. In ihrem Gespräch über die Geschichte und den Roman erörtern der Historiker Pierre Nora und der Schriftsteller Jonathan Littell die Problematik, wie sich die beiden Geschichtserzählungen – die Rekonstruktion der Tat und die Geschichte des Gedenkens an die Verbrechen – wieder aufeinander zubewegen könnten. Als Kritik an eine kommerzialisierte Holocaust-Industrie hat Littell in seinem Roman Die Wohlgesinnten einen besonderen Weg gewählt – er erzählt die Geschichte der Massentötungen aus der Perspektive eines deutschen Täters, der als Mitglied einer Einsatzgruppe auch an den Massenmorden von Babij Jar beteiligt war. Historische Vorlage war der Massenmörder Paul Blobel. Sein Roman stoße, so Littell zur internationalen 15 Celan, Babij Jar, S. 287. 16 Hoffmann, „Aktion 1005“, S. 108.

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Debatte über das Werk, auf einen „Resonanzboden“. Die Wohlgesinnten siedele „die Problematik wieder bei den Henkern an“. Diese Henker würden so europäisiert. Dies erlaube den Lesern, „wieder Zugang zu dem zu finden, was geschehen ist, sich moralisch betroffen zu fühlen, und zwar dadurch, dass sie potentiell selbst zu Henkern werden können. Das eröffnet ihnen wieder einen Zugang zu dem Trauma, das in der Erinnerung aller Familien weiterwirkt, was sie auch getan haben mögen, denn alle europäischen Familien haben auf die eine oder andere Weise den Krieg erlebt – es sitzt den Leuten in den Knochen […] Das ,dejudaisiert‘ das Problem irgendwie und macht daraus ein universelles Problem.“

17

17 Jonathan Littell/Pierre Nora, Gespräch über die Geschichte und den Roman, in: Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten, Marginalien, Berlin 2008, S. 22-64, hier S. 63f.

Der kleine Junge aus dem Warschauer Ghetto Florian Gregor

Abb. 8: Die Originalbildunterschrift lautete: „Mit Gewalt aus den Bunkern hervorgeholt.“1

1

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Bundesarchiv_Bild_183-416360002,_Warschauer_Ghetto-Aufstand,_Verhaftungen.jpg [8.11.2018].

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Das Foto des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto hat bei vielen Menschen einen festen Platz im visuellen Gedächtnis eingenommen. Das Foto, in dessen Zentrum ein kleiner Junge mit erhobenen Händen steht, hat sich nach 1945 zunächst als „logo of the holocaust“ oder „Ikone der Vernichtung“ und schließlich, herausgelöst aus seinem ursprünglichen Kontext, als allgemeines „Sinnbild des Leidens“ in das kollektive Bildgedächtnis – nicht nur – der Bundesrepublik Deutschland eingebrannt.2 Auf dem Foto ist zu sehen, wie Soldaten eine Gruppe von Menschen aus einem Haus führen. Die Handtaschen, das Gepäck und die Kleidung der Menschen deuten darauf hin, dass sie darauf vorbereitet waren, abgeholt zu werden. Die Menschen, größtenteils Frauen und Kinder, wirken gehetzt und verängstigt, aber körperlich unversehrt. Der Soldat am rechten Bildrand richtet seine Waffe auf den kleinen Jungen, der etwas abseits von der Gruppe stehen zu bleiben scheint, vielleicht nach dem Versuch zu flüchten. Während die Soldaten stehen, bewegen sich die Menschen aus dem Bildhintergrund auf den Betrachter des Bildes zu. Das Foto suggeriert die Dokumentation einer authentischen Situation, deren Entstehungskontext auf den ersten Blick unklar bleibt. Am oben abgebildeten Foto lässt sich exemplarisch veranschaulichen, wie im Medium der Fotografie Wissen über die Geschichte in konzentrierter Form aufgegriffen und geformt werden kann bzw. dass Fotografien historische Realitäten nicht authentisch abbilden, sondern die Sichtweisen auf und Deutungen von Geschichte prägen. Anhand der Rezeptionsgeschichte des Fotos des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto lässt sich ein Blick darauf werfen, wie sich bestimmte Fotos etablieren, um einen historischen Ereigniszusammenhang symbolisch verdichtet darzustellen, um sich schließlich in Prozes-

2

Christoph Hamann, Wechselrahmen: Narrativierungen von Schlüsselbildern – das Beispiel vom Foto des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto, in: Werner Dreier (Hg.), Schlüsselbilder des Nationalsozialismus. Fotohistorische und didaktische Überlegungen, Innsbruck 2008, S. 28-42, hier S. 28.

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sen der Überschreibung als „Symbolbilder“3 in verschiedenen erinnerungskulturellen Kontexten festzusetzen.

ENTSTEHUNGSKONTEXT: DER AUFSTAND IM WARSCHAUER GHETTO UND DER STROOP-BERICHT Das undatierte Foto des kleinen Jungen war Bestandteil des ,StroopBerichtes‘, einer Dokumentation der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto, die vom SS-Gruppenführer und Generalmajor der Polizei, Jürgen Stroop (1895-1951), in Auftrag gegeben wurde. Die Fotografie zeigt eine Szene während der „Liquidierung“ des Warschauer Ghettos im Frühjahr 1943. Sein Entstehungszeitpunkt fällt somit in jene Phase der ,Aktion-Reinhardt‘4, in der der Großteil der letzten noch lebenden Juden des Generalgouvernements, die als Zwangsarbeiter in den Ghettos überlebt hatten, ermordet wurde. Die Frauen, Kinder und Männer, die auf dem abgebildeten Foto zu sehen sind, waren Zeugen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik,

3

Zum Konzept des „Symbolbildes“ vgl. Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001, S. 33 ff.

4

,Aktion-Reinhardt‘ ist der Tarnname für die Ermordung der Juden des Generalgouvernements in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Einen Überblick geben: Yitzhak Arad, Belzec, Sobibor, Treblinka: The Operation Reinhard Deathcamps, Bloomington 1987; Bogdan Musial (Hg.), „Aktion Reinhardt“. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941-1944, Osnabrück 2004; Sara Berger, Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, Hamburg 2013 und Stephan Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust: Belzec, Sobibor, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017.

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die ab Januar 1943 europaweit ausgedehnt worden war. 5 Das Schicksal der aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka deportierten Juden war ihnen bekannt. Bereits wenige Wochen nach der dort am 22. Juli 1942 begonnenen Ermordung der Juden des Warschauer Ghettos kursierten erstaunlich detaillierte Informationen über die Vernichtungslager der ,Aktion-Reinhardt‘,6 die sich in den darauffolgenden Monaten weiter verdichteten, so dass es bereits bei der zweiten großen Mordaktion im Januar 1943 zu vereinzelten Akten des Widerstands der Warschauer Juden gekommen war. Im klaren Bewusstsein darüber, dem nationalsozialistischen Massenmord nicht entgehen zu können, begann der jüdische Untergrund im Warschauer Ghetto ab Januar 1943 Strukturen für einen koordinierten Widerstand aufzubauen.7 Waffen und Sprengstoff wurden besorgt, Molotov-Cocktails produziert, Kommunikationsnetzwerke ausgebaut, kleine Kampfeinheiten gebildet sowie Bunker und unterirdische Verbindungsgänge ausgehoben. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang des Jahres 1943, lebten von den ca. 3,2 Millionen Juden Polens noch ca. 500.000.8

5

Zur europaweiten Ausdehnung der Deportationen in die Vernichtungslager der ,Aktion-Reinhardt‘ siehe Sara Berger, Experten der Vernichtung, S. 246 ff.

6

So z.B. in einem Schreiben von Leon Feiner (Mitglied des jüdischen Untergrundes) an Szmul Zygielbojm (Mitglied des Nationalrates der Republik Polen in London) vom 31. August 1942. In dem Schreiben unterrichtet Feiner Zygielbojm darüber, dass in den Lagern Treblinka, Sobibor und Belzec „Massenhinrichtungen“ stattfänden. Abgedruckt in: Klaus-Peter Friedrich, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, München 2014, S. 404.

7

Markus Roth/Andrea Löw, Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung, München 2013, S. 200-208.

8

Zahlen nach Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, Darmstadt 2011, S. 96.

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Als SS- und Polizeieinheiten am 19. April 1943 mit der von Himmler angeordneten endgültigen ,Liquidierung‘ des Ghettos begannen, trafen sie auf einen koordinierten Widerstand, der sie trotz vorheriger Informationen zu überraschen schien.9 Der SS- und Polizeiführer für den Distrikt Warschau, Ferdinand von Sammern-Frankenegg, wurde bereits nach dem ersten Tag des Aufstandes von seinen Aufgaben freigestellt und durch Jürgen Stroop als Befehlshaber der SS-, Polizei- und Wehrmachtseinheiten für die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto ersetzt. Stroop kam dieser Aufgabe mit äußerster Brutalität nach und legte am 16. Mai 1943 einen internen Bericht vor, der überschrieben war mit „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr“ (Stroop-Bericht)10. Bestandteil dieses Berichtes war ein Bildteil, der das Vorgehen von SS und Polizei auf 54 Fotos dokumentiert. In diesem Bildteil befindet sich die undatierte Fotografie, auf der die Festnahme einer Gruppe von Menschen zu sehen ist, die mit vorgehaltenen Waffen aus einem Haus geführt werden. Im Zentrum stehen zwei symbolische Akteure: der SS-Mann Josef Blösche (19121969)11 und der kleine Junge, dessen Identität bis heute ungeklärt ist.

9

Die ,Aktion‘, die auf den hohen jüdischen Feiertag Pessach gelegt wurde, war vom Reichsführer-SS Himmler bereits am 16. Februar aus „Sicherheitsgründen“ angeordnet worden, damit, so Himmler, der „jüdische Wohnbezirk“ und sein „für 500.000 Untermenschen bisher vorhandene[r] Wohnraum, der für Deutsche niemals geeignet ist, von der Bildfläche verschwindet und die Millionenstadt Warschau, die immer ein gefährlicher Herd der Zersetzung und des Aufstandes ist, verkleinert wird.“ Schreiben des Reichsführers-SS an den Höheren SS- und Polizeiführer Ost Krüger in Krakau vom 16.2.1943, abgedruckt in: Friedrich, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, S. 386.

10 Bericht des Generals der Waffen-SS Jürgen Stroop vom 16. Mai 1943: Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr. 11 Josef Blösche war ein im Warschauer Ghetto gefürchteter Exzesstäter, der bis zu seiner Verhaftung 1967 in der DDR lebte. Vom Bezirksgericht Erfurt wurde Blösche 1969 zum Tode verurteilt. Zur Biografie und zum

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Der ,Stroop-Bericht‘ ist einer der prominentesten Berichte von NSTätern, die im Rahmen der ,Endlösung‘ als Leistungsnachweis und Legitimation der vollzogenen ,Maßnahmen‘ für den internen Gebrauch erstellt wurden. Der Bericht dokumentiert nicht allein – er erzeugt zudem die Bilder und Deutungen der Geschehnisse. Er beginnt mit dem Gedenken an die „für Führer und Vaterland […] im Kampf der Vernichtung von Juden und Banditen“12 gefallenen und verwundeten SS- und Polizeimänner, deren Tod in den Kontext einer vorgeblich historisch notwendigen Mission gerückt wird. Sie opferten sich für die Entjudaisierung Europas. So wird die Errichtung und Vernichtung des Warschauer Ghettos im Textteil in Bezug zu der Geschichte der Ghettoisierung der europäischen Juden seit dem Mittelalter gesetzt. Der Bericht suggeriert, die nationalsozialistische Ghettoisierungspolitik sei in Reaktion auf eine vorgeblich von den Juden verursachte und seit Jahrhunderten ungelöste ,Judenfrage‘ entstanden. Diese zu lösen und die Gefahr zu bannen, die von den Juden ausgegangen sei, habe den „ununterbrochenen und unermüdlichen Einsatz sämtlicher Kräfte“13 erfordert. So rechtfertigte Stroop die Zerstörung des Warschauer Ghettos und die Ermordung der Juden, die sich einer „freiwilligen Umsiedlung“ verwehrt hätten, mit der „Sicherheitslage“

Prozeß gegen Josef Blösches siehe Sascha Münzel, Strafsache Josef Blösche. Der „Henker des Warschauer Ghettos“ vor dem Bezirksgericht Erfurt 1969, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, Bd. 70, 2009, S. 23-30 und Andreas Mix, Das Ghetto vor Gericht. Zwei Strafprozesse gegen Exzeßtäter aus dem Warschauer Ghetto vor bundesdeutschen und DDR-Gerichten im Vergleich, in: Stephan Alexander Glienke/Volker Paulmann/Joachim Perels (Hg.), Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 319-345. 12 Bericht des Generals der Waffen-SS Jürgen Stroop vom 16. Mai 1943: Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr, S. 2. 13 Ebd., S. 10.

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und schildert einen unermüdlichen, „mit größter Härte und unnachgiebiger Zähigkeit“ durchgeführten Tag- und Nachteinsatz.14 Diesem Duktus, in dem die Täter mit „Schneid, Mut und […] Einsatzfreudigkeit“15 als „verfolgende Unschuld“16 auftreten, wird der Bildteil als vermeintlich authentische Erinnerung beigefügt, der die „Anständigkeit“ der Täter und insbesondere die „Sauberkeit“ und „Ordnung“ der „Aktion“ beglaubigen soll. Insofern kann der ,Stroop-Bericht‘ über seine Funktion als Leistungsnachweis hinaus als Dokument gedeutet werden, in dem die Deutungshoheit über die Erinnerung an das Warschauer Ghetto, das der Nachwelt nur noch aus Erzählungen bekannt sein würde, festgelegt wird. Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer weist auf die enge Verwobenheit von „retrospektiven Antizipationen“ mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hin und betont, dass die „hegemonial definierte“ Erinnerung an die bereits als ausgelöscht vorgestellten Juden Bestandteil der ,Endlösung‘ gewesen sei.17 Dirk Rupnow hat dies als „Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik“ bezeichnet: als Versuch der Nationalsozialisten, „eine spätere Erinnerung im Vorhinein zu strukturieren und zu formen“, die auch Anknüpfungspunkte an Nachkriegsdiskurse aufweist. 18

14 Ebd., S. 7 ff. 15 Ebd., S. 10. 16 Zur von Karl Kraus entlehnten Formulierung der „verfolgenden Unschuld“ vgl. Matthias Hambrock, Dialektik der verfolgenden Unschuld: Überlegungen zu Mentalität und Funktion der SS, in: Jan Erik Schulte (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009, S. 79-101. 17 Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main 2011, S.51. 18 Dirk Rupnow, Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005, S. 87.

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REZEPTION: PERSPEKTIVEN UND UMSCHREIBUNGEN Die Wirkungsgeschichte des oben abgebildeten Fotos wirft die zentrale Frage auf, wie die gegensätzlichen Deutungen des Bildes vor und nach 1945 zu erklären sind. Warum konnte sich eine aus der Perspektive der Täter aufgenommene Fotografie, die das Handeln der Täter legitimieren sollte, nach 1945 als Symbolbild des Holocaust etablieren? Zunächst verweist dies auf den Versuch der Nationalsozialisten, „den Massenmord zu einem moralischen Projekt umzudeuten“ und mit einem eigenen erinnerungspolitischen Narrativ auszustatten, der bis in die Gegenwart hineinragt.19 Im Mittelpunkt der Täterperspektive stand die Identifikation mit den Tätern. Eine mögliche Lesart wäre, dass die Abbildung der verängstigten Frauen und Kinder die „Leistung“ der SSMänner unterstreichen sollte. Nicht den erniedrigten und wehrlosen Opfern wurde Empathie entgegengebracht, sondern jenen Männern, deren Aufgabe es war, die „Endlösung“ durchzuführen und „durchzuhalten“. Zudem ist die „Sauberkeit“ der Situation auffällig. Die wenigen SS-Männer haben kein Problem, die Situation zu beherrschen. Die aus dem Bild hervortretende Asymmetrie der Macht betonte die eigene Stärke und diente dazu, die durchaus bemerkenswerten Widerstandshandlungen zu überschreiben. Die völlig gegensätzliche Deutung nach 1945 deutet die Offenheit des Fotos an und ist im Zusammenhang mit den unterschiedlichen nationalen Erinnerungskulturen bis 1989 und jenen Entwicklungen zu sehen, die unter dem Schlagwort der ,Universalisierung‘ auf eine internationale Perspektivierung der Holocaust-Erinnerung am Ende des 20. Jahrhunderts abzielen. Publiziert zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen nationalen Kontexten der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, war das Foto in verschiedene Narrative der Erinnerung eingebunden. Der deutsche Historiker Habbo Knoch spricht in diesem Zusammenhang vom „Prinzip des typischen Bildes“, einem

19 Ebd., S. 234.

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Bild, das – herausgelöst aus seinem ursprünglichen Zusammenhang – für vergleichbare Geschehnisse herangezogen wird.20 Damit Fotos sich als solch typische Bilder oder als Symbolbilder etablieren, bedarf es der Vervielfältigung und Zirkulation. Das Foto des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto wurde bereits 1946 in der Zeitung des DP-Lagers Leipheim A Hejm zum dritten Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto abgedruckt. Eingebettet in eine Reihe von Bildern, die die nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung der Juden darstellen sollten, wurde das Foto aus der Täterperspektive herausgelöst und gegen die Täter verwendet. 21 Von dem in nur drei Ausfertigungen erstellten ,Stroop-Bericht‘ war eine für Himmler und eine für den Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich Wilhelm Krüger bestimmt. Nach dem Krieg gelangten ein Exemplar sowie eine Durchschrift in die Hände von US-Soldaten. So wurde der ,StroopBericht‘ bei den ,Nürnberger Prozessen‘ als Beweisdokument der Anklage verwendet. Während die Durchschrift nach den Prozessen an das National Archive in Washington gegeben wurde, wanderte das Original für den in Warschau stattfindenden Prozess gegen Stroop (1951) nach Polen, wo es nach dem Prozess an das Archiv der Hauptkommission zur Untersuchung der NS-Verbrechen in Polen gegeben wurde.22 Von nun an war das Foto des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto in Archiven zugänglich. Nachdem es bereits in Alain Resnais Dokumentarfilm Nacht und Nebel eingeblendet wurde, um dessen Ausstrahlung bei den Filmfestspielen von 1956 in Cannes eine außenpolitische Auseinandersetzung entbrannte, die die deutsch-

20 Habbo Knoch, Tat als Bild, S. 764. 21 Ebd., S. 238. 22 Hermann

Weiß,

Stroop-Bericht,

in:

Wolfgang

Benz/Hermann

Graml/Hermann Weiß (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 2007, S. 818-819.

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französische Aussöhnung belastete,23 gelangte das Foto im Jahr 1960 sichtbar an die internationale Öffentlichkeit, als es auf dem britischen, französischen und kanadischen Cover des von Gerhard Schoenberner herausgegebenen Bildbandes Der gelbe Stern ebenso zu sehen war wie im Magazin Life, im erstmals in Westdeutschland publizierten ,StroopBericht‘ sowie auf dem Plakat der von Schoenberner mitinitiierten Ausstellung über NS-Verbrechen Die Vergangenheit mahnt.24 Eine Analyse der regional und zeitlich verschiedenen Verbreitungskontexte offenbart einen Blick auf die pluralen Bedeutungszusammenhänge, in denen das Foto zirkuliert(e). In Warschau wurde bereits 1948 ein zentrales Denkmal für die „Helden des Aufstands im Warschauer Ghetto“ errichtet, das als wichtigster symbolischer Erinnerungsort für den Holocaust im sozialistischen Polen galt. Das Foto allerdings wurde zwar in polnischen Schulbüchern verwendet, aber ebenso wie die Erinnerung an den Holocaust und den Aufstand im Warschauer Ghetto unter dem Narrativ des antifaschistischen Widerstands subsumiert. Im Mittelpunkt der symbolischen Verdichtung stand nicht der Holocaust, sondern die im Bild festgehaltene Asymmetrie der Macht. Die Verarbeitung des Bildes in dem polnischen Kurzfilm With raised Hands (Mitko Panov) im Jahr 1985 markierte den Prozess einer sukzessiven erinnerungspolitischen Verschiebung: Mit dem 40. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto begannen in Polen Diskussionen über das polnisch-jüdische Verhältnis, über Antisemitismus, Kollaboration und die Pogrome nach 1945. Doch erst das 2001 erschienene Buch Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne von Jan T. Gross, in dem er das von Polen begangene Pogrom an Juden in Jedwabne im Juli 1941 kurz nach dem

23 Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland: Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2015, S. 124. 24 Richard Raskin, A Child at Gunpoint. A Case Study in the Life of a Photo, Aarhus 2004, S. 106.

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Einrücken der Wehrmacht schildert, hat bis dahin verborgene Gedächtnisschichten wieder freigelegt. 25 In Deutschland wurde das Foto einer breiteren Öffentlichkeit erstmals durch die Aufnahme in ein Schulbuch im Jahre 1958 und durch die oben genannte Bildchronik von Gerhard Schoenberner bekannt. Der Zeitpunkt der Verbreitung fällt in den Zeitraum, in dem der Holocaust sukzessiv hinter der „Überlagerung durch Schweigen und Verdeckung […] zum Vorschein kam“26. Durch das Bemühen um eine intensivierte Aufklärung, Ahndung und Erforschung der NSVerbrechen, der 1959 durch die Einrichtung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg Ausdruck verliehen wurde, durch die Prozesse gegen NS-Täter in Ulm (1958), Frankfurt (1963) und den ,EichmannProzess‘ (1961) sowie unter dem Eindruck einer antisemitischen Schmierwelle (1959/60)27 plädierten Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit und Politik für einen kritischeren Umgang mit der NSGeschichte. Der Holocaust rückte vermehrt in das öffentliche Bewusst-

25 Peter Oliver Loew, Helden oder Opfer? Erinnerungskulturen in Polen nach 1989, in: Manfred Sapper (Hg.), Geschichtspolitik und Gegenerinnerung. Krieg, Gewalt und Trauma im Osten Europas, Berlin 2008, S. 85-102, hier S. 91. 26 Assmann, Erinnerungskultur, S. 156. 27 In den Jahren 1959/60 kam es ausgehend von Hakenkreuz-Schmierereien an der Kölner Synagoge in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1959 zu einer bundesweiten Welle antisemitischer Schmierereien, Angriffe und Pöbeleien, die von einer umfassenden Berichterstattung begleitet wurde. Dazu einführend: Werner Bergmann, Antisemitismus als politisches Ereignis. Die antisemitische Schmierwelle im Winter 1959/1960, in: Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, hg. v. Ders./Rainer Erb, Opladen 1990, S. 253-275.

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sein, während gleichzeitig über die Notwendigkeit politischhistorischer Bildung debattiert wurde.28 Im Zentrum der bundesrepublikanischen Rezeption des Bildes, die Christoph Hamann anhand von Schulbüchern analysiert hat, steht die Kontextualisierung mit dem Holocaust. Allerdings bleibt der direkte Zusammenhang, der Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto, unbeachtet und die Juden erscheinen in den Bildlegenden lediglich als Opfer.29 Die Juden als Objekte des Holocaust werden eingefügt in einen Narrativ, in dessen Zentrum ein funktionalistisches Bild der Tat und der Täter steht. Im „Paradigma der technisierten Tat“, das sich als bis in die Gegenwart hegemoniales Deutungsmuster des Holocaust etabliert hat, werden Täter (und Opfer) zu Rädchen im Getriebe einer perfekt funktionierenden Vernichtungsmaschinerie, die das Ergebnis einer „kumulativen Radikalisierung“ gewesen sei. Sie erscheinen als Objekte eines „Geschehens“.30 An dieser Stelle werden die von Rupnow konstatierten „Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik“ sichtbar. Die Bilder des „sauberen“ und industriellen Massenmords, die bereits von der NS-Propaganda entworfen worden waren, wurden von NS-Tätern vor Gericht aufgegriffen und flossen in den Nachkriegsdiskurs über die NS-Verbrechen ein. Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem nutzte das eingangs abgebildete Foto im Jahr 2008 für ihre Broschüre The Holocaust und verwendete es somit als Schlüsselbild, „mit dem sich die Gemeinschaft der jüdischen Opfer identifizieren“ kann.31 Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, zeigt ein Blick in die Geschichte der israelischen

28 Anne Weberling, Gedenk- und Erinnerungspolitik in Deutschland und Israel, in: Olaf Glöckner/Julius H. Schoeps (Hg.), Deutschland, die Juden und der Staat Israel: Eine politische Bestandsaufnahme, Hildesheim 2016, S. 68. 29 Hamann, Wechselrahmen, S. 32. 30 Gerhard Paul, Die Täter der Shoah: Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2002, S. 20-32. 31 Hamann, Wechselrahmen, S. 28 f.

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Erinnerungskultur. Insbesondere der junge israelische Staat in den späten 1940er und in den 1950er Jahren zog den Holocaust zwar zur Rechtfertigung zionistischer Ideen heran. Der Fokus der Thematisierung des Holocaust lag jedoch auf dem jüdischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. „Ghettokämpfer“ wie Mordechaj Anielewicz, Jizchak Zuckerman oder Marek Edelmann repräsentierten das Bild des starken, wehrhaften Juden in Abgrenzung zur vermeintlichen Passivität der Juden in der Diaspora. Dan Diner weist in seinem Aufsatz Über die Konstruktion von Rang und Geltung im israelischen Selbstverständnis darauf hin, dass das Jahr der Staatsgründung Israels (1948) als „konstitutive Zeitikone“ den „Erzählkompromiß zweier Narrative“ markiert: Die Narrative der europäischen Diaspora übten sich „dankbar […] in der Geste des großen Vergessens“ und fügten sich der Symbolik „der heilsgeschichtlich anmutenden Chronologie des Jischuw“, also der bereits vor der israelischen Staatsgründung im britischen Mandatsgebiet Palästina ansässigen jüdischen Bevölkerung.32 Zwar trug die Staatsgründung Israels das Signum von Auschwitz insofern, als dass ein souveräner jüdischer Staat historisch notwendig erschien. Doch in der heilsgeschichtlich dominierten Erinnerungskultur spielten der Holocaust und hier insbesondere die Erzählungen von Opfer und Leid eine untergeordnete Rolle. Erst in den 1960er Jahren und insbesondere durch den ,Eichmann-Prozess‘ und die breite Berichterstattung fanden die Geschichten von Überlebenden Berücksichtigung, in denen es um Angst, Demütigung und Vernichtung ging. Eine neue Generation israelischer Historiker stellte den zionistischen Narrativ der Staatsgründung und die offizielle Erinnerungskultur in den 1980er Jahren zunehmend in Frage. Die von den ,New Historians‘ angestoßenen Debatten, die bis in die Gegenwart anhalten, bewirkten eine Pluralisierung der Erinnerung

32 Dan Diner, Zeitenemblematik der Zugehörigkeit: Über die Konstruktion von Rang und Geltung im israelischen Selbstverständnis, in: Michael Brenner/Yfaat Weiss (Hg.), Zionistische Utopie, israelische Realität. Religion und Nation in Israel, München 1999, S. 173-190, hier: S. 183f.

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an den Holocaust in Israel. 33 Das Bild des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto, das die Ohnmacht und die Angst der Opfer repräsentiert, nimmt heute einen den Bildern der Helden des Widerstands gleichwertigen Rang ein.

BILDER, GESCHICHTE, ERINNERUNG Bis sich das Foto in das europäische Bildgedächtnis einprägte und jenen ikonischen Charakter bekam, der ihm heute zugesprochen wird, unterlag es einem wechselhaften Prozess der Rezeption und Aneignung. Der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner)34 wurde zunächst nicht nur in Deutschland, dem „Land der Täter“, sondern paradoxerweise – und aus anderen Gründen – auch in Polen und in Israel beschwiegen. An dieser Stelle wird deutlich, worauf Maurice Halbwachs in seiner Arbeit über das kollektive Gedächtnis hingewiesen hat, dass es nämlich weniger die Vergangenheit ist, die die Gegenwart prägt, sondern dass vielmehr die Belange der Gegenwart die Darstellung der Vergangenheit strukturieren.35 Als konzentrierteste Form der Darstellung dient die Fotografie nicht der möglichst exakten Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern als Träger von Deutungsangeboten. Das Bild des Jungen aus dem Warschauer Ghetto, das eine konkrete Situation im Rahmen der Niederschlagung des Aufstandes der Juden im Warschauer Ghetto (1943) zeigt, verdichtet jene Ereignisse, für die sich im Sprachgebrauch das Wort Holocaust eingeschliffen hat. Als ,Symbolbild‘, das in großer Verbreitung zirkuliert und sich im kulturellen Gedächtnis festgesetzt hat, dient es als Projektionsfläche für

33 Weberling, Gedenk- und Erinnerungspolitik in Deutschland und Israel, S. 72. 34 Dan Diner, Vorwort des Herausgebers, in: Ders. (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988, S. 7-13, hier S. 9. 35 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1985, S. 55 f.

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Erinnerungsdiskurse und lässt sich einfügen in das Konzept der Erinnerungsorte, das auf den französischen Historiker Pierre Nora und sein Werk Les lieux de mémoire zurückgeht. Nora verfolgt den Leitgedanken, dass sich individuelle wie kollektive Erinnerungen an bestimmten ,Orten‘ bündeln, und begreift diese ,Orte‘ nicht im topographischen Sinne: Erinnerungsorte können einen geografischen Ort ebenso einbeziehen wie ein historisches Ereignis, eine Person, ein Buch oder eben ein Bild. Diesen ,Orten‘, verstanden als diskursive Bezugsrahmen, ist eine besondere symbolische Bedeutung eingeschrieben, die eine identitätsstiftende Wirkung für bestimmte Kollektive entfalten kann. 36 Für die Herstellung symbolischer Bedeutung und identitätsstiftender Rezeptionsangebote eignen sich Fotografien in besonderem Maße. Habbo Knoch charakterisiert historische Fotografien zum Nationalsozialismus „als authentische, sichtbare Vergewisserungen eines Geschehens“, das durch „symbolische Verdichtungen“ auch jenen „[e]rinnerungsfähig gemacht wird, die es nicht erlebt haben“, weil sie, die Fotografien, anknüpfend an die Überlegungen von Jean Amery 37, das „Unbegreifliche einfrieren“ und zu einem „Bildträger“ werden, der zur Deutung der NS-Verbrechen dienen kann.38 In dieser Charakterisierung klingt an, worauf bereits Roland Barthes und Walter Benjamin in ihren Auseinandersetzungen mit der Fotografie aufmerksam gemacht haben39: dass nämlich die Fotografie eine authentische Erinnerung zwar vorgeblich bezeugt, mit ihr aber nicht verwechselt werden darf, weil

36 Pierre Nora, Nachwort, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, S. 681-688. 37 Jean Amery (1912-1978), geboren als Hans Meyer in Wien, war ein österreichischer Schriftsteller und Widerstandskämpfer, der seine Haft-, Folter- und KZ-Erfahrungen nach 1945 in zahlreichen Essays thematisierte. 38 Knoch, Tat als Bild, S. 11 f. 39 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, BadenBaden 1989; Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1976, S. 65-94.

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das fotografisch festgehaltene Vergangene durch den Betrachter permanent neu hergestellt wird. Insofern eignet sich das fotografische Bild, um als „eingefrorene Erinnerung“ in einen Geschichtsnarrativ eingebettet zu werden, der von stets neu ausgehandelten „gegenwärtigen Fragen und Sinnbezügen sowie auf die Zukunft gerichteten Orientierungsbedürfnissen bestimmt“ ist und als „sinnstiftende Geschichtserzählung(en) […] die unüberschaubare, unstrukturierte und interpretationsoffene Vergangenheit“ ordnet.40

ÜBERSCHREIBUNGEN Das Bild des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto wurde in den letzten Jahrzehnten mehrfach durch Bildbearbeitungen aus seinen „originären Raum-, Zeit-, und Handlungsbezügen der Vergangenheit gelöst und in neue Zusammenhänge gestellt“.41 Die tiefgreifendste Umschreibung fand nach 1945 statt, als aus einer Täterfotografie, die die Legitimität der Vernichtung des Warschauer Ghettos bestätigen sollte, ein Symbolbild der Vernichtung wurde, in deren Zentrum die Identifikation mit dem Opfer stand. Diese Deutung fand mit graduellen Unterschieden Eingang in unterschiedliche erinnerungskulturelle Kontexte, in deren Zentrum der Zweite Weltkrieg bzw. der Holocaust standen. Verschiedene Karikaturen, in denen das Motiv aufgenommen und verfremdet wurde, indem der kleine Junge als palästinensisches Kind dargestellt wird, sind Beispiele für eine Umschreibung, in der der Holocaust zwar noch als Referenzpunkt einer universalen Moral herangezogen wird, der histori-

40 Oliver von Wrochem, Geschichtsnarrative und reflexives Geschichtsbewusstsein im Bildungsprozess, in: Barbara Thimm/Gottfried Kößler/ Susanne Ulrich (Hg.), Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt am Main 2013, S. 59-63, hier S. 59. 41 Hamann, Wechselrahmen, S. 30.

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sche Kontext des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts allerdings keine Rolle mehr spielt. Der Holocaust fungiert in diesem Zusammenhang als universal einsetzbares Symbol für Unrecht und zur Anerkennung von Opfererfahrungen und wird herangezogen, um den Anspruch auf Menschenrechte zu unterstreichen. Das antizionistisch intendierte Anführen des Holocausts als moralischen Bezugspunkt für militärische Handlungen des israelischen Staates, der durch diesen Vergleich delegitimiert werden soll, sowie die Gleichsetzung von Israelis und Juden verdeutlichen jedoch auf besonders frappierende Weise, wie der (antisemitische) Kontext des Holocaust ausgeblendet wird, wenn das Bild als stellvertretendes Symbol der Unterdrückung fungiert.42 Diese Form der Umschreibung, die den Ursprungskontext komplett außen vor lässt, verweist auf den Grund, aus dem die Fotografie des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto als Symbolbild taugt, zeigt aber ebenso die Folgen auf, die mit der Etablierung als Symbolbild einhergehen. Das Foto visualisiert eine asymmetrische Machtbeziehung und hält die Möglichkeit einer „dekontextualisierten Sinnstiftung“43 bereit, in der die konkreten historischen Zusammenhänge überlagert werden können. Das wehrlose und verängstigte Kind dominiert die fotografische Darstellung und erzeugt Identifikationsbereitschaft. Begünstigt wird die Identifikation auch dadurch, dass der Junge äußerlich unversehrt, gut gekleidet und sauber erscheint. Aus dem Foto sticht nicht der Zustand der physischen und psychischen Deprivation jener Schreckensbilder hervor, die durch die Alliierten nach 1945 verbreitet wurden und über die Theodor W. Adorno 1945 festhielt, dass „die Entrüstung über begangene Grausamkeiten […] umso geringer“ würde, „je unähnlicher

42 Zur Rezeption des Fotos im Kontext des Nahostkonfliktes vgl. Christoph Hamann, Der Holocaust im Nahostkonflikt – Schlüsselbilder als visuelles Paradigma, in: Christian Geißler/Bernd Overwien, Elemente einer zeitgemäßen politischen Bildung. Festschrift für Hanns-Fred Rathenow zum 65. Geburtstag, Berlin 2010, S. 279 ff. 43 Ebd., S. 39.

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die Betroffenen den normalen Lesern“ seien.44 Es ist das nicht Dargestellte im Foto des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto, das die Vorstellungskraft des Betrachters mobilisiert. So bieten sich unterschiedliche Interpretations- und Aneignungsmöglichkeiten eines Bildes, das – nach 1945 – insbesondere als Symbolbild von Opfererfahrungen gedeutet wird. Die Interpretation wird jedoch maßgeblich beeinflusst durch die Deutungsangebote der jeweiligen erinnerungskulturellen Kontexte, in die der Betrachter eingebunden ist.

SCHLUSS Das Foto des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto hat eine wechselvolle Rezeptionsgeschichte. Ursprünglich entstanden, um die Leistung von SS, Polizei und Wehrmacht bei der Niederschlagung des Warschauer Ghettos zu dokumentieren und auf die Opfer hinzuweisen, die von den Tätern im Rahmen der ,Endlösung‘ der ,Judenfrage‘ erbracht werden mussten, etablierte es sich nach 1945 als Symbolbild mit gegensätzlicher Deutung. Ohne die moralische Indifferenz, die den Opfern aus der Täterperspektive entgegengebracht wurde, offenbarte sich die radikale Offenheit des Fotos, das in die unterschiedlichen nationalen Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg bzw. den Holocaust in Deutschland, Polen und Israel eingebunden werden konnte, auch wenn sich diese Erzählungen unterschieden. Das Foto bot unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten, in deren Zentrum aber grundsätzlich Viktimisierungserfahrungen während der nationalsozialistischen Herrschaft standen. Insbesondere die während des Kalten Krieges überlagerten und nach der politischen Wende von 1989 wieder freigelegten Gedächtnisschichten in den ehemals kommunistischen Staaten Osteuropas führten zu erinnerungspolitischen Verschiebungen, die ein „gespaltenes Gedächtnis“ und „Opferkonkurrenzen“ hervor-

44 Adorno, Minima Moralia, S. 188.

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brachten.45 In diesem Kontext verdeutlicht das Bild des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto, wie Opfer der europäischen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts imaginiert werden. Das Foto, das zunehmend aus seinem Kontext gelöst und als Chiffre für die Universalität der Menschenrechte herangezogen wird, hat sich als das Symbolbild für Opfererfahrung überhaupt etabliert. Diese wird im Bild des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto symbolisch verdichtet, so dass es Anknüpfungspunkte zur Konstitution imaginärer Erfahrungsräume bietet, deren Kern Viktimisierungserfahrungen sind. Insofern kann die Fotografie individuellen oder kollektiven Akteuren als Erinnerungsort dienen, die sich in der Darstellung des flüchtigen Augenblicks wiederfinden.

45 Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 154 ff.

Adolf Eichmann hinter Glas Catherine Davies

Abb. 9: Eichmann während seines Prozesses in Jerusalem (1961). 1

1

Urheber: Israel Government Press Office/Israel National Photo Collection, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17872972 [10.4.2019].

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Am 11. April 1961 eröffnete der Staat Israel den Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Otto Adolf Eichmann vor einer Sonderkammer des Bezirksgerichts in Jerusalem. Am 15. Dezember desselben Jahres wurde Eichmann wegen seiner Mitwirkung an der Vernichtung der europäischen Juden zum Tode verurteilt; seine Hinrichtung erfolgte am 31. Mai des darauffolgenden Jahres. Der Prozess erregte nicht nur in Israel und Deutschland (wo Strafbehörden jahrelang nichts unternommen hatten, um Eichmann habhaft zu werden) erhebliches Aufsehen. Dies lag zum einen daran, dass es sich um das größte Verfahren gegen einen NS-Verbrecher seit den Nürnberger Prozessen handelte; endlich, so hoffte man vielerorts, würde es gelingen, den genauen Verlauf der „Endlösung der Judenfrage“ zu erhellen und den Hauptverantwortlichen seiner gerechten Strafe zuzuführen. Die enorme Aufmerksamkeit verdankte sich aber zum anderen auch der Tatsache, dass zum ersten Mal ein Gerichtsprozess dieser Bedeutung gefilmt und ausgestrahlt wurde, und Bilder des Angeklagten in seinem Glaskäfig sowie die Aussagen der Überlebenden der Vernichtungslager in der ganzen Welt verbreitet wurden. „Nur zu Zeiten der Pest und Cholera“, so der niederländische Prozessbeobachter Harry Mulisch, „hat die Menschheit in solchem Ausmaß Greuelgeschichten gehört wie in den letzten Wochen. Aber noch niemals hörte sie so massiv und direkt durch Radio, Zeitungen und Fernsehen lebende Menschen in einer frisch gebeizten Zeugenbank.“2

2

Harry Mulisch, Strafsache 40/61. Eine Reportage über den EichmannProzeß, Berlin 1987, S. 91 (Holländische Originalausgabe: 1962).

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,SCHREIBTISCHTÄTER‘ EICHMANN ODER DIE „BANALITÄT DES BÖSEN“ Das Bild des Angeklagten hinter der Glaswand – eine schmale, unauffällige, beflissen wirkende Gestalt mit Anzug und Brille – ging um die Welt und erlangte nahezu ikonischen Status. Es fand sich im Laufe des Prozesses auf den Titelseiten zahlreicher Zeitungen und prägt so noch heute das Bild Eichmanns in der Öffentlichkeit. Vermutlich hat es sich auch deshalb so in die kollektive Erinnerung eingebrannt, weil der bebrillte, unauffällige Mann im Anzug das Bild des sprichwörtlichen „Schreibtischtäters“ verkörpert, welches in der Folge des Prozesses zu einem zentralen Interpretament des Holocausts wurde.3 Die Aufmerksamkeit, die dem Prozess zuteilwurde, war von Anfang an grenzübergreifender Natur, ermöglicht durch das Medium Fernsehen und Fotografie. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte wurde der EichmannProzess so zu einem geteilten europäischen Erinnerungsort, in dem sich nicht nur die kollektive Erinnerung der Zeitzeugen, sondern auch die späterer Generationen kristallisierte und kristallisiert. Das schwarzweiße Bild Eichmanns im Glaskasten fand sich auch auf dem Cover des Prozessberichts, den die deutsch-jüdischamerikanische Philosophin Hannah Arendt 1963 zunächst auf Englisch veröffentlichte.4 Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen löste eine hochemotionale Debatte aus. Sie entzündete sich – neben Arendts Kritik an der Rolle der Judenräte bei den Depor3

Obwohl der Begriff erst in den 1960er Jahren weithin Verbreitung fand, war das ihm zugrundeliegende Bedeutungsfeld älter und wurde vermutlich erstmals Mitte der 1940er Jahre im Zusammenhang der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse konstituiert. Vgl. Annette Weinke, Sichtbare und unsichtbare Gewalt. Der „Schreibtischtäter“ in den gewaltkritischen Diskursen der Nachkriegszeit, in: Dirk van Laak/Dirk Rose (Hg.), Schreibtischtäter. Begriff – Geschichte – Typologie, Göttingen 2018, S. 221-240.

4

Arendt hatte den Prozess für den New Yorker beobachtet. Ihre Berichte erschienen verteilt über mehrere Ausgaben im Februar und März 1963.

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tationen in die Vernichtungslager5 – vor allem an ihrer Einschätzung Eichmanns. Dessen zentrale Eigenschaft, so Arendt, sei eine „Unfähigkeit zu denken“. Eichmann sei aufgrund dieses Unvermögens schlicht nicht in der Lage gewesen, die ethische Dimension seiner Taten zu erfassen; er habe nicht erkannt, dass die planmäßige physische Vernichtung von Millionen von Menschen eine schier unerhörte Monstrosität darstellte. Das Böse Eichmanns sei mithin „banal“ gewesen. 6 Diese These bildete den eigentlichen Kern des Berichts (während Arendts Bemerkungen zu den Judenräten nur wenige Seiten umfassten). Damit widersprach Arendt nicht nur der Einschätzung des israelischen Staatsanwalts Gideon Hausner, sondern auch der weithin vorherrschenden Auffassung, nur ein abgrundtief schlechter Mensch könne bewusst Millionen unschuldiger Menschen ihrem Tod zugeführt haben. So nannte die Bild-Zeitung Eichmann einen „Teufel in Menschengestalt“, während der Spiegel ihn als „Satan in der Zelle“ beschrieb.7 Gänzlich originell war Arendts umstrittene These indes nicht.

5

Dieser Aspekt spielte besonders in Frankreich eine herausgehobene Rolle. Als Arendts Buch dort Ende 1966 in Übersetzung erschien, hatte das Land kurz zuvor eine emotionale öffentliche Debatte über den Roman JeanFrançois Steiners Treblinka: La révolte d’un camp d’extermination, Paris 1966, erlebt. Auch Steiner hatte den jüdischen Opfern Passivität im Angesicht ihrer Vernichtung vorgeworfen, sich dabei aber nicht wie Arendt auf die Rolle der Judenräte beschränkt. (Zufällig war es kein Geringerer als der junge Pierre Nora, der die Vermarktung von Arendts Buch in Frankreich organisierte.) Vgl. Samuel Moyn, A Holocaust Controversy. The Treblinka Affair in Postwar France, Waltham, Massachusetts 2005, S. 142-149.

6

Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des

7

Zit. n. Gerhard Paul, „Dämon“ – „Schreibtischtäter“ – „Manager“ der

Bösen, München 1987 [Erstauflage 1964]. Shoah. Die Wandlungen des Eichmann-Bildes in Öffentlichkeit und Wissenschaft, in: Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz/Stiftung Topographie des Terrors/Stiftung Denkmal für die ermor-

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Bereits in früheren Jahren hatten Beobachter auf die durchschnittliche Alltäglichkeit hochrangiger Nazi-Persönlichkeiten verwiesen, und in Bezug auf Eichmann hatte der deutsche Journalist Robert Pendorf festgestellt, dass dieser weder die „Dämonie“ Hitlers noch die Amoral Heydrichs besitze. 1961 war auch Erwin Leisers Kompilationsfilm Eichmann und das Dritte Reich in die Kinos gekommen; in ihm wurden bürokratische Strukturen und obrigkeitshörige Staatsdiener als Voraussetzung für Eichmanns Wirken und die planmäßige Vernichtung der europäischen Juden benannt.8 Auch andere Prozessbeobachter kamen zu dem Schluss, dass Eichmann eine instrumentelle Rationalität verkörpere, die nationale Spezifika transzendiere. In der britischen Öffentlichkeit wurde Eichmann vielfach als gesichtsloser Bürokrat beschrieben; der Jurist und Schriftsteller Lord Russell (Edward Russell) fand, Eichmann sähe einem „kahlköpfig werdenden Beamten“ ähnlich und Telford Taylor schrieb im Spectator, der Angeklagte wirke wie ein „kurzsichtiger Sekretär mittleren Alters“. Eichmanns Fähigkeit, aus der Distanz einen Massenmord anzuzetteln, wurde in derselben Zeitschrift mit der eines britischen Offiziers verglichen: „Eichmann ist keine für sich stehende Figur mehr. Der Kommandant eines einzigen britischen V-Bombers beispielsweise trägt in seinem Flieger Waffen, die menschliches Leben in einer vergleichbaren Größenordnung zerstören kann.“9

Ähnliche Gedanken finden sich in dem Prozessbericht, den der damals 32-jährige Autor Harry Mulisch verfasste. Seine dort vorgebrachten Interpretationen (die zunächst als Reportagen in der Wochenzeitschrift

deten Juden Europas (Hg.), Der Prozess – Adolf Eichmann vor Gericht, Berlin 2011, S. 33-38, hier S. 35. 8

Ebd.

9

Zitiert nach David Cesarani, Eichmann. His Life and Crimes, London 2004, S. 327 (Übersetzung von Catherine Davies).

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Elseviers Weekblad erschienen waren) ähnelten der Arendt’schen in vieler Hinsicht. Mulisch sah in Eichmann eine Personifizierung der „grauenerregendste[n] Kategorie“ des Nazi-Täters, der keineswegs glühender Antisemit gewesen sei, „weniger ein Verbrecher als jemand, der zu allem imstande ist.“ Mulischs Interesse galt erklärtermaßen weniger Eichmanns Taten als seiner Persönlichkeit. Er kam im Laufe des Prozesses zu dem Schluss, dass Eichmann sich durch den Hitler geleisteten Eid in einen Automaten, in einen reinen Befehlsempfänger verwandelt habe. Dieser Typ Mensch aber war keinesfalls eine Ausnahme, so Mulisch, vielmehr sei er in allen Ländern zu finden: „In Jerusalem wird dieser Charakter in einem Glaskäfig gesichtet, aber in allen Ländern der Welt läuft er frei herum, in allen ohne Ausnahme, einschließlich Israel, und bleibt unbemerkt, weil keine Kriege verloren oder keine unmenschlichen Befehle gegeben wurden.“10

Die These von der „Banalität des Bösen“ wurde vielfach kritisiert; betrachtet man aber das Bild Eichmanns in Wissenschaft und Öffentlichkeit, stellt sich Arendts Deutung als enorm einflussreich heraus. In den Jahren nach dem Prozess verfestigte sich das Bild Eichmanns als paradigmatischer „Schreibtischtäter“, als Rädchen im Getriebe des „Verwaltungsmassenmordes“ (Arendt), gar als Versinnbildlichung der Unmenschlichkeit des industriellen Zeitalters schlechthin. So beschrieb der deutsch-jüdische Philosoph Günther Anders in seinem Essay Wir Eichmannsöhne, zum Teil in Form eines Briefes an Eichmanns Sohn Klaus verfasst, gar die ganze moderne Arbeits- und Lebenswelt mit ihrer technisch-instrumentellen Vernunft als „Eichmannwelt“. „Merken Sie“, so Anders, Eichmanns Sohn adressierend, „daß das soge-

10 Mulisch, Strafsache, S. 113 (erstes Zitat), S. 116 (zweites Zitat), S. 119, 122 (drittes Zitat).

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nannte ,Eichmann-Problem‘ kein gestriges Problem ist? ... Daß wir alle also ebenfalls Eichmannsöhne sind?“11

EICHMANN-WELT UND EICHMANN-HALTUNG Verantwortlich für den Holocaust waren in dieser von Arendt, Mulisch und Anders vertretenen Analyse nicht Einzelne, nicht die nationalsozialistische Ideologie, sondern allgemeine Strukturen und Mechanismen. Bereits Arendt selbst hatte den Holocaust nicht als spezifisch deutsches Verbrechen verstanden wissen wollen, die Klassifizierung des Holocaust als Instanz und Ergebnis eines übernationalen Totalitarismus schien ihr plausibler. Der deutschen Regierung kam dieses Interpretament gelegen; sie versuchte, die negativen Auswirkungen des Eichmann-Prozesses auf das internationale Deutschlandbild zu konterkarieren, indem sie auf den geteilten Antitotalitarismus verwies, was allerdings nicht von Erfolg gekrönt war.12 Im deutschen Kontext – wo die falsche These einer vermeintlich dem Volk von den Alliierten unterstellten „Kollektivschuld“ sich lange behauptete – konnte dieser Erklärungsansatz tatsächlich als willkommene Gelegenheit der Exkulpation erscheinen. Bereits das erste auf dem Eichmann-Prozess basierende Theaterstück – Das Zeichen an der Wand des Österreichers Franz Theodor Csokor (Hamburg 1962) – deutete den Mord an den europäischen Juden als Verbrechen, das theoretisch von jedem Volk zu jeder Zeit begangen werden könnte, auch wenn Eichmann selbst hier weniger als seelenloser Bürokrat denn als abgrundtief böse porträtiert

11 Günther Anders, Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann, München 1964, S. 58. 12 Annette Weinke, ,Waning Confidence in Germany’s Rehabilitation‘. Das gespaltene Krisenmanagement der bundesdeutschen Außenpolitik zum Eichmann-Prozess, in: Werner Renz (Hg.), Interessen um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften, Frankfurt am Main 2012, S. 201-217.

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wurde.13 Deutlicher wurde das universalisierend-exkulpatorische Moment in Heinar Kipphardts Stück Bruder Eichmann, das posthum am 21. Januar 1983 im Residenztheater München uraufgeführt wurde; das Stück basierte auf Originaldokumenten des Verhörs von Adolf Eichmann.14 Dem Dramatiker ging es dabei erklärtermaßen weniger um die historische Person Eichmanns, und auch nicht um die Vernichtung der europäischen Juden, sondern um die „Eichmann-Haltung“. Das Stück sollte zeigen, dass Eichmann keineswegs eine „Ausnahmepersönlichkeit“ darstellte und verstand sich insofern als kritische Intervention im Kontext des atomaren Zeitalters. 15 Im ersten Teil des Stücks sitzt Eichmann einer Psychiaterin gegenüber, sie stellt gewissermaßen das Verbindungsglied zwischen den Zuschauern und Adolf Eichmann dar und soll jene dazu bringen, sich in Eichmann einzufühlen. Im zweiten Teil wird Eichmanns Hinrichtung thematisiert, der Prozess dagegen findet in der Pause dazwischen und somit in Abwesenheit des Publikums statt. Die ganze Tragweite des dem Stück zugrundeliegenden exkulpatorischen Gestus wird sichtbar, wenn in zwei Analogieszenen zuerst eine Filmaufnahme einer Atombombenexplosion gezeigt und sodann der Traum eines israelischen Soldaten evoziert wird, der zunächst als kleiner Junge im Ghetto von Bialystok sich unter einer Decke versteckt, sich dann selbst als an die Tür hämmernden SS-Mann erkennt und schließlich als Erwachsener in einem arabischen Dorf nach Terroristen sucht. Schließlich wird in einer weiteren Szene das von christlichen libanesischen Milizen unter den Augen Ariel Scharons verübte Massaker von Sabra und Schatila thematisiert und Scharon von der italienischen Journalistin und bekannten Feministin Oriana Fallaci gefragt, was dieser mit „diesen neuen Juden des Planeten“ zu tun ge-

13 Anat Feinberg, The Appeal of the Executive: Adolf Eichmann on Stage, Monatshefte 78.2 (1986), S. 203-214, hier S. 206. 14 Heinar Kipphardt, Bruder Eichmann, Reinbek bei Hamburg 1983. 15 Zu Kipphardts Stück siehe auch Mirjam Wenzel, Gericht und Gedächtnis. Der deutschsprachige Holocaust-Diskurs der 1960er Jahre, Göttingen 2009, S. 348f.

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denke. Die Arendt’sche These von Eichmanns Banalität hinterfragte Kipphardt dabei nicht.16 Wohl auch als Gegenentwurf zu Kipphardts Stück entstand ebenfalls 1983 Jochen von Langs Fernsehstück Das Protokoll, das dokumentarische, fiktionale und kommentierende Elemente in der Darstellung des Prozesses gegen Adolf Eichmann miteinander verband. Zwar gab es auch dort Stimmen, die den Holocaust mit Verweis auf andere Verbrechen relativierten, diese traten aber zurück gegenüber solchen, die seine Einzigartigkeit betonten.17

ZIRKULIERENDE EICHMANN-BILDER Deutlich von Arendts Thesen inspiriert ist auch Rony Braumans und Eyal Sivans Un spécialiste. Portrait d’un criminel moderne, eine französisch-deutsch-österreichische Koproduktion aus dem Jahr 1999. Ausdrücklich wird zu Beginn des Films Arendts Eichmann-Buch als Inspirationsquelle genannt, Thema ist laut Plakat der „außergewöhnliche Prozess eines erschreckend normalen Menschen“. Es handelt sich um einen Zusammenschnitt von Leo Hurwitz’ Originalaufnahmen des Prozesses, die durch Toneffekte und Überblendungen eine Verfremdung erfahren. Eichmanns Auftritt vor Gericht, seine gehorsamen „Jawohl“-Antworten auf Fragen der Richter und des Staatsanwalts, seine beflissenen Ausführungen zu einzelnen Vorgängen innerhalb der Vernichtungsmaschinerie, seine nervösen Ticks erscheinen in dieser Montage ähnlich irritierend, wie Mulisch und Arendt sie als Beobachter empfunden haben müssen; ihr Erstaunen ob der Gewöhnlichkeit und Lächerlichkeit dieses Mannes wird unmittelbar plausibel. Indes verstärken Brauman/Sivan mit gezielten Überformungen des Materials die These der „erschreckenden Gewöhnlichkeit“. Man sieht Eichmann, 16 Eugenio Spedicato, „dieser neue Verbrechertypus“. Heinar Kipphardts Bruder Eichmann wiedergelesen, in: Dirk van Laak/Dirk Rose (Hg.), Schreibtischtäter, S. 277-296, hier S. 290. 17 Feinberg, Appeal of the Executive, S. 211.

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wie er sich mit dem Bleistift Notizen macht während ein anderer spricht, und das Schreibegeräusch steigert sich künstlich, bis es alles andere übertönt: Der Zuschauer hört so den Schreibtischtäter, die mörderische Bürokratie. Die Auftritte der einzelnen Zeugen hingegen werden in rascher Abfolge aneinandergeschnitten, nur wenige Aussagen nehmen mehr als einige Sekunden ein. Der Eindruck des Seriellen, der so entsteht, verdeutlicht die industrielle Natur des Holocaust, auch dies ganz im Einklang mit Arendts These. Der Film endet mit einer weiteren Montage, die Eichmanns wiederholte Aussage, er habe nur Befehle ausgeführt, in immer kürzer werdenden Sequenzen aneinanderreiht, wobei seine Stimme immer lauter wird. Eine andere Szene hingegen wird in Un spécialiste nicht weiter kommentiert: nämlich die, in der Staatsanwalt Hausner ein Zitat Eichmanns vorliest, in dem dieser von sich sagt, er sei kein bloßer Befehlsempfänger, sondern Idealist gewesen. Eichmann windet sich, will es nicht so gemeint haben. Diese Selbstauskunft steht in deutlichem Gegensatz zur These vom nichtdenkenden Bürokraten. Sie stammt aus einem Gespräch, das Eichmann vor seiner Festnahme in Argentinien mit anderen alten Nazis und dem niederländischen Journalisten und früherem Angehörigen der SS, Willem Sassen, führte. 18 Der Eichmann, der sich dort präsentierte, war ein anderer: ein fanatischer Judenhasser, der sich mit seinem Beitrag zum Holocaust schamlos brüstete. Es ist dieser Eichmann, der seit den 90er Jahren unter Historikern und Historikerinnen zunehmend Aufmerksamkeit erfahren hat. Existierten lange Zeit nur kurze journalistische bzw. essayistische Porträts von ihm, erschien 2004 erstmals eine ausführliche Biografie aus der Feder David Cesaranis, die sich auf umfangreiches Archivmaterial sowie auf eben jene Gespräche mit Sassen stützt. Cesaranis Interpretation widerspricht sowohl der Hausners als auch der Arendts. Ihm zufolge war Eichmann

18 Eine gekürzte Version dieses Gesprächs erschien erstmals in Der Stern am 9. Juli 1960. Die originalen Bänder und Abschriften wurden erst Mitte der 90er Jahre entdeckt und befinden sich nun im Bundesarchiv in Koblenz. Siehe Cesarani, Eichmann, S. 425.

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weder der zum Denken unfähige Bürokrat noch ein fanatischer Massenmörder. Vielmehr habe sich sein Judenbild unter dem Einfluss der Entwicklung der nationalsozialistischen Ideologie und Herrschaft allmählich radikalisiert. Im Österreich der 1920er Jahre habe Eichmann sich in einem Milieu bewegt, das sowohl nationalistisch als auch antisemitisch gewesen sei. Gleichzeitig pflegte er Kontakte mit Juden, mit denen er zum Teil über seine Stiefmutter verwandt war. In die SS sei er nicht eingetreten, weil er Juden hasste, sondern weil dies seinem beruflichen Fortkommen diente. Erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre radikalisierte sich sein antisemitisches Weltbild, doch auch dies war „eigentümlich leidenschaftslos“ und erlaubte es ihm, mit Juden zusammenzuarbeiten, wo dies seinem Ziel, jüdische Einwohner aus Österreich zu vertreiben, diente.19 Erst ab 1942, nach einer Phase des Zögerns, befürwortete er offensiv die physische Vernichtung der Juden – eine Entwicklung, die, so der Historiker, keiner „notwendigen Logik“ folgte.20 Auch sei Eichmann, anders als von Hausner dargestellt, nicht der Alleinverantwortliche gewesen, habe die Abläufe kontrolliert, nicht aber unabhängig entscheiden können.21 Ebenfalls mit Bezug auf Arendt und sich auf umfangreiche Selbstzeugnisse Eichmanns stützend, argumentierte zuletzt Bettina Stangneth, dass Eichmann sehr wohl gedacht habe, und dass sein Denken auch nach dem Krieg und im Grunde bis zu seiner Hinrichtung das eines überzeugten Antisemiten gewesen sei. Dabei sei Eichmann fast von Beginn seiner Karriere an sehr darauf bedacht gewesen, sich als solcher zu inszenieren, er habe nach Ruhm und Anerkennung gedürstet. Sein Auftritt vor Gericht erscheint vor diesem Hintergrund als geschickte Täuschung, mit der Eichmann gehofft habe, dem Galgen entgehen zu können.22

19 Cesarani, Eichmann, S. 7f. (Zitat auf S. 8). 20 Ebd., S. 91. 21 Ebd., S. 12f. 22 Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Hamburg 2011.

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Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diese Interpretation zumindest in der Geschichtswissenschaft just in dem Moment sich durchzusetzen scheint, in dem Leo Hurwitz‘ berühmte Filmaufnahmen aus dem Jerusalemer Gerichtssaal in ein digitales Archiv überführt wurden, das sie der Öffentlichkeit in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß zugänglich machte. Einsehbar sind sie nun auf dem YouTube-Kanal der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, die Zeugenaussagen zudem über die Plattform des Spielberg Jewish Film Archive.23 Quer zu diesen Fragen steht dann noch einmal das Bild Eichmanns in der Populärkultur und hier vor allem im (Fernseh-)Film, wo NSThemen einen ungebrochenen Reiz auszuüben scheinen. Eichmann (GB/HUN 2007, R: Robert William Young), eine ungarisch-britische Koproduktion, zeigt ihn als machthungrigen Egomanen, den Berichte von Judenerschießungen sexuell erregen. Gleichzeitig werden seine zahlreichen Lügen im Verhör durch Rückblenden als solche entlarvt, Eichmanns Figur steigert sich im Laufe des Films ins Monströse, wobei die reißerischen Sexszenen und die schlicht inszenierten Kontraste (Eichmann schickt Juden in den Tod, während im Hintergrund Musik von Bach läuft) eher lächerlich wirken. Anders fragwürdig ist die ARD-Produktion Eichmanns Ende. Liebe, Verrat, Tod (D 2010, R: Raymond Ley), die unter anderem die Bekanntschaft von Eichmanns Sohn mit der Tochter eines deutschen Juden erzählt – ein Thema, das zwar einen wahren Kern hat, zu dem letztere sich aber nie öffentlich geäußert hat.24 Zuletzt wurden in Der Staat gegen Fritz Bauer (D 2015, R: Lars Kraume) die Vorgeschichte der Entführung aus Sicht des deutsch-jüdischen Oberstaatsanwalts Bauer erzählt, wobei Eichmann hier nur in wenigen kurzen Szenen auftaucht.

23 https://www.youtube.com/user/YadVashem; http://www.spielbergfilmarch ive.org.il/kv/ [17.12.2018]. 24 „Wie konnte er sich je unsichtbar machen?“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.7.2010.

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DIE ENTDECKUNG DES ZEUGEN Unabhängig von den verschiedenen zirkulierenden Eichmann-Bildern aber ist das vielleicht bedeutendste Erbe des Eichmann-Prozesses das, was die französische Historikerin Annette Wieviorka die „Entdeckung des Zeugen“ genannt hat. Die Aussagen der Holocaust-Überlebenden vor Gericht, auch wenn sie für die Beweisführung streng genommen nicht notwendig waren, markierten Wieviorka zufolge den Beginn einer Entwicklung, in der sich die Veröffentlichung von Erinnerungen von Überlebenden rasch vervielfachte.25 Der amerikanische Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman schrieb, dass er während des Jerusalemer Prozesses zum ersten Mal die Macht der individuellen, persönlichen Zeugenschaft entdeckt habe. 1979 begann er damit, das erste Archiv mit Filmaufnahmen von Zeugen anzulegen, das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, auf das andere folgten – am bekanntesten wohl das bereits erwähnte von Steven Spielberg, das seit den 1990er Jahren daran arbeitet, die Erinnerungen der wenigen noch lebenden Zeugen vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Das Bild des Schreibtischtäters, das die Rezeption des Eichmannprozesses und Eichmanns Bild in der Öffentlichkeit in den ersten Jahren prägte, hat seit Beginn des neuen Jahrtausends also tendenziell an Bedeutung verloren. Was sich im Erinnerungsort Adolf Eichmann kristallisiert, ist nun nicht länger allein die bürokratische und industrielle Dimension der Vernichtung der europäischen Juden, sondern sind vielfältigere Perspektiven, die Wissenschaft, Populärkultur und individuelle Zeugenschaft umfassen. Ausdifferenziert hat sich gleichzeitig die mediale Dimension des Erinnerungsortes, die von Anfang an zentral war, und nun aufgrund der digital zirkulierenden Bilder und Tonaufnahmen eine andere Qualität erlangt hat und neue Formen individueller Rezeption und Bedeutungszuschreibung ermöglicht.

25 Annette Wieviorka, Eichmann. De la traque au procès, Brüssel 2011.

III. Nachkriegserzählungen: Verarbeitung und Erinnerung

Die Rote Flagge auf dem Reichstag Der 8. Mai 1945 Saskia Geisler

Abb. 10: Jewgenij Chaldej, Das Hissen der Roten Flagge auf dem Reichstag.1

1

Sammlung Ernst Volland, Berlin.

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Die wehende sowjetische Flagge über den noch qualmenden Ruinen Berlins – diese Aufnahme Jewgenij Chaldejs2 vom 2. Mai 1945 gehört zu einer der fotografischen Ikonen des 20. Jahrhunderts. Dabei ist sie keineswegs so spontan und aus dem Moment gegriffen, wie wir es Fotografien oft automatisch zuschreiben. Vielmehr unterliegt sie einer bewussten Komposition. Im Folgenden soll es nun um zweierlei gehen: In einem ersten Schritt wird näher auf die Aufnahme und ihre Entstehungshintergründe sowie ihre Rezeption eingegangen, wobei besonders auf das Konzept des „Schlüsselbildes“ nach Christoph Hamann zurückgegriffen wird.3 In einem zweiten Schritt wird die Aufnahme im Rahmen der europäischen Erinnerungsorte kontextualisiert. Dabei geht es um die Frage, ob sich das Ende des Zweiten Weltkrieges, welches lokal und regional zu völlig unterschiedlichen Zeitpunkten und verschiedenen Bedingungen stattfand, letztlich wirklich unter dem Dach eines einenden europäischen Gedächtnisses zusammenfassen lässt. Jewgenij Chaldej wurde 1917 im Donezk-Gebiet als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Sein Interesse an der Fotografie war schon früh geweckt. Er brachte sich das Fotografieren selbst bei und arbeitete ab 1936 als Fotograf. Den Zweiten Weltkrieg dokumentierte er für die sowjetische Nachrichtenagentur TASS, aus der er 1948 – vermutlich wegen seiner jüdischen Herkunft – wieder entlassen wurde.4 Lange Zeit geriet Chaldej in der Sowjetunion in Vergessenheit, was daran liegen mag, dass Stalin die Erinnerung an den Krieg ab 1947 auf ein Minimum zurückdrängte – damit waren auch die zahlreichen Fotografien Chaldejs aus dieser Zeit für den Bilderkanon der Sowjetunion unerwünscht. Die sowjetischen Bürgerinnen und Bürger sollten sich

2

Aufgrund der starken Präsenz der von Ernst Volland über Chaldej herausgegebenen Werke in Deutschland wird hier die von ihm verwendete Transkription wiedergegeben, die allerdings nicht der wissenschaftlichen Übertragung entspricht.

3

Siehe dazu: Christoph Hamann, Visual History und Geschichtsdidaktik.

4

Ernst Volland, Das Banner des Sieges, Berlin 2008, S. 12.

Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung, Herbolzheim 2007.

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nicht weiter im Taumel des Sieges wähnen, sondern vielmehr mit gleicher Kraft und Anstrengung mit der sie im Krieg gekämpft hatten, nun das Land wieder aufbauen. Erst unter Chruščëv und Brežnev änderte sich dies wieder.5 Heute ist Chaldej in der Russischen Föderation ein anerkannter Fotograf. So fand beispielsweise anlässlich des 100. Jubiläums seines Geburtstages eine Rückschau auf sein Werk im Moskauer Media Art Museum statt, über welche unter anderem das Regierungsmedium Russia Beyond the Headlines berichtete und Chaldej als „Ikone der Weltfotografie“ klassifizierte. 6

DIE INSZENIERUNG DES SIEGES Chaldej beschrieb in einem Gespräch in den 1990er Jahren mit Ernst Volland, einem Berliner Künstler und Fotografen, der sich intensiv in das Lebenswerk Chaldejs eingearbeitet und um dessen Veröffentlichung in der Bundesrepublik Deutschland verdient gemacht hat, indem er mehrere Sammelbände der Werke herausgab und eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau konzipierte, die Situation der Bildentstehung auf dem Reichstag folgendermaßen: „Als der Krieg begann, sprachen alle vom Reichstag: Reichstag, Reichstag [...] Wie viele Millionen Menschen mußten für seine Eroberung ihr Leben lassen? Es war am frühen Morgen des 2. Mai 1945. Ich betrat das Reichstagsgebäude. Überall war schrecklicher Lärm: Russen, Deutsche, alle schrien durcheinander.

5

Zum erinnerungskulturellen Umgang mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“ in der Sowjetunion vgl. z.B.: Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn u.a. 2012, hier besonders S. 247-250.

6

Oleg Krasnow, Jewgenij Chaldej: Der Fotograf, der Weltgeschichte dokumentierte, in: Russia Beyond the Headlines, 12.4.2017, https://de.rbth. com/multimedia/2017/04/12/jewgenij-chaldej-ikone-der-fotografie_739811 [19.3.2018].

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Es rauschte wie ein Wasserfall: Die Deutschen waren empört, daß die Russen kamen. Die Russen jubelten. Ich ging in meiner Marineuniform hinein. Ein junger sympathischer Soldat kam auf mich zu. Ich hatte eine rote Fahne in der Hand. Er sagte: ,Leutnant, dawai, laß uns mit der Fahne aufs Dach klettern.‘ ,Deswegen bin ich ja hier‘, sagte ich. Wir gingen los, überall waren die Treppen zerstört. Dann waren wir endlich oben, der Reichstag brannte. Die ganze Hitze und der Rauch zogen in die Kuppel. Er meinte: ,Wir wollen auf die Kuppel klettern.‘ ,Nein‘, sagte ich, ,da werden wir geräuchert und verbrennen.‘ ,Na, dann versuchen wir es hier.‘ Wir fanden eine lange Stange. Ich suchte lange nach Kompositionsmöglichkeiten. Erst machte ich ein Foto links, nein, das war nicht gut. Es sollte auch etwas von Berlin zu sehen sein. Dann sagte ich: ,Jungs, geht und stellt euch dahin und hißt die Fahne an der und der Stelle.‘ Es waren drei Soldaten, einer aus der Ukraine, der andere aus Machatschkala in Dagestan und ein Russe. Überall auf dem Dach des Reichstags waren kleine rote Tücher festgebunden. Unsere Soldaten, Frauen und Männer, stiegen auf das Dach und brachten sie dort an. Aber ich hatte meine Fahne dabei. Ich habe einen ganzen Film verknipst, 36 Bilder. – Ich bin in der Nacht zum 3. Mai nach Moskau geflogen, und das Foto ist sofort veröffentlicht worden.“7

Schon Chaldejs spätere Schilderung der Entstehung der Fotografie lässt also vermuten, dass es sich hier – entgegen der von der Fotografie zunächst ausgehenden Stimmung eines spontanen, triumphalen Moments – um eine bewusst inszenierte Pose handelte. Chaldej kam nicht als Beobachter, sondern vielmehr als Regisseur in den Reichstag. Die Vermutung eines gezielten Arrangements der Szene wird noch dadurch verstärkt, dass beim Betrachten früherer Bilder Chaldejs bereits ähnliche Motive mit gleicher Bildsprache auffallen, was auf eine gewisse Übung in der Inszenierung oder eine bewusste Nutzung bereits bekann-

7

Ernst Volland/Heinz Krimmer (Hg.), Von Moskau nach Berlin. Bilder des russischen Fotografen Jewgeni Chaldej, Berlin 1999, S. 64.

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ter Elemente spricht, etwa bei der Befreiung von Kerč.8 Auch in Berlin selbst nahm er noch ähnliche Bilder auf, etwa das Hissen einer Flagge auf dem Brandenburger Tor.9 Dass die Aufnahme des Reichstages auch in der Sowjetunion beziehungsweise im heutigen Russland so berühmt geworden ist,10 liegt sicherlich an der hohen symbolischen Aufladung, die das Gebäude für die sowjetischen Soldaten hatte, die auch im Zitat von Chaldej deutlich wird. Seit dem Reichstagsbrand 1933 war dieser in der Sowjetunion zum Symbol Berlins geworden. – Eine der vielen Ironien in dieser Geschichte, schließlich war den Nationalsozialisten der Reichstag aufgrund seiner engen Verknüpfung mit der Weimarer Republik verhasst.11 Chaldej inszenierte jedoch nicht nur das Foto selbst, sondern bearbeitete es auch, wie Ernst Volland in einer detaillierten Vergleichsstudie zwischen Originalabzug und veröffentlichtem Werk darlegen konnte. Der Rauch im Hintergrund des Bildes ist genauso hinzugefügt, wie umgekehrt eine Uhr vom Handgelenk des stützenden Soldaten wegretuschiert wurde. Der Soldat trug ursprünglich zwei Uhren, was auf Kriegsplünderei hindeutete, die sich wiederum mit der Propaganda des Sieges und der moralischen Überlegenheit nur schwerlich in Einklang bringen ließ.12 Damit tritt die mediale Inszenierung und Instrumentalisierung des Bildes zu Tage: Es sollte einen reinen Triumph repräsentieren, Sieger und Besiegte ohne moralische Zwischentöne voneinander abgrenzen.

8

Jewgeni Chaldej, Kriegstagebuch, hg. v. Ernst Volland/Heinz Krimmer, Berlin 2011, S.68-69, hier ist auch parallel die Befreiung der WolkowHütte mit ähnlicher Flaggendarstellung abgebildet.

9

Volland, Banner des Sieges, S. 31.

10 Chaldej, Kriegstagebuch, S. 8. 11 Volland, Banner des Sieges, S.19. 12 Zur nachträglichen Bearbeitung des Bildes siehe insgesamt: Volland, Banner des Sieges.

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FLUKTUIERENDE ERINNERUNGEN Chaldej selbst hatte allen Grund dazu, das Ende des Zweiten Weltkriegs und den „Sieg über den Hitler-Faschismus“ heroisch festzuhalten, waren sein Vater und seine Schwester doch in Stalino von deutschen Besatzern umgebracht worden.13 Trotzdem zählt Chaldej nicht unbedingt zu den sowjetischen Fotografen, die stets das Heldentum und den sowjetischen Triumph hervorhoben,14 so gibt es beispielsweise Aufnahmen, die Soldaten in ihrer Freizeit, etwa 1942 beim Fußballspielen zeigen.15 Dennoch lässt sich aus seinen Selbstaussagen schließen, dass es ihm wichtig war, die Ereignisse im Sinne der Sowjetunion zu dokumentieren. So gab er an, das Fotografieren der Soldaten sei ihm ein „inneres Bedürfnis“16 gewesen und bei der späteren Siegesparade in Moskau habe auch er Tränen in den Augen gehabt.17 Allerdings sind diese Aussagen deutlich nachgelagert im Gespräch mit Ernst Volland entstanden, so dass das direkte Empfinden Chaldejs schwierig nachzuvollziehen ist. Auch wenn ein Kriegstagebuch vorliegt, ist davon auszugehen, dass Chaldej dieses erst nachträglich aufzeichnete, da das Tagebuchführen an der Front verboten war. Hinzu kommt, dass in den 45 handbeschriebenen Seiten kein direkter Bezug auf das Foto auf dem Reichstag genommen wird.18 Jedoch wird in der von Volland und Heinz Krimmer herausgegebenen Version ein Kommentar aus den

13 Chaldej, Kriegstagebuch, S. 217. 14 Bernd Hüppauf, Jewgeni Chaldej – Fotograf des Lebens. Ansätze zu einer anti-modernen Fotoästhetik, in: Ernst Volland/Heinz Krimmer (Hg.), Jewgeni Chaldej. Der bedeutende Augenblick, Leipzig 2008, S. 150-161, S. 158. 15 Krasnow, Chaldej. Für weitere Beispiele der Fotografien Chaldejs siehe bspw. http://www.pomnivoinu.ru/home/reports/1375/ [28.3.2018]. 16 Chaldej, Kriegstagebuch, S. 210. 17 Ebd., S. 216. 18 Ernst Volland/Heinz Krimmer, Vorwort, in: Chaldej, Kriegstagebuch, S. 7-8.

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1990er Jahren ergänzt: „Ich habe, wie bei allen Bildern, lange nach einer guten Komposition gesucht. Der Offizier stand auf dem Pferd und ich sagte: ‚Nein, das ist nicht gut, komm herunter!‘“19 – Hier zeigt sich im Abgleich zum eingangs wiedergegebenen Zitat die fluktuierende Form der Erinnerung. Plausibel bleibt lediglich, dass das Foto bewusst komponiert wurde. Aufgrund der persönlichen Familiengeschichte ist zwar davon auszugehen, dass Chaldej das Narrativ des siegreichen Sozialismus unterstützte, gleichwohl ist sein Empfinden zum Entstehungszeitpunkt der Fotografien letztlich nur aus diesen selbst zu erschließen. Bilder wie die von General Georgij Žukov auf der Siegesparade in Moskau,20 sind als eine deutliche Bejahung eines Triumphnarrativs zu sehen.

CHALDEJS FOTOGRAFIE ALS SCHLÜSSELBILD NACH HAMANN Obwohl die Inszenierung des Bildes vom Reichstag durch Chaldej heute weitestgehend bekannt ist, bleibt es dennoch eine seiner wichtigsten Fotografien und wird weiter in ikonischer Form benutzt. 21 Dies liegt sicherlich an der gestalterischen Qualität der Aufnahme, auf die nun zunächst einmal eingegangen werden soll, ohne die zahlreichen Projektionen historischen Hintergrundwissens schon mitzudenken. 19 Chaldej, Kriegstagebuch, S. 160. 20 Siehe z.B.: https://de.rbth.com/multimedia/pictures/2016/05/09/jewgenichaldei-der-unbekannte-hinter-legendaeren-kriegsbildern_591527 [28.3.2018]. 21 Etwa in einem Artikel zum möglichen Gedenken an den 8. Mai als Illustration: Volkhard Paczulla, Streit im Thüringer Landtag um den 8. Mai als Gedenktag an die Befreiung, in: Ostthüringer Zeitung vom 28.5.2015, https://www.otz.de/web/zgt/politik/detail/-/specific/Streit-im-ThueringerLandtag-um-den-8-Mai-als-Gedenktag-an-die-Befreiung-1712664227 [19.3.2018].

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Denn für ein Schlüsselbild nach Hamann ist genau dieses zentral: Das Bild steht als Quelle für einen vergangenen Sachverhalt, hinzu kommt aber auch, dass es als Deutungsmodell dieses Sachverhaltes durch den Fotografierenden und spätere Rezipientinnen und Rezipienten gelesen werden kann. Genau aus diesem Grunde ist eine bildästhetische Betrachtung zusätzlich zum reinen Aussagenwert des Abgebildeten von zentraler Bedeutung.22 Gerade dieser Zugang kann erklären, warum es Chaldejs Bild vom Reichstag war, das sich als Abbildungsangebot zum 8. Mai durchsetzte, obwohl viele ähnliche Motive kursierten.23 Die Fahnenstange als Diagonale führt den Blick auf die beiden zentralen Elemente der Fotografie: Einerseits die zerstörten Gebäude Berlins, andererseits die siegreichen sowjetischen Soldaten. Da diese nicht klar zu erkennen sind, stehen sie in ihrer Anonymität stellvertretend für alle Kämpferinnen und Kämpfer der Roten Armee. Zugleich wohnt dem Bild eine Dynamik inne – der ziehende Rauch, die wehende Fahne lassen eine Bewegung über das Statische hinaus entstehen. Und zu guter Letzt symbolisiert das Bild die Idee des Aufbaus und Neuanfangs durch das Hissen der Flagge. All diese verschiedenen Deutungs- und Bedeutungsebenen machen den ikonischen Charakter der Aufnahme aus. Hinzu kommen nun noch weitere, historisch relevante Elemente, die jedoch erst in einem reflektierten Betrachtungsprozess bewusst werden. So galt der Berliner Reichstag zumindest in der Sowjetunion als Symbol der nationalsozialistischen Herrschaft. Auch waren rote Flaggen und Symbole des Kommunismus, unter die die sowjetische Flagge zu subsumieren ist, unter Hitler verboten gewesen. Hier werden also zwei Symbole wirkmächtig miteinander kombiniert, um den Sieg der sowjetischen Roten Armee über das nationalsozialistische Deutschland in Szene zu setzen. Insgesamt kann die Abbildung daher als „Schlüsselbild“ nach Christoph Hamann gesehen werden, da es gleich-

22 Hamann, Visual History, besonders S. 25, 30, 44, 85. 23 Volland, Banner des Sieges, S. 39.

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ermaßen als Quelle für einen vergangenen Sachverhalt wie als Quelle für die Deutung dieses Ereignisses betrachtet werden kann.24

DIVERGIERENDE ERINNERUNGEN: DER ZWEITE WELTKRIEG IN DER EUROPÄISCHEN ERINNERUNGSKULTUR Chaldejs Aufnahme in ihrer Geformtheit spiegelt in vielerlei Hinsicht sinnbildlich das Ende des Zweiten Weltkriegs als Erinnerungsort. Der junge sowjetische Kriegsfotograf machte diese Aufnahme am 2. Mai – zwei Tage, nachdem der Reichstag durch die Rote Armee gestürmt worden war. Trotz der starken symbolischen Bedeutung Berlins als Hauptstadt war mit ihrer Eroberung das Kriegsende noch nicht erreicht. Die bedingungslose Kapitulation erfolgte erst am 8. Mai, beziehungsweise auf Wunsch Stalins erneut am 9. Mai in Berlin mit sowjetischen Zeugen.25 Schon allein dieses Ringen um Teilhabe und Geltung mag ein Zeichen dafür sein, wie different die Erinnerung an das Ende des Krieges später werden würde und ist zugleich ein Symptom der zunehmenden Konkurrenz unter den gegen das nationalsozialistische Deutschland verbündeten Kriegsparteien.26 Dominik Geppert hat in seinem Aufsatz zum 8. bzw. 9. Mai als Erinnerungstag darauf hingewiesen, wie zerfasert das Ende des Zweiten Weltkrieges verlief. Tatsächlich wurde von deutschen Truppen etwa am 11. Mai noch auf

24 Hamann, Visual History, S. 85. 25 Digitalisate der Kapitulationsurkunden sind hier einzusehen: http://www. bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Die-Deutsche-Kapitu lation-1945/die-deutsche-kapitulation-1945.html [10.3.2018]. 26 Vgl. dazu: Dominik Geppert, 8. und 9. Mai. Umkämpfte Erinnerungstage, in: Etienne François/Uwe Puschner (Hg.), Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S. 335-355, S. 338.

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Helgoland gekämpft. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen erst im August 1945.27 Insofern ist das Erinnern an den Mai als europäischer Termin zu betrachten, der sich eher an der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde festmacht als am faktischen Kriegsgeschehen. – Doch genügt dies für eine geeinte europäische Erinnerungskultur? Die besondere Bedeutung des Datums und seine Instrumentalisierung durch die Politik wurden von Beginn an evident, wie bereits an Stalins Beharren auf einer erneuten Unterzeichnung der Kapitulation, dieses Mal im Berliner Hauptquartiert der Roten Armee durch Generalfeldmarschall Keitel zeigt. Auch Charles de Gaulle bestand darauf, als gleichwertiger Partner aufzutreten und die Kapitulation Deutschlands zeitgleich mit dem US-Präsidenten und dem britischen Premier zu verkünden.28 Genauso wie diese Bedeutungsaufladungen und geschichtspolitische Nutzung von Anfang an nachweisbar sind, lassen sich jedoch von Beginn an Unterschiede feststellen. Denn in New York feierten die Menschen schon am 7. Mai 1945 auf den Straßen, nachdem die Unterzeichnung der Kapitulation angekündigt worden war. In Großbritannien war das Kriegsende am 8. Mai bereits durchgesickert und wurde entsprechend gefeiert. Nur die Sowjetunion hielt am 9. Mai fest, während sich im westlichen Gedenken der 8. Mai etablierte. 29 Wirklich verankert in der sowjetischen Erinnerungskultur wurde der 9. Mai allerdings erst ab 1965, zum 20-jährigen Jubiläum des Kriegsendes. Zu diesem Zeitpunkt erfolgte nach der Entstalinisierung ein neuer Rückgriff auf die Vergangenheit durch das Regime, der systemstabilisierend wirken sollte und dessen Botschaft im Kern bis heute gleich ist: Im Großen Vaterländischen Krieg kämpften alle Bürgerin-

27 Ebd., S. 335. 28 Ebd., S. 340. 29 Richard Overy, 8. Mai 1945: Eine internationale Perspektive, in: APuZ 1617 (2015), S. 3-9.

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nen und Bürger der Sowjetunion einmütig und vor allem siegreich gegen den Faschismus.30 Doch nicht nur das Datum an sich kann als umstritten gelten, auch die Bewertung des Kriegsendes ist von der lokalen Erfahrung abhängig. In Ländern wie Polen, Litauen, Estland oder Lettland wurde das Ende des Zweiten Weltkriegs in der offiziellen sowjetischen Erinnerungskultur als Tag der Befreiung stilisiert. Auch in der DDR wurde dieser Tag entsprechend gefeiert. Es wurden zu großen Jubiläen sogar Festmarken herausgegeben – mit Chaldejs bearbeiteter Fotografie als Motiv, einem weiteren Beispiel der Medialisierung dieser Fotografie als Erinnerungsort und Symbol des 8. bzw. 9. Mai.31 Im heutigen Erinnern ist das Kriegsende im Baltikum und anderen mitteleuropäischen Ländern jedoch eher der Beginn einer erneuten, anderen Besatzung. In Staaten wie Frankreich wird weniger dem Ende des Zweiten Weltkriegs als dem Zeitpunkt der eigenen Befreiung gedacht, auch in Italien spielt die Vertreibung der Deutschen aus den eigenen Hauptstädten eine größere Rolle als das gesamte Kriegsende.32 Schon diese kleinen Schlaglichter auf verschiedene Erinnerungsformen an das Ende des Zweiten Weltkrieges mögen aufzeigen, wie vielfältig das Spektrum des Erinnerns ist, ohne dass wir über die Frage von Täterinnen und Tätern oder Opfern überhaupt gesprochen hätten. Denn natürlich sind auch für diese die Erinnerungsdiskurse völlig unterschiedlich. Dies war ein Faktor, der das Erinnern in der BRD und der DDR unterschied: Letztere stellte wie beschrieben sofort auf den Sieg gegen den Hitlerfaschismus um, wurde sozusagen selbst zum

30 Dietmar Neutatz, Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, München 2013, S. 433-434. 31 Volland, Banner des Sieges, S. 61. 32 Zu den konkurrierenden Erinnerungsmodellen siehe etwa: Jörg Echternkamp, Der Krieg in europäischen „Erinnerungskulturen“. Dossier: Zweiter Weltkrieg, http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/derzweite-weltkrieg/199414/der-krieg-in-europaeischen-erinnerungskulturen [6.8.2017] sowie Overy, 8. Mai 1945.

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Opfer, während die BRD nach und nach das Thema der Schuld in die Erinnerung aufnahm.33 Es stellt sich also die Frage: Kann das Ende des Zweiten Weltkriegs, hier ikonisch in der Fotografie Chaldejs verkörpert, als europäischer Erinnerungsort gewertet werden? Von der grundsätzlichen Annahme eines Erinnerungsortes als Kristallisationspunkt eines identitätsstiftenden Narrativs ausgehend, ist sicherlich richtig, dass das Kriegsende für Europa von zentraler Bedeutung war. Wie oben gezeigt sind die jeweiligen Bedeutungszuschreibungen jedoch national völlig unterschiedlich. In der jüngsten und sogenannten ,dritten Welle‘ der Erinnerungsforschung wurde jedoch vehement darauf hingewiesen, dass auch nationale Narrative keineswegs homogen sind.34 Im sowjetischen beziehungsweise russischen Fall macht es beispielsweise einen signifikanten Unterschied, ob die erinnernde Person oder Gruppe den Blick eher auf die horrenden Opferzahlen und den Umgang der aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden Soldatinnen und Soldaten richtet, oder ob sie weiter auf den Sieg und Erfolg der Sowjetunion rekurriert. Kann also, wenn schon das nationale Gedenken gespalten ist, überhaupt ein europäisches entstehen?

33 Echternkamp, Der Krieg in europäischen „Erinnerungskulturen“; Rainer Gries, Mythen des Anfangs, in: APuZ 18-19 (2005), S. 12-18. 34 Vgl. dazu: Monika Fenn/Christiane Kuller, Auf dem Weg zu einer transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014, in: Dies. (Hg.), Auf dem Weg zu einer transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014, Schwalbach/Ts. 2016, S. 9-34, besonders S. 15.

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DAS ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGS ALS EUROPÄISCHER ERINNERUNGSORT? Dass europäisch denkende Politiker das Ende des Zweiten Weltkriegs durchaus als Chance für ein solch vereinendes Narrativ sahen, mag die Tatsache zeigen, dass der Schuman-Plan 1950 am 9. Mai verlesen wurde. Er gilt als Grundstein für die europäische Vereinigung. 35 Genügt diese Art von geschichtspolitischer Nutzung eines Datums jedoch schon, es zu einem europäischen Erinnerungsort zu erklären? Für die Reihe Europäische Erinnerungsorte legten die Herausgeber Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale konzeptionell drei Kriterien fest, nach denen sie Erinnerungsorte in ihre Sammlung aufnahmen. Demnach solle dieser schon in der Entstehung von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als europäisch wahrgenommen worden sein. Zweitens sollte der Erinnerungsort tatsächlich im gesamten Europa rezipiert worden sein. Drittens machten sich die Herausgeber auf die Suche nach Erinnerungsorten, „die nicht nur für die westliche Hälfte des Kontinents von Belang waren, sondern auch in den östlichen Teil ausstrahlten“. Dass sie sich hier selbst ein wenig widersprechen, zeigt schon der nächste Satz: „Hier galt es, nach wie vor bestehende Einseitigkeiten der historischen Forschung zu korrigieren. […] so wurde bewusst […] ein russischer Schriftsteller ausgewählt, dem eine europäische Ausstrahlung eignete.“

Hier zeigen die Autoren der Einleitung also selbst: Es „strahlt“ nicht nur nach Osten, da wird auch „zurückgestrahlt“, der Dialog ist wechselseitig.36

35 Geppert, 8. und 9. Mai, S. 351. 36 Vgl. Pim den Boer et al., Einleitung, in: Dies. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte. Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, S. 7-12, besonders S. 9-10.

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Es ist sinnvoll, mit diesen drei Kriterien das vorliegende Beispiel zu beleuchten: Das Ende des Zweiten Weltkrieges wurde wie schon beschrieben auf den Straßen der beteiligten Länder bejubelt und gerade von Seiten der Alliierten wurde der Erfolg als gemeinsamer betrachtet. Insofern kann eine europäische, möglicherweise sogar globale durch Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wahrgenommene Bedeutung vorausgesetzt werden. Bezüglich der Ausstrahlung kann ausgehend vom Einstiegsmotiv der Fotografie Chaldejs zweierlei konstatiert werden: Sicherlich rief das Ende des Zweiten Weltkrieges eine Breitenwirkung hervor, diese verlief aber eben nicht zwangsläufig von West nach Ost, sondern konnte auch umgekehrt verlaufen – noch waren die Fronten des Ost-West-Konfliktes nicht gänzlich verhärtet, auch wenn sie in Rivalitäten wie um die angemessene Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde bereits spürbar wurden.37 Bleibt zu guter Letzt die Rezeption. – Wie bereits gezeigt ist diese keineswegs einheitlich. Dennoch lassen gegenseitige Staatsbesuche zu den Feierlichkeiten zum Kriegsende darauf schließen, dass eine Bemühung um gemeinsames Erinnern stattfindet, beziehungsweise die gezielte Nicht-Teilnahme an Gedenkveranstaltungen genauso ein politisches Statement ist und von gegenseitiger Wahrnehmung des jeweiligen Erinnerns zeugt. 38 Alles in

37 Dazu sei angemerkt, dass selbst zu Hochzeiten des Kalten Krieges natürlich immer noch entsprechende „Ausstrahlungen“ in beide Richtungen stattfanden, wenn auch erschwert. Dazu sei etwa auf Sammelbände verwiesen wie Sari Autio-Sarasmo/Brendan Humphreys (Hg.), Winter Kept Us Warm. Cold War Interactions Reconsidered, Jyväskylä 2010; Sari AutioSarasmo/Katalin Miklóssy (Hg.), Reassessing Cold War Europe, Oxon/New York 2013; Simo Mikkonen/Pia Koivunen (Hg.), Beyond the Divide. Entangled Histories of Cold War Europe, New York/Oxford 2015. 38 Zur Bedeutung von Staatsbesuchen, gerade im Kontext des Kriegsendes, siehe den ausgesprochen weitsichtigen Artikel von Andreas Langenohl, Staatsbesuche. Internationalisierte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Rußland und Deutschland, in: Osteuropa 4-6 (2005), S. 74-87. Online abrufbar: https://www.zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2005/4-6/staatsbesuche/

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allem lässt sich also konstatieren, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges bei aller Verschiedenheit durchaus als europäischer Erinnerungsort gelten könnte, denn über die Homogenität der Erinnerung machen die Autoren keine Aussage. Auch Aleida Assmann schlug 2006 das Ende des Zweiten Weltkrieges als möglichen gemeinsamen europäischen Erinnerungsort vor: „Der 8. Mai ist ein Datum, das man aus vielen Perspektiven erlebt hat, an dem man sich trifft und die individuellen, partikularen Erfahrungsgedächtnisse kombinieren kann mit einer gemeinsamen Vision für die Zukunft. Das wäre ideal, da Deutschland dabei ist, diesen Tag nicht mehr als Katastrophe und Niederlage zu bewerten, sondern als Tag der Befreiung.“39

In diesem Interview verweist Assmann darauf, dass es natürlich andere Optionen für europäische Erinnerungsorte gebe, etwa das sehr weite Zurückgehen in der Vergangenheit, um sich auf gemeinsame Traditionen einer Kultur aus dem Mittelmeerraum zu beziehen oder ähnliche identitätsstiftende Angebote zu formen; oder aber man versuche, wie im Falle des Kriegsendes, die verworrenen und zerstrittenen Erinnerungen miteinander auszugleichen.40 – Angesichts des ideellen Überbaus einer Europäischen Union, die sich als wertbasierte Gemeinschaft definiert und für kulturelle Offenheit und Toleranz einsetzt, könnte

[6.8.2017]. Zur Bedeutung des Feiertags im Rahmen der Ukraine-Krise siehe z.B. Christiane Neef, Merkel in Moskau. Verbindliche Gesten, klare Worte, Spiegel, 10.5.2015, http://www.spiegel.de/politik/ausland/russlandangela-merkel-bei-weltkriegsgedenken-in-moskau-a-1033091.html [6.8.2017]. 39 Zit. n. Aleida Assmann, Video-Interview „Der 8. Mai als europäisches Datum“ im Rahmen des internationalen Symposiums „China zwischen Vergangenheit und Zukunft“ vom 22. bis 24. März 2006 in Berlin, http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-nationalsozialis mus/39628/video-interview-aleida-assmann [6.8.2017]. 40 Ebd.

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dieses zu einem Miteinander verwobene Nebeneinander von Erinnerungskulturen eine besondere Chance der Verständigung bieten, auch gegenüber Nicht-Mitgliedern.

GESCHICHTSPOLITISCHE DIMENSIONEN DER ERINNERUNG AN DAS ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES Wie schwer sich ein solch vereinender Prozess allerdings gestaltet, zeigt gerade die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Arnd Bauerkämper kommt in seiner umfangreichen Studie, die den erinnerungskulturellen Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in mehreren europäischen Staaten einschließlich der Sowjetunion bzw. Russlands miteinander vergleicht, letztlich zu dem Schluss, dass es eben keine gemeinsame Erinnerungskultur gebe, was auch das Beispiel der heftigen Diskussionen um das Haus der Geschichte Europas in Brüssel zeige.41 Gleichwohl sind in der Forschung vereinende Tendenzen und Elemente wahrgenommen worden. So stellt Bauerkämper selbst fest, dass ein Wandel stattfinde – weg vom Heldengedenken hin zu einem gemeinsamen Opfergedenken, das weniger auf den Triumph ausgerichtet sei.42 Vielleicht ist dies eine Erklärung am Interesse der Dechiffrierung der Inszenierung des Bildes Chaldejs. Was hier als Triumph daherkommt, ist am Ende Symbol für die Flüchtigkeit des Erfolges und mit den vertuschten Plünderungen auch für die Niederungen, die Kehrseiten des Sieges. Bauerkämper insistiert – im Rückgriff auf Vordenker wie Halbwachs oder Nora – darauf, dass das Gedächtnis niemals als kohärente, gruppenkonforme und statische Instanz betrachtet werden dür41 Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, S. 393. 42 Arnd Bauerkämper, Gedächtnisschichten. Der Erste und Zweite Weltkrieg in den Erinnerungskulturen, in: Fenn/Kuller, Transnationale Erinnerung, S. 37-65.

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fe.43 Die gleiche Meinung vertreten auch Claus Leggewie und Anne Lang in ihrer programmatischen, engagierten Schrift für ein gemeinsames europäisches Erinnern. Sie postulieren es als zivilgesellschaftliche Aufgabe, im Dialog miteinander die geteilten Erinnerungen, für die der 8. bzw. 9. Mai hier paradigmatisch steht, zu erkennen und vor allen Dingen: anzuerkennen. Damit ist es den Autoren und Autorinnen weniger daran gelegen, ein homogenes europäisches Gedächtnis zu erschaffen, sondern vielmehr ein Nebeneinander von Erinnerungskulturen auf Augenhöhe zu ermöglichen.44 In diesem Sinne ist EvaClarita Onkens Deutung des 60. Jubiläums des Kriegsendes 2005 als Wendepunkt für eine integriertere europäische Wahrnehmung der unterschiedlichen Erinnerungskulturen zu deuten, denn durch die intensive Diskussion der Teilnahme an der Siegesparade in Moskau brachten die EU-Mitgliedsstaaten ihre jeweiligen Wahrnehmungen des Kriegsendes konzentrierter zum Ausdruck als zuvor und zuletzt wurden diplomatische Kompromisslösungen gefunden, die ein Nebeneinander dieser Erfahrungen ermöglichten.45 Wie sich nun diese zunächst geschichtspolitischen Positionen auf einen gesellschaftlich umfassenderen erinnerungskulturellen Prozess übertragen lassen, ist eine andere Frage. Für diesen Aufsatz und vor allen Dingen für das Foto Chaldejs bleibt zu konstatieren: Gerade in seiner Ambivalenz steht es prototypisch für den erinnerungskulturellen Umgang mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. War das Bild zu-

43 Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, S. 17, S. 392. 44 Claus Leggewie/Anne Lang, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 7, S. 187. Vergleiche dazu auch die bereits zitierte Einleitung von Fenn/Kuller, die sich auf das Konzept der geteilten Erinnerung von Aleida Assmann beruft und ebenso konstatiert, dass ein dialogisches Erinnern zentral sei: Fenn/Kuller, Transnationale Erinnerung, S. 15. 45 Eva-Clarita Onken, The Baltic States and Moscow’s 9 May Commemoration: Analysing Memory Politics in Europe in: Europe-Asia Studies 59 (2007), S. 23-46, S. 44.

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nächst eine Inszenierung von Triumph und Sieg, unterlag es mehreren Umdeutungen, als die Konstruiertheit der Situation sowie die Retuschierung der Aufnahme zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit rückten. Mit dieser Dekonstruktion des triumphalen Moments geht auch ein erinnerungskultureller Wandel einher: Weg von der Heldenverehrung, hin zum Opfergedenken. Doch auch wenn sich, wie Arnd Bauerkämper zeigen konnte, diese Tendenz in Europa insgesamt durchaus nachvollziehen lässt, bleiben divergierende Wahrnehmungen des Kriegsendes bestehen und gerade in Russland spielt der Triumph weiter eine zentrale Rolle.

Gegendenkmäler Umstrittene Kriegserinnerungen Arndt Neumann

Abb. 11: Fotografie des Hamburger Kriegerdenkmals am Dammtor vom Oktober 1981: Die in den Krieg ziehenden Soldaten waren über und über mit Farbklecksen bedeckt.

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Unter dem Titel „Sterben die Untertanen aus?“ veröffentlichte die Zeitschrift Psychologie Heute im Oktober 1981 einen Beitrag ihres Chefredakteurs Heiko Ernst.1 In der Bundesrepublik, dies zeige die Untersuchung einer US-amerikanischen Psychologin, zeichne sich ein tiefgreifender Wandel ab. Die „deutsche Untertanenfabrik“, die die „Nazis“ hervorgebracht habe, funktioniere nicht mehr. 2 Gerade unter „jungen Deutschen“ stünden „blinder Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit“ nicht länger hoch im Kurs. 3 Auch eine Fotografie, die dem Artikel vorangestellt war, verdeutlichte diesen Umbruch (Abb. 11).4 Die in Stein gehauenen Soldaten, die in den Krieg marschierten, waren über und über mit bunten Farbklecksen bedeckt. Die nachgebildeten Soldaten waren Teil eines Regimentsdenkmals, das der Bund der 76er-Vereine5 im Jahr 1936 nahe des Hamburger Dammtorbahnhofes eingeweiht hatte.6 Ausdrücklich verstand es sich als Gegenentwurf zu dem zurückhaltenden Hamburger Ehrenmal am Rathausmarkt, das der sozialdemokratisch geführte Senat fünf Jahre zuvor für alle im Ersten Weltkrieg gefallenen „Söhne der Stadt“ errichtet hatte.7 Der Entwurf für das 76er-Denkmal stammte von dem Bild-

1

Heiko Ernst, Sterben die Untertanen aus?, in: Psychologie Heute, Oktober

2

Ebd., S. 36.

3

Ebd.

4

Ebd., S. 34f.

5

In dem Bund der 76er-Vereine hatten sich die Kriegervereine der Vetera-

1981, S. 34-40.

nen des Infanterie Regiments Hamburg 2. Hanseat. Nr. 76 und des Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 76 zusammengeschlossen. 6

Vgl. Kerstin Klingel, Eichenkranz und Dornenkrone. Kriegerdenkmäler in Hamburg, Hamburg 2006, S. 35-38; Volker Plagemann, „Vaterstadt, Vaterland, schütz dich Gott mit starker Hand“. Denkmäler in Hamburg, Hamburg 1986, S. 142-147; Bärbel Hedinger et al., Ein Kriegsdenkmal in Hamburg, Hamburg 1979.

7

Vgl. Antje Rhauderwiek, Ernst Barlach: Das Hamburger Ehrenmal, Hamburg 2004.

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hauer Richard Kuöhl.8 Ein Reliefband umschloss einen knapp neun Meter langen, 4,30 Meter breiten und sieben Meter hohen Muschelkalkblock. In Viererreihen zogen die Soldaten aus dem Stadttor heraus. Über ihren entschlossenen Gesichtern waren zwei Zeilen aus Heinrich Lerschs Gedicht Soldatenabschied zu lesen: „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“. Im angrenzenden ,Ehrenhof‘ fand sich eine weitere Widmung. Über den Gedenktafeln für die Gefallenen des Deutsch-Französischen Krieges und des Ersten Weltkrieges stand hier: „Großtaten der Vergangenheit sind Brückenpfeiler der Zukunft“. Ein knappes halbes Jahrhundert nach der Einweihung, im Juni 1981, protestierten in der Hamburger Innenstadt 100.000 Menschen gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung weiterer Atomraketen in Westeuropa.9 Am Rande dieser Großdemonstration, mit der die Hochphase der Neuen Friedensbewegung begann, kam es zu zahlreichen Aktionen gegen den ,Kriegsklotz‘. Demonstranten warfen mit bunter Farbe gefüllte Beutel, sprühten Parolen wie „Krieg dem imperialistischen Krieg“ und schlugen mit Hammer und Meißel Teile der Inschrift und des Reliefs ab.10 Erst als Polizeireihen das Denkmal von der Demonstration abschirmten, fanden die Übergriffe ein Ende. In dem Artikel Ein Denkmal, eine Verirrung, der im August 1981 in Der Zeit erschien, wandte sich der Journalist Karl-Heinz Janßen dem neuen

8

Von dem Bildhauer Richard Kuöhl (1880-1961) stammt die Bauplastik an vielen wichtigen Hamburger Bauten, u.a. der Davidwache in St. Pauli und dem Chile-Haus. Zudem entwarf er etwa 50 Kriegerdenkmäler. Vgl. Plagemann, „Vaterstadt, Vaterland“, S. 142-147; Hedinger et al., Ein Kriegsdenkmal, S. 27-32.

9

Vgl. Christoph Becker-Schaum et al. (Hg.), „Entrüstet Euch!“ Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012; Philipp Gassert (Hg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher Perspektive, München 2011.

10 Vgl. Karl-Heinz Janßen, Ein Denkmal, eine Verirrung, in: Die Zeit, 36/1981, S. 37.

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Denkmalstreit zu.11 In ihm zeige sich „unser gebrochenes Verhältnis zur Tradition“. Seit der Friedensdemonstration sei dies am Dammtor unübersehbar geworden: „Manchem älteren Bürger Hamburgs bricht der Anblick fast das Herz. Doch was den einen als ,Schandfleck‘ gilt, finden andere, jüngere, eher lustig: moderne demonstrative Pop-Art.“12

Von manchen Passanten werde das „graue Monument“ durch seine „bunte Gewandung“ überhaupt erst entdeckt.13 Gerade die „Distanzierung“14 der jüngeren Generation von dem althergebrachten Gefallenengedenken, so die zentrale These dieses Beitrags, machte das Kriegerdenkmal am Dammtor in den 1970ern und 1980ern ein weiteres Mal zu einem der „Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung“15. Je heftiger die gegensätzlichen Deutungen der Weltkriege aufeinanderprallten, desto mehr Aufmerksamkeit zog das Regimentsdenkmal auf sich. Nicht die Geschichte des Regiments, sondern die „Medialität“ des Denkmals war dabei der entscheidende Bezugspunkt.16 Erst sie machte das Monument zu einem jener lokalen Erinnerungsorte, an denen sich in Europa die Debatten über das veränderte Verhältnis zu Krieg und Gewalt entzündeten.

11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Manfred Hettling, Militärisches Totengedenken in der Berliner Republik. Opfersemantik und politischer Auftrag, in: Ders./Jörg Echternkamp (Hg.), Bedingt erinnerungsbereit. Soldatengedenken in der Bundesrepublik, Göttingen 2008, S. 11-21, hier S. 14. 15 Etienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, S. 9-24, hier S. 18. 16 Vgl. Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin 2004.

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DER POLITISCHE TOTENKULT Auch für die geschichtswissenschaftliche Forschung stellten diese erinnerungspolitischen Konflikte einen der wesentlichen Ausgangspunkte dar. So leitete Reinhart Koselleck seinen 1979 erschienenen Artikel Kriegerdenkmäler als Sinnstiftungen der Überlebenden mit einem Verweis auf die Kontroverse um das 76er-Denkmal ein.17 Und in dem Vorwort zu dem Sammelband Der politische Totenkult, den er im Jahr 1994 zusammen mit Michael Jeismann herausgab, hieß es: „Kriegerdenkmäler sind in Mode gekommen, sei es, daß sie besprüht, umgewidmet, gestürzt, gar gestohlen werden, sei es, daß neue und Gegendenkmäler errichtet werden. Jedenfalls unterliegen sie in ihrer ästhetischen Selbstaussage und in ihrer politischen Funktion einem beschleunigten Wandel.“18

Angesichts dessen hätten sich mehr und mehr Historiker der Bedeutung dieser Monumente zugewendet. Vor allem durch die „Studentenrevolte von 1968“ und durch „die sekundäre Erfahrung der Nachkriegsgeneration“ seien neue Fragen aufgeworfen worden.19 Da einer wachsenden Zahl von Zeitgenossen die Kriegerdenkmäler unverständlich geworden waren, machte Koselleck sich daran, deren Sinn zu rekonstruieren. Erst im Zuge der Französischen Revolution und der Befreiungskriege habe sich diese Denkmalform in den neu entstehenden europäischen Nationalstaaten herausgebildet. Nicht mehr nur Fürsten und Feldherren, sondern jeder einzelne gefallene Soldat sei damit „denkmalwürdig“20 geworden. Diese „Gleichheit der Toten für

17 Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 255-76, hier S. 255. 18 Reinhart Koselleck/Michael Jeismann, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 7. 19 Ebd. 20 Koselleck, Kriegerdenkmäler als Identitätsstiftungen, S. 258.

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das Vaterland“ gehe mit dem „Identifikationsgebot, den Toten nachzueifern“, einher.21 Allerdings erweise sich die eingeforderte Kontinuität immer wieder als brüchig, vor allem deswegen, weil sie die „politischsinnliche Empfangsbereitschaft“22 der Nachgeborenen voraussetze. Auch nach 1945 gab es Versuche, an den „politischen Totenkult“23 der vorangegangenen Generationen anzuknüpfen. Gerade in der Anfangszeit der Bonner Republik prägten die Veteranen der Wehrmacht die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit.24 Zu den Vereinen, in denen sich die Angehörigen der Kriegsgeneration zusammengeschlossen hatten, gehörte auch die Nothilfe Ehemaliger 76er. Um an dem Kriegerdenkmal am Dammtor auch der Gefallenen des Zweiten Weltkriegs gedenken zu können, ließen sie eine ,Gruftplatte‘ für den ,Ehrenhof‘ anfertigen.25 Erneut erhielt Richard Kuöhl den Auftrag. An der feierlichen Enthüllung, die im Oktober 1958 stattfand, nahmen neben Veteranen und deren Angehörigen auch Soldaten der Bundeswehr und der sozialdemokratische Senator Wilhelm Kröger teil. Insgesamt waren 1.500 Gäste anwesend.26 Die Einweihung begann mit dem „Einmarsch des Ehrenzuges“27 der Bundeswehr. „Ehrenposten“ und Fackelträger gingen in Stellung. Von einem Tonband erklang die Musik Beethovens. Danach folgte, ebenfalls vom Tonband, die Gefallenenrede des Perikles, die der athenische Staatsmann im Winter

21 Ebd., S. 268 und S. 261. 22 Ebd., S. 264. 23 Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. 24 Vgl. Jörg Echternkamp, Kein stilles Gedenken. Die Toten der Wehrmacht im Erinnerungskonflikt der Bundesrepublik, in: Hettling/Ders. (Hg.), Bedingt erinnerungsbereit, S. 46-57. 25 Vgl. Hedinger et al., Ein Kriegsdenkmal, S. 51. 26 Die Einweihungsfeier, in: Mook wi! Nothilfe Ehemaliger 76er 42 (1958), S. 7-12, hier S. 7. 27 Ebd.

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431/30 v. Chr. anlässlich des Krieges gegen Sparta gehalten haben soll.28 Immer wieder hatten europäische Denker die Freiheit Athens der Unfreiheit Spartas entgegengestellt, zuletzt Karl Popper in seinem 1945 im englischen Exil verfassten und 1957 ins Deutsche übersetzten Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde.29 Nun nahm auch die Nothilfe Ehemaliger 76er die Totenrede für sich in Anspruch. Einleitend hob der Veteranenverein deren bleibende Bedeutung hervor: „Wir empfinden diese Worte nach 2.300 Jahren als gültige und überzeitliche Würdigung des soldatischen Kampfes- und Opfermutes und wissen daher, daß auch der Ruhm unserer Gefallenen die Zeiten überdauern wird, und daß die Opfer, die sie Deutschland darbrachten, eine unauslöschliche Mahnung für uns und unsere Nachkommen bleiben, die Pflicht gegenüber dem Vaterland gleichermaßen zu erfüllen.“30

Bei dem anschließenden „kameradschaftlichen Beisammensein“ 31, das in den Räumen der Patriotischen Gesellschaft stattfand, griff der General a.D. Hans Gollnick diesen Gedanken auf: „Athen war keine Soldatenstadt, es war eine weltweite Handelsstadt, ähnlich wie Hamburg heute. Athen war bewußt eine Demokratie, in der Kunst und Wissenschaft in hoher Blüte standen.“32 Auch in Hamburg gelte der Soldat nicht viel. Dennoch seien die Stadtbewohner immer gute Soldaten gewesen. „Die Hamburger haben auch im Zweiten Weltkrieg gezeigt, daß sie ganze Kerle sind.“33 Wenn alles gut gehe, wie 1939 in Polen

28 Vgl. Thucydides, Die Rede des Perikles für die Gefallenen, Wiesbaden 1954. 29 Vgl. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bern 1957, S. 248-253. 30 Die Einweihungsfeier, in: Mook wi!, S. 8. 31 Kameradschaftliches Beisammensein, in: Mook wi!, S. 12-17. 32 Ebd., S. 14. 33 Ebd.

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und 1940 in Frankreich, dann sei dies einfach. Wenn der Gegner aber „heimtückisch und verschlagen“ sei und die „Ausfälle durch Erfrierungen“ zunähmen, dann zeige sich, „wer ein ganzer Soldat ist“.34 Bis in die frühen 1980er Jahre hinein fanden am Volkstrauertag Gedenkfeiern am 76er-Denkmal statt. Und weiterhin waren neben Wehrmachtsveteranen auch Bundeswehrsoldaten anwesend. Darauf verweist eine Fotografie aus dem Herbst 1981.35 Neben zwei bewaffneten ,Ehrenposten‘ der Bundeswehr lagen die Kränze der verschiedenen Veteranenverbände, darunter auch einer der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS. Viele Jahre lang nahm die Öffentlichkeit, trotz vereinzelt aufbrechender Kritik, das Regimentsdenkmal nur am Rande war. Erst nach 1968 begann sich dies zu verändern.

„DEUTSCHLAND MUSS STERBEN“ Eine erste größere Kontroverse brach aus, als sozialdemokratische Lokalpolitiker Anfang 1972 die Forderung erhoben, die Widmung „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“ zu entfernen.36 Für die ausländischen Besucher des nahegelegenen Kongresszentrums, die „vielleicht nicht so gleichgültig geworden sind wie etwa die Hamburger Bürger“37, könne die Inschrift ein Ärgernis darstellen. Der entsprechende Antrag, den die Bezirksversammlung Mitte gegen

34 Ebd. 35 Vgl. Hans Walden, Der Streit um das Hamburger Kriegsdenkmal von 1936, in: Eberhard Grillparzer/Günther Ludig/Peter Schubert (Hg.), Denkmäler. Ein Reader für Unterricht und Studium, Hannover 1994, S. 14-25, hier S. 18. 36 Ebd. S. 18. 37 Bezirksamt Hamburg-Mitte, Wortprotokoll der Debatte in der Bezirksversammlung am 18. Januar 1972. Beitrag des Bezirksabgeordneten Holst. Zit. n. Walden, Der Streit um das Hamburger Kriegsdenkmal, S. 18.

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die Stimmen der CDU verabschiedet, löste in der Öffentlichkeit breite Ablehnung aus. Die Bild-Zeitung titelte „,Deutschland‘ soll gestrichen werden“38, das Hamburger Abendblatt „Welches Land würde seine Geschichte verleugnen?“39. Zahlreiche empörte Leserbriefe erreichten die Redaktionen. Angesichts dessen griff der sozialdemokratisch geführte Senat ein und hob den Beschluss der Bezirksversammlung auf. Aber der Konflikt innerhalb der SPD schwelte fort und brach gegen Ende des Jahrzehnts wieder offen aus. Nun erhoben die Jusos die Forderung „Das Nazidenkmal muss weg“40. Weiter angefacht wurde der Streit durch das Buch Ein Kriegsdenkmal in Hamburg, das Kunstgeschichtsstudenten der Hamburger Universität im Jahr 1979 veröffentlichten.41 Darin betonte die Autorengruppe, zu der auch Hans Walden42 gehörte: „Diese Denkmal ist ein Politikum. 1936 diente es der faschistischen Propaganda; heute ist es als Dokument einer unbewältigten Vergangenheit Gegenstand heftiger Diskussion.“43 In „Härte und Verzicht“, „Männlichkeit und Mut“, „Heldentum und Todesbereitschaft“, „Zucht und Gehorsam“ sowie

38 Zit. n. Peter Reichel, Denkmal und Gegendenkmal ein kommunikativer Gedächtnisort, in: Etienne François (Hg.), Lieux de mémoire, Erinnerungsorte. D’un modèle français à un projet allemand, Berlin 1996, S. 105118, hier S. 115. 39 Erik Verg, Welches Land würde seine Geschichte verleugnen?, in: Hamburger Abendblatt vom 22.1.1972, S. 3. 40 Horst Wisser, Wird der Senat die Jusos stoppen?, in Hamburger Abendblatt vom 6.9.1979, S. 4. 41 Vgl. Hedinger et al., Ein Kriegsdenkmal. 42 In den folgenden Jahrzehnten gehörte Hans Walden zu den wichtigsten Kritikern des 76er-Denkmals. Vgl. Walden, Der Streit um das Hamburger Kriegsdenkmal; Ders., Das Schweigen der Denkmäler. Wie sich Hamburg des Krieges entsinnt, in: Peter Reichel (Hg.), Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, Hamburg 1997, S. 29-46. 43 Ebd., S. 1.

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„Gewalt und Unterwerfung“ der Soldaten, so zitierten sie den marxistischen Politikwissenschaftler Reinhard Kühnl, zeige sich das „Wesen des Faschismus“.44 Dennoch sprachen sie sich gegen einen Abriss aus. Anders als in der unmittelbaren Nachkriegszeit sei dies nicht länger angemessen: „Mit einer Entfernung des Denkmals würden sich die Hamburger einer Möglichkeit berauben – und der Verpflichtung entziehen –, aus der kritischen Auseinandersetzung mit diesem Dokument der jüngsten deutschen Vergangenheit politische Lehren für Gegenwart und Zukunft zu ziehen.“45

Notwendig sei die „Umwandlung des 76er-Denkmals in ein Antikriegsdenkmal.“46 Währenddessen häuften sich seit dem Ende der 1970er Jahre die Farbanschläge auf den ,Kriegsklotz‘. Immer öfter griffen Jugendliche zu Sprühdosen und Farbbeuteln. Mehrmals ließ das Bezirksamt Mitte den Muschelkalkblock mit Hochdruckreinigern säubern. Schließlich stellte es die kostspieligen Reinigungsversuche ein. Daraufhin sprang die Konservative Aktion in die Bresche.47 In diesem Verein, der im Jahr 1981 aus der Bürgeraktion Demokraten für Strauß hervorgegangen war, versammelten sich rechtskonservative Anhänger von CDU und CSU, unter ihnen der umstrittene ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal.48 Deren Mitglieder machten sich daran, die Farbspritzer und Parolen zu übertünchen. Letztlich blieb auch dies vergeblich. Für eine neue Generation schien die Vorstellung, ihr eigenes Leben für das Vaterland opfern zu müssen, unerträglich zu sein. Immer ent-

44 Ebd., S. 33. 45 Ebd., S. 57. 46 Ebd., S. 59. 47 Vgl. Walden, Der Streit um das Hamburger Kriegsdenkmal, S. 19. 48 Vgl. Konservative Aktion, in: Jens Mecklenburg (Hg.), Handbuch deutscher Rechtsextremismus, Berlin 1996, S. 170.

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schiedener wiesen sie das „Identifikationsgebot“49 der Kriegerdenkmäler zurück. Neben der wachsenden Zahl von Farbanschlägen fand diese „postheroische“50 Haltung bei der Hamburger Punkband Slime ihren radikalsten Ausdruck.51 Beeinflusst von britischen Musikgruppen wie The Clash und den Sex Pistols sowie der westdeutschen Hausbesetzerbewegung veröffentlichten sie 1981 auf ihrem ersten Album den Song Deutschland muss sterben. Der Refrain kehrte die Widmung des 76erDenkmals um. Statt „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“ hieß es jetzt „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“52. Gleichzeitig ließen die Strophen keinen Zweifel daran, dass damit immer auch das Deutschland der Gegenwart gemeint war: „Wo Faschisten und Multis das Land regieren // Wo Leben und Umwelt keinen interessieren // Wo alle Menschen ihr Recht verlieren // Da kann eigentlich nur noch eins passieren: Deutschland muss sterben, damit wir leben können […] „Wo Panzer und Raketen den Frieden sichern // AKWs und Computer das Leben verbessern // Bewaffnete Roboter überall // Doch Deutschland wir bringen dich zu Fall“53

Auch nach der Großdemonstration der Friedensbewegung im Juni 1981 kam es zu zahlreichen weiteren Protesten. Noch im selben Jahr kletterten Reservisten der Bundeswehr mit Leitern auf das 76erDenkmal und entrollten ein Transparent mit der Aufschrift „Heldentod ohne uns“; im März 1984 versorgten Feministinnen die steinernen Soldaten mit Mullbinden und errichteten eine lebendiges Friedensdenkmal; im Februar 1985 zündeten Unbekannte eine Bombe im In-

49 Koselleck, Kriegerdenkmäler als Identitätsstiftungen, S. 261. 50 Herfried Münkler, Militärisches Totengedenken in der postheroischen Gesellschaft, in: Hettling/Echternkamp (Hg.), Bedingt erinnerungsbereit, S. 22-30. 51 Vgl. Daniel Ryser, Slime. Deutschland muss sterben, München 2013. 52 Ebd., S. 60. 53 Ebd.

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nern des Blocks; und im April 1985 folgten zahlreiche Hamburger Hörer von Radio Bremen dem Aufruf, das Kriegerdenkmal mit Decken, Tüchern und Laken zu verhüllen. 54 Dass sich nun auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk an den Aktionen beteiligte, löste unter Hamburger CDU-Politikern Empörung aus. In einer Bürgerschaftsdebatte im April 1985 machten sie ihrem Ärger Luft. Das Kriegerdenkmal am Dammtor, so beklagte der christdemokratische Abgeordnete Gert Boysen, sei zu einer „Wallfahrtsstätte von Friedenskämpfern“55 verkommen. Doch gegen die ständigen „Besudelungen“56 greife der sozialdemokratische Senat nicht ein. Auch zu der falschen historischen Einordnung schweige er: „Es ist eine ungeheuerliche Geschichtsklitterung, wenn hier immer wieder die Opfer des Ersten Weltkrieges und des Krieges von 1870/71 mit dem Krieg der Nazis in Verbindung gebracht werden“57.

Daraufhin ergriff der Abgeordnete der Grün-Alternative Liste (GAL), Rainer Schmidt, das Wort. Er könne die Aufregung über die Verhüllungsaktion, die dem US-amerikanischen Künstler Christo nachempfunden sei, nicht verstehen. Ihn empöre etwas anderes: „Tatsache ist, daß die Deutschen für die Großmachtsziele der Herrschenden in die Kriege gezogen sind und für diese Ziele allein im Zweiten Weltkrieg 6 Millionen Juden umgebracht und 20 Millionen Sowjets getötet haben. Tatsache ist, daß der Alptraum am Dammtor mit seiner Inschrift vorgaukelt, daß diese Kriege wegen irgendeiner Art Existenzgefährdung Deutschlands notwendig gewesen seien.“58

54 Walden, Der Streit um das Hamburger Kriegerdenkmal, S. 19f. 55 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Plenarprotokoll 11/65, 17.4.1985, S. 3799. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 3800.

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DENKMAL UND GEGENDENKMAL In der Zwischenzeit hatte die Umgestaltung des 76er-Denkmals zunehmend an politischer Unterstützung gewonnen. Vor allem die Debatte um die Wiedererrichtung des Heinrich-Heine-Denkmals, die gegen Ende der 1970er Jahre ausbrach, stellte einen wichtigen Wendepunkt dar.59 Im Jahr 1926 hatte der Bildhauer Hugo Lederer die Bronzefigur im Stadtpark enthüllt. Doch bereits im Jahr ihrer Machtübernahme hatten die Nationalsozialisten sie wieder entfernen lassen. Angesichts dessen trat die Heinrich-Heine-Gesellschaft öffentlich für ein neues Denkmal ein. Dieses sollte nicht nur das Wirken des Dichters würdigen, sondern auch an die antisemitischen und nationalistischen Feindseligkeiten erinnern. Um diesem Anliegen Nachdruck zu verleihen, enthüllte die Heinrich-Heine-Gesellschaft im Oktober 1979 in Sichtweite des 76er-Denkmals ein „Probedenkmal“60 aus Styropor und Packpapier. Die nun anschwellende Debatte nahm der Senat zum Anlass, bei dem Meinungsforschungsinstitut infas eine repräsentative Befragung der Hamburger Bevölkerung in Auftrag zu geben. Die im Februar 1981 veröffentlichten Ergebnisse waren eindeutig. Zwei Drittel der Befragten sprachen sich für die Wiedererrichtung des HeinrichHeine-Denkmals und für die Umgestaltung des 76er-Denkmals aus.61 Für die zögerliche Haltung des sozialdemokratischen Senats gab es jetzt keine Veranlassung mehr. Anfang 1982 rief die Hamburger Kulturbehörde unter Beteiligung des Senatsdirektors Volker Plagemann einen künstlerischen Ideenwettbewerb für das 76er-Denkmal aus.62 Dessen Umfeld, so hieß es im Ausschreibungstext, solle „so umgestaltet werden, daß die kriegsver-

59 Vgl. Volker Plagemann, „Vaterstadt, Vaterland“, S. 169. 60 Ein Votum für Heinrich Heine, in: Hamburger Abendblatt vom 1.10.1979, S. 8. 61 Vgl. Carl-Heinz Mann, Hamburgs Kultursenator, Wir sind keine Denkmalsstürmer, in: Hamburger Abendblatt vom 17.2.1981, S. 11. 62 Vgl. Plagemann, „Vaterstadt, Vaterland“, S. 171-173.

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herrlichen Wirkung des Denkmals gebrochen wird.“63 In einem Artikel, der wenig später im Hamburger Abendblatt erschien, unterstrich der Kultursenator Wolfgang Tarnowski dieses Ziel: „Wer hier durchgeht oder verweilt, muß hinter der demonstrativen Verherrlichung des Heldentodes am 76er-Denkmal die schreckliche Wirklichkeit aller Kriege empfinden: Leid, Schmerz, Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Zerstörung. Und er muß die Forderung spüren, die daraus erwächst: Nie wieder Krieg!“ 64

Der Wettbewerb stieß auf großes Interesse. Mehr als hundert Künstler reichten ihre Entwürfe ein. Zudem hatte die Kulturbehörde zahlreiche Prominente für die Jury gewinnen können, darunter den Offizier Wolf von Baudissin, die Theologin Uta Ranke-Heinemann und den österreichischen Bildhauer Alfred Hrdlicka. Da keine der eingereichten Arbeiten die Jury restlos überzeugte, fiel die Wahl schließlich auf das Jurymitglied Alfred Hrdlicka. Am 8. Mai 1985 enthüllte der Künstler den ersten Teil des Gegendenkmals.65 Mit dem Titel Hamburger Feuersturm spielte er auf die britischen Luftangriffe im Juli 1943 an, bei denen zehntausende Bewohner der Stadt ums Leben gekommen waren. Zentrales Element war eine bronzene Hauswand, die trotz ihrer Größe zerbrechlich wirkte.

63 Zit. n. ebd., S. 172. 64 Wolfgang Tarnowski, Hohles Pathos ist unerträglich!, in: Hamburger Abendblatt vom 6.3.1982, S. 5. 65 Vgl. Hans Walden, Das Schweigen der Denkmäler; Michael Hütt, Alfred Hrdlickas Umgestaltung des Hamburger Denkmals für das Infanterieregiment Nr. 76, in: Ders. et al. (Hg.), Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. Leiden und Sterben in den Kriegsdenkmälern des Ersten und Zweiten Weltkriegs, Marburg 1990, S. 112-125; Dietrich Schubert, Alfred Hrdlickas antifaschistisches Mahnmal in Hamburg oder: Die Verantwortung der Kunst, in: Ekkehard Mai/Gisela Schmirber (Hg.), Denkmal – Zeichen – Monument. Skulptur und öffentlicher Raum heute, München 1989, S. 134-143.

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Allein durcheinandergewirbelte Balken, deren Anordnung an ein riesiges Hakenkreuz erinnerte, gaben ihr noch Halt. Verschmolzen mit der Hauswand waren die Überreste verbrannter Menschen. Zwei aus weißem Marmor gefertigte Skulpturen, ein zusammengekauerter Frauentorso und eine herabstürzende Männerfigur, vervollständigten den ersten Teil. Im September 1986 folgte mit der Fluchtgruppe – Cap Arcona der zweite Teil. Aus einem weißen Marmorblock hatte Hrdlicka miteinander verschlungene Körper und schmerzverzerrte Gesichter herausgearbeitet. Ein weiteres Mal verwies der Titel auf ein Ereignis der Hamburger Stadtgeschichte. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs waren mehrere Tausend Häftlinge des KZ Neuengamme in der Ostsee ertrunken, als britische Bomber die Schiffe versenkten, auf die sie von SS-Männern gezwungen worden waren. Eigentlich hatte Hrdlickas Entwurf zwei weitere Teile vorgesehen. Doch da es zwischen ihm und dem Senat zu finanziellen Streitigkeiten kam, blieb das Werk fragmentarisch. Auch ansonsten war Hrdlickas Monument umstritten. Überschwängliche Zustimmung stand neben scharfer Kritik. Zu denjenigen, die sich begeisterten, gehörte der Kunsthistoriker Dietrich Schubert. In einem Artikel, der Anfang 1987 in der Zeitschrift Kritische Berichte erschien, ordnete er das Werk als wegweisend ein.66 Dass Hrdlicka die Verbindung zwischen Hamburg, Dresden, Hiroshima und dem drohenden „dritten Weltkrieg“67 herstelle, zeige dessen „Aktualität (als Warnung)“.68 Zudem gehöre die Darstellung des realen Menschen zu dessen großen Stärken. Erneut griff Schubert die Selbstdeutung des Bildhauers auf. Bei den „Nazis“ herrsche ein „,abstraktes‘, serielles Bild

66 Vgl. Dietrich Schubert, Hamburger Feuersturm und „Cap Arcona“. Zu Alfred Hrdlickas Gegendenkmal in Hamburg, in: Kritische Berichte 15 (1987), H. 1, S. 8-18. 67 Alfred Hrdlicka, Der Klotz bleibt, aber … er wird zum antifaschistischen Mahnmal, in: konkret 12 (1983), S. 86f., hier S. 87. 68 Schubert, Hamburger Feuersturm und „Cap Arcona“, S. 18.

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des Soldaten“ vor.69 Das Gegendenkmal kontrastiere dieses Bild mit „dem wirklichen Tod des Einzelnen.“70 Dabei erinnere ihn, so Schubert, einer der aus dem Marmorblock gehauenen KZ-Häftlinge an den „Stil der Plastik des ,Altmeisters‘ des ,Sozialistischen Realismus‘ Fritz Cremer, insbesondere dessen Figuren für das Mahnmal WeimarBuchenwald“.71 In einer Replik, die unter dem Titel Welche Realität meint das Reale? im darauffolgenden Jahr in den Kritischen Berichten erschien, wies Gabriele Werner diese Deutung entschieden zurück.72 Vor allem in Hrdlickas Darstellung der KZ-Gefangenen zeige sich die „Grenze seiner realistischen Kunst“.73 Sie scheitere an dem „Unmöglichen“, das „Ausmaß an Leiden und Terror“ nachzuvollziehen.74 Zudem sei die politische Aussage fragwürdig. Dies gelte insbesondere für den Hamburger Feuersturm. Der von Hrdlicka geführte „Opferdiskurs“ könne „von Geschichtsschreibern bemüht werden, die wieder einmal oder immer noch mit dem Aufrechnen von Leichenbergen und Terrortaten anderer beschäftigt sind, um den NS als eine unter anderen Grausamkeiten zu subsumieren, ihn damit verharmlosen oder gar legitimieren.“75

Gegen Ende der 1980er begannen Forscher sich mit dem neuen Phänomen der Gegendenkmäler auseinanderzusetzen. Ebenso wie bei den Kriegerdenkmälern stellte auch hier der Hamburger Denkmalstreit einen wichtigen Ausgangspunkt für grundsätzlichere Überlegungen

69 Ebd., S. 16. 70 Ebd. 71 Ebd., S. 15. 72 Vgl. Gabriele Werner, Welche Realität meint das Reale? Zu Alfred Hrdlickas Gegendenkmal in Hamburg. Eine Erwiderung auf Dietrich Schubert, in: Kritische Berichte 16 (1987), H. 3, S. 57-65. 73 Ebd., S. 60. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 57.

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dar, unter anderem in dem Beitrag des Kunsthistorikers Peter Springer, der im Jahr 1989 unter dem Titel Denkmal und Gegendenkmal76 erschien. Seit jeher schließe die „Errichtung von Denkmälern“ die „Möglichkeit ihres Sturzes“ ein.77 Dies gelte auch für die Gegenwart. Gerade Denkmäler, die „kriegerisches Heldentum“ glorifizierten, seien zu „steinernen Provokationen“ geworden.78 Im Unterschied zu früheren Zeiten habe sich jedoch der Umgang mit unzeitgemäß gewordenen Monumenten verändert. An die Stelle des Abrisses sei die „Konfrontation mit einem Gegendenkmal“ getreten. 79 Dabei blieben die Gegendenkmäler in paradoxer Weise auf die Denkmäler bezogen. Sie seien ein „Mittel der Distanzierung“ bei gleichzeitiger „Anerkennung eines ungebrochenen Wirkungsvermögens“.80

GEDENKORT FÜR DESERTEURE Alfred Hrdlickas fragmentarisch gebliebenes Werk setzte nicht den Schlusspunkt hinter die Umgestaltung des 76er-Denkmals. Erst im November 2015 fand diese ihr vorläufiges Ende. Gemeinsam weihten der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz, der Künstler Volker Lang und der Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann den Gedenkort für

76 Vgl. Peter Springer, Denkmal und Gegendenkmal, in: Ekkehard Mai/Gisela Schmirber (Hg.), Denkmal – Zeichen – Monument. Skulptur und öffentlicher Raum heute, Bonn 1989, S. 92-102. Siehe außerdem: James E. Young, The Counter-Monument: Memory against Itself in Germany today, in: Critical Inquiry 18 (1992), H. 2, S. 267-296; Reichel, Denkmal und Gegendenkmal ein kommunikativer Gedächtnisort. 77 Springer, Denkmal und Gegendenkmal, S. 92. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Ebd.

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Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz ein.81 Das neue Monument, das zwischen dem 76er-Denkmal von 1936 und dem Gegendenkmal von 1985/86 gelegen war, bestand aus einem gleichseitigen Dreieck.82 Eine Betonwand bildete die eine, zwei bronzene Schriftgitter die beiden anderen Seiten. Auf ihnen waren Auszüge aus Helmut Heißenbüttels Textcollage Deutschland 1944 zu lesen. Im Innern des begehbaren Dreiecks konnten sich Besucher die Namen von in Hamburg hingerichteten Wehrmachtsdeserteuren vorspielen lassen. Dass nun auch Fahnenflüchtige „denkmalwürdig“ 83 geworden waren, stellte einen radikalen Bruch mit der Tradition des nationalen Gefallenengedenkens dar. Dennoch kam es anlässlich der Einweihung des Gedenkortes zu keiner öffentlichen Kontroverse. Auch der Beschluss der Hamburger Bürgerschaft drei Jahre zuvor war einstimmig erfolgt.84 Vor diesem Hintergrund konstatierte die für die Kulturbehörde tätige Historikern Claudia Bade: „Ein Denkmal für Deserteure scheint niemanden mehr zu provozieren.“85 Dieser Einschätzung schloss sich auch der Historiker Marco Dräger an. Trotz ihres „allmählichen Einzugs in die Erinnerungskultur“ litten Denkmäler für Deserteure unter „Nichtbeachtung im Alltag“.86

81 Vgl. Katja Engler, Späte Ehre für Deserteure, in: Hamburger Abendblatt vom 25.11.2015, S. 21. 82 Vgl. Kulturbehörde Hamburg, Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz. Dokumentation des Gestaltungswettbewerbs, Hamburg 2014. 83 Koselleck, Kriegerdenkmäler als Identitätsstiftungen, S. 258. 84 Vgl. Kulturbehörde Hamburg, Gedenkort für Deserteure, S. 7. 85 Claudia Bade, Für die mutigsten Feiglinge der deutschen Geschichte... Der Hamburger Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NSMilitärjustiz, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2016, https://zeitgeschichteonline.de/geschichtskultur/fur-die-mutigsten-feiglinge-der-deutschengeschichte [18.4.2019]. 86 Marco Dräger, Denkmäler für Deserteure. Ein Überblick über ihren Einzug in die Erinnerungskultur, Wiesbaden 2018, S. 25.

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Rückblickend treten die Konturen des Hamburger Denkmalstreits deswegen umso deutlicher hervor. Gerade die sich zuspitzende öffentliche Auseinandersetzung machte das Regimentsdenkmal am Dammtor in den 1970er und 1980er Jahren zu einem der „Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung“87. Zwei Deutungen von Krieg und Gewalt standen sich unversöhnlich gegenüber: zum einen die der alt gewordenen Weltkriegsveteranen, die ihrer ,gefallenen Kameraden‘ gedachten. Deren ,Opfer‘ sollte nicht vergeblich gewesen sein. Zum anderen die der überwiegend jungen Friedensbewegten, die sich gegen den fortdauernden Schrecken von ‘Faschismus und Krieg‘ wandten. In ihrem Protest verband sich die Abscheu gegenüber den NS-Verbrechen mit der Angst vor einem drohenden ,Dritten Weltkrieg’. Darüber hinaus hatte die Kontroverse auch eine ästhetische Dimension. Konservative Hochkultur und rebellische Subkultur prallten unvermittelt aufeinander. Dementsprechend fand der erinnerungspolitische Konflikt in der stetigen Folge von Farbanschlägen und Reinigungsversuchen seinen sichtbarsten Ausdruck. Dieser Streit gehört der Vergangenheit an. Fast alle Weltkriegsveteranen sind gestorben. Ihre Sichtweise hat in den Kasernen der Bundeswehr, den Zeitungsredaktionen des Springer-Verlages und den Parteibüros der CDU einen Großteil ihres Einflusses eingebüßt. Aber auch die Kritik der Friedensbewegten hat ihre einstige Schärfe verloren. Nur wenige verknüpfen die Verbrechen des Nationalsozialismus noch unmittelbar mit den Problemen der Gegenwart. Heute ist an die Stelle hitziger Debatten ein neuer Konsens getreten. Mit ihm sind auch die Farbspritzer auf dem 76er-Denkmal verschwunden. Das graue Monument ist wieder „unsichtbar“88 geworden.

87 François/Schulze, Einleitung, S. 18. 88 Robert Musil, Denkmale, in: Ders., Nachlaß zu Lebzeiten, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 62.

Atombombe Erinnerungsort des Kalten Krieges Sibylle Marti

Abb. 12: Die Fotografie zeigt den Atompilz der Wasserstoffbombe Bravo.1

1

https://en.wikipedia.org/wiki/Castle_Bravo#, [22.2.2016].

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Am 1. März 1954 zündeten die USA auf dem Bikini-Atoll im Pazifischen Ozean im Rahmen der Operation Castle eine Wasserstoffbombe namens Bravo. Bravo produzierte einen derart starken radioaktiven Ausfall, dass nicht nur die Bewohnerinnen und Bewohner der umliegenden Atolle eiligst evakuiert werden mussten, sondern auch die Besatzung eines sich außerhalb der Sperrzone befindenden japanischen Fischerboots schwere Strahlenverletzungen erlitt. Das Ausmaß der von Bravo verursachten radioaktiven Verseuchung erregte weltweites Aufsehen und trug maßgeblich zu einer Verbreitung der Angst vor radioaktivem Fallout bei.2 Das Bild der Bravo-Explosion weist indessen weit über jenen unheilvollen März-Tag in den 1950er Jahren hinaus. Es reiht sich ein in eine Serie von populären Bildern der Atombombenwolke, die allesamt unverkennbar auf den Kalten Krieg verweisen. Die Atompilzwolke – so der Historiker Gerhard Paul – stellt eine „globale Medienikone“ dar, „die verschiedene Einzelbilder aus unterschiedlichen historischen Situationen [...] zu einem Bild einer ganzen Ära vereint.“ 3 Mit dem Historiker Pierre Nora kann die Atombombe respektive deren mediale Repräsentation in Form des Bombenpilzes deshalb als Gedächtnisort des Kalten Krieges bezeichnet werden. Für Erinnerungsorte sind laut Nora insbesondere drei Merkmale charakteristisch: Sie wirken – erstens – identitätsbildend für Kollektive, sie unterliegen – zweitens – einem steten Bedeutungswandel, und sie referieren – drittens – als

2

Vgl. Ilona Stölken-Fitschen, Der verspätete Schock – Hiroshima und der Beginn des atomaren Zeitalters, in: Michael Salewski/Dies. (Hg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 139-155, hier S. 146-150.

3

Gerhard Paul, „Mushroom Clouds“. Entstehung, Struktur und Funktion einer Medienikone des 20. Jahrhunderts im interkulturellen Vergleich, in: Ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 243-264, hier S. 243.

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Zeichen immer auf sich selber.4 Erinnerungsorte bilden demnach leere Signifikanten, weil sie semantisch unterdeterminiert sind. Das macht sie nicht nur anschließbar für verschiedene Interpretationen, sondern ermöglicht auch Übertragungen in ganz unterschiedliche Kontexte. Für die Atombombe als Erinnerungsort des Kalten Krieges bedeutet dies, dass unterschiedliche Akteure und Gruppierungen in verschiedenen Milieus und Regionen dieser Welt mit der Bombe je spezifische Deutungen und Erinnerungen verbanden (bzw. verbinden), die sich indessen gegenseitig überlagern, untereinander zirkulieren und im Verlaufe der Zeit auch verändern konnten. Insofern stellt die Atombombe gleichzeitig einen globalen und transnationalen, aber eben auch einen regionalen und lokalen Erinnerungsort dar. Als spezifisch für Europa lässt sich konstatieren, dass in dieser Region nie eine Atombombe detonierte. Europäerinnen und Europäer erlebten Atomexplosionen also primär als medial vermittelte Ereignisse – verbreitet hauptsächlich über Filme und Fotografien, abgedruckt auf Plakaten, Postkarten und Magazincovers. Die meisten dieser Repräsentationen der Bombe zeigten die Atompilzwolke. Gerhard Paul hat diesbezüglich argumentiert, der hegemoniale Blick auf die Bombe als pilzförmige Wolke sei einer strategischen Ikonisierung geschuldet, die darauf abziele, die Schrecken und die Zerstörungskraft der Atombombe zu dekontextualisieren. So erscheine der Atompilz letztlich als geschichtsloses Zeichen, und es sei gerade diese Unbestimmtheit, in welcher die vielseitige Verwendbarkeit und Popularität dieser medialen Ikone begründet liege.5

4

Vgl. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte, in: Ders., Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998.

5

Paul, „Mushroom Clouds“, S. 248.

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FURCHT UND EHRFURCHT VOR DER BOMBE Die populäre Verbreitung von Atombildern weckte und kanalisierte unterschiedliche Emotionen und war insofern immer auch mit (angenommenen) sozialpsychologischen Wirkungen verbunden. Schon früh hat der Wissenschaftshistoriker Spencer R. Weart die These formuliert, die Atomenergie evoziere in erster Linie Bilder, welche, auf archaische Symbole rekurrierend, den Weg von Gesellschaft und Individuum versinnbildlichen würden, der durch Zerstörung zur Wiedergeburt führe. Dieses wirkmächtige symbolische Konzept fasste Weart im Begriff der Transmutation. Dem Symbolischen der Transmutation sei – so Weart – eine bipolare Struktur inhärent, die sowohl hoffnungs- als auch angstvolle Bilder umfasse.6 In einer Schilderung des USamerikanischen Physikers Kenneth Bainbridge gelangt dies prägnant zum Ausdruck. Als Leiter der sogenannten Trinity-Tests verfolgte Bainbridge die Zündung der ersten Atombombe der Welt in der Wüste von Nevada am 16. Juli 1945 live mit. Die Detonation der Bombe sei – wie Bainbridge festhielt – zugleich „eine widerliche und Ehrfurcht gebietende Vorführung“ gewesen.7 Das konstitutive Zusammenspiel von Furcht und Erhebung bei der Wahrnehmung des Nuklearen hat auch der Anthropologe Joseph P. Masco betont. Durch die Technologie und das Experimentalsystem der Atombombe wurden laut Masco nicht nur physische Gefahren und atomare Ängste erfahrbar, sondern auch Gefühle des Genusses und der Erhabenheit. Masco schreibt der Bombe damit auch eine affektive technoästhetische Kraft zu. 8 Die Bombe vermochte folglich auch eine Faszination, wenn nicht gar eine „Sehn-

6

Vgl. Spencer R. Weart, Nuclear Fear. A History of Images, Cambridge, MA/London 1988, hier S. 421-426.

7

Kenneth Bainbridge zit. n. Konstantin von Hammerstein, Wir Hundesöhne, in: Spiegel Geschichte 4 (2015), S. 12-19, hier S. 19.

8

Vgl. Joseph P. Masco, The Nuclear Borderlands. The Manhattan Project in Post-Cold War New Mexico/Princeton/Oxford 2006, hier S. 43-98.

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sucht“ auszulösen, nach dem physischen Erleben ihrer gewaltigen Energie und bisweilen auch nach deren Besitz.9 Dennoch hat sich die historische Forschung bislang hauptsächlich auf die Atomangst konzentriert und Angst damit als die zentrale Emotion des Kalten Krieges benannt.10 Dabei hat der deutsche Historiker Bernd Greiner auf die Funktion von Angst in der politischen Kommunikation hingewiesen und damit die Frage aufgeworfen, wie Ängste ausgedrückt und inszeniert wurden und welche sozialen und kulturellen Bedeutungen ihnen unterschiedliche Gesellschaften während des Kalten Krieges zuschrieben.11 Im Folgenden werden einige wichtige Stationen der Atombombe und der mit dieser assoziierten Bilder und Symbole in einem (west-)europäischen Kontext nachgezeichnet. Damit soll die Bombe als europäischer Erinnerungsort des Kalten Krieges konturiert werden.

VERSPÄTETER BEGINN DES ATOMZEITALTERS Die Atombombenabwürfe auf die beiden japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 gelten gemeinhin als Beginn des sogenannten Atomzeitalters. Das Neuartige an der Bombe – ihre Nuklearität – fand allerdings zunächst nur wenig Beachtung. Im Zentrum der Presseberichte über die atomare Bombardierung Japans standen die ungeheuren Druck- und Hitzewellen, während die von der Atombombe 9

Die Metapher der Sehnsucht nach der Bombe hat der Journalist Matthias Bertsch jüngst in Bezug auf die Pläne zur nuklearen Aufrüstung der Bundeswehr in den 1950er Jahren verwendet. Vgl. Matthias Bertsch, Sehnsucht nach den Dingern, in: Spiegel Geschichte 4 (2015), S. 88-91.

10 Siehe insbesondere: Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009. 11 Vgl. Bernd Greiner, Angst im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick, in: Ders./Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hg.), Angst im Kalten Krieg, S. 7-31, hier S. 18.

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freigesetzte Radioaktivität praktisch nicht thematisiert oder zumindest sehr relativiert wurde. Die von den USA verhängte, bis 1952 geltende Pressezensur sowie das Bestreben der japanischen Regierung, die atomare Katastrophe möglichst schnell vergessen zu lassen und zur Normalität zurückzukehren, erschwerten eine umfassende Information. Dies hatte zur Folge, dass die Medien zu Beginn des Kalten Krieges nur unzulänglich über Strahlenschäden und deren mögliche Spätfolgen berichteten und bisweilen hoffnungsvolle, wenn nicht gar enthusiastische Meldungen über den Wiederaufbau Hiroshimas und das Weiterleben der Überlebenden zirkulierten.12 So konnte die Schweizer Bevölkerung beispielsweise 1947 einem Zeitschriftenartikel entnehmen, es gebe „keine neuen Fälle [von Strahlenkranken, SM], und die alten sterben nicht mehr. Es gibt kein nennenswertes Absinken der Geburtenzahl. [...] Mehr noch, die Ausstrahlungen der Explosion hatten auch Heilwirkungen. Wir kennen zahlreiche Kranke, die vor dem 6. August 1945 an Asthma, an Tuberkulose oder lymphatischer Konstitution litten und geheilt wurden, unfruchtbare Frauen sind normal geworden und haben Kinder geboren.“ 13

Als prägender für die Wahrnehmung der Nuklearität der Bombe erwiesen sich die ersten von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Bikini-Atoll durchgeführten Atombombentests. Zwar lösten die drei 1946 anlässlich der Operation Crossroad gezündeten Versuchsbomben nicht die zugleich erhofften und befürchteten Zerstörungen aus, so dass die Atombombe nur ein Jahr nach Hiroshima einen beträchtlichen Teil

12 Vgl. Stölken-Fitschen, Der verspätete Schock, S. 140-143; Catherine Caufield, Das strahlende Zeitalter. Von der Entdeckung der Röntgenstrahlen bis Tschernobyl, München 1994, S. 87-90. 13 Bernhard Valéry, Hiroshima lebt wieder!, in: Weltwoche 15 (1947), Nr. 706.

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ihres apokalyptischen Vernichtungspotenzials verlor. 14 Anlässlich des ersten Jahrestags der Crossroad-Tests erschienen dann allerdings zahlreiche Presseartikel, die zum ersten Mal nicht auf die Druck- und Hitzewellen, sondern auf die von der Bombe ausgehende Strahlung fokussierten. Dabei gelangte zum Ausdruck, dass kein wirksamer Schutz gegen die bei Atombombenexplosionen freigesetzte Radioaktivität vorhanden war.15 Die durch die Crossroad-Versuche angestoßene Problematisierung von Strahlen schlug sich auch in populärkulturellen Medien wie der Science Fiction-Literatur, Comics und Filmen nieder, wo fortan radioaktive Monster, Freaks und Mutanten das physische und psychische Wohlbefinden der Bevölkerung gefährdeten.16 Die historische Forschung ist sich indessen einig, dass sich die öffentliche Einstellung zur Bombe erst Mitte der 1950er Jahre entscheidend veränderte. Nach der 1953 in der Wüste von Nevada durchgeführten und von verschiedenen Zwischenfällen heimgesuchten vierten Versuchsreihe des US-amerikanischen Atomtestprogramms häuften sich Berichte über Strahlenverletzungen von in Windrichtung des Testgeländes lebenden Menschen und Tieren sowie Befürchtungen über mögliche genetische Schäden. Tatsächlich registrierten die ,Downwinders‘ Ende der 1950er Jahre ein vermehrtes Auftreten von Krankheiten wie Krebs und Leukämie. 17 Insbesondere aber trugen die eingangs erwähnten, seit 1954 hauptsächlich im Pazifik durchgeführten Wasserstoffbombenversuche der USA zu einer (seither nicht mehr abreißenden) öffentlichen Debatte über Strahlengefahren und die problematische Verbreitung von radioaktivem Fallout bei. Die deutsche Historikerin Ilona Stölken-Fitschen hat deshalb von einem „ver-

14 Vgl. Stölken-Fitschen, Der verspätete Schock, S. 143-145; Caufield, Das strahlende Zeitalter, S. 123-138. 15 Vgl. Caufield, Das strahlende Zeitalter, S. 138-142. 16 Vgl. J. Samuel Walker, Permissible Dose. A History of Radiation Protection in the Twentieth Century, Berkeley/Los Angeles/London 2000, S. 18. 17 Vgl. Caufield, Das strahlende Zeitalter, S. 138-169, hier S. 149-154 und S. 158-166.

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späteten Schock“ gesprochen – mit welchem der 1945 verpasste Schock gewissermaßen nachgeholt wurde – und den Beginn des atomaren Zeitalters entsprechend auf ein Jahrzehnt nach Hiroshima datiert.18 Parallel zur verstärkten öffentlichen Sensibilisierung auf Nukleargefahren avancierte die Atombombe bzw. der Atompilz in den 1950er Jahren zunehmend zum globalen Symbol für eine neue Epoche. Ob eine bestimmte Nation oder Bevölkerungsgruppe die Bombe dabei eher mit utopischen oder dystopischen Vorstellungen assoziierte, hing stark von den während des Zweiten Weltkrieges gemachten kollektiven Erfahrungen ab.

GEWALTERFAHRUNGEN UND PROTESTBEWEGUNGEN In mehreren europäischen Staaten formierten sich als Gegenreaktionen auf militärische (Wieder-)Aufrüstungsbestrebungen gegen Ende der 1950er Jahre zivilgesellschaftliche Protestbewegungen. Diese kämpften auf transnationaler Ebene gegen das nukleare Wettrüsten der Großmächte und die von diesen durchgeführten überirdischen Atombombentests sowie – je nach nationalem Kontext – gegen die atomare Bewaffnung der Armee, die Stationierung von Atomwaffen im eigenen Land oder die Anschaffung neuer Wasserstoffbomben.19 „In der Debatte über Atomwaffen trafen“ – wie der Historiker Holger Nehring festgestellt hat – „überall in der westlichen Welt die Kriegs- und Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkrieges, Erwartungen über die Entwick-

18 Vgl. Stölken-Fitschen, Der verspätete Schock, S. 139-155, hier S. 146-150. 19 Für einen Überblick zur Friedensbewegung der 1950er Jahre siehe Benjamin Ziemann, A Quantum of Solace? European Peace Movements during the Cold War and their Elective Affinities, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 351-389; Lawrence S. Wittner, Resisting the Bomb. A History of the World Nuclear Disarmament Movement, 1954-1970, Stanford 1997.

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lung des Kalten Kriegs und Zukunftshoffnungen zusammen.“ 20 Diese Erfahrungen aus der Vergangenheit und die Vorstellungen über die Zukunft wiesen dabei nicht nur gemeinsame transnationale Elemente, sondern auch spezifische nationale Bezugspunkte auf. So bezogen sich die Atomwaffenproteste sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Großbritannien zunächst stärker auf den europäischen Bombenkrieg denn auf das atomare Bombardement Japans. Erst ab 1960 avancierte Hiroshima in beiden Ländern zum zentralen Referenzpunkt für einen drohenden Atomkrieg – Holger Nehring hat dies als Anzeichen für ein Ankommen in der Nachkriegszeit gedeutet. Miteinander verbunden versinnbildlichten Dresden, Auschwitz und Hiroshima nun in beiden Ländern die dominante Genealogie des Massentodes. Doch während die bundesdeutsche Protestbewegung Deutschland als Austragungsort eines künftigen Atomkrieges imaginierte und sich somit vor einer nicht enden wollenden Spur von Gewalterfahrungen seit dem Ersten Weltkrieg fürchtete, widerspiegelten sich in den Atomängsten der britischen Bewegung weniger britische Weltkriegserfahrungen als vielmehr Vorstellungen über Leid und Katastrophen, die anderen Bevölkerungen schon widerfahren waren. 21 Der Historiker Michael Geyer hat diesbezüglich argumentiert, dass die Deutschen „ein unheimliches Wissen von dem [hatten], was totale Vernichtung bedeutete. Und das war es, was sie erwarteten, wenn sie von Atomwaffen sprachen.“22 „Nicht zufällig“ – so Geyer weiter –

20 Holger Nehring, Angst, Gewalterfahrungen und das Ende des Pazifismus. Die britischen und westdeutschen Proteste gegen Atomwaffen, 1957-1964, in: Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hg.), Angst im Kalten Krieg, S. 436-464, hier S. 440. 21 Vgl. Nehring, Angst, Gewalterfahrungen und das Ende des Pazifismus, hier S. 440-450. 22 Michael Geyer, Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst. Die westdeutsche Opposition gegen Wiederbewaffnung und Kernwaffen, in: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 267-318, hier S. 314.

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„kämpften die Deutschen ,gegen den Atomtod‘ und nicht, wie die Briten, ,für nukleare Abrüstung‘.“23 Demgegenüber spielten vergangene Gewalterfahrungen und insbesondere der Zweite Weltkrieg als Bezugspunkt in der schweizerischen Antiatombewegung praktisch keine Rolle. Zusammen mit der Anrufung des humanitären Erbes der Schweiz wurde vielmehr gerade die Absenz von Kriegserfahrungen als Verpflichtung genommen, sich gegen die nukleare Aufrüstung einzusetzen.24 Das Fehlen eigener Gewalterfahrungen führte dazu, dass die Referenz auf Hiroshima von Anfang an im Zentrum der Atomkriegsszenarien stand.25 Insgesamt ging es indessen auch in der Schweizer Bewegung darum, die eigene Nation als Teil einer bestehenden globalen Schicksalsgemeinschaft zu imaginieren.

ATOMPILZE UND KULTUREN DES KALTEN KRIEGES Die visuellen Repräsentationen, die europäische Protestbewegungen im Kampf gegen die Bombe einsetzten, zeigten also zwar zunächst eher zerbombte Städte denn Bombenpilze.26 Dennoch avancierte der Atompilz auch hier zu einem wirkmächtigen Symbol politischer Auseinandersetzungen. In Europa, wo unzählige Nuklearwaffen stationiert waren, wurde die Atompilzwolke mit realen Kriegsgefahren assoziiert sowie mit Erfahrungen und Bildern des Bombenkrieges verknüpft. „Im Europa des Kalten Krieges“ – so Gerhard Paul – „blieben die

23 Ebd., S. 314. 24 Vgl. Schweizerisches Sozialarchiv: SozArch, 45.5 QS, 1962-1963, Atomwaffen; Biologische Waffen; Chemische Waffen, Abstimmungszeitung der Schweizerischen Bewegung gegen die atomare Aufrüstung: Atomwaffenverbots-Initiative JA, 1962. 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. Nehring, Angst, Gewalterfahrungen und das Ende des Pazifismus, S. 461.

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,Mushroom Clouds‘ Teil einer ,Kultur der Angst‘.“27 Die Protestbewegung in der Bundesrepublik beispielsweise benutzte die Atompilzwolke in ihren Kampagnen zunehmend dazu, um die apokalyptische Atombedrohung zu visualisieren. Die DDR wiederum machte mit dem Atompilz auf offiziellen Plakaten Stimmung gegen die atomare Aufrüstung der NATO und der Bundeswehr.28 Jedoch vollzog sich der Stilisierungsprozess, durch welchen die Atompilzwolke zum prägenden Symbol einer ganzen Ära aufstieg, in Europa schwächer als in den USA.29 In den USA stieg die Atompilzwolke bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Ikone der Populärkultur auf, welche für die Produktwerbung genutzt und über die Comicbuch-, die Musik- und die Filmindustrie weiter popularisiert wurde.30 Eine solch populäre und positive Konnotation war in Europa nicht denkbar. So erachteten etwa Schweizer Werbefachleute die Verwendung des Bombenpilzes für Werbezwecke als „geschmacklos“.31 Der Kommerzialisierungsprozess des Atompilzes in den USA ging mit dessen Transformation zu einem beliebigen, geschichtslosen Zeichen ohne Referenz einher. Atompilz bzw. Atombombe entwickelten sich zu Kitsch.32 Die kollektive Erinnerung Japans an die Bombe unterschied sich sowohl von der europäischen als auch der US-amerikanischen. In Erzählungen von Überlebenden, Zeichnungen und den wenigen Fotografien über die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki spielte die Atompilzwolke nur eine marginale Rolle. Dominant war hier vielmehr der Bombenblitz. Im Japanischen „Pika-don“ genannt symbolisierte dieser

27 Paul, „Mushroom Clouds“, S. 254. 28 Vgl. ebd., S. 256f. 29 Vgl. Paul, „Mushroom Clouds“, S. 254. 30 Vgl. ebd., S. 250-252. 31 Vgl. Kommission „Schweizer Reklame“, in: Schweizer Reklame 8 (1965), S. 411. 32 Vgl. A. Constandina Titus, The Mushroom Cloud as Kitsch, in: Scott C. Zeman/Michael A. Amundson (Hg.), Atomic Culture. How We Learned to Stop Worrying and Love the Bomb, Boulder 2004, S. 101-123.

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für die Überlebenden den nuklearen Holocaust.33 Retrospektiv wurde die US-amerikanische Atomeuphorie als „Atomic Culture“ bezeichnet – die dortige kulturelle Wahrnehmung der Bombe stand also in einem großen Gegensatz zum japanischen ,Pika-don‘ sowie der europäischen ,Kultur der Angst‘.34 Selbstredend gab es in Europa trotz der ,Kultur der Angst‘ nicht nur Gegner, sondern auch Befürworter der Bombe. Diese rekrutierten sich in der Bundesrepublik Deutschland – wie Michael Geyer gezeigt hat – wesentlich aus einer neuen Mittelschicht. An den technischen Fortschritt glaubend und nach materiellem Wohlstand strebend, hatte der aufstrebende Mittelstand zunehmend Vertrauen in die USA und deren Politik der Sicherheit durch Abschreckung.35 Auch zahlreiche Regierungsvertreter aus europäischen Ländern, die sich – wie etwa die Bundesrepublik Deutschland oder die Schweiz – nicht im Besitz der Atombombe befanden, hätten für ihr Verteidigungsdispositiv nur allzu gerne über eigene Atomwaffen verfügt.36 Militärstrategen und Zivilschutzexperten wiederum waren bestrebt, einen künftigen Atomkrieg möglichst realitätsgetreu vorzubereiten. „Neidisch gedachten“ – wie ein bundesdeutsches Nachrichtenmagazin berichtete – „die Ausbildungsexperten im Bonner Verteidigungsministerium [...] ihrer USWaffenbrüder, die Versuchsdetonationen in der Nevada-Wüste für

33 Vgl. Paul, „Mushroom Clouds“, S. 259-261. 34 Vgl. ebd., S. 261. 35 Vgl. Geyer, Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst, S. 308. 36 Zu den Plänen für eine atomare Aufrüstung der Bundeswehr siehe jüngst: Tilman Hanel, Die Bombe als Option. Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963, Essen 2015. Für die Schweiz siehe: Dominique Benjamin Metzler, Die Option einer Nuklearbewaffnung für die Schweizer Armee 1945-1969, in: Studien und Quellen. Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs 23 (1997), S. 121-169.

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Truppenübungen ausnutzen konnten.“37 Im Gegensatz dazu mussten die Soldaten der Bundeswehr – so das Nachrichtenmagazin weiter – „auf das Kommando ,Atomblitz‘ ihre Phantasie anstrengen“.38 Um die technoästhetische Kraft der Bombe auch für die Bundeswehrtruppen erfahrbar zu machen, war somit Kreativität gefragt. Für die angestrebte „Hiroshima-Illusion“ wurden schließlich Atombombenattrappen gebaut. Die „Ersatz-Bombe“ sollte der echten Atombombe vor allem optisch gleichen, weshalb sich die Bemühungen der „MilitärFeuerwerker“ auf die Reproduktion des Atompilzes konzentrierten.39 Die Bundeswehr war indessen nicht die einzige europäische Armee, die mit vorgetäuschten Atombomben den nuklearen Ernstfall probte. Selbst in der Schweizer Armee gelangten bei Militärübungen Atombombenattrappen zum Einsatz.40 Nach 1963 verschwanden die Atombombe und ihre visuellen Repräsentationen – so auch die Atompilzwolke – zwischenzeitlich aus der medialen Öffentlichkeit. Zum einen führte das zwischen den USA, der UdSSR und Großbritannien abgeschlossene Teststoppabkommen für oberirdische Atomwaffenversuche dazu, dass die Fallout-Problematik weltweit an politischer Brisanz und medialer Aufmerksamkeit verlor. 41 Zum anderen trugen die einsetzende Entspannungspolitik und die sich durchsetzende Konsumgesellschaft dazu bei, dass die Atom- und

37 Atomkrieg – Verbrannte Finger – Bundeswehr, in: Der Spiegel 20 vom 9.5.1966, S. 56. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Vgl. dazu verschiedene Dokumente im Schweizerischen Bundesarchiv in: CH-BAR#E5540D#1967/106#102*, Az. 33, Atomwaffe A-Dienst, 19541957. 41 Vgl. Caufield, Das strahlende Zeitalter, S. 169-183, hier S. 176-183; Johannes Abele, „Wachhund des Atomzeitalters“. Geigerzähler in der Geschichte des Strahlenschutzes, München 2002, S. 18.

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Kriegsängste europäischer Bevölkerungen schwanden.42 In den USA bildeten Atompilzwolken fortan in erster Linie Objekte in Pop-ArtKunstwerken und Filmen.43 Mit der erneuten Zunahme der Spannungen zwischen Ost und West ab 1979 – dem Zweiten Kalten Krieg – sowie dem NATO-Doppelbeschluss und der Stationierung von nuklear bestückten Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland, Italien und Großbritannien zu Beginn der 1980er Jahre kehrte die atomare Bedrohung mit einem Paukenschlag in den öffentlichen Diskurs europäischer Gesellschaften zurück. Damit verbunden war auch ein Comeback von Atombombe bzw. Atompilzwolke als transnationalem visuellem Bezugspunkt einer sich neu bildenden gesamteuropäischen und transatlantischen Friedensbewegung.44 Im Unterschied zu den Atomwaffenprotesten der 1950er Jahre nahm die Friedensbewegung der 1980er Jahre weniger stark auf direkte Kriegserfahrungen Bezug. 45 Wie die Historikerin Susanne Schregel herausgearbeitet hat, rückten – als Folge einer seit der Mitte der 1970er Jahre zunehmend positiv bewerteten Emotionalität und Subjektivität – vielmehr die bewusste Artikulation und Inszenierung von Emotionen ins Zentrum des Protests. Die Bewegung verstand die Äußerung von Emotionen und hier insbesondere diejenige von Angst dabei als notwendigen Gegenpol zur berechnenden Rationalität der Atomwaffenbefürworter. Ziel war es, Gefühle und Verstand zu verbinden. „Auf diese Weise sollte“ – so Schregel – „ein veränderter Modus des Politischen entwickelt werden, in welchem aus der konstatierten Verkommenheit oder systemischen

42 Vgl. Nehring, Angst, Gewalterfahrungen und das Ende des Pazifismus, S. 464. 43 Vgl. Paul, „Mushroom Clouds“, S. 253. 44 Vgl. ebd., S. 257. Für einen Überblick über die Friedensbewegung der 1980er Jahre siehe: Ziemann, A Quantum of Solace?; Lawrence S. Wittner, Toward Nuclear Abolition. A History of the World Nuclear Disarmament Movement, 1971 to the Present, Stanford 2003. 45 Vgl. Nehring, Angst, Gewalterfahrungen und das Ende des Pazifismus, S. 446.

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Fehlentwicklung ein politisch-sozialer Neuanfang möglich werden würde.“46 Zusätzlich zur Friedensbewegung entfachten insbesondere populäre Darstellungen imaginierter atomarer Apokalypsen, wie sie beispielsweise der US-amerikanische TV-Film The Day After zeigte, weltweit neue Atomängste. Letztere schürten starke Zweifel an der Wirksamkeit und am Sinn von Zivilschutzmaßnahmen und Verteidigungsdispositiven. So erkannte im Mai 1983 in der Schweiz ein besorgter Bundesrat „[e]ine ausgesprochene Informationslücke [...] hinsichtlich der Problematik des Weiterlebens im Falle einer Verseuchung durch radioaktiven Ausfall [...]. Das Fehlen allgemein verständlicher, sachlich richtiger [...] Informationen auf diesem Gebiet führt zur Verunsicherung der Öffentlichkeit. Damit steht der Weg offen für Spekulationen und Schlagworte wie zum Beispiel ,Die Lebenden werden die Toten beneiden‘, welche sich mit der Zielsetzung unserer Sicherheitspolitik nicht vereinbaren lassen und welche den Sinn der Armee und des Zivilschutzes in Frage stellen.“47

Insgesamt teilten Friedensbewegte Anfang der 1980er Jahre europaweit die Überzeugung, dass ein Atomkrieg zwar vielleicht kurzfristig überlebbar, ein gesellschaftliches Weiterleben nach einem Nuklearschlag auf lange Sicht jedoch kaum möglich wäre. Bis zur Mitte der 1980er Jahre waren Atombombe bzw. Atompilz in Europa wesentlich an eine ,Kultur der Angst‘ geknüpft. Erst mit dem Ende des Kalten Krieges büßten diese Symbole ihr Bedrohungspoten-

46 Susanne Schregel, Konjunktur der Angst. „Politik der Subjektivität“ und „neue Friedensbewegung“, in: Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hg.), Angst im Kalten Krieg, S. 495-520, hier S. 504f. 47 Schweizerisches Bundesarchiv: CH-BAR#E5680(C)#1999/14#153, Az. 462.3, Studie Weiterleben; Diverse Schreiben inkl. Protokolle und Aktennotizen aus Sitzungen, 1983, Information der Öffentlichkeit über die Problematik einer mittel- und langfristigen Verseuchung durch radioaktiven Ausfall oder durch sesshafte chemische Kampfstoffe [ohne Datum].

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zial ein.48 Wenngleich sich in der Atombombe als europäischem Erinnerungsort vordringlich Atomängste verdichteten, erweist sich die kollektive Wahrnehmung der Bombe letztlich als vielschichtiger und komplexer. So, wie es in den USA neben der ,Atomic Culture‘ eben auch ,nuclear fear‘ gab, existierten in Europa mitunter ebenfalls befürwortende Haltungen zur Atombombe. Die atomare Abschreckung und die permanente Vorbereitung auf einen künftigen Nuklearkrieg bilden nur zwei Beispiele für Konzepte, an deren Wirksamkeit längst nicht nur Politiker, Militärangehörige und Zivilschutzfachleute glaubten. Hier spielte das Imaginäre des Kalten Krieges, das sich bisweilen auch in der eingangs erwähnten Faszinationskraft der Bombe äußerte, eine wesentliche Rolle.49 Populäre Imaginationen ebneten auch den Weg des Atompilzes zur charakteristischen Ikone der Epoche des Kalten Krieges. Nach dem Ende der oberirdischen Versuchsexplosionen 1963 entstanden praktisch keine neuen Fotografie- und Filmaufnahmen von Atomexplosionen mehr. Dass sich die Atompilzwolke trotzdem als globale Medienikone etablieren konnte, ist also nicht auf ständig neue Bilder, sondern vielmehr auf die anhaltende mediale Variation und Verbreitung des immer gleichen Motivs zurückzuführen.50 Dabei blieb – wie das Ausgangsbild der Bravo-Explosion verdeutlicht – die Ambivalenz von Furcht und Ehrfurcht vor der Bombe im Motiv der Atompilzwolke stets präsent.

48 Vgl. Paul, „Mushroom Clouds“, S. 258. 49 Zum Imaginären des Kalten Krieges siehe jüngst: Matthew Grant/Benjamin Ziemann (Hg.), Understanding the Imaginary War. Culture, Thought and Nuclear Conflict, 1945-90, Manchester 2016; David Eugster/Sibylle Marti (Hg.), Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa, Essen 2015; Patrick Bernhard/Holger Nehring (Hg.), Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945, Essen 2014. 50 Vgl. Paul, „Mushroom Clouds“, S. 244.

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Danksagung

Ganz herzlich danken die Herausgeberinnen allen Autorinnen und Autoren, die ihren Erinnerungsort für den vorliegenden Sammelband verfasst haben. Der Band versammelt Beiträge von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Arbeitsbereichs Geschichte der Europäischen Moderne der FernUniversität in Hagen. Ein besonderer Dank gebührt Arndt Neumann für die zahlreichen hilfreichen Anregungen bei der Überarbeitung von Texten. Ebenso sei Paula Stöckmann und Charlotte Weber gedankt, die mit technischem Sachverstand und kreativen Ideen die Produktion dieser Schrift erst möglich gemacht haben. Des Weiteren sei dem Verlag transcript in Bielefeld für die kompetente und freundliche Begleitung des Projekts gedankt sowie der FernUniversität in Hagen, die dieses Projekt finanziell gefördert hat. Hagen im September 2019 Alexandra Przyrembel und Claudia Scheel

Geschichtswissenschaft Reinhard Bernbeck

Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8

Gertrude Cepl-Kaufmann

1919 – Zeit der Utopien Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres 2018, 382 S., Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4654-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4654-6

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Geschichtswissenschaft Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande, Ulrich Rosar, Jürgen Wiener (Hg.)

Die Bonner Republik 1945–1963 – Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära Geschichte – Forschung – Diskurs 2018, 408 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4218-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4218-0

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Nele Maya Fahnenbruck, Johanna Meyer-Lenz (Hg.)

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