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German Pages [224] Year 1992
NATION NATIONALISMUS POSTNATION Beiträge zur Identitätsfindung der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert
NATION NATIONALISMUS POSTNATION Beiträge zur Identitätsfindung der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert
Herausgegeben von Harm Klueting
1992 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung des Rektors der Universität zu Köln und des „Vereins der Freunde und Förderer der Universität zu Köln e. V."
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Nation - Nationalismus - Postnation: Beiträge zur Identitätsfindung der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert / hrsg. von Harm Klueting. - Köln; Weimar; W i e n ; Böhlau, 1992 ISBN 3-412-10091-9 NE: Klueting, Harm [Hrsg.]
Copyright © 1992 by Böhlau Verlag G m b H & Cie, Köln und Weimar Alle Rechte vorbehalten Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung mechanischer, elektronischer und anderer Systeme in irgendeiner Weise zu verarbeiten und zu verbreiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung - auch von Teilen des Werkes - auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der tontechnischen Wiedergabe, des Vortrage, der Funk- und Fernsehsendung, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, der Übersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung. Printed in Germany ISBN 3-412-10091-9
Leo Haupts zum 65. Geburtstag von Kollegen und Schülern gewidmet
VORWORT
In der Bundesrepublik der achtziger Jahre wurde unter Historikern ebenso wie in der intellektuellen Öffentlichkeit, in den Medien und im politischen Raum viel über die nationale Identität der Deutschen diskutiert. Im Mittelpunkt stand dabei die Alternative einer über das Bundesdeutsche hinausgehenden, den anderen deutschen Staat einbeziehenden nationalen Identität oder einer vom Nationalen absehenden westdeutschen, am Ende im (West-)Europäischen aufgehenden Identität, während von Politikern, und zwar eher solchen konservativer oder christdemokratischer als liberaler oder sozialdemokratischer Richtung, generell der Mangel an nationaler Identität beklagt wurde. In diesem Zusammenhang stand auch die Neubewertung von Mehrstaatlichkeit und Einheitsstaatlichkeit in der deutschen Geschichte. Von der von den meisten inzwischen als endgültig empfundenen Zweistaatlichkeit der achtziger Jahre aus betrachtet erschien Mehrstaatlichkeit als Normalfall der deutschen Geschichte und Einheits- oder Nationalstaatlichkeit als ein auf die 74 Jahre von 1871 bis 1945 beschränkter, überdies mit Hypotheken belasteter Sonderfall - noch dazu mit katastrophalem Ausgang. So kam es zu einer positiven Neubewertung des Deutschen Bundes, die sich in den großen Darstellungen der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert von Thomas Nipperdey (1983) und Heinrich Lutz (1985) ebenso findet wie in Einzelstudien dieser Jahre, etwa von Wolf D. Gruner. Ein ferner Abglanz der staatenbündischen Lösung von 1815 schimmerte noch einmal in den deutsch-deutschen Konföderationsplänen des Bundeskanzlers Kohl und des vorletzten DDR-Ministerpräsidenten Modrow vom Spätherbst 1989 durch, bevor das Jahr 1990 mit der deutschen Einheit das Paradigma von 1815 wieder hinter das Paradigma von 1871 zurücktreten ließ. Doch war das zwei Jahre zuvor, 1988, noch ganz unabsehbar. Damals galt, was Martin Walser in seiner aufsehenerregenden Münchener Rede vom 30. Oktober 1988 anzumerken sich nicht scheute: "Heute haben sich zumindest die Wortführer - und zwar die hellsten, die gescheitesten - abgefunden mit dem Strafprodukt Teilung". Diese Debatten der achtziger Jahre scheinen heute, nach der "Revolution in Europa" (Ralf Dahrendorf), in nebulöse Ferne entrückt. Dennoch ist im Vorwort eines Bandes daran zu erinnern, der dem Begriff "Nation" im Titel führt und im Jahre 1992 "Beiträge zur Identitätsfindung der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert" verspricht. Die ersten Überlegungen zur Herausgabe dieses Bandes lagen im Mai 1990 und hatten keinen Bezug auf die damalige Tagesaktualität. Einige der hier vereinigten zwölf Aufsätze gehen erkennbar auf Forschungen der Zeit vor 1989 zurück. Dennoch stellt der Sammelband als ganzes ein Produkt der - wie man in der ehemaligen DDR sagt - Nachwendezeit dar, in der das Identitätsproblem nicht mehr im Stil der achtziger Jahre zu erörtern ist. Es ist hier auch nicht mehr die Rede von "der Identität" der Deutschen, sondern von Identitätsfindung und von vielen Identitäten. So geht es im Beitrag von Klaus Pabst um die nationale Identität im niederländischen Limburg, jener Grenzregion, die von 1839 bis 1866 zum Deutschen Bund gehörte, während Manfred Alexander nach Phasen der Identitätsfindung der Deutschen in der
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Vorwort
Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit fragt. Ganz andere Schichten des Identitätsproblems werden im Aufsatz von Elmar Gasten angesprochen, bei dem es um die Identität als katholischer Christ im nationalsozialistischen Staat geht. Dasselbe gilt für die Beiträge von Dieter Düding, Jost Dülffer, Herbert Hömig und Harm Klueting. Hingegen steht hinter Peter Burians Thema "Österreich und der Völkerbund" auch das Problem des Verhältnisses zwischen Österreich und Deutschland und damit wieder die Frage der nationalen Identität, um die es auch, wenn auch in ganz anderer Weise, in dem Aufsatz von Peter Alter über die Bewußtseinslage der Deutschen nach 1945 geht. In Anlehnung an Formulierungen dieser Studie ist im Titel von "Postnation" die Rede. Gerhard Brunns Aufsatz "Berlin - Zwischen Metropole und kleinstädtischen Milieus" verdient in einer Zeit besondere Beachtung, in der sich die Deutschen anschicken, die alte Reichshauptstadt als Bundeshauptstadt wieder in die nationalstaatliche Hauptstadtfunktion einzusetzen, wobei viele für Berlin zugleich eine Rolle als Metropole und Ranggleichheit mit London oder Paris erhoffen. Zur Berlin-Krise 1958-1963 zurück führt Reiner Marcowitz mit seiner Studie über nationale Stereotypen in der Außenpolitik, während Winfried Schumacher die Konzeptionen des Reichskanzlers Prinz Max von Baden in den letzten Tagen der Monarchie erörtert. Es war von Anfang beabsichtigt, diesen Sammelband dem Kollegen und Lehrer Professor Dr. Leo Haupts zum 65. Geburtstag am 15. März 1992 zu widmen. So erklärt sich die Auswahl der Autoren - acht Professoren und ein Akademischer Oberrat des Historischen Seminars der Universität zu Köln und drei junge Historiker, von denen einer bei Leo Haupts promoviert hat, während die beiden anderen noch mit dem Abschluß ihrer von ihm angeregten Dissertationen beschäftigt sind. Der Dank für das Zustandekommen dieses Sammelbandes gilt aber nicht nur den Autoren, die sich zur Mitarbeit bereitfanden, sondern auch Frau Dorothee Rheker und Herrn Stefan Wunsch, beide Studenten von Leo Haupts, die in unermüdlichem Einsatz den gesamten Satz hergestellt haben. Dabei wurden sie von Ruth Hohlbein und Rolf Kowitz unterstützt. Dank gebührt schließlich dem Böhlau-Verlag Köln für die Aufnahme dieses Bandes in sein Verlagsprogramm, insbesondere dem Verlagsleiter Herrn Dr. Diethelm Krull, dem früheren Lektor Dr. Andreas Selling und seiner Nachfolgerin, Frau Julia Kunisch, Μ. A.
Emory University, Atlanta/Georgia (USA), im Januar 1992
Harm Klueting
INHALT: Vorwort
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Harm Klueting Frühliberalismus und Konstitutionalismus am Rhein und in Westfalen: Arnold Mallinckrodts und Johann Paul Brewers Beiträge zur Verfassungsdiskussion in den preußischen Westprovinzen (1814-1820)
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Klaus Pabst Loyalitätsprobleme einer Grenzbevölkerung. Das Beispiel NiederländischLimburgs im 19. und 20. Jahrhundert
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Jost Dülffer Bismarck und das Problem des europäischen Friedens
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Dieter Düding Antisemitismus als Parteidoktrin. Die ersten antisemitischen Parteien in Deutschland (1879-1894)
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Winfried Schumacher Die innen- und außenpolitischen Vorstellungen des Prinzen Max v. Baden und ihre Umsetzung in seiner Zeit als Reichskanzler (3. 10. - 9. 11. 1918)
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Gerhard Brunn Berlin - Zwischen Metropole und kleinstädtischen Milieus
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Peter Burian Österreich und der Völkerbund
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Manfred Alexander Phasen der Identitatsfindung der Deutschen in der Tschechoslowakei, 1918-1945
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Elmar Gasten Zum Verhältnis Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Das Beispiel Aachen
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Herbert Hömig Geteilte Freiheit - Zur Menschenrechtsfrage in Deutschland
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Peter Alter Der eilige Abschied von der Nation. Zur Bewußtseinslage der Deutschen nach 1945
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Reiner Marcowitz Charles de Gaulle und die Westdeutschen in der Berlin-Krise 1958-1963. Mitarbeiter Über die Wirkmächtigkeit eines nationalen Stereotyps auf die operative Außenpolitik
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FRÜHLIBERALISMUS UND KONSTITUTIONALISMUS AM RHEIN UND IN WESTFALEN: ARNOLD MALLINCKRODTS UND JOHANN PAUL BREWERS BEITRÄGE ZUR VERFASSUNGSDISKUSSION IN DEN PREUSSISCHEN WESTPROVINZEN (1814-1820) von Harm
Klueting
Die letzten Jahre vor der Wiedervereinigung Deutschlands, in denen die Mehrstaatlichkeit als "Normalfall" der deutschen Geschichte und eine nationalstaatliche Lösung als Sonderfall zu erscheinen begannen, ließen das Paradigma des Bismarckreiches immer mehr zurücktreten. Stattdessen gewann der Deutsche Bund wachsende Beachtung, obgleich der 1815 geschaffene deutsche Staatenbund bis dahin nicht nur Gegenstand des Spottes und der Ablehnung nationalstaatlich oder nationalistisch orientierter Kräfte gewesen war, sondern als "Gehäuse der Reaktion" auch keinen Anspruch auf Identifikation seitens der Liberalen und Demokraten aller Schattierungen zu erlangen vermocht hatte. Zu der Neubesinnung auf den Deutschen Bund während der späten Jahre der alten Bundesrepublik hat Wolf D. Gruner beigetragen,1 der 1985 bemerkte: "Die Bundesakte von 1815 eröffnete 'alle' Möglichkeiten für eine Fortentwicklung des politischen Systems im Deutschen Bund und in seinen Mitgliedstaaten über eine konstitutionelle zu einer demokratisch-parlamentarischen Verfassungs- und Gesellschaftsordnung".2 Tatsächlich bestanden in den ersten Jahren nach 1815 solche Möglichkeiten, bevor die Karlsbader Beschlüsse von 1819 die reaktionäre Wende brachten. Teilweise waren diese Tendenzen in der Bundesakte selbst angelegt. Artikel XIII der Deutschen Bundesakte (DBA) vom 8. Juni 1815 lautete: "In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung statt finden".3 Wolfgang Mager hat die Ansicht vertreten, daß diesem Artikel "restaurative Intentionen" zugrunde lagen. Preußen und Österreich hätten auf dem Wiener Kongreß versucht, den Mittel- und Kleinstaaten Landstände aufzuzwingen, um deren Staatlichkeit einzuschränken und ihr Protektorat über Deutschland zu errichten: "Die Landstände waren in einem solchen System nicht modern im Sinne
') W. D. Gruner: Der Deutsche Bund. Modell für eine Zwischenlösung? In: Politik und Kultur 9 (1982), 22-42; Ders.: Die deutschen Einzelstaaten und der Deutsche Bund. Zum Problem der "nationalen" Integration in der Frühgeschichte des Deutschen Bundes am Beispiel Bayerns und der süddeutschen Staaten. In: Festschrift Max Spindler. Bd. 3. München 1984, 19-36. 2 ) Ders.: Die deutsche Frage. Ein Problem der europäischen Geschichte seit 1800. München 1985, S. 66. Siehe auch T. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983; H. Lutz: Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815-1866. Berlin 1985. 3 ) E. R. Huber (Hg ): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1. Stuttgart 1961, Nr. 29, Zitat S. 78.
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Harm Klueting
des monarchischen Prinzips oder konstitutionell, sondern restaurativ konzipiert".4 Bernd Wunder hat dem widersprochen und gesagt, die Einführung von Landständen habe dem Abschluß einer rechtsstaatlichen Reorganisation des Verhältnisses zwischen Landesherrn und Untertanen dienen sollen: "Diese Ständekonzeption war eine Antwort auf die auf der Volkssouveränität basierenden Forderungen der Französischen Revolution und stellte das innenpolitische Pendant der außenpolitischen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongreß dar".5 Wie auch immer - in den verschiedenen frühliberalen Gruppierungen6 wurde Art. XIII DBA im Sinne einer modernen, nachrevolutionären Repräsentativverfassung mit einem Parlament als Volksvertretung nach dem Muster der "Chambre des d6put£s" der französischen "Charte constitutionelle" von 1814 verstanden.7 Dagegen dachten die antikonstitutionell-reaktionären Gegner solcher Lösungen an die Wiederherstellung der vorrevolutionären Landstände.8 Es war vor allem der Sekretär Metternichs, Friedrich Gentz, der diese Linie publizistisch verfocht.9 Der Auffassung der Liberalen entsprachen die Verfassungsurkunden, die 1814 im Herzogtum Nassau und danach in Bayern, Württemberg, Baden und Hessen (-Darmstadt), aber auch in einer Reihe von Staaten des mittleren und nördlichen Deutschland, eingeführt wurden.10 Hingegen wurden in MecklenburgSchwerin, Mecklenburg-Strelitz und den Freien Städten Hamburg, Bremen, Lübeck und Frankfurt am Main, gemäß dem restaurativ-antikonstitutionellen Ver4
) W. Mager: Das Problem der landständischen Verfassungen auf dem Wiener Kongreß 1814/15. In: HZ 217 (1974), 296-346, Zitat S. 343. 5 ) B. Wunder: Landstände und Rechtsstaat. Zur Entstehung und Verwirklichung des Art. 13 DBA. In: ZHF 5 (1978), 139-185, Zitat S. 141 f. 6 ) F. Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815. München 1951; W. Schiedet (Hg.): Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 9). Göttingen 1983; J. J. Sheehm: Der deutsche Liberalismus von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770-1914. München 1983. 7 ) E.-W. Böckenförde: Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert. In: Oers. (Hg.): Moderne deutsche Verfassungsgeschichte 1815-1914. Köln 1972, 146-170. 8 ) D. Gerhard (Hg.): Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1969; K. Bosl / K. Möckl (Hg.): Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation. Berlin 1977; P. Baumgart (Hg.): Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Berlin-New York 1983; H. Klueting: Las Asambleas territoriales de Alemania. In: Las Cortes de Castilla y L6on. 1188-1988. Bd. 2. Valladolid 1990, 149-170. 9 ) F. v. Gentz: Ueber den Unterschied zwischen der landständischen und repräsentativen Verfassungen. In: C. Th. Welcker (Hg ): Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation. Mannheim 1844. Dasselbe in: L K. Aegidi (Hg.): Aus dem Jahre 1819. Beitrag zur deutschen Geschichte. Hamburg 2 1861, S. 98 ff. 10 ) E. R. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 1. Stuttgart 21975, S. 314-336. Zur Kontinuitätsfrage E. Weis: Kontinuität und Diskontinuität zwischen den Ständen des 18. Jahrhunderts und den friihkonstitutionellen Parlamenten aufgrund der Verfassungen von 1818/1819 in Bayern und Württemberg. In: Parliaments, Estates & Representation 4 (1984), 51-65; R. Vierhaus: Von der altständischen zur Repräsentativverfassung. In: Bosl/Möckl (Anm. 8), 177-194; K. O. v. Aretin: Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714-1818. München 1976; V. Press: Der württembergische Landtag im Zeitalter des Umbruchs 1770-1830. In: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 42 (1983), 256-281. Siehe auch U. Bermbach: Über Landstände. Zur Theorie der Repräsentation im deutschen Vormärz. In: Festschrift Dolf Stemberger. Heidelberg 1968.
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ständnis von Art. XIII DBA, die vorrevolutionären Verfassungsinstitutionen restituiert. Drei deutsche Staaten blieben ganz ohne Konstitution: das Großherzogtum Oldenburg, das Kaisertum Österreich und Preußen. Statt einer Verfassung gab es im Hohenzollernstaat ein Verfassungsversprechen, statt der in Aussicht gestellten gesamtstaatlichen Volksvertretung nach 1823 ständisch gegliederte Provinziallandtage.11 Schon während der preußischen Reformzeit war in verschiedenen Entwürfen von Provinzialständen als Volksvertretung in den Provinzen und von "Reichsständen" für den gesamten preußischen Staat die Rede. Am weitesten ging wohl die Rigaer Denkschrift des Freiherrn Karl vom Altenstein von 1807, der den Gedanken der Repräsentativverfassung vertrat und eine auf gleicher Wahl beruhende "Nationalrepräsentation" vorschlug. Vom 27. Oktober 1810 datiert das erste Verfassungsversprechen Friedrich Wilhelms III., der zusagte, "der Nation", d. h. Preußen, "eine zweckmäßig eingerichtete Repräsentation sowohl in den Provinzen als für das Ganze" geben zu wollen.12 Am 22. Mai 1815 wiederholte der König das Verfassungsversprechen und kündigte eine "Repräsentation des Volkes" an. Diese sollte ihre Grundlage in Provinzialständen haben. "Aus den Provinzialständen wird die Versammlung der Landes-Repräsentanten gewählt, die in Berlin ihren Sitz haben soll". Auch kündigte er die "Ausarbeitung einer Verfassungs-Urkunde" an.13 Ein drittes Verfassungsversprechen war im Finanzgesetz vom 17. Januar 1820 enthalten, doch waren die Verfassungspläne zu dieser Zeit schon gescheitert 14 auch wenn sie nach dem Thronwechsel von 1840 erneut Gegenstand liberaler Forderungen wurden. Aus den Jahren nach 1815 stammen einige Verfassungsdenkschriften verbliebener Reformminister oder von Mitgliedern der hohen Administration, vor allem von Wilhelm von Humboldt und dem Staatsrat Rehdiger. Auch Staatskanzler Hardenberg legte 1819 "Ideen zu einer landständischen Verfassung in Preußen" vor.15 Doch beschränkte sich die Erörterung von Verfassungsplänen nicht auf reformwillige Angehörige von Regierung und hoher Verwaltung. Schon früh gab es in Preußen, besonders in den beiden Westprovinzen Rheinland und Westfalen, eine Verfassungsbewegung, die Verfassungskonzepte entwickelte und in Petitionen, Aufrufen und Adressen die Einlösung des Verfassungsversprechens forderte. Neben altständisch-reaktionären Entwürfen standen liberale Konzepte, ")Ä. Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1797 bis 1848. Stuttgart 1967. 12 ) Huber: Dokumente I (Anm. 3), Nr. 9, Zitat S. 42. 13 ) Ebd.. Nr. 19, Zitat S. 56 f. u ) Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte I (Anm. 10), S. 290-313. Siehe auch H. v. Treitschke: Der erste Verfassungskampf in Preußen. In: Preußische Jahrbücher 29 (1872), 313-360, 409-473; P. Haake: König Friedrich Wilhelm III., Hardenberg und die preußische Verfassungsfrage, Tie. 3 u. 4. In: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 29 (1916), 305-369; 30 (1918), 317-365; Ders.: Der preußische Verfassungskampf vor hundert Jahren. München-Berlin 1921; E. Klein: Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformgesetzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg. Berlin 1965, 166-240; Nipperdey (Anm. 2), S. 274 ff. 15 ) Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte I (Anm. 10), S. 307-310.
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mit denen die rheinisch-westfälische Verfassungsbewegung einen wichtigen Platz in der Geschichte des voimärzlichen Liberalismus in Deutschland einnimmt.16 Im Rheinland setzte die Verfassungsbewegung mit der Aachener Huldigungsfeier vom 15. Mai 1815 ein, mit der die Integration des nördlichen Teils der späteren Rheinprovinz in den preußischen Staat formal vollzogen wurde. Johann Friedrich Benzenberg17 aus Düsseldorf bemängelte das Fehlen gewählter Vertreter der rheinischen Bevölkerung beim Huldigungsakt,18 während einen Tag nach der Huldigung Abgesandte der Kreise Kleve, Krefeld, Düsseldorf, Elberfeld, Köln, Mülheim am Rhein, Eupen und Montjoie dem Obelpräsidenten Johann August Sack eine Adresse mit der Bitte um baldige Verwirklichung des Verfassungsversprechens überreichten.19 Im gleichen Jahr veröffentlichte der Regierungsrat Koppe einen Verfassungsentwurf, in dem er eine ständische Teilung der zu schaffenden Repräsentationsorgane in Bänke ebenso ablehnte wie das Zweikammersystem.20 Doch wurden 1815 auch altständische Forderungen vernehmbar, so mit den "Betrachtungen" des Grafen Edmund von Kesselstadt.21 1816 publizierte Johann Paul Brewer eine Schrift die im Gegensatz zu solchen Vorstellungen die Gleichheit aller vor dem Gesetz betonte und gegen eine ständische Organisationsform der "Nationalrepräsentation" eintrat.22 In Westfalen lagen Stellungnahmen aus den Reihen des Adels, die auf Wiederherstellung der alten Landstände abzielten, schon früher als im Rheinland vor in der Grafschaft Mark bereits im November 1813.23 Aber auch liberale Verfassungsforderungen wurden in Westfalen sehr früh erhoben. Das gilt vor allem für den Dortmunder Arnold Mallinckrodt und seinen "Entwurf einer Landes-Grundverfassung" von 1814,24 dessen Vorwort vom 6. August 1814 datiert. Daran schloß sich eine Verfassungsdebatte in der seit Februar 1814 in Hagen erscheinenden Zeitschrift "Hermann" an, die sich bis 1816 hinzog und hauptsächlich von dem Hagener Handelsschuldirektor Storck und dem Freiherrn Friedrich Alexander von Hövel25 bestritten wurde. Beide Autoren argumentierten für die Bervor16 ) K G Faber: Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der rheinischen Geschichte von 1814 bis 1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik. Wiesbaden 1966, S. 263-303; A. Herrmann: Die Rheinländer und die preußische Verfassungsfrage 1815-23. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niedenfcein 120 (1932), 95-135; W. Steinschulte: Die Verfassungsbewegung in Westfalen und am Niederrhein in den Anfängen der preußischen Herrschaft (1814-1816). In: Jahrbuch des Vereins für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark 46/47 (1933), 1-232. 17 ) J. Heyderhoff: Johann Friedrich Benzenberg, der erste rheinische Liberale. Düsseldorf 1909. 18 ) J. F. Benzenberg: Wünsche und Hoffnungen eines Rheinländers. Paris 1815; Herrmann (Anm. 16), S. 129. 19 ) Ebd., S. 101. 20 ) K. W. Koppe: Stimme eines preußischen Staatsbürgers in den wichtigsten Angelegenheiten dieser Zeit. Köln 1815; Herrmann (Anm. 16), S. 126 f.; Koselleck (Anm. 11), S. 214 (Sonderausgabe 1987). 21 ) Herrmann (Anm. 16), S. 101. 22 ) J. P. Brewer: Was hat uns die jüngst vergangene Zeit gelehrt? Was dürfen wir von der zukünftigen hoffen? Köln 1816. 23 ) Steinschulte (Anm. 16), S. 3. 24 ) Siehe Anm. 58. 25 ) Η Richtering: Friedrich Alexander von Hövel. Lebensbild eines märkischen Adeligen, Verwaltungs-
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rechtigung des Adels als herausragenden politischen Standes. Zeitweise nahm die Debatte Züge einer Pressefehde zwischen dem "Hermann" und dem von Mallinckrodt in Dortmund herausgegebenen "Westfälischen Anzeiger" an.26 1816 veröffentlichte Benzenberg in der Mallinckrodtschen Verlagsbuchhandlung in Dortmund sein Buch "Ueber Verfassung", 27 in dem er sich, stark historisch argumentierend, an das englische Modell anlehnte. Benzenberg forderte das Zweikammersystem und bewegte sich mit seiner Betonung der Rolle von Grundbesitz, Adel und Ständegliederung in eine Zwischenstellung zwischen frühliberalem Konstitutionalismus und altständischem Romantizismus. 28 Auch der Elberfelder Notar Friedrich Karl Schoeler griff weit in die Geschichte und bis auf Tacitus zurück, kam aber in seinem Anfang 1817 veröffentlichten Werk 29 zu ganz anderen Ergebnissen. Er lehnte eine getrennte Vertretung nach Ständen ab und favorisierte das Einkammersystem. 30 Der Kölner Appellationsgerichtsrat Karl Adolf Zum Bach 31 sprach sich gleichfalls gegen ständische Restaurationsversuche und gegen das Zweikammersystem aus.32 Der Höhepunkt der rheinischen Verfassungsbewegung kam 1817 mit der Reise des Ministers von Altenstein nach Westfalen und in die Rheinlande 33 und mit der Reise des Königs in die Westprovinzen. Fünf Städte - Trier (am 1. 8. 1817), Köln (11. 9. 1817), Koblenz (20. 10. 1817), Aachen und Kleve (29. 4. 1818) - nutzten die Gelegenheit, dem Monarchen Petitionen zu überreichen oder nachträglich über den Staatskanzler zuzustellen, in denen um Verwirklichung des Verfassungsversprechens nachgesucht wurde.34 Hinzu kam eine Reihe weiterer Denkschriften und Broschüren, darunter solche von höheren Beamten wie dem Koblenzer Regierungspräsidenten Schmitz-Grollenberg, dem Düsseldorfer Appellationsgerichtsrat Langen oder dem damaligen Präsidenten der Immediat-JustizKommission für die Rheinprovinzen, Christoph Wilhelm Heinrich Sethe.35 Dieser verlangte einen aus direkten Wahlen aller wirtschaftlich selbständigen Staatsbürger hervorgehenden, also nicht aus den Provinziallandtagen beschickten, preußibeamten und Publizisten. In: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 66 (1970), 543. 26 ) Steinschulte (Anm. 16), passim. 27 ) J. F. Benzenberg: Ueber Verfassung. Dortmund 1816. 28 ) Faber (Anm. 16), S. 267 ff.; Herrmann (Anm. 16), S. 129 f. Später entfernte sich Benzenberg noch weiter vom Gedanken der Repräsentativverfassung. 29 ) F. K. Schoeler: Pragmatische Darstellung der altbergischen Grundverfassung mit Urkunden belegt nebst einer Abhandlung über das bergische Postliminium. Bannen 1817. 30 ) Faber (Anm. 16), S. 269 f. 31 ) Κ. A. Zum Bach: Ideen über Recht, Staat, Staatsgewalt, Staatsverfassung und Volksvertretung mit besonderer Beziehung der letzten auf die Preußischen Rhein-Provinzen. 2 Bde. Köln 1817. 32 ) Faber (Anm. 16), S. 270 f. 33 ) A. Stern: Die Preußische Verfassungsfrage im Jahre 1817 und die Rundreise von Altenstein, Klewitz, Beyme. In: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1893), 62-99. 34 ) Druckangaben bei Herrmann (Anm. 16), S. 108, Anm. 33. 35 ) Nicht bis in diese Zeit reicht A. Klein/ J. Bockemühl (Hg ): Weltgeschichte am Rhein erlebt. Erinnerungen des Rheinländers Christoph Wilhelm Heinrich Sethe aus der Zeit des europäischen Umbruchs. Köln 1973
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sehen Reichstag.36 Besondere Bedeutung gewann die - nicht mit der Adresse des Koblenzer Stadtrates vom 20. Oktober 1817 identische37 - "Koblenzer Adresse" von Joseph Görres vom 18. Oktober 1817, die dieser dem Staatskanzler Hardenberg am 12. Januar 1818 auf Schloß Engers bei Neuwied überreichte.38 Der materielle Inhalt war eher dürftig. In gewählten Worten wurde der Beitritt der "treugehorsamsten Einwohner" von Koblenz zu den Adressen der Städte Trier und Köln ausgedrückt und die ebenso unbestimmte wie moderate Forderung "auf die Wiederherstellung der Freiheiten der Landschaft und der uralten wahrhaft deutschen Verfassung" erhoben. Außerdem wurde das unerfüllte Verfassungsversprechen in Erinnerung gebracht und der Wunsch vorgetragen, daß "der Artikel XIII der Bundesacte endlich in Erfüllung komme".39 Aus Görres' Bericht "Die Uebergabe der Adresse der Stadt Coblenz"40 erfahrt man etwas über seine Vorstellungen von der Gliederung der Gesellschaft in den Lehr-, den Wehr- und den Nährstand. Als Teil des Wehrstandes räumte Görres dem Adel eine herausgehobene politische Rolle ein. Wenn seine Berufsstände auch nicht mit den alten Landständen identisch waren, so bleibt doch unklar, wie er sich eine auf diesen Ständen aufgebaute Volksvertretung dachte.41 Eindeutig altständische Vorstellungen standen hinter der vom Freiherm vom Stein inspirierten, von Christian Friedrich Schlosser als Verfasser verantworteten "Adelsdenkschrift", die dem Staatskanzler von bekannten Vertretern des Adels der Länder Jülich, Kleve, Berg und Mark am 26. Februar 1818 in Engers überreicht wurde.42 Hier wurde die rechtliche Fortexistenz der alten Landstände behauptet und die Wiederherstellung der landständischen Institutionen und der Landtage mit ihrem adeligen Übergewicht gefordert, und zwar nicht für die neuen Provinzen, sondern für die alten Territorien, die damit ebenfalls wiederbelebt worden wären. Lediglich zu einigen "zeitgemäßen Abwandlungen" wollte man sich verstehen, so zu einer Erweiterung der Städtekurie um früher nicht vertretene Städte, zu einer unmittelbaren Vertretung der Bauern und zum Verzicht des Adels auf Steuerfreiheit und auf das Monopol auf die Besetzung höherer Verwaltungsstellen.43
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) Herrmann (Anm. 16), S. 70. ) Dazu Faber (Anm. 16), S. 273, Anm. 46. 38 ) J. Görres: Politische Schriften 1817-1822 (Gesammelte Schriften, Bd. 13). Köln 1929, ungez. vor S. 3. 39 ) Ebd. das Zitat. Siehe auch Faber (Anm. 16), S. 275-285; Herrmann (Anm. 16), S. 109-120. 40 ) Görres: Polit. Schriften (Anm. 38), S. 3-34. 41 ) Herrmann (Anm. 16), S. 116-120. 42 ) "Denkschrift die Verfassungs-Verhältnisse der Lande Jülich, Cleve, Berg und Mark betreffend. Überreicht im Namen des ritterschaftlichen Adels dieser Provinzen", o. O. 1818. Weitere Druckorte bei Faber (Anm. 16), S. 296, Anm. 161. 43 ) Ebd., S. 294-302; Herrmann (Anm. 16), S. 120-123. 37
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Von nun an verlagerte sich die rheinische Verfassungsdebatte auf die Kritik an den - tatsächlich oder scheinbar - reaktionären Tendenzen bei Görres und an den eindeutig reaktionären Zielsetzungen der Adelsdenkschrift. Philipp Jakob Rehfues aus Bonn wies 1818 Görres' Ständestaatsideen ebenso zurück wie die Polemik des Berliner Absolutismus-Apologeten Julius von Voß,44 die dieser gegen die rheinischen Verfassungsforderungen richtete.45 In den "Rheinischen Blättern" vom April 1818 wurden, wahrscheinlich von dem Koblenzer Mathias Joseph Grebel, Görres' Vorstellungen als Vorschlag zur Wiederherstellung eines "gemilderten Mittelalters" kritisiert.46 In die gleiche Richtung ging Karl August Vamhagen van Ense, damals preußischer Gesandter in Karlsruhe, der Görres' Ständelehre 1818 als Irrtum bezeichnete. Der Grundzug der modernen Gesellschaft liege in der Gleichheit der Menschen. Art. ΧΙΠ DBA sei im Sinne der Repräsentativverfassung zu verstehen, nicht im Sinne der Wiederherstellung von Adelsprivilegien und Ständeordnungen.47 Als scharfer Kritiker der Adelsdenkschrift und ihrer "thörichtefn] Sehnsucht nach veralteten Formen" erwies sich auch der schon genannte Johann Paul Brewer48 mit einer Broschüre von 1819.49 Hier soll nun die Aufmerksamkeit auf diese Schrift Brewers und vor allem auf die Verfassungsschrift Mallinckrodts gelenkt werden - zwei Beiträgen zur Verfassungsdiskussion in den preußischen Westprovinzen, die in der Literatur bisher kaum Beachtung gefunden haben.50 Arnold Mallinckrodt wurde 1768 in der Reichsstadt Dortmund geboren und entstammte dem sozialen Milieu der Ratsfamilien.51 Er studierte die Rechte in Jena und kehrte nach der Promotion 1788 nach Dortmund zurück, um städtische Ämter zu übernehmen. Nach der Mediatisierung der Reichsstadt diente er der neuen oranischen Herrschaft als Regierungsrat. Beim Übergang Dortmunds an das Großherzogtum Berg trat er als Präfekturrat in dessen Dienste, um 1812 aus der amtlichen Tätigkeit auszuscheiden. Er starb 1825. Bereits seine erste Veröffentlichung beschäftigte sich mit Verfassungsfragen.52 In der bergischen Zeit wandte sich sein Interesse der sog. Bauernbefreiung zu, wozu das bergische Gesetz über die Aufhebung der Leibeigenschaft und der gutsherrlichen Rechte von 1808 Gelegenheit bot. Seit 1811 suchte Mallinckrodt die Bauern in Zeitungsarti44
) J. v. Voß: Sendschreiben eines Brandenburgers an die Bewohner RheinpreuBens, bei Gelegenheit der S. D. dem Fürsten Staatskanzler übergebenen Adresse. Berlin 1818. 45 ) Ph . J. Rehfites: Antwort eines Rheinpreußen auf des Herrn Julius von Vo8 Sendschreiben [...]. Bonn 1818. 46 ) Faber (Anm. 16), S. 289. 47 ) Ebd., S. 290. 4S ) Siehe Anm. 22. 49 ) J. P. Brewer: Urkundliche Widerlegung (Anm. 61), Zitat S. 7. 50 ) Völlig unbekannt ζ. B. bei Koselleck (Anm. 11). 51 ) G. Luntowski: Arnold Mallinckrodt (1768-1825), ein Vertreter des frühen Liberalismus in Westfalen. In: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 73 (1981), 281-299; Ders.: Arnold Mallinckrodt. In: Westfälische Lebensbilder. Bd. 15. Münster 1990, 91-107. 52 ) A. Mallinckrodt: Versuch über die Verfassung der Kaiserlichen und des heiligen römischen Reichs freyen Stadt Dortmund. 2 Bde. Dortmund 1792.
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kein, Flugschriften und Bauemkalendem über ihre Rechte aufzuklären.53 Seit 1793 gab er Periodika heraus, zunächst sein "Magazin von und für Dortmund", 1797 das "Magazin für Westfalen" und von 1798 bis 1809 den "Westfälischen Anzeiger", eine in Westfalen und bis hinauf nach Ostfriesland, aber auch in großen Teilen des Rheinlandes verbreitete Zeitung, deren Auflage 1805 bei knapp 1200 Exemplaren lag.54 Nachdem die Zeitung 1809 aus Zensurgründen aufgegeben worden war, erschien das Blatt erneut ab 1815 - ab 1817 unter dem Titel "Rheinisch-Westfälischer Anzeiger" - bis zum Verbot im Jahre 1818.55 Nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft wandte sich Mallinckrodt in einem größeren Werk der Neuordnung Deutschlands und Europas zu,56 woran seine Verfassungsschrift von 1814 anknüpfte.57 Mallinckrodts "Versuchter Entwurf einer Landes-Grundverfassung für die Staaten Deutschen Stammes",58 der auch in der ihm gewidmeten Literatur nur am Rande erwähnt wird,59 steht im Zeichen der Erwartung einer Verfassung "für Deutschland als Ganzes und für dessen einzelne Staaten", die Mallinckrodt vom "bevorstehenden Wiener Congreß" erhofft (S. 1). In der Einleitung scheint er ein patriarchalisches Fürstenbild mit dem Herrscher als Abbild Gottes zu entfalten, das - auch mit der Beschwörung des eudämonistischen Staatszwecks des Gemeinen Besten - wie eine Reminiszenz an das vorrevolutionäre 18. Jahrhundert klingt: "Die Fürsten sind bestimmt, hier in der Welt, für ihren Staat das Bild Gottes zu repräsentiren; sie müssen denken und handeln wie Er. Sie müssen sich also in das Verhältniß des Vaters zu seinen Kindern stellen" (S. 2). Doch dann erfährt dieser Patriarchalismus eine überraschende Wendung: "Am besten - der Fürst stellt sich hierbey in das Verhältniß des Vaters erwachsener Kinder zu diesen erwachsenen Kindern; anders ist dieses Verhältniß als das des Vaters einer noch unmündigen Kinderfamilie. Jener zieht über wichtige Familienangelegenheiten seine erwachsenen Kinder zu Rathe; so auch der edle Fürst unserer Zeit" (S. 3). Diese Zeit aber sieht Mallinckrodt dadurch gekennzeichnet, daß sich die Völker durch den Kampf gegen Napoleon Mündigkeit erworben haben. So begründet er seine Verfassungsforderung.
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) Ders.: Belehrung des Bauernstandes über die demselben von Sr. Kaiserl. Majestät durch die beiden Verordnungen vom 12. Dez. 1808 und vom 13. Sept. 1811 verliehenen Rechte und dessen Pflichten gegen die bisherigen Hofesherren. Dortmund 1811. Hinzu kamen weitere Schriften zu dieser Thematik. 54 ) Zum Vergleich: Schlözers "Staatsanzeigen" hatten es bei einem ungleich größeren Verbreitungsgebiet auf 4000 Exemplare, die "Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung" auf etwas mehr als 2000 Exemplare gebracht, vgl. Lunlowski (Anm. 51), S. 296. 55 ) G. Sandgathe: Der "Westfälische Anzeiger" und die politischen Strömungen seiner Zeit (1798-1809). Dortmund 1960. 56 ) A. Mallinckrodt: Was thun bey Deutschlands, bey Europas Wiedergeburt? 2 Bde. Dortmund 1814. 57 ) Weitere Schriften verzeichnet bei Sandgathe (Anm. 55), S. 158 f. 58 )A. Mallinckrodt: Versuchter Entwurf einer Landes-Grundverfassung für die Staaten Deutschen Stammes. Leipzig 1814 (Johann Friedrich Gleditsch, 78 S.). 59 ) Luntowski (Anm. 51), S. 298 bzw. 104; Steinschulte (Anm. 16), S. 21 ff.
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Mallinckrodt setzt sich sodann mit dem "Grundprinzip" auseinander, d. h. mit der Souveränität und - im Anschluß an Kant, Montesquieu und Constant?0 mit der Gewaltenteilung. Doch kennt Mallinckrodt "nur eine Gewalt im Staate, werde nun dieselbe von dem ganzen Volke, von mehreren Einzelnen oder von einem geübt" (S. 13) - also die unteilbare Souveränität im Sinne Bodins und in Anlehnung an die klassische aristotelische Staatsformenlehre. Er spricht von "regentlicher Gewalt" (S. 7). "Der Zweck dieser Staatsgewalt ist Staatsverwaltung, und diese äußert sich entweder gesetzgebend oder rechtsprechend oder vollziehend" (S. 13). Montesquieus drei Gewalten erscheinen somit bei Mallinckrodt als drei Zweige der einen und unteilbaren "regentlichen Gewalt". Was folgt ist nicht mehr Theorie, sondern ein auf praktische Verwirklichung angelegter Verfassungsentwurf in zehn Abschnitten mit 52 Paragraphen und einem Grundrechtskatalog in sieben Paragraphen: I(II) II (ΠΙ) i n (IV) IV (V) V(VI) VI (VII) VII (Vni)
vm (ix) ix (X) x(xi) XI (XII)
Die regentliche Gewalt Der Fürst Die Repräsentativ-Collegien (Rechtsstaatlichkeit) Finanzen Kriegswesen Justiz Vollziehung Von den Beamten Allgemeine Bestimmungen zur Erleichterung der öffentlichen Verwaltung Allgemeine bürgerliche Rechte
§§ 1-4 §§ 1-9 §§1-3 §§1-4 §§1-5 §§ 1-12 §§ 1-3 §§ 1-6
§§ 1-6 §§1-7
"Die regentliche Gewalt" oder Souveränität "ruhet auf der geheiligten Person des Fürsten und geht auf dessen Familie nach dem Rechte der Erstgeburt in der Regel in der geraden männlichen Linie" (S. 15). Mallinckrodts Verfassung ist also die Verfassung einer Erbmonarchie. Doch ist der Fürst nicht Inhaber der Souveränität, sondern deren Träger: "Der Regent [...] denkt sich", wie es auch hier wieder mit Assoziationen an den aufgeklärten Absolutismus heißt, "als den ersten Diener des Staats" (S. 14). Dabei sind "Fürst und Staat [...] nur eins, es giebt kein abgesondertes, kein getrenntes Interesse zwischen Regenten und Unterthanen" (S. 14). Der Fürst ist das personale Organ der "regentlichen Gewalt". Im Mittelpunkt des Verfassungsentwurfs stehen die "Repräsentantiv-Collegien", die bei Mallinckrodt in drei Stände oder Bänke geteilt sind: Adel, Bürgerstand und Landsmannsstand (Bauern). Als Sammelbegriff steht "Landstandschaft". Mallinckrodt unterscheidet die Kreisstandschaft und die 60
) L Gall: Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz. Wiesbaden 1963.
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Landstandschaft. "Jene versammelt sich zu den Kreistagen, diese zu den Landtagen" (S. 21). Der Landtag setzt sich aus "gewählten Bevollmächtigten" der Kreistage zusammen, geht also nicht aus direkten Wahlen hervor. Der Landtag kennt nur eine Kammer mit drei Bänken. Das Zweikammersystem mit einem Oberhaus nach dem Muster des britischen "House of Lords" oder der "Chambre des pairs" der französischen "Charte" von 1814 lehnt Mallinckrodt für Deutschland ab, weil es hier zu wenig hohen Adel gebe: "Anders könnte es werden, wenn Deutschland in ein Ganzes unter einem Herrscher völlig in einander schmölze" (S. 22). Den Zugang zur adeligen Bank der Kreistage will er an den Besitz eines Adelsgutes und an den Nachweis von acht adeligen Ahnen (Urgroßeltern) binden. Jedoch soll es beim Besitz mehrerer Adelsgüter keine Stimmenkumulation geben. Adelige ohne entsprechenden Gutsbesitz gehören je nach Wohnort dem Bürgeroder Landmannsstand an (S. 23). Zur Kreistagsbank des Bürgerstandes entsenden Städte mit mehr als 5000 Einwohnern zwei und kleinere Städte einen Deputierten. Diese gehen aus Wahlen hervor, bei denen das aktive Wahlrecht auf Volljährige (Männer), die ein Grundeigentum im Wert von mehr als 1000 Rtlr. nachweisen können, sowie auf Angehörige akademischer Berufe, Kaufleute oder in der Stadt lebende Adelige ohne derartige Vermögensvoraussetzungen beschränkt ist, während alle ortansässigen volljährigen (männlichen) Einwohner das passive Wahlrecht besitzen. Bei den Wahlen entscheidet die Stimmenmehrheit (S. 25). Dieselben Bestimmungen gelten für die Wahlen der Deputierten des Landmannsstandes, wobei hier das aktive Wahlrecht den "volljährige[n] Eigenthümerfn] von Vollhöfen, welche selbst ihre Höfe cultiviren", also keinen Verpächtern, zukommt, während das passive Wahlrecht "nicht an das Gewerbe des Ackerbaues nothwendig gebunden" ist (S. 28). Die Wahlen werden alle fünf Jahre abgehalten (S. 29). Die Kreistagssitzungen finden regelmäßig einmal jährlich an einem auf der vorangegangenen Kreistagssitzung festgelegten Termin statt. Für außerordentliche Kreistagssitzungen bedarf es einer besonderen Einberufung. Die Kreistage nehmen die Kreisrechnungen ab und erörtern die Kreisangelegenheiten. Dazu gehören die Verteilung der Steuerlast und der Rekrutierungsforderungen auf die Gemeinden, Fragen der Landwirtschaft, des Handels und Gewerbes und alles, "was zur Berathung des öffentlichen Wohls des Kreises gehört". Dabei herrscht das Mehrheitsprinzip bei Gleichheit der Stimmen, d. h. ohne Abstimmung nach Bänken. Nur die Wahl der Landtagsdeputierten erfolgt nach Bänken getrennt, wobei jede Bank die gleiche Anzahl von Landtagsabgeordneten entsendet (S. 30 f.). Der Landtag tritt regelmäßig einmal im Jahr "zu bestimmter Zeit und ohne besondere Berufung" zusammen. Das sei "ein höchst wichtiger Punkt zur Sicherung und Erhaltung der Landesverfassung. Nach der Geschichte mehrerer Länder wurden die Landstände nicht weiter berufen, und die Landtage gingen stillschweigend ein" (S. 36). An die Spitze des Landtags tritt ein von allen Abgeordneten nach Stimmenmehrheit gewählter Präsident, der der Adelsbank angehören
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soll. Die Abgeordneten genießen während der Sitzungszeit sowie vier Wochen davor und danach Immunität (S. 35). Sie erhalten kein Gehalt, aber Diäten, die für alle, auch die Adeligen, gleich sind (S. 37). Eröffnung und Schließung des Landtags erfolgen durch den Fürsten oder einen dazu beauftragten Minister. Die Gesetzesinitiative liegt sowohl beim Fürsten und seinen Ministem als auch beim Landtag sowie bei jeder der drei Bänke und bei jedem einzelnen Abgeordneten. Doch bedarf ein nur von einer Bank oder von einzelnen Abgeordneten ausgehender Verhandlungsvorschlag der Zustimmung des Plenums, um Verhandlungsgegenstand zu werden. Bei Initiativen, die "der öffentlichen Ruhe zuwider" sind oder "revolutionaire Spuren an sich tragen", hat der Fürst ein unbedingtes Veto. Innerhalb der drei Bänke entscheidet bei Abstimmungen die Stimmenmehrheit. Im Gesetzgebungsverfahren müssen Beschlüsse der einzelnen Bänke zwischen diesen zur Übereinstimmung gebracht werden, wobei zwei Bänke die dritte - also etwa Bürger- und Landmannsstand die Adelsbank - überstimmen können. Ein Beschluß von zwei der drei Bänke ist ein Landtagsbeschluß, der durch die Sanktion des Fürsten zum Gesetz wird. Wird die Sanktion verweigert, so erfolgt Wiedervorlage bei der nächsten regulären Landtagssitzung (S. 39 ff.). Generell, besonders im Hinblick auf die öffentliche Verwaltung, herrscht das Rechtsstaatsprinzip. "Wichtig fürs Wohl des Ganzen ists, daß Gesetze die rechtlichen Verhältnisse und den Geschäftsgang in allen Zweigen der Verwaltung feststellen, hingegen der eigentlichen Willkür so wenig als möglich überlassen werde" (S. 43). Der Landtag hat weitgehende Budgetrechte. Ihm werden jährlich die Landesrechnungen und der Haushaltsentwurf für das folgende Jahr vorgelegt. Zwar heißt es dazu, der Landtag sei "zu bescheidenen Bemerkungen über dieselben berechtigt" (S. 44), doch bedeutet das keine Einschränkung, weil das gesamte Finanz- und Steuerwesen nicht nur einer gesetzlichen Grundlage bedarf, sondern weil auch alle Änderungen nur auf gesetzlichem Wege zustande kommen können. Steuererhöhungen und neue Steuern setzen ebenso ein Gesetz und damit einen Landtagsbeschluß voraus wie Kreditaufnahmen des Fiskus (S. 46). Bei Fragen von Krieg und Frieden kommt dem Landtag ein Anhörungsrecht zu. Mallinckrodt bemerkt dazu: "Keine der bekannten Landesconstitutionen [...] giebt den Repräsentativ-Collegien Theil an der Beschließung von Krieg und Frieden, und doch ist die Angelegenheit für einen Staat wichtiger als irgend eine. Darin liegt gewiß ein Hauptgrund der bisherigen Häufigkeit der Kriege, oft um der geringfügigsten Veranlassungen willen, wohl gar gleichsam aus bloßer Lust" (S. 47). Angriffskriege, die er gern ganz unmöglich gemacht sehen möchte, dürfen nur bei einstimmigem Beschluß aller drei Bänke des Landtags begonnen werden; bei Verteidigungskriegen reicht die Zustimmung einer Bank (S. 49). Im Falle eines feindlichen Angriffs, wenn Eile geboten ist, darf der Fürst die notwendigen Verteidigungsmaßnahmen von sich aus treffen, muß dann aber "sofort" eine außerordentliche Sitzung des Landtags einberufen. Im Krieg bleibt ein Aus-
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schuß des Landtags ständig in der Nähe des Fürsten (S. 49 f., 52). Im Frieden wird die Truppenstärke ebenso wie Truppenvermehrungen durch Gesetz und damit durch Landtagsbeschluß bestimmt (S. 50). Im Falle der Eilbedürftigkeit kann der Fürst einen Frieden ohne Mitwirkung des Landtags eingehen. Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen bedürfen aber in jedem Fall der Zustimmung des Landtags (S. 51). Auch der Fürst und die Staatsbehörden unterliegen dem Recht und der Rechtssprechung. Die Patrimonialgerichtsbarkeit ist aufgehoben. Niemand darf Richter in eigener Sache sein. Daher gibt es bei Mallinckrodt auch Ansätze einer Verwaltungsgerichtsbarkeit. "Höchst nachtheilig" sei es, wenn "alles, was sich auf die Verwaltung und die Verwaltungsbehörden beziehe", auf den "Weg der Supplication verwiesen seyn solle. Dadurch werden die Administrationsbehörden Parthey und Richter" (S. 53). Die Rechtsprechung wird "im Namen des Fürsten und der Gerechtigkeit" wahrgenommen (S. 55). Die Richterstellen werden vom Fürsten nach einer vom Justizministerium vorgelegten Dreierliste besetzt. Sie sind lebenszeitlich und mit einem angemessenen Gehalt versehen. Alle Sportein sind abgeschafft. Im Strafprozeß - ähnlich in handelsrechtlichen Verfahren - werden Schöffen zu gutachtlicher Stellungnahme - nicht wie englische Geschworene zu Urteilsentscheidungen - herangezogen (S. 54 f.). Straf- und Zivilprozesse sind öffentlich (S. 57). Die vollziehende Gewalt geht vom Fürsten aus, der die Beamten ohne Mitwirkung des Landtags ernennt und die oberste Aufsicht über sie innehat. Es gibt bei Mallinckrodt also keine Ansätze zur Parlamentarisierung der Exekutive. Es henrscht Ministerverantwortlichkeit. Der Landtag und jede seiner Bänke haben das Recht der Ministeranklage (S. 63). Auch die Beamtenstellen - mit Ausnahme der Ministerstellen - sind lebenszeitlich. Das Indigenat wird über die Staatsangehörigen der Einzelstaaten hinaus auf alle Deutschen ausgedehnt (S. 65 f.). Rechtswidrige Handlungen begründen die Absetzung eines Beamten, wofür ein Rechtsweg durch zwei Instanzen vorgesehen ist. Bei "unredlicher Verwaltung" ist jeder Einzelne zur Klageerhebung gegen Beamte berechtigt (S. 67 f.). Das Staatsgebiet ist in Kreise, Unterkreise, Bezirke und Gemeinden eingeteilt, jedoch nicht nach historischen Grenzen, sondern nach Zweckmäßigkeit (S. 69 f.). In den Gemeinden wird alle fünf Jahre ein Gemeinderat nach denselben Regeln wie bei der Wahl der Kreistagsdeputierten gewählt. Die Bürgermeister werden vom Fürsten aus einer vom Gemeinderat präsentierten Dreierliste ausgewählt und ernannt (S. 71). Am Ende des Verfassungsentwurfs steht der Katalog der "allgemeinen bürgerlichen Rechte". Dieser umfaßt:
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1. Gewissens- und Glaubensfreiheit (S. 73), 2. "Gleiche bürgerliche Freyheit" für "alle Einwohner" bei Aufhebung der Leibeigenschaft, für die die früheren Leibherren nach festen Sätzen entschädigt werden sollen (S. 74), 3. Schutz vor willkürlichen Verhaftungen - "Jeder Verhaftete muß innerhalb 24 Stunden vor seinen Richter gestellt, über den Grund seiner Verhaftung bedeutet und über seine Rechtfertigungsgründe vernommen werden" (S. 75 f.), 4. Gleichheitsgrundsatz - "Alle Staatseinwohner sind vor dem Gesetz gleich [...] Alle Stände haben gleiche Militairpflichtigkeit, gleiche, jedoch verhältnismäßige Steuerpflicht, gleichen Anspruch auf Aemter und Aufsteigen in denselben" (S. 76), 5. Eigentumsgarantie - "Jeder ist Herr seines Eigenthums, und der Staat kann nur in Fällen des wirklichen öffentlichen Nutzens und Wohls die Abtretung desselben [...] gegen [...] Entschädigung verlangen" (S. 77), 6. Gewerbefreiheit, 7. Pressefreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung. Mallinckrodt spricht nicht von Volksvertretung, sondern von Landstandschaft. Er gliedert die Kreistage und den Landtag in die drei Bänke des Adels, der Bürger und der Bauern und gibt dem Adel mit der persönlichen Mitgliedschaft der Adeligen in der Kreistagsbank sowie mit den nach Ständen getrennten Wahlen zum Landtag außerordentliches Gewicht, zumal die Adeligen ihre Landtagsabgeordneten in direkter Wahl bestimmen, Bürger und Bauern hingegen in indirekter Wahl. Doch wird die Stellung des Adels durch die Überstünmbarkeit der Adelsbank des Landtags und durch das Grundrecht der Gleichheit aller vor dem Gesetz eingeschränkt. Auffällig ist daß Mallinckrodt den Begriff "Landstände" abweist und von "Landstandschaft" spricht und dabei der Vorstellung der Volksvertretung nahekommt: "Der Name Landstände verwirrte oft die Begriffe [...] Nein, nicht die einzelnen Glieder der Repräsentativ-Collegien sind Landstände, alle zusammen bilden die Landstandschaft als gewählte Bevollmächtigte des Volks" (S.22). Über solche semantischen Beobachtungen hinaus ist festzuhalten, daß sich Mallinckrodts Verfassungsentwurf mit dem Selbstversammlungsrecht des Landtags, mit der Immunität der Abgeordneten, der Gesetzesinitiative des Landtags und einzelner Abgeordneter, der lediglich aufschiebenden Wirkung fürstlicher Sanktionsverweigerung, den Ansätzen einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Ministerverantwortlichkeit und der Ministeranklage, der Möglichkeit der Beamtenanklage bei gleichzeitiger Lebenszeitstellung der Beamten, der Unterstellung von Fürst und Verwaltung unter die Rechtsprechung und nicht zuletzt mit dem Grundrechtskatalog, vor allem mit dem Gleichheitsgrundsatz, trotz der Ständegliederung von Kreistagen und Landtag als liberales Verfassungskonzept erweist. Es ist
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der Entwurf einer Verfassung für einen bürgerlichen Rechtsstaat in der Form der konstitutionellen Monarchie und - mit Eigentumsgarantie und Gewerbefreiheit für eine bürgerliche Eigentümergesellschaft. Mallinckrodts ständische Reminiszenzen sucht man vergeblich bei Johann Paul Brewer in seiner "Urkundlichen Widerlegung" von 1819.61 Brewer stammte aus Düsseldorf und war dort 1783 als Sohn eines Appellationsgerichtsrates geboren worden. Nach dem Studium in Heidelberg, Göttingen und Paris kam er 1806 in seine Heimatstadt zurück und wurde dort als Physik- und Mathematiklehrer Gymnasialprofessor. Er starb 1840.62 Im Gegensatz zu Mallinckrodt bot er kein Verfassungskonzept, sondern lieferte eine kritische Auseinandersetzung mit der Adelsdenkschrift und einen Nachweis "der Grundlosigkeit der Behauptungen und der Unrechtmäßigkeit der Forderungen, welche die Denkschrift enthält" (S. 6). Ein beträchtlicher Teil der Schrift entfällt auf die historische Darstellung der Entstehung des Adels und der adeligen Landstandschaft, die als Vorgang der Usurpation und der Rechtserschieichung erscheint. Noch schärfer als mit den Adelsvorrechten der Vergangenheit geht Brewer jedoch mit den in der Adelsdenkschrift erhobenen Forderungen nach Wiederbelebung der adeligen Landstandschaft ins Gericht: "Dadurch, daß der Edelmann Bürger werden mußte, ist der Bürger Edelmann geworden. Und wir sollen denjenigen Gehör geben, die uns wieder schmieden wollen in die Fesseln, wovon uns Gott befreit [...] Wo sind jene Ritter, deren Heldenkraft wir vertrauen sollen? Sie sind gestorben und verschwunden; das Volk hat sich umgürtet mit ihrem Schwert und sich gewaffnet mit ihrer Lanze [...] Was also wollen die Nachkommen dieser Todten? Wenn man ihren Vätern Vorrechte zugestand, weil sie für das Vaterland gefochten und geblutet, dürfen sie die nämlichen fordern, die längst aufgehört, dafür zu fechten und zu bluten?" (S. 14 f.). Brewers Grundprinzip ist die "Gleichheit der Rechte" (S. 14). Nach diesem Grundprinzip will er die künftige Verfassung ausgerichtet wissen: "Die Gleichheit aller vor dem Gesetz, dieses ist der Grundsatz, welcher allen Ständeversammlungen Kraft und Leben einhauchen muß. Nur dadurch, daß der Unterschied der Stände aufhört in dem Haus der Gemeinen von England, daß der Kaufmann neben dem Edelmann mit gleichem Rechte sitzt, nur dadurch hat es alle große Talente der Nation in sich vereinigt [...] Und dieses ist dann auch das Muster, dieses sind die Grundsätze, nach welchen wir hoffen, daß in den Rheinprovinzen die Verfassung der Stände eingerichtet werde" (S. 96 f.). Dieses Grundprinzip läßt Brewer nicht nur adelige Vorrechte ablehnen - eine Verfassung, die "nur die Privilegien gewisser Kasten sichert, ist ein größeres Uebel als die Geißel des Despotismus selbst" (S. 78) -, sondern auch gegen die Idealisierung des englischen Verfassungsmodells mit seinem Zweikammerparlament zu Felde ziehen. 61
) (J. P. Brewer.) Urkundliche Widerlegung der von dem ehemaligen Adel der Lande Jülich, Kleve, Berg und Mark dem Fürsten Staatskanzler überreichten Denkschrift. Von einem Rheinpreußen. Rhenanien 1819 (144 S.). 62 ) Sandgathe (Anm. 55), S. 128 f.
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Nicht England nachzuahmen gelte es: "England an Freiheit zu übertreffen, dieses muß das Streben der neueren Staatsverfassungen sein" (S. 12). Vom Gleichheitsgrundsatz ausgehend spricht er sich gegen das Zweikammersystem aus. Während er dem britischen "House of Lords" und der französischen "Chambre des Pairs" aber immerhin positive Seiten abgewinnen kann, lehnt er für Deutschland ein Oberhaus aus ähnlichen Gründen ab wie vor ihm Mallinckrodt: "Der niedere Adel, ein zahlloses Heer von Menschen, deren Ansprüche sich nicht auf große Erinnerungen, sondern auf verjährte Mißbräuche gründen, will dem Gesetz nicht gehorchen [...] Daher sind sie so wenig geeignet, die Vermittler zwischen dem Regenten und dem Volk zu seyn [...] Jene großen Familien aber, deren Mitglieder in England und Frankreich die Pairs-Kammer füllen, sitzen in Deutschland auf den Thronen" (S. 84). Statt einer Pairskammer schlägt er daher eine Einrichtung nach dem Muster des 1817 geschaffenen preußischen Staatsrates vor, bei dem die Mitgliedschaft nicht auf Erblichkeit und auf genealogischen Kriterien beruhte, sondern auf Funktion, Amt oder persönlichem Verdienst. Neben der Frage des Ein- oder Zweikammersystems bezeichnet Brewer als "zweite, aber bei weitem wichtigste Frage" (S. 80) die der Wahlberechtigung. Doch wird dieser außerhalb der Zielrichtung seines Werkes, der Widerlegung der Adelsdenkschrift, liegende Punkt von ihm nicht im einzelnen ausgeführt. Dabei würde das von Brewer mit so viel Nachdruck erhobene Postulat der Gleichheit aller vor dem Gesetz auch gleiches Wahlrecht verlangen. So bleibt seine Schrift ein Plädoyer für eine auf der Gleichheit aller vor dem Gesetz errichtete Verfassung, die "jenem ewigen Verhältniß, nach welchem alle Menschen mit gleichen Rechten in diese Welt treten" (S. 79), Rechnung trägt. Hätte Brewer - wie Mallinckrodt - einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet, so wäre das wahrscheinlich die Verfassung einer konstitutionellen Monarchie - an der Monarchie als Staatsform hält er fest - mit einem Einkammerparlament ohne Ständegliederung gewesen. Interessant ist die Reaktion des Freiherm vom Stein auf Brewers Schrift. Dieser sprach im Postskriptum eines am 27. Mai 1819 an Ferdinand August von Spiegel gerichteten Briefes von einem "Gewebe von demokratischen Sophismen, Bitterkeiten usw.".63 Schon am 19. Mai 1819 hatte Stein Hans Christoph von Gagern gegenüber geäußert: "In Düsseldorf, wahrscheinlich von einem Professor Brewer der Physik, ist eine virulente Urkundliche Widerlegung der Vorstellung des Jülich-Bergischen Adels an den Staatskanzler übergeben. Sie ist höchst demokratisch, lobt die napoleonisch-französische Verfassung usw. Man wird sie widerlegen müssen".64
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) Freiherr vom Stein: Briefe und amtliche Schriften. Bearb. von E. Botzenhart u. W. Hubatsch. Bd. 6. Bearb. von A. Hanlieb v. Wallthor. Stuttgart 1965, S. 92. ) Ebd., S. 90.
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LOYALITÄTSPROBLEME EINER GRENZBEVÖLKERUNG. DAS BEISPIEL NIEDERLÄNDISCH-LIMBURGS IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT1 von Klaus
Pabst
Das Bild, das sich Nationen voneinander machen, ist meist ein Spiegel ihrer gegenseitigen Beziehungen, die von Sympathie und Freundschaft über Gleichgültigkeit, versteckte oder offene Ablehnung bis zu unverhohlener Feindseligkeit reichen können. Dabei mag offen bleiben, ob diese nationalen Stereotypen Ursachen oder Folgen solcher Gefühle sind - daß beide voneinander abhängen und eng miteinander verbunden sind, wird heute nicht mehr bezweifelt.2 Freilich finden sich solche Stereotypen nicht nur zwischen souveränen Nationen, etwa Deutschen und Franzosen, oder zwischen deutlich voneinander unterscheidbaren Nationalitäten desselben Staates wie belgischen Flamen und Wallonen oder jugoslawischen Kroaten und Serben. Da es sich um Ausdrucksformen sozialer Gruppenmentalitäten handelt, können sie ebensogut auf regionaler Ebene auftreten, auf der es zu hochgegriffen wäre, von "nationalen" Gegensätzen zu sprechen, obwohl die Grenzen nationalen und regionalen Bewußtseins oft fließend sind. Die oft wohlgepflegten Gegensätze zwischen Preußen und Bayern, Engländern und Schotten, Piemontesen und Sizilianem bieten mit den zugehörigen, zumeist negativen Stereotypen nur allzu bekannte Beispiele hierfür. Überraschender ist schon, daß derartige Gegensätze, die sich auch in der konkreten Politik niederschlagen, sich selbst in kleineren Staaten finden, die dem Außenstehenden auf den ersten Blick als national homogen erscheinen können. Treten zu solchen Gegensätzen noch eine geographische Grenzlage und die Gunst politischer Umstände hinzu, so kann es zu ernsthaften Loyalitätskonflikten der betroffenen Bevölkerung kommen, die im Extremfall den Charakter nationaler Sezessionsbewegungen annehmen können, obgleich sie im Grunde nur Ausdruck regionaler Protesthaltungen sind. Dies soll hier am Beispiel einer niederländischen Grenzprovinz, Limburg, und ihrem Verhältnis zum eigentlichen Holland als Kern des Königreichs in den Jahren zwischen 1815 und 1940 einmal aufgezeigt werden.3 Ähnliche Loyalitätskonflikte haben sich freilich auch in anderen Randprovin') Überarbeitete und mit Belegen versehene Fassung eines Vortrags im Rahmen des Kolloquiums "The Image of the Nation, 1870-1940", veranstaltet vom Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie und der Universiteit van Amsterdam in Lunteren/NL im März 1990. 2 ) E. Lemberg: Nationalismus. I. Reinbek b. Hamburg 1964, S. 29 f. und II, S. 72 f.; H. Kohn: Die Idee des Nationalismus. Frankfurt/M. 1962, S. 11 f.; H. Ahrweiler (Hg ): L'image de l'autre. Etrangers - Minoritaires - Marginaux. 2 Bde., Paris 1985 (16e Congrts International des Sciences Historiques, Stuttgart 1985, Grand Thfcme no. 2); D. Peabody: National Characteristics. Paris 1985. Zur Einführung in das Problem: St6r6otypes nationaux et prijug£s raciaux aux 19e et 20e sifccles. Sources et mithodes pour une rapproche historique. fid. J. Pirotle et al.. Louvain-la-Neuve 1982. 3 ) Zur allgemeinen Geschichte Limburgs in dieser Zeit vgl. W. Joppe Alberts: Geschiedenis van de beiden Limburgen. II (1632-1918). Assen 1974 (Maaslandse Monografieen, 17); L J. Rogier: Nederlands Limburg 1813-1863. In: Tenjgblik en Uitzicht. II. Hilversum/Antwerpen 1965, S. 645 ff.; F. W. van Wijk: Schets einer Geschiedenis van de Provincie Limburg. Maastricht 1924.
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zen der Niederlande gezeigt; in Friesland etwa, wo Stammeseigenheit und Sprachverwandtschaft über die deutsche Grenze hinweg gelegentlich in Konkurrenz zur Unterordnung gegenüber Den Haag zu stehen pflegen,4 oder in Noord-Brabant, dessen Sympathien für das konfessionell und historisch nahestehende Belgien sich auch politisch bisweilen bemerkbar machten.5 Nirgendwo haben derartige Konflikte aber einen so ernsten Charakter angenommen und zweimal bis hart an den Rand der politischen Sezession geführt wie in der südlichsten, am weitesten von der Metropole entfernten Provinz Limburg. Es handelt sich dabei seit 1839 um einen von den Städten Venlo, Maastricht und Vaals begrenzten Teil niederländischen Territoriums, dessen südliche Hälfte sich ostwärts der Maas wie ein Keil zwischen belgisches und deutsches Gebiet schiebt und bis heute nur durch einen sehr schmalen Korridor eigenen Staatsgebiets mit den nördlichen Teilen der Niederlande verbunden ist. Zuvor, von 1815 bis zum Londoner Vertrag von 1839, hatte auch noch das Kempenland ostwärts der Maas dazugehört, das seitdem eine belgische Provinz gleichen Namens bildet.6 Zweimal, in den Jahren 1830 bis 1839 und 1848/49, hat es hier ernsthafte Loslösungsbestrebungen von den Niederlanden gegeben, und auch in den Jahren 1918 bis 1920 sowie zwischen 1930 und 1940 wurden in Niederländisch-Limburg Protestbewegungen sichtbar, die sich, wenn auch nicht mehr mit dem Ziel einer völligen Separation, gegen holländische Beamte, "holländische" Gesetze und somit gegen die Zentralregierung wandten. Vor wenigen Jahren noch konnte man von Bewohnern Limburgs, vor allem in dessen südlichem Teil zwischen Roermond und Maastricht, die Bemerkung hören, daß sie eigentlich gar keine Holländer seien, oder staatsrechtlich präziser: "Wir sind zwar Niederländer, aber keine Holländer, sondern Limburger." Umgekehrt erzeigte auch der Norden seiner südlichsten Provinz lange Zeit herzliche Abneigung. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen die Limburger vielen Holländern - dieser Begriff soll im folgenden die Bewohner der niederländischen Kernlande, der "Randstad Holland", bezeichnen - als "geheel vreemd" (gänzlich fremd), ihre Provinz als ein "jammerlijk strook gronds" (ein jämmerliches Stück Erde) oder "een uitwas van ons land, dat onze beste sappen verteert" (ein Auswuchs unseres Landes, der unsere besten Kräfte verzehrt).7 Im privaten Gespräch wurden vor allem die Südlimburger von manchen Holländern noch vor kurzem als "limburgse moffen" abqualifiziert und so mit ihren deutschen Nachbarn in denselben Topf geworfen.8 Die Limburger revanchierten sich ihrerseits, indem sie die Bewoh4
) R. G. Zondergeld: Separatismus und Regionalismus in den Niederlanden seit 1814. In: Staatliche Intervention und gesellschaftliche Freiheit. Staat und Gesellschaft in den Niederlanden und Deutschland im 20. Jahrhundert. Hg. v. J. P. Nautz und J. F. E. Biasing. Melsungen 1987 (Kasseler Forschungen zur Zeitgeschichte, 5, S. 15-22 und 25-28. 5 ) Zondergeld 1987 (Aran. 4), S. 22-24. 6 ) Ε. M. Th. W. Nuyens: De staatkundige Geschiedenis der provincie Limburg vanaf haar ontstaan tot aan haar uiteenvallen in 1839. Maastricht 1956 (Werken Limburgs Geschiedenis- en Oudheidskundige Genootschap, 2). 7 ) H.-G. Kraume: Außenpolitik 1848. Die holländische Provinz Limburg in der deutschen Revolution. Düsseldorf 1979, S. 188 f. 8 ) Zur Bedeutung des "mof' vgl. H. Lademacher: Zwei ungleiche Nachbarn. Wege und Wandlungen der deutsch-niederländischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Darmstadt 1989, S. 253.
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ner des holländischen Nordens als "Kaasköpp von boven de Moerdijk" (Käseköpfe von jenseits der großen Brücke über die Waal, die den niederländischen Norden vom Süden trennt) bezeichneten. Die Liste solcher gegenseitigen Freundlichkeiten soll hier nicht fortgesetzt werden; sie macht aber deutlich, daß beide Seiten, Limburger wie Holländer jeweils ein bestimmtes Bild von sich selbst und von den anderen hatten, daß diese Vorstellungen durchweg pauschal und zumeist negativ ausgeprägt waren und sich über lange Zeit als sehr stabil erwiesen. Gab es objektive Gründe für diese Stereotypen, die eher den Gegensatz als die Gemeinsamkeiten mit dem nördlichen Holland betonten und die Entstehung eines niederländischen Nationalgefühls in Limburg lange verhindert haben? Als wesentlicher Faktor für die Entstehung eines einheitlichen Nationalbewußtseins wird meist zuerst die Gemeinsamkeit der Sprache betrachtet.9 Hier lagen die Verhältnisse in Limburg durchaus unterschiedlich. Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, also bis zum Beginn der Industrialisierung, wurde im südöstlichen Teil Limburgs, etwa im Brunssum, Heerlen, Schaesberg, Eygelshoven, Kerkrade und Vaals überwiegend deutsch gesprochen, sei es in Dialektform oder als Hochsprache im kirchlichem und öffentlichem Bereich. Die katholische Oberschicht der Gutsbesitzer und Fabrikanten im Süden der Provinz und in den größeren Städten sprach ebenfalls nicht niederländisch, sondern bis nach der Jahrhundertmitte aus Tradition französisch, das auch Verhandlungssprache der limburgischen Provinzialstände war; in Maastricht erschienen auch die wichtigsten Tageszeitungen der Provinz wie das "Journal de Limbourg" in französischer Sprache.10 Noch um 1850 dürfte Französisch, wie die im Zusammenhang mit den Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung entstandenen Akten zeigen, auch in der Mittelschicht Südlimburgs weitgehend verstanden worden sein. Niederländisch sprach man vor allem im Norden und in der Mitte der Provinz, doch breitete sich diese Sprache schon im 19. Jahrhundert nach Osten aus. In der ehemals Jülicher Stadt Sittard beispielsweise wurden schon 1848 Deutsch und Niederländisch nebeneinander gesprochen, und um 1870 gehörte sie völlig zum niederländischen Sprachgebiet." Jedoch hat erst die Einführung des Bergbaus und die damit einhergehende Industrialisierung, die erhebliche Zuwanderungen aus dem holländischen Norden mit sich brachte, das Niederländische als Verkehrssprache nach
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) Ρ Alter: Nationalismus. Frankfurt/M. 1985, S. 24; Κ. P. Minogue: Nationalismus. München 1970, S. 149 ff.; Ε. K. Francis: Ethnos und Demos. Berlin 1965, S. 81. Zur Relation von Sprache, Kommunikation und National be wußtsein vgl. auch K. W. Deutsch: Nationalism and Social Communication. An Inquiry into the Foundations of Nationality. New York 1953. 10 ) H. Grochtmann: Die Niederländische Provinz Limburg im Deutschen Bund. Diss. Köln 1937, S. 149 f., Anm. 14; Kraume 1979 (Anm. 7), S. 49 f.; Zondergeld 1987 (Anm. 4), S. 9. Die bisher umfassendste, allerdings mit einer penetrant deutschvölkischen Tendenz behaftete Untersuchung des Themas bietet immer noch die Aachener Dissertation von G. Scherdin: Die Verbreitung der hochdeutschen Schriftsprache in Süd-Limburg. Berlin 1937. Vgl. auch Ders.: Schriftdeutsche Sprachzeugnisse zwischen Sittard und Roermond. In: Heimat, Monatsschrift für Maasland, Eifel und Ardennen 3 (1942), 18-25. " ) 0 . Haußleiter: Die Autonomie-Bewegung des Jahres 1848 im Niederländischen Herzogtum Limburg und ihr wahrer soziologischer Charakter. In: Rhein. Vierteljahrsbll. 14 (1949), 97-137, hier S. 105.
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der Jahrhundertwende auch in den Gemeinden an der Südostgrenze durchgesetzt.12 Der allmähliche Übergang Süd- und Südostlimburgs zum Niederländischen hatte jedoch ausschließlich demographische und soziologische Gründe; die massive Sprachenpolitik zugunsten des Holländischen, die der Oranier Wilhelm I. zwischen 1819 und 1829 in Verwaltung, Schule und Kirche betrieben hatte, blieb dagegen erfolglos und weckte allenfalls zusätzliche anti-holländische Ressentiments.13 Einen zweiten wichtigen Faktor beim Aufbau eines Nationalbewußtseins bildet die Gemeinsamkeit der historischen Tradition. Sie fehlte in Limburg, dieser künstlichen Schöpfung des Wiener Kongresses, in bezug auf die Niederlande ebenso wie die Einheitlichkeit der Sprache. Nur 29% der limburgischen Bevölkerung außerhalb der Städte Maastricht und Venlo, die als niederländische Militärgarnisonen ohnehin eine Sonderrolle spielten, hatte nach den Berechnungen von Johan Christiaan Boogman schon vor 1794 unter niederländischer Souveränität gestanden, darunter allerdings gerade die deutschsprechenden südöstlichen Grenzstädte Heerlen und Vaals.14 Dabei ist freilich zu bedenken, daß selbst dieser geringe Anteil erst relativ kurz zuvor, nämlich im 17. und 18. Jahrhundert, überwiegend aus spanischem Besitz an die Generalstaaten gefallen war und daß die Bewohner dieser "Generalitätslande" danach keine vollberechtigten Bürger der Niederlande, sondern bloße Untertanen der Generalstaaten geworden waren, die durch holländische Beamte von Den Haag aus verwaltet wurden. Auch dies hatte nicht eben dazu beigetragen, in diesen katholischen Landesteilen eine besondere Zuneigung zum Norden zu wecken.15 Ein noch etwas größerer Teil der Provinzbevölkerung, etwa 30%, hatte bis zur französischen Revolution zu den österreichischen Niederlanden, also dem späteren Belgien gehört und teilte noch bis ins 20. Jahrhundert hinein dessen katholische, anti-calvinistische und anti-holländische Tradition. Weitere 18% der Limburger in den ehemals geldrischen und klevischen Landesteilen waren zuvor preußische Untertanen gewesen, und fast 16% lebten in dem ehemals jülich-bergischen Ämtern Sittard und Horst an der Maas oder in früheren kleinen Reichsherrschaften wie Gronsveld, Wijlre und Slenaken. Acht Prozent schließlich hatten bis zur Revolution unter dem Szepter der Lütticher Fürstbischöfe gestanden, die auch die größte Stadt Niederländisch-Limburgs, Maastricht, bis 1794 als Kondominium gemeinsam mit den Generalstaaten verwaltet hatten.16 Das Zentrum des nördlichen Limburg, Venlo, hatte dagegen vom Westfälischen Frieden bis 1715 zu den Spanischen Niederlanden, danach den Generalstaaten angehört.17 12 > G. Scherdin: Art. Maasländisches Deutschtum/Deutschtum in Niederländ. Süd-Limburg. In: Handwörterbuch d. Grenz- und Auslanddeutschtums. Hg. v. C. Petersen u. a„ Bd. 3. Breslau 1938, 461-466. 13 ) A. De Jonghe: De Taalpolitiek van Konink Willem I. in de Zuidelijke Nederlanden (1814-1830). Sint Andries-Brugge 2 1967. 14 ) J. C. Boogman: Nederland en de Duitse Bond, 1815-1851. Groningen 1955, S. 199 f. Anm. 3. 15 ) 5. Υ. A. Vellenga: Katholiek Zuid Limburg en het Fascisme. Assen 1975, S. 14 und 22 f. 16 ) P. J. H. Ubachs: Twee heren, twee confessies. De verhouding van stad en kerk te Maastricht, 1632-1673. Diss. Nijmegen-Assen 1975. 17 ) Η. Η. H. Uyttenbroeck: Bijdragen tot de geschiedenis van Venlo. 5 Tie. Venlo 1908-1931; C. M. A. Batta (Red.): Limburgs verleden. Geschiedenis van Nederlands Limburg tot 1815. Maastricht 1980 ff.
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So verwirrend sich die Sprachverhältnisse und die politischen Traditionen Limburgs nach 1815 darstellten, so wenig standen sie auch untereinander in einer logischen Korrelation. Während gerade in alten Generalitätsorten wie Vaals bis in unser Jahrhundert hinein deutsch gesprochen wurde, galt in den neuniederländischen Territorien jülicher und preußischer Herkunft von jeher das Niederländische als Umgangs- und Verwaltungssprache; die dortigen Limburger sahen es also keineswegs als Fremdsprache an. Insgesamt ergibt dieses Bild, daß die um 1815 noch keineswegs erloschenen früheren Traditionen des größten Teils der Provinz nach Brüssel oder Lüttich, also hin zum katholischen Belgien, oder in das seit 1815 preußische Rheinland wiesen. Selbst in den altniederländischen Orten Limburgs hatten sich vor der Revolution keine starken Loyalitätsgefühle gegenüber den Generalstaaten entwickelt. Auch in französischer Zeit hatte das spätere Limburg nicht zur Batavischen Republik, sondern als Departement Niedermaas oder in Teilen der Departements Ourthe und Roer zur Französischen Republik und zum Kaiserreich Napoleons I. gehört.18 Ihre erste staatliche Vereinigung hatten die Limburger also nicht durch die Niederlande, sondern unter französischer Verwaltung erfahren, deren geistige Hinterlassenschaften, die Ideale bürgerlicher Gleichheit und Freiheit oder der Code Napolöon, ähnlich wie im Rheinland weit über 1814 hinaus weiterwirkten. Vor allem das limburgische Bürgertum verglich die im nachhinein sicherlich idealisierten französischen Zustände später gern mit dem trotz bestehender Verfassung als halbabsolutistisch empfundenen, konservativen holländischen Regime und behielt, ähnlich wie in Flandern, lange Zeit auch die französische Sprache bei. Aus der Sicht des Bürgertums und vom Standpunkt der politischen Modernisierung aus hatte der Anfall Limburgs an die Niederlande somit einen spürbaren Rückschritt bedeutet. Zusätzliches Gewicht gewannen solche Gefühle auch aus der im Vergleich zum holländischen Kernland andersartigen sozialen Struktur der Bevölkerung, einem weiteren Faktor nationaler Gemeinsamkeit. Das Handels-Großbürgertum Hollands war in Limburg nur schwach vertreten; die limburgische Oberschicht bestand zumeist aus Grundbesitzern, die von ihren Pachtrenten lebten, unter ihnen viele Kleinadelige, einigen Industriellen in Vaals, Roermond und Maastricht und nicht zuletzt der einflußreichen katholischen Geistlichkeit.19 In den Verwaltungssitzen Maastricht und Venlo lag auch der Anteil der Beamten recht hoch, die unter Wilhelm I. zumeist aus dem Norden kamen und mit der einheimischen Bevölkerung wenig gemeinsam hatten. Bis 1830 waren sie geradezu mit der Absicht entsandt worden, Limburg in Sitten, Sprache und Institutionen möglichst vollständig dem Norden anzugleichen. Die bäuerliche Bevölkerung, die das bis Ende des 19. Jahrhunderts vorwiegend agrarische Limburg in erster Linie prägte, bestand überwiegend aus Kleinbauern und Pächtern. Als Binnenländern war ihnen die Mentalität der holländischen Seefahrer und Übersee-Kolonisatoren völlig fremd.
1S ) Ε. M. Th. W. Nüvens: De tegenwordige provincies Limburg en omliggende gebieden in de Franse Tijd (1802). Historische Atlas van Limburg. 1. Serie. Assen 1975, S. 1 ff. 19 ) Vellenga 1975 (Anm. 15), S. 24.
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Ein vierter Faktor, der Limburg wesentlich vom eigentlichen Holland unterschied, war die fast ausschließlich katholische Konfession seiner Bewohner, die lediglich in einigen altniederländischen Orten wie Vaals durch aus Glaubensgründen zugewanderte protestantische Unternehmer und Facharbeiter aus dem Rheinland oder den belgischen Niederlanden aufgelockert wurde. Wurden die Limburger in der nordniederländischen Presse deshalb häufig als "Roomsche" bezeichnet, 20 so geschah dies durchaus mit einem abschätzigen, ja feindseligen calvinistischen Unterton. Das lag wahrscheinlich nicht nur an der katholischen Konfession und dem damit zusammenhängenden starken Einfluß des Klerus in Limburg oder an dessen Anhänglichkeit an das römische Kirchenoberhaupt, das orthodoxen Protestanten noch nicht lange zuvor geradezu als Antichrist gegolten hatte, sondern auch an den vielfältigen öffentlichen Äußerungen und Äußerlichkeiten katholischer Volksfrömmigkeit wie Wallfahrten, Heiligenfesten, dem barocken Schmuck der Kirchen und Wegekreuze oder gar dem aus dem Rheinland übernommenen Karneval, Dingen, die dem Weltbild holländischer Protestanten ebenfalls vollständig zuwiderliefen. Schließlich muß noch auf die ungünstige geographische Lage und die für niederländische Verhältnisse große Entfernung Limburgs von den wirtschaftlichen Zentren der Niederlande hingewiesen werden. Sie hemmte bis zur Einführung moderner Verkehrs- und Nachrichtenmittel nicht nur den Informationsfluß und die gegenseitige Kommunikation zwischen Limburg und dem Norden, sondern bestimmte auch die Richtung der bestehenden wirtschaftlichen Verflechtungen, die weit eher in das benachbarte Belgien und das Rheinland als nach Holland wiesen. Die limburgischen Bauern beispielsweise setzten ihre Milchprodukte nicht etwa im Norden ihres Landes ab, wo es ohnehin genug davon gab, sondern in den benachbarten Industrierevieren von Lüttich, Aachen und später Mönchengladbach/Düsseldorf. Bezeichnenderweise kam die erste Bahnverbindung von Limburg nach Norden erst 1866 zustande, während die Bahnen von Maastricht nach Lüttich und Aachen fast 20 Jahre älter sind.21 Auch die verwandtschaftlichen und familiären Beziehungen der Limburger wiesen weit häufiger nach Belgien oder ins Rheinland als nach dem holländischen Norden hin. Nach alledem sah sich die Mehrheit der Limburger auch nach dem Wiener Kongreß und dem Aachener Grenz vertrag von 1816, der die neue Grenze zwischen den Niederlanden und Preußen in ihren bisweilen skurrilen Einzelheiten festgelegt hatte,22 noch keineswegs als "Holländer", sondern eher als Belgier oder, in den ehemals jülicher und preußischen Gebietsteilen, als Rheinländer an. Solche überkommenen Loyalitäten sprechen etwa aus einer Eingabe von 17 Bürgermeistern der alten Jülicher Kantone Sittard und Heinsberg, die 1814 bei dem preußischen Generalgouverneur Sack gegen die Abtrennung ihrer Dörfer vom Roerdepartement und deren Zuordnung zum neugebildeten Maas- und Ourthedepartement protestierten.23 Als fremd und 20
) Kraume 1979 (Anm. 7), S. 189. ) Vellenga 1975 (Anm. 15), S. 16. 22 ) Ε. M. Klingenburg: Die Entstehung der deutsch-niederländischen Grenze im Zusammenhang mit der Neuordnung des niederländisch-niederdeutschen Raumes 1813-1815. Leipzig 1940, S. 138 ff. 23 ) Klingenburg 1940 (Anm. 22), S. 140 f.; hierzu jedoch einschränkend Haußleiter 1949 (Anm. 21
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feindlich empfanden die Limburger links wie rechts der Maas auch die Maßnahmen, die König Wilhelm I. in seinem Bestreben alt- und neuniederländische Landesteile zu einem holländischen Einheitsstaat zu verschmelzen,24 trotz verfassungsmäßiger Religionsfreiheit gegenüber der katholischen Kirche und zur Durchsetzung der niederländischen Sprache im Schulunterricht, Gerichtsund Verwaltungswesen, ergriff.25 Die ersteren - Abschaffung der Seminare, Eingriffe in das kirchliche Schulwesen - trafen vor allem den katholischen Klerus und die unter seinem Einfluß stehende Landbevölkerung, die Sprachenverordnungen dagegen besonders das französisch sprechende Bürgertum und den Adel. Kein Wunder also, daß sich die Limburger im August 1830, wenn auch nur zögernd,26 der belgischen Revolution anschlossen, die ja aus vergleichbarem Anlaß entstanden war, und mit Ausnahme der Stadt Maastricht, deren Abfall das dort stationierte niederländische Militär zu verhindern wußte,27 bis 1839 ein praktisch von Brüssel aus verwalteter Landesteil Belgiens wurden, der 1831 auch die belgische Verfassung annahm und seine Abgeordneten in die belgische Kammer und den Senat entsandte. Sogar die Festung Venlo hat sich dem angeschlossen, nachdem sie von den Limburgem im Handstreich erobert und die dortige niederländische Garnison vertrieben worden war. Obwohl die niederländische Krone auf Limburg ebensowenig verzichtete wie auf Luxemburg und bis 1839 auch auf die übrigen südlichen Provinzen, reichte ihre tatsächliche Autorität in diesem Jahrzehnt in Limburg nur noch soweit wie die Kanonen der Festung Maastricht, deren Kommandeur General Dibbets "mit eiserner Hand jeden Aufstandsversuch im Keim zu erdrücken wußte".28 Von einer Loyalität der Limburger gegenüber der niederländischen Krone konnte, abgesehen von einem kleinen Teil des Bürgertums, der aus wirtschaftlichen Gründen für die Vereinigten Niederlande eintrat, und des Klerus damals aber ebensowenig mehr die Rede sein wie bei den übrigen Belgiern.29 In Brüssel fühlten sie sich auch politisch besser vertreten, denn im 11), S. 110 Anm. 130. ) Nach den Londoner Beschlüssen von 1814 sollte das Königreich der Vereinigten Niederlande eine "reunion [... ] intime et compldte, de fafon que les deux pays ne forment qu'un seul et meme 6tat" Belgiens und Hollands bewirken; De Jonghe 1967 (Anm. 13), S. 13. Dieses Staatsziel wurde auch als "amalgame le plus complfet des deux parties" umschrieben; E. Witte / J. Crayebeckx: La Belgique politique de 1830 ä nos jours. Bruxelles 1987, S. 3. 25 ) H. Lademacher: Geschichte der Niederlande. Darmstadt 1983, S. 235 ff. 26 ) Dies betonen neuerdings E. Ramakers: Limburg zwischen Frankreich und den Niederlanden. In: Rheinische Heimatpflege 28 (1991), S. 101, sowie A. Smits: 1830. Scheuring in de Nederlanden. 2 Bde., Heule 1983. Im Gegensatz dazu die "klassische" Darstellung, daß sich Limburg begeistert am Aufstand beteiligt habe, etwa bei P. Orbons / L Spronck: Limborgers worden Nederlanders. Een moeizam integratieproces. In: Publications de la Sociitf historique et archtologique dans le Limbourg 102 (1966), S. 31 ff., bes. S. 40. 27 ) Anders auch hier Ramakers 1991 (Anm. 26), S. 101: die Maastrichter Opposition habe sich nicht wegen der - tatsächlich durch ihre zahlreichen limburgischen Soldaten geschwächten - holländischen Garnison vom Aufstand ferngehalten, sondern weil ihr dieser zu teuer schien und sie auch ohne eigene Anstrengungen auf einen Erfolg des Aufstands hoffte. 28 ) Boogman 1955 (Anm. 14), S. 16. 29 ) Μ De Vroede: Voor of tegen Belgie. De openbare mening in het huidige Nederlands-Limburg in de jaren 1830. In: Bijdragen voor de geschiedenis der Nederlanden 15 (1960), 1-40; vgl. auch Grochtmann 1937 (Anm. 10), S. 73 ff. Von besonderer Bedeutung ist hier neben einigen Eingaben aus Maastrichter Fabrikanten- und Kaufmannskreisen eine scharf antiseparatistische Rede des lim24
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belgischen Nationalkongreß von 1830 saßen immerhin 17 direkt gewählte limburgische Abgeordnete, während die Limburger sich zuvor in der zweiten Kammer des niederländischen Parlaments mit vier auch nur indirekt besetzten Sitzen, die sie zudem noch mit Luxemburg teilen mußten, hatten zufrieden geben müssen. Mit Surlet de Chokier stellte Limburg sogar den ersten Regenten des belgischen Königreichs. Die Freiheiten der belgischen Verfassung wurden in Limburg dankbar anerkannt. 30 Zwar trugen die Londoner Verhandlungen vom Dezember 1830 dieser belgischen Loyalität der Limburger insofern Rechnung, als dort für den niederländischen Reststaat im Norden die Grenzen von 1792 in Aussicht genommen wurden; etwa zwei Drittel Gesamt-Limburgs wäre damit endgültig Belgien zugefallen. 31 Doch der belgische Nationalkongreß verwarf diese Entscheidung, und da er praktisch in ganz Limburg mit Ausnahme Maastrichts die politische Macht ausübte, konnten sich die Limburger in ihrer Gesamtheit zunächst als Belgier fühlen. Die Londoner Konferenz der Großmächte bestätigte am 26. Juli 1831 diese Regelung, doch wurde sie durch Wilhelm I. nicht anerkannt. Erst 1839 wurde im zweiten Londoner Protokoll auch die Limburger Frage gelöst. Ebenso wie Luxemburg wurde auch die bisherige Provinz Limburg geteilt. Während das linke Maasufer als "Belgisch-Limburg" bei dem neuen Königreich verblieb, kehrten die Stadt Maastricht und das rechte Ufer als "Holländisch-Limburg" gegen zahlreiche Proteste aus der Bevölkerung 32 unter niederländische Souveränität zurück.33 Da der Deutsche Bund für den Westteil Luxemburgs, der 1839 an Belgien fiel und damit aus dem Bund ausschied, eine Kompensation forderte, brachte König Wilhelm stattdessen die mit 150.000 Einwohnern ungefähr gleich große Provinz Niederländisch-Limburg neu in den Deutschen Bund ein. Ausgenommen blieben lediglich die Festungsstädte Venlo und Maastricht.34 Das war eine typische diplomatische Kompromißlösung, um die Londoner Verhandlungen zu einem guten Ende zu bringen. Aber sie konnte der Loyalität der jetzt zu Holland gehörenden Limburger nicht gut bekommen, deren Blick nach der gegen ihren Willen erfolgten Lostrennung von Belgien auf diese Weise nach Osten gerichtet wurde. Zwar war der Eintritt in den Deutschen Bund staatsrechtlich nicht mit dem vorhergegangenen Anschluß an Belgien zu burgischen Abgeordneten und Maastrichter Advokaten Gerards am 18. 8. 1848 in der niederländischen Zweiten Kammer, in der er die Regierung in ihrem festen Kurs gegenüber den deutschen Ansprüchen bestärkte (Grochtmann 1937 (Aran. 10), S. 76). Der katholische Klerus Limburgs, obwohl immer noch ohne Konkordat und Bischof und auch aus anderen Gründen mit den Oraniern in Streit liegend, stieß sich dennoch an den antikirchlichen Tendenzen eines Teils der Paulskirchenversammlung und befürchtete von der in der Reichsverfassung vorgesehenen Gewissensfreiheit die Stärkung unerwünschter häretischer Bewegungen wie etwa der Deutschkatholiken um Joseph Ronge. 30 ) Kraume 1979 (Anm. 7), S. 39. 31 ) C. Smit: De buitenlandse politiek van Nederland, II: Het Koninkrijk der Nederlanden. s'Gravenhage 1965, S. 20. 32 ) De Vroede 1960 (Anm. 29), S. 37 f. 33 ) R. P. W. J. M. Van der Heijden: De terugkeer van het Nederlands gezag in Limburg. In: De Maasgouw 108 (1989), Sp. 65-78; Eenheid en scheiding van de beide Limburgen. Verslag van het op 26 mei 1989 te Alden Biesen gehouden congres bij gelegenheid van de herdenking 150 jaar beide Limburgen. Leeuwarden 1989. 34 ) Boogman 1955 (Anm. 14), S. 50.
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vergleichen, denn der Bund war kein Nationalstaat, sondern ein lockerer Staatenbund, dem mit dem Großherzogtum Luxemburg und dem Herzogtum Holstein auch noch andere Territorien angehörten, die unter der Souveränität eines nichtdeutschen Fürsten standen. Allerdings wird man die rechtliche Stellung Limburgs auch nicht ohne weiteres mit der Luxemburgs vergleichen können, das als staatsrechtlich selbständiges Territorium lediglich in Personalunion mit den Niederlanden verbunden war. Limburg dagegen blieb auch nach seinem Eintritt in den Bund eine unselbständige niederländische Provinz, auch wenn ihm der König 1839 den für dieses Gebiet historisch nicht begründbaren Titel eines Herzogtums verliehen hatte, um ihm wegen des Bundesbeitritts den Anschein einer historisch-staatsrechtlichen Selbständigkeit zu verleihen.35 Dem limburgischen Sonderbewußtsein gegenüber den Niederlanden mußte ein solch leerer Titel, der die Provinz scheinbar auf die gleiche Stufe wie Luxemburg oder Holstein stellte, freilich weiteren Auftrieb verleihen. Limburgs Zugehörigkeit zum Deutschen Bund sollte sich auf Dauer als eine recht konfliktträchtige Lösung erweisen. Denn sie konnte nur solange problemlos bleiben, wie der Deutsche Bund ein lockerer Staatenbund blieb und es den Deutschen nicht einfiel, ihn nach dem Muster Frankreichs, Englands oder auch der Niederlande in einen Nationalstaat verwandeln zu wollen. Denn die gleichzeitige Zugehörigkeit Limburgs zu zwei verschiedenen Nationalstaaten wäre mit der Grundidee der Nation, wie sie sich seit 1789 entwickelt hatte, ebenso wie im Falle Schleswig-Holsteins nicht mehr vereinbar gewesen. 36 Mit der Revolution von 1848 wurden die Limburger aber genau vor diese Entscheidung gestellt. In der Frankfurter Paulskirche versuchten die Abgeordneten der deutschen Bundesstaaten zugleich mit den demokratischen und bürgerlichen Freiheiten auch die nationale Einheit Deutschlands zu erreichen, den Deutschen Bund also zu einem modernen Nationalstaat unter einheitlicher monarchischer Führung umzugestalten. In Limburg, dessen Gegensatz zum Norden sich seit der erzwungenen Wiedervereinigung von 1839 eher noch verstärkt hatte,37 löste die 1848er Bewegung von neuem anti-niederländische Strömungen aus, die diesmal aber nicht auf Belgien, sondern auf eine völlige Verschmelzungen mit dem zukünftigen Deutschland gerichtet waren. Wortführer dieser Bewegung war ein limburgischer Landadeliger, der Baron Jan Lodewijk van Scherpenzeel-Heusch, der im allgemeinen französisch, gelegentlich niederländisch, aber nur selten und nur unvollkommen deutsch sprach.38 Bis 1839 war Scherpenzeel ein überzeugter Anhänger des revolutio35 ) Alberts 1974 (Anm. 3), S. 155, H. R. Van Ommeren: Over de aanduiding "Hertogdom Limburg". In: De Maasgouw 96 (1977), Sp. 11-27. 36 ) Zu den Gefahren dieser Regelung vgl. Boogman 1955 (Anm. 14), S. 55 f. 37 ) Kraume 1979 (Anm. 7), S. 51. Der Hauptgrund scheint neben einer traditionellen Sympathie für Belgien eine verbreitete Unzufriedenheit mit der in den Niederlanden höheren Besteuerung gewesen zu sein; vgl. neben Ramakers 1991 (Anm. 26), S. 102; A. J. Geurts: Historische Aspecten van de provincie(s) Limburg. In: De Maasgouw 105 (1986), Sp. 49-78, bes. Sp. 90. 38 )/ Wieirs: 1. L. Th. A. L. Baron van Scherpenseel Heusch (12. 11. 1799 - 14. 2. 1872). Maaseik 1988 (Maaslandse sprokkelingen, N.S.10, Nr.6); Geurts 1986 (Anm. 37), Sp. 63-67; Grochtmann 1937 (Anm. 10), S. 47 f. Als großdeutscher Nationalist fehlinterpretiert wird Scherpenzeel bei G. Scherdin: Freiherr von Scherpenseel, ein Limburger Volksführer. Aachen 1942, sowie ders.: Frei-
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nären Belgien und seiner liberalen Konstitution gewesen und hatte 1839 der Trennung seiner Heimat von Brüssel nach Kräften entgegengearbeitet. Danach war er der entschiedene Vertreter einer limburgischen Autonomiebewegung geworden, deren Forderungen zunächst noch nicht auf eine Trennung von den Niederlanden hinausliefen, wohl aber auf eine eigene, nur aus Einheimischen bestehende Regierung des Herzogtums und auf dessen Freistellung von den vor 1815 und 1830-1839 entstandenen Schulden des niederländischen Staatshaushalts. Später, aber noch vor 1848, trat er angesichts der bei einer solchen halbautonomen Lösung zu erwartenden politischen Konflikte für eine völlige limburgische Selbständigkeit unter staatsrechtlicher Trennung von den Niederlanden und für den Eintritt des Herzogtums in den Deutschen Zollverein ein, der ihm aus wirtschaftlichen Gründen erforderlich schien. Eine bloße Personalunion mit den Niederlanden unter der oranischen Krone schien ihm nach dem Vorbild Luxemburgs eben noch tolerierbar. 39 Diese limburgische Autonomiebewegung, die Scherpenzeel durch eifrige Propagandatätigkeit, durch Broschüren und Flugblätter kräftig förderte, erhielt mit dem Ausbruch der Revolution und der Nationalstaatsbewegung in Deutschland im Frühjahr 1848 ein neues und konkreteres Ziel. So wie 1830 das liberal-konstitutionelle Belgien, erschien ihr 18 Jahre später ein demokratisches Deutschland mit, wie es anfangs noch schien, österreichisch-katholischem Übergewicht als ein Staatswesen, in dem sich die Limburger besser aufgehoben fühlen konnten als im protestantisch-konservativen Königreich der Niederlande. Deshalb ging es der Limburger Bewegung nun um nicht weniger als die definitive Trennung von den Niederlanden und die Aufnahme des Herzogtums in das "Großdeutschland der Paulskirche". 40 Scherpenzeel, der sich im Mai 1848 als Abgeordneter Limburgs in die deutsche Nationalversammlung hatte wählen lassen, machte dies zu seiner ersten Forderung, von der er selbst seine Teilnahme an der Paulskirchenversammlung abhängig machen wollte.41 Die staatsrechtliche, allerdings nicht sehr tragfähige Begründung hierzu lieferte eine Formulierung im 1841 erneuerten niederländischen Grundgesetz, herr Jan L. von Scherpenseel-Heusch. In: Große Deutsche im Ausland. Hg. v. H. J. Berger u. 0. Lohr. Stuttgart 1939, 219-232. Über Scherpenzeels geschickte Propaganda in Limburg wie in der deutschen Presse sowie unter den Abgeordneten und Reichsbehörden in Frankfurt vgl. Kraume 1979 (Anm. 7), S. 61 ff. 39 ) Zur Vorgeschichte des limburgischen Separatismus zwischen 1839 und 1848 Boogtnan 1955 (Anm. 14), S. 181 ff.; Kraume 1979 (Anm. 7), S. 42 f. (insbesondere das Verhältnis zum Deutschen Bund); R. P. W. J. M. Van der Heijden: Separatisme in Limburg 1840-1851. In: Tussen twee tricolores. Een limburgse vestingstad onder Nederlands en Belgisch bestuur: Venlo 1815-1880. Venlo 1990, S. 23-24; A. J. Geurts: Politieke commotie te Roermond in het vooijar van 1848. In: Roermond, stad met verleden. Roermond 1985, 177-200. 40 ) G. Wollstein: Das 'Großdeutschland' der Paulskirche. Nationale Ziele der bürgerlichen Revolution 1848/49. Düsseldorf 1977, S. 243-254; Kraume 1979 (Anm. 7), passim; Boogman 1955 (Anm. 14), S. 333 ff. und 369 ff.; Grochtmann 1937 (Anm. 10), S. 44 ff. Einseitig nationalistische Sichtweise bei G. Scherdin: Die 48er Revolution in Limburg. In: Heimat, Monatsschrift für Maasland, Eifel und Ardennen 1 (1940), 165-196. 41 ) Kraume 1979 (Anm. 7), S. 70; Wollstein 1977 (Anm. 40), S. 245. Gleichzeitig blieb Limburg aber auch in beiden Kammern des des niederländischen Parlaments vertreten, wo seine Wortführer u. a. mit historischen Gründen für den Verbleib bei Holland plädierten; Grochtmann 1937 (Anm. 10), S. 75.
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in der es hieß, daß Limburg eine Teil der Niederlande sei "vorbehaltlich der Beziehungen des Herzogtums, mit Ausnahme der Festungen Maastricht und Venlo und deren Umgebung, zum Deutschen Bund".42 Dies interpretierten Scherpenzeel und später auch die Mehrheit des Paulskirchenparlaments in einem Beschluß vom 19. Juli 1848 so, daß im Konfliktfall die letzteren den Vorrang besäßen, die Vereinigung Limburgs mit Holland unter derselben Verfassung und Verwaltung mit der deutschen Bundesverfassung nicht vereinbar sei und die künftige Reichsverfassung auch in Limburg Vorrang vor jedweder niederländischen Gesetzgebung haben müsse. 43 In Limburg wurde dieser Beschluß nicht zuletzt aufgrund von Mitteilungen Scherpenzeels bereits als Loslösung von den Niederlanden interpretiert und allgemein gefeiert. 44 Man könnte Scherpenzeels Bemühungen vielleicht als Obsession eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe abtun, gäbe es nicht die Wahlen zur Paulskirchenversammlung, die in Limburg am 12. bis 16. Mai 1848 nach deutschem Wahlrecht unter Aufsicht der niederländischen Behörden, die ihre Zustimmung freilich nur zögernd gegeben hatten, stattfanden und, bei freilich sehr unterschiedlicher Wahlbeteiligung, Scherpenzeel in den beiden Wahlkreisen Roermond und Valkenburg eine geradezu erdrückende Mehrheit von 91 % der Wahlmännerstimmen einbrachten. 45 Da Scherpenzeel selbst für Roermond annahm, wurde sein Gesinnungsfreund, der bürgerliche Gutsbesitzer Alexander Schoenmaeckers, mit ähnlich hoher Mehrheit in Valkenburg nachgewählt. Solche Ergebnisse konnten den Anschein erwecken, als sei die Limburger Anschlußbewegung von 1848 Ausdruck einer großen deutschen Nationalbewegung gewesen, die alle Schichten der Bevölkerung und alle Teile der Provinz Limburg in gleichem Maße erfaßte. So wurde es ja auch von mehreren Abgeordneten der Paulskirche gesehen, die in der Debatte vor dem 19. Juli zur Limburger Frage Stellung nahmen. Verstärkt wurde dieser Eindruck nachträglich dadurch, daß nach dem Paulskirchenbeschluß im Sommer 1848 allenthalben in Limburg schwarz-rot-goldene Fahnen wehten und auf Volksfesten, bei Versammlungen und ähnlichen Gelegenheiten deutsche Nationallieder gesungen wurden; sicherlich ein Höhepunkt der prodeutschen Begeisterung, gegen den die nach wie vor dort tätigen niederländischen Polizeibehörden bald einzuschreiten pflegten. 46 Die Limburger protestierten dagegen in zahlreichen Eingaben an das Frankfurter Parlament und fühlten sich durch solche Maßre42
) Kraume 1979 (Anm. 7). S. 43. ) Kraume 1979 (Anm. 7), S. 85; die vorhergehende Debatte dort S. 87-107 sowie zusammengefaßt bei Wollstein 1977 (Anm. 40), S. 248 f. In der Debatte zeigten sich ζ. T. sehr nebelhafte Vorstellungen insbesondere Uber die sprachlichen Verhältnisse Limburgs, nicht zuletzt deshalb, weil viele Abgeordnete im Niederländischen anscheinend nur eine Mundart des Deutschen zu sehen glaubten. Haußleiter 1949 (Anm. 11), S. 100, Anm. 11. 44 ) Vgl. hierzu die farbige Schilderang bei Boogman 1955, S. 504: "Vor allem in Beek, Valkenburg, Heerlen, Gulpen, Meersen und Sittard ging es lautstark zu. Gewehre knallten da lustig los zur Ehre des denkwürdigen Festes, Freudenfeuer schlugen hoch; fleißig wurde der Geneverflasche zugesprochen, und an Verwünschungen an die Adresse des Königs der Holländer (sie) mangelte es nicht" (tJberselzung vom Verf., K. P.). Die genannten Orte lagen nur zum kleineren Teil im deutschen, zum größeren im niederländischen Sprachgebiet. 45 ) Haußleiter 1949 (Anm. 11), S. 102; zur Wahlbeteiligung auch Grochtmann 1937 (Anm. 10), S. 58 f. 46 ) Haußleiter 1949 (Anm. 11), S. 120 aufgrund limburgischer Bitten an die Nationalversammlung um Abhilfe (vgl. unten Anm. 47). 43
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gelungen in ihren anti-niederländischen Gefühlen erneut bestätigt.47 Den gleichen Eindruck einer weitgehend prodeutschen Loyalität sollten auch schon frühere (insgesamt 85) Eingaben limburgischer Gemeinden und Einzelpersönlichkeiten erwecken, die der Freiherr van Scherpenzeel vor dem 19. Juli 1848 in der Paulskirche zitierte oder dem Präsidium der Nationalversammlung schriftlich übergab. Von ihnen sind allerdings nur drei deutschsprachige Petitionen aus Hoensbroeck, Nieuwenhagen und Simpelveld, allesamt im deutschsprachigen Südosten des Landes gelegen, in den Akten der Paulskirche erhalten geblieben. Die übrigen waren wahrscheinlich in niederländischer oder, wie auch der Schriftverkehr Scherpenzeels mit der Frankfurter Reichsexekutive, französischer Sprache verfaßt und wurden der Versammlung lediglich mündlich zur Kenntnis gebracht, weil ihre sprachliche Fassung bei den übrigen Abgeordneten sicherlich Zweifel am "deutschen" Charakter Limburgs hätte wecken können.48 Betrachtet man die limburgischen Wahlergebnisse vom Mai 1848 jedoch genauer, so ergibt sich nach den Berechnungen O. Haußleiters hinsichtlich der Loyalitätsverteilung in der Bevölkerung ebenfalls ein sehr viel differenzierteres Bild, als es den nationalbegeisterten Abgeordneten der Paulskirche erscheinen mochte.49 Zunächst einmal ist festzuhalten, daß sich die Einwohner von Maastricht und Venlo, da nicht zum Deutschen Bunde gehörig, auch nicht an diesen Maiwahlen beteiligen konnten. Da gerade hier die städtische Bevölkerung lebte, in der schon wegen der vielen Beamten der Anteil der Nordniederländer und überhaupt der Anhänger Oraniens merklich höher gelegen haben dürfte als auf dem platten Land, bieten die vorliegenden Wahlergebnisse von vornherein ein für die deutsche Bewegung zu günstiges Bild. Zum zweiten handelte es sich, wie im übrigen deutschen Bundesgebiet, auch in Limburg damals um eine indirekte Wahl, bei der auf je 500 Einwohner jeder Gemeinde ein Wahlmann festgestellt wurde. Die Anzahl derer, die sich tatsächlich an der Urwahl beteiligten, spielte dabei keine Rolle. Die Stimmenzahl, die ein limburgischer Wahlmann zu seiner Wahl nötig hatte, schwankte deshalb von einer Gemeinde zur anderen in einer Relation von etwa eins zu zehn. Auch hatten nur die Separatisten - Scherpenzeel und seine Anhänger benannten sich selber so, ihre Gegner bezeichneten sie als "sogenannte Holländer"50 - in sämtlichen Gemeinden die erforderliche Anzahl von Wahlmännerkandidaten benannt. Da es gegen Scherpenzeel und Schoenmaeckers also keine Gegenkandidaten gab, bedeutete eine Stimmabgabe praktisch in jedem Fall Zustimmung zu ihrer Anschlußpolitik. Eine Opposition dagegen oder der Wunsch nach Verbleib bei den Niederlanden konnte unter diesen Umständen nur durch 47
) Haußleiter 1949 (Anm. 11). Auf Beschluß der Nationalversammlung wurden diese Eingaben sogar gedruckt (K. D. Hassler: Verhandlungen der deutschen verfassungsgebenden Reichsversammlung in Frankfurt a. M., Beilage I zur 71. öffentl. Sitzung vom 4. September 1848. Bd. II. Frankfurt/M. 1848, S. 216-229). 48 ) Haußleiter 1949 (Anm. 11), S. 118 f. Die drei in den Akten der Nationalversammlung erhaltenen Texte im Wortlaut abgedruckt ebd. im Anhang S. 133-135. Weitere Eingaben aus Roennond und anderen Gemeinden blieben durch ihren Abdruck in der Stadt-Aachener Zeitung Nr. 185 v. 3. 7. 1848 und Nr. 197 v. 15. 7. 1848 erhalten; die erstere nochmals auszugsweise nachgedruckt bei G. Scherdin: Scherpenseel. 1942 (Anm. 38), S. 17 f. 49 ) Das Folgende nach den Berechnungen Haußleiters 1949 (Anm. 11), S. 101 ff. 50 ) Haußleiter 1949 (Anm. 11), S. 125 Anm. 92.
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Nichtbeteiligung an der Wahl bzw. durch Stimmenthaltung ausgedrückt werden. Andererseits ergibt die nach allgemeinem gleichem Wahlrecht vorgenommene Urwahl von 1848 jedoch ein deutlicheres Bild von der politischen Haltung der erwachsenen männlichen Bevölkerung Limburgs als die vorhergegangenen belgischen und niederländischen Zensuswahlen, die immer nur die etwa 7 bis 8% wahlberechtigten Mitglieder der bürgerlichen Oberschicht repräsentierten. Lassen die Wahlergebnisse vom Mai 1848 somit zwar auf eine breite Anhängerschaft Scherpenzeels, aber nicht auf die genaue Stärke einer eventuellen anti-separatistischen Opposition schließen, so ergibt eine nach Gemeinden oder Stimmbezirken vorgenommene Mikrountersuchung der Wahlbeteiligung, wie sie auf Grund der im Reichsarchiv Maastricht vorhandenen Wahlunterlagen möglich ist, sehr viel differenziertere Ergebnisse über den Zusammenhang von Sprache, historischer Tradition und Abstimmungsverhalten sowie indirekt über die Motive der limburgischen Anschlußbewegung. Zunächst ist entgegen den bis in die Zeit des Dritten Reiches wiederholten Behauptungen völkischer deutscher Autoren festzustellen, daß es bei diesen limburgischen Wahlen keine erkennbare Korrelation zwischen der jeweiligen Ortssprache und der Stärke der Anschlußbewegung gab.51 Im deutschsprachigen Südosten Limburgs stimmte man im Durchschnitt also nicht häufiger für Scherpenzeel und seine Separationspolitik als im niederländisch sprechenden Norden oder in der noch teilweise französischsprechenden Stadt Roermond. Damit entfällt die Vermutung, die Limburger hätten 1848 eine sprachlich begründete Loyalität zu dem entstehenden deutschen Nationalstaat gezeigt. Auch zwischen der geographischen Nähe einer Ortschaft zur preußischen Grenze und dem Abstimmungsverhalten gibt es keine aussagekräftige Relation. Signifikante Zusammenhänge bestehen dagegen zwischen der historischen Zugehörigkeit der einzelnen limburgischen Gemeinden und ihrem Abstimmungsverhalten im Mai 1848. Kurz zusammengefaßt waren die deutschen Sympathien in den früher zum Herzogtum Jülich gehörenden Gemeinden unabhängig von ihrer Sprache mit 64% Wahlbeteiligung am höchsten; die Spitze dort ihr das damals schon weitgehend niederländisch sprechende Sittard mit über 70%. Merklich geringer war die Wahlbeteiligung und damit der Wunsch nach Anschluß an den deutschen Nationalstaat in den altpreußischen und den ehemals zu den österreichischen Niederlanden gehörigen Gebieten mit jeweils um 40%, und am geringsten war sie mit 5-26% in den ehemals selbständigen Reichsherrschaften, die vor 1792 überhaupt keiner fremden Territorialherrschaft unterstanden hatten. Das Abstimmungsverhalten und damit die Sympathien für Deutschland dürften damit sehr viel stärker als von der Sprache von historischen Erinnerungen geprägt worden sein, die, wie in den früheren Teilen des Herzogtums Jülich, auch nach über 50 Jahren und über zwei Generationen hinweg ihre Wirkung entfalteten und 1848 einfach auf den deutschen Nationalstaat übertragen wurden. Die relativ niedrigen Werte der ehemals österreichischen Landesteile dürften von deren stärkerer Orientierung nach Belgien, insbesondere nach Belgisch-Limburg, bestimmt worden sein, der ihnen einen Anschluß an Deutschland weniger verlockend erscheinen ließ als 51
) Haußleiter 1949 (Anm. 11), S. 107 im Gegensatz besonders zu Scherdin.
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den Verbleib bei den Niederlanden. Eine Überraschung bieten in dieser Skala die Wahlergebnisse der altniederländischen Gemeinden Limburgs, die mit 48% nach den ehemals Jülicher Landen das stärkste pro-deutsche Ergebnis aufwiesen. 52 War das eine Folge des persönlichen Einflusses Scherpenzeels oder wirkte sich die längere Zugehörigkeit zu den Generalitätslanden, deren Herrschaft ja niemals beliebt gewesen war, hier besonders negativ aus? Eine anti-protestantische Reaktion dürfte gerade hier weniger vorliegen, hatte sich doch gerade in Orten wie Vaals seit langem ein Toleranzverhätnis zwischen Katholiken und den aus dem Rheinland oder Belgien zugewanderten protestantischen Flüchtlingen entwickelt. Da die erhaltenen Wahlmännerlisten auch die Berufsangaben der 308 limburgischen Wahlmänner enthalten, läßt sich in Kürze sogar eine berufssoziologische Differenzierung der Anhängerschaft Scherpenzeels vornehmen. Mit 37% dominieren hier wie in der Gesamtbevölkerung die Landwirte; es folgen die bürgerlichen Honoratioren mit 32% - unter ihnen allein 52 Bürgermeister und Schöffen -, der gewerbliche Mittelstand mit 19 und mit immerhin 5%, darunter vier Adeligen, die Großgrundbesitzer vom Schlage Scherpenzeels selbst. Ebenfalls bei 5% lag der Anteil der katholischen, naturgemäß wenig oranierfreundlichen Geistlichkeit. Die zeitgenössische niederländische Behauptung, daß an den limburgischen Paulskirchenwahlen "nur die Kanaille" teilgenommen habe 53 und diese somit nicht repräsentativ für die Haltung der Gesamtbevölkerung gewesen seien, dürfte danach ebenfalls nicht mehr haltbar sein. In der Paulskirche traten Scherpenzeel und Schoenmaeckers zwar intensiv für den Anschluß Limburgs an einen demokratischen deutschen Nationalstaat ein. Doch ihre konkreten, in erster Linie materiellen Forderungen wie Steuerreform, Entlastung vom limburgischen Anteil an der niederländischen Schuldenlast, nach dem Rückzug aller nordniederländischen Truppen aus Limburg und umgekehrt der Entlassung aller limburgischen Soldaten aus dem niederländischen Heer deuteten bereits darauf hin, daß es sich eher um eine anti-niederländische Protest- als um eine deutschnationale Anschlußbewegung handelte. Möglicherweise aus diesem Gefühl, sicher aber aus diplomatischen Erwägungen hat die Nationalversammlung ihren Beschluß vom 19. Juli, daß die Ansprüche des Bundes in Limburg Vorrang vor den Rechten der Niederlande hätten, ganz im Gegensatz zu ihrer Haltung in der Schleswiger Frage nicht weiter durchzusetzen versucht, obwohl die Limburger ihn bereits fälschlich als Bewilligung ihres Anschlußgesuchs und damit als Trennung von Holland aufgefaßt hatten. Offenbar fürchtete sie zusätzliche diplomatische Verwicklungen, die sich durch den hinhaltenden Widerstand des Königs der Niederlande und seines Frankfurter Gesandten von Scherff als Gegenspieler Scherpenzeels bereits zeigten und durch die sicher zu erwartenden Einsprüche der übrigen europäischen Mächte noch verstärkt worden wären. Ein zweites Schleswig konnte und wollte sich die Nationalversammlung offenbar nicht leisten. Als die von Scherpenzeel geforderte Verwaltungstrennung von den 52
) Die Wahlergebnisse jeder einzelnen Gemeinde mit ihrer früheren Territorialzugehörigkeit in Tabellenform bei Haußleiter 1949 (Anm. 11), S. 135-137. 53 ) Diese Behauptung ließ die niederländische Regierung offiziös in Frankfurt verbreiten; Grocht-
mann 1937 (Anm. 10), S. 61 und 152, Anm. 61.
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Niederlanden nicht zustande kam und die provisorische deutsche Zentralgewalt auch keine Anstalten machte, Limburg von seinem Anteil an der niederländischen Staatsschuld zu befreien, änderte der Freiherr deshalb im Mai 1849 radikal seine Meinung. Mit dem Hinweis auf deren Untätigkeit trat er am 14. 5. aus der Nationalversammlung aus, nachdem er noch wenige Wochen zuvor den preußischen König mit zum Kaiser gewählt hatte, und protestierte jetzt sogar mit einer ausführlichen Begründung "gegen die fernere Vereinigung des Herzogtums Limburg mit Deutschland".54 Diese Vereinigung war ihm also offenbar nur Mittel zum Zweck gewesen, die niederländische Herrschaft mit ihren Steuer- und Schuldenlasten abzuschütteln, um künftig in einer liberalkonstitutionellen Monarchie ähnlich der belgischen leben zu können. Wie wenig sich Scherpenzeel und seine Anhänger tatsächlich von nationalen Motiven im Sinne einer großdeutschen Bewegung hatten leiten lassen, zeigte sich auch darin, daß die Limburger die politische Kehrtwendung ihrer Frankfurter Abgeordneten bereits vorwegnahmen, indem sie den Separatisten mit einem Stimmenanteil von nur noch 40% bei den niederländischen Kammerwahlen vom 1.12. 1848 eine fühlbare Niederlage bereiteten.55 Dank seiner Mehrheit in den separatistischen Hochburgen in Heerlen und Sittard wurde Scherpenzeel trotzdem in die Zweite Kammer des niederländischen Parlaments gewählt, zeigte mit der Annahme seiner Wahl aber schon, daß er offenbar selbst nicht mehr mit einer bevorstehenden Trennung Limburgs von den Niederlanden rechnete. Die anti-separatistischen Erfolge bei dieser Dezemberwahl lassen sich zum Teil sicher auch damit erklären, daß diesmal die Städte Maastricht und Venlo wahlberechtigt waren und das niederländische Zensuswahlrecht die ohnehin weniger separatistisch denkende Oberschicht begünstigte. Vor allem waren sie aber Früchte einer liberalen Verfassungsreform nach belgischem Vorbild, die der niederländische Minister J. R. Thorbecke im Laufe des Sommers 1848 durchgesetzt hatte. Mit ihr endete nicht nur eine lange innere Identitätskrise der gesamten Niederlande; auch eine Reihe konkreter Vorbehalte der Limburger gegenüber Holland besonders im kirchlichen und schulischen Bereich waren damit gegenstandslos geworden.56 Die Wahlergebnisse vom Dezember und die folgende abrupte Abkehr Scherpenzeels und Schoenmaeckers von ihrer Anschlußforderung an Deutschland zeigten jedenfalls deutlich, daß die limburgische Anschlußbewegung des Jahres 1848 trotz ihrer schwarz-rotgoldenen Begeisterung keine deutsche Nationalbewegung war, denn dann wäre eine so plötzliche Kehrtwendung kaum möglich gewesen, sondern eine Protestbewegung gegen die als fremd empfundene Herrschaft der nördlichen Niederlande; kein Ausdruck einer positiven Loyalität zu Deutschland also, sondern eher der Abneigung gegenüber Holland, die sich in separatistischen 54
) Haußleiter 1949 (Anm. 11), S. 126; F. Wigard: Stenograph. Berichte über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung in Frankfurt a. M„ Bd. IX. Frankfurt/M. 1849, S. 6543 f. (Sitzung v. 14. 5. 1849). 55 ) Haußleiter 1949 (Anm. 11), S. 114; Ergebnisse bei Grochtmann 1937 (Anm. 10), S. 91-93. 56 ) Lademacher 1983 (Anm. 25), S. 228; J. C. Boogman: Die Suche nach der nationalen Identität. Die Niederlande 1813-1848. Wiesbaden 1968, S. 32 f. (Institut f. Europ. Geschichte Mainz, Vorträge Nr. 49). Als Krone und Regierung in der Limburger Frage eine zunehmend festere Haltung zeigten, hörte auch die holländische Presse auf, einem Verzicht auf Limburg als "nutzlosem Anhang der Niederlande" das Wort zu reden (Kraume 1979 (Anm. 7), S. 187 f.).
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Forderungen äußerte. An welches Nachbarland sich eine solche Bewegung anzuschließen suchte, ob an Belgien wie 1830 oder ein ebenso liberale-konstitutionelles Deutschland wie 1848 war dann nur noch von sekundärer Bedeutung. Politische Reformen in den Niederlanden selbst und die tiefgreifenden sozialen und demographischen Veränderungen der folgenden Jahrzehnte, insbesondere die Industrialisierung Südlimburgs, die Verbesserung der Verkehrsverbindungen mit dem Norden und die Entstehung einer nun auch von anderen Gruppen respektierten katholischen "Säule" innerhalb der niederländischen Gesellschaft 57 trugen viel dazu bei, die Limburger Mentalität mit der des Nordens zu versöhnen und das 1848 noch stark hervorgetretene Protestpotential erheblich zu verringern. Vollständig verschwand es jedoch ebensowenig wie ein bis heute fühlbares Bewußtsein limburgischer Eigenständigkeit, das nicht zuletzt von der nach wie vor bestehenden Randlage innerhalb der Niederlande und von dem häufig gezeigten Gefühl gespeist wurde, von der Zentralregierung wirtschaftlich und kulturell vernachlässigt zu werden. In der Kriegsgefahr von 1866 erklärten die Limburger bereits, "lieber türkisch als preußisch" werden zu wollen. 58 1867 verzichtete Bismarck ebenso wie bei Luxemburg auf die Einbeziehung Limburgs in den Norddeutschen Bund, obwohl es dem alten Deutschen Bund trotz aller Proteste Scherpenzeels bis zu dessen Ende 1866 angehört hatte. Der Name "Herzogtum" wurde von niederländischer Seite allerdings erst 1906 gestrichen. Dem nächsten Test wurde die niederländische Loyalität der Limburger am Ende des Ersten Weltkriegs unterworfen. Damals erschien dem auf der Siegerseite stehenden Belgien die Gelegenheit günstig, die widerwillig ertragenen Territorialverluste von 1839 wiedergutzumachen, indem es Limburg, das Großherzogtum Luxemburg sowie niederländisches Gebiet an der Scheidemündung wieder mit Brüssel vereinigte. Solche Gedanken wurden nicht nur von privaten Vereinigungen wie dem einflußreichen Comit6 de Politique Nationale unter dem Senator Pierre Nothomb propagiert. Sie fanden zumindest indirekt auch in Überlegungen der belgischen Regierung Eingang, wenn diese versuchte, Deutschland im Versailler Friedensvertrag zur Abtretung niederrheinischer Gebiete um Krefeld an das neutrale Holland zu verpflichten, um sie diesem als Kompensation für die gewünschte, aber nicht mit Gewalt erzwingbare Abtretung von Limburg und Zeeland anbieten zu können.59 In Brüssel wurden Bittschriften limburgischer Notabein, die 1839 gegen die Trennung von Belgien protestiert hatten, 1919 zur Unterstützung der eigenen Ansprüche im Druck publiziert. 60 Vereinzelt gab es dazu auch in Limburg 57 ) J. C. H. Blom: Verzuiling in Nederland. In: L'image de l'autre (vgl. Anm. 2). Bd. 1, S. 90-149; H. Righart: De katholieke zuil in Europa. Een vergelijkend onderzoek naar het ontstaan van verzuiling onder katholieken in Oostenrijk, Zwitzerland, Belgie en Nederland. Diss. Nijmegen 1986. 58 ) I. Μ. H. Evers: Liever turks dan pruisisch. De publieke opinie in de provincie Limburg 18661867. In: De Maasgouw 100 (1981), 129-149; N. Bos: Agitatie in Limburg. De verhoging van de grondbelasting in het hertogdom in 1865. Ebd. 108 (1989), Sp. 79-95. 59 ) R. L Schuursma: Het onaannemelijk tractaat. Het verdrag met Belgie van 3 april 1925 in de Nederlandse publieke opinie. Diss. Utrecht 1975, S. 32; K. Pabst: Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik 1924-1940. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 76 (1964), S. 253 ff. 60 ) Vgl. La Protestation du Limbourg. Quelques documents 1831-1839. Bruxelles o. J. (1919), und Ramakers 1991 (Anm. 26), S. 102 Anm. 23.
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zustimmende Äußerungen, etwa von Seiten des Kammerabgeordneten H. van Groenendael;61 Massenkundgebungen zu Gunsten Belgiens, auf die das Comite de Politique Nationale gehofft hatte, blieben jedoch aus. Stattdessen erhoben sich gegen die belgischen Annexionsabsichten in Limburg diesmal eher Proteste, bezeichnenderweise auch von katholischen Politikern, die zeigten, welche Fortschritte die Integration Limburgs in das Königreich der Niederlande in den vorhergegangenen Jahrzehnten gemacht hatte. Es muß allerdings offenbleiben, wieweit solche Proteste auf einer tatsächlichen Loyalität beruhten, oder ob ihnen nicht die pragmatische Überlegung zugrunde lag, in der politischen Situation von 1919 besser in einem wohlhabenden und neutralen Holland aufgehoben zu sein als im kriegszerstörten, soeben auf seine Neutralität verzichtenden belgischen Königreich. Zwei letzte Proben limburgischen Loyalitätsverhaltens verlangten später die Weltwirtschaftskrise von 1929 und ihre Folgen sowie die deutsche Besetzung während des Zweiten Weltkriegs. Die Zeit der Wirtschaftskrise und das Aufkommen populistischer und faschistischer Protestparteien vornehmlich im Süden Limburgs hat vor einigen Jahren S. Vellenga genauer untersucht. Die Fortexistenz einer regionalen Protesthaltung zeigte sich dabei etwa in den Erfolgen einer typischen kleinbäuerlichen Regionalpartei, der "Limburgsche Federatie" des Kleinbauern Η. H. Meertens, der zusammen mit anderen katholischen Dissidentengruppen bei den Provinzialwahlen von 1931 in fast allen Gemeinden Südwestlimburgs mehr als zwanzig Prozent, bisweilen sogar bis über 50% der Stimmen gewann. Beim Kammerwahlgang 1933 waren es immer noch mehr als zehn, in der Spitze 50% der Wähler, die von der "offiziellen" Römisch-Katholischen Staatspartei zu ihm überliefen.62 Gerade in diesem Gebiet zwischen Maastricht und dem industrialisierten Südosten, in Gulpen, Gronsveld oder Margraten, hatten sich die überwiegend ländlichen und katholischen Strukturen des alten Limburg seit dem 19. Jahrhundert am besten erhalten. Meertens' Hauptanliegen war zwar der Kampf gegen eine den Interessen der limburgischen Kleinbauern völlig zuwiderlaufende, an den Verhältnissen des Nordens orientierte Agrar- und Steuerpolitik der niederländischen Zentralregierung; in seiner Propaganda waren aber auch deutlich antiholländische und anti-protestantische Töne zu vernehmen, auch wenn sie keine ausdrücklichen Separations- oder Autonomieforderungen mehr enthielt. Meertens' Wahlerfolge drückten vor allem die Unzufriedenheit des ländlichkatholischen Limburg mit der offiziellen Staatspartei aus, der man übertriebene Loyalität gegenüber der Zentralregierung und damit eine Vernachlässigung der vornehmlich wirtschaftlichen Interessen Südlimburgs vorwarf, und können daher auch als erneutes Aufwallen limburgischen Sonderbewußtseins gegenüber dem Norden betrachtet werden. Keine regionale, sondern eine gesamtniederländische Protestpartei war die Nationalsozialistische Bewegung (NSB) des niederländischen Ingenieurs Adriaan Mussert, die wichtige Teile ihrer Ideologie von der deutschen NSDAP übernommen hatte. Sie erhielt auf dem Höhepunkt ihres Ansehens, 61
) N. Japikse: Die Stellung Hollands im Weltkrieg. Den Haag-Gotha 1921, S. 335 ff.; Alberts 1974 (Anm. 3). II, S. 270; Schuursma 1975 (Anm. 59), S. 25; P. van Limborgh: Wat de annexatie door Belgie voor Limburg en Zeeland belekenet. Den Haag 1919. 62 ) Vellenga 1975 (Anm. 15), S. 58 ff.
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bei den Provinzialwahlen von 1935, in Limburg mit 11,7% das höchste Durchschnittsergebnis aller niederländischen Provinzen überhaupt und erzielte damit auch im industriellen Südosten einen ähnlichen Einbruch in das bisher der Staatspartei zugute gekommene katholische Milieu, wie sie Meertens und anderen Protestgruppen zuvor schon im ländlichen Südwesten gelungen waren. 63 Sicher hat hier auch der Einfluß des grenznahen Deutschland, das im Gegensatz zu den Niederlanden um diese Zeit seine Wirtschaftskrise mit nationalsozialistischen Methoden fast überwunden zu haben schien, eine Rolle gespielt; die zahlreichen freundschaftlichen und familiären Kontakte über die deutsche Grenze hätten sich allerdings auch im Gegensinne auswirken können, indem sie den Limburgem ein ungeschminktes Bild der Verhältnisse im nationalsozialistischen Deutschland vermittelten. Interessanter als die Globalzahl 11,7% ist aber auch hier die Aufschlüsselung nach Gemeinden, von denen zahlreiche NSB-Stimmenanteile von 17 bis weit über 20% aufwiesen. Mit Heerlen,64 Sittard,65 Eygelshoven, 66 Valkenburg, 67 Obbicht 68 und anderen erscheinen in der Liste dieser Gemeinden viele wieder, die bereits 1848 besonders hohe Stimmenanteile zugunsten der separatistischen Bewegung gezeigt hatten. Angesichts der seither eingetretenen sozialen und demographischen Verschiebungen dürfte es zwar nicht leicht sein, für diese auffallenden Parallelen eine zwingende Erklärung zu finden. Sie deuten jedoch auf die Kontinuität vorhandener politischer Strukturen hin, deren Grundlage im Protest gegen die jeweils bestehenden politischen Verhältnisse der Gesamtniederlande zu suchen ist. Mit der Erholung der niederländischen Wirtschaft in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre sanken freilich auch diese Protestbewegungen wieder auf das zahlenmäßige Niveau von Splitterparteien ab. Überblickt man die Entwicklung Limburgs im Königreich der Niederlande über längere Zeit, so scheint sie vor allem in den ersten Jahrzehnten ein Musterbeispiel für die Schwierigkeiten zu liefern, die sich der Integration konfessionell, sozial und besonders ihrem historischen Bewußtsein nach andersartig strukturierter Gebietsteile in einen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts entgegenstellten, zu dem König Wilhelm I. die Vereinigten Niederlande zu machen suchte. Die von den Holländern versuchte innere Kolonisation erzeugte dort keineswegs das gewünschte niederländische Staatsbewußtsein, sondern verstärkte eher die bestehende Abneigung und Desintegration. Fast alle Faktoren, die in der modernen Literatur zum Nationalismus als Grundlagen nationaler Gemeinschaft genannt werden, also Sprache, Religion, historische Tradition, aber auch wirtschaftliche und soziale Strukturen und die Möglichkeiten innerer Kommunikation, waren in Limburg anders als in den nördlichen Niederlanden. Dabei dürften Geschichte und Wirtschaftsstruktur die größte, Konfession und Mentalität eine erhebliche, Sprachunterschiede dagegen die relativ 63
) Die Wahlergebnisse nach Einzelgemeinden bei Vellenga 1975 (Anm. 15), S. 5. ) 1848: 68,1%; 1935: 13,2%, jeweils nach den Angaben bei Haußleiter 1949 (Anm. 11), S. 137 und Vellenga 1975 (Anm. 15), S. 5 bzw. 102 ff. 65 ) 74,5 bzw. 17,0%. 66 ) 74,6 bzw. 23,0%. 67 ) 66,6 bzw. 23,4%. 68 ) 93,4 bzw. 29,9%. Sämtliche genannten Orte waren vor 1795 Jülicher oder altniederländischer Besitz. 64
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geringste Unterscheidungsrolle gespielt haben. Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich daran wenig, blieb Limburg für Den Haag immer das zurückgebliebene Hinterland, Den Haag für die Limburger dagegen die nicht nur geographisch ferne Hauptstadt, aus der selten Gutes kam, während Städte wie Aachen oder Lüttich ihnen nach Mentalität und Wirtschaftsbeziehungen viel näher lagen. Erst mit der Industrialisierung, die außer Eisenbahnen auch steigenden Wohlstand und Beschäftigung für die zweiten und dritten Söhne der Kleinbauern brachte, änderte sich das. In den neuen Bergbaugemeinden vermischten sich die bodenständigen Limburger auch mit Zuwanderem aus den nördlichen Niederlanden, freilich auch aus dem benachbarten Rheinland. Das hob die alten Unterschiede teilweise auf und verringerte die Bereitschaft zum Protest, zumal da die 1830 und 1848 noch lebendigen historischen Erinnerungen an die vorholländische Zeit gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend verblaßten. Eine weitere Stärkung der pro-niederländischen Loyalität Limburgs bewirkte der Erste Weltkrieg mit dem Bewußtsein, inmitten eines europäischen Krieges gemeinsam mit den Holländern wie auf einer friedlichen Insel zu leben. Auch wirtschaftlich, nicht nur durch reiche Gelegenheiten zum Schmuggel, erwies sich die Zugehörigkeit zu den Niederlanden in den Kriegs- und besonders Nachkriegsjahren für viele Limburger als vorteilhaft. Als diese gute Konjunktur in der Weltwirtschaftskrise abbrach, tauchten aber sofort wieder alte Vorbehalte gegenüber dem Norden auf, die sich in den 1930er Jahren auch konkret politisch artikulierten. Spätestens seit der gemeinsam erlebten Besetzung im Zweiten Weltkrieg, die sich zwar auch in Limburg auf einheimische Sympathisanten stützen konnte, bei der Mehrheit der Limburger jedoch noch die Reste der 1848 gezeigten politischen Sympathien für Deutschland auslöschte, kann an einer gefestigten Loyalität der Limburger innerhalb der Niederlande jedoch kein Zweifel mehr bestehen, auch wenn weiterhin auf die Pflege kultureller Eigenarten und die Berücksichtigung wirtschaftlicher Sonderinteressen geachtet wird und regionales Bewußtsein sich von neuem in politischen Wahlen artikuliert.69 Neben der Entwicklung moderner Medien wie Rundfunk und Fernsehen und einer zunehmenden Einheitlichkeit des Schulwesens und der niederländischen politischen Kultur trug dazu wohl auch das Bestreben der jüngsten niederländischen Regierungen bei, durch Verlagerung von Kompetenzen und selbst ganzer Behörden den bisherigen Einheitsstaat stärker zu dezentralisieren und somit auch die Rolle von Randprovinzen wie Limburg aufzuwerten. Aus den Autonomie- und Separationsbewegungen des 19. Jahrhunderts hat sich so ein limburgisches Regionalbewußtsein entwickelt, das heute keine Verwaltungstrennung oder Autonomie
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) So konnte eine neu auftretende Regionalpartei, Partij Nieuw Limburg, noch 1987 auf Anhieb unerwartet hohe 6% der limburgischen Stimmen auf sich vereinigen; Zondergeld 1987 (Anm. 4), S. 29.
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mehr verlangt, wohl aber Berücksichtigung der kulturellen Identität Limburgs und seiner besonderen wirtschaftlichen Beziehungen zu den rheinischen und belgischen Nachbargebieten, mit denen sich in der Euregio Maas-Rhein in den letzten Jahren auch eine institutionelle Zusammenarbeit über die nationalen Grenzen hinweg entwickelt hat. 70 Sucht man die Motive der 1830er und 1848er Bewegung weniger im nationalen als im regionalen Bewußtsein, so erscheint diese Entwicklung nur folgerichtig.
70
) T. Schreiber: Die Euregio Maas-Rhein. Vom Zusammenleben im Grenzraum zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit. In: Praxis Geographie 18 (1988), 44-46; Van den ßergh und L L G. Soete: Limburg en de Europese integratie. In: J. Soeters / H. Spoormans / R. Welten (Hg.): Het nieuwe Limburg, o. O. 1990, 65-78.
BISMARCK UND DAS PROBLEM DES EUROPÄISCHEN FRIEDENS von Jost Dülffer
Vor einiger Zeit kam mir ein überraschender Buchtitel in die Hand: "Bismarck als Pazifist"; denn das hatte ich bislang noch nicht gehört, daß der "Reichsgründer" mit jenem gemeinhin Außenseitern des politischen Geschehens vorbehaltenen Begriff zu bezeichnen war. Johannes Lepsius, der das genannte Buch 1922 veröffentlichte1, erläuterte sogleich zu dem Etikett, besser erscheine ihm der Begriff "Friedensstifter". Er bemühte sich dann darum, den "Friedenswillen" Bismarcks aufzuzeigen und tat dies im Gegensatz zur damaligen britischen Weltreichspolitik, die nach Lepsius' Ansicht häufig kriegsdrohend und kriegsbereit aufgetreten war, im Kontrast aber auch zur französischen Politik nach dem Ersten Weltkrieg, die der Verfasser mit einem Ausspruch Poincares: "Wir sind keine Bismarcks" im - unzulässigen - Umkehrschluß als Kriegstreiber zu entlarven suchte. Geschichte, als politisches Argument benutzt, wirkt, zumal wenn sie eine eigene "weiße" Tradition von der fragwürdigen "schwarzen" der anderen abzugrenzen versucht ja selten erkenntnisfördemd. Aber Lepsius' Ausführungen haben dennoch einen Kern in der Realität, da er als Herausgeber der "Großen Politik" erstmals die zwanzig Jahre der Amtszeit Otto von Bismarcks als Reichskanzler des Deutschen Reiches untersuchte, in denen dieses tatsächlich außer Kolonialscharmützeln keine Kriege geführt hat. Davor allerdings war Preußen unter Bismarcks Leitung nicht nur in drei Kriege verwickelt, sondern führte diese tatsächlich aktiv. So fehlt es nicht an Aussagen, welche den Wandel von der preußisch-deutschen Kriegs- zur Friedenswahrungspolitik begründen oder aber eine übergreifende Deutung für jenen Befund versucht haben. Hans Rosenberg etwa erklärte 1967 jene Wende mit den wirtschaftlichen Wechsellagen2. In einer Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs gebe es eher kriegerische Konflikte; aus der "großen Depression" von 1873 bis 1896 habe sich eine friedliche Politik abgeleitet, die dann im Hochimperialismus wieder umschlug. Aber gerade Rosenberg konnte für den Zusammenfall von wirtschaftlichen Trendperioden und Kriegen weder theoretisch eine plausible Vermittlung aufzeigen - auch das Gegenteil wäre ja denkbar: ökonomische Krise bringt aggressives Außenverhalten eines Staates mit sich -, noch empirische Belege liefern.
') J. Lepsius: Bismarck als Pazifist. Auf Grund der neuen Bismarck-Akten. Leipzig-München 1922, bes. S. 57 f f , 79, 81. - Der Beitrag beruht auf einem Vortrag einer Tagung der Historikergesellschaft der DDR "Otto von Bismarck - Leben, Werk und Wirkung" vom 8.-11. Mai 1990 in Wernigerode und wird entgegen ersten Erwartungen auch in diesem Rahmen publiziert. 2 ) H. Rosenberg: Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa. Berlin 1967.
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Ganz entgegengesetzt ist dagegen Imanuel Geiss' jüngst vertretene These3: Bis 1870/71 habe Deutschland ein Machtvakuum dargestellt. Mit der Reichsgriindung sei aber sogleich eine "kontinentale Super-Großmacht" entstanden, die wie "ein Schneller Brüter ohne Berstschutz" gewirkt habe, als "Gefahr für sich und seine Umwelt". Implizit dienten also demgemäß jene Kriege der sechziger Jahre einer natürlichen Bewegung, einer Ausfüllung jenes Machtvakuums, während die neue Lage ab 1871 von Bismarck durch "machtpolitische Selbstbeschränkung" in Sorge vor dem "Untergang des Reiches nach einer schweren Niederlage" vorerst gemeistert worden sei. Dauerhaftigkeit habe dem nicht innewohnen können. Jene dichotomische Scheidelinie von 1870 ist mir jedoch zu starr, ebenso wie mir Politik bei Geiss zu mechanistisch-naturgesetzlich auf Expansion und damit auf die nur nach Umständen zu untersuchende kriegerische Kollision angelegt erscheint. Dennoch liefert der Strukturwandel des europäischen Systems durch die Reichsgründung einen wichtigen Erklärungsrahmen für das Thema. Es geht also um den Versuch, in groben Umrissen Konstanz wie Wandel in Bismarcks Einstellung zum europäischen Frieden vor dem Hintergrund seiner Einstellung zum Wandel von internationalen Beziehungen überhaupt und den realen Veränderungen des europäischen Konzerts aufzuzeigen4. Bereits in der Olmütz-Rede vom 3. Dezember 18505 zeigte Bismarck, daß er sehr eigenständige Vorstellungen hatte, als er sich vehement gegen einen "Prinzipienkrieg" wandte, der von liberaler Seite um nationaler Ziele willen gegen Österreich und Rußland drohte. Er lehnte Krieg nicht grundsätzlich ab, sondern warnte nur vor einem solchen, der um Ehre, Sieg oder Ruhm geführt werde. Es ging ihm nicht um eine Anknüpfung an die Lehre vom gerechten Krieg, wenn er davor warnte, aus derartigen kurzlebigen "Gründen" Krieg zu führen. Selbst wenn "wir siegreich an den Toren von Wien und Petersburg stehen werden" - und für die Annahme eines solchen positiven Kriegsverlaufs gab es keinerlei Anlässe -, sah er kein Kriegsziel und mithin keinen casus belli. Wenn er darüber hinaus die Leiden auch der einfachen Leute durch Krieg, "Brandstätten, Elend und Jammer, von hunderttausend Leichen und hundert Millionen Schulden" ausmalte, so scheint Bismarck hier auf die Perspektive des allgemeinen Krieges abgehoben zu haben. War diese Aussicht für Bismarck der Kern des Problems, der europäische Krieg ein um jeden Preis zu vermeidendes Ereignis? Diese Auffassung stand noch nicht am Anfang der politischen Karriere des im Dienste der Krone der schwächsten europäischen Großmacht stehenden Mannes. Im Krimkrieg und sodann im italienischen Krieg - jeweils noch nicht 3
) /. Geiss: Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1815 1914. München 1990, bes. S. 102 - 122. Zitate: S. 116, 142. ) Die wichtigsten Standardwerke hierzu: A. Hillgruber: Bismarcks Außenpolitik. Freiburg/Br. 1972; K. Hildebrand: Deutsche Außenpolitik 1871-1918. München 1989. Zum engeren Thema: N. Jakipse: Europa und Bismarcks Friedenspolitik. Berlin 1927; H. Wolter: Bismarck als "Realpolitiker". Das Problem des europäischen Friedens. In: Η Bock/ M. Thoms (Hg): Krieg oder Frieden im Wandel der Geschichte. Von 1500 bis zur Gegenwart. Berlin (Ost) 1989, 166-173. 5 ) O. von Bismarck: Werke in Auswahl. 8 Bde., Darmstadt 1962. Hier: I, 1: 1815-1854, S. 333-344, hier: S. 335, 339. 4
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in verantwortlicher Position - entwarf der Gesandte Bismarck Szenarien, die unter bestimmten Umständen eine preußisch-deutsche Machterweiterung auch unter der Gefahr eines allgemeinen Krieges anvisierten. "Die großen Krisen bilden das Wetter, welches Preußens Wachstum fördert", und diese müßten "sehr rücksichtslos" ausgenutzt werden6. In diesem Sinne forderte er zunächst von den deutschen Klein- und Mittelstaaten eine unabhängige, wie auch gegenüber Rußland selbstbewußt auftretende Politik, also "eine spezifisch Preußische Politik [...], die ihre Geltung durch die Interessen und Befürchtungen anderer sucht"7. Später befürwortete er im Krimkrieg eine stärkere preußische Mobilisierung8 auf zweihunderttausend Mann, um Österreich, zusammen mit Rußland wegen norddeutscher Vorteile zu bedrohen und nötigenfalls zu bekämpfen. Zumindest im Rückblick erschienen ihm seine Rezepte gefährlich gewesen zu sein, hätten sie doch aus dem regional begrenzt geführten Krimkrieg in der Tat den allgemeinen europäischen Krieg entstehen lassen können, der gerade die Mitte Europas als Kriegsschauplatz umfaßt hätte. Ähnliches läßt sich für den Gedanken eines preußischen militärischen Ausgreifens nach Süden während des italienischen Krieges sagen9. Österreich war damals handlungsunfähig; ein Eingreifen Frankreichs und eventuell Rußlands war nicht auszuschließen. Auch aus dieser militärisch-politischen Pression hätte ein großer europäischer Krieg entstehen können. Aber schon hier ist nicht mehr sicher, ob die Risiken einer Intervention anderer europäischer Mächte Bismarck bei einer Annahme seines Plans durch den Monarchen nicht doch hätten zurückschrecken lassen. Erst ab 1862 konnte er als Ministerpräsident weitgehend seine Vorstellung durchsetzen, indem er selbst Krisen gezielt herbeiführte. Der Unterschied zu seiner oben zitierten Vorstellung von 1856 war der, daß bei den zu Kriegen führenden Krisen der sechziger Jahre jene nicht aus anderen Quellen entstanden, sondern vom preußischen Ministerpräsidenten selbst also als Optionen bereitgehalten, die Krisen an geeigneten Punkten zugespitzt und die Kriege dann entschlossen herbeigeführt wurden. Der begrenzte Krieg in erwünschter Konstellation - und nicht der allgemeine - war dabei das Resultat. Über das Motiv für dieses Vorgehen ließ sich Bismarck in verschiedenartigen Begriffen aus, die ζ. T. Krieg als etwas Fatalistisches ansahen. "Wie Gott es will, es ist ja alles doch nur eine Zeitfrage, Völker und Menschen, Thorheit und Weisheit, Krieg und Frieden, sie kommen und gehen wie Wasserwogen, und das Meer bleibt"10. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Zugrunde lag das - auch religiös begründete - Motiv preußischer Machterweiterung und -ausdehnung in und über Deutschland. Dazu gehörte notwendig eine 6
) Die auswärtige Politik Preußens 1858-1871. Diplomatische Aktenstücke. 10 Bde., Oldenburg 1933-1941, hier: I, Nr. 2; vgl. K. Borries: Deutschland und das Problem des Zweifrontendrucks in der europäischen Krise des italienischen Freiheitskampfes 1859. In: Das Reich. Festschrift für Johannes Haller. Stuttgart 1940, S. 262 ff., hier: S. 285. 7 ) Η Fenske (Hg ): Der Weg zur Reichsgriindung, 1850-1870. Darmstadt 1977, S. 109 (Bismarck anL. von Gerlach, 19 /20. 12. 1853). 8 ) Vgl. Bismarck an Manteuffel, 15. 2. 1854, B. an Gerlach, 20. 2. 1854. In: Werke in Auswahl, 1-6. 9
) Bismarck an Alvensleben, 5. 5. 1859, zit. n. Hillgruber: Außenpolitik (Anm. 4), S. 30 f. ) 2. 7. 1859, zit. n. Borries (Anm. 6), S. 284.
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partielle, im Laufe der Zeit zunehmend auch eine völlige Verdrängung Österreichs aus jenem Einflußbereich. Dieses Ziel Schloß auch immer in sich ein, daß ein Krieg zweier europäischer Großmächte, hier also Preußens und Österreichs, kaum zu vermeiden war, daneben ein Ende des alten Deutschen Bundes herbeigeführt, eine Benutzung der anderen europäischen Mächte versucht wurde. Der Ministerpräsident führte also Krisen aktiv herbei, ließ sie ohne starre Kriegsabsicht eskalieren und vermochte diese weitgehend taktisch zu steuern. Gerade darin lag Bismarcks Stärke, die seit Uber einem Jahrhundert im Detail nachgezeichnet worden ist. Das hieß im Kem, daß er Krisen im herkömmlichen Stile von Kabinettspolitik inszenierte und dabei zugleich Optionen und Rückfallpositionen beibehielt, die in der Regel denen der anderen Mächte und ihrer Politiker überlegen waren. Kabinettspolitik Bismarcks heißt jedoch nicht, autonome Politikgestaltung aus dem Willen eines Mannes heraus. Die Limitierungen durch den Monarchen und die militärische Gewalt im gouvemementalen Bereich sind hier nur zu nennen. Darüber hinaus war zumindest seit dem deutsch-französischen Krieg und der Pariser Commune seine Außenpolitik - auch von dem "cauchemar des r6volutions" geleitet -, bestrebt, mittels des außenpolitischen Hebels die Gesellschaftsordnung nach innen zu befestigen11. Die monarchische Solidarität ä la Heilige Allianz im Dreikaiserabkommen von 1873 signalisierte dies am sinnfälligsten. Jedoch lag gerade darin auch eine taktische Komponente, die es Bismarck im Kern ermöglichen sollte, seine relativ ideologiefireie Position als "Realpolitik" etwa gegenüber den Kaisermächten aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite scheute er sich nicht, wenn schon nicht Sozialrevolutionäre, so doch nationalrevolutionäre Kräfte als Rückfallposition in sein Kalkül einzubauen - so gegenüber Österreich 1866, so im Gedanken an eine Aufteilung der Donaumonarchie bei mehreren Gelegenheiten in den siebziger und achtziger Jahren, so auch im Gedanken an die Entfesselung eines deutschen Nationalkrieges gegen Frankreich 1866. Natürlich dienten auch diese extremen Mittel primär der Abschreckung, aber diese konnten nur bei tatsächlicher Entschlossenheit wirksam werden. Diese Instrumentalisierung hieß zugleich, entsprechende - reale oder eingebildete - revolutionierende Versuche gegen die preußisch-deutsche Position notfalls durch Krieg abzuwehren. "Ein Friede, der der Befürchtung ausgesetzt ist, jeden Tag, jede Woche gestört zu werden, hat nicht den Wert eines Friedens; ein Krieg ist oft weniger schädlich für den allgemeinen Wohlstand, als ein solcher unsicherer Friede", führte er am 30. Januar 1869 im Abgeordnetenhaus aus12. Zu unterscheiden ist davon seine eigene Instrumentalisierung gerade der Nationalbewegung. Wenn er im September 1862 von den großen Entscheidungen sprach, die doch nur durch Blut und Eisen gefällt würden, wenn 1888 die Rede davon war, daß die Deutschen nur Gott und sonst nichts auf der Welt fürchteten13, dann war beide u ) Dieses Element (zu) stark akzentuiert bei H. Wolter: Bismarcks Außenpolitik 1871-1881. Berlin (Ost) 1983. 12 ) 0 . v. Bismarck: Die gesammelten Werke. 15 Bde., Berlin 1924-1935. Hier: Bd. 11, S. 13 ff. (zit. G.W.). 13 ) G.W., Bd. 10, S. 140; Rede vom 6. 2. 1888 In: Bismarck: Werke in Auswahl (Anm. 5), Bd. 7, S. 588-614, hier: S.613.
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Male ein Bündnis mit jenen im Kern bürgerlichen Kräften beabsichtigt. Aber wie hatten sich die Rahmenbedingungen geändert! 1862 schlug das Werben des "Konfliktministers" um die Liberalen mit dieser Parole gründlich fehl. Aber 1888 versuchte er mit den genannten Worten gegenüber einem bedrohlich überschäumenden Chauvinismus der Kriegsbereitschaft einen markigen Konsens zu suggerieren, gerade um ihm nicht nachgeben zu müssen. Bismarck kam also von der Kabinettspolitik her, um so unter Einbeziehung auch der nichtgouvernementalen gesellschaftlichen Kräfte preußischdeutsche Machtpolitik zu betreiben. Seine Versicherung im Jahre 186214, man werde "nicht so bald einen preußischen Staatsmann finden, der so entschieden und so unbeirrt durch die öffentliche Meinung reine Kabinettspolitik zu machen geneigt wäre, weil niemand die öffentliche Meinung so verachtet, wie ich", traf damals noch halbwegs zu. Aber zunehmend wurde doch eben jene Meinung zu einem im Positiven wie Negativen von Bismarck einzukalkulierenden und seine Handlungsfreiheit beherrschenden Faktor. Im Sinne der Kabinettspolitik konnte er noch durch taktisches Geschick den dänischen Krieg als Sanktion für europäisches Völkerrecht führen, den Krieg gegen Frankreich als Verteidigungskrieg gegen ein im europäischen Maßstab als anmaßende Hegemonialpolitik angesehenes Vorgehen. Aber Bismarck brauchte die Nationalbewegung als Schwungrad und Verstärker, um die sonst zu schwache Position der preußischen Monarchie im Aktionsfeld des Deutschen Bundes (solange er existierte) und der europäischen Mächte zur Geltung zu bringen15. Er schaffte es dabei, dieses (partielle) Bündnis 1864 bis 1870/71 zu seinen Prämissen zu begründen und aufrechtzuerhalten und damit die Nationalbewegung weitgehend auf seine Seite zu ziehen. Zugleich hieß dies, daß er in der Legitimation der Kriege jene als für Europa verträglich hinstellte, den europäischen Frieden als zentrale Grenze auch der limitierten Kriege zu sichern suchte. 1866 allerdings scheint mir dieses Doppelziel nicht mehr im differenzierten und beherrschbaren politischen Kalkül des Ministerpräsidenten gelegen, sondern vor allem auf dem schnellen und so nicht berechenbaren oder sicher erwarteten Sieg der preußischen Waffen beruht zu haben. Es war ein Hasardspiel mit hohem Einsatz, das gewagt wurde und tatsächlich zu einem schnellen Ende des deutschen Krieges führte16. Wichtig bei der Kooperation Bismarcks mit der Nationalbewegung war die Tatsache, daß er diese zu seinen Bedingungen herbeiführen konnte. Das galt auch für den deutsch-französischen Krieg 1870/71, aus dem dann aber mit dem Deutschen Reich etwas Neues und Anu
) Zit. n. Hillgruber: Außenpolitik (Anm. 4), S. 45. ) Ausführlich herausgearbeitet u. a. bei E. Engelberg: Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer. Berlin (West bzw. Ost) 1985, bes. S. 557 ff.; L Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt/M. 1980. bes. S. 293-455; H. Schulze: Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgriindung. München 1986. 16 ) W von Groote / U. von Gersdorff (Hg ): Entscheidung 1866. Der Krieg zwischen Österreich und Preußen. Stuttgart 1966; K. Canis: Die politische Taktik führender preußischer Militärs 1858-1866. In: H. Barthel/E. Engelberg (Hg ): Die großpreußisch-militaristische Reichsgriindung 1871. 2 Bde., Berlin (Ost) 1971, hier: I, S. 118-156. 15
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deres entstand als eine "großpreußisch-militaristische"17 Lösung, nämlich ein von oben gegründeter und weitgehend gelenkter Nationalstaat. Die Bedeutung des neuen Reiches für das Staatensystem enthüllte sich auch einem Bismarck nicht schlagartig, und so setzte er seine Taktik der Kriegsdrohung aus den sechziger Jahren gegenüber Frankreich zunächst noch bei mehreren Gelegenheiten fort. Zugrunde lag bereits zuvor eine Einschätzung, daß der französische Bonapartismus potentiell nicht mehr friedensfähig sei. Nunmehr handelte es sich darum, die in seiner Sicht möglicherweise strukturell zum Revanchekrieg drängende französische Republik durch wiederholte Kriegsdrohung politisch botmäßig und zugleich unter den europäischen Mächten isoliert zu erhalten. Diese Versuche kulminierten in der Krieg-In-Sicht-Krise 1875, der wohl keine Kriegsabsicht zugrunde lag. Jedoch die Art des Eingreifens Rußlands wie Englands machten deutlich, daß jeder vom Deutschen Reich angezettelte Krieg fortan die Interessen der übrigen europäischen Mächte auf den Plan rief, somit nicht in der bisherigen duellartigen Form geführt werden konnte. Ein großer Krieg aber war unerwünscht18. Gerade weil dieser die Existenz des noch ungefestigten Deutschen Reiches aufs Spiel setzte, mußte er fortan um - fast - jeden Preis vermieden werden. Allerdings war es nicht zweckmäßig, auf die Kriegführungsoption öffentlich zu verzichten. "Es ist auch nicht nützlich, dem Gegner die Sicherheit zu geben, daß man seinen Angriff jedenfalls abwarten werde", versicherte er 1875 seinem Monarchen19. Das Resultat war fortan tatsächlich eine Politik der relativen Selbstbescheidung20 des Deutschen Reiches. Eine Kompensationspolitik herkömmlichen Stils, die immerhin möglich war, wies beträchtliche Risiken auf und konnte dem Deutschen Reich nur in einer sehr extremen Situation machtpolitische Vorteile bringen. Den Kern bildete fortan für Bismarck die Taktik, Spannungen der anderen Mächte an die Peripherie abzulenken, wobei auf Dauer eine relative Stagnation der deutschen Macht im Vergleich zu wachsendem Einfluß der anderen die Folge sein konnte. Begründet war dies alles in der Einsicht, es gehe darum, das neugeschaffene Reich "von den bedrohlichen Folgen seiner Gründung zu bewahren" (Hillgruber). So wurde Bismarck auch nicht müde, die Saturiertheit des Reiches, seine Rolle als "ehrlicher Makler" und anderes mehr zu betonen. Dem stand jedoch einerseits entgegen, daß an sich zu fördernde Krisen zwischen anderen an der europäischen Peripherie durchaus in allgemeinen Krieg umschlagen konnten. Das war auf jeden Fall zu vermeiden, entzog sich aber zunehmend deutscher Kontrolle. In der Orient17
) Vgl. Barthel /Engelberg (Anm. 16). )A. Hillgruber: Die "Krieg-in-Sicht"-Krise 1875 - Wegscheide der Politik der europäischen Großmächte in der späten Bismarck-Zeit. In: Gedenkschrift Martin Göhring. Hg. v. E. Schulin. Wiesbaden 1968, S. 239 ff.; U. LappenkUper: Die Mission Radowitz. Untersuchungen zur Rußlandpolitik Otto von Bismarcks (1871-1875). Göttingen 1990. - Anders: E. Engelberg: Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas. Berlin 1990, S. 193-209 ("Kriegsgelärm"); O. Pflanze: Bismarck and the Development of Germany, Vol. II: The period of consolidation, 1871-1880. Princeton 1990, S. 246-280 (272: "The bluff was easily called"). 19 ) Bismarck: G. W., Bd. 6 c, S. 63; vgl. Κ.-Ε. Jeismann: Das Problem des Präventivkrieges im europäischen Staatensystem mit besonderem Blick auf die Bismarck-Zeit. Freiburg-München 1957, S. 95. 20 ) Dies und das Folgende angelehnt an Hillgruber: Außenpolitik (Anm. 4), S. 146 ff., Zit. S. 131. 18
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krise 1876 konnte Bismarck äußern21: "In einem Augenblick, wo nahe Kriegsgefahr in der Luft liegt, dürfen wir keinen Schritt tun, der die Gefahr schüren und kriegerische Entschlüsse ermutigen kann". Ähnliches galt 1884 für einen drohenden französisch-englischen Krieg22. Der Berliner Kongreß steht gleichsam symbolisch für eine solche Vermittlungspolitik, deren Chancen aber zunehmend geringer wurden. Nach Abflauen der akuten Orientkrise war Bismarck dann aber doch wieder von der Nützlichkeit überzeugt23, das "orientalische Geschwür offenzuhalten und dadurch die Einigkeit der Großmächte zu vereiteln und unseren eigenen Frieden zu sichern" (2. 11. 1878). Hinzu kam seit 1875 permanent die ernsthafte Sorge vor einem tatsächlich anderswo beginnenden allgemeinen Krieg. In einer Reichstagsdebatte am 6. Februar 1888 stilisierte Bismarck24 eindrucksvoll, wenn auch einseitig, die preußische Politik seit 1848 unter dem Signum der permanenten Kriegsgefahr. Gerade davon setzte er im Rahmen des internationalen Systems die preußische bzw. seine eigene Politik der Vermeidung von großen Kriegen ab. Zu dieser Perzeption latenter Kriegsgefahr trug neben der Besorgnis vor französischer Kriegsdisposition seit Ende der siebziger Jahre maßgeblich die von ihm gesehene Gefahr eines im Mächtesystem revolutionär wirkenden zarischen Rußlands bei25. Ein slawophiles Rußland bedrohe den europäischen Frieden, hieß es 1879; 1881 war es die Befürchtung vor dem "russischen Chauvinismus", der Bismarck Vergleiche mit Ludwig XIV. bzw. Napoleon I. und ihrer Rolle im europäischen System suchen ließ. Der cauchemar des coalitions und der cauchemar des revolutions verbanden sich also zunehmend zu einem Syndrom, so daß Bismarck nicht nur von einem sozialimperialistisch agierenden Zarentum, sondern auch von russischen Revolutionären, die sich durchsetzen konnten, die Entfesselung eines "Weltbrandes" zu gewärtigen müssen glaubte. Allein die Friedenswahrung wurde so zum System beständiger Aushilfe. (Begrenzte) Kriege zur Antizipierung oder Verhinderung einer solchen zwischenstaatlichen oder innergesellschaftlichen Situation kamen für ihn prinzipiell nicht in Frage. "Ich werde auch dann dem Grundsatz treu bleiben, den Krieg niemals deswegen zu beginnen, weil man annimmt, daß er sowieso unvermeidlich sei; man kann das eben nicht vorher wissen."26 Das war beim deutschen Reichskanzler eine auch religiös motivierte Einsicht in die Grenzen menschlicher Handlungsmöglichkeit und -freiheit gegenüber "göttlicher Vorsehung". "Unsere Politik hat die Aufgabe, den Krieg, wenn möglich, ganz zu verhüten, und geht das nicht, ihn doch zu verschieben"27. Natürlich waren dies alles Argumente gegen entsprechende militärische Pläne von Seiten des Gene-
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) Wolter: Außenpolitik (Anm. 11), S. 237 f.; vgl. Die Große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914, 40 Bde., Berlin 1922-1927, hier: 2, Nr. 241, S. 57. (Zit. GP) 22 ) GP, 3, Nr. 693, S. 431 (5. 10. 1884). 23 ) H.Wolter: Außenpolitik (Anm. 11), S. 276. 24 ) Vgl. Anm. 13. 25 ) Die folgenden Zitate: GP, 3, Nr. 461, 447; Η Wolter: Außenpolitik (Anm. 11), S. 347; W. Windelband: Bismarck und die europäischen Großmächte 1879-1885. Essen 2 1942, bes. Kap. 14, S. 220-244; B. Waller: Bismarck at the Crossroads. London 1974. 26 ) GP, 3, Nr. 676 - 1883; vgl. K.-E. Jeismann (Anm. 19), S. 115, 118 f. 27 ) G P , 6 , Nr. 1182 (Dez. 1887).
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ralstabes28. Aber sie betrafen doch den Kern der Politik zur Wahrung des europäischen Friedens. Niemals wurde diese Absicht intensiver in Frage gestellt als in der großen Doppelkrise 1887/88. Sie ist hier nur unter der Frage des europäischen allgemeinen Friedens zu analysieren. In den im Kern ohne deutsche Aktivitäten entstandenen Krisen um Frankreich (Boulanger) und im Osten (Bulgarienkrise und drohender österreichisch-russischer Krieg) ging es dem Kanzler erneut um die Vermeidung eines Krieges auch zwischen zwei Großmächten, da der allgemeine Krieg als Resultat wahrscheinlich war. In der Öffentlichkeit wurde gemäß traditionellem Feindbild und damit erwünschter politischer Emotionalisierung die französische Krise in den Vordergrund gestellt. Tatsächlich machte sich Bismarck mehr Sorgen um Rußlands Friedensfähigkeit und damit eine Verbindung mit Frankreich. In diesem Zusammenhang versuchte der Reichskanzler als weitestreichendes Mittel der österreichungarischen Politik im Dezember 1887/Januar 1888 die deutsche Bereitschaft klarzumachen29, bei einem österreichischen Angriff auf Rußland seinerseits gegen Frankreich loszuschlagen. Das mußte tatsächlich einen Kontinentalkrieg bedeuten, den Bismarck so lange vermieden hatte. Hier gab er sie - scheinbar Maßnahmen der österreichischen Politik anheim. Jedoch spricht der gesamte Kontext dafür, daß es ihm gerade darum ging, Österreich "nicht zu aggressivem Vorgehen zu ermutigen" (Jeismann), weil er wußte, daß die Donaumonarchie nur mit unmittelbarer deutscher Unterstützung gegen Rußland einen Krieg beginnen werde. Der Zusicherung lag also eine taktische Absicht zur Friedenswahrung zugrunde. Nur war damit der Österreich-ungarischen Politik in gewisser Hinsicht ein Blankoscheck ausgeschrieben, den diese dann - voraussehbar und erhofft - doch nicht verwandte. Das zeigt aber die Grenzen einer von Bismarck gesteuerten Peripheriepolitik. Auch bei Prüfung aller Belege vermag ich in dieser Situation nicht die Hoffnung oder gar zielgerichtete Politik Bismarcks auf je isolierte Kriege gegen Rußland aus Anlaß der Orientfrage oder gegen Frankreich zu erkennen30. Es besteht kein Zweifel, daß Bismarck in jener Doppelkrise einen Krieg befürchtete und notfalls auch für dessen Führung eingetreten wäre. Aber bemerkenswert scheint mir, wie sich die Umstände gewandelt hatten, unter denen er einen Krieg für gerechtfertigt hielt. Sowohl in seiner bereits genannten Reichstagsrede vom 6. Februar 1888 als auch im Bündnisangebot an Salis-
28
) K. Canis: Bismarck und Waldersee. Die außenpolitischen Krisenerscheinungen und das Verhalten des Generalstabes 1882-1890. Berlin (Ost) 1980, bes. Kap. III, S. 144 ff. 29 ) Κ -Ε. Jeismann (Aran. 19), S. 122 f. 30 ) So K. Canis: Bismarck (Anm. 28), S. 228 ff.; vgl. modifiziert Ders. In: Deutsche Geschichte, Bd. 5: Der Kapitalismus der freien Konkurrenz und der Übergang zum Monopolkapitalismus im Kaiserreich von 1871-1897. Berlin (Ost) 1988, S. 305-7. - Zum Gesamtrahmen: E. Engelberg: Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas (Anm. 18), S. 489-508 hebt hier gleichfalls die Friedfertigkeit Bismarcks hervor; ähnlich 0. Pflanze: Bismarck and the Development of Germany. Vol. III: The period of fortification, 1880-1898. Princeton 1990, S. 216-259.
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bury ein Jahr später31, ging er von kontinuierlichen Leitlinien deutscher Politik aus, die über seine Politik hinausreichten, also ein gleichsam "objektives" Moment deutscher Berechenbarkeit und damit Friedfertigkeit. Er hielt es für "ruchlos"32 aus kleinsten Vorfällen, "einen großen nationalen Krieg zu entzünden oder auch nur wahrscheinlich zu machen". "Wenn wir in Deutschland einen Krieg mit der vollen Wirkung unserer Nationalkraft führen wollen, so muß es ein Krieg sein, mit dem alle, die ihn mitmachen, alle, die ihm Opfer bringen, kurz und gut, mit dem die ganze Nation einverstanden ist; es muß ein Volkskrieg sein". Ein solcher Krieg konnte in dieser Sicht nur defensiv geführt werden. Für offensive Ziele ließe sich die Nation nicht mobilisieren. Die Deutschen, so ließ Bismarck Salisbury wissen33, werden nur "für nationale Unabhängigkeit und Integrität des Reiches" kämpfen. Von Kabinettspolitik unabhängig von öffentlicher Meinung war nun nicht mehr die Rede. Die gleichsam natumotwendige Machterweiterung Preußens, die Bismarck einen Krieg in den sechziger Jahren rechtfertigen ließ, gab es nicht mehr. Seit jener Zeit hatte sich die Stellung Preußen-Deutschlands in Europa gewandelt, aber auch das europäische Mächtesystem war unter dieser Entwicklung so verändert worden, daß jeder deutsche Krieg einen großen Krieg nach sich ziehen mußte oder doch zumindest konnte. Tatsächlich gelang es dem Reichskanzler bis zu seinem Abgang 1890, "den Krieg hinten anhalten (zu können), wenigstens pro tempore, vielleicht für lange Zeit", wie er Salisbury am 11. 1. 1889 erfolglos für eine im Bündnis anzugehende Zukunft zu suggerieren suchte34. Dieser Befund täuscht dennoch nicht über die Tatsache hinweg, daß die Mittel der bismarckschen Friedenssicherung in sich überholt waren, wie nicht nur die Absicht eines von den Parlamenten zu besiegelnden deutsch-britischen Bündnisses zeigte, die mit allen bisherigen Vorstellungen brach, indem sie dem Massenzeitalter Rechnung trug. Sondern es war vor allem die Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen35, die gerade auf dem ökonomischen Sektor eine bislang im Hinblick auf Friedenssicherung noch nicht gängige Komponente von Konflikten entstehen ließ. Auch hier vermag ich aber nicht in einer "Nachrüstung" mit Gewehren (und nicht mit Artillerie), die Bismarck seit 1889 gespannt verfolgte, eine tatsächliche Kriegsabsicht in zwei bis drei Jahren, unter günstigeren Umständen, zu erkennen36.
31
)GP, 4, Nr. 943, S. 400^03; vgl. Λ. Hillgruber: Außenpolitik (Anm. 4), S. 193 ff.; K. Canis: Bismarck (Anm. 28), S. 268 ff.; W. Steglich: Bismarcks englische Bündnissondierungen und Bündnisvorschläge 1887/1889. In; Historia integra. Festschrift E. Hassinger. Berlin 1977, 283-340. 32 ) Rede vom 6. 2. 1888 (Anm. 13), hier: S. 609. 33 ) GP, 4, Nr. 930, S. 376-380 (22. 11. 1887). 34 )Vgl. Anm. 31. 35 ) Neben den bereits Genannten: 5. Kumpf-Korfes: Bismarcks "Draht nach Rußland". Berlin (Ost) 1968; H. Böhme: Politik und Ökonomie in der Reichsgriindungs- und späten Bismarckzeit. In: M. Stürmer (Hg ): Das Kaiserliche Deutschland. Düsseldorf 1970, 26-50; H.-U. Wehler: Bismarcks Imperialismus und späte Rußlandpolitik unter dem Primat der Innenpolitik. Ebd., 235-264; H. Deininger: Frankreich-Rußland-Deutschland 1871-1891. München-Wien 1983. 36 ) So K. Canis: Bismarck (Anm. 28), S. 228 ff.
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Schließlich waren auch und gerade in dem früher so viel gelobten bismarckschen System der Aushilfen Elemente enthalten, die in sich beharrend wirkten und auch die Zukunft in einer anderen Weise prägend und ftiedensgefährdend vorstrukturierten, auch wenn Bismarck jenes "System" selbst erfolgreich zur Wahrung des europäischen Friedens benutzt hatte. Sie mögen abschließend kurz genannt werden. 1. - und in seiner Wertigkeit am geringsten - : Die deutsche Peripheriepolitik37 stand in der bismarckschen Version nicht nur einem weltpolitischen Auftritt des Reiches entgegen - ob sie von daher wünschenswert blieb oder letztlich anachronistisch wurde, steht dahin. Sondern diese Politik ließ sich auch für die Interessen anderer Mächte im Rahmen des Bündnissystems verpflichten. Diese "Peripheriekonflikte" entzogen sich immer schon tendenziell deutscher Kontrolle, drohten das Deutsche Reich selbst ohne eigene Verpflichtung dennoch hineinzuziehen. Es kamen aber bereits im Bündnissystem Verpflichtungen hinzu, welche jene Tendenz verstärkten. Gemeint sind die Zusicherungen im Dreibund gegenüber Italien, sodann die unterschiedlichen Vorkehrungen von Mittelmeer-Entente einerseits (an denen das Deutsche Reich ja nur mittelbar beteiligt war) und Rückversicherungsvertrag mit Rußland andererseits. Es ist immer wieder - und wie ich meine zu Recht - betont worden, daß jene Bündnisse nicht der Vorbereitung der Kriegführung, sondern der Erhaltung des europäischen Friedens dienen sollten (und dies ja auch tatsächlich taten). Aber gerade strukturelle Elemente jenes Systems hatten über 1890 und die NichtVerlängerung des Rückversicherungsvertrages hinaus eine prägende und den Weg in Richtung Krieg öffnende Tendenz 38 . 2. Militärbündnisse waren etwas Gängiges im 19. Jahrhundert, wenn sie für eine kurze Frist, für einen bestimmten Zweck geschlossen wurden, wie etwa das preußisch-italienische Bündnis 1866. Aber es leitete eine ganz andere Qualität der Militarisierung von internationaler Politik ein, wenn derartige Bündnisse de facto permament gemacht wurden. George F. Kennan sieht diese Entwicklung erst mit dem französisch-russischen Bündnis von 1892/93 eingeleitet39. Demgegenüber ist wohl weitaus größerer Nachdruck auf den Abschluß des Zweibundes von 1879 zu legen, mit dem eine militärisch abgestützte Polarisierung des europäischen Mächtesystems nicht der Intention nach, wohl aber tatsächlich eingeleitet wurde 40 . 37
) K. Hildebrand: Europäisches Zentrum, überseeische Peripherie und Neue Welt. Über den Wandel des Staatensystems zwischen dem Berliner Kongreß (1878) und dem Pariser Frieden (1919/1920). In: Historische Zeitschrift 249 (1989), 53-94. 38 ) Zur unmittelbar folgenden Zeit: R. Lahme·. Deutsche Außenpolitik 1890-1894. Von der Gleichgewichtspolitik Bismarcks zur Allianzstrategie Caprivis. Göttingen 1990. 39 ) G. F. Kennan: The Decline of Bismarcks European Order. Franco-Russian Relations 18751890. Princeton 1979; Ders.: The Fateful Alliance. France, Russia and the Coming of the First World War. Manchester-New York 1984 (dt. 1981 bzw. 1990). 40 ) Knapp zusammengefaßt: J. Dtllffer: Europäische Bindungen und Weltmachtstreben. Deutsche Außenpolitik zwischen Friedenswahrung und Krieg. In: D. Langewiesche (Hg.): Ploetz - Das deutsche Kaiserreich. Bilanz einer Epoche. Freiburg-Würzburg 1984, 49-63, hier: S. 52; Ders.: Deutschland als Kaiserreich 1871-1918. In: M. Vogt (Hg.): Rassow - Deutsche Geschichte. Stuttgart 2 1991,469-567, hier: S. 487; vgl. Hildebrand: Europäisches Zentrum (Anm. 37), S. 60 ff.
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3. Eng zusammen damit hängt es, daß die tatsächliche Erhöhung der Wehrkraft im Frieden in den späten Jahren der Bismarckzeit mit den Wehrvorlagen von 1887 und 1890 (sowie der anschließenden von 1893) in einem Maße gestärkt wurde, wie es bislang in Friedenszeiten noch nicht üblich gewesen war. Neben qualitativer Verbesserung der Rüstung wurde die Truppenzahl des Deutschen Reiches in jener "Hochrüstungsphase" (Michael Geyer) fast um das Doppelte gesteigert41. Es ist richtig, daß hier der Generalstab bzw. das Kriegsministerium die treibenden Kräfte waren. Aber Bismarck akzeptierte Wehrvorlagen, und so auch diese, nicht nur zähneknirschend, sondern trug sie gerade 1887 aktiv mit, nutzte sie zur Abschreckungspolitik, die tatsächlich friedenswahrend wirkte. 1890 gar, vor seinem Abschied, hatte er vor, jene zunehmende innere Militarisierung zur sozialen Herrschaftsstabilisierung zu benutzen. Daß militärische Bündnisse und militärische Hochrüstung ein brisantes Gemisch an internationalen Bedrohungswahrnehmungen ergeben konnten, entzog sich seiner Einsicht. Für Otto von Bismarck war also der europäische Frieden im Lauf der Zeit ein hoher Wert geworden, weil Preußen-Deutschland zunehmend weniger gewinnen, dafür aber alles verlieren konnte. Insofern verloren auch isolierte Kriege die Möglichkeit, als Instrumente der Politik zielgerichtet eingesetzt werden zu können. Sowohl die innergesellschaftliche Basis wie die Zwänge des europäischen Mächtesystems hatten sich aber bis 1890 so geändert, daß auch Bismarck mit seiner Politik keine Leitlinie über seinen Abgang mehr hätte bieten können.
41
) M. Geyer: Deutsche Rüstungspolitik 1860-1980. Frankfuit/M. 1984, S. 45-69.
ANTISEMITISMUS ALS PARTEIDOKTRIN. DIE ERSTEN ANTISEMITISCHEN PARTEIEN IN DEUTSCHLAND (1879-1894) von Dieter
Düding
Judenfeindschaft, Judenhaß gibt es in Deutschland nicht erst seit den 70er/80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In verschiedenster Weise und in sich wandelnder Intensität zutage tretende Feindseligkeit gegenüber der jüdischen Minderheit durchzieht wie ein roter Faden die deutsche Geschichte, aber ebenso die Geschichte anderer europäischer Länder vom Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit. Hatte die Judenfeindschaft auch bereits eine lange, Jahrhunderte zurückliegende Tradition, als das deutsche Kaiserreich entstand, so sollte sie aber doch einige Jahre nach Gründung des Reiches in bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekannten Formen in Erscheinung treten. Das Aufkommen des Wortes "Antisemitismus" Ende der 70er Jahre1 deutet auf eine neue, ideologisch begründete Judengegnerschaft hin. Außerdem waren das Entstehen antisemitischer Parteien, die auf Massenversammlungen von antisemitischen Parteiführern betriebene antijüdische Agitation, das Erscheinen antisemitischer Parteiperiodika, die Verbreitung antisemitischer Flugschriften in zum Teil Millionenauflage und der Einzug antisemitischer Parteipolitiker in ein deutsches Zentralparlament ganz neue Phänomene. Es ist deshalb berechtigt festzustellen, daß der deutsche Antisemitismus - zumindest was seine Erscheinungsformen anbetrifft - zur Zeit des zweiten deutschen Kaiserreiches in ein neues Entwicklungsstadium eintrat. Daß es Aufgabe deutscher Historiker sein sollte, den Ursachen dieser Entwicklung auf die Spur zu kommen, versteht sich vor allem mit Blick auf die Deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 von selbst. Ursachenforschung bezüglich des parteipolitischen Antisemitismus im deutschen Kaiserreich ist von einigen Historikern gerade nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben worden. Von einheitlichen Forschungsergebnissen läßt sich jedoch kaum sprechen. Auch wenn die meisten Forscher monokausalen Erklärungsmodellen distanziert gegenüberstehen, ist dennoch auffallend, daß sie beim Abwägen geistes- und religionsgeschichtlicher Aspekte, sozialpsychologischer Gründe und aktuell-ökonomischer Motive zu einer zum Teil unterschiedlichen Gewichtung kommen.2 Überhaupt wird man feststellen dürfen, ') Hierzu vor allem: T. Nipperdey und R. Rttrup: Antisemitismus. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. O. Brunner / W. Come /R. Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 129 ff. 2 ) Exemplarisch seien genannt: Ρ W Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Frankfurt/M. 1959 (Titel der 1949 erschienenen amerikanischen Originalausgabe: Rehearsal for Destruction); Μ. Broszat: Die antisemitische Bewegung im wilhelminischen Deutschland. Diss. Köln (ungedruckt) 1952; H. Rosenberg: Große Depression und Bismarckzeit. Berlin 1967, S. 88 f.; S. Lehr: Antisemitismus - religiöse Motive im sozialen Vorurteil. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland 1870-1914. München 1974; W. Jochmann: Struktur und Funktion des
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daß die Geburtsphase des deutschen Parteienantisemitismus weiterer Aufhellung bedarf. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Ursachen für das Aufkeimen des parteipolitischen Antisemitismus im Kaiserreich vor allem durch eine Analyse von Reden antisemitischer Parteiführer und von antisemitischer Parteipublizistik sichtbar zu machen. Am 3. Januar 1878 unternahm der Berliner Hofprediger Adolf Stöcker den Versuch, auf einer inmitten der Arbeiterwohnbezirke im Norden der Reichshauptstadt veranstalteten Volksversammlung eine Christlich-SozialeArbeiter-Partei ins Leben zu rufen. 3 Stöcker, zu diesem Zeitpunkt 43 Jahre alt, war ein Mann von orthodox-protestantischer, preußisch-konservativ-monarchischer, aber auch national-deutscher Gesinnung. Dieser seiner religiösen und politischen Überzeugung sowie seinen außerordentlichen rhetorischen Fähigkeiten verdankte er es zweifellos, daß er - nach einer Tätigkeit als Divisionspfarrer in Metz - 1847 die 4. Hof- und Dompredigerstelle in Berlin erhalten hatte. Aufgrund seiner sozialen Herkunft, er stammte aus einer Handwerkerfamilie, und durch sein langjähriges Pfarramt in der Industriegemeinde Hamersleben bei Magdeburg, war Stöcker äußerst sensibilisiert für die soziale und materielle Not der Industriearbeiterschaft. Gleichzeitig war er zutiefst bestürzt über die wachsende Entfremdung der Arbeiterschaft von der Protestantischen Kirche und vom monarchischen Staat. Mit der Gründung einer Christlich-Sozialen-Arbeiter-Partei beabsichtigte er das Industrieproletariat gegen die Sozialdemokratie zu immunisieren, es zur protestantischen Kirche zurückzuführen und gesinnungsmäßig an die preußische Monarchie zu binden.4 Diese Bindung gedachte Stöcker ausschließlich durch eine aktive Sozialpolitik zu erreichen; eine Integration der Arbeiterschaft in den Staat durch Gewährung politischer Rechte sollte dagegen unterbleiben. Stöckers Parteigründungsversuch am 3. Januar 1878 scheiterte, da sich die von sozialdemokratischen Arbeitern dominierte Versammlung in einer Resolution gegen die Absicht des Hofpredigers aussprach. Von diesem Mißgeschick ließ sich der von ungeheurem Tatendrang erfüllte und mit einem sandeutschen Antisemitismus. In: W. E. Mosse (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890 1914. Tübingen 1976; W. Kampmann: Deutsche und Juden. Frankfuit/M. 1979, 225-321; H. Greive: Geschichte des modernen Antisemitismus. Dannstadt 1983; Η Bertling: Moderner Antisemitismus in Deutschland. Frankfurt/M. 1988. 3 ) Vgl. S. Kaehler: Stöckers Versuch, eine christlich-soziale Arbeiterpartei in Berlin zu gründen. In: P. Wentzcke: Deutscher Staat und Deutsche Parteien. Beiträge zur deutschen Partei- und Ideengeschichte. München-Berlin 1922, S. 227 ff.; Eine besonders prägnante Charakteristik der Person Stöckers und seiner Wirkung stammt neuerdings aus der Feder von Julius Schoeps. Vgl. J. H. Schoeps: Über Juden und Deutsche. Historisch-politische Betrachtungen. Stuttgart-Bonn 1986, S. 63 ff. Siehe auch die folgenden Stöckerbiographien: K. Kupisch: Adolf Stöcker. Hofprediger und Volkstribun. Berlin 1970; W. Frank: Hofprediger Adolf Stöcker und die christlichsoziale Bewegung. Hamburg 1935. 4 ) Im Gründungsprogramm der Partei heißt es: "Die christlichsoziale Arbeiterpartei steht auf dem Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland. [...] Sie verwirft die gegenwärtige Sozialdemokratie als unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch (W. Frank (Anm. 3), S. 47).
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guinischen Temperament ausgestattete Theologe aber nicht entmutigen. In einer geschlossenen Versammlung wurde wenige Tage später der Parteigründungsakt nachgeholt. Die Partei erhielt ein von Stöcker verfaßtes Programm und Woche für Woche warb Stöcker auf Massenversammlungen in den Berliner Arbeitervierteln für seine Vorstellungen. Es war ein Novum und galt als Sensation, daß sich ein konservativer Politiker der großen öffentlichen Versammlung als Mittel der politischen Werbung und Auseinandersetzung bediente; bisher gehörte die Massenversammlung in Berlin vornehmlich zum politischen Instrumentarium der linksliberalen Fortschrittspartei und der Sozialdemokratie, die in der Reichshauptstadt auch die Wählermassen hinter sich wußten. Stöckers Hoffnungen erfüllten sich jedoch nicht. Obwohl die Arbeiter und auch viele Angehörige des Mittelstandes, von der Redegewalt des Hofpredigers angelockt, in dessen Versammlungen strömten, konnte die neue Partei die Massen nicht hinter sich scharen. Bei den Reichstagswahlen Ende Juli 1878 erlitt die Stöcker-Partei in Berlin, wo sie Kandidaten aufgestellt hatte, ein Fiasko. Nur knapp eineinhalbtausend Stimmen erhielt sie in der Reichsmetropole, während für die Sozialdemokratie 56.000 Berliner votierten. Dennoch bereiteten die Wahlen der neuen Partei kein schnelles Ende. In den von Stöcker einberufenen Massenversammlungen, an denen nicht nur Arbeiter, sondern auch Angehörige des kleinen Mittelstandes teilnahmen, war nämlich ein interessantes Phänomen erkennbar geworden. Stöcker fügte in seine Reden Passagen ein, die von ihrer Tendenz her deutlich antisemitisch waren. Diese Bemerkungen wurden zwar nicht von den Arbeitern im Auditorium, aber von den zum Kleinbürgertum zählenden Zuhörern mit großem Beifall quittiert. 1879 ging Stöcker dazu über, Reden vor einem Massenpublikum zu halten, in denen er ausschließlich die sogenannte Judenfrage thematisierte. Der Antisemitismus wurde zu der die Stöckerpartei beherrschenden Ideologie. Mit dieser ideologischen Wandlung veränderte sich auch die soziale Basis der Partei. Unter ihren Mitgliedern dominierte jetzt eindeutig das Kleinbürgertum. Angesichts dieser Entwicklung schien es folgerichtig, daß die Partei das Wort "Arbeiter" aus ihrem Namen strich und sich fortan nur "Christlich-SozialePartei" nannte. Zweifellos angeregt durch die Stöckerpartei, entstanden Anfang 1881 zwei weitere antisemitische Parteien in Berlin. Der Premierleutnant a. D. Max Liebermann von Sonnenberg und der Gymnasiallehrer und Nietzsche-Schwager Dr. Bernhard Förster gründeten eine sich "Deutscher Volksverein" nennende Partei, und der Berliner Gymnasiallehrer Dr. Emst Henrici hob die "Soziale Reichspartei" aus der Taufe. 5 Die Parteigründer betrieben wie Stöcker Versammlungsagitation und analog zur Stöckerpartei rekrutierten sich Anhänger und Mitglieder auch dieser antisemitischen Parteien hauptsächlich aus dem kleinen Mittelstand. Binnen kurzer Zeit besaßen Soziale Reichspartei und 5
) Hierzu ausführlich: K. Wawrzinek: 1890). Berlin 1927, S. 33 ff.
Die Enstehung der deutschen Antisemitenparteien (1873-
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Deutscher Volksverein mehrere hundert Mitglieder, während die ChristlichSoziale Partei weit über 1.000 Mitglieder zählte. Welche Ursachen lagen dem Aufkeimen antisemitischer Parteien zugrunde? Weshalb war gerade der Mittelstand für antisemitische Agitation ansprechbar? Worauf ist es zurückzuführen, daß sich in Berlin innerhalb kurzer Zeit gleich drei antisemitische Parteigruppierungen bildeten? Um diese Fragen zu beantworten, ist es zweckmäßig, auf den Inhalt der Reden zu rekurrieren, die von den antisemitischen Parteigründern in den von ihnen arrangierten Massenversammlungen gehalten wurden.6 Eine von jedem der vier Parteiführer gegen die Juden erhobene Beschuldigung lautete, sie seien die Herren der Börse, der Banken, des Handels und deshalb des gesamten Wirtschaftslebens. Sie, die Juden, angeblich besessen vom Spekulations-, vom Wucher-, vom Mammonsgeist, müßten als die Exponenten des zügellosen Kapitalismus betrachtet werden. Gerade die aktuelle Wirtschaftsentwicklung in Deutschland seit Entstehung des Reiches, das hemmungslose, hektische und unsolide Wirtschaftsgebaren der Gründeijahre und die ihm 1873 folgende wirtschaftliche Depression gehe auf das Schuldkonto der Juden. Die antisemitischen Agitatoren meinten, die Juden hätten nicht nur im Bereich der Wirtschaft die Zügel an sich gerissen; es sei ihnen seit der Gründung des Reiches gelungen, sich auch in Gesellschaft und Staat bedeutende Machtpositionen zu sichern. Dies träfe besonders für Berlin zu, wo 5% der Bürger Juden seien. Die liberale Tagespresse - vor allem jene der Reichshauptstadt - werde durch jüdische Verleger und Journalisten beherrscht. Die Juden seien dabei, Berufe mit Beschlag zu belegen, die ihnen bis zur Erlangung der vollen staatsbürgerlichen Emanzipation, die erst 1871 in ganz Deutschland Wirklichkeit wurde, weitgehend verschlossen waren - so ζ. B. den Lehr- und Richterberuf; sie seien von einer wahren Bildungsbesessenheit denn sie okkupierten mehr und mehr die höheren Bildungsanstalten. Juden machten Karriere als liberale Parteipolitiker und Parlamentarier. Sowohl die Nationalliberale Partei als auch die entschieden liberale Fortschrittspartei - deren Einfluß auf das kommunale Leben der Reichshauptstadt erdrückend sei befänden sich am jüdischen Gängelband. Die vier Parteiführer wurden nicht müde zu betonen, daß von Juden als Verleger, Journalisten, Lehrer, Richter, Rechtsanwälte und Parlamentarier deshalb eine ernste Gefahr ausgehe, weil deren extrem kritischer sowie materialistisch-irreligiöser Geist die monarchische Ordnung und das nationale Selbstgefühl der Deutschen untergrabe. Es war offenkundig, daß der Antisemitismus der Agitatoren von starken nationalen Gefühlen begleitet war. 6
) Stöckers Reden sind dokumentiert in: A. Stöcker: Christlich-Soziale Reden und Aufsätze. Bielefeld-Leipzig 1885. Mehrere Reden Liebennann von Sonnenbergs sind enthalten in: M. Liebermann von Sonnenberg (Hg ): Beiträge zur Geschichte der antisemitischen Bewegung vom Jahre 18801885 bestehend in Reden, Broschüren, Gedichten. Berlin 1885. Nicht wenige Reden wurden in Form von Flugschriften in Umlauf gebracht; ζ. B. die Vorträge Henricis "Was ist der Kern der JudenFrage?" und "Toleranz und nationale Ehre." Sie erschienen beide 1881 in Berlin. Über den Inhalt der Versammlungsrhetorik der antisemitischen Parteiführer berichtete ausführlich das Anfang der 80er Jahre in Berlin erscheinende antisemitische Hetzorgan "Die Wucherpille".
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Um zu verstehen, daß die gegen die Juden gerichteten Vorwürfe bei Angehörigen des Kleinbürgertums auf Resonanz stießen, ist es notwendig, sich die wirtschafdichen Schwierigkeiten zu vergegenwärtigen, in die mittelständische Kreise im ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung geraten waren. Auf die Einführung der Gewerbefreiheit in ganz Deutschland, die französischen Kriegskostenzahlungen und die liberal-freiheitliche Wirtschaftspolitik der Reichsregierung war es zurückzuführen, daß Kapitalbildung und Industrialisierung in Deutschland nach Entstehung des Reiches enorme Fortschritte machten. Die wirtschaftlichen Veränderungen wirkten sich zum Teil ungünstig auf den kleinen selbständigen Mittelstand aus. Die moderne industrielle Produktion und die sich neu entwickelnden Formen des Großhandels stellten für ihn eine erhebliche Konkurrenz dar. Teile von ihm standen der liberalen Wirtschaft mit Unverständnis und Mißtrauen gegenüber. Es war deshalb nicht allzu verwunderlich, wenn manche Mittelständler für Agitatoren Sympathie empfanden, die unter Umgehung abstrakter Kritik am bestehenden Wirtschaftssystem die Verantwortung für den wirtschaftlichen und den damit in Verbindung stehenden gesellschaftlichen Wandel einer konkreten Bevölkerungsgruppe zuschoben. Umso eher konnte sich Sympathie einstellen, da die gleichen Agitatoren dem Mittelstand Zukunftshoffnungen machten, indem sie eine mittelstandsfreundliche, das Großkapital zügelnde Reformpolitik postulierten. So forderten die vier antisemitischen Parteigründer übereinstimmend gesetzliche Reformmaßnahmen im Börsen- und Aktienwesen - etwa die Einführung einer Börsen- und Kapitalrentensteuer - sowie die Wiedereinführung obligatorischer Handwerkerinnungen mit gewerberechtlichen Befugnissen und die Eindämmung des Hausierhandels. Von Anfang an versuchten sich die antisemitischen Parteien also als soziale Interessenvertretungen zu profilieren, auch wenn sie sich - wie noch gezeigt werden soll - mit dieser interessenpolitischen Rolle allein nicht zufrieden gaben. Die Neigung zur Interessenpolitik entsprach einem auch bei den großen Reichstagsparteien zu beobachtenden Trend. In seinem Aufsatz "Grundlagen und Epochen des deutschen Parteiwesens" hat Theodor Schieder festgestellt, daß gegen Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, seit der großen innenpolitischen Auseinandersetzung über Freihandels· oder Schutzzollpolitik, die Interessenpolitik der sozialen Gruppen in die großen deutschen Parteien einzudringen begann, die bis zu diesem Zeitpunkt den Charakter von Weltanschauungsparteien hatten.7 Den Behauptungen der vier antisemitischen Parteigründer, die Juden seien Lenker und Nutznießer des kapitalistischen Systems, schenkten Teile des Berliner Mittelstandes Glauben, obwohl Juden in Wahrheit weder zahlennoch einflußmäßig eine wirkliche dominierende Rolle im Wirtschaftsleben spielten. Die für Zeitgenossen erkennbare Tatsache, daß Juden in den genannten Wirtschaftsbereichen erfolgreich waren, nutzte die antisemitische Propaganda, um eine jüdische Dominanz im Wirtschaftsleben zu konstruieren. 7
) Τ Schieder: Die geschichtlichen Grundlagen und Epochen des deutschen Parteiwesens. In: Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. MUnchen21970. S. 141.
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Ebenso maßlos aufgebauscht wurde in der Agitation der Einfluß der Juden im Bildungs- und Justizbereich, im Pressewesen und im parlamentarischen Leben.8 Daß die antisemitische Propaganda in Kreisen des Mittelstandes fruchtete, kann jedoch nicht allein auf aktuelle Vorgänge und Erscheinungen zurückgeführt werden. Daß die Propaganda durchschlug, hat zu einem Teil sozialpsychologische Ursachen, die nur historisch zu erklären sind. Die Propaganda richtete sich gegen eine religiöse Minderheit und zwar gegen eine seit dem Mittelalter von ihrer christlichen Umwelt in besonderer Weise verfemte Minorität. Der religiöse Gegensatz zu den aus christlicher Sicht "verstockten", für die christliche Botschaft unzugänglichen Juden, der im Mittelalter das herrschende Motiv für die Judenverfolgungen gewesen war, wirkte in einem gewissen Maße bis in das 19. Jahrhundert nach.9 Es bedurfte bestimmter aktueller Ereignisse, um die latent vorhandenen traditionellen Gefühle der Abneigung gegenüber dem Judentum neu zum Ausbruch kommen zu lassen. Ursachen für die Tatsache, daß in Berlin nicht nur eine, sondern gleich drei antisemitische Parteien entstanden, werden ebenfalls durch Lektüre der Parteigründer-Reden erkennbar. Diese zeichneten sich nämlich keineswegs nur durch inhaltliche Übereinstimmung aus. Liebermann, Förster und Henrici versuchten, ihren Antisemitismus streng rassenideologisch zu begründen. Sie waren beeinflußt von antisemitischen Autoren wie Arthur Graf von Gobineau, Eugen Dühring und Wilhelm Marr10 und behaupteten, die Juden stellten biologisch eine eigene, minderwertige Rasse dar, deren Integration in das deutsche Volk weder mit Hilfe von Emanzipationsgesetzen noch durch religiöse Konversion oder durch blutsmäßge Vermischung möglich sei. Stöcker hingegen war kein rigoroser Rassenantisemit. Er meinte, daß der Stammesunterschied durch den Übertritt der Juden zur christlichen Religion verschwände, da der christliche Geist dominanter sei als alle Rasseeigentümlichkeiten. Weil Liebermann, Förster und Henrici wegen ihres Rassestandpunktes die Möglichkeit einer Assimilation der Juden an die nichtjüdische Bevölkerung prinzipiell verwarfen, lehnten sie auch die bestehende staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden ab. Sie forderten die Wiedereinführung eines Fremdenrechts für den jüdischen Bevölkerungsteil. Stöcker beabsichtigte dagegen nicht die Aufhebung der Judenemanzipation auf gesetzlichem Wege. Er erhob die Forderung, die Einstellung der Juden in den Staatsdienst müsse auf dem Verwaltungsweg unterbunden werden. 8 ) Vgl. hierzu den unter Anmerkung 2 genannten Sammelband von W. E. Mosse (Hg.). Außerdem E. Hamburger: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Tübingen 1968, sowie M. Richarz: Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Tübingen 1974. 9 ) Auf die traditionell-religiösen Elemente der Judenfeindschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verweist mit Nachdruck Julius Schoeps. Vgl. J. H. Schoeps: Über Juden und Deutsche (Anm. 3), S. 24 f. und 141. 10 ) Siehe A. Gobineau: Die Ungleichheit der Menschenrassen. Berlin 1935; E. Dühring: Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort. Karlsruhe-Leipzig 1881; W. Marr: Der Judenspiegel. Hamburg 1862; ders.: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet. Bern 4 1871; ders.: Wählet keinen Juden. Der Weg zum Siege des Germanentums über das Judentum. Ein Mahnwort. Berlin 1879.
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Gravierende ideologische bzw. weltanschauliche Unterschiede bestanden jedoch auch zwischen Stöcker, Liebermann und Förster auf der einen und Henrici auf der anderen Seite. Die Gründer der Christlich-Sozialen Partei und des Deutschen Volksvereins machten kein Hehl daraus, daß sie eine sehr starke Affinität zum politischen Konservativismus besaßen. Henrici präsentierte sich seinerseits als liberaler Politiker. Er betonte, seine antisemitische Partei sei eine für Juden verschlossene, freiheitliche politische Gruppierung. Die weltanschaulichen Gegensätze zwischen den Berliner Parteiantisemiten wirkten sich auf deren Verhalten im Reichstagswahlkampf des Jahres 1881 aus. Christlich-Soziale Partei und Deutscher Volksverein schlossen ein enges, gegen die Fortschrittspartei gerichtetes Wahlbündnis mit dem "Conservativen Central-Comiti", das für die Wahlkampforganisation der Deutschkonservativen Partei in Berlin zuständig war. Henrici blieb diesem unter der Bezeichnung "Berliner Bewegung"11 in die Geschichte eingegangenen Wahlkartell demonstrativ fern. Begrüßt wurde das Wahlbündnis von Reichskanzler Bismarck, der sich in Berlin eine Niederlage der ihm verhaßten Fortschrittspartei wünschte. Wahrscheinlich ist, daß er das Kartell auch durch Mittel aus dem ihm zu Verfügung stehenden Repitilienfond unterstützte. Die Wahlen bescherten der Berliner Bewegung einen beachtlichen Erfolg. Sie wurde zweitstärkste Wählergruppierung in der Reichshauptstadt. Dennoch hatte die Fortschrittspartei ihre Vormachtstellung klar behauptet. In allen sechs Berliner Wahlkreisen obsiegten ihre Kandidaten. Hauptsächlich die Einsicht der antisemitischen Agitatoren, daß auch bei den nächsten Wahlen aller Wahrscheinlichkeit nach die Fortschrittsmehrheit nicht zu brechen war, ließ sie resignieren. Anfang 1883 stellten Henrici und Förster die Agitation ein und gingen ins Ausland. Förster gründete in Paraguay eine "judenfreie Pflanzersiedlung" unter dem Namen "Neu-Germania". Der Weggang Henricis bedeutete das Ende der Sozialen Reichspartei. Der Deutsche Volksverein löste sich 1885 auf, als Liebermann seine parteipolitischen Aktivitäten in Berlin beendete. Die Christlich-Soziale Partei bestand weiter, doch verlegte Stöcker das Schwergewicht seiner Agitation in die Provinz, nach Westfalen und Sachsen, wo sich einige christlich-soziale Ortsgruppen bildeten. Daß sich der Schwerpunkt der antisemitischen Parteienbewegung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eindeutig von der Reichshauptstadt in die Provinz verschob, war auch darauf zurückzuführen, daß sich seit 1883/84 in mittel· und westdeutschen Gebieten eine von Dresden ausgehende Bewegung antisemitisch-politischer Vereine auszubreiten begann. Jeder dieser sich auf einen bestimmten Ort beschränkenden Vereine trug den Namen "Deutscher Reform verein". 1885 hatten sich bereits in mehr als 50, hauptsächlich in Sachsen, Westfalen und Hessen gelegenen Städten Reformvereine gebildet. Da zwischen diesen Vereinen nur sehr lose Kontakte bestanden, kamen in ihnen entsprechend den weltanschaulichen Divergenzen, die zwischen den Berliner 11 ) Sehr materiaireich (in analytischer Hinsicht hingegen völlig unbefriedigend) die ausführliche ältere Darstellung zur "Berliner Bewegung" von M. Schön: Die Geschichte der Berliner Bewegung. Leipzig 1889.
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antisemitischen Parteien bestanden hatten - zum Teil recht unterschiedliche Antisemitismus-Positionen zur Geltung. Zwei dieser Reformvereine sollten für die Fortentwicklung des Parteienantisemitismus im Kaiserreich entscheidende Bedeutung erlangen. Es handelt sich einmal um den Leipziger Reformverein, der unter der Leitung des Ingenieurs Theodor Fritsch und des nach Leipzig übergesiedelten Liebermann von Sonnenberg stand.12 Fritsch und der Leipziger Verein teilten den Rassestandpunkt Liebermanns und dessen Neigung zum politischen Konservativismus. Der zweite für einen Aufschwung der antisemitischen Parteienbewegung äußerst wichtige Reformverein war jener in Marburg. Kaum war er 1886 gegründet worden, geriet er unter die Führung des Bibliothekars Dr. Otto Bockel und erhielt von diesem sein politisches Profil.13 Bockel stand in der geistigen Nachfolge Emst Henricis. Er bekannte sich zu dem sich "politisch freiheitlich" oder "demokratisch" nennenden Hügel innerhalb des politischen Antisemitismus, war also betont antikonservativ orientiert und plädierte für innenpolitische Reformen. So verlangte er ζ. B. allgemeine, gleiche und direkte Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus und die Beseitigung aller Adelsprivilegien. Bockel war wie Henrici, aber auch wie Liebermann und Fritsch, rigoroser Rassenantisemit und verlangte die Aufhebung der Judenemanzipation. Seine antisemitische und antikonservative Gesinnung brachte er in der Agitationsformel "Gegen Juden und Junker" zum Ausdruck. Im Dezember 1886 ließ sich Bockel vom Marburger Verein als Kandidat für den überwiegend ländlichen Wahlkreis Marburg-Kirchhain-Frankenberg zu den Anfang 1887 stattfindenden Reichstagswahlen nominieren.14 In den zweieinhalb Monaten des Wahlkampfes trat in der Agitation ein für den bisherigen politischen Antisemistismus neues Moment zutage: Ohne die Wahlwerbung in mittelständisch-kleinbürgerlichen Kreisen aufzugeben, bemühten sich Bockel und seine Helfer mit ihrer Wahlkampagne in erster Linie, die im Wahlkreis zahlenmäßig stark vertretenen Kleinbauern anzusprechen. Die durch den Kleinbetrieb geprägte hessische Landwirtschaft befand sich seit längerem in einer schweren Strukturkrise. Für sie verantwortlich waren im beträchtlichen Maße der zurückgebliebene landwirtschaftliche Wissensstand und die Kapitalarmut der hessischen Bauern. Sie verhinderten, daß die hessische Landwirtschaft für technische Neuerungen und verbesserte For12
) Zum Leipziger Refonnverein siehe K. Wawrzinek (Anm. 5), S. 59. ) Zur Böckelbewegung: R. Mack: Otto Böckel und die antisemitische Bauernbewegung in Hessen 1887-1894. In: Wetterauer Geschichtsblätter Bd. 16 (1967), S. 113 ff.; 0. Dascher: Der politische Antisemitismus im Marburger Raum 1887-1893. Diss. Marburg 1960. Eine Arbeit, die sich u. a. mit der Böckelbewegung befaßt und den Ungeist der nationalsozialistischen Antisemistismus-Propaganda atmet, ist jene von E. Schmahl: Die antisemitische Bauernbewegung in Hessen von der Böckelzeit bis zum Nationalsozialismus. Gießen 1933. In einem Geleitwort zu dieser Veröffentlichung sieht der hessische Gauleiter Jakob Sprenger Böckel und seine Gefolgsleute in der Rolle von "Vorkämpfern der völkischen Erneuerung" (ebd., S. III). 14 ) Eine authentische Quelle für die antisemitische Agitation Böckels im 1887er Wahlkampf ist das von ihm in Marburg zuerst einmal, dann zweimal wöchentlich herausgegebene Presseorgan "Der Reichs-Herold", 1. Jg. (1887). Antisemitische Wahlkampfreden Böckels wurden als Broschüren in vielfacher Auflage verbreitet. Die "Ansprache" Böckels "an seine Wähler und alle deutsch-nationalen Männer im Vaterlande" mit dem Titel "Die Quintessenz der Judenfrage" wurde ζ. B. 1887 in Marburg in sechster Auflage publiziert. "Die Juden, die Könige unserer Zeit" erschien sogar 1892 am selben Ort in 125. Auflage. Mindestens 125.000 Exemplare wurden von ihr abgesetzt. 13
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men des Anbaus, die sich in anderen deutschen Regionen durchzusetzen begannen, zugänglich wurde. Die Unfähigkeit der hessischen Bauern zu einer rationelleren Betriebsführung und die daraus erwachsende materielle Not trugen sehr dazu bei, daß viele von ihnen in finanzielle Abhängigkeit von Vieh-, Getreide-, und Grundstückshändlern sowie Geldverleihern gerieten, die in dieser ländlichen Region ganz überwiegend Juden waren. Indem die Böckeische Propaganda die genannten Ursachen für den Niedergang der hessischen Landwirtschaft verschwieg, versuchte sie die hessischen Bauern glauben zu machen, daß sie ihre Existenznot den jüdischen Händlern und Kreditgebern, bzw. sogenanntem jüdischen Wucher, zu verdanken hätten. Diese Propaganda stieß bei den Bauern auf große Resonanz. Wie im Kleinbürgertum war nämlich unter ihnen bereits ein historisch gewachsener Antisemitismus latent vorhanden. Da erst mit Bockel der moderne Wahlkampf mit allen damals möglichen Agitationsmitteln - Versammlungen (selbst in den kleinsten Dörfern), Zeitungswerbung, Flugblätter, systematische Mundpropaganda - in den ländlichen Wahlkreis Marburg Einzug hielt, gelang es dem antisemitischen Kandidaten auf Anhieb, das Reichstagsmandat mit großer Stimmenmehrheit zu gewinnen. Das Nachsehen hatte der bisher in diesem Wahlkreis siegreiche konservative Kandidat. Bockel war der erste antisemitische Reichstagsabgeordnete, der sich keiner der bestehenden Reichstagsfraktionen anschloß. Stöcker, der schon vorher in Siegen mit konservativer Unterstützung in den Reichstag gewählt worden war, hatte sich in die konservative Fraktion eingereiht. Ende der 80er Jahre drängte die Böckelbewegung, die den Namen "Antisemitische Volkspartei" annahm, über ihren bisherigen Wirkungsbereich, den in der preußischen Provinz Hessen gelegenen Wahlkreis Marburg hinaus. Sie erfaßte nun auch große Teile der Provinz Oberhessen des Großherzogtums Hessen-Darmstadt. Böckels Renommee unter den hessischen Bauern wuchs noch, als er sogenannte judenfreie Märkte organisierte und die Gründung von lokalen bäuerlichen Selbsthilfeorganisationen, wie Spar- und Darlehenskassen, Einkaufs- und Absatzgenossenschaften, initiierte. Er wurde in Teilen der Öffentlichkeit als "hessischer Bauernkönig" gefeiert. Seit Anfang der 90er Jahre fand die Bockel-Partei, die sich 1893 in "Deutsche Reformpartei" umbenannte, auch Anhang in sächsischen und thüringischen Gebieten. Mehrere dort bestehende Reformvereine schlossen sich ihr an. Schon 1889 hatten sich - aufgeschreckt durch den Wahlsieg Böckels die nicht der Christlich-Sozialen Partei angehörenden konservativen Antisemiten unter der Führung der Leipziger Liebermann und Fritsch zur Gründung einer antisemitischen Partei entschlossen, die sie "Deutsch-Soziale Partei" nannten.15 Diese Partei hatte ihre organisatorischen Schwerpunkte in Sachsen, Westfalen und Hessen. Da die Christlich-Soziale Partei fortbestand, existierten also seit 1889 drei antisemitische Parteien mit teilweise identischen regionalen Organisationsschwerpunkten. Bei der Reichstagswahl des Jahres 1890 errang die Antisemitische Volkspartei 4 Reichstagsmandate und zwar alle in hessischen Wahlkreisen. Die Deutsch-Soziale Partei konnte nur Liebermann von Sonnenberg, der eben1S
) Κ Wawrzinek
(Anm. 5), S. 71 ff.
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falls in einem ländlichen Wahlkreis Hessens kandidiert hatte, in den Reichstag entsenden. Die 4 der Böckelschen Partei angehörenden Abgeordneten schlossen sich zu einer eigenen parlamentarischen Gruppe zusammen. Drei Jahre später, 1893, konnten die Böckelpartei und die Deutsch-Soziale Partei zusammen sogar 16 Reichstagsmandate, davon 8 in Hessen und 6 in ländlichen und städtischen Wahlkreisen Sachsens erobern, während die Christlich-Soziale Partei leer ausging. Von den 16 antisemitischen Reichtstagsabgeordneten gehörten 12 der Böckelschen Richtung und 4 der Deutsch-Sozialen Partei an, die nun ebenfalls eine eigene Parlamentsgruppe bildete. 1894 fusionierten die Deutsche Reformpartei und die Deutsch-Soziale Partei zur Deutsch-Sozialen Reformpartei, was auch einen Zusammenschluß der beiden antisemitischen Parlamentsgruppen zu einer Fraktion mit sich brachte. Die Fusion war möglich geworden, weil konservative Antisemiten aus Sachsen auf die Böckelpartei Einfluß gewonnen hatten. Bereits im Jahre 1900 spaltete sich die Partei jedoch wieder. Es formierte sich erneut eine mehr dem politischen Konservativismus zuneigende und eine mehr demokratisch-liberal orientierte antisemitische Partei. Geht man von der Zahl der antisemitischen Reichstagsabgeordneten und von deren politischer Geschlossenheit aus, so erreichte der parteipolitische Antisemitismus im Kaiserreich 1893/94 den Höhepunkt seiner Entwicklung.16 Jedoch weder zu diesem, noch zu einem späteren Zeitpunkt konnten die Antisemiten im Reichstag irgendeinen nennenswerten parlamentarischen Erfolg für sich verbuchen. Dies lag daran, daß sie ihre zum Teil rüde antisemitische Agitation im Parlament fortsetzten, an kontinuierlicher sachlicher Arbeit (im Bereich der Mittelstands- und Bauernpolitk) aber nur wenig interessiert waren. Den Wähleranteil, den die antisemitischen Parteien in der Reichstagswahl des Jahres 1893 erstmals erreichten, nämlich 4%, konnten sie bei allen weiteren im Kaiserreich stattfindenden Wahlen zum Zentralparlament ungefähr behaupten. Er betrug immer zwischen 3 und 4%; das waren jeweils 250.000 bis 300.000 Wähler. Der Wähleranhang der antisemitischen Parteien im Kaiserreich blieb also - trotz lokaler und regionaler Wahlerfolge begrenzt. Zu einer anhängerstarken selbständigen parteipolitischen Kraft konnte sich der Antisemitismus auf Reichsebene bis zum Ende der Monarchie nicht entwickeln. Das dies nicht geschah, hatte mehrere Gründe: 1. Der Parteiantisemitismus trat im Kaiserreich von Anfang an in verschiedenen ideologischen Varianten bzw. in unterschiedlichen politisch-weltanschaulichen Bindungen in Erscheinung. Die ideologischen Gegensätze im Lager des politischen Antisemitismus trugen wesentlich zu seiner parteipolitischen Zersplitterung und damit zu seiner Unfähigkeit bei, sich dem Wähler als eine homogene politische Kraft zu präsentieren. 2. Daß die politischen Antisemiten ihre Kräfte zersplitterten, hing auch mit der persönlichen Profilierungssucht und dem übersteigerten Selbst- und Sendungsbewußtsein der antisemitischen Parteiführer und den zwischen ihnen bestehenden persönlichen Reibereien und Rivalitäten zusammen. Das starke 16 ) Eine genaue Statistik über die Zahl und geographische Verbreitung der antisemitischen Reichstagsmandate zwischen 1887 und 1912 enthält die ungedruckte Dissertation von M. Broszat (Anm. 2), S. 74. Zur Entwicklung der antisemitischen Parteien in Wilhelminischer Zeit siehe auch: R. S. Levy: The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany. New Haven-London 1975.
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öffentliche Geltungsbedürfnis und der ausgeprägte persönliche Ehrgeiz der führenden antisemitischen Politiker kann nicht völlig losgelöst von ihrem Alter gesehen werden. Stöcker ausgenommen, waren alle antisemitischen Parteigründer entweder knapp über 30 Jahre alt oder hatten - wie Henrici und Bockel - das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet. 3. Die antisemitischen Parteien hatten in starkem Maße den Charakter von Personalgefolgschaften. Ein oder zwei Parteiführer, höchstens ein zahlenmäßig sehr begrenzter Personenzirkel gaben der jeweiligen Partei das ideologische Profil. Außerdem bestimmten diese Form und Inhalt der Agitation und repräsentierten als Versammlungsagitatoren ihre Partei nach außen. Das Schicksal des Deutschen Volksvereins und der Sozialen Reichspartei in Berlin demonstriert, daß die Lebenskraft dieser vom Aktivismus Einzelner abhängigen Parteien nicht sonderlich groß war. In dem Augenblick, in dem Henrici, Förster und Liebermann ihre Aktivitäten einstellten, kam auch das Parteileben zum Erliegen. 4. Die antisemitischen Parteien verfügten nicht über eine straffe Organisation und einen eigenüichen Parteiapparat. Dieser Mangel im organisatorischen Bereich beeinträchtigte die Intensität der Öffentlichkeitsarbeit vor allem in der Zeit zwischen den Wahlkämpfen, in der die verbale Agitation der Parteiführer naturgemäß etwas nachließ. 5. Spätestens seit den frühen 90er Jahren hatten die antisemitischen Parteien als interessenpolitische Bewegung Konkurrenz von drei der großen Reichstagsparteien erhalten, nämlich der Deutschkonservativen, der Zentrumsund der Nationalliberalen Partei. Diese Parteien nahmen sich zumindest deklamatorisch der wirtschaftlichen und sozialen Sorgen der Kleinbauern und des kleinen selbständigen Mittelstandes an. Hinzu kam, daß die Deutschkonservative Partei und das Zentrum in ihrem Kampf gegen Liberalismus und Modernismus sich während des Kaiserreichs zeitweise einer Dosis Antisemitismus bedienten.17 Vor die Wahl gestellt, Kandidaten der "etablierten", mittelstands- und bauernfreundlichen Reichstagsparteien oder Kandidaten der jungen, im Parlament kaum verankerten antisemitischen Parteien die Stimme zu geben, votierten viele Mittelständler und Bauern für die ersteren. Zweifellos werden auch nicht wenige Kleinbauern und Angehörige mittelständischer Schichten von der Maßlosigkeit der antisemitischen Agitation, von der primitiven Verächtlichmachung der Juden abgestoßen worden sein. Dennoch wäre es wohl ein Irrtum, würde man glauben, der Mittelstand und die Bauernschaft wären in ihrer überwiegenden Mehrheit absolut resistent gegen die antisemitische Agitation gewesen. Die Zahl der Bauern, Handwerker und Gewerbetreibenden dürfte beträchtlich gewesen sein, die - obwohl sie es unterließen, antisemitisch zu wählen - gegenüber gewissen antisemitischen Denk- und Argumentationsstereotypen, die von den Parteiagitatoren in Umlauf gesetzt wurden, durchaus aufgeschlossen waren. Ja, man wird davon ausgehen dürfen, daß die von den ersten antisemitischen Parteien verbreitete antijüdische Propaganda am Entfachen eines Antisemitismus, der nur partiell das politische Wahlverhalten bestimmte, einen großen Anteil hatte. Daß im Kaiserreich antisemiti17 > Vgl. ζ. Β. M. Broszat (Anm. 2), S. 79 ff.; H. Oreive (Anm. 2), S. 82 ff.; W. Kampmann 2). S. 286 ff.
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sches Gedankengut über den Kreis der eigentlichen antisemitischen Wähler hinaus in steigendem Maße Anklang fand - und zwar auch in anderen als in kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten -, ist freilich nicht allein auf die Agitation der Parteiantisemiten zurückzuführen. Eine Reihe von Verbänden und Vereinen sowie eine Vielzahl antisemitischer Artikel und Schriften, deren Verfasser nicht den Antisemiten-Parteien zuzurechnen sind (unter ihnen befand sich auch der Historiker Heinrich von Treitschke)18, trugen seit den 80er/90er Jahren mehr und mehr zur Verbreitung antisemitischer Bewußtseinsinhalte und Stimmungen bei.
18 ) Eine unrühmliche Rolle als antisemitische Propagandisten spielten unter den Vereinen insbesondere: Der Kyffhäuserverband der Vereine Deutscher Studenten, der Bund der Landwirte und der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband. - Zum Antisemitismus Treitschkes siebe: Der Berliner Antisemitismusstreit. Hg. v. W. Boehlich. Frankfurt/M. 1965 (1988 am selben Ort als Taschenbuch erschienen).
DIE INNEN- UND AUSSENPOLITISCHEN VORSTELLUNGEN DES PRINZEN MAX V. BADEN UND IHRE UMSETZUNG IN SEINER ZEIT ALS REICHSKANZLER (3.10.-9.11.1918)* Von Winfried
Schumacher
I. Die Vorstellungen des Prinzen 1. Einleitung Am 3. Oktober 1918, in der Endphase des 1. Weltkrieges, wurde Prinz Max von Baden von Kaiser Wilhelm zum Reichskanzler ernannt. In der wissenschaftlichen Literatur, die sich mit dieser Zeit beschäftigt, wird dazu festgestellt, daß die Regierung des Prinzen Max in der deutschen Verfassungsgeschichte ein Novum darstellte, denn sie sei die erste von den Parteien getragene des Kaiserreiches gewesen. Wenn der Prinz selbst auch nicht als Verfechter des parlamentarischen Systems angesehen werden könne, so sei dennoch in seiner Regierungszeit in einer "Revolution von oben" die Demokratie im Reich auch ohne Novemberrevolution erreicht worden.1 Was die Außenpolitik betrifft wird darauf hingewiesen, daß der Prinz ein Verständigungspolitiker gewesen sei, wenn er auch bestimmte Vorbehalte hinsichtlich der Friedensresolution des Reichstages von Juli 1917 hegte und Annexionen nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstand.2 In diesem Beitrag soll nun näher dargestellt werden, welche Ansichten Max vor der Übernahme des Amtes als Reichskanzler vertrat, und auf welche Weise er versuchte, diese Vorstellungen im Oktober/November 1918 zu realisieren. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, warum er bei der Umsetzung seiner Ideen scheiterte und wie seine Tätigkeit als Reichskanzler zu bewerten ist.
Die folgenden Ausführungen beruhen zum Teil auf Ergebnissen meiner Staatsarbeit "Prinz Max ν Baden als deutscher Reichskanzler", die von Prof. Haupts angeregt wurde. Die Nachlässe, auf die im folgenden Bezug genommen wird, befinden sich alle im Bundesarchiv Koblenz. ') So schon bei A. Rosenberg: Die Entstehung der deutschen Republik 1871-1918. Berlin 1928, S. 228 f., 232, 238 f.; Vgl. M. Rauh: Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches. Düsseldorf 1977, S 443. G. Mann: Prinz Max von Baden und das Ende der Monarchie in Deutschland. In: Prinz Max v. Baden: Erinnerungen und Dokumente. Neu hg. von G. Mann und A. Burckhardt. Mit einer Einleitung von G. Mann. Stuttgart 1968, S. 39. 2
) Vgl G. Mann: Einleitung zu Prinz Max (Anm. 1), S. 23; Th. Eschenburg: Prinz Max von Baden. In: Uers.: Die Republik von Weimar. Beiträge zur Geschichte einer improvisierten Demokratie. München 1984, S. 182.
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2. Überzeugungen des Prinzen in den ersten Kriegsjahren Zunächst war der badische Thronfolger, der sich in der Kriegsgefangenenfürsorge engagiert hatte, von der "Haltung des abwartenden Vertrauens geprägt", das in "gebildeten Kreisen" schier unerschöpflich war.3 Die Ereignisse von Verdun erschütterten diesen Glauben an den Erfolg der deutschen Waffen. In einem Brief zum Jahreswechsel 1916/17 an Johannes Müller wird Max deutlich: "Die Schuld liegt an der obersten Leitung, der die Größe und Zielsicherheit fehlt. Der entsetzliche Alp in militärischer Beziehung ist von mir gewichen seit Hindenburg uns führt. Aber es wird noch einige Zeit dauern, bis alle die strafbaren und unverzeihlichen Fehler der Ära Falkenhayn ausgeglichen werden." Es habe der vollkommene Mangel an Fähigkeit, die Menschen und die Dinge zu sehen, wie sie sind, nicht wie man sie gern sehen mochte, geherrscht. 4 Bei den Umständen, die zur Ausrufung des unbeschränkten U-BootKrieges und dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika führten, erkannte der Prinz endgültig, daß weiteres vertrauensvolles Abwarten nichts zu einer Änderung der Verhältnisse beitrug. Über sein Wirken in der Gefangenenfürsorge war Max im Herbst 1916 mit dem Deutsch-Amerikaner Jakob Noeggerath in Verbindung gekommen, der selbst mit der Zentralstelle für Auslandsdienst beim Auswärtigen Amt in Beziehung stand und ihm die entsprechenden Informationen zugänglich machte. Diese Bekanntschaft ließ den Prinzen erkennen wie wichtig in der aktuellen Situation des Reiches eine stärkere Beachtung psychologischer Aspekte bei der Kriegführung und die Ausarbeitung einer moralisch untermauerten deutschen Politik sein würde.5 Max begann in der Folgezeit die Verhaltensweisen zu entwickeln, die bis 1918 für ihn charakteristisch sein sollten: Übersendung von Informationen an die führenden Stellen des Reiches und persönliche Demarchen. So reiste er Januar 1917, Gefangenenangelegenheiten zum Vorwand nehmend, nach Berlin und sprach bei Reichskanzler Bethmann Hollweg in allgemeinpolitischen Fragen vor. Er fand die Politiker in "dumpfer Ergebenheit", vermißte den gestaltenden Willen und war erschrocken "über die Gewichtsverteilung, die sich
3
) Prinz Max v. Baden: Erinnerungen und Dokumente. Neu hg. von G. Mann und Λ. Burckhardt. Stuttgart 1968. Zitiert wird nach dieser Ausgabe. Die Originalausgabe (Stuttgart 1927) wurde von Kurt Hahn sorgfältig komponiert. Der Nachlaß Schwertfeger läßt deutlich erkennen, mit welchem Aufwand der Prinz und sein Privatsekretär zunächst Informationen und Materialien zusammentrugen, Konferenzen mit Beteiligten abhielten und dann Mitte der zwanziger Jahre die eigentliche Arbeit an der Abfassung des Buches durchgeführt wurde. Aus dem NL Bernhard Schwertfeger läßt sich erkennen, daß Freunde des Prinzen wie Scheuch, Wahnschaffe, Schwertfeger Einfluß auf Text und Gestaltung des Buches nahmen und wie Rücksichten auf die Beteiligten zu kennzeichnenden Auslassungen führten. Das Werk ist als Geschichtsquelle dennoch von hoher Bedeutung, wenn auch G. Mann: Einleitung zu Prinz Max (Anm. 1), S. 48 nicht zugestimmt werden kann, "daß etwas anderes als die lautere Wahrheit wir in den Erinnerungen niemals finden". 4
) J. Müller: Vom Geheimnis des Lebens. Erinnerungen Bd. 2. Schicksal und Werk. Stuttgart 1938, S. 450. ' ) Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 91 f., 118. NL Walther Schücking zur Anwesenheitsliste der Lektoren- Sitzungen.
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zwischen staatsmännischen Erwägungen und militärischen Notwendigkeiten herausgebildet hatte".6 Zwar wuchs das Unbehagen des badischen Thronfolgers an den Zuständen im Innern, zumal er auch erkannt hatte, daß der Krieg durch Verhandlungen zu lösen sei, da ein Siegfrieden gegen die Entente nicht zu erreichen war. Dies veranlaßte ihn jedoch nicht, ein detailliertes Programm von Reformen oder einzuleitenden außenpolitischen Schritten zu entwerfen, sondern er strebte zunächst mehr die Aufrüttelung der Regierenden und die moralische Erneuerung des gesamten Staatswesens an. Dies scheinen die Positionen des Prinzen im Frühjahr 1917 gewesen zu sein, als er Kurt Hahn kennen lernte, jenen weltoffenen Sohn einer jüdischen Industriellenfamilie, der vor dem Krieg mehrere Jahre in England gelebt hatte. Im Kriege leitete er zunächst das englische Referat in der Pressestelle der Zentralstelle für Auslandsdienst beim Auswärtigen Amt und trat dann in den Dienst von Oberstleutnant v. Haeften, der die Vertretung der Obersten Heeresleitung beim Auswärtigen Amt leitete. Hahn gelang es trotz des Krieges, weiterhin Kontakte zu Persönlichkeiten in neutralen Staaten zu unterhalten, und so verfügte er über zahlreiche Informationen aus den Entente-Ländern. In Deutschland gehörte er zu einem Kreis von Anhängern eines Verständigungsfriedens, der so verschiedene Männer wie Albert Ballin, Hans Delbrück, Hans von Haeften, Friedrich Rosen, Wilhelm Solf bis hin zu dem sozialdemokratischen Abgeordneten Eduard David, dem Abgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei Conrad Haußmann und Prinz Max von Baden umfaßte.7 Hahn scheint Anfang 1917 die Überzeugung gewonnen zu haben, daß seine politischen und ethischen Vorstellungen von einem Verständigungsfrieden, zumal im Blick auf England, vom Prinzen verstanden und von ihm in politische Taten umgesetzt werden könnten. Die Anhänger einer Änderung der deutschen Politik, insbesondere aber Kurt Hahn, weisen praktisch dem allgemeinen Unbehagen des Prinzen an den bestehenden Zuständen erst eine Handlungsperspektive auf. Folglich begannen sie, sich für eine Berufung des Prinzen in hohe Stellungen einzusetzen und den Boden dafür zu bearbeiten. Eine Kandidatur des Prinzen wurde im Juli 1917 nach dem Sturz Bethmann Hollwegs zum ersten Mal betrieben. Dies wiederholte sich dann in der Krise um den Reichskanzler Michaelis im Herbst 1917, vor Beginn der Offensive 1918 und im Herbst 1918. Wie aber ist nun das Verhältnis zwischen dem Prinzen und Kurt Hahn zu bewerten? Befand sich Max in totaler Abhängigkeit von dem jugendlichen Idealisten, wie Wilhelm Solf mehrfach behauptet ?8
6
) Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 110. ) Hierzu und zu Kurl Hahn siehe: G. Mann: Der Pädagoge als Politiker: Kurt Hahn. In: Ders.: Zwölf Versuche. Frankfurt 1973, 61-104. 8 ) Er verglich das Verhältnis der beiden mit dem der Personen des Romans von George du Maurier, nämlich der Sängerin Trilby O'Ferrall, die dem hypnotisierenden Einfluß ihres Musiklehrers Svengali verfällt. Solf an Jagow (Tokio, d. 31. 7. 1921) In: NL Solf 114; Solf an H. von dem Bussche (Tokio, d. 26. 4. 1923) In: NL Solf 69; Solf an Heilbron (Tokio, d. 1. 9. 1928) In: NL Solf 111. Siehe auch F. Rosen: Aus einem diplomatischen Wanderleben. Aus dem Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von H. Müller-Werth. Wiesbaden 1959, S. 206. "Nihil est in Max quod non antea fuerit in Kurt." 7
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Sicher ist, daß Hahn von nun an allen Verlautbarungen des Prinzen beteiligt war. Der Briefwechsel, den Hahn und Max zur Ausarbeitung der Rede des Prinzen vor der Ersten Badischen Kammer am 14. 12. 1917 und zur Ansprache zur Hundertjahrfeier der badischen Verfassung am 22. 8. 1918 führten, zeigt aber, daß dieser Prinz keineswegs ungeprüft und kritiklos Anregungen Hahns aufnahm und wiedergab, sondern daß Entwürfe, Ergänzungen und Korrekturen hin und hergingen.9 So hatte selbst Wilhelm Solf, der dem Prinzen seit seiner Zeit als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes kritisch gegenüberstand, den Eindruck, daß Max als Charakter und Persönlichkeit durchaus hinter seinen Reden stünde.10 3. Die Vorstellungen und Pläne des Prinzen Max in der Innenpolitik Was die innenpolitische Lage angeht, so erkannte Max nun deutlicher, in welch tiefer Krise das konstitutionelle System steckte. "Das deutsche Volk hat kein Vertrauen mehr zu den vom Kaiser erwählten Führern, nicht zu den Bureaukraten, nicht zu den Militärs, es will nun sein Schicksal selbst in die Hand nehmen."11 Wie aber sollte man nach der Vorstellung des Prinzen aus dieser Sackgasse herauskommen? Eine vollständige Parlamentarisierung nach westlichem Muster lehnte er ab. "Ich hasse dieses Wort Demokratisierung, das nach all dem riecht, was man nicht liebt: Herrschaft der Mittelmäßigkeit, Gemeinheit, Herrschaft der Masse, der Advokaten usw. Man müßte ein deutsches Wort erfinden, das die Mitarbeit weitester Volkskreise am Leben des Staates bezeichnete. Das haben wir in Süddeutschland schon, und, wie wir jetzt sehen, nicht zu unserem Schaden. Ich glaube, daß es höchste Zeit ist, daß dies in Preußen auch entsteht."12 Seine Rede vom 14. 12. 1917 zur Eröffnung der Ersten Badischen Kammer, deren Präsident er war, und in dem er die oben genannten Gedanken ausführte ist zur Beurteilung seines damaligen Standpunkts von großer Bedeutung.13 In einem Brief bat er Haußmann ausdrücklich, diese Ansprache als sein "politisches Glaubensbekenntnis" anzunehmen, und betonte dabei, daß er "entschieden nicht für ein Weitergehen in Dingen des sogenannten parlamentarischen Systems" ist.14 Und erstaunt-indigniert stellte er die Tatsache fest: "[...] die Blätter der Linken, vorn die mir höchst unsympathische Frankfurter Zeitung, loben mich durch ein Brett, obgleich ich deutlich genug die demo-
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) S. Ausgewählte Briefe des Prinzen Max. In: Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 629, 631, 637. 10 ) Niederschrift eines Gesprächs Solfs am 28. 8. 1926 in Tokio. Der Gesprächspartner ist nicht feststellbar. In: NL Solf 75. " ) Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 301. 12 ) Max an Haeften (Salem, d. 7. 7. 1917). Abgedruckt in: Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 149. 13 ) Die Rede ist abgedruckt in: Schultheß' Europäischer Geschichtskalender. Hg. v. W. Stahl. Neue Folge, Jg. 34, 1918, S. 1030 f. 14 ) Max an Haußmann 17. 12. 1917. Abgedruckt in: Die Regierung des Prinzen Max v. Baden. Bearbeitet v. E. Matthias und R. Morsey. Düsseldorf 1962 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Erste Reihe, Bd. 2), S. XXVI.
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kratische Parole und die Schlagworte der Parteidialektik, zumal den Parlamentarismus geißele."15 Auch in einem erklärenden Brief an den Kaiser wurde der Prinz noch einmal deutlich. "Mein Wunsch, mich mit der westlichen Demokratie auseinanderzusetzen, und ihr die Maske der Freiheit- und Frieden-spendenden Weltbeglückungsgeber vom Gesicht zu reißen, hinter der sie krassesten Egoismus und weitausgreifende Raublust zu verstecken suchte, mußte mich dazu bringen, die demokratische Tendenz, wie sie der Krieg unzweifelhaft auch in Deutschland gebracht hat, auf ihren wahren und berechtigten Wert hin zu untersuchen."16 Noch im August 1918 sprach Max von "Abwendung parlamentarischer Bestrebungen".17 Was der Prinz nun an der Stelle des abgelehnten westlichen Parlamentarismus verwirklicht sehen wollte, faßte er unter die Formulierung: "Prinzip des vertrauenssuchenden Einheitswillen von Krone und Volk".18 Im Brief an den Kaiser führte er diesen Gedanken weiter aus: "Das Volk will an der Verantwortung für sein politisches Leben sich stärker beteiligen. Das kann ihm nicht verwehrt werden. Der Krieg, der Millionen in den Kampf und Hunderttausende in den Tod führte, hat das mit sich gebracht. Die Krone allein kann diese Verantwortung nicht tragen, sie müßte unter einer solchen Last erliegen. Die Basis, auf die sie sich stellt, muß breit sein und tief im Volkswillen und Volksvertrauen verankert. Hier anerkenne ich den Wert des Wortes Volkskönigtum [...] Bei dieser Haltung ist es Sache der Krone, durch Intelligenz, Klugheit und Führungswillen die Führung zu behalten, ohne daß der Monarch in die Arena des Kampfes und ihren unvermeidlichen Schmutz hinabsteigt. Wohl aber verlangt der Begriff des Volkskönigtums, daß sein Träger dem Wunsch des Volkes sein Ohr leiht und jeder vorgetragenen Vertrauensäußerung zugänglich sei."19 Prinz Max bekannte sich demnach zu einem Kaisertum, das mit realer Macht ausgestattet war, nicht nur zu einer repräsentativen Monarchie. Innere Erneuerung sollte das konstitutionelle System wieder festigen. Als im Herbst 1918 eine politische Rolle des Prinzen immer wahrscheinlicher wurde, galt es, diese eher allgemeinen Ideen zu konkretisieren, insbesondere hinsichtlich der Stellung des Reichskanzlers und seines Verhältnisses zum Reichstag. Auf einer Besprechung am 7. 9. 1918 in St. Blasien mit Kurt Hahn und Conrad Haußmann, ebenfalls seit Juli 1917 Anhänger und Förderer einer Ernennung des Prinzen zum Reichskanzler, erklärte Max, daß er Handlungsfreiheit gegenüber dem Kaiser und der Obersten Heeresleitung fordere. "Diese Freiheit werde ich haben, sonst übernehme ich das Amt nicht. Ich will 15 ) Max ail Prinz Alexander von Hohenlohe-Schillingsfürst (Karlsrahe, d. 12. 1. 1918). In: NL Alexander v. Hohenlohe-Schillingsfürst 68. Der Brief stimmt mit der Wiedergabe in Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 205, überein, für deren Authentizität sich der Prinz nicht verbürgen konnte. ,6 ) Max an Kaiser Wilhelm (Charleville, d. 21. 12. 1917). In: NL Bernhard Schwertfeger 206. 17 ) Max an Hahn (Salem, d. 28. 8. 1918). Abgedruckt in: Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 639. 18 ) Diese Formulierung findet sich öfter u. a. in der Rede vor der Ersten Badischen Kammer (Schultheß (Anm. 13). S. 10). Max an Haußmann (17. 12. 1917). In: Regierung (Anm. 14), S. XXVII. Max an Kaiser Wilhelm (21. 12. 1917). In: NL Schwertfeger 206. >'') Max an Kaiser Wilhelm (Charleville, d. 17. 12. 1917). In: NL Schwertfeger 206.
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sie aber auch gegenüber dem Parlament dahin haben, daß ich mein Programm durchführe und nicht davon abgedrängt werde. Ich bin auch nicht Anhänger des parlamentarischen Systems im französischen Sinn, daß nur Parlamentarier in die Regierung sollen, und auch nicht dafür, daß die Regierung und Verwaltung unter der Kontrolle des Reichstags selbst arbeitet. Dazu sollen ja eben Parlamentarier in die Regierung berufen werden [...] Ich würde mich selbstverständlich vor der Übernahme des Amtes mit den Vertretern der Mehrheit persönlich und zur Vergewisserung der Übereinstimmung in den politischen Grundauffassungen und im Arbeitsprogramm in Verbindung setzen."20 Demnach sollte es "nur einen ausschlaggebenden Machtfaktor im Reich geben: die aus dem Vertrauen der Volksvertretung heraus gebildete Regierung". 21 Dies bedeutete auch eine Unterordnung der Militärs unter die politische Gewalt. Die Aufnahme bedeutender Parlamentarier in die Regierung sollte die Unterstützung von Reichstag und Volk verschaffen. Dabei war durchaus auch an eine Mitarbeit der Sozialdemokratie gedacht. "Gegen einen vernünftigen Sozialisten als Mitarbeiter habe ich nichts einzuwenden." 22 Max war also bereit, die "halbe" Parlamentarisierung zuzugestehen, um seiner Regierung so den nötigen Rückhalt in der Volksvertretung zu verschaffen. Ein solches System sollte letztlich den Beweis erbringen, "daß deutsche Freiheit besser ist als westliche Demokratie". 23 4. Die Vorstellungen und Pläne des Prinzen in der Außenpolitik Wie dargestellt sah der Prinz die Lage des Reiches im Kriege realistischer als etliche Politiker oder viele seiner Standesgenossen. Bei einer Reise nach Berlin am 13. 2. 1918 und am 19. 2. nach Bad Kreuznach versuchte Max gemeinsam mit Hahn beziehungsweise Haeften, die politische und militärische Führung des Reiches davon zu überzeugen, daß der militärischen Offensive eine politische vorausgehen müsse. Durch ein ernsthaftes Friedensangebot mit greifbaren Vorschlägen solle man versuchen, für die deutsche Position eine moralische Basis zu gewinnen, um dann zu Verhandlungen mit den Kriegsgegnern zu gelangen. Politisch sei das Gewicht des Reiches vor der militärischen Offensive auf jeden Fall größer als danach. 24 Prinz Max konnte aber mit seinen Ideen nicht durchdringen, da im Winter 1917/18 die Reichsleitung sich "von dem Siegesfeuer" hatte anstecken lassen. "Und nicht nur die Reichslei-
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) C. Haußmann: Schlaglichter. Reichstagsbriefe und Aufzeichnungen. Hg. v. U. Zeller. Frankfurt 1923, S. 214. 21 ) Eine Kundgebung des Prinzen Max v. Baden. In: Preußische Jahrbücher. 1918, 174. Bd. S. 302. Es handelt sich hierbei um die geplante Rede, mit der der Prinz nach seiner Zeit als Reichskanzler vor der Ersten Badischen Kammer Rechenschaft ablegen wollte. 22 ) Max an Hahn (Salem, d. 28. 8. 1918). In: Max von Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 639. 23 ) Max an Kaiser Wilhelm (Salem, d. 15. 8. 1918). In: Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 291. 24 ) Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 235 ff. NL Schwertfeger 549. Protokoll der Besprechung mit Oberst Schwertfeger, Hahn, Lina Richter und Max am 17./18./19. April 1923 in Salem. Diese Aufzeichnung zeigt, wie die Anwesenden weiterhin von der Richtigkeit der dargelegten Gedanken überzeugt waren.
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tung, auch die Parteien im Reichstag bis weit nach Links hinein sind gegen die Ansteckung nicht immun gewesen."25 Auch im Juni 1918 bemühte er sich bei der Übersendung eines Briefes des schwedischen Prinzen Carl, den Reichskanzler Graf Hertling für eine politische Initiative zu gewinnen.26 Öffentliche Äußerungen über das Aussehen eines künftigen Friedens machte Max nur allgemein und legte sich auf keinerlei Gewinne für Deutschland fest. Bei der hier diskutierten Frage nach der außenpolitischen Haltung des Prinzen ist jedoch noch auf zwei weitere Vorgänge einzugehen: Im Jahre 1915 versuchte der Prinz, Schweden zur Preisgabe seiner Neutralität und zur Intervention an der Seite der Mittelmächte zu bewegen.27 Hierzu bleibt festzuhalten, daß Max natürlich den Sieg der deutschen Waffen wünschte und das ihm Mögliche zur Erreichung dieses Zieles tat. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, daß er aber 1915 noch nicht die politischen Einsichten besaß, über die er in späteren Jahren verfügte. Weiterhin ist noch der Brief zu bewerten, den Max am 12. Januar 1918 an seinen in der Schweiz lebenden Vetter Alexander von Hohenlohe-Schillingsfürst schrieb und in dem er unter anderem folgendes ausführte: "Denn auch ich wünsche natürlich eine möglichste Ausnutzung unserer Erfolge, und im Gegensatz zu der sogenannten Friedensresolution, die ein scheußliches Kind der Angst und der Berliner Hundstage war, wünsche ich möglichst große Vergütungen in irgendwelcher Form, damit wir nach dem Kriege nicht zu arm werden."28 Nachträglich bezeichnete der Prinz das Schreiben als ärgerlich hingeschriebenen Privatbrief. Er habe seinen Vetter Alexander bewußt schockieren wollen, um nicht in der Schweiz auf Kosten des offiziellen Deutschland als Gegner der deutschen Belgienpolitik herausgestrichen zu werden. Aus dem gesamten Brief ist tatsächlich die Verärgerung des Prinzen über das Echo seiner Rede vor der Ersten Badischen Kammer im In- und Ausland ablesbar. Und so fragt er: "Was für ein Bild machen sich die Deutschen, was für eins die Ausländer von Deutschland. Mich erschreckt dies ordentlich. Die Schweizer Blätter konstruieren einen Gegensatz zwischen Hohenzollern und Zähringen, was ein direkter Unsinn ist [...]"29. Aber ähnlich wie im Hohenlohe-Brief äußerte sich der Prinz im Dezember 1917 gegenüber Bethmann Hollweg. "Ich hoffe auf Annektionen, wo dies
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) Max an Schweitfeger (Salem, d. 21. 12. 1922). In: NL Schwertfeger 549. ) Max an Hertling (Baden-Baden, d. 4. 6. 1918). In: NL Georg Graf v. Hertling 41. ) Vgl. W. U. Carlgren: Neutralität oder Allianz. Deutschlands Beziehungen zu Schweden in den Anfangsjahren des ersten Weltkrieges. Stockholm 1962, S. 220-229. 28 ) NL Hohenlohe 68. Vgl.: Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 207. Max hat die Friedensresolution nie akzeptiert, da sie ihm zu sehr auf Wirkung im Ausland bedacht schien und im Reich die Macht der Parteien zu sehr stärke. Max an Hahn (St. Blasien, d. 27. 8. 1917). In: Prinz Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 617 ff. 29 ) Ebd., S. 205 ff. In die gleiche Richtung geht eine Notiz des zum Pazifisten gewordenen ehemaligen Krupp-Direktors Wilhelm v. Muehlon in einem Brief an Hohenlohe vom 27. 10. 1918. "Ein anderer Herr sagte nur Uber die Briefaffäre, daß Prinz Max sich im Frühjahr dahin geäußert habe, er habe Euer Durchlaucht einen Brief geschrieben, in dem er schroffere Ansichten niedergelegt habe als er besitze, um Euer Durchlaucht abzuhalten, sich für ihn einzusetzen." In: NL Hohenlohe 65. 26 27
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möglich ist, u. ich wünschte sehr wir könnten Entschädigungen erhalten, um unseren Finanzen aufzuhelfen." 30 So läßt sich die Haltung des Prinzen wohl dahingehend charakterisieren: Als Patriot glaubte er, alles für den Sieg Deutschlands tun zu müssen, auch wenn dazu ein weiterer Staat zur Teilnahme am Krieg bewegt werden mußte. Der Prinz war auch durchaus nicht allen Annexionsplänen abhold, zumal in einer Zeit der Euphorie, als im Osten der Kriegsgegner ausfiel. Er war diesbezüglich kein strenger Moralist. Aber er war eben auch nicht realitätsblind. Er wünschte sich zwar möglichst große Kompensationen in irgendwelcher Form, aber wesentlich früher als andere hatte er die reale Lage des Reiches erkannt. Mehr als Selbstbehauptung, vielleicht bei kleinen Gewinnen, war für Deutschland nicht möglich. "Deutschlands Mäßigung würde nur wirken, solange wir noch siegten"31, stellte er fest, und nur solange würde das Reich als gleichberechtigter Partner am Verhandlungstisch Platz nehmen können. Der Prinz war daher seit Mitte 1917 zu substantiellen Friedensinitiativen bereit. Um diesen Prozeß einzuleiten, bedürfte es deutlicher deutscher Zeichen der Mäßigung, unter anderem einer klaren Erklärung zur belgischen Frage. An Forderungen nach fremdem Territorium wäre ein Friede bei ihm nicht gescheitert. Wenn sich die deutsche Politik auf dieses neue, auch moralische Fundament gestellt hätte, dann könne über die friedensbereiten Gruppen im gegnerischen Lager wie Gewerkschaften, Labour- Politiker und Pazifisten, aber insbesondere die Freunde des konservativen Lord Lansdowne, versucht werden, Gespräche zwischen den kriegführenden Parteien anzuknüpfen. 32 Wie aber wollte der Prinz in der konkreten Lage des Herbstes 1918 vorgehen? Da Deutschland ja nicht mehr siegte, fehlte nun die Voraussetzung der Stärke, von der aus die Friedensinitiative vorgetragen werden sollte. Vor seiner Abreise nach Berlin hat Max in einer Denkschrift seine Absichten deutlich dargelegt: "Kein Friedensangebot - wohl aber deutlichste Proklamierung der Kriegsziele, die große Zugeständnisse an die Feinde enthalten können, dagegen Betonung der absoluten Entschlossenheit, bis zum Tode zu kämpfen, wenn entehrende Bedingungen gestellt werden." 33 Entsprechend hatte Max den badischen Bundesratsbevollmächtigten Düringer veranlaßt, sich im dortigen Ausschuß für die Auswärtigen Angelegenheiten vom 2. 9. 1918 gegenüber einem erwarteten bayrischen Vorstoßes für ein Friedensangebot ablehnend zu verhalten. 34 Nach den Vorstellungen des Prinzen sollte den alliierten Staatsmännern zunächst verdeutlicht werden, daß das Reich auch in der Defensive militärisch noch in der Lage war, dem Gegner große Verluste zuzufügen. Die Kompromißbereitschaft der Politiker der Entente sollte aber darüber hinaus auch durch die Verwirklichung von inneren Reformen gefördert werden. An eine Anru
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) Max an Bethmann Hollweg (Salem d. 28. 12. 1917). In: Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 644. 31 ) Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 275. 32 ) Vgl. Ebd., S. 188 ff., 214 ff., 229, 237, 251 f., 258, 264 f. 33 ) Ebd.. S. 320. 34 ) Mitteilung Hahns an Schwertfeger (Salem, d. 8. 5. 1923). In: NL Schwertfeger 549.
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fung des amerikanischen Präsidenten Wilson als alleinigem Friedensvermittler dachte der Prinz nicht. Er wollte sich an den Feind allgemein und besonders die verhandlungsbereiten Kräfte in Europa wenden, um eine Verständigung zu erzielen.35 II. Das Handeln des Prinzen Max als Reichskanzler 1. Prinz Max und die Bitte um Waffenstillstand Nach seiner Ankunft in Berlin am 1. Oktober erfuhr der Prinz von der Forderung der Obersten Heeresleitung nach sofortigem Waffenstillstand, wozu er sich an Wilson wenden sollte. Max war über das Ansinnen entsetzt, denn er erkannte, daß eine solche Bitte dem Eingeständnis der deutschen Schwäche gleichkam und ehrliche Friedensverhandlungen unmöglich machen würde. Starkem Druck ausgesetzt, versuchte er dennoch seinem Standpunkt Geltung zu verschaffen. Am Abend des 1. 10., bei einer Besprechung mit Mitgliedern der alten Regierung, schlug er seine Antrittsrede im Reichstag als geeignete Form eines Friedensangebotes vor. Dort wolle er auch eine Interpretation der 14 Punkte Wilsons aus deutscher Sicht geben. Erst später könne dann eventuell ein Gesuch um Waffenstillstand folgen. Aber die anderen Herren stellten sich angesichts der Warnungen Ludendorffs hinter den Generalquartiermeister und forderten die Absendung des Angebots. Payer erbot sich, es nötigenfalls selbst zu unterschreiben.36 Damit wurde Prinz Max praktisch der Boden unter den Füßen weggezogen. Er mußte erkennen, daß er von den Politikern in seinem Kampf keine Hilfe zu erwarten hatte, ja daß sie ihm - wenn auch aus durchaus ehrenwerten Gründen - notfalls sogar in den Rücken fallen würden. Theoretisch hätte Max abreisen müssen, wenn er seiner Linie treu bleiben wollte. Er tat es nicht, in dem Wissen, daß dann das Waffenstillstandsangebot sicher sofort von Payer oder einem anderen unterzeichnet worden wäre. Vielmehr nahm er den Kampf nach der oben geschilderten Besprechung sofort wieder auf, und auf seine Veranlassung führte Haeften noch in der Nacht darauf ein Telefongespräch ohne Ergebnis mit der OHL. Am Morgen hatten Hahn, Warburg und Max sich emeut bemüht, gerade Haeften, den sie als ihren Gesinnungsgenossen ansahen, umzustimmen. Am 2. Oktober hielt Major v. d. Bussche den Parteiführern einen ungeschminkten Vortrag über die militärische Lage. Die Abgeordneten waren anschließend aufs schwerste erschüttert. Auf Hilfe von dieser Seite, also vom Reichstag her, brauchte der Prinz auch nicht mehr hoffen.37 Am selben Tag kam Hindenburg nach Berlin. Max unternahm einen erneuten Versuch, aus mancher auf den ersten Blick nicht so pessimistisch gefärbten Äußerung des Generalfeldmarschalls die politische Forderung zu ziehen: "Also laßt der neuen Regierung Zeit ihre Visitenkarte vor der Welt und 35
) Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 334. ) Vgl Ebd., S. 324; vgl. F. v. Payer: Von Bethmann Hollweg bis Ebert. Erinnerungen und Bilder. Frankfurt 1923, S. 98 ff. 17 - ) Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 328 f. Payer: Von Bethmann Hollweg (Anm. 36). S. 101 ff. 36
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vor Deutschland abzugeben; laßt uns innere Politik machen und Kriegsziele verkünden, gebt mir nur 8-10 Tage Spielraum, ehe ich mich an den Feind direkt wenden muß."38 Hindenburg lehnte jedoch ab. Im Kronrat wehrte der Kaiser die Einwände des Prinzen mit der lapidaren Bemerkung ab, daß man der OHL keine Schwierigkeiten machen dürfe. "Er ebensowenig als irgend ein anderer der anwesenden Herren schien das geringste Gefühl für die politische Tragweite des Schrittes zu haben."39 Inzwischen hatte Haeften auf Bitte des Prinzen erneut mit Ludendorff gesprochen. Am Abend wurde bei Payer mit führenden Vertretern der alten Regierung die Note besprochen. Max machte erneut sein Angebot einer großen Programmrede vor dem Reichstag mit Friedensangebot an alle Mächte, aber vorläufig ohne Bitte um Waffenstillstand. Mit Ausnahme von Solf hatte der Kanzler sämtliche Anwesenden gegen sich. Es spricht für eine gewisse Zähigkeit des Prinzen, daß er auch jetzt noch nicht aufgab. Am Morgen des 3. 10. traf er sich noch einmal mit Hindenburg und verdeutlichte auch ihm erneut seinen Standpunkt. Und er fügte hinzu, daß er nur unter der Bedingung bereit sei, eine Bitte um Waffenstillstand zu unterzeichnen, daß die Oberste Heeresleitung ihm schriftlich versichere, die militärische Lage an der Westfront vertrüge keine weitere Verzögerung ihrer Absendung. Entgegen den Erwartungen des Prinzen stellte der Generalfeldmarschall die gewünschte Erklärung noch am 3. 10. zu. Auch ein nachgereichter detaillierter Fragebogen des Prinzen konnte Hindenburg nicht zu einer gegenteiligen Äußerung bewegen. Bei der Besprechung am Nachmittag drang Max noch einmal auf den Generalfeldmarschall ein, wieder ohne Erfolg. Schließlich beauftragte der Reichskanzler Haeften, Ludendorff zu drängen, wenigstens auf die Bitte um Waffenstillstand in einem sofortigen Friedensangebot zu verzichten, was dieser kategorisch ablehnte. Am Abend wurde dann die endgültige Fassung der Note festgestellt.40 So wurde eine Waffenstillstandsbitte ausgesprochen, die Max zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form nicht gewollt hatte. Die geforderte Dringlichkeit der Waffenruhe für die Armee ließ es nicht zu, sich an alle kriegführenden Parteien zu wenden. So blieb nur der Appell an Wilson. Bei der hier geschilderten Auseinandersetzung kann man von zäher Energie des designierten Kanzlers sprechen. Er fand in seinem Kampf außer bei Solf bei den offiziellen Stellen keinerlei Unterstützung, weder im Reichstag noch bei der alten Regierung, und erst recht nicht bei Kaiser und OHL. Vielmehr hatte die Oberste Heeresleitung dem Reichskanzler durch ihr Verhalten die Verwirklichung seines Programms vom ersten Tag an unmöglich gemacht.41 Hätte der Prinz abgelehnt, so wäre das Angebot dennoch herausgegangen, nur mit einer anderen Unterschrift versehen. Max selbst war ja noch nicht zum Reichskanzler ernannt und hätte nichts verhindern können. Er konnte sich 38
) Max an Schweitfeger (Salem, d. 14. 5. 1924). In: NL Schwertfeger 550. ) Max an Schwertfeger (Salem, d. 30. 11. 1923). In: NL Schwertfeger 549. 40 ) Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 332 ff. Schilderung auch im Brief Max an Schwertfeger (Salem, d. 14. 5. 1924). In: NL Schwertfeger 550. 41 ) Es kann hier nicht diskutiert werden, ob der Plan des Prinzen angesichts der tatsächlichen Kräfteverhältnisse eine realistische Alternative dargestellt hätte, um zu einer gleichberechtigten Diskussion mit den Entente-Mächten zu gelangen. 39
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auch dem Argument nicht ganz verschließen, daß seine Unterschrift wegen des guten Rufes, den sein Name teilweise im Ausland besaß, das deutsche Bekenntnis zu einem Rechtsfrieden glaubwürdiger machen würde. Außerdem spielt wohl auch seine Auffassung von patriotischer Pflichterfüllung eine Rolle, nach der man sich auch in einer schwierigen Lage den Anforderungen nicht verschließen dürfe. 42 Aber Max tat noch mehr: Auf Anraten des Pressechefs Deutelmoser nahm er das Waffenstillstandsangebot allein auf seine Schultern, weil das Bekanntwerden seiner Herkunft von der OHL daheim und im Ausland katastrophale Wirkungen gehabt hätte.43 So sah der Prinz die Auswirkungen dieses Schritts klarer als die Militärs und so mancher Politiker. Wie diese vorher an die OHL geglaubt hatten, so nahmen sie auch in der neuen politischen Lage deren Votum als unwidersprechbare Tatsache hin. 2. Die Reichstagsrede des Prinzen vom 5. Oktober Am 4. 10. schien es dem Reichskanzler als böte sich ihm eine letzte Möglichkeit, den Schaden, der durch die Waffenstillstandsbitte verursacht wurde, wenigstens zu begrenzen. Dazu beabsichtigte er, am 5. Oktober im Reichstag in einer grundsätzlichen Rede den deutschen Rechtsstandpunkt zu den 14 Punkten darzulegen, und so deutlich zu machen, daß das Reich nicht gezwungen sei, sich zu unterwerfen. Es bestünde aber jetzt die Chance zu einer vernünftigen Einigung, ohne daß der Krieg noch Monate fortgesetzt würde. Damit kam er auf sein ursprüngliches Konzept zurück, über die Friedensparteien in den Ententestaaten Druck auszuüben. Durch dieses Vorgehen sollte die Diplomatie eine gewisse Handlungsfreiheit zurückgewinnen. Spätabends tagten bei Vizekanzler Payer einige Staatssekretäre und Beamte des Auswärtigen Amtes, denen der Reichskanzler seinen Redeentwurf mitteilen ließ. Die Ansprache wurde einstimmig verworfen und aus innen- und außenpolitischen Gründen als unmöglich angesehen. Haeften stellte im Namen der OHL die Forderung, daß die Rede nicht gehalten werden dürfe, da alles zu vermeiden sei, was den Abschluß eines Waffenstillstands verzögern könnte. Schließlich leistete der Reichskanzler keinen Widerstand mehr und hielt eine Ansprache, die seiner Überzeugung nicht entsprach. 44 Noch zweimal versuchte der Prinz bei den Kontakten mit den USA, nämlich bei der deutschen Antwort auf die zweite und dritte Wilson-Note, einen festen Ton einzubringen, der Deutschlands Vorstellungen klarer zum Ausdruck bringen sollte. Wie weiter unten dargestellt, scheiterte er damit an seinem Kabinett und ließ sich auf dem von ihm für falsch erachteten Weg weiterdrängen. Der Blick für die Endgültigkeit des einmal eingeschlagenen Weges, auf dem es kein Halten mehr gab, wurde dem Prinzen noch durch den Plan einer nationalen Verteidigung getrübt. Mit der Obersten Heeresleitung wäre er bereit gewesen, bei unannehmbaren Friedensbedingungen die Feindseligkeiten 42
) Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 336 f. ) Deutelmoser an Hintze (Berlin, d. 14. 12. 1921). In: NL Schwertfeger 542. 44 ) Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 339, 343 f., 348 ff. 41
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mit äußerster Energie fortzusetzen. Überlegungen dazu wurden immer wieder angestellt. Wie man sich auf einen Stock stützt, so tröstete sich der Prinz bei jeder neuen Konzession, jedem Schritt vorwärts auf der eingeschlagenen Linie, damit, daß die nationale Verteidigung immer noch aufgerufen werden könne, wenn nur die unzumutbaren Bedingungen Wilsons für jedermann deutlich vorlägen.45 3. Die Bildung der Regierung Max ging in seinen Vorstellungen über die Regierungsbildung davon aus, daß er freie Hand bei der Auswahl seiner Mitarbeiter habe. In diesem Sinne erklärte er auf der Konferenz von St. Blasien: "Ich möchte drei Mitglieder und Vertreter der Mehrheitsparteien zu ständiger Beratung in der Regierung haben. Auf Herrn von Payer möchte ich keinesfalls verzichten, ebensowenig auf ein Mitglied des Zentrums, und Herrn Ebert halte ich für den geeignetsten zum Eintritt in die Regierung. Herr Dr. Solf wäre als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes sehr nützlich, und Herr von Rechenberg könnte als Mitglied des Zentrums an die Spitze des ihm vertrauten Kolonialamtes treten."46 Zwar sind weitere Äußerungen des Prinzen und zwei Personallisten vom 1. 10. nicht ohne Widersprüche47, aber insgesamt ergibt sich: Max hatte gewünscht, bestimmte Parlamentarier in die Regierung aufzunehmen, aber er mußte im Laufe seiner Konsultationen einsehen, daß er durch die Beschlüsse der Fraktionen in seiner Wahlmöglichkeit eingeschränkt war. So konnte der Prinz seine Wünsche nur teilweise durchsetzen. Statt Ebert, der verzichtete, empfahl die Fraktion Scheidemann für den Posten eines Staatssekretärs. Gegen den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger hatte der Prinz ebenfalls starke Bedenken. So hatte er Haußmann schon Anfang September gefragt: "Ist Erzberger nicht zu umgehen?" Die ernüchternde Antwort: "Nur um den Preis seiner Gegnerschaft."48 Und in Payers Aufzeichnungen heißt es lakonisch dazu. "Will Erzberger nicht, was ihm nichts hilft."49 Da aber das Zentrum an dessen Ernennung festhielt scheiterten auch Versuche, Erzberger erst später zu ernennen oder auf eine Stelle als Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt abzuschieben.50 Ebensowenig gelang es dem Prinzen, seinen "treuen Schrittmacher"51 Haußmann sofort in der Regierung unterzubringen. "Haußmann aufgebracht, aber nicht präsentiert, deshalb nicht zu nehmen", notierte Payer dazu.52 Was bei Haußmann schließlich noch 45 ) An zahlreichen Stellen seines Buches kommt der Prinz auf die nationale Verteidigung zu sprechen, ζ. B. S. 422,448,465,468 f. 46 ) W. Haußmann: Schlaglichter (Amn. 20), S. 213. 47 ) Vgl. Regierung (Anm. 14), S. 18 Anm. 5 und Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 320. 4S ) Aus Conrad HauBmanns politischer Arbeit. Hg. v. seinen Freunden. Frankfurt 1923, S. 109. 49 ) NL Payer 34, Notizen zum 1. 10. 1918. Und Roedern gegenüber erklärte der Vizekanzler, "er wünsche ihn auch nicht als Kollegen, aber Erzberger wäre nun einmal durch seine Anhängerschaft im Reichstag stärker als wir alle, insbesondere als die anderen Parteiführer." In: Kleine Erwerbungen 372-2 (= NL Siegfried Graf von Roedern Bd. 2), S. 282. Es handelt sich hierbei um ein Typoskript mit den Erinnerungen des Grafen vom Sommer 1920, revidiert in wenigen Punkten 1922. 50 ) Vgl. Regierung (Anm. 14). S. 61 und 76. Siehe auch NL Matthias Erzberger 32b, Aufzeichnung vom 2. 10. 1918 und Vorstandssitzung der Zentrumsfraktion v. 3. 10. 1918. 51 ) Kleine Erwerbungen 731-1 (= NL Roedern Bd. 1) S. 342. 52 ) NL Payer 34, Noüzen zum 3. 10. 1918.
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durchgesetzt werden konnte, gelang bei Hahn nicht mehr. Max konnte seinem Berater keine amtliche Stelle in der Reichskanzlei verschaffen. Vielen Politikern und Beamten erschien der agile "Privatsekretär" des Prinzen zu unberechenbar. Was weitere Berufungen in Regierungsämter angeht, so gelangten Karl Trimborn, Adolf Gröber, Gustav Bauer und Eduard David durch Beschluß ihrer Fraktionen in ihre Stellung. Bei der Entlassung von Mitgliedern der alten Regierung wie die des Kriegsministers von Stein, des Chefs der Reichskanzlei v. Radowitz oder aber auch des Chefs des Zivilkabinetts des Kaisers von Berg wird aus den Quellen nicht ganz deutlich, inwieweit der Prinz hierbei auf Druck der Parteien oder aus eigenem Antrieb handelte, als er das Ausscheiden dieser Personen anstrebte. Man kann wohl davon ausgehen, daß beide Seiten in diesem Ziel übereinstimmten. Staatssekretär des Auswärtigen Amtes wurde mit Wilhelm Solf ein Mann, den Max für einen Gesinnungsgenossen hielt. Es scheint aber darüber hinaus so, daß der Vizekanzler der Wirklichkeit nahe kommt, wenn er notiert: "Solf, AA: nur mit halb gutem Gewissen; es war nichts besseres da."53 Vergleicht man nun die Vorgänge bei der Bildung der Regierung mit dem Anspruch des Prinzen, so zeigt sich: Die Mehrheitsparteien haben entweder ihre Kandidaten durchgesetzt oder aber die alten Ressortchefs im Amt bestätigt. Von freier Auswahl der Mitarbeiter, wie sie Max ursprünglich vorschwebte, war wenig übriggeblieben. Als Folge davon war der Reichskanzler gezwungen, mit Männern zusammenzuarbeiten, die zum Teil eine andere politische Linie verfolgten als er. Zwar fällt auf, daß die klassischen Ressorts außer dem Reichsamt des Inneren, welches allerdings erst 1917 gegründet worden war, nicht mit Parlamentäriem besetzt und Gröber, Erzberger, Scheidemann und Haußmann zu Staatssekretären ohne Portefeuille ernannt worden waren. Daß für diese keine Ressorts freigemacht wurden, ist aber nicht primär auf Entschlüsse des Prinzen zurückzuführen, sondern darauf, daß der Interfraktionelle Ausschuß die Parlamentarisierung der Reichsregierung nicht konsequent zu Ende trieb.54 4. Die Reformen der Reichsverfassung Der Prinz stand mit seinen Vorstellungen, die ja nicht den direkten Übergang zum parlamentarischen System vorsahen, keineswegs allein. Selbst die entsprechenden Punkte des Programms der Mehrheitsparteien lief im Prinzip nur auf die Wiederherstellung einer streng konstitutionellen Verfassungspraxis bei einigen Änderungen hinaus.55 " ) V g l . Max V. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 340; NL Payer 34, Notizen zum 4. 10. 1918. Schwerlich war es wohl so, wie Frau Solf in ihrem Tagebuch notierte:" Ich komme abends in Berlin an. Ruppel holt mich ab mit der Nachricht, daß W.cilhelm Solf> das AA hat Ubernehmen müssen. Der Prinz hat das Kabinett nur unter der Voraussetzung gebildet." In: NL Solf 156, Kriegstagebuch von Frau Solf-Dotti, Eintragung zum 4. 10. 1918. 54 ) Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 341. "Ich konnte mich nicht entschließen, für alle neuberufenen Parteiführer Ressorts freizumachen. " 55 ) Vgl. Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18. Bearb. v. E. Matthias u. Mitwirkung v. R. Morsey. Düsseldorf 1959 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe, Bd. 1/1 u. l/II), S. 786 ff.
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Dieser Linie entsprechend kündigte der Reichskanzler bei seiner Rede vor dem Reichstag am 5. 10. auch keine vollständige Parlamentarisierung an, bekannte sich aber zu inneren Reformen. Die Regierung werde für die Einführung eines demokratischen Wahlrechts in Preußen sorgen, die Zivilbehörden gegenüber den militärischen Stellen stärken, und der Belagerungszustand solle abgeschwächt werden. Max versicherte, daß die Regierung vom Vertrauen der breiten Massen des Volkes getragen sei, und betonte, daß eine Reichsleitung unter Mitwirkung des Reichstages nichts Vorübergehendes darstelle. Er benannte als einzige konkrete rechtliche Reformmaßnahme die Absicht der Regierung, Artikel 21,2 der Reichsverfassung zu beseitigen.56 Darauf wurde einige Tage später dieser Artikel durch ein Reformgesetz gestrichen, so daß Parlamentarier bei Annahme eines Regierungsamtes nicht mehr ihren Sitz im Reichstag verloren. Nachdem durch eine Abänderung des Stellvertretergesetzes auch sichergestellt worden war, daß die Staatssekretäre ohne Portefeuille ebenfalls Stellvertreter des Kanzlers werden und damit als Regierungsmitglieder im Reichstag des Wort ergreifen konnten, waren die machtmäßigen Beziehungen zwischen Reichsleitung und Parlament nun auf ein rechtlich geregeltes Fundament gestellt. Theoretisch wäre bei diesem Stand der Dinge auch die Vorstellung des Prinzen von einer Regierung, der zwar Parlamentarier angehörten, die aber nicht in engem Sinne von den Parteien abhängig sei, noch möglich gewesen. Ob dies gegen deren Machtanspruch und die Entwicklung der politischen Praxis durchzuhalten gewesen wäre, sei dahingestellt. Wie sehr der Kanzler in Wirklichkeit schon vom Vertrauen der Parteien abhängig war, zeigt die Briefaffäre. Ohne die "Absolution" des Interfraktionellen Ausschusses, und insbesondere die Zustimmung der SPD, hätte er zurücktreten müssen.57 Mit der ersten Wilson-Note und ihrer Frage, ob der Kanzler nur für diejenigen Gewalten des Reiches spreche, die bisher den Krieg geführt hätten, kommt die Verfassungsdiskussion erneut in Bewegung.58 Am 10. 10. wird im Kabinett über eine weitere Demokratisierung gesprochen. Damit die Regierung die Initiative gegenüber einem zu erwartenden Antrag aus dem Reichstag nicht aus der Hand verliert, soll eine Vorlage zu Artikel 11 der Verfassung Kriegserklärung- ausgearbeitet werden. Bei der Verfassungsänderung wollte man außerdem die Frage der Ministerverantwortlichkeit noch klar regeln, einer alten Forderung der Mehrheitsparteien entsprechend.59 Die Ereignisse sollten diese begrenzten Vorhaben indes überrollen. Nach Ankunft der zweiten Note Wilsons mit der Forderung nach "Vernichtung jeder willkürlichen Macht überall, welche es in den Händen hat [...] den Weltfrieden zu stören, [...] oder wenigstens ihre Herabminderung bis zur tatsächlichen Ohnmacht" begannen Überlegungen, wie der Wille der Regierung zur Demokratie zweifelsfrei nachgewiesen werden könnte. Zwar hatte der Prinz richtig erkannt: "Der Präsident fragt nach Bürgschaften für die Dauer des neuen Systems. Gesetzesartikel allein können diese Bürgschaften nicht geben."60 Aber 56
) ) ) 59 ) 60 ) 57
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Vgl. Verhandlungen des Reichstages, Stenographische Berichte, Bd. 314, S. 6150 ff. Vgl. Regierung (Anm. 14), S. 149 ff. Die Wilson-Noten zitiert nach Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 369 f., 387 f., 463 f. Vgl. Regierung (Anm. 14), S. 130 ff. Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 432.
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er vermochte sich bei den daraus zu ziehenden Folgerungen erneut nicht durchzusetzen. Die aktuelle Situation begünstigte nun einmal die Neigung, schnell Verfassungsreformen durchzuführen, die man vorzeigen konnte. In seiner Rede zu Beginn der Reichstagssitzung vom 22. 10. versuchte der Prinz die formelle Festlegung auf das parlamentarische Regierungssystem erneut zu vermeiden. Zwar erklärte er, es sei eine Selbstverständlichkeit, daß hinfort kein Kanzler und kein Staatssekretär im Amt bleiben könne, wenn er das Vertrauen der Mehrheit des Hauses verloren habe. Die reale Garantie des neuen Systems liege jedoch nicht in Gesetzesparagraphen, sondern in dem zum Durchbruch gekommenen Machtwillen der Nation. Eben deshalb dürfe Deutschland nicht zu Regierungsformen greifen, hinter denen nicht seine innere Überzeugung stehe und die nicht Ausdruck seiner Eigenart und Geschichte seien.61 Die Geschichte ging über diese letzten Versuche des Prinzen, die Entwicklung noch aufzuhalten, hinweg. Die dritte Wilson-Note betonte, daß die entscheidende Initiative immer noch bei denen liege, die bisher die Herrschenden waren. "Mit militärischen Beherrschern und monarchischen Autokraten" werde man nicht verhandeln. Daraufhin wurde durch Abänderungsgesetze, die der Reichstag am 26. 10. verabschiedete und denen der Bundesrat zwei Tage später zustimmte, die Verfassung so reformiert, daß Deutschland nun rechtlich eine parlamentarische Monarchie, eine Demokratie nach westlichem Muster geworden war. Prinz Max' vage Vorstellungen von einer eigentümlichen deutschen Art und Weise der Mitwirkung des Volkes am staaüichen Gemeinwesen, der eigene deutsche Weg, konnte in keiner Weise verwirklicht werden. Seine Absicht, eine Anpassung an fremde Regierungsformen zu vermeiden, scheiterte am Druck der Verhältnisse. Die Außenpolitik, der Wunsch, die deutschen Friedensbemühungen zu fördern, war zur Richtschnur des Handelns geworden und die Innenpolitik hatte sich danach auszurichten. War der Prinz zunächst noch als Bremser tätig, übernahmen schließlich die Parteien im Interfraktionellen Ausschuß die Führung, wobei das Kabinett sich anschloß. Max trat dabei so gut wie gar nicht mehr in Erscheinung. 5. Die Kaiserfrage Selbstverständlich stellte sich für Max als badischem Thronfolger und damit eo ipso als überzeugtem Anhänger der Monarchie, zunächst keine Kaiserfrage. Auch die nun Verantwortung tragenden politischen Parteien sahen Anfang Oktober keinen Grund, die Abdankung des Throninhabers oder gar die Abschaffung der Monarchie anzustreben, zumal der Herrscher der Durchführung von Reformen keinen Widerstand entgegenbrachte. Nachdem die Wilson-Noten die Frage der Abdankung Wilhelms aber aufgeworfen hatten, begann Max ab dem 25. 10. mit der kommentarlosen Übersendung von Depeschen, an den Kaiser, die er selbst erhalten hatte und in denen dem Herrscher eine Thronentsagung nahegelegt wurde. Zusätzlich versuchte er dem Monarchen nahe stehende Personen zu gewinnen, die diesen über die Lage aufklären sollten. Allein der preußische Innenminister Drews entsprach der Bitte des Kanzlers. 61
) Vgl. Verhandlungen des Reichstages, Stenographische Berichte, Bd. 314, S. 6 1 5 0 ff.
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Er besaß aber nicht das politische Gewicht, das zu dieser Aufgabe nötig gewesen wäre.62 Max weigerte sich aber, durch einen offiziellen Schritt der Regierung den Monarchen in eine Zwangslage zu bringen oder selbst bei diesem vorstellig zu werden, um direkt Druck auszuüben. "Der Prinz betonte immer wieder, er fühle die Verpflichtung, dem Kaiser objektiv über die Lage zu berichten; aber einen Druck könne und wolle er nicht ausüben."63 Seiner informatorischen Politik lag also der Gedanke zugrunde, daß die freie Entscheidung des Kaisers gewahrt bleiben müsse. Das Volk werde eine solche Abdankung als große Geste und Opfer zu schätzen wissen und sich dann fest im Widerstand gegen "unannehmbare" Waffenstillstandsbedingungen zusammenschließen.64 Diese Haltung verdeckt nur unvollkommen, daß in der Situation von Ende Oktober, wo allgemein über die Abdankung diskutiert wurde, ein solcher Schritt nicht mehr als freiwillig anerkannt worden wäre. Im Rahmen dieser seiner Idee versäumte Max es aber, sein Ansehen als Reichskanzler, Verwandter und Bundesfürst unmittelbar einzusetzen. Nur langsam reifte die Erkenntnis im Prinzen, daß er selbst zum Kaiser gehen müsse. Als er es tun will, ist es zu spät. Der Monarch reiste in sein Hauptquartier nach Spa ab, wobei der Reichskanzler nicht die letzte Konsequenz anwandte, um ihn zurückzuhalten.65 Dennoch hält Max an seiner gescheiterten Informationspolitik fest. Auch das Kabinett blieb in dieser Frage seltsam unentschlossen. Der neue Generalquartiermeister Groener hatte am 5. und 6. 11. im Namen der OHL vor dem Gesamtkabinett und vor Vertretern der SPD emeut jeden Gedanken an einen Thronverzicht des Kaisers abgelehnt. Da trotz der kritischen Lage weder der Kanzler noch das Kabinett eine Initiative ergriffen, führte schließlich in der Regierung niemand in dieser wichtigen Frage. Diese Aufgabe übernahm dann die SPD als Partei bzw. Scheidemann und Ebert. Sie stellte am 7. 11. das Ultimatum, dessen dritter Punkt aus der Forderung nach der Abdankung des Monarchen. Max reagierte mit einem Entlassungsgesuch an den Kaiser. Die Frist für das Ultimatum wurde schließlich noch einmal verlängert, der Prinz amtierte zunächst weiter.66 Gerade die Reaktion auf die sozialdemokratische Forderung nach Abdankung des Monarchen und das Kompromißangebot Scheidemanns, weder der Prinz noch die SPD sollten jetzt die äußersten Konsequenzen ziehen, kennzeichnet noch einmal gut die Geistesauffassung des Prinzen. Statt nun mit entschiedenem Einsatz den Versuch zu machen, die Monarchie dadurch zu retten, daß er Wilhelm mit allen Mitteln zur Abdankung drängte, wobei er das Ultimatum der SPD zur Unterstützung seiner Position hätte heranziehen können, zog er sich auf den alten Standpunkt zurück, daß die Thronentsagung "ohne Zwang" erfolgen müsse. Ein letztes Festhalten an der Freiwilligkeitstheorie ist das Zerteilen des Telegramms zur Lage, das er nach Spa sandte. Der Schilderung der schwierigen inneren Situation angesichts der Schlüsselrolle der SPD in dieser Frage, 62
) ) ) 65 > 66 ) 63 64
Zu den Ereignissen siehe Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), Dritter Teil, Kapitel 8-10. Kleine Erwerbungen 371-1 (=NL Roedern Bd 1), S. 369. Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 495, 502, 505, 520, 525 f. Vgl. Ebd., S. 498. Ebd., S. 572 ff.; Regierung (Anm. 14), S. 531 ff., 559 ff., 574 ff., 581.
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am 7. 11. abends, wird die deutliche Aufforderung zur Abdankung erst am 8. 11. morgens hinterhertelefoniert. Erst abends ließ Max dann den Kaiser selber ans Telefon bitten, um ihn zum Thronverzicht zu drängen.67 Der Schlüssel zum Verhalten des Prinzen in der Kaiserfrage ist in seinem durch Herkunft und Umgebung geprägten Gewissen und Überzeugungen zu finden. Dabei sah er sich durch seine verwandtschaftliche und seine Stellung als Bundesfürst in einem besonderen Treueverhältnis zum Kaiser. Gerade diese Beziehung verbiete es ihm, so glaubte er, dem Monarchen die Wahrheit zu deutlich zu sagen. 68 Genau aber das Gegenteil wurde von ihm erwartet. Viele glaubten, daß er eben wegen seiner Verwandtschaft mit dem Herrscher das Notwendige im Emstfall leichter tun könne. Max sah wahrscheinlich seit der Abreise des Kaisers aus Berlin die Notwendigkeit der Abdankung auch rational. Er hat jedoch das Dickicht von Treueverhältnis zwischen Bundesfürst und Kaiser, verwandtschaftlicher Stellung, Respekt vor dem Träger der Monarchie und Anhänglichkeit an die Dynastie nicht zerreißen können, so daß er die Notwendigkeit eines aktiven, den Rahmen der Standeskonventionen sprengenden Vorgehens nicht erkannte.69 Und so resümierte Graf Roedern anderthalb Jahre später: "Man mag es atavistische Empfindungen nennen, aber das Offiziers- und Beamtengefühl ließen beim Prinzen und mir die Idee gar nicht entstehen, historische Notwendigkeit könne ihn, den Fürsten und General und mich, den preußischen Staatsminister, j e dazu bringen, positive Schritte zu einem Thronverzicht des Kaisers und Königs zu tun.70 Ja, auch aus Dokumenten zu seiner Aktivität in Salem nach seiner Zeit als Reichskanzler und in seinen Memoiren selbst, wird deutlich, wie dieses Problem den Prinzen weiter beschäftigte. 71
III. Abschließende Wertung In einer abschließenden Betrachtung wird noch einmal der Frage nachgegangen, warum der Prinz die angestrebte Politik nicht hat verwirklichen können. Max war sicher intelligent. Schließlich hatte er schon vor seiner Kanzlerschaft eine für seinen Stand außergewöhnliche Einsicht in die Notwendigkeit von Änderungen am politischen System des Reiches besessen. Sicher verfügte er auch über den notwendigen guten Willen zur Erfüllung der Aufgabe. Das allein genügte in der konkreten Situation jedoch nicht. Ein maßgebender Regierungschef, der tatkräftig ein bestimmtes Ziel vorgab, Lösungsmöglichkeiten für Probleme aufzeigte und andere für die Bewältigung der gestellten Aufgabe zu motivieren verstand, war der Prinz nicht. Vielmehr scheiterte er, wie dargestellt, mit seinem zu geringen Durchsetzungsvermögen mehrmals damit, seine Auffassungen durchzubringen. 67)
Vgl. Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 579, 582 und 588 ff. Vgl. Ebd., S. 507. 6 9 ) Zwar führt Max (Erinnerungen S. 482 f.) gegen den Vorwurf von Max Weber, er habe in dynastischer Sentimentalität befangen, die Lage nicht richtig erkannt, eine Reihe politischer und praktischer Argumente an, die für sich genommen doch alle nicht überzeugen können. 7 0 ) Kleine Erwerbungen 371-1 (=NL Roedem Bd. 1), S. 369. 7 1 ) Hinweise dazu in: NL Schwertfeger 550. 68)
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In die so entstandenen Lücken traten verschiedene Institutionen, ζ. B. das Kabinett bei der Antwort auf die zweite und dritte Wilson-Note, der Interfraktionelle Ausschuß bei der Briefaffäre oder im letzten Stadium der Verfassungsreform, die SPD als Partei in der Kaiserfrage und dem Problem der Eindämmung der Revolution. Allerdings wäre es auch falsch, Max jeden Krafteinsatz abzusprechen. So versuchte der designierte Reichskanzler alles nur Mögliche, um die Absendung der Waffenstillstandsbitte zu verhindern. Mit Hilfe des Drucks der Parteien erreichte er die Abberufung v. Steins und v. Bergs, eines persönlichen Freundes Wilhelms, und auch die Freilassung Liebknechts drückte er mit seinem Kabinett gegen den Widerstand der Militärbehörden durch. Auf sein Eintreten hin revidierte der Kaiser seine Entscheidung zum U-Boot-Krieg, obwohl er unter dem Druck der Admirale und der OHL schon anders beschlossen hatte. Ohne Hilfe des Kabinetts brachte er den Monarchen dazu, den General Ludendorff zu entlassen.72 Jedesmal erkannte er dabei das politisch Richtige und setzte es auch durch. Litt Prinz Max auch unter Entscheidungsschwäche, so besaß er doch auch Zähigkeit. Er hielt am einmal gewählten Weg lange fest, wie ζ. B. beim Kampf gegen die Absendung der Waffenstillstandsbitte. Seine informatorische Politik gegenüber dem Monarchen, stellte sie auch nicht den richtigen Weg dar, hielt er fast bis zum Ende durch. Max hat die Zusammenhänge und die daraus zu ziehenden Folgen nicht immer klar erkannt. Männer, die die politischen Notwendigkeiten klar sahen, fehlten leider in seinem Bekanntenkreis. Max war sich seines Mangels an politischer Erfahrung bewußt, aber er glaubte, sich auf Bundesgenossen, seine Berater und sein Kabinett, verlassen zu können. Diese erfüllten die in sie gesetzten Hoffnungen jedoch nicht, zum Teil fielen sie sogar völlig aus, wie Solf, mit dem es über die einzunehmende Haltung gegenüber Wilson zum Bruch kam oder Haeften, der sich ganz auf die Seite Ludendorffs schlug. Die Mitarbeiter, welche die Vorstellungen des Prinzen teilten, waren entweder nur Mittelmaß - wie Haußmann als Staatssekretär - oder wurden von Kabinett und Bürokratie nicht akzeptiert - wie Hahn. Allein das Vorhandensein dieser Berater aber schuf bei vielen Verantwortlichen schon Mißtrauen.73 Im Kabinett fand Max ebenfalls keine Unterstützung. War die Regierung schon nicht in der von ihm gewünschten Weise gebildet worden, so wird bei der konkreten Arbeit die fehlende Homogenität sichtbar. In endlosen Aussprachen und Diskussionen über alle Fragen, auch solche von minderer Bedeutung, hinderte sich das Kabinett selbst und blockierte den Willen des Reichskanzlers. Es kam nie zu einer grundsätzlichen Entscheidung, welche Politik nun einzuschlagen sei. Dies wird besonders bei den Beratungen zu den deutschen Antworten an Wilson sichtbar. Konnte in bezug auf die Note vom 8. 10. nach dem Gutachten der OHL, das Ludendorff in der Kabinettssitzung vom 9. 10. gegeben hatte, nichts anderes in Frage kommen, als auf die Forderungen des amerikanischen Präsidenten einzugehen, so führten die Beratungen über die Antworten auf die weiteren Noten zu heftigen Auseinandersetzungen. Es 72 73
) Die Ereignisse sind geschildert in: Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 440,449, 469 f. ) Vgl. G. Mann: Einleitung zu Prinz Max (Anm. 1), S. 45 f.
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zeigt sich dabei, daß das Kabinett in dieser Frage grundsätzlich gespalten war. Während der Kanzler, Kriegsminister Scheüch, Haußmann, Payer und der Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums Friedberg immer wieder für eine festere Haltung einzutreten versuchten, nahmen Solf, Erzberger und Scheidemann die Gegenposition ein. Solf hatte die Niederlage viel klarer akzeptiert als der Prinz und wählte daher den Weg des Entgegenkommens. Wie zum Ausgleich dazu war sein Vertrauen an die Ehrlichkeit Wilsons gewachsen. Dem Präsidenten dürfe kein Anlaß zu Zweifeln an der vollen Annahme seines Programms durch die deutsche Regierung kommen. Solf meinte später dazu: "Ich habe in der That an Wilson geglaubt". 74 Zunächst Scheidemann, dann aber auch Erzberger, hatten die Illusionen über eine etwaige Fortsetzung des Kampfes aufgegeben. Da beide Politiker der Überzeugung waren, daß Deutschland keinerlei Machtmittel mehr in die Waagschale werfen könne, hatten sie nur noch eine Sorge: daß der Präsident "abspringe" und das Reich dann vollständig kapitulieren müsse. 75 Diese entscheidende Einflußnahme des Kabinetts auf die Führung der Politik war auch nur deshalb möglich, weil der Reichskanzler sich von Anfang an in einer wesentlich anderen Stellung befand als in der Verfassung vorgesehen. Rechtlich war zwar dieser immer noch der einzige Minister des Reiches und die Staatssekretäre waren seine Beamten. Durch die neue Machtverteilung erfolgte aber de facto eine kollegiale Beschlußfassung im engeren Kabinettsrat. Dem Kabinett gehörten schließlich sechs Abgeordnete als Staatssekretäre an. Gustav Bauer und Karl Trimborn paßten sich gut in die bürokratischen Gegebenheiten des Verwaltungsapparats ein. Als Ressortchefs des Reichsarbeitsamtes bzw. des Reichsamtes des Innern hatten sie ja auch zahlreiche Aufgaben wahrzunehmen. Anders war die Lage bei den Staatssekretären ohne Geschäftsbereich. Weit weniger mit konkreten Pflichten belastet fanden besonders zwei Politiker in einem weiten Maße Kraft und Zeit zum "Regieren": Erzberger und Scheidemann. 76 Sie verstanden sich als gesamtpolitische Berater, als eine "Art Oberstaatssekretär". 77 Als Folge davon ergaben sich Auseinandersetzungen mit ihren Kollegen und der Bürokratie. Eine zusätzliche Schwierigkeit für die Arbeit der Regierung ergab sich daraus, daß die sogenannte "Lateristen"78 bei Meinungsverschiedenheiten immer ihre große Partei hinter sich hatten. War ihre Teilnahme schon wegen des Bekanntheitsgrades, den sie im Volk besaßen, und der Rolle, die sie in ihren Fraktionen spielten, auf Grund der angestrebten Parlamentarisierung und der Volksnähe der Regierung auch unabdingbar, so hatten sie doch auf die Wünsche der Fraktionen 74 ) Solf an Jagow (Tokio, d. 23. 7. 1921). In: NL Solf 114. Ausführlich legt Solf seine Position im Gespräch vom 28. 8. 1926 in Tokio (Anm. 10) dar. In: NL Solf 75. 75 > Vgl. Regierung (Anm. 14), S. 273, 370 f., 373 ff.; Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 469. 76 ) Vgl. Regierung (Anm. 14), S. XXX. 77 ) Vgl. NL Payer 34, Notizen zum 3. 10. 18. Max bezeichnete die Schaffung von Staatssekretären ohne Portefeuille nachträglich als Konstruktionsfehler seiner Regierung. In: Max v. Baden: Erinnerungen (Anm. 3), S. 353. 78 ) "Lateristen" von "Staatssekretären a latere". In: NL Solf 156, Tagebuch v. Frau Solf-Dotti, Eintrag zum 6. 11. 1918
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stets Rücksicht zu nehmen und haben mit ihnen in ständiger Fühlung gestanden. Besonders Scheidemann berief sich öfters darauf, daß er erst seine Fraktion befragen müsse.79 So hing der Prinz von Anfang an nicht nur von seinem Kabinett, sondern auch von den Fraktionsbeschlüssen der beiden großen Parteien mit ab. Diese aber standen zusehends unter dem Eindruck der Stimmung in der Bevölkerung, deren Hauptziel die Beendigung des Krieges um fast jeden Preis war. Hier mußte besonders die SPD auf die ihr traditionell verbundenen Arbeiterschichten Rücksicht nehmen und auch davor auf der Hut sein, die Führung der Massen nicht an die in ihren Forderungen radikalere Konkurrenz von links zu verlieren. Wie dieser Tatbestand Einfluß auf die Regierung nahm zeigt besonders deutlich der Beschluß der SPD-Fraktion über das Ultimatum in der Kaiserfrage. Die notwendigen Erfahrungen im Umgang mit Massenparteien und die Kenntnis der sie beherrschenden Mechanismen fehlten dem Prinzen und seinen Beratern. Und obwohl sie sonst im Hinblick auf das feindliche Ausland so oft auf die Wichtigkeit der Beeinflussung der öffentlichen Meinung hinwiesen, von der Anwendung dieser psychologischen Methode im Inland hatten sie wenig Ahnung. Wenn die Regierung auch, um ihre Position gegenüber der Entente nicht zu schwächen, ihre Bemühungen um den Frieden nicht zu stark betonen durfte, so wäre angesichts der kriegsmüden Massen eines aber nötig gewesen: Sie hätte dem Volk deuüich machen müssen, daß innenpolitisch große Veränderungen stattgefunden hatten bzw. stattfanden, daß die alte Zeit überwunden war. Zu wenig Spektakuläres, Handgreifliches hatte sich für die Menschen getan, die Bedeutung der verfassungsrechtlichen Wandlung war ihnen nicht klar. Das deutlichste Zeichen, das die Volksregierung hätte setzen können, wären rechtzeitige Maßnahmen zur Abdankung des Kaisers gewesen. Bemerkenswert bleibt auch, daß der Prinz in seinem Buch kein Wort des Verständnisses für die massenpsychologischen Wirkungen findet, die zu dieser Zeit auf die SPD einwirkten. Es war schließlich nicht der Wille der Parteiführung, sondern die Rücksicht auf die Massen, die ihr Handeln bestimmte. Zuletzt muß noch daraufhin gewiesen werden, daß eine weitere Belastung der Regierungsarbeit darin bestand, daß der Prinz auch gesundheitlich den Anforderungen seines Amtes nicht gewachsen war. Am 1.11. fiel er wegen allgemeiner Erschöpfung sogar in einen 36stündigen Dauerschlaf.80 So kann man zum Abschluß feststellen: Prinz Max konnte die Wende nicht symbolisieren. Er hat das Beste gewollt, er hat seinem Naturell entsprechend vielleicht das Mögliche getan, aber die Rolle eines tatkräftigen Politikers, wie man ihn im Herbst 1918 brauchte, konnte er nicht übernehmen. Die Vorstellungen des Prinzen auf innen- und außenpolitischem Gebiet konnten nicht verwirklicht werden. Dies lag in besonderem Maße an den Umständen, die Liquidation eines verlorenen Krieges mit sich brachten. Es ist aber auch zu berücksichtigen, daß Max und seine Berater den harten Anforderungen des Geschäfts Politik nicht gewachsen waren.
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) Payer führte in der Kabinettssitzung vom 26. 10. 1918 aus: "Wir sind nicht bloß Vollzugsausschuß der Parteien, wir haben selbst die Verantwortung zu tragen." In: Regierung (Aran. 14), S. 376. 80 ) Vgl. Regierung (Anm. 14), S. 475.
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Es erwies sich, daß gute Absichten in Verbindung mit politischer Propaganda und praktisches Handeln zweierlei sind.81 Dennoch kann man die Arbeit der Regierung des Prinzen Max nicht als völlig gescheitert betrachten. Innerhalb von fünf Wochen führte sie Deutschland aus einem mehr als vierjährigen Krieg, unter den besten Bedingungen, die wohl nach der Bitte um Waffenstillstand noch möglich waren. Sie veranlaßte demokratische Reformen, für deren Verwirklichung die Parteien sich lange eingesetzt hatten und die auch ohne die Novemberrevolution eine demokratische Entwicklung Deutschlands ermöglicht hätten. Womöglich hätte Max früher, nicht in politisch so turbulenten Umbruchszeiten berufen, einen wertvollen Beitrag zur Erneuerung des politischen Systems im Reich und zur Anbahnung eines Verständigungsfriedens leisten können. So jedoch schweben über den Bemühungen des Prinzen die Begriffe "zu spät" und "vergeblich".
*') Vgl L Haupts: Deutsche Friedenspolitik 1918-19. Eine Alternative zur Machtpolitik des Ersten Weltkrieges? Düsseldorf 1976, S. 200.
BERLIN - ZWISCHEN METROPOLE UND KLEINSTÄDTISCHEN MILIEUS von Gerhard Brunn "Fremden, die nur zu flüchtigen Besuchen in Berlin weilen, denen wenig mehr als die Glanzpunkte des touristischen Berlin-Programms gezeigt werden, wird die Weltstadt als Einheit erscheinen.", so heißt es in einer Publikation aus dem Jahre 1930.1 Berlin als Einheit, als Regierungs-, Geschäfts-, Kultur- und Vergnügungsmetropole, lokalisiert in fest umrissenen Bereichen der historischen Innenstadt und des neuen Westens, so sahen es nicht nur die 'Fremden' in den zwanziger Jahren, sondern so kehrt es auch in vielen Darstellungen ("Seh n Sie, das war Berlin!") der Nachkriegsjahre wieder. Das Berlin der späten Kaiserzeit und der zwanziger Jahre bedeutete und bedeutet traditionelles preußisches Macht- und Kulturzentrum mit Schloß, Prachtstraße 'Unter den Linden' und Museumsinsel, Regierungsviertel Wilhelmstraße, Einkaufszentrum am Leipziger- und Potsdamer Platz, Leuchtreklamen-glitzemde Vergnügungsmeile Kurfürstendamm, der Ort, an dem das metropolitane Leben in Theatern, Kinopalästen, Nachtlokalen strahlend und verrückt in seiner reinsten Form genossen werden konnte. Dieses metropolitane Berlin wird heute im Rückblick nostalgisch verklärt war aber in den zwanziger Jahren ein Hauptbestandteil jenes Bündels negativer Klischees, die dazu dienten, Berlin als eine undeutsche, vergnügungsbesessene, moralisch verkommene, parasitäre Stadt zu verteufeln. Diesem Negativbild versuchten die Verteidiger Berlins ein Positivbild des eigentlichen, des 'wahren' Berlins entgegenzusetzen. Sie griffen dazu in erster Linie auf den Mythos der Arbeit zurück. Kein anderes Motiv erscheint in einem kleinen Büchlein zur Berliner Imagewerbung aus dem Jahre 1924 so häufig, wie das der Arbeit. Unzählig sind die Metaphern, reichen von der "Symphonie der Arbeit", über den "schaffenden Riesenleib" bis hin zu der Charakteristik Else Lasker Schülers von Berlin als "kreisende[r] Weltfabrik". 2 "Kathedralen der Arbeit" nannte man die großen Fabrikbauten Peter Behrens'. Sie galten als Symbole des 'wirklichen' Berlins. 3 Die Arbeit als produktive Kraft, die ständig etwas Neues schafft, in Kombination mit einer anderen als charakteristisch angesehen Eigenschaft, dem Tempo, wurde als der zentrale Berliner identitätsstiftende Faktor angese1
) E R. Uderstadt: Berlin ... wie es nur wenige kennen. Berlin 1930, S. 92. ) Berlin unter dem Scheinwerfer. Hg. v. I. Landau. Berlin 1924, S. 115, 116, 90. ') Dazu K. Schwarz. In: Die Zukunft der Metropolen. Paris-London-New York-Berlin. Ein Beitrag der Technischen Universität Berlin zur Internationalen Bauausstellung Berlin. Berichtsjahr 1984. Bd. 3: Utopischer Ort Berlin. Eine historische Topographie. Berlin 1984. Vgl. auch die Reportage von F. Hessel: "Etwas von der Arbeit". In: Ders.: Ein Flaneur in Berlin. Berlin 1984 (Neuausgabe von "Spazieren in Berlin". Berlin 1929). 2
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hen. Damit ließ sich ein anderer Berliner Mythos ins Positive wenden, der Mythos der jeder Tradition abholden Kolonialstadt: der Kolonialstadt die nie zur Ruhe kommen könne, nie der Vergangenheit, sondern immer nur der jeweiligen Moderne und der Zukunft zugewandt sei, dazu bestimmt, nie zu sein, sondern immer nur zu werden. 4 In der den Lebensrhythmus bestimmenden Arbeit, ihrer "Heiligung" sahen die intellektuellen Interpreten des Berliner Wesens in den zwanziger Jahren den Kern der Berliner Identität und die Berliner Kulturmission: "In London handelt man, in Paris amüsiert man sich, in Wien lächelt man, in Budapest strahlt man, in Rom glänzt man, aber in Berlin arbeitet man", so brachte einer der vielen Schreiber die Vorstellung auf den Punkt, daß Berlin in erster Linie Industrie- und Handelsstadt sei, die "industrielle Herzkammer" Deutschlands, eines der "großen Arbeitszentren" Europas. 5 Berlin war beides, Politik-, Kultur- und Amüsierhauptstadt Deutschlands und zugleich neben Paris die größte Industrie- und Handelsstadt des Kontinents, mit 1925 über 250.000 gewerblichen Niederlassungen und allein in Eisen- und Metallindustrie 200.000 beschäftigten Menschen. 6 Gab das zusammen eine Einheit, oder existierten die beiden Berlins unverbunden nebeneinander? Nach vielen Äußerungen scheint eher das letztere der Fall gewesen zu sein. Der Philosoph Ludwig Marcuse schreibt von seiner Kindheit in Berlin: "Nicht real war auch der Arbeiter im Zentrum und Norden der Stadt. Wir lebten eine halbe Eisenbahn-Stunde vom Alexanderplatz und der Fabrik meines Vaters entfernt - das heißt: einige Millionen Meilen. Ich kannte nur Bürger, Gouvernanten und Dienstmädchen. Sie waren real. Real waren: Häuser ohne Felder, Verwandte ohne Zahl t...]."7 Hans Mayer ging es in seiner Studentenzeit in Berlin nicht anders. Er schreibt von seinem völlig verzerrten Berlin-Bild und seiner eindimensionalen Berlin-Geographie, die lediglich vom Grunewald bis zum Berliner Schloß gereicht habe. 8
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) Der Mythos Kolonialstadt hat Generationen von Feuilletonisten bewegt. Plastisch gefaßt hat ihn erstmals K. Scheffler: Berlin, ein Stadtschicksal. Berlin 1910. Vgl. dazu auch K. Schwarz: Utopischer Ort (Anm. 3), S. 59 ff. 5 ) Berlin unter dem Scheinwerfer (Anm. 2), S. 35, 117. 6 ) Berlins wirtschaftliche Verflechtung, Mitteilungen des Statistischen Amtes der Stadt Berlin Nr. 8, August 1928, S. 24, 32. 7 ) L Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie. München 1960, S. 32. Zu diesem Thema auch T. Koebner: Das jüdische Bürgertum und das literarische Berlin. Ein Versuch. In: G. Brunn und J. Reulecke (Hg.): Berlin ... Blicke auf die deutsche Metropole. Essen 1989, S. 136 ff. 8 ) H. Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I. Frankfurt/M. 1982, S. 74.
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Bei näherem Hinsehen löst sich die Berliner Einheit noch über die Zweiheit hinaus in eine Vielheit auf. Berlin, so charakterisierten es die zeitgenössischen Bewohner war "zerteilt". Es war ein Archipel sozial gestufter Städte, real wie im Bewußtsein ihrer Bewohner, ein Konglomerat vieler "Kleinstädte". "Und jedes Berlin ist weltfern und verschieden dem anderen", schrieb Georg Hermann 1910. "9 Auf dem Gebiet von Groß-Berlin gab es dörfliche und Villensiedlungen, ehemals selbständige Städte mit mehreren hunderttausend Einwohnern (Charlottenburg oder Schöneberg) und die Bezirke des wilhelminischen Wohnringes, der sich um die traditionelle Residenzstadt lagerte. Schon 1910 schrieb Eduard Bernstein: "Da wohnt, [...] der Besitzer irgendeines großen gewerblichen Unternehmens der Hauptstadt in einer Villa im Grunewald, sein Hauptgeschäftsführer in einer Etagenwohnung am Kurfürstendamm in Charlottenburg, andere gut bezahlte Angestellte in Schöneberg, Wilmersdorf oder einer der besseren Wohnstraßen Berlins. Das mittlere Beamtenpersonal verteilt sich in bescheideneren Wohnungen ähnlich, ist aber je nachdem auch in den nördlich, östlich oder südöstlich gelegenen Vororten zu finden, und dort haben wir, je nach der örtlichen Lage der Geschäftsräume des Unternehmens dessen Arbeiterpersonal samt den schlechter bezahlten Angestellten zu suchen. Am Tage sind mit wenigen Ausnahmen alle die Bezeichneten in verschiedener Intensität und Dauer in Berlin im Unternehmen selbst beschäftigt."10 War Berlin demnach lediglich eine Stadt von Städten wie das Ruhrgebiet? Ganz gewiß nicht in dem Maße. Denn anders als das Ruhrgebiet war Berlin hierarchisch strukturiert, besaß ein Hauptzentrum und wurde zentral verwaltet wenn auch die Bezirke daneben eine weitgehende administrative Eigen Verantwortung besaßen. Berlin bildete also eine funktionale Einheit. Aber korrespondierte dieser funktionalen Einheit ein gemeinsames Bewußtsein von der Stadt? Gab es eine Gesamtberliner Identität oder nur Teilidentitäten? Konnten die Arbeitermassen angesichts ihrer Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen überhaupt eine positive Beziehung zu ihrem Aufenthaltsort gewinnen? Der Nationalökonom Sombart hielt dies 1906 für unmöglich. "Der Proletarier hat keine Heimat. Oder soll er sich "heimisch" fühlen in den öden Vorortstraßen, vier Treppen hoch, im Hof? Oder in der rauchigen, stickigen Industriestadt, in die ihn der Kapitalismus mit einem ganzen Haufen seinesgleichen wahllos zusammengepfercht hat; [...] zusammengeworfen hat, wie einen Haufen Chausseesteine. Ist eine "Stube", in der eine ganze Familie, Wand an Wand mit hunderten anderer Familien haust, eine Heimat? [...] Und selbst diesen Kubus, der kaum noch den Namen Wohnung verdient, dessen
G. Hermann: Kubinke. Gütersloh o. J. (1910), S. 6. F. Hessel: Ein Flaneur (Anm. 3) S. 192, 223. E. R. Uderstadl: Berlin (Anm.l), S. 92. 10 ) Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung. Ein Kapitel zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie Hg. v. E. Bernstein. Dritter Teil. Berlin 1910, S. 66.
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Enge und Öde und Fülle alle Gedanken an Wohnlichkeit, an Behaglichkeit, an Traulichkeit ausschließen [...], selbst diesen Kubus hat der Proletarier nie für längere Zeit inne [...] Der Proletarier hat kein Vaterland. Heimatlos, rastlos wird er auf der Erde herumgetrieben." 11 Der Mythos vom wurzellos umhergetriebenen, normativ ungebundenen Proletarier - er zeigt eine bezeichnende Nähe zu dem Mythos des ewigen Juden - war nicht nur eine Quelle ständiger, häufig unterschwelliger Beunruhigung des um seine Ordnung fürchtenden Bürgertums. Er steckte auch in den Köpfen der zeitgenössischen Berliner Historiker und Sozialwissenschaftler. Sie fragten sich, auf die überfüllten Arbeiterquartiere blickend, ob die Proletarier denn jemals im Wedding, in Neukölln oder Friedrichshain Wurzeln schlagen könnten, ob ihnen Berlin Heimat werden könne. 12 Einigen Aspekten dieser Frage soll im Folgenden skizzenhaft nachgegangen werden. Mit dem Begriff 'Heimat', um gleich mögliche Mißverständnisse auszuräumen, wird nicht jene "Heimat, süße Heimat" nach Blut und Boden riechende idyllische Mischung aus Heidekraut, ragenden Bergen und spitzgiebligen Fachwerkhäusern verstanden. Unter Heimat verstehe ich ganz nüchtern einen realen, symbolischen und emotionalen Lebens- und Bewußtseinsraum, ein soziales Milieu, in dem die Menschen sich selbst verorten, mit dem sie sich identifizieren, das ein Teil ihres Lebens ist. Gefragt werden soll nach solchen Milieus, nach der Ortsbezogenheit, Quartiersbezogenheit von Arbeitern, Arbeiterfrauen und Arbeiterkindern innerhalb der Stadt Berlin in ihren administrativen Grenzen von 1920 kurz vor dem Ersten Weltkrieg und in den Jahren der Weimarer Republik. Zu der Berliner Vielheit zwischen Grunewald und Berliner Schloß, zu den dazugehörigen Menschen, ihrer Berlin-Erfahrung und ihrem Berlin-Bewußtsein gibt es eine große Menge an Literatur, an Außen- und Innensichten. Die Vielheit der Berliner Lebensräume, in denen das Proletariat, das 'Volk von Berlin' wohnte, ist dagegen spärlicher dokumentiert. Zwar gibt es seit der Kaiserzeit eine ganze Anzahl von Darstellungen dieser Lebensräume, der sozialen Lage ihrer Bewohner und ihrer Wohn- und Arbeitsbedingungen. Aber diese liefern im wesentlichen nur Außensichten, konzentrieren sich auf die politisch organisierten Gruppen. In den zwanziger Jahren beschworen die bürgerlichen Apologeten des 'arbeitenden Berlin' die Arbeits- und Lebenswelten des 'wahren' Berlins', sie unternahmen auch sporadisch Ausflüge an die Orte, die man nicht ihrer selbst willen aufsuchte, 13 beschrieben sie, nahmen die 'humoristischen' Elendsidyllen Heinrich Zilles als Abbilder der Wirklichkeit, aber gewannen doch kein kon11 ) Zitiert nach G. Göckenjan: Heimat in Berlin? Gesundheitspolitische Strategien zwischen Selbstverantwortlichkeit und planmäßiger Fürsorge. In: G.-J. Glaessner u. a. (Hg ): Studien zur Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur in Berlin. Berlin 1989, S. 90. 12 ) Dazu H.H. Liang: Lower-Class Immigrants in Wilhelmine Berlin. In: Central European History 3 (1970), S. 111. 13 ) S. o. Anm. 9.
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kretes Verhältnis zu dem anderen Berlin, dem sie Interpretationen überstülpten.14 Die Fremdheit der Beobachter gegenüber der Welt der Arbeiter, die in den zwanziger Jahren als das "Volk von Berlin" idealisiert wurden, kommt kaum anderswo so deutlich zum Ausdruck wie in dem ständig wiederkehrenden Bild, von der zur Arbeit strömenden und von der Arbeit zurückflutenden Masse Mensch. Schon Julius Rodenberg schrieb im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts von der "Schar der Arbeiter, die sich in dichter Masse dem Wandernden entgegenwälzt. Tausende ziehen an uns vorüber, zumeist Männer, jeder mit einem Blechkesselchen in der Hand, viele von ihnen bleich, hager, leidend."15 Davon kaum unterschieden sind die Bilder der zwanziger Jahre: "Die Straßen in den Wohnvierteln sind schon um sechs, sieben Uhr voll von Menschen. Es ist noch ganz dunkel, aber diese Menschen haben keine Zeit mehr zum Schlafen; sie laufen alle, so rasch es nur geht, sie sprechen nicht einmal dabei, es ist eine merkwürdige stumme Hast und nur die Absätze klappern hart auf dem Pflaster. Hier ist das Volk von Berlin, das zur Arbeit stürzt, zwischen sechs und sieben Uhr die Arbeiter, zwischen sieben und acht Uhr die Angestellten.16 Wie also die große Zahl vor allem der politisch nichtorganisierten Bewohner ihr Leben, den Raum, in dem sie lebten, erfuhren und welche Beziehungen sie zu ihm entwickelten, ist noch zu erforschen. Für die Masse des unorganisierten Proletariats gilt auch heute, was 1932 eine Sozialpsychologin formulierte: Es ist "wie ein unerforschter Kontinent am Südpol zu betrachten, von dessen Existenz man allerdings weiß, dessen Grenzen und nähere Beschaffenheit selbst jedoch noch unbekannt sind."17 Die Unkenntnis der proletarischen Lebenswelt rührte nicht zuletzt von der Elendsperspektive unter der man diese Welt betrachtete bzw. unter die man die Darstellungen stellte. Das galt mit gegensätzlichen Intentionen für die bürgerliche ebenso wie die sozialdemokratische und, in den zwanziger Jahren, kommunistische Seite. Auf der einen Seite standen die Sozialreformer mit ihrer 'Kulturmission' gegenüber der 'unzivilisierten' Unterschicht, die man erziehen und für bürgerliche Lebensformen fähig machen wollte. Auf der anderen Seite ging es um den Beweis, daß die kapitalistische Welt "zum Teufel geschickt" werden müsse. 18 Aus der Argumentation beider Seiten läßt sich schließen, mit besonderer Klarheit aus dem Zitat von Sombart, daß die proletarischen Lebensumstände es unmöglich machten, eine ortsgebundene Identität zu entwickeln.
14 ) Zu den Außensichten vergleiche unter vielen anderen etwa E. Szatmari: Das Buch von Berlin. München 1927, S. 205 ff. F. Hessel: Ein Flaneur (Anm. 3), S. 218 ff. 15 ) J. Rodenberg: Der Norden Berlins. In: Der Berliner zweifelt immer. Seine Stadt in Feuilletons von damals. Vorgestellt von H. Knobloch. Berlin (O) 1977, S. 136. 16 ) E. Szatmari: Das Buch (Anm. 13), S. 206 f. 17 ) L Franzen-Hellersberg: Die jugendliche Arbeiterin. Ihre Lebensweise und Lebensform. Ein Versuch sozialpsychologischer Forschung zum Zweck der Umwertung proletarischer Tatbestände. Tübingen 1932, S. 14. 18 ) Hierzu D. Lehnen: Zwischen Hinterhof und Siedlungshaus. Streiflichter auf die Wohnverhällnisse Berliner Arbeiterfamilien. In: G.-J. Glaessner u. a.: Studien (Anm. 11), S. 65 f.
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Auch wenn die im folgenden benutzten Unterlagen zum Teil anekdotischen Charakter haben, sehr lückenhaft und zum Teil problematisch sind, nicht zuletzt, weil sie unter ganz anderem Blickwinkel erhoben wurden, so geben sie doch Hinweise darauf, daß sich in den Unterschichten regionale, auf den Lebensraum bezogene Identitäten ausbildeten, was die Ergebnisse vorliegender Studien zur Milieubildung stützt.19 Hier soll nicht eine sozialstatistische Untersuchung vorgenommen werden, sondern ich benutze vor allem einige sozialwissenschaftliche Untersuchungen der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre und Lebenserinnerungen. Die Untersuchungen behandeln Lebensverhältnisse und Bewußtseinslagen jugendlicher Arbeiterinnen und Arbeiter der Weimarer Republik. Da sich auch die Lebenserinnerungen auf Kinderund Jugendjahre in der späteren Kaiserzeit und der Weimarer Republik beziehen, gelten auch meine Ausführungen Raumerleben und Raumbewußtsein von Jugendlichen in dieser Zeit. Lebenserinnerungen sind, wie hinreichend bekannt ist, eine problematische Quelle. Im vorliegenden Zusammenhang aber besitzen sie einen besonderen Wert, weil in ihnen Urbilder erscheinen, aus denen sich die besondere Beziehung zum Lebensraum ablesen läßt. Wim Wenders, in dessen Filme Stadträume eine besondere Rolle spielen, hat es einmal folgendermaßen ausgedrückt: "Man hat so etwas wie ein Nest im Kopf und sitzt eine bestimmte Anzahl von Geschichten drin, nicht mehr und nicht weniger, und die kommen aus der Kindheit und ihren Träumen, da führt kein Weg herum, man kann nichts erfinden, was nicht in einem zuvor schon drinsteckte.20 Werner Sombart hat die Willkürlichkeit des Arbeits- und Wohnortes, extreme regionale Mobilität und die katastrophalen Wohnverhältnisse als Faktoren aufgeführt, die ein Heimischwerden, die Ausbildung einer raumorientierten Identität der Proletarier ausschlossen. Ich nehme die Aussagen von Werner Sombart als Startpunkt für meine auf Berlin bezogene Argumentation, die ich in mehreren Thesenblöcken zusammenfasse. 1. Willkürlichkeit des Wohnortes: Die Wahl Berlins als Arbeits- und Wohnort war im Gegensatz zu der Annahme Sombarts alles andere willkürlich. Die Zuwanderer kamen in ihrer überwiegenden Mehrzahl aus den ösdichen Provinzen Preußens. Zwischen diesen Provinzen und Berlin gab es ein sehr starkes Lohngefälle. Aus den Forschungen des Amerikaners Liang geht hervor, daß Berlin bei den arbeitssuchenden Menschen der östlichen Provinzen, den ") K. D. Keim: Milieu in der Stadt. Stuttgart 1979. ff. Fritzsche: Das Quartier als Lebensraum. In: W. Come und U. Engelhardt (Hg.): Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker. Stuttgart 1981, 92-113. /. Behnken u. a.: Stadtgeschichte als Kindheitsgeschichte. Soziale Lebensräume von Großstadtkindem in Deutschland und Holland um 1900 (= Biographie und Gesellschaft. Bd. 5). Opladen 1987. H. Rettenbach: Wohnräume im Quartier. Eine Untersuchung zweier Straßenzüge in Wiesbaden um 1900. Wiesbaden 1987. 20 ) W. Schütte: Zeit-Reisen. Aus einem Gespräch mit Wim Wenders über seinen neuen Film, das europäische Kino und Deutschland. In: Frankfurter Rundschau, 27. 1. 1990.
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Menschen, die ihre wirtschaftliche Situation verbessern wollten, den Ruf besaß, die höchsten Löhne in Deutschland zu zahlen und dennoch ein Ort zu sein, in dem man preiswert leben könne. Und aus seiner Untersuchung geht weiter hervor, was auch statistische Untersuchungen zeigen: Die Erwartungen stimmten mit der Realität überein. Aber nicht nur hohe Löhne und preiswertes Leben, sowie die Gewißheit schnell Arbeit zu finden, bewirkten die bewußte Entscheidung für Berlin. In einem der großen Industrie- oder Dienstleistungsbetriebe der Stadt Arbeit zu erhalten, galt als Ehre, brachte persönlichen Prestigegewinn. Und nicht zuletzt lockten die Annehmlichkeiten des Stadtlebens, die Freiheit von sozialer Kontrolle, die Vergnügungsmöglichkeiten, das Sitzen in den Biergärten, die Auslagen der Geschäfte. Die Menschen entschieden sich bewußt für Berlin und blieben bewußt in Berlin.21 2. Mobilität: Es ist falsch von den gewaltigen Wanderungsbewegungen auf die proletarische Großstadtbevölkerung als ein Nomadenvolk zu schließen. Zwar war auch in einigen Abschnitten der zwanziger Jahre, als die Mobilität ihren Höhepunkt längst überschritten hatte, die Zahl der Zu- und Fortziehenden noch gewaltig (1922 ζ. B. 618.000 zu 551.000), ebenso wie die innerstädtischen Umzugszahlen, trotz der Wohnraumbewirtschaftung. Stephan Bleek aber hat vor kurzem nachgewiesen, daß schon in der Periode der Hochindustrialisierung die hohen Mobilitätsziffern von einer relativ kleinen Zahl hochmobiler Personen verursacht wurden, und daß die Seßhaftigkeit der Großstadtbevölkerung viel höher war, als man mit Blick auf die zahlenmäßig so hohen Wanderungsbewegung bisher geschlossen hat. Im Jahre 1925 ζ. B. lebten 83% der Berliner Bevölkerung schon mehr als zehn Jahre in der Stadt. Bleek verweist auch darauf, daß die innerstädtische Mobilität Orts- und quartierbezogen war und die wachsende sozialräumliche Segregation, die Ausbildung unterschiedlicher sozialer Milieus und Erfahrungsbereiche keineswegs behinderte sondern verfestigte. Damit weist er systematisch das nach, worauf andere mehr am Rande hingewiesen haben, daß die Arbeiter zwar sehr häufig von einer Wohnung zur anderen zogen, aber dennoch vorzugsweise in demselben Stadtteil blieben. Man kann also von der frühen Ausprägung stabiler, von einer sozial, alters- und herkunftsmäßig homogenen Bevölkerung bestimmter "sozial-moralischer" Milieus ausgehen. 22 Die Milieus bestanden gewissermaßen aus ineinandergelagerten Kreisen. Den Kern bildete die Familienwohnung, dann folgte der um einen oder mehrere Höfe gelagerte Wohnblock. Daran schlossen sich die Wohnstraße und vielleicht einige weitere Straßen an, in denen sich alle jene Infrastrukturein21
)H.-H. Liang: Lower Class Immigrants (Anm. 11), S. 94-111. Κ. Borchardt: Regionale Wachstumsdifferenzienmg in Deutschland im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des West-Ost Gefälles. In: W. Abel u. a. (Hg ): Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge. Stuttgart 1966, S. 325-339. 22 ) S. Bleek: Mobilität und Seßhaftigkeit in deutschen Großstädten während der Urbanisierung. In: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), 5-33, hier S. 32. Ders.: Das Stadtviertel als Sozialraum. Innerstädtische Mobilität in München 1890-1933. In: W. Hardtwig u. K. Tenfelde (Hg ): Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850-1933. München 1990, S. 217-234. G. Dehn: Die alte Zeit, die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen. München 1962, S. 167. Zahlen nach Statistisches Taschenbuch der Stadt Berlin. 2. Ausgabe 1926. Berlin 1926 und Berlins wirtschaftliche Verflechtung (Anm. 6), S. 20.
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richtungen des privaten Dienstleistungsgewerbes befanden, die für die existentiellen Lebensbedürfnisse notwendig waren. Noch weiter außen lag die Haupteinkaufsstraße für Güter des weitergehenden Bedarfs, der Boulevard des kleinen Mannes bzw. der kleinen Frau. In dem äußersten Ring schließlich fanden sich die Orte, an denen man das Wochenende, den Sonntag verbringen konnte, Laubenkolonien und die freie Landschaft, das Grüne und die Seeufer. 3. Die Wohnung: Von den Wohnverhältnissen wurden während der Kaiserzeit und der Weimarer Republik Horrorgemälde entworfen. "Ehepaar mit sechs Gören im Kellerloch", so charakterisiert Detlef Lehnert das Klischeebild.23 Lehnert rückt, ohne die Verhältnisse zu verniedlichen, dies Klischeebild zurecht. In den zwanziger Jahren bestand die Wohnung der Arbeiterfamilie im Normalfall aus Küche und einem Zimmer. In gut der Hälfte der Fälle war eine solche Wohnung von einer vierköpfigen Familie belegt. Lediglich in 10% der Fälle wohnten mehr als eine vierköpfige Kleinfamilie auf diesem beengten Raum zusammen.24 Zwar belasteten die engen Wohnverhältnisse die Familien, aber es ist auffallend, mit welcher unsentimentalen Selbstverständlichkeit rückblickend diese Verhältnisse nüchtern, ohne anklägerische Töne referiert werden: "Da wohnten wir auch vier Treppen im Seitenflügel. Man kam in den Korridor, ein schöner langer Korridor, links die Toilette, dann kam die Küche, dann wieder Korridor und dann gings in die Stube rein. Naja, da standen die Ehebetten und hinten standen auch zwei Betten. Nebenbei gesagt, alles Außenwand, es war fürchterlich kalt. Aber früher waren die Küchen benutzbarer, in der Küche hat man gelebt, die Stube war ja tatsächlich nur zum Schlafen oder wenn wirklich mal Besuch kam. Ich entsinne mich, rechts in der Stube stand das Sofa, zwei Stühle, ob es früher Sessel gab, weiß ich nicht, aber jedenfalls ein Tisch und Stühle herum. Sonst spielte sich alles in der Küche ab. Da war es warm, sie wurde vollgeknallt mit Koks, es wurde gekocht und wir haben da alles gemacht. Ich glaube, alle Berliner Arbeiterfamilien haben in der Küche gelebt."25 Gewiß, nach unseren Vorstellungen vom menschenwürdigen Wohnen, wie denen vom traulichen Heim der bürgerlichen Normen der Zeit waren diese Wohnverhältnisse miserabel. Die Wohnungen waren eng, Luft- und lichtlos, erlaubten keine Intimität. Wanzen gab es überall in reicher Zahl. Die Bausubstanz war heruntergekommen. Dutzende von Mietparteien drängten sich in den 23
) D. Lehnert: Hinterhof (Anm. 18), S. 65. Zu der Geschichte des Wohnungsbaus und Wohnens in Berlin ist unbedingt zu konsultieren Johann F. Geist und Klaus Karvers: Das Berliner Mietshaus 1862-1945. Eine dokumentarische Geschichte von 'Meyer's Hof in der Ackerstraße 132-133, der Entstehung der Berliner Mietshausquartiere und der Reichshauptstadt zwischen Gründung und Untergang. München 1984. 24 ) D. Lehnert: Hinterhof (Anm. 18), S. 67. 25 ) G. RUcker: Mutter stand immer hinter mir. Meine Jugend zwischen den Kriegen. Berlin 1984, S. 6. Zu der Beschreibung eines Mietskasernenmilieus vgl. J. F. Geist: Berliner Mietshaus (Anm. 23), S. 530 ff.
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um Innenhöfe gruppierten Blocks auf engstem Raum. Lärm, der Dunst von Kohl, Kartoffelpuffern, Bratheringen und Aborten durchzog Treppenhäuser und Höfe.26 Häufige Streitereien waren die Regel. Von einem Zuhause entsprechend dem Sinnspruch "Trautes Heim, Glück allein" konnte also nicht die Rede sein. Es drängt sich der Schluß auf, daß die Wohnung in den Arbeiterquartieren nicht den identitätsstiftenden Kern innerhalb des sozialen räumlichen Umfeldes bildete. Sie bildete es offensichtlich doch für einen hohen Prozentsatz der Bewohner. Eine Untersuchung vom Ende der zwanziger Jahre kam zu dem Ergebnis, daß die große Mehrheit von 5000 befragten Jugendlichen trotz engster Wohnverhältnisse das Zuhause als den Mittelpunkt ihres Lebens ansahen, und sich ein gutes Fünftel dort sogar ausgesprochen wohl fühlte.27 Wenn schon die Außensicht auf die proletarischen Wohnverhältnisse nur partiell mit der Innensicht übereinstimmte, begeben wir uns nicht auch mit der Vorstellung vom trauten Heim als einer Notwendigkeit zur Ausbildung einer Identität innerhalb eines Lebensraumes - so wie es Sombart voraussetzte - auf den falschen Weg? Die Enge der Wohnungen drängte die Menschen in ganz starkem Maße nach draußen, auf die Straße, in die Kneipen, in das Grüne, und das brachte eine eigene Öffentlichkeit, eine eigene milieugebundene Urbanität und Sozialgemeinschaft mit sich.28 "Fast alle kannten sich [...], und es war alles richtig gemütlich", trotz der vielen Arbeit, erinnert sich eine Frau aus Kreuzberg.29 Die dunkle, kalte Wohnung habe ich zunächst nicht so empfunden, erinnert sich eine Frau. Vormittag war Schule, nachmittags ist man spielen gegangen, "war viel auf Achse". Dann als junges Mädchen ist man arbeiten gegangen, hatte seinen Freundes- und Bekanntenkreis. Erst nach der Heirat erlebte sie die Häuslichkeit in ihrer Bedrückung. "Der Alltag als Hausfrau war schrecklich, also nicht schön. Ich war mit dem Kind zu Haus, und er hatte seine Freiheit."30 4. Der Hof: Die Fenster der Wohnungen gingen auf den Hof. Hier spielten die Kinder, hier erschienen fliegende Händler und Leierkastenmänner, hier wurden Mieterfeste gefeiert, hier lag man sich im Fenster zum Schwatzen und Streiten gegenüber. Die Höfe waren nicht tot. Sie waren Orte intensiver Kommunikation.31
26
) W Nagel: Das darfst Du nicht! Erinnerungen. Halle-Leipzig 1981, S. 59. E. R. Schmidt: Meine Jugend in Groß-Berlin. Triumph und Elend der Arbeiterbewegung 1918-1933. Bremen 1988, S. 21 f.;V. Zimmermann: Wohnort, in Mitten in Berlin. Ein Lesebuch über das Stadtleben in Kreuzberg 1900-1950. Hg. ν. M. Haben. Berlin 1985, S. 58 ff. 27 ) R. Dinse: Das Freizeitleben der Großstadtjugend. 5000 Jungen und Mädchen berichten. Eberswalde-Berlin o. J. (1932), S. 12 ff. 28 ) Vgl. dazu M. Haben: Skizzen zum Berliner Süd-Osten. In: Ders. (Hg): Mitten in Berlin (Anm. 26). S. 10 ff. 29 ) G. Valentin: Lebensläufe. In: Ebd., S. 85. -,0) Ebd., S. 26. A. Jensen u. a. (Hg.): Kreuzberger Lesebuch. Ältere Kreuzberger erzählen aus ihrem Leben. Berlin o. J. (1982), S. 142. -") G. RUcker: Mutter (Anm. 24) S. 4. S. auch mit Fotos J. F. Geist: Berliner Mietshaus (Anm. 23), S. 403 ff.. 552.
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5. Die Wohn- und Einkaufsstraße: Die eigentliche Öffentlichkeit spielte sich auf der Straße bzw. in den Kneipen und Läden und um die Straßenhändler herum ab. Die Viertel waren autarke Welten für sich. Das Gewerbe, die Läden boten alles, was man zum Leben brauchte und waren gleichzeitig zentrale Kommunikationszentren.32 Tagsüber trafen sich Frauen und Kinder zum Einkauf und zu Gesprächen in und vor den Läden, ältere Frauen saßen auf Fußbänken an der Seite. Abends kamen die Männer heraus und trafen sich in ihren Stammkneipen, in denen auch regelmäßig die Sitzungen der zahlreichen Spar-, Gesang- oder Skatvereine wie der politischen Parteien stattfanden. Sie solle in die Kneipen gehen, sagte der Maler Otto Nagel zu seiner russischen Frau, "dort lernst Du die Menschen kennen, auf die es ankommt, erfährst ihre Sorgen und Nöte."33 Junge Leute standen vor den Hauseingängen oder gingen zu den anspruchsloseren Kinos, drückten sich ihre Liebespfade zum nicht allzu fern liegenden Park entlang. Männer und Jugendliche, viel stärker als die in den Haushalten bis zur totalen Erschöpfung schuftenden Frauen, konnten das genießen, was ein männlicher Bewohner des Weddings als Kontrast zur Gegenwart der 1980er Jahre erzählt: "Die ganze Atmosphäre, die Mentalität in der Bevölkerung war lockerer, es ging gelassener zu. Man ging auch mehr als einmal zu einer Molle ins Lokal."34 Tagsüber waren die Straßen ein großer Kinderspielplatz. Kindheitserinnerungen sind prall von Spielen auf den verkehrsarmen Straßen, dem Leben auf der Straße in einer Kinderschar.35 Die Männer berichten von Cliquen, die auf Abenteuersuche gingen, von rituellen Kämpfen der Straßenclique mit Cliquen aus anderen Straßen, aber auch von Ausflügen, mitunter weiten Wegen ins offene Gelände, zu unbebauten Grundstücken.36 Das Leben der meisten Menschen also war an 'ihre' Straße gebunden. Die Straße wurde ein Teil der Identität.37
32
) Siehe V. Augustin u. H. Berger: Einwanderung und Alltagskultur. Die Forster Straße in BerlinKreuzberg. Berlin 1984, S. 20 f. 33 ) W. Nagel: Das darfst Du nicht (Anm. 25), S. 79. Zu den Kneipen und der reichen Vereinslandschaft siehe u. a. auch G. Valentin: Lebensläufe (Anm. 26), S. 83 ff.; Heimatbuch vom Wedding. Hg. v. F. Gottwald. Berlin o. J. (1924), S. 178 ff. 34 ) Jetzt geht's rund durch den Wedding. Eine historische Stadtteilwanderung. Hg. von der Evangelischen Versöhnungsgemeinde und der Weddinger Geschichtswerkstatt. Berlin, S. 94. 35 ) G. Rücker: Mutter (Anm. 24) S. 5. 36 ) Siehe hierzu exemplarisch die Passage: "Die Straße gehört den Kindern". In: E. R. Schmidt: Meine Jugend in Groß-Berlin (Anm. 26), S. 34 ff. Dazu die Beispiele in Kreuzberger Lesebuch (Anm. 29), S. 113 ff. und Mitten in Berlin, (Anm. 28), S. 27 ff.; Auch: So lebten Ludwig Fritz Wegener, ein Berliner Kutschersohn, und Luise Lau, ein Landmädchen, bis zu ihrer Heirat Berlin 1903. Manuskript von F. Wegener. Berlin 1970, S. 4. J. F. Geist: Berliner Mietshaus (Anm. 23), S. 554 ff. 37 ) Siehe hierzu die Charakterisierung der Straße als 'Dorf. In: V. Augustin und H. Berger: Einwanderung (Anm. 35), S. 22 ff.
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6. Der Boulevard: Jedes Viertel hatte eine eigene zentrale Achse. Hier unternahm man Schaufensterbummel, flirtete, genoß städtische Straßenszenen. Äußerungen aus Befragungen von Jugendlichen in den zwanziger Jahren lauten: "In den Straßen ist es interessant, das Leben und Treiben mit anzusehen. Wir gehen meistens die Müllerstraße bis zur Invalidenstraße entlang. Dabei sehen wir uns die Schaufenster und Bilder in den Kinos an."38 Eine Schilderung aus den zwanziger Jahren von der zentralen Straße im Wedding, der "Armeleutestube" Berlins wie es einmal genannt wurde, machte den Eindruck, als befinde sich diese Straße irgendwo im südlichen Europa. "Wenn das Wetter nicht zu schlecht ist, entwickelt sich hier oben an der Müllerstraße, zwischen Leopoldplatz und Seestraße, jeden Abend ein richtig großer Bummel, der Korso des Weddings. Hier steigt die Jugend auf und ab, aber auch die Älteren, die in eines der großen Kinos gehen, machen kleinere Schritte. Man bedrängt sich gegenseitig, macht schnodderige Bemerkungen oder faule Witze, bleibt stehen und läßt sich weiterschieben. Die zahlreichen größeren Schuhgeschäfte, die in den letzten Jahren hier eine Ecke nach der anderen und einen Laden nach dem anderen für ihre Filialen gekapert haben, bieten Gelegenheit zum Anschauen, die vor allem von dem weiblichen Publikum ausgenutzt wird. [...] Durch einen Torweg kommt man zu den Pharussälen, in denen die verschiedenen Organisationen, vor allem der Arbeiterschaft ihre Versammlungen abhalten."39 Der Eindruck von ganz auf sich bezogenen Städten innerhalb der großen Stadt Berlin wird verstärkt, wenn man den weiteren Vergnügungen der Menschen nachgeht. Sport, aktiv und als Zuschauer miterlebt der Kinobesuch spielte die überragende Rolle bei Jugendlichen. Nur noch Tanzen besaß für die Mädchen und jungen Frauen eine ähnliche Attraktivität.40 Beides, wie auch der Besuch von Vergnügungsparks, der "Rummelplätze", fand im Wohnumfeld statt. Die Kinopaläste des Kurfürstendamm befanden sich offensichtlich für die überwiegende Mehrzahl in einer anderen Welt.41 Verblüffend ist es, zu hören, wie exakt nach 60 Jahren noch die Kinotopographie in den Köpfen verankert ist. Die Namen sind präsent, ihre Ausstattung, ihre genaue Lage. In ganz besonderem Maße sind Kinogebäude, solche, mit denen sich Erinnerun-
R Dinse: Das FreizeiUeben der Großstadtjugend (Anm. 27), S. 76 f. " ) Zitiert nach F. Ruck: Der Wedding in Wort und Bild, Berlin 1931. In: H. Joop: Berliner Straßen. Beispiel: Wedding. Berlin, S. 87. 40
) So lebten Ludwig Fritz Wegener (Anm. 36) S. 17 f. ) Hierzu vor allem sehr ausführlich: R. Dinse: Das Freizeitleben (Anm. 27). Daneben G Dehn: Proletarische Jugend. Lebensgestaltung und Gedankenwelt der großstädtischen Proletarieijugend. Berlin 1930, S. 41 ff. Auch M. Kelcher: Kummer und Trost jugendlicher Arbeiterinnen. Eine sozialpsychologische Untersuchung an Aufsätzen von Schülerinnen der Berufsschule. Leipzig 1929. L Franzen-Hellersberg: Arbeiterin (Anm. 17) S. 20 ff., 66. Das Familienleben in der Gegenwart. 182 Familienmonographien. Hg. v. A. Salomon u. a. Berlin 1930. A Funk: Film und Jugend. Eine Untersuchung über die psychischen Wirkungen des Films im Leben der Jugendlichen. München 1934. 1. Heinrich-Jost: Wer will noch mal? Wer hat noch nicht? Aus der Geschichte der Berliner Rummelplätze. Berlin o. J. (1985). 41
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gen verbinden, Meßpunkte zur Kartierung des Milieus. Sieben, acht oder neun Kinos gab es in "unserer Ecke", "hier um den Dreh." 42 7. Die Laube - das Grüne: Wenn von frei gewählten Erlebnisräumen gesprochen wird, so taucht so gut wie nie das Berliner Zentrum auf. Alles spielt sich im Wohnumfeld bzw. aus der Bebauung heraus in das Grüne hinein, ab. Für viele war das Leben in der Gartenlaube am Wochenende mit ihrem reichen Gemeinschaftsleben der Höhepunkt der Woche. 43 Ausflüge, nicht zuletzt in die Biergärten, an das Wasser werden in reicher Zahl erwähnt. 44 Sportliche Betätigung in der Gruppe besaß für die Jugendlichen eine außerordentliche Bedeutung. Fußball, Schwimmen, Radfahren, Wandern, alles drängte aus der Stadt heraus.
Kleinstadt in der Metropole - Eine doppelte Identität Ich breche hier mit den Beispielen ab. Hinreichend deutlich geworden ist, so hoffe ich, wie sehr sich das Leben der Bewohner der "öden Vorstadtstraßen", wie sie Sombart und nicht nur ihm vorkamen, in einem kleinstädtischen Milieu, getrennt von der großen Metropole, gewissermaßen in einer Form dörflicher Urbanität, abspielte. Lebensraum und Erlebnisachsen steckten als subjektive Landkarten in den Köpfen der Menschen. In ihnen bildete sich das Muster einer lokalen Identität ab. Die Lebensräume hatten die Form einer Hyperbel mit dem Schwerpunkt im engeren Wohnumfeld und einem weiten Ausgreifen aus der Stadt heraus, aber kaum in das Zentrum der Metropole hinein. Für die Bewohner, das tritt besonders aus den Kindheitserinnerungen hervor, war ihr Stadtraum weder trostlos noch öde. Er war ihr Zuhause. Als die Frau des Malers Otto Nagel nach ihrer Hochzeit aus Leningrad in den Wedding kam, erlebte sie einen Schock. Fürchterlich, trostlos, farblos, grau in grau kam ihr alles vor. Bald aber war sie integriert, wozu ihr besonders half, daß sie in das Milieu der KPD eingegliedert wurde. Wenn sie später zu Geselligkeiten mit ihrem Mann eingeladen wurde, so war ihr dies Berlin des Kunstbetriebs fremd, es war "irrsinnig weit weg", und so schreibt sie weiter, "da war plötzlich für mich der Wedding ein Zuhause." 45 So wenig Berlin als Metropole Teil eines solchen Zuhauses war, so wenig war es auch die industrielle Arbeitswelt. "Wer nie bei Mix und Genest war, Bei Schwarzkopf, AEG und Borsig, Der kennt des Lebens Tücke nicht. Der hat sie erst noch vor sich!" 42
) Kreuzberger Lesebuch (Amn. 29), S. 74, 139 f. ) Farbige Beschreibung von G. Valentin. In: Mitten in Berlin (Anm. 29), S. 22 ff. 44 ) Dieses ins Griine drängende Freizeitleben wurde schon vor 1914 von englischen Beobachtern mit großem Erstaunen kommentiert. Siehe Berlin und seine Arbeiter in englischer Beleuchtung. Ein vergleichender Bericht von Best, Davis und Perks aus Birmingham. Deutsch hg. v. W. Zimmermann. Mit einem Vorwort von Hans Delbrück. Berlin 1907, S. 29 ff. 45 ) W. Nagel: Das darfst Du nicht (Anm. 26), S. 62, 77. 43
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So lautete ein in Berlin verbreiteter Spruch, der, was die Zusammensetzung der Firmennamen betrifft, vielfach variiert wurde. Wenn in dem Spruch von "des Lebens Tücke" die Rede ist, so war das "einfach die Einsicht", so schreibt Walter Kiaulehn, "daß er [der Arbeiter] und seinesgleichen, die Mehrheit der vier Millionen Berliner also, ewig gezwungen sein würden, von der Hand in den Mund zu leben."46 Zwar gab es auch die Identifizierung mit der Arbeit. Jugendliche ζ. B. hatten eine klare Vorstellung von den Vorzügen und Nachteilen der Arbeit als Metallarbeiter, Maurer, Bäcker, Friseuse, Kontoristin, Verkäuferin. Aber die überwiegende Einstellung scheint doch gewesen zu sein: "Man muß arbeiten um des Verdienstes willen, und verdienen, um zu leben [...]". Und weiter: "Wenn nur der Hauptzweck, nämlich Geldverdienen erreicht ist, so wird mit Rücksicht auf diesen Zweck, ziemlich alles andere in Kauf genommen." 47 Nicht die Arbeitswelt an sich, nicht die rauschhafte 'Symphonie der Arbeit' der Feuilletonisten, wohl aber der unbedingte Zwang zum Arbeiten, nur um von der Hand in den Mund leben zu können, bestimmte die Lebensform in den Milieus. Die Menschen lebten intensiv in der Gegenwart, kosteten jeden Augenblick, der ihnen frei blieb, diesseitsgewandt aus. Insbesondere die Jüngeren verwendeten das wenige Geld, das ihnen nach der Abgabe des größten Teils ihres Verdienstes für den Konsum blieb, für schicke Kleidung, den Gang ins Kino, das Tanzvergnügen, den Ausflug ins Grüne. 48 Gab es aber nicht doch etwas, was all diese Milieus zusammenband, das "Berlinerische", eine Berliner Identität, den Typus des Berliners? Im Grunde seines Herzens fühle sich der Berliner als Bewohner einer der vielen Städte und Städtchen von Berlin, schreibt einer der vielen Stadtbiographen, draußen auf Reisen weise er sich aber unverkennbar als Berliner aus.49 Wenn die Menschen auch getrennt von der Metropole ihr Zuhause, ihre Heimat besaßen und das "andere Berlin irrsinnig weit weg" war, 50 so war ihnen doch die Berliner Welt außerhalb nicht unbekannt. Viele waren innerhalb der Stadtbezirke umgezogen. Auf der Fahrt zur Arbeit durchquerten sie zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln die Stadt. Die Schulen veranstalteten Fahrten in das Zentrum und vor allem zu Weihnachten lockten die großen Warenhäuser mit Ausstellungen.51 Anders etwa als im Ruhrgebiet, besaßen Lokalzeitungen keine Bedeutung. Praktisch nur auf ganz Berlin bezogene Zeitungen wurden gelesen. Es gab schließlich die Berliner Sprache, die Sprache des "Berliner Volkes", in der, am schärfsten ausgeprägt im Witz, Denkweisen, Einstellungen zum Leben, Verhaltensformen - etwas wie ein Berliner Geist zum Ausdruck kam, der eine hohe Assimilationskraft besaß. Die hohe ethnoplastische Fähigkeit der Stadt wird in allen Charakterisierungen hervorgehoben. Nichts sei ansteckender als das Pflaster dieser Stadt. "Wer erst Jahre hindurch über dieses Pflaster spaziert von Straßenbahnen dar46
) ) ) 49 ) 50 ) 51 ) 47 4S
W. Kiaulehn: Berlin. Schicksal einer Weltstadt. München-Berlin 1958, S. 133 f. L Franzen-Hellersberg: Arbeiterin (Anm. 17), S. 6 f., 33. Ebd., S. 8, 20, 24, 33 ff., 66. E. R. Ruderstadt: Berlin ( Anm. 1), S. 92. W. Nagel: Das darfst Du nicht (Anm. 26), S. 62. So lebten Ludwig Fritz Wegener (Anm. 36), S. 10. Mitten in Berlin (Anm. 26), S. 82.
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über hingeschüttelt worden ist, der weiß nichts mehr anderes als Berlin." "Vier Millionen Menschen haben neben manchen Eigenheiten der Herkunft von ihr und nur von ihr die Sprache, die Denkart, den Mutterwitz."52 Das Besondere Berlins hat man mehrfach mittels des Berliner Witzes versucht zu kennzeichnen. Die Befunde weisen alle in die gleiche Richtung. Wenn man sich natürlich auch fragen muß, inwieweit hier nur verfestigte Stereotype reproduziert werden. Der Berliner Witz bildet keine zu Herzen gehende Mischung. Auf der positiven Seite stehen nüchterner, auf die Gegenwart bezogener Realitätssinn, ein ausgeprägtes Arbeitsethos, Lebensenergie und -Tüchtigkeit, bewegliche Dynamik, wache Neugier. Auf der anderen Seite stehen Eigenschaften, die zum schlechten Ruf des Berliners geführt haben. Das sich Durchsetzenwollen um jeden Preis auf Kosten anderer, eine unduldsame Ellbogenmentalität, die Großmäuligkeit, eine die tiefsitzender Unsicherheit überspielende derbe Aggressivität, Arroganz und Zynismus, die "Schnoddrigkeit". Dies alles aber, und nur deshalb überhaupt für andere erträglich, ist gekoppelt mit einer rauhen Herzlichkeit, einer zupackenden Hilfsbereitschaft. Insgesamt gesehen, also wie Schöffler schreibt, eine "explosive Mischung" von "Schnauze, Keßheit und Herz."53 Berliner Identität in den Arbeitervierteln, wie in allen großen Städten, bestand aus zwei unterschiedlichen, sich überlappenden Identitätsformen mit unterschiedlicher Reichweite, wurzelte aber als Folge der sozialen und räumlichen Segregation in erster Linie in den in der Stadt abgegrenzten Quartieren, den sozial-moralischen Milieus und erst in zweiter Linie in der großen Stadt Berlin als Ganzes.
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) E. Szatmari: Berlin (Anm. 14), S. 205. ) Η Schfiffter: Kleine Geographie des deutschen Witzes. Mit einem Vorwort hg. v. H. Plessner. S. 6881, hier S. 80. Zu der reichen Zahl solcher Charakterisierungsversuche auch H. Ostwald: Der Urberliner im Witz, Humor und Anekdote. Neue Folge. Berlin o. J.. F. Lederer: Uns kann keener. Sprache, Wesen und Humor des Berliners. 5. Aufl. Berlin o. J. (1927). H. Plard: Regards sur une ville disparu. Le Berlin d'autrefois. In: Etudes Germanique 22 (1967), S. 1 ff. I. Weber-Kellermann: Der Berliner. Versuch einer Großstadtvolkskunde und Stammescharakteristik. In: Hessische Blätter für Volkskunde 56 (1965), 9-30. 53
ÖSTERREICH UND DER VÖLKERBUND von Peter
Burian
i.
Nur selten beschäftigt sich unsere Wissenschaft mit Charakter und Schicksal des Völkerbunds. Die erste und bisher einzige Darstellung seiner Geschichte als Ganzes, die zweibändige Niederschrift eines ehemaligen stellvertretenden Generalsekretärs der Liga, ist vor vierzig Jahren erschienen1, während in den wenigen Veröffentlichungen seither nur Teilaspekte abgehandelt werden2. Zwar werden Beratungen und Beschlüsse der beiden wichtigsten Institutionen der Liga, der Bundesversammlung und des Völkerbundsrats, in Studien über die Zwischenkriegszeit selbstverständlich erwähnt, aber im allgemeinen nicht um ihrer selbst willen, sondern bloß als zusätzliche Einzelheit bei der Erörterung ganz anderer Fragestellungen. Doch nicht nur in der Geschichtsschreibung interessiert man sich kaum für diese auf der Pariser Friedenskonferenz mit so großen Hoffnungen ins Leben gerufenen Staatengemeinschaft, auch sonst weiß das Geschichtsbewußtsein unserer Zeit vom Völkerbund so gut wie nichts, obwohl dessen Auflösung zu den Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs gehört, deren große Bedeutung für die Gegenwart unbestritten ist und die zu Recht noch immer gut bekannt sind. In der verständlicherweise erheblich umfangreicheren Erörterung von Wesen und Funktion der Vereinten Nationen werden zwar der Völkerbund und seine Geschichte regelmäßig beachtet aber auch hier nicht als eigenständiges Objekt. Sie sind vielmehr fester Bestandteil einer jeden Darstellung der UNO-Gründung und dienen hier als Gegenbild zur Weltorganisation unserer Tage, genauer gesagt: als Nachweis von Fehlern in der konzeptionellen Konstruktion eines Staatenbundes unter den Bedingungen einer zum ersten Mal möglich gewordenen globalen Politik, aber auch als Beleg für vorgeblich vermeidbare Mißerfolge in der politischen Praxis einer solchen Institution; beides, Fehler wie Mißerfolge, sollte von der neuen Staatengemeinschaft ferngehalten werden3. Historiographische Vernachlässigung wie politische Kritik sind selbstverständlich kein Zufall. In der Tat hat die Genfer Liga die ihr zugedacht gewesene Aufgabe, eine auf dem Prinzip der friedlichen Zusammenarbeit beruhende zwischenstaatliche Ordnung zu schaffen und am Leben zu erhalten, ') F. Ρ. Walters: A History of the League of Nations. 2 Bde. London 1952 (Nachdrucke in einem Band: London 1960, 1965, 1967). 2 ) J Barros: Betrayal from within. Joseph Avenol, secretary-general of the League of Nations, 1933-1940. New Haven (Conn.) 1969; G. Scott: The Rise and fall of the League of Nations. London 1973; A. Pfeil: Der Völkerbund. Literaturübersicht und kritische Darstellung seiner Geschichte. Darmstadt 1976; J. Barros: Office without power. Secretary-general Sir Eric Drummond, 19191933. Oxford 1979; The League of Nations in retrospect. Proceedings of the symposium organized by the United Nations Library [...], 6-9 November 1980. Berlin 1983; F. S. Northedge: The League of Nations. Its life and times. 1920-1946. New York 1986. 3 ) S. etwa das Kapitel "The Lessons of the League" in: E. Luard: A History of the United Nations. Bd. 1. London 1982, 3-16.
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nicht erfüllt, und ihr Einfluß ist so gering gewesen, daß es wohl kaum besonderer Manipulationen bedürfte, um eine Geschichte der internationalen Beziehungen zwischen den beiden Weltkriegen zu schreiben, ohne den Völkerbund zu erwähnen. Das Scheitern des Völkerbunds kann auf drei Ursachen zurückgeführt werden: 1) der intendierte globale Anspruch der neuen Organisation war von Anfang an nicht mehr gewesen als bloßes Programm, 2) der Völkerbund war nicht um die Herstellung einer idealen Friedensordnung bemüht, sondern blieb auf die Bewahrung des machtpolitischen Ergebnisses des Ersten Weltkriegs fixiert, 3) die Mitglieder haben wenig Bereitschaft gezeigt, ihr internationales Verhalten, das sich bisher immer nach den jeweils als vordringlich geltenden einzelstaatlichen Interessen gerichtet hatte, einer fundamentalen Revision zu unterziehen. Für den nicht verwirklichten universalen Charakter des Völkerbunds wird gemeinhin die Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika verantwortlich gemacht, auf die Mitgliedschaft in der Liga zu verzichten, doch müssen hier noch zwei weitere Einzelheiten berücksichtigt werden: einmal das Fehlen der osteuropäischen Großmacht Rußland, die in Gestalt der inzwischen konsolidierten Sowjetunion erst in der späten Zwischenkriegszeit für einige Jahre der Liga angehörte, und zum anderen die Beschränkung der Wirksamkeit des Völkerbunds auf Europa, was, nach dem Rückzug der USA, bei dem damaligen politischen Zustand der Welt mit den großen, noch immer ganze Kontinente umfassenden Kolonialimperien freilich unvermeidbar war; die Zugehörigkeit außereuropäischer Staaten zum Völkerbund war stets mehr exotisches Ornament als integrierter Bestandteil. Mit der zweiten Ursache für das Versagen des Völkerbunds - seine enge Bindung an die Resultate des Ersten Weltkriegs - ist nicht nur die als bleibend verstandene Vereitelung hegemonialer oder sogar expansiver Tendenzen der mitteleuropäischen Großmacht Deutsches Reich gemeint, sondern ebenso auch die Duldung, um nicht zu sagen: Förderung einer Gruppe von neuen Mittelund Kleinstaaten in Ostmitteleuropa, ein Vorgang, den das Ende der Habsburgermonarchie wie die machtpolitische Schwäche Rußlands möglich gemacht hatten. In der Tat konnte die Existenz oder zumindest die territoriale Gestalt dieser neuen Staaten nur dann als gesichert gelten, wenn es gelang, den politischen Zustand von 1919 aufrechtzuerhalten; er läßt sich als französische Hegemonie über den Kontinent definieren4. Als aber durch die Entstehung neuer Machtzentren in Europa diese Vorherrschaft Frankreichs eingeschränkt und zuletzt zerstört wurde, mußte auch die Erfüllung der satzungsgemäßen Funktionen des Völkerbunds, wenn nicht gar seine Existenz, ernsthaft in Frage gestellt sein.
4
) Ein Zitat für viele: "[...] in politischer Hinsicht war er (sc. der Völkerbund) [...] in weitgehendem Maße eine Vereinigung zum Schutze der durch die Kriegsverträge festgesetzten neuen Ordnung" (C. K. Webster: Vorschläge für eine Revision der VB.-Satzung. In: Völkerbund und Völkerrecht. Jg. 1 (1934/35), 78-84, hier S. 79 f.). Ein im vertragsrechtlichen Sinn erschöpfender Überblick über die Stellung des Völkerbunds im System von 1919 in: W. Schücking u. H. Wehberg: Die Satzung des Völkerbundes (Kommentar). Berlin 2 1924, 27-85.
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Nun war der Zusammenhang zwischen dem nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen europäischen System und dem Völkerbund dadurch hergestellt, daß der Covenant originärer Bestandteil der Pariser Friedensverträge war, so daß die Ablehnung dieser Verträge oder zumindest der als besonders drückend und ungerecht empfundenen Friedensbestimmungen durch die Besiegten bei diesen ein tiefes Mißtrauen wenigstens in der Form eines dezidierten Vorbehalts gegen die Liga begründet hat. Auch sollte der Völkerbund die Erfüllung und Einhaltung bestimmter Vertragseinzelheiten überwachen. Die Erfolge einer jeden Politik, die sich als Revision der Pariser Entscheidungen von 1919 ausgeben ließen, waren deshalb immer zugleich auch Mißerfolge des Völkerbunds. Und die als drittes genannte Ursache für das Versagen des Völkerbunds, das Fortgelten des sogenannten nationalen Egoismus, bezeichnet geradezu die Wurzel aller Schwierigkeiten, denen der Völkerbund während seines Bestehens ausgesetzt war. Zwar hatten weder die Autoren der Völkerbundssatzung noch die einzelnen Artikel dieses Dokuments die Bedeutung des Einzelstaates für die politische Welt geleugnet oder auch nur in Frage gestellt. Im Gegenteil: die in der Satzung ausgesprochene internationale Garantie des territorialen Besitzstands eines jeden Mitglieds gilt zu Recht als Kern dieses Grundgesetzes der neuen Ordnung5. Auch daß dadurch die Bewahrung und Sicherung der Existenz jedes einzelnen Staates als etwas durchaus Legitimes, ja als natürliche Voraussetzung für das internationale Zusammenleben anerkannt wurde, war kein Bruch mit der Vergangenheit. Und den vorgegebenen Unterschieden zwischen Großmächten und Mittel- und Kleinstaaten suchte die Satzung dadurch Rechnung zu tragen, daß im Völkerbundsrat, dem Leitungsorgan der Liga, ständige und nichtständige Sitze eingerichtet wurden6. Fraglich war aber, ob das einzelne Mitglied davon überzeugt sein konnte, sein Interesse sei wesensgleich mit dem der in der Genfer Liga vereinigten Staatengemeinschaft, in Konflikten werde diese Organisation eine schiedlich-friedliche Lösung finden können und sie sei mächtig genug, um ein Bundesglied vor einem Aggressor mit Erfolg zu schützen, selbst wenn dieser der Liga nicht angehörte. Wenn aber auch nur eine einzige dieser Voraussetzungen nicht erfüllt war, mußte, gleichsam zwangsläufig, die Führung des einzelnen Staates die Wahrung von dessen Interessen auf die auch schon bisher praktizierte Weise selbst in die Hand nehmen, also, bei Umgehung oder nur formaler Beteiligung des Völkerbunds, durch zweiseitige Verhandlungen, durch Konzessionen, durch Drohungen und zuletzt durch politische, wirtschaftliche oder militärische Zwangsmaßnahmen. Diese einleitenden Überlegungen waren zur Erklärung dafür nötig, wie in dieser Studie verfahren werden soll: Weil die Untersuchung dieses soeben beschriebenen Verhältnisses zwischen Einzelstaat und der im Völkerbund orga5
) "Die Bundesmitglieder verpflichten sich, die Unversehrtheit des Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren. Im Falle eines Angriffs, der Bedrohung mit einem Angriff oder einer Angriffsgefahr nimmt der Rat auf die Mittel zur Durchführung dieser Verpflichtung Bedacht." (Art. 10; RGBl. 1919 S. 687) 6 ) S. dazu C. Howard-Ellis: The Origin, structure & working of the League of Nations. Boston 1929, S. 58 f. und S. 110; Ο Göppert: Der Völkerbund. Organisation und Tätigkeit des Völkerbundes. Stuttgart 1938, 30-34.
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nisierten Staatenwelt erst an ihrem Anfang steht, wird die zu Beginn erwähnte Forschungslücke sich nur durch eine ganze Reihe von Einzelstudien über dieses Verhältnis schließen lassen; erst dann wird es möglich sein, in einer neuen darstellenden Synthese Wesen und Funktion der Genfer Liga zutreffend zu erläutern. II. Wenn im folgenden versucht werden soll, diese Wechselbeziehung zwischen Einzelstaat und Staatenorganisation in Form einer Skizze über das Verhältnis zwischen der Republik Österreich und dem Völkerbund zu analysieren, so sollen damit nicht nur einige Hinweise auf Möglichkeiten für eine wissenschaftliche Bewältigung der soeben definierten Forschungsaufgabe gegeben, sondern zugleich ein Beitrag zur Klärung der ebenfalls bis heute noch kaum erörterten Frage nach der Bedeutung des Kleinstaats in der modernen Welt vorgelegt werden 7 . Mit einer sicher allzu pointierten, aber gerade deshalb das gemeinte Problem besonders anschaulich beschreibenden Formulierung könnte nämlich gerade das Schicksal des Kleinstaats innerhalb der neuen Ordnung, zu deren Grundlegung der Völkerbund ja dienen sollte, als besonders charakteristischer Indikator für die Qualität ebendieser neuen Ordnung bezeichnet werden. Immerhin war es der Präsident der Friedenskonferenz, der französische Premierminister Clemenceau, der in der Begleitnote vom 2. September 1919, mit der der deutschösterreichischen Delegation in St-Germain der endgültige Entwurf des Friedensvertrags übersandt wurde, feststellte, daß das auf dieser Konferenz ins Leben gerufene neue internationale System in besonderem Maß dem Schutz kleiner Gemeinwesen, wie das neue Österreich eines sei, zu dienen habe. "Es wird von nun an den mächtigen Reichen (puissants Empires) nicht mehr möglich sein, ungestraft das politische und wirtschaftliche Leben ihrer schwächeren Nachbarn zu bedrohen." 8 Und wenn nun gerade an Österreich das Gewicht dieser Zusage exemplifiziert werden soll, so führt eine solche thematische Entscheidung nicht zu einer verzerrenden Unscharfe der Fragestellung, sondern läßt im Gegenteil Einsichten in die internationale Wirklichkeit der Zwischenkriegszeit erwarten, die bei der Wahl eines anderen Kleinstaates für die soeben umschriebene Fallstudie wohl nicht gewonnen werden könnten. Denn einmal gehörte das neue Österreich, wenn schon nicht im Selbstverständnis der eigenen Führung, so doch in der Meinung der Weltöffentlichkeit und besonders in der der Mächte von Paris, zu den Besiegten des Krieges und konnte deshalb nicht Gründungsmitglied des Völkerbunds sein, sondern war einer derjenigen Staaten, deren Aufnahme in die Liga von seinem Wohlverhalten im Sinn der durch den Kriegsausgang geschaffenen neuen Ordnung abhängig gemacht wurde. 7 ) Eine Monographie über Charakter und Funktion von Kleinstaaten in Geschichte und Gegenwart gibt es nicht. Einziger Versuch, beschränkt auf die frühe UNO: H. Bödmen Die Stellung der Staaten in den internationalen Organisationen unter besonderer Berücksichtigung der Kleinstaaten. Wintertbur 1955. 8 ) Bericht über die Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation in St. Germain-enLaye. Bd. 2, S. 315 (Stenographische Protokolle über die Sitzungen der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich. Wien 1919/20, Beilage 379).
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Und so wurde im Dezember 1920 das österreichische Aufnahmegesuch von dem südafrikanischen Vertreter und späteren Friedensnobelpreisträger (1937) Lord Cecil gerade mit dem Argument unterstützt, daß Österreich, im Unterschied zum Deutschen Reich, bereits hinreichend "Beweise seines guten Willens zur Erfüllung der Friedensbedingungen gegeben" habe9. Zu den Beweisen des guten Willens - und dies ist eine zweite Besonderheit Österreichs im Zusammenhang des Themas - gehörte aber nicht nur, wie bei den anderen Verlierern des Krieges, die zuverlässige Erfüllung militärischer und wirtschaftlicher Friedensbedingungen, sondern als eigentliche Voraussetzung für einen solchen Friedensvertrag die Zustimmung zur eigenen staatlichen Existenz, die Österreich als förmliche Friedensbedingung auferlegt worden war. Ebenso wie die Freie Stadt Danzig war auch Österreich ein Staat wider Willen, so daß die soeben erwähnte Bestandsgarantie der Völkerbundssatzung in diesen beiden Staaten nicht als Bestätigung, sondern als Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts wirkte. Nun sollte zwar in Parenthese angemerkt werden, daß die Frage noch einer eingehenden Klärung bedürfte, ob aus dem politischen Grundsatz der Selbstbestimmung Forderungen für die Organisierung der Staatenwelt abgeleitet werden können, die lediglich auf nationale Faktoren gestützt sind, wie eben vor allem auf die Sprache, während andere menschliche Bindungen kultureller, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Art dabei vernachlässigt werden10. Doch zweifellos ist damals der Gedanke der Selbstbestimmung vor allem anderen in dieser einschränkend-nationalen Bedeutung verstanden worden. Im übrigen aber wird jeder, der die österreichischen wie die deutschen Akten über die Anschlußverhandlungen kennt, die im Spätwinter 1918/19 und im Frühjahr 1919 in Weimar und in Berlin geführt wurden", Zweifel darüber nicht unterdrücken können, ob der Anschluß, wenn er unter den Bedingungen des Jahres 1919 zustande gekommen wäre, zu einem anderen Resultat geführt haben würde als der Anschluß, wie er dann zwanzig Jahre später unter der Herrschaft des Nationalsozialismus tatsächlich vollzogen worden ist, nämlich zur Ausbildung und Festigung eines österreichischen National- und Staatsbewußtseins. Es entsprach den eben skizzierten Besonderheiten der österreichischen Situation nach dem Ersten Weltkrieg, daß die staatliche Existenz der Republik noch auf eine andere, engere Weise mit dem Völkerbund verbunden war als nur durch die Bestandsgarantie, wie dies bei den anderen Gliedern der neuen Staatengemeinschaft der Fall war. Artikel 88 des Friedensvertrags von StGermain legte fest: "Die Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich, es sei denn, daß der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimmt. Daher übernimmt Österreich die Verpflichtung, sich, außer mit Zustimmung des ge9
) F. Purlitz (Hg ): Deutscher Geschichtskalender. Sachlich geordnete Zusammenstellung der wichtigsten Vorgänge im In- und Ausland. Jg. 36 (1920). Teil B: Ausland. Bd. 2. Leipzig 1928, S. 240. 10 ) Grundlegend dafür: G. E. Schmid: Selbstbestimmung 1919. Anmerkungen zur historischen Dimension und Relevanz eines politischen Schlagwortes. In: K. Bosl (Hg ): Versailles - St. Germain Trianon. Umbruch in Europa vor fünfzig Jahren. München 1971, 127-142. " ) S. dazu: A. D. Low: Die Anschlußbewegung in Österreich und Deutschland, 1918-1919, und die Pariser Friedenskonferenz. Wien 1975, 82-93.
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dachten Rates, jeder Handlung zu enthalten, die mittelbar oder unmittelbar [...] seine Unabhängigkeit gefährden könnte"12. Wörtlich oder sinngemäß wurde dieser Artikel im Genfer Anleiheprotokoll vom 4. Oktober 1922 und im Lausanner Anleiheprotokoll vom 15. Juli 1932 wiederholt13. Auch in der Diskussion über das schließlich gescheiterte Projekt einer deutsch-österreichischen Zollunion (1931) spielte er eine große Rolle, und von der zeitgenössischen Publizistik wurde er, abgesehen von der Kritik an ihm als einem Bestandteil des Friedensvertrags, stets mit der abwertenden Bezeichnung "Anschlußverbot" charakterisiert, was er selbstverständlich auch ist. Doch sollte er nicht nur in dieser negativen Deutung interpretiert werden. Einmal ist hier kein absolutes, auf Dauer berechnetes Verbot ausgesprochen, sondern eine solche politische Veränderung wurde vielmehr nur von der Zustimmung der im Völkerbundsrat repräsentierten Staatengemeinschaft abhängig gemacht. Natürlich wäre eine solche Zustimmung kaum zu erhalten gewesen, und die Vorgänge bei den finanziellen Sanierungen zeigten ja gerade, daß zumindest die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen sich die junge Republik befand, nicht als überzeugendes Argument für die Aufhebung der österreichischen Unabhängigkeit gewertet wurden. Aber heute sehen wir klarer als eine früherer Generation den europäischen Wert der Eigenstaatlichkeit Österreichs, und gerade die bereits erörterte Beschränkung des Völkerbunds auf Europa legt eine solche weiter gefaßte Interpretation dieser Bindung der österreichischen Unabhängigkeit an die europäische Staatenorganisation nahe. Auch darf nicht übersehen werden, daß dieses Anschlußverbot keineswegs von böswilligem Haß diktiert gewesen war, sondern mit einer durchaus nüchternen Analyse der europäischen Situation und der hier eingetretenen Gewichtsverschiebungen erklärt werden kann, die durch die Niederlage der Mittelmächte, die Eliminierung Rußlands und die tiefgreifende Umgestaltung der europäischen Staaten weit nach dem Ersten Weltkrieg eingetreten waren. Und die Ignorierung dieses Artikels durch den tatsächlichen Vollzug des Anschlusses war schließlich auch eine nachhaltige Störung des von den Siegern von 1919 konzipiert gewesenen europäischen Gleichgewichts. Ebenso wie bei der Billigung der auferlegten, nicht selbstgewählten staatlichen Unabhängigkeit durch die österreichische Führung wurde auch eine andere Bestimmung des Friedensvertrags, durch die auf den Völkerbund verwiesen wurde, ursprünglich als Widerspruch zu den eigenen österreichischen Interessen empfunden: der Minderheitenschutz. Wie die anderen Nachfolgestaaten hatte auch Österreich vertraglich eine Reihe von Bestimmungen zu akzeptieren, in denen der Republik zwar das Recht zur Proklamierung einer Staatssprache zuerkannt wurde, wozu in der auch in dieser Einzelheit bis heute in Kraft stehenden Kelsenschen Verfassung von 1920 ausdrücklich das Deutsche bestimmt wurde14, durch die aber der nationale Charakter solcher öster12
) StGBl. Nr. 303/1920. ) G. Ladner: Seipel als Überwinder der Staatskrise vom Sommer 1922. Zur Geschichte der Entstehung der Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922. Wien 1964; G. Klingenstein: Die Anleihe von Lausanne. Ein Beitrag zur Geschichte der Ersten Republik in den Jahren 1931-1934. Wien 1965. 14 ) Art. 8 (StGBl. Nr. 450/1920 = BGBl. Nr. 1/1920); die Ermächtigung dazu enthält Art. 66 des Vertrags von St-Germain. Der Sprachenartikel stammt nicht von Kelsen (F. Ermacora (Hg ): Die 13
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reichischer Staatsbürger gesichert werden sollte, die als Angehörige von nationalen Minoritäten gelten konnten. In den Artikeln 62 bis 69 des Vertrags von St-Germain wurde dieser Schutz unter die Garantie des Völkerbunds gestellt. Unter anderem mußte sich Österreich hier damit einverstanden erklären, daß, wie es in Artikel 69 hieß, "jedes Mitglied des Rates des Völkerbundes das Recht haben soll, die Aufmerksamkeit des Rates auf jede Verletzung oder Gefahr einer Verletzung irgendeiner dieser Verpflichtungen (sc.: zum Schutz rassischer, religiöser oder sprachlicher Minderheiten) zu lenken und daß der Rat in einer Weise vorgehen und solche Weisungen geben könne, die in jedem Fall geeignet und wirksam erscheinen könnten". Meinungsverschiedenheiten zwischen Österreich und einem jeden Mitglied des Völkerbundsrats über die Auslegung und Anwendung dieser Schutzbestimmungen sollten nach dem Wortlaut desselben Artikels ein Streitfall sein, der im Sinn der Völkerbundssatzung internationalen Charakter besitzt und notfalls von dem Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag entschieden werden sollte, der ja ebenfalls ein Teil des von der Liga ins Leben gerufenen Apparats war. Zweifellos bedeuteten diese Minderheitenschutzbestimmungen, wenn deren Wirkung in der Zwischenkriegszeit auch sehr gering war, eine Reduzierung der staatlichen Souveränität zugunsten der Aufsichtsbefugnis des Völkerbunds, eine Einschränkung freilich, die auch einer Reihe von Siegerstaaten auferlegt wurde15. Dagegen hatte das deutschösterreichische Staatsamt für Äußeres in den Instruktionen für die Wiener Delegation zur Pariser Friedenskonferenz unmißverständlich festgelegt: "Bezüglich der nationalen Minderheiten (sc.: der deutschen Einwohner der Tschechoslowakei und des südslawischen Königreichs) ist eine Anregung zu besonderem Schutz von uns aus gar nicht oder nur mit größter Vorsicht zu machen, damit die Rückwirkung auf die nationalen Minderheiten in unserem Gebiete vermieden werde. Am liebsten wäre von der Frage der nationalen Minderheiten im eigentlichen Sinn überhaupt nicht zu sprechen. Nur wenn es nicht vermieden werden kann, wenn die Frage von der anderen Seite zur Diskussion gestellt wird, ist darauf einzugehen. Es ist hiebei hervorzuheben, daß Deutsch-Österreich ein Nationalstaat ist, im Gegensatz etwa zum tschechoslowakischen Staat, daß in Wien durch die veränderten Existenzbedingungen wahrscheinlich die nationalen Minderheiten (sc.: namentlich die Tschechen) zum natürlichen Untergang verurteilt werden, daß ein Zuzug nicht mehr zu erwarten ist, die hier Ansässigen aber in der zweiten Generation assimiliert sein werden, [...] Es ist also eine Forderung nach Minoritätenschutz, der auch Wien Verpflichtungen auferlegen würde, nach Möglichkeit abzulehnen. Bei der Führung dieser Sache muß aber die größte Vorsicht walten, es darf also unsere Absicht diesen Minoritäten den
österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen. Analysen und Materialien. Zum 100. Geburtstag von Hans Kelsen. Wien 1982, S. 41 und S. 86 f.). 1S ) E. Viefhaus Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg 1960; P. de Azcärate: La Soci6t6 des Nations et la protection des minoritis. Genf 1969; B. Schot: Nation oder Staat? Deutschland und der Minderheitenschutz. Zur Völkerbundspolitik der Stresemann-Ära. Marburg 1988 (mit mehreren Kapiteln über den damals geltenden Minderheitenschutz im allgemeinen).
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Schutz zu verweigern, nicht sichtbar werden." 16 Entgegen einer solchen dezidierten Einstellung ist der Minderheitenschutz dann aber doch geltendes österreichisches Recht geworden, dessen Anwendung der Überwachung durch den Völkerbund unterstellt war 17 . III. Betraf die auf die Genfer Liga hin ausgerichtete Zustimmung zur staatlichen Unabhängigkeit und zum Schutz von Minderheiten die Voraussetzungen für eine eigene österreichische Politik unter den Bedingungen des Völkerbundssystems, so gehören die anderen hier zu erörternden Einzelheiten aus den Beziehungen zwischen Österreich und dem Völkerbund zur Sphäre der politischen Praxis. Aus den beiden Anleiheaktionen von 1922 und 1932 ist folgendes wichtig. Die von der österreichischen Staatsführung in den dafür nötigen Vereinbarungen jeweils akzeptierte internationale Kontrolle über die eigene Wirtschafts- und Finanzpolitk stellte zweifellos eine weitere schwerwiegende Einschränkung der eigenen Souveränität dar, die von einem durch den Völkerbund bestellten und diesem gegenüber verantwortlichen Kommissar (1932: Vertreter) ausgeübt wurde, und die von der Staatengemeinschaft als nötig anerkannten Sanierungsmaßnahmen geschahen erklärtermaßen nicht zuletzt in der politischen Absicht, die innere Konsolidierung der jungen Republik zu fördern und so die Durchsetzung der mit dem Anschlußverbot verfolgten machtpolitischen Absichten nicht zu gefährden. Ebenso dürfen auch die harten innenpolitischen Konsequenzen, bis hin zu einer eventuell möglichen Ausschaltung des verfassungsmäßigen Gesetzgebers, nicht übersehen werden. So erklärte Ende Februar 1923 der Völkerbundskommissar, der Niederländer Zimmerman, in seinem ersten Bericht an das Sekretariat des Völkerbunds, daß es jetzt die Pflicht der österreichischen Regierung sei, "auf dem Weg der notwendigen Maßnahmen weiter fortzuschreiten, ohne sich um politische Erwägungen [...] zu kümmern, meiner Meinung nach selbst in den unvermeidlichen Fällen, wo sie zu diesem Zwecke gezwungen sein wird, Interessen und Wünschen von mehr oder minder wichtigen Bevölkerungsgruppen zuwiderzuhandeln. [...] Die Regierung muß nicht bloß über außerordentliche Vollmachten verfügen, sondern auch den Willen, den Mut und die Kraft besitzen, sich ihrer zu bedienen." 18
16
) Die Instruktion ist abgedruckt in: F. Fellner u. H. Maschl (Hg.): "Saint-Germain, im Sommer 1919". Die Briefe Franz Kleins aus der Zeit seiner Mitwirkung in der österreichischen Friedensdelegation, Mai bis August 1919. Salzburg 1977, 38-50, hier S. 43. 17 ) Zum ganzen Komplex siehe jetzt: T. Veiter: Verfassungsrechtslage und Rechtswirklichkeit der Volksgruppen und Sprachminderheiten in Österreich 1918-1938. In: Die österreichische Verfassung von 1918 bis 1938. Protokoll des Symposiums in Wien am 19. Oktober 1977. München 1980, 89209 und 261-279. 18 ) Schulthess' Europäischer Geschichtskalender. U. Thürauf (Hg ): Bd. 64 (1923). München 1928, S. 240. Vgl. auch: J. L J. Bosnians: De Nederlander Mr. A. R. Zimmerman als commissarisgeneraal van de Volkenbonden in Oostenrijk 1922-1926 [...] Nimwegen 1973, 194-199 und S. 294; D. Stiefel: Die große Krise in einem kleinen Land. Österreichische Finanz- und Wirtschaftspolitik 1929-1938. Wien 1988, S. 109.
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Doch im Unterschied zu dem von sozialdemokratischer wie großdeutscher Seite im Herbst 1922 und auch später, zwar mit unterschiedlichem Begründungen, aber mit derselben Vehemenz, geäußerten Einspruch gegen die Anleihebedingungen von Genf19 ist sicher die Charakterisierung zutreffend, die Bundeskanzler Seipel über die von ihm unterzeichneten und dann daheim durchgesetzten Genfer Protokolle gegeben hat. Im November 1922 sagte Seipel: "Eine Kontrolle, ausgeübt von den Siegern im Weltkrieg oder auch direkt von den Kreditgebern, wäre für uns schmerzlich gewesen. Nun haben wir aber eine Kontrolle im Namen des Völkerbundes. [...] Wer sich wie ich überzeugt hat, wie man in dieser obersten Instanz, in der auch wir Sitz und Stimme haben, wenn unsere Angelegenheiten verhandelt werden, auf unsere Stimme hört wenn sie in geeigneter Weise erhoben wird, der kann nicht denken, daß die Ehre seines Landes verletzt wird, wenn ein Beauftragter des Völkerbundes hier eine gewisse Kontrolle übt."20 Und einige Jahre später urteilte Seipel rückblickend: "Wir glaubten nicht, daß es für ein Volk eine Schande sein kann, internationale Hilfe zu suchen. [..] Wir glaubten auch nicht, daß es gegen unsere Ehre sei, internationale Verpflichtungen bezüglich unserer Staatswirtschaft auf uns zu nehmen, wenn wir nur ehrlich glaubten, sie erfüllen zu können."21 Mit einer solchen Bewertung wird ein wichtiges Element des Völkerbundssystems, gerade auch in dessen Bedeutung für Österreich, erwähnt, nämlich die Tatsache, daß, international gesehen, bei einem Verlierer des Krieges solche im Auftrag der Liga ausgeübten einschränkenden Befugnisse zur Behebung von Kriegsfolgen einen wesentlich anderen Charakter besaßen, als wenn damals die Siegerstaaten selbst - etwa in Gestalt der Botschafterkonferenz oder der Interalliierten Militärkonunission - aktiv geworden wären. Hatte sich übrigens Seipel hier auf die im politischen Tageskampf natürlich im Vordergrund der Diskussion stehenden Imponderabilien - nationale Ehre, nationale Schande - bezogen, so ist zusätzlich darauf zu verweisen, daß wir uns heute darüber weithin einig sind, daß durch die Anleihe von 1922 nicht nur die innenpolitische Situation in Österreich relativ stabilisiert sondern gerade auch der Fortbestand des verfassungsrechtlich festgelegten parlamentarischen Systems für eine gewisse Zeitspanne gesichert wurde; das aber waren Resultate, die auch im europäischen Vergleich gewiß günstig zu bewerten sind22. Aus der Diskussion über das gescheiterte Projekt einer Zollunion zwischen Deutschland und Österreich soll vor allem die Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs erörtert werden, der im September 1931 mit knappster Mehrheit die Unvereinbarkeit dieses Plans (Wiener Protokoll, März 1931) mit den internationalen Verpflichtungen feststellte, die die Republik im Friedensvertrag sowie im Genfer Anleiheprotokoll vom Oktober 1922 für die
dazu Ladner: Seipel (Anm. 13), 161-165, und KUngenstem: Anleihe (Anm. 13), 75-98. 11. 1922. In: J. Geßl (Hg ): Seipels Reden in Österreich und anderwärts. Eine Auswahl [...] 1926, 45-50, hier S. 49. 6. 1926. In: Ebd., 312-324, hier S. 319. 22 1 Η Mommsen in einem Diskussionsbeitrag in: Österreich 1927 bis 1938. Protokoll des Symposiums in Wien, 23. bis 28. Oktober 1972. München 1973, S. 44 f. 19
) S. ) 9. Wien 21 ) 3. 20
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Aufrechterhaltung ihrer staatlichen Unabhängigkeit eingegangen war23. Das Votum stützte sich nämlich mehr auf politische als auf juristische Gründe24 und argumentierte so: "Österreich ist ein wesentliches Element der europäischen Ordnung, und seine Existenz ist ein wesentliches Element der politischen (!) Ordnung in Europa, wie sie seit dem Kriege besteht." Und erst dann folgte der juristische Gesichtspunkt: Zwar sei es Österreich nicht grundsätzlich untersagt, auf seine Unabhängigkeit zu verzichten, sondern Österreich sei lediglich verpflichtet, für einen solchen Schritt die vorherige Zustimmung des Völkerbundsrats, also der Staatengemeinschaft, einzuholen; doch eben dieser Vorbehalt sei im Wiener Protokoll unerwähnt geblieben25. Schon für die Zeitgenossen war deshalb das Votum der Minorität besonders interessant, in dem die hier geschehene juristische Einkleidung politischer Vorstellungen deutlich kritisiert wurde26. Für die historische Bewertung dieses Haager Spruchs ist es übrigens nebensächlich, daß er als Folge der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung im Sommer 1931, namentlich nach den Bankenzusammenbrüchen in den beiden Unionsstaaten, bei seinem Bekanntwerden bereits überholt war27. Der Völkerbundsrat hat ihn bloß zur Kenntnis nehmen können. Wichtig ist aber, daß sich an dieser Einzelheit sehr anschaulich zeigen läßt, welch große Bedeutung politische Absichten für die damals noch junge zwischenstaatliche Gerichtsbarkeit gehabt haben28.
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) Die ausführlichste Darstellung jetzt bei: S. Beer: Der "unmoralische" Anschluß. Britische Österreichpolitik zwischen Containment und Appeasement 1931-1934. Wien 1988,21-99. 24 ) Schon während des Verfahrens, das Mitte Juli eröffnet worden war, berichtete der britische Botschafter in den Niederlanden dem Foreign Office wiederholt, "daß das internationale Richterkollegium von vielen in Den Haag akkreditierten Diplomaten als im hohen Maße von ihren Regierungen beeinflußt oder gar abhängig angesehen werde". Zit. nach: Beer: Anschluß (Amn. 23), S. 95. Nach dem Bekanntwerden der Entscheidung beklagte der britische Gesandte in Wien, "daß einerseits reine Machtpolitik und andererseits finanzieller Druck Frankreichs das Gerichtsverfahren in großem Maße präjudiziert" hätten. In: Ebd., S. 97. - Im Mai hatte der Völkerbundsrat den Gerichtshof um ein Gutachten über die völkerrechtliche Zulässigkeit dieses Unionsprojekts ersucht. 25 ) Geschichtskalender (Anm. 18), Bd. 72 (1931). München 1932, S. 563. 26 ) "Die Minderheit ist der Meinung, daß der Gerichtshof sich nicht mit politischen Erwägungen und Folgerungen zu beschäftigen habe, da ihm lediglich eine rechtliche Frage vorgelegt worden sei." In: Ebd., S. 565. 27 ) Namentlich: Zwei Tage vor der Verkündung des Gutachtens hatten die deutsche und die österreichische Regierung auf die Zollunion formell verzichtet. Vgl. J. Curtius: Bemühung um Oesterreich. Das Scheitern des Zollunionsplans von 1931. Heidelberg 1947, 66-70. 28 ) Immerhin hat noch vor dem Zweiten Weltkrieg kein Geringerer als Hans Kelsen die Zulässigkeit politischer Argumentationen bei der Entscheidung völkerrechtlicher Streitfragen nachdrücklich verteidigt: "Im Interesse der Ehrlichkeit wäre es allerdings gelegen, wenn das Gericht (sc.: der Ständige Internationale Gerichtshof) gehalten wäre, seine Entscheidung nicht ausschließlich und allein aus dem Gesetz, den Normen des Gewohnheitsrechts oder der geltenden Verträge zu begründen; sondern wenn es verpflichtet wäre, bei gegebener doppelter oder mehrfacher Interpretationsmöglichkeit diese offen festzustellen und die rechtspolitischen Gründe anzugeben, aus denen es sich für die eine und nicht für eine andere entschieden hat." In: H. Kelsen: Zur rechtstechnischen Revision des Völkerbundsstatuts. In: Zeitschrift für öffentliches Recht. Jg. 17 (1937), 4 0 M 9 0 u. 590622, hier: S. 407 f., Anm. 2.
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IV. Hatten die bisher vorgelegten Beispiele aus den Beziehungen zwischen Österreich und dem Völkerbund auf die neuartigen Elemente in der Staatenordnung der Zwischenkriegszeit aufmerksam gemacht, so weist die Erörterung des Problems Südtirol zurück auf die herkömmliche Situation und auf die herkömmlichen Mittel zwischenstaatlicher Politik. Die von Mussolini seit der Mitte der zwanziger Jahre forciert betriebene Italianisierung in dem zu Italien gekommenen Teil von Tirol29 führte im Februar 1926 zu einer Aussprache im Hauptausschuß des österreichischen Nationalrats, in der Bundeskanzler Ramek erklärte, der italienische Regierungschef habe zwar in einer Kammerrede kurz zuvor unter Androhung militärischer Maßnahmen seinen Entschluß bekräftigt, eine Vereinigung dieser deutschen Gebiete mit Österreich unter allen Umständen zu verhindern, aber er habe nicht mit einem Einmarsch in Österreich selber gedroht. Deshalb habe die Bundesregierung die Frage verneint, ob sie im Sinn der Satzung den Völkerbund auf die italienische Kriegsdrohung aufmerksam machen solle, denn im formellen Sinn gebe es eine Gefährdung der Republik eben nicht30. Mitten hinein in eine Erörterung der Schwierigkeit, die Staatenwelt auf die neuen Prinzipien zu verpflichten, führte dann zwei Jahre später eine Fortsetzung dieser Südtiroldebatte im Nationalrat. In der Antwort auf eine Anfrage christlichsozialer Abgeordneter aus Tirol räumte damals Bundeskanzler Seipel zwar ein, daß es denkbar wäre, unter Berufung auf den Revisionsartikel der Völkerbundssatzung (Art. 19) die Zustände in Südtirol vor die Bundesversammlung zu bringen, also vor das Organ der Liga, in dem, im Unterschied zum Völkerbundsrat, die Vertreter aller Mitgliedsstaaten mit gleichem Stimmrecht anwesend waren31. Bei einem solchen Versuch wäre davon auszugehen, daß die dem Selbstbestimmungsrecht der Völker widersprechende Zuteilung Südtirols an Italien wegen der Behandlung der dortigen Deutschen durch die italienische Regierung zu einem internationalen Zustand geführt habe, dessen Fortdauern den Weltfrieden gefährden könne. Aber ein solcher Weg, fuhr Seipel fort sei nicht gangbar, weil Italien einen solchen österreichischen Antrag als einen feindseligen Akt betrachten würde, so daß nicht nur mit einer erheblichen Verschlechterung der Beziehungen Österreichs zu seinem südlichen Nachbarn, sondern auch mit weiteren Nachteilen für die Südtiroler selbst zu rechnen sei. Auch ein anderer Versuch, die Staatengemeinschaft auf die Zustände südlich des Brenners aufmerksam zu machen und eventuell zum Handeln zu veranlassen, werde keinen Erfolg haben, wenn Österreich nämlich in der Versammlung den Antrag stellen wollte, sie möge in einer allgemein gehaltenen Resolution die Mitglieder der Liga auffordern, die Bestimmungen 29 ) Für den ganzen Komplex jetzt: 0. Kiem / H. Mock / A. Zenon: Entbeimatung. In: Option, Heimat, Opzioni. Katalog zur Ausstellung des Tiroler Geschichtsvereins. Bozen 1989,42-107. 30 ) Gescbichtskalender (Anm. 18). Bd. 67 (1926). München 1927, 191-193. M > Dafür und für das Folgende: Ebd. Bd. 69 (1928). München 1929, 221-224. Vgl. K. Weiß: Das Südtirol-Problem in der Ersten Republik. Dargestellt an Österreichs Innen- und Außenpolitik im Jahre 1928. Wien 1989. 105-140.
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über den Minderheitenschutz einzuhalten. Ein bloßer Beschluß aber sei für Italien ohnehin nicht bindend, denn um die angestrebte Verpflichtung zu erreichen, bedürfe es eines internationalen Akts, zum Beispiel eines Protokolls, das von Italien mit unterzeichnet und ratifiziert werden müsse. Mit dieser vorsichtig formulierten Antwort waren aber die Tiroler Nationalräte nicht einverstanden, so daß Seipel in der nächsten Parlamentssitzung deutlicher werden mußte. Er betonte nun, daß es gerade für einen Kleinstaat wie Österreich notwendig sei, Realpolitik zu treiben, und dies bedeute im vorliegenden Fall, Österreich dürfe sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einmischen; das aber würde bei einer österreichischen Klage vor dem Völkerbund gegen Italien zweifellos der Fall sei. Zwar sei einem solchen Schritt ein gewisser Wert als Demonstration nicht abzusprechen, aber es sei unklug, diese oberste politische Instanz der gegenwärtigen Staatenordnung zu derartigen Demonstrationszwecken zu gebrauchen. Die an der Erörterung dieser Einzelheit nachgewiesene nüchtem-resignierte Einschätzung der Möglichkeiten des Völkerbunds und der Grenzen seiner Wirksamkeit in der europäischen Staatenwelt kann als besonders charakteristisch für die Einstellung der österreichischen Staatsführung zur Genfer Liga angesehen werden. Das läßt sich etwa daran zeigen, daß zwar beim Regierungsantritt eines jeden neuen Wiener Kabinetts stets und immer versichert wurde, Österreich betrachte sich zu seinem eigenen Nutzen als vollwertiges Mitglied des Bundes, daß aber daneben ebenso regelmäßig und ohne Bezug auf den Völkerbund erklärt wurde, die österreichische Außenpolitik sei und bleibe eine Politik der Freundschaft mit allen Staaten und ganz besonders mit den Nachbarn32. In der ersten Hälfte der Zwischenkriegszeit wurde überdies aus dieser Feststellung auch noch der Schluß gezogen, daß Österreich eine Politik der außenpolitischen Neutralität betreiben müsse, was, wie etwa Bundeskanzler Schober noch im September 1929 erklärte, von größtem Nutzen für ganz Europa sei33. Später freilich, nachdem sich Österreich zur italienischen Klientel geschlagen hatte, fehlten verständlicherweise solche Bekenntnisse zum Führen einer neutralen Außenpolitik durch Österreich. Im Gegenteil: Die damals immer deudicher sichtbar werdende Ausbildung eine neuen Machtzentrums im Mittelmeerraum und der angrenzenden Region, dessen Politik die Ordnung von 1919 zu stören begann, zwang Österreich bald zu einem aufsehenerregenden Schritt vor dem Völkerbund34. In der Debatte, mit der im Oktober 1935 die Genfer Bundesversammlung über eine Verurteilung Italiens wegen dessen Angriffs auf Äthiopien beriet und nach dem Antrag eines Ad-hoc-Komitees 32
) Namentlich: 22. 6. 1921 (Schober; Geschichtskalender (Anm. 18). Bd. 62 (1921). München 1926, S. 361 f.); 21. 11. 1923 (Seipel; Bd. 64 (1923). München 1928, S. 244); 20. 11. 1924 (Ramek; Bd. 65 (1924). München 1927, S. 131); 7. 5. 1929 (Streeruwitz; Bd. 70 (1929). München 1930, S. 239 f.); 5. 12. 1930 (Ender; Bd. 71 (1930). München 1931, S. 256); 27. 5. 1932 (Dollfuß; Bd. 73 (1932). München 1933, S. 241). ") Ebd.: Bd. 70 (1929). München 1930, S. 247. 34 ) Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, daß man in Italien, nicht erst seit Mussolinis Regierungsantritt, sich von den Pariser Friedensregelungen, die dem Völkerbundssystem zugrunde lagen, als benachteiligt verstand ("vittoria mutilata"; s. R. Lill: Geschichte Italiens vom 16. Jahrhundert bis zu den Anfängen des Faschismus. Darmstadt 1980, 289 - 291).
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sich auch über die satzungsmäßigen Sanktionen schlüssig werden sollte, erklärte der österreichische Delegierte, Pflügl: Österreich halte zwar an den Prinzipien des Völkerbunds fest, aber die vorgeschlagenen Maßnahmen richteten sich gegen einen großen Nachbarn und zuverlässigen Freund Österreichs, dem dieses in der gegenwärtigen schwierigen internationalen Lage die lebhafteste Sympathie entgegenbringe. Österreich werde nie vergessen, daß es Italien gewesen sei, das in einem kritischen Augenblick, beseelt von echtem Völkerbundsgeist, durch sein Eintreten wirksam dazu beigetragen habe, Österreichs Integrität und Unabhängigkeit zu wahren35. Die zwischen Italien und Österreich bestehende enge Freundschaft werde Österreich jetzt nicht preisgeben. Im übrigen würden die beantragten Sanktionen zu einer großen Gefahr für die Wirtschaft des gesamten Kontinents und besonders für die Kleinstaaten werden, die nur über eine sehr beschränkte wirtschaftliche und finanzielle Widerstandskraft verfügten. Die österreichische Regierung müsse es deshalb zum gegenwärtigen Zeitpunkt ablehnen, die vorgeschlagenen Maßnahmen zu billigen oder zu unterstützen36. Diese österreichische Haltung, der in derselben Sitzung lediglich noch von dem anderen Mitglied des Römischen Pakts (März 1934), Ungarn, assistiert wurde, stieß auf die einhellige Ablehnung durch die Weltöffentlichkeit sofern diese noch dem Völkerbund anhing. Kein Geringerer als Arnold Toynbee stellte dieses Verhalten Österreichs in den Zusammenhang der internationalen Entwicklung der Zeit und schrieb 1936: "By defaulting - and this with only two accomplies37 - on obligations under the Covenant which fiftytwo other states members of the League were agreeing to honour, the Austrian Government were not merely displaying an invidious ingratitude for past services rendered to Austria by the League which had been at least as valuable as any benefits that had been conferred upon Austria by Italy individually; in the same act the Austrian Government were putting themselves out of court, in advance, against the day (which might come at any time) when it might be Austria's turn, instead of Abyssinia's, to call upon her fellow states members of the League to honour their engagements by coming to her assistance against an aggressor."38 Aus der Situation der späten Zwischenkriegszeit ist diese scharfe Verurteilung Österreichs zwar verständlich, wir halten sie aber heute für zu hart. Der Zwang, unter dem die österreichische Staatsführung damals stand, sich aus ideologisch-innenpolitischen, aber auch aus ideologisch-außenpolitischen Gründen zur Sicherung der Existenz des eigenen Staates in ein enges Abhängigkeitsverhältnis zu einer in manchen Einzelheiten als verwandt empfundenen Großmacht zu begeben, war schließlich nichts anderes als ein besonders 35
) Gemeint war offensichtlich die Reaktion Mussolinis auf den nationalsozialistischen Juliputsch 1934. ) Keesings Archiv der Gegenwart. Jg. 1935, S. 2253 D. Der vollständige Text von Pflügls Erklärung in englischer Übersetzung in: Documents on international affairs 1935. Bd. 2. London 1937, S. 185 f. Zum Verhalten des Völkerbunds in der Abessinienkrise insgesamt s.: G. W. Baer: Test Case. Italy, Ethiopia, and the League of Nations. Stanford (Calif.) 1976. 37 ) Außer Österreich und Ungarn hat nur noch Albanien, damals bereits ein italienischer Satellit, sich gegen Sanktionen ausgesprochen. Ebd., S. 64. '") A J Toynbee: Survey of international affairs 1935. Bd 2. London 1936, S. 88. 36
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sinnfälliger Hinweis auf die tiefgreifende Veränderung der europäischen Situation zur Mitte der dreißiger Jahre, als der Völkerbund sich immer mehr als unfähig zeigte, die Einhaltung der eigenen Prinzipien durchzusetzen, als es also, im Sinn der einleitend genannten Definierung formuliert, immer schwerer wurde, das eigenstaatliche Interesse mit einem vermeintlichen Kollektivinteresse zur Deckung zu bringen. Auch die Führung anderer Kleinstaaten, wie etwa der im Krieg neutral gebliebenen Staaten in West- und Nordeuropa, die zunächst zu den besonders treuen Anhängern der Liga und ihres Programms gehört hatten, ging damals immer entschlossener dazu über, sich nicht mehr vertrauensvoll auf den Völkerbund zu verlassen, sondern sich neben den Bindungen an den Bund und den Vereinbarungen innerhalb des Völkerbundssystems auch um die Sicherung auf herkömmliche politische Weise zu bemühen39. Bundeskanzler Schuschnigg versuchte zwar, die durch die Abessinienerklärung Pflügls stark belasteten Beziehungen Österreichs zum Völkerbund zu entspannen, und wählte nicht zuletzt in dieser Absicht wenige Monate später die Form einer demonstrativen Entfernung seines Vizekanzlers und interimistischen Sicherheitsministers, des Heimwehrführers Starhemberg, aus dem Kabinett, nachdem dieser in einem den Völkerbund bewußt provozierenden Telegramm dem Duce zum Sieg in Afrika gratuliert hatte40. Aber die Bindung der österreichischen Sache an die Politik des römischen Protektors zwang die Wiener Führung dann eben doch zur raschen De-jure-Anerkennung der Annexion Abessiniens41 und - ebenfalls vor dem Völkerbund - zur offenen Parteinahme für das namentlich von Mussolini unterstützte Regime des Generals Franco im spanischen Bürgerkrieg42. Am 18. März 1938 schließlich übermittelte der Genfer Konsul des Deutschen Reiches, das ja selbst längst nicht mehr der Liga angehörte43, dem Sekretariat des Völkerbunds eine Note der Reichsregierung, in der lapidar mitgeteilt wurde, daß mit der Verkündung des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich44 die Mitgliedschaft Österreichs im Völkerbund erloschen sei45. Diese Anzeige wollte der für die Mitgliedsbeiträge zuständige Ausschuß der Bundesversammlung als Austrittserklärung gewertet wissen, während für den Rechtsaus39
) Vgl. dazu die in Genf wie anderswo geführte Diskussion über die Reform des Völkerbunds: Walters (Anm. 1), Bd. 2, S. 687 f. u. 709-720. Besonders anschaulich dafür ist auch die internationale Debatte Uber die Anerkennung der italienischen Annexion Äthiopiens: Λ. J. Toynbee: Survey of international affairs 1938. Bd. 1. London 1941, 144-152. 40 )"[...] zu dem ruhmvollen und herrlichen Sieg der faschistischen Waffen über die Barbarei, zu dem Sieg des faschistischen Geistes über demokratische Unehrlichkeit und Heuchelei und zum Sieg der faschistischen Opferfreudigkeit und disziplinierten Entschlossenheit über die demokratische Verlogenheit [...]": 13. 5. 1936; Geschichtskalender (Anm. 18), Bd. 77 (1936). München 1937, S. 182. 41 ) Bereits am 12. 11. 1936: Toynbee (Anm. 39), S. 145. 42 ) 4. 10. 1937: Archiv (Anm. 36), Jg. 1937, S. 3241 B. 43 ) Der Austritt Deutschlands war im Oktober 1933 erklärt worden und wurde entsprechend der Satzung zwei Jahre später, im Oktober 1935, wirksam (Kleines Handbuch der Völkerbundes. Genf 1935, S. 13). 44 ) 13 . 3. 1938 (BGBl. Nr. 75/1938); gleichlautend als Art. I des deutschen Anscblußgesetzes vom selben Tag (RGBl. 1938 I S.237). 45 ) Archiv (Anm. 36), Jg. 1938, S. 3482 D.
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schuß "das Enden der Mitgliedschaft Österreichs [...] einem Ausscheiden durch Tod" gleichkam. Das Leitungsorgan der Liga, der Völkerbundsrat, verzichtete auf jede Reaktion. Gegen dieses Nichttätigwerden der seinerzeit gerade auch zur Wahrung der europäischen Ordnung von 1919 ins Leben gerufenen Staatenorganisation legte als einziger der Delegierte Mexikos einen wirkungslos bleibenden - förmlichen Protest ein46. Als dann acht Jahre später, vom 8. bis zum 19. April 1946, die Bundesversammlung des Völkerbunds zum letzten Mal, lediglich zur Beschlußfassung über die Selbstauflösung der Liga und deren Fortsetzung in der UNO, zusammentrat, wurde Österreich, dessen staatliche Existenz mit dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs wiederhergestellt worden war, bloß gestattet, als Beobachter teilzunehmen, während das uneingeschränkte Wiederaufleben der Mitgliedschaft der Tschechoslowakei auf eben dieser Schlußsession nicht in Frage gestellt war47. Diese unterschiedliche Behandlung der beiden ersten Opfer der deutschen Expansion ist gewiß nicht nur mit der Moskauer Deklaration von 1943 zu erklären, in der die Mitschuld Österreichs an den Handlungen des Deutschen Reiches festgestellt worden war48. Bei dieser Völkerbundsentscheidung vom April 1946 dürfte ebenso auch die Erinnerung an die betonte Distanzierung Österreichs von der Liga während der letzten Jahre vor dem Anschluß eine Rolle gespielt haben. V. Die zu Beginn gestellte Frage, ob die Existenz des Kleinstaats durch den Völkerbund besser gesichert gewesen sei als früher, läßt sich jetzt, als Summe aus dieser skizzenhaften Darstellung der Beziehungen zwischen Österreich und der Genfer Liga, in zweifacher Weise beantworten. Zweifellos wird eine jede internationale Ordnung, die nach den Grundsätzen friedlicher Kooperation und des einvernehmlichen Interessenausgleichs konzipiert ist, für einen Kleinstaat von Nutzen sein, weil die Schwierigkeiten, die aus seiner möglichen, ja sogar natürlichen wirtschaftlichen und machtpolitischen Schwäche herrühren könnten, durch kollektiv beschlossene und durchgeführte Maßnahmen behoben werden und eben nicht Anlaß sein sollten für 46
) I. Plettenberg: Die Sowjetunion im Völkerbund 1934 bis 1939. Bündnispolitik zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung in der internationalen Organisation für Friedenssicherung: Ziele, Voraussetzungen, Möglichkeiten, Wirkungen. Köln 1987, S. 373 f. 47 ) Walters (Anm. 1), Bd. 2, S. 758, Anm. Vgl. auch: C. T. Grayson Jr.: Austria's international Position 1938 - 1953. The re-establishment of an independant Austria. Genf 1953, S. 122; der Wortlaut der österreichischen Note vom 1. 4. 1946: Ebd., S. 228 f., der des Beschlusses der Bundesversammlung vom 12.4.1946: Ebd., S. 229 f. Anders als Österreich war die Tschechoslowakei, ebenso wie Albanien, die beide im Frühjahr 1939 untergangen waren, niemals von der Liste der beitragzahlenden Mitgliedsstaaten gestrichen worden. Ihre Einladung zur Schlußsession der Bundesversammlung läßt sich deshalb nicht als eine Art automatische Wiederzulassung werten, wie man sie in Österreich gem für sich selbst hätte erreichen wollen. Vgl. dazu: N. Feinberg: L"Admission de nouveaux membres ä la Soci6t6 des Nations et ä l'organisation des Nations Unies. In: Acadimie de droit international. Recueil des cours. Jg. 1952. Bd 1. Paris 1953, 293 - 393, hier: S. 383. 4S ) Austria is reminded [...], that she has a responsibility which she cannot evade for participation in the war on the side of Hitlerite Germany [...]" (Declaration on Austria, October 30, 1943; in: Documents on American foreign relations. Bd. 6. Boston 1945, S. 231).
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Interventionen im Sinn der eingangs zitierten Feststellung Clemenceaus. Aber die ebenfalls erörterten Konstruktionsmängel der Liga und vor allem die Entwicklung in der Zwischenkriegszeit selbst können als Belege dafür herangezogen werden, daß ein jedes internationales System stets nur soweit in sich gefestigt ist, als dies seine Mitglieder, namentlich die mächtigeren und einflußreicheren unter ihnen, zulassen und die einem solchen Zusammenschluß nicht Angehörenden nicht in Frage stellen.
PHASEN DER IDENTITÄTSFINDUNG DER DEUTSCHEN IN DER TSCHECHOSLOWAKEI, 1918-1945 von Manfred Alexander
Als am 28. Oktober 1918 in Prag der neue Staat "Tschecho-Slowakei" ausgerufen wurde, stützte er sich auf die Willenserklärung der tschechischen Vertreter verschiedener Parteien; nur zufällig war auch der Slowake Dr. Vavro $robär zu diesem Zeitpunkt anwesend. Am gleichen Tag fand in Genf ein Treffen von tschechischen Parteiführern mit dem Außenminister der Exilregierung, Dr. Edvard Benes, statt, in dem die Heimatopposition (ceskä Maffie) mit dem tschechischen Nationalrat in Paris unter Prof. Dr. Thomäs G. Masaryk zusammengeführt wurde. Vertreter verschiedener slowakischer Organisationen trafen sich am 30. Oktober in St. Martin am Turz (Turciansky Sväty Martin), um - ohne Wissen um die Prager Ereignisse - ihre prinzipielle Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Tschechen zu erklären. Vertreter der anderen Nationalitäten im Staate, der mit diesen Akt vom 28. Oktober aus der Taufe gehoben worden war, wurden nicht beteiligt. Von Seiten der deutsch-böhmischen Politiker wurde mit einer Verlautbarung vom 29. Oktober 1918 eine Zugehörigkeit der deutsch besiedelten Gebiete Böhmens zum Staat Deutschösterreich erklärt, die - ohne daß man dies sagte - einer späteren Zuordnung beider Gebiete zum Deutschen Reich vorausgehen sollte1. Damit war der Konflikt mit den Tschechen vorprogrammiert, die in den Monaten November und Dezember mit militärischer Gewalt die deutschbesiedelten Gebiete besetzten, ohne auf wesentlichen Widerstand zu treffen; in einigen Gemeinden waren die tschechischen Truppen durchaus als Ordnungshüter begrüßt worden 2 . Nach militärischen Aktionen in der Slowakei, wo sich die Grenzziehung nicht an alten Grenzen orientieren konnte, erfolgte ihre Festlegung auf Druck Frankreichs nach militärisch-strategischen und ökonomischen Gesichtspunkten, wodurch über die ethnischen Ansprüche hinaus Gebiete rein ungarischer Bevölkerung gewonnen und in den Pariser Vorortverträgen international abgesichert werden konnten 3 . Der neue Staat verfügte nach der Volkszählung von 1921 über eine Bevölkerung von 13,4 Millionen, von denen 65% unter der Bezeichnung "Tschechoslowaken" zusammengefaßt waren; als zweite Gruppe folgten mit ') Zuletzt dazu: H. Bachmann: Die Landesregierung von Deutschböhmen und das verweigerte Selbstbestimmungsrecht. In: Der Donauraum 30 (1989/90), 13 - 29; zur internationalen Einordnung: F. Leoncini: Die Sudetenfrage in der europäischen Politik. Von den Anfängen bis 1938. Essen 1988; A. Opitz / F. Adlgasser (Hg ): Stimmungsberichte aus Wien: Der Zerfall der europäischen Mitte'. Staatenrevolution im Donauraum. Berichte der sächsischen Gesandtschaft in Wien 1917-1919. Graz 1990. 2 ) Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag. Teil I. Von der Staatsgründung bis zum ersten Kabinett BeneS. 1918-1921. Ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von M. Alexander. MünchenWien 1983 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum. Bd. 49/1). 3 ) Immer noch maßgebend: D. Pertnan: The Shaping of the Czechoslovak State. Leiden 1962.
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3,123 Millionen die Deutschen, weiters mit 745.431 die Magyaren; außerdem gab es Ukrainer, Polen, Juden u. a.4. Im folgenden soll die Gruppe der deutschsprachigen Staatsbürger der ersten Tschechoslowakischen Republik näher betrachtet werden, denn die große Zahl und die spätere Entwicklung suggerieren eine Einheitlichkeit die sich erst am Ende eines langen Weges mit der Bezeichnung "Sudetendeutsche" tatsächlich einstellen sollte. Ein Blick auf die Sprachenkarte der Zwischenkriegzeit zeigt für die Bevölkerungsverhältnisse in Ostmitteleuropa ein typisches Bild: neben einer kompakten Siedlung Deutscher in Nordböhmen, die das tschechische Kernböhmen umklammern, sind Gebiete mit gemischter Besiedlung zu finden, sowie Sprachinseln. Dies trifft sowohl für die Historischen Länder (Böhmen, Mähren und Schlesien) wie für die Slowakei zu, auch wenn die Entwicklung jeweils gesondert betrachtet werden muß. In Karten und Statistiken nicht erfaßbar ist die enge Verzahnung der Bevölkerung: Mischehen waren in den Kontaktzonen häufig, die Kenntnis der anderen Landessprache keine Seltenheit, wobei die Skala von der einfachen Umgangssprache bis zur perfekten Zweisprachigkeit reichte. Besonders im jüdischen Bevölkerungteil, vornehmlich in Prag, war das Bekenntnis zu einer Sprache oft durch den Zufall oder durch Opportunitätsgesichtspunkte bedingt. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war der politische Bezugsrahmen ein nur durch die Dynastie zusammengehaltener Staat gewesen, ohne daß jedoch durch eine Krönung des Herrschers in Prag die historische Individualität der Böhmischen Länder in ähnlicher Weise versinnbildlicht worden wäre, wie dies gegenüber Ungarn nach dem Ausgleich von 1867 geschehen ist. Im zisleithanischen Teil der Monarchie war das deutsche Element zum führenden und staatstragenden aufgestiegen, und die Deutschen in den Böhmischen Ländern konnten sich als Teil des Staatsvolkes fühlen. Deutsch war die Sprache der Verwaltung, des Heeres und der führenden Vertreter von Wirtschaft und Wissenschaft. Auf der Landesebene verstand man sich als "Böhme deutscher Zunge", der einem Landespatriotismus huldigte und oft mit einer gewissen Arroganz über die Tatsache hinwegsah, daß die Deutschen in Böhmen nur etwa 30% der Bevölkerung ausmachten. Da die wichtigen Städte, wie Brünn und die Innenstadt von Prag/Kleinseite, vornehmlich deutsch geprägt waren, fiel das tatsächliche Übergewicht des tschechischen Bevölkerungsteiles, der in den Vorstädten und in den Dörfern der Umgebung siedelte, nicht sonderlich auf 5 . Gegen das politische und intellektuelle Übergewicht der Deutschen in den Böhmischen Ländern hatten die Tschechen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr Fortschritte erzielt. Einem Volk von Bauern, Kleinge4
) Zahlen nach: Geschichte der Tschechoslowakischen Republik. 1918-1948. Hg. v. V. S. Mamatey und R. Luza. Wien - Köln - Graz 1980, Tab. nach S. 56. ) G. B. Cohen: The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague 1861-1914. Princeton, N.J. 1981.
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werbetreibenden und Handwerkern gelang in drei Generationen der Aufbau einer durchorganisierten Gesellschaft, die die enge Bindung an die deutsche Sprache, deren man sich lange bedienen mußte, zunächst lockerte und dann schlicht leugnete6. Dem intellektuellen und ökonomischen Aufstieg der Tschechen entsprach eine Bewußtseinsänderung ihrer Führungseliten; die junge nationaltschechische Intelligenz fühlte sich im Trend der Zeit, verkörperte sie doch den modernen Typus einer auf Effektivität zielenden Bevölkerung, die den deutschen Honoratioren zunehmend mehr Probleme bereitete und sie in die Defensive drängte. Wenn im politischen Geschäft die Bevölkerungszahl wichtig wurde - im Unterschied zum ständisch organisierten Altösterreich -, dann mußte die Tatsache auch politisch relevant werden, daß die Tschechen zwei Drittel der Bevölkerung in Böhmen stellten. Während im Gesamtstaat die Gleichberechtigung des Tschechischen und des Deutschen mit dem Scheitern der Badenischen Sprachen Verordnungen 1897 verhindert worden war, erwarb der tschechische Bevölkerungsteil in den Böhmischen Ländern ein immer stärkeres politisches Gewicht, was sich etwa im Erreichen der Mehrheit im Prager Stadtrat dokumentierte. Mit der Staatsgründung der Tschechoslowakei war der Prozeß zum Abschluß gekommen, der den Aufstieg des tschechischen Volkes aus der politischen und intellektuellen Bedeutungslosigkeit am Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Ausformung einer modernen Gesellschaft am Ende des Jahrhunderts mit sich gebracht hatte. Nunmehr befanden sich die Deutschen im Tschechoslowakischen Staat mit einem Anteil von ca. 23% der Gesamtbevölkerung in einer Minderheit und mußten sich in eine völlig unerwartete Situation schicken. Die erste Phase des nun beginnenden Selbstfindungsprozesses der Deutschen war durch Lähmung gekennzeichnet. Mit der militärischen Inbesitznahme des Landes war das alte Verhältnis plötzlich in das Gegenteil verkehrt worden: viele Städte wurden tschechisch, teils (wie in Brünn) durch die Einbeziehung der Randgemeinden, teils durch die Berücksichtigung der tatsächlichen Bevölkerungsverhältnisse. Das Gefühl, daß die Heimat fremd geworden war, wurde durch die politische Zurücksetzung verstärkt, denn die Deutschen waren weder an der Staatsgründung noch an der Grundlegung der Verfassungsgesetze beteiligt. Nicht allein die Tatsache schmerzte, daß die Tschechen auf die Deutschen verzichten zu können glaubten, sondern noch mehr, daß sie schlicht Erfolg hatten. Waren die traditionellen Fäden nach Wien aber einmal durchtrennt, dann waren die deutschen Gemeinden in Nordböhmen von den alten politischen Zentren abgeschnitten, und untereinander verband die Bewohner von Reichenberg und Eger, Iglau und Kuttenberg nicht mehr Gemeinsamkeiten, als das Leiden an der neuen Situation, das dadurch noch verstärkt wurde, 6
) 0. Urban: teskä spolefnost. 1848-1918. /Die tschechische Gesellschaft. 1848-1918/. Praha 1982; kennzeichnend dafür war die Herausgabe von Enzyklopädien, ζ. B. Ottiv Slovnik naufriy, ab 1888, mit denen die Sprache um viele Begriffe (ζ. B. aus der Technik) bereichert wurde.
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daß ungeschickte Äußerungen tschechischer Politiker sie zu Bürgern zweiter Klasse zu machen schienen7. Der Phase der Lähmung folgte als zweite die der Auflehnung, die auf internationalem Parkett mit dem Versuch verbunden war, für das Kunstprodukt eines Staates mit den Provinzen Deutschböhmen, Sudetenland, Südmähren und Böhmerwaldgau eine Anerkennung zu finden, und innenpolitisch kulminierte sie mit dem Aufruf zu öffentlichen Demonstrationen als Protest gegen das Verbot, an den österreichischen Wahlen teilnehmen zu können. Die wegen einer Überreaktion des tschechischen Militärs in Kaaden zu beklagenden Todesopfer (4. März 1919) wurden zu Märtyrern des deutschböhmischen Selbstbestimmungsrechtes hochstilisiert und müssen diese Rolle bis heute spielen. Die dritte Phase folgte in fließendem Übergang in den Maximalismus der negativ gegen den neuen Staat eingestellten Politiker der Deutschböhmen. Aus der Tatsache, daß die Tschechen und Slowaken allein die "Revolutionäre Nationalversammlung" gebildet und dort die Verfassung geschaffen hatten, folgerten die Maximalisten, daß dieser Geburtsfehler des neuen Staates grundsätzlich behoben werden müsse, ehe man über eine politische Zusammenarbeit von Deutschen und Tschechen im neuen Staate reden könne. So logisch diese Konzeption auch war, hatte sie doch zwei Nachteile: einmal mußten sich auch die Negativisten trotz prinzipieller Ablehnung des Staates an den Wahlen beteiligen, um überhaupt für ihre politische Richtung ein Mandat zu erhalten (damit akzeptierten sie aber die von den Tschechen geschaffenen politischen Grundtatsachen), zum anderen zählt in einer Demokratie nun einmal die Mehrheit in der gesetzgebenden Institution. Solange aber Tschechen und Slowaken untereinander - bei allen politischen Kontroversen - in der Ablehnung der politischen Forderungen der Maximalisten einig waren, so lange bestand keine Chance zu einer Änderung der Verhältnisse. Nun hat es neben den Maximalisten, die in der öffentlichen Diskussion den Ton angaben und andere Meinungen als politischen Verrat diffamierten, immer auch Personen gegeben, die eine Zusammenarbeit mit den Tschechen auch unter den Bedingungen des neuen Staates bejahten. Zählten dazu 1918 deutsche Wirtschaftskreise, so waren seit 1924 die Vertreter der deutschen Parteien der Christlich-Sozialen und des Bundes der Landwirte auf dem Wege zu einer aktivistischen Politik. Ihre Vorstellung war, daß erst über eine politische Mitbestimmung an der Gesetzgebung und an der Verwaltung eine allmähliche Änderung der psychologischen Situation und, darauf fußend, der politischen Bedeutung des deutschen Anteils an der Bevölkerung der Tschechoslowakei folgen müsse. Die politischen Rechte der Staatsbürger in der Tschechoslowakei waren gewährleistet; in der Durchführung der Gesetze und Verwaltungsmaßnahmen indes war von nationaler Unparteilichkeit weniger die Rede. Neben dem Parlament und der Verwaltung hat auch die nationa7
) Vgl. die Rede Masaryks nach seiner Rückkehr aus dem Exil; Gesandtschaftsberichte I (Anm. 2), Dok. 44 und 45.
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listisch gestimmte "Straße" durch Gewaltmaßnahmen Politik im Sinne einer Tschechisierung betrieben oder gefördert ("Beschlagnahme" des deutschen Ständetheaters u. a.). Gegen diese Strömung hat die aktivistische Politik bedächtiger Interessenvertreter lange Zeit wenig Chance gehabt. Erst als mit dem Locarno-Vertrag 1925 die Hoffnung auf eine von außen kommende Lösung erloschen war, als die tschechischen und slowakischen Parteien untereinander infolge ideologischer Fehden oder Interessengegensätze gespalten waren, ergab sich die parlamentarische Notwendigkeit und die Bereitschaft, die Deutschen an der Regierung zu beteiligen (Herbst 1926). Der Eintritt der aktivistischen deutschen Parteien in die Regierung des Staates beschloß die Kampfphase der Entstehung der Tschechoslowakei8. Die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen hatte auch eine Veränderung der Bewußtseinslage zur Folge. Hatte im dynastischen Staat der Habsburger Monarchie der "Böhmische Landespatriotismus" die Sprachengrenze politisch überdeckt, so war der Begründung des "Nationalstaates" der Tschechen und Slowaken eine Polarisierung der Bevölkerung entlang der Sprachgrenze und schließlich ein politischer Kampf der Sprachgruppen gefolgt, der zur Zerstörung der Tradition des übernationalen "Bohemismus" führen mußte: die Deutschen waren zu einer Minderheit geworden. Daraus folgte für das politische Bewußtsein, daß die gleichen politischen Rechte aller Staatsbürger, die von der Verfassung garantiert waren, als zu wenig galten; denn auch die Sprachgruppen als solche sollten politische Rechte erhalten. Hier war nun die Verfassung des Staates aus nationalistischen Gründen inkonsequent, so sahen es die Deutschen: während eine Eingabe an die Verwaltung überall in tschechischer oder slowakischer Sprache angenommen und erledigt werden mußte, wurde die Eingabe in einer "Minderheitensprache" nur dort akzeptiert, wo mindestens 20% eines Gerichtsbezirkes eben diese Minderheitensprache benutzte9. Abgesehen von den Manipulationsmöglichkeiten der Zählung und der Zuschneidung des jeweiligen Gerichtsbezirkes, die weidlich genutzt worden sind, sprach die Verfassung den Sprechern der "tschechoslowakischen Sprache" de facto ein Gruppenrecht zu, den Sprechern anderer Sprachen dies jedoch nur unter bestimmten Bedingungen. Die Deutschen in der Tschechoslowakei hätten sich also nur unter der Bedingung als Teil des tschechoslowakischen Staatsvolkes verstehen können, wenn sie entweder zweisprachig geworden wären oder in Gebieten mit der genehmigten Zweisprachigkeit der Behörden gewohnt hätten. Selbst in diesem Falle hätte von Seiten der Mehrheit die Sprachenfrage liberal gehandhabt werden müssen, was nach der Erfahrung des Sprachkampfes von mindestens zwei Generationen zunächst nur eine Zukunftshoffnung bleiben mußte. War es für die Deutschen auf Grund des Nationalitätenstreites unmöglich, sich einfach als "Tschechoslowaken" zu bekennen, so hatten sie grund8
) Hierzu demnächst Gesandtschaftsberichte. Teil II. 1921-1926. ) L Upscher: Verfassung und politische Verwaltung in der Tschechoslowakei. 1918-1939. München-Wien 1979 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 34), hier S. 53 ff. Q
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sätzlich die Möglichkeit, sich als "Deutsche in der Tschechoslowakei" positiv zum Staate der Mehrheitsnation zu stellen (Aktivismus) oder aber den Staat und die Zusammenarbeit mit den Tschechen abzulehnen (Negativismus). In der politischen Entwicklung lief der Weg vom Negativismus über eine Phase des Aktivismus erneut zum Negativismus, jeweils unter den spezifischen Bedingungen der Zeit. Die Vertreter des Negativismus (besonders die Politiker der Deutschen Nationalpartei und der Deutschen nationalsozialistischen Arbeiterpartei, DNSAP) forderten vor jeder Mitarbeit am Staatswesen die Beseitigung des "Geburtsfehlers" und eine Anerkennung des Grundsatzes der Gleichheit, ohne daß sie ihrerseits eine Bereitschaft zum Erlernen der Staatssprache gezeigt hätten. In ihren Anspruch auf Gleichheit, der ja verständlich war, mischte sich deshalb die Forderung, alles im Staat in deutscher Sprache erledigen zu können, also nicht Tschechisch lernen zu müssen, was de facto die tschechische Mehrheit zur Zweisprachigkeit gezwungen hätte. Unter den Bedingungen der Versteinerung der Fronten in dieser Frage der negativistischen Einstellung zum Staate war eine Zusammenarbeit eigentlich undenkbar; eine solcher Art struktureller Minderheit verharrt in der Opposition, betreibt oft genug Obstruktion und träumt von der Separation, d. h. sie tendiert zur Irredenta. Anders verstanden die aktivistischen Politiker der Deutschen (zunächst die Agrarier und die Christlich-Sozialen, sodann die Sozialdemokraten) ihre Situation im tschechoslowakischen Staate. Zwar beklagten auch sie den "Geburtsfehler" des Staates, glaubten aber nicht an eine demütigende Kehrtwendung der tschechischen Mehrheit, sondern wollten durch eine partielle Zusammenarbeit in Fragen gemeinsamer Interessen zu politischen Kompromissen kommen, die langfristig das Zusammenleben hätten normalisieren können. Der darin liegende Zwang zum Kompromiß setzte aber voraus, daß keine Seite bis ans Ende ihrer Forderung gehen durfte, und er bewirkte, daß keine Seite restlos zufrieden sein konnte. In der Fähigkeit, diese Spannung auszuhalten, hat sich die Reife der Gesellschaft in der Tschechoslowakei in den Jahren von 1926 bis zum Übergreifen der Weltwirtschaftskrise gezeigt. Der Einbruch der Weltwirtschaftskrise (ab 1932) und das Beispiel des nationalsozialistischen Deutschland (ab 1933) bewirkten schließlich ein viertes Verhaltensmuster für die Mehrheit der Deutschen, die nun unter dem Begriff "Sudetendeutschen" ihre politische Formierung erfuhren10. Ausgehend von der Forderung, daß möglichst alle "Deutschen" in einem Staate leben sollten, entstand die Idee eines großdeutschen Staates lange vor Hitler. Auch wenn man die "rassische" Komponente wegläßt - was bei Hitler nicht zulässig ist -, so bedeutete dies, daß die Deutschen in anderen Nationalstaaten noch zu "befreien" seien. In unterschiedlichem Maße sind einzelne "Volksgruppen" oder "Absprengsei des deutschen Volkes" in das Zentrum der Überlegungen
10 ) Der Begriff wurde 1902 offenbar das erste Mal verwendet, J. W. Bruegel: Tschechen und Deutsche. 1918-1938. München 1967, S. 116 f.; in der öffentlichen Diskussion in Böhmen taucht er ab 1924 immer häufiger auf und ersetzt allmählich den älteren Begriff "Deutschböhme"
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und der politischen "Volkstumsarbeit" geraten", wobei die Skala von der verdeckten oder offenen Förderung von Schulen und kulturpolitischen Aktivitäten der "Auslandsdeutschen" bis zum "Anschluß Österreichs" reichte. Solange das erstere nur romantische Deutschtümelei war, blieb eine solche Aktivität ein Ärgernis für die jeweiligen Nationalstaaten. Als aber das Dritte Reich an politischer Macht gewann und den Einsatz von Machtmitteln nicht scheute, um den Auslandsdeutschen dort, wo es genehm schien, politisch zu "helfen", da mußten diese Deutschen als "Fünfte Kolonne" zu einer Gefahr für die innenpolitische Stabilität der Nationalstaaten werden. Verstand sich eine deutsche Sprachgruppe aber erst einmal als "Auslandsdeutsche", dann mußte die Forderung "Heim ins Reich" die letzte Konsequenz dieses Gedankens sein. Aber die Erfüllung dieser Hoffnung war unter den Bedingungen einer jahrhundertealten Mischsiedlung im östlichen Teil Europas an vielen Stellen schlicht unmöglich, wenn man nicht an massenhafte Umsiedlungen dachte; auf jeden Fall aber war sie unhistorisch, weil dadurch die lokalen Traditionen negiert wurden. Die brutale Durchsetzung des deutschen Anspruchs führte zur Zerstörung der jungen Staaten und der alten Gesellschaftsstrukturen. Es verdient festgehalten zu werden, daß jene Mehrheit der Sudetendeutschen, die die Losung "Heim ins Reich" bejubelten, und erst recht jene Minderheit, die dagegen opponierte und nur geringe Konzessionen an den Zeitgeist zu machen bereit war, letztlich in ihren eigenen Wünschen betrogen worden sind. Beide Gruppen mußten nach dem Münchner Abkommen vom 28. September 1938 die Eingemeindung in das Deutsche Reich mit dem Verlust der Rechtssicherheit und der tatsächlichen politischen Selbstbestimmung bezahlen. Viele verstanden lange nicht, daß ihre Vorstellungen vom "Führer" selbst bereits verraten worden waren, der an einer besonderen "Lösung der sudetendeutschen Frage" im Sinne der Tradition des Bohemismus überhaupt nicht interessiert war. So wurde das "Protektorat Böhmen und Mähren" zu einer Halbkolonie des Reiches, in dem die einheimische Bevölkerung kaum über die mittlere Verwaltungsebene aufsteigen konnte12, aber in den Augen der tschechischen Mehrheit mit den Verbrechen der großdeutschen Rassenpolitik identifiziert wurde. Obgleich die Sudetendeutschen selbst zu Opfem geworden waren, blieben sie mit dem Odium der Gewaltherrschaft belastet und bezahlten dafür am Ende des Krieges mit der Flucht oder der Vertreibung. Hatte die politische Emigration während des Krieges die alten Parteigegensätze bewahrt und im Exil den Kampf zwischen deutschen und tschechi11 ) Λί. Alexander: Die Politik der Weimarer Republik gegenüber den deutschen Minderheiten in Ostmitleleuropa. 1918-1926. In: Annali dell' Istituto storico italo-gennanico in Trento 4 (1978), 341-367; R. Smetser: Das Sudetenproblem und das Dritte Reich. 1933-1938. Von der Volkstumspolitik zur Nationalsozialistischen Außenpolitik. München-Wien 1980 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 36). ,2 ) D. Brandes: Die Tschechen unter deutschem Protektorat. Teil I. Besatzungspolitik, Kollaboration und Widerstand im Protektorat Böhmen und Mähren bis Heydrichs Tod (1939-1942). München-Wien 1969; Teil II. ... von Heydrichs Tod bis zum Prager Aufstand (1942-1945). München-Wien 1975.
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sehen Politikern auf eine andere Ebene gehoben (BeneS-Jaksch)13, so brachte erst die Vertreibung das Gefühl der Gemeinsamkeit aller Deutschen, die sich nun gleichermaßen - ob Anhänger oder Gegner Henleins und Hitlers - als "Sudetendeutsche" erkannten und sich auch so bezeichneten. Die letzte Phase der Identitätsfindung war also - als Ironie der Geschichte - mit der Auflösung eben dieser Identität verbunden, denn als Sudetendeutsche in der Emigration in der neu entstehenden Bundesrepublik Deutschland oder der DDR waren sie zu einer Gruppe geworden, die sich ökonomisch und sozial an die neue Umgebung anpaßte, wenn auch einige aus Nostalgie oder aus politischem Kalkül an einer sudetendeutschen Identität festhielten. Die dadurch bedingte Schizophrenie wird zum einen durch den biologischen Prozeß, zum anderen durch die politischen Rahmenbedingungen in den Beziehungen der beiden beteiligten Staaten beendet werden. In anderer Weise ist die Identitätsfrage für die Deutschen in der Slowakei zu sehen. Dort siedelte zu Beginn der neuen Staatlichkeit der deutsche Bevölkerungsteil mit ca. 150.000 Menschen in drei Gebieten: in Preßburg (Bratislava, Pozsony), in den Bergstädten der Mittelslowakei (Hauerland) und in den Städten und Dörfern der Zips (Spis, Szepes) 14 . Gemeinsam war ihnen ein national wenig entwickeltes Bewußtsein, die geringe Kenntnis voneinander und die Affinität zum Magyarischen, die sich in der kulturellen und politischen Zusammenarbeit mit den Ungarn äußerte. Reichsdeutsche Beobachter haben wiederholt den geringen nationalen Bewußtseinsgrad der Deutschen in der Slowakei beklagt 15 und nicht verstanden, daß die deutsch-ungarländische Tradition den Einbruch des modernen Denkens behindert hat. Dazu kommt, daß in dem neuen Staat die Moderne in Gestalt von tschechischen Lehrern, Verwaltungsbeamten und tschechischer Gesetzgebung auch den meisten Slowaken wenig reizvoll erschien, die sich darum nur zu einem Teil den tschechoslowakischen Parteien anschlossen. Das Gefühl der Unterlegenheit einte Slowaken und andere gegenüber den Tschechen; aber bald nutzten die aufstrebenden slowakischen Intellektuellen katholischer Orientierung den Unterschied zu den vormals dominierenden Ungarn und der mit diesen sympathisierenden Deutschen zur eigenen Profilierung. Selbst wenn die Deutschen im Lande sich der slowakischen Autonomiebewegung der Katholischen Volkspartei und Andrej Hlinka angeschlossen hätten, wären sie in der Minderheitsposition verblieben, was sich angesichts des slowakischen Nationalismus kaum besser ausgewirkt hätte, als die Stellung unter der tschechischen Patronanz. Diese doppelte Minderheitensituation verstärkte bei den Deutschen 13
) Μ. K. Bachstein: Wenzel Jaksch und die sudetendeutsche Sozialdemokratie. München-Wien 1974 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 29); Wenzel Jaksch-Edvard Beneä. Briefe und Dokumente aus dem Londoner Exil. 1939-1943. Hg. v. F. Prinz. Köln 1973. 14 ) E. Jahn: Die Deutschen in der Slowakei in den Jahren 1918-1929. Ein Beitrag zur Nationalitätenpolitik. München-Wien 1971 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 25). 15 ) M. Alexander: Slovakia in the Files of the German Foreign Offlee, 1918-1921. In: Slovak Politics. Essays on Slovak History in Honour of Joseph M. Kirschbaum. Hg. v. S. J. Kirschbaum. Cleveland-Ohio-Rome-Italy 1983, 68-156.
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in der Stadt oder auf dem Lande den Zug zum Unpolitischen und die alte Gemeinsamkeit mit den Ungarn, mit denen sie wenigstens die Vergangenheit teilten. In der Arbeiterbevölkerung der Mittelslowakei ergab sich jedoch aus dieser spezifischen Situation der Ausbruch in den organisierten Protest, der sich darin zeigte, daß die KPC als einzige übernational organisierte Partei im Lande unter der deutschen Bevölkerung große Erfolge erzielen konnte16. Das übrige Parteiwesen zeichnete sich durch Unübersichtlichkeit und eine hohe Fluktuation aus, weil die starken sozialen und konfessionellen Gegensätze eine nationale Einheitspartei ausschlossen. So wurde eher über den "Deutschen Kulturverband" (seit 1919) längerfristig mit der Unterstützung des deutschen Schulwesens eine gewisse nationale Ausrichtung gefördert, in der deutsche Lehrer aus Böhmen eine gewisse Rolle spielten. Verbindungen mit Turnvereinen und Jugendorganisationen in Böhmen gingen in die gleiche Richtung, wodurch die allmähliche Politisierung gefördert wurde. Eine weitere Orientierung an der sudetendeutschen Entwicklung erfolgte mit der Gründung der "Karpatendeutschen Volksgemeinschaft" (1927-1929), die dann als Karpatendeutsche Partei ihre Fortsetzung fand17. Ihr Mitbegründer Franz Karmasin lag auf der politischen Linie von Konrad Henlein und versuchte die "Sammlung" der Deutschen in der Slowakei; in den Wahlen von 1935 konnte er fast die Hälfte der Stimmen der Slowakei-Deutschen gewinnen. Da andererseits die Deutschen in verhältnismäßig großer Zahl die KPÖ wählten, zeigt sich, daß von einer nationalen Einheitlichkeit, gar von einem karpatendeutschen Identitätsgefühl, keine Rede sein konnte. Als mit der Ausrufung des Slowakischen Staates am 15. März 1938 die politischen Rahmenbedingungen verändert worden waren18, hatte sich zwar die doppelte Minderheitsstellung der Deutschen vereinfacht, aber insgesamt blieb die Lage schwierig. Obwohl der nationalistisch eingestellte slowakische Staat mit den Deutschen nicht viel anfangen konnte, mußte er doch, weil vom Deutschen Reich abhängig, die deutsche Partei des Franz Karmasin als einzige politische Partei neben der "Staatspartei" (Hlinkovä slovenskä l'udova strana) akzeptieren. Diese übernahm gewissermaßen eine Kontrollfunktion für die Loyalität der Slowaken19, war über den Sicherheitsdienst und die SS mit den nationalsozialistischen Stellen verbunden und ging bei der "Vertretung der Belange der Deutschen Volksgruppe", für die Karmasin als Staatssekretär tätig wurde, weit über den Einfluß des zahlenmäßig geringen deutschen Bevölkerungsanteils hinaus, was sich ζ. B. bei der Verfolgung der Juden verhängnisvoll bemerkbar machte. Auch der Deutschen Partei gelang es jedoch nicht, alle Deutschen im Lande auf die nationalsozialistische Linie festzulegen, denn im Slowakischen 16
) E. Jahn (Anm. 14), S. 129 ff. ) ü. Kovac: Deutsche Partei ν politickön systime slovenskiho stätu./Die Deutsche Partei im politischen System des slowakischen Staates/. In: Slovensko ν rokoch Jruhej svetovej vojny/ Die Slowakei in den Jahren des Zweiten Weltkrieges/ Bratislava 1991, 131-134. 18 ) J Κ Hoensch: Die Slowakei und Hitlers Ostpolitik. Hlinkas Slowakische Volkspartei zwischen Autonomie und Separation 1938/39. Köln-Graz 1965. 19 ) D . Kovac (Anm. 17), S. 133. 17
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Nationalaufstand waren auch auf Seiten der Aufständischen Deutsche zu finden. Nichtsdestoweniger traf die Deutschen bei Kriegsende dasselbe Schicksal: die Gewaltmaßnahmen, die Rechtlosstellung und die Vertreibung20. Gewissermaßen erst in der Emigration sind die Karpatendeutschen unter einem Begriff geeint worden und haben ihren Sonderstatus im Schatten der Sudetendeutschen gefunden.
20
) Der Leidensweg der Karpatendeutschen 1944-1946. Eine Dokumentation. Hg. v. Arbeitsgemeinschaft der Karpatendeutschen. Stuttgart 1983.
A. Hudak.
ZUM VERHÄLTNIS KATHOLISCHE KIRCHE UND NATIONALSOZIALISMUS - DAS BEISPIEL AACHEN* von Elmar Gasten
Mit der katholischen Kirche stand dem Nationalsozialismus - anders als in der evangelischen Kirche mit ihren verschiedenen Landeskirchen und innerprotestantischen Differenzierungen - eine geschlossene Organisation gegenüber, die über unbestrittene Autoritäten in Gestalt des Papstes, des Episkopats und der Ortsgeistlichen verfügte. Sieht man von den frühen Warnungen des Münchener Studentenseelsorgers Pater Erhard Schlund OFM 1 einmal ab, nahm die katholische Kirche zunächst einmal kaum Notiz von der NSDAP. Spätestens seit der Wahl zum Reichstag vom 14. September 1930 konnte niemand in Deutschland die Erfolge der NSDAP ignorieren. Bedingt durch die nur einmal jährlich stattfindende Fuldaer Bischofskonferenz erschien erst am 17. August 1932 eine Erklärung des Gesamtepiskopats 2 , in der die Bischöfe - eindeutig ablehnend Stellung zum Nationalsozialismus bezogen. Vorangegangen waren im Laufe des Jahres 1931 Erklärungen einzelner Bischöfe. Obwohl verschiedene Bischöfe die Gefahren des Nationalsozialismus offen angesprochen hatten, fanden im Sommer 1932 - im zeitlichen Umfeld der Fuldaer Bischofskonferenz - Verhandlungen zwischen dem Zentrum, der politischen Organisation des Katholizismus und der NSDAP über eine Zusammenarbeit statt. Diese Verhandlungen scheiterten jedoch an den unüberbrückbaren Gegensätzen; eine Zusammenarbeit von Zentrum und NSDAP war auch für die Zukunft in weite Ferne gerückt. Die Ereignisse des 30. Januar 1933 und der folgenden Wochen besiegelten das Ende des politischen Katholizismus. Obwohl das Zentrum in einem letzten Akt der bedingungslosen Anpassung an das neue Regime am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zustimmte, konnte es damit sein Ende nicht aufhalten: am 5. Juli kam das Zentrum dem drohenden Verbot durch die Selbstauflösung zuvor. An dieser Entwicklung war die katholische Kirche nicht unschuldig; trotz aller Warnungen vor dem Nationalsozialismus hatte sie keine energischen Anstrengungen unternommen, die parlamentarische Regierungsform und demokratische Republik zu verteidigen. Davon unberührt bleibt die Tatsache, daß die bis in den März 1933 gültigen Warnungen der Bischöfe ein Eindringen des Nationalsozialismus in den katholischen Wählerstamm verhinderten. Einen einschneidenden Positionswechsel der katholischen Kirche stellte die Kundgebung der Fuldaer Bischofskonferenz vom 28. März 1933 dar.3 War Stark gekürzte Fassung aus: Elmar Gasten: Aachen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft 1933-1944. phil Diss. Köln 1990 (erscheint in Kürze). ' ) E. Schlund: Neugermaniscbes Heidentum im neuen Deutschland. München 1924. 2 ) B. Stasiewski: Akten deutscher Bischöfe Uber die Lage der Kirche 1933-1945. Bd. 1 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bd. 5). Mainz 1968, S. 843 f. 3 ) B. Stasiewski, (Anm. 2), S. 30 f.
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noch im Wahlkampf für die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 ein strikt antinationalsozialistischer Kurs verfolgt worden, hatte man jetzt, nicht zuletzt aufgrund der Erklärung Hitlers vom 23. März, die Hoffnung, "das Vertrauen hegen zu können, daß die vorbezeichneten Verbote und Warnungen nicht mehr als notwendig betrachtet zu werden brauchen."4 Mit dieser Erklärung, die auch einzelne Mitglieder des Episkopats nur schweren Herzens mittrugen5, öffnete sich der Katholizismus - gewollt oder ungewollt - weit für den Nationalsozialismus; v. a. im "einfachen" Volk wurde die Erklärung vom 28. März als "Unbedenklichkeitsempfehlung" empfunden. Das dem Dritten Reich zögernd entgegengebrachte Vertrauen schien seine endgültige Bestätigung in dem überraschend schnell zustandegekommenen Reichskonkordat zu finden; damit hatte sich die katholische Kirche im Juli 1933 "gewissermaßen in letzter Minute eine Verteidigungslinie geschaffen, die sie gegenüber dem nationalsozialistischen Staat mit aller Zähigkeit verteidigte."6 Sicherlich wurde das Konkordat zunächst einmal nicht als "Verteidigungslinie" betrachtet, sondern als Erfüllung eines seit Beginn der Weimarer Republik gehegten Wunsches gefeiert. Die Funktion des Konkordates als "Verteidigungslinie" sollte sich jedoch nur allzu bald zeigen, da Hitler und die NSDAP den Vertrag mit der Kirche als lästige Fessel empfanden; die Kirche konnte sich nur kurze Zeit einer trügerischen Hoffnung hingeben. Kristallisationspunkte der Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Nationalsozialismus wurden die "fortschreitende Unterdrückung der katholischen Vereinstätigkeit, der katholischen Beamtenschaft, der Jugendarbeit und der Presse."7 Mit den sich häufenden Repressalien sah sich die Kirche in den folgenden Monaten und Jahren vor die Aufgabe gestellt, ihre Aufgabenbereiche, ja letztlich ihre Existenz zu verteidigen. Stadt und Regierungsbezirk Aachen stellten wegen des sehr hohen Katholikenanteils in der Bevölkerung (ca. 90%) einen Sonderfall im Reich dar; nur Trier war mit 89% vergleichbar. Die Haltung der Bevölkerung zum Nationalsozialismus war eng verbunden mit der Haltung zur Kirche, die in dieser Region einen immensen Einfluß ausüben konnte, was selbst im Oktober 1944, nach der Einnahme der Stadt durch US-Truppen, noch galt: "Die Diözese Aachen hat 1,2 Millionen Katholiken und 1.000 Priester. Der Einfluß dieser Geistlichen in diesem tief katholischen Landesteil kann nicht genug unterstri-
4
) Auch der Aachener Bischof Dr. Vogt hatte im Echo der Gegenwart vom 29. Marz 1933 Stellung bezogen; dort wurden - zwischen den Zeilen - Vorbehalte deutlich, die jedoch die Masse der Gläubigen nicht wahrgenommen haben werden . 5 ) L Volk: Der Bayerische Episkopat und der Nationalsozialismus 1930-1934 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 1). Mainz 1965, S. 73. 6 ) P. Maser: Kirchenkampf "von außen". Die Deutschland-Berichte über Kirchen und Christen im Dritten Reich. In: W. Plum (Hg.): Die "Grünen Berichte" der Sopade. Gedenkschrift für Erich Rinner. Bonn 1984, S. 383. 7 ) R. Baumgartner: Weltanschauungskampf im Dritten Reich. Die Auseinandersetzung der Kirchen mit Alfred Rosenberg (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 22). Mainz 1977, S. 141.
Zum Verhältnis katholische Kirche und Nationalsozialismus
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chen werden."8 Einige Zahlen - bezogen auf das Jahr 1933 - machen deutlich, welches Gewicht die katholische Kirche in der Stadt Aachen besaß: Es gab 16 Pfarren und 2 Rektorate mit 76 Pfarrgeistlichen; hinzu kamen 37 Seminaristen. In den insgesamt 42 Ordensniederlassungen waren rd. 1.700 Nonnen und Patres; der große Teil der katholischen Bevölkerung gehörte zumindest einem der 60 kirchlichen Vereine an.9 Vor diesem Hintergrund ist auch der Stellenwert der Erklärung der Fuldaer Bischofskonferenz vom 28. März 1933 zu sehen. 1933 stand an der Spitze der Aachener Diözese10 Dr. theol. Joseph Vogt "[...] ein betont nationaler und konservativer Mann, dem der Aachener Regierungspräsident eine tiefe vaterländische Einstellung attestierte."11 Ungeachtet dieser nationalen Grundhaltung gehörte Vogt zur Gruppe derjenigen Bischöfe, die gegen die von Kardinal Bertram entworfene Kundgebung vom 28. März Bedenken vorbrachte, die sich aber v. a. gegen das überhastete Zustandekommen richteten. Das Verhältnis des Aachener Bischofs (als oberster Repräsentant der katholischen Kirche im Regierungsbezirk Aachen) zu den neuen Machthabers in der Anfangsphase des Dritten Reiches muß unter den besonderen Vorzeichen gesehen werden, unter denen sich die Machtübernahme in Aachen vollzog. Trotz gravierender Veränderungen in der Verwaltung blieb zunächst der Eindruck eines "normalen" Wechsels in der Regierungsverantwortung gewahrt. So bestanden auch kaum Berührungsängste zwischen der Kirche und den staatlichen Instanzen, insbesondere Bischof Vogt und Regierungspräsident Reeder versicherten sich ihrer gegenseitigen Hochachtung. Während des von einer gewissen Euphorie geprägten Anfangsstadiums des Dritten Reiches besuchte Hermann Göring die Stadt Aachen (27. Juli 1933). In dieser Situation stand auch Bischof Vogt nicht abseits: gemeinsam mit Göring nahm er von der Freitreppe des Aachener Rathauses den Vorbeimarsch der SA- und SS-Verbände ab. Trotz aller schon zu diesem Zeitpunkt sichtbaren Spannungen, die jedoch durch den Abschluß des Reichskonkordats beseitigt zu sein schienen, muß dieses gemeinsame Auftreten von Göring und Vogt für weite Teile der Bevölkerung Symbolcharakter gehabt haben, konnte dieses einträchtige Nebeneinander doch nur heißen, daß einer Aussöhnung nichts mehr im Wege stand. Bereits im Zuge der Kundgebung der Fuldaer Bischofskonferenz vom 28. März 1933 hatte Bischof Vogt, wohl getragen von der Illusion einer friedlichen Koexistenz von Kirche und Staat, Richtlinien für den Klerus herausgegeben, in denen das Verhältnis zu den Anhängern der NSDAP neu geregelt 8 ) L Volk: Ausblick auf Trümmern. US-Protokoll Uber eine Befragung des Bischofs Jobannes Joseph van der Velden nach der Einnahme Aachens im Oktober 1944. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 88/89 (1981/82), 205-214. 9 ) Zahlen nach: Bischöfliches Generalvikariat Aachen (Hg ): Realschematismus der Diözese Aachen. Gladbach-Rheydt 1933. 10 ) Vgl. J. Reuter: Die Wiedererrichtung des Bistums Aachen (=Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen, Bd. 35). Mönchengladbach 1976; Bischöfliches Generalvikariat Aachen (Hg ): Fünfzig Jahre Bistum Aachen. Aachen 1980; H.-G. Schmaenberg: Köpfe - Gestalten Bistum Aachen - Schlaglichter (Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen, Bd. 40). Aachen 1983. ") K. Fettweis: Zwischen HerT und Herrlichkeit. Zur Mentalitätsfrage im Dritten Reich an Beispielen aus der Rheinprovinz ^Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen, Bd. 42) Aachen 1989, S. 96.
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wurde 12 Hatte die Aachener Kirchenzeitung in den Jahren 1930-1932 mehrfach eindringlich vor den Gefahren des Nationalsozialismus gewarnt 13 , kam in den Richtlinien eine deutliche Kompromißbereitschaft zum Ausdruck: Parteigenossen durften in Zukunft in Uniform am Gottesdienst teilnehmen; die Parteizugehörigkeit sollte "hinsichtlich des Sakramentenempfanges" kein Grund zur Beunruhigung sein; Fahnen politischer Organisationen sollten durch "vorherige freundliche Verständigung" nicht in die Kirchen mitgebracht werden, sollte eine Verständigung darüber nicht möglich sein, "so ist ein öffentlicher Skandal [...] zu vermeiden"; "Veranstaltung von Festgottesdiensten für politische Parteiorganisationen ist [...] im allgemeinen zu unterlassen." Am gleichen Tag wandte sich der Bischof im "Echo der Gegenwart" an die katholische Bevölkerung mit einer "Mahnung zur Treue gegenüber der rechtmäßigen Obrigkeit und zur gewissenhaften Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten." 14 Insgesamt betrachtet, erlebte der Aachener Bischof die ersten Monate der NS-Herrschaft als "Zeit der Illusionen".15 Seine nationale Grundhaltung und der vom Gesamtepiskopat verfolgte Kurs der Anpassung an das Regime trübten seinen Blick für die Realität, die nicht nur aus dem Abschluß des Reichskonkordats bestand. Der Wunsch, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren16, war unübersehbar. Dies war jedoch keine einseitige Angelegenheit; auch die NSDAP versuchte, einen modus vivendi zu finden. So veröffentlichte der Westdeutsche Beobachter ζ. B. regelmäßig die Gottesdienstordnung der katholischen Kirchen. 17 Zur "Inszenierung" des 1. Mai 1933 gehörte ein Pontifikalamt auf dem Katschhof, das in den Berichten der NS-Presse besondere Erwähnung fand. Man wird sicher nicht fehlgehen in der Annahme, daß hinter diesem Bemühungen der NSDAP die Einsicht stand, die Dominanz des "katholischen Milieus" nicht ohne Zugeständnisse brechen zu können. Die Zerrissenheit des Bischofs zwischen national gefärbten Hoffnungen und allmählicher Erkenntnis der von dem NS-Regime ausgehenden Gefahren für die Kirche wird deutlich aus Vogts Aufruf an seine Diözesanen anläßlich der Abstimmung über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund. Unter der plakativen Überschrift "Vaterländische Pflicht!" fordert er die Katholiken seines Bistums auf, "am 12. November die Einstimmigkeit mit den übrigen Volksgenossen zu beweisen." Der unmittelbar folgende Satz drückt jedoch die zunehmende Ernüchterung aus: "Dabei vertrauen wir auf des Herrn Reichs12
) K. Fettweis (Anm. 11), S. 244 Dokument Nr. 5. )A. Brecher: Kirchenpresse unter NS-Diktatur. Die katholische Kirchenzeitung für das Bistum Aachen im Dritten Reich. Aachen 1988, S. 20 ff. 14 ) Echo der Gegenwart vom 29. März 1933. 15 ) So K. Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd.l: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934. Frankfurt-Berlin-Wien 1977. 16 ) 1934 heißt es in einem Lagebericht: "Zwischen dem Bischof bzw. seinem Generalvikar und der Regierung herrscht ebenfalls ein durchaus sachlicher, in angenehmen Formen sich bewegender Verkehr [...]." In: B. Vollmer: Volksopposition im Polizeistaat. Gestapo- und Regierungsberichte 1934-1936 (=Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 2). Stuttgart 1957, S. 75. 17 ) Ζ. B. auch noch 1937, als die zweite Welle der "Sittlichkeitsprozesse" gegen Geistliche und Ordensangehörige inszeniert wurde. Hatte der Westdeutsche Beobachter den 70. Geburtstag von Bischof Vogt noch sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen (8. September 1935), war ihm sein Tod nur noch eine kurze Notiz wert (8. Oktober 1937). 13
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kanzlers Wort daß nun endgültig unter die für so viele treue Staatsbürger schmerzliche Vergangenheit ein Strich gezogen ist und uns Katholiken das Friedenswerk des Konkordats unter Ausschluß von Abstrichen, Umdeutungen und Übergriffen gesichert bleibt."18 Zu diesem Zeitpunkt gab es - wie in anderen Bistümern auch - tatsächlich Anlaß genug, das Verhältnis der Kirche zu dem neuen Staat zu überdenken. Der Aachener Bischof zählte jedoch nicht zu den Kämpfernaturen, was bei zunehmender Behinderung und Unterdrückung der kirchlichen Arbeit auch in Teilen des Aachener Klerus beklagt wurde. Vor allem im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Bekenntnisschule wurde ein offener Protestkurs gefordert. Wie der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, der Breslauer Kardinal Bertram, mit seiner "Eingabenpolitik", gab auch die Aachener bischöfliche Behörde "gegenüber spektakulären Aktionen stiller Aufklärungsarbeit den Vorzug."19 Im September 1933 erschien auf der Ebene der Diözese erstmals die "Katholische Kirchenzeitung für das Bistum Aachen".20 Die neue Kirchenzeitung hatte sich zunächst gegen die Konkurrenz der übrigen katholischen Presse im Bistum - die Kölner und Essener Kirchenzeitung sowie diverse katholische Sonntagsblätter - durchzusetzen. Dies erwies sich trotz der eindeutigen Favorisierung durch den Bischof als schwierig, zumal die Finanzlage sehr angespannt war. Dennoch konnte sich die Kirchenzeitung unerwartet schnell etablieren: im Juni 1933 hatte die Auflage des "Sonntags" 27.888 Exemplare betragen; die Gesamtauflage der Kirchenzeitung stieg dagegen rapide von 39.610 (Dezember 1933) auf 95.973 (Dezember 1934). In den Jahren 1935/36 konnte die Auflage nochmals gesteigert werden: von 102.568 (Dezember 1935) auf 120.552 (Dezember 1936). Damit gehörte die Aachener Kirchenzeitung zu den bedeutendsten Diözesanzeitungen überhaupt. Der hohe Verbreitungsgrad machte sie zu einem hervorragenden Instrument der Integration der Katholiken im Bistum. Die auf ausdrücklichen Wunsch des Aachener Bischofs gegründete Kirchenzeitung lehnte sich im wesentlichen an dessen Kurs gegenüber dem Nationalsozialismus an. Wie die gesamte deutsche Presse mußte auch die Kirchenpresse den besonderen Bedingungen der Berichterstattung im Dritten Reich ihren Tribut zollen. Ausgehend von dem am 4. Oktober 1933 erlassenen Schriftleitergesetz versuchte der NS-Staat, die Gleichschaltung der Presse zu erzwingen; dabei gelang es der kirchlichen Presse zunächst, sich einer Kontrolle zu entziehen. Seit 1935 war die Zensur verschärft worden; die Aachener Kirchenzeitung wurde in diesem Jahr zweimal von der Gestapo beschlagnahmt. In der Folgezeit durften die Kirchenzeitungen nur noch Artikel mit "rein religiösem" Inhalt abdrucken; zudem wurde durch sog. Sprachregelungen massiver Einfluß auf die Inhalte ausgeübt. Die Arbeit der Redaktion wurde immer mehr zu einer " ) Echo der Gegenwart vom 9. November 1933. 19 ) K. Fettweis (Anm. 11), S. 150; Fettweis zählt - auf der Basis des Quellenmaterials des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen - nahezu vollständig alle möglichen Zusammenstöße von Priestern mit Staats- und Parteistellen auf, was die breite Palette des "Kirchenkampfes" im Bistum Aachen widerspiegelt. 20 ) A Brecher (Anm. 13).
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Gratwanderung zwischen staatlichen Ansprüchen und der Verantwortung gegenüber den Lesern, die nun verstärkt darauf angewiesen waren, zwischen den Zeilen zu lesen. Vor allem während des Krieges erschienen Artikel, die an die Grenze des von der Kirche Verantwortbaren herangingen bzw. sie überschritten. Dies war letztlich der Preis für die Weiterexistenz der Kirchenzeitung; Überlegungen, die Kirchenzeitungen ganz einzustellen und sich damit jeglicher Beeinflussung zu entziehen, hatte es schon seit der Unterstellung der Kirchenzeitungen unter das Schriftleitergesetz (1937) gegeben. Die Erhaltung der Kirchenzeitungen war jedoch zugleich eine Entscheidung zur Sicherung eines - wenn auch beschränkten - Einflusses auf das Kirchenvolk gewesen. Ein weiterer Kristallisationspunkt im Verhältnis von Kirche und Staat/Partei war der Kampf um die Jugend, deren Bedeutung für die Zukunft auf beiden Seiten erkannt wurde. Bereits früh kam es in Aachen zu Auseinandersetzungen zwischen der HJ und konfessionellen Jugendverbänden, die von Regierungspräsident Reeder nicht zuletzt wegen des "grenzpolitischen Interesses" mit Sorge zur Kenntnis genommen wurden, da er "ernsthafte kulturpolitische Schwierigkeiten" befürchtete.21 Der korrekten Amtsführung des Regierungspräsidenten widersprach darüber hinaus die ungeklärte Frage über die Zulassung katholischer Jugendorganisationen, die 1933 im Kompetenzwirrwarr um die Stellung des Reichsjugendführers offen geblieben war. Wie sehr Reeder am Ausgleich der Mißstimmungen im Bereich der Jugenderziehung gelegen war, verdeutlicht sein Bericht an den preußischen Innenminister vom 8. November 1933 über "Hitler-Jugend - katholische Jugendorganisationen und katholische Kirche".22 Dieser betont sachlich und ausgewogen gehaltene Bericht zeichnet ein realistisches Stimmungsbild der Situation am Ende des Jahres 1933. Er macht zugleich deutlich, daß das Vertrauen, welches ihm von kirchlicher Seite entgegengebracht wurde, gerechtfertigt war. Bei der Durchsicht des Berichts drängt sich aber der Eindruck auf, daß Reeder zu diesem Zeitpunkt die Problematik zu "naiv" sah. Für den aufmerksamen Beobachter mußte es im November 1933 klar sein, daß die Partei ihren Anspruch auf die Führung der Jugend nicht mit einer anderen Organisation - und erst recht nicht mit der Kirche - teilen würde. Für die Entwicklung innerhalb der katholischen Jugend ist v. a. Reeders Beobachtung erwähnenswert, daß sie "sich immer mehr den äußeren Merkmalen der HJ, zum Teil auch der SA in den letzten Monaten angepasst haben, z. B. deren Rangabzeichen einführen und in zunehmendem Umfange wehrsportliche- und Geländeübungen abhalten, insbesondere aber in den öffenüichen Aufmärschen durch die Einheitskluft, Schulterriemen, Wimpel usw. zunehmend einen militärisch disziplinierten Eindruck erwecken." Offenkundig versprachen sich die katholischen Organisationen durch diese Anpassung eine zusätzliche Attraktivität für Jugendliche! Solchen Bestrebungen stand die HJ äußerst mißtrauisch gegenüber; die Mehrzahl der Zusammenstöße nahm ihren Ausgangspunkt bei der Uniform21 22
) LHA Koblenz, 403/16843, Bll. 87 ff. (24. Juni 1933).
) Ebd.
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frage. Obwohl die Rechtslage den katholischen Jugendorganisationen zu dieser Zeit ein uniformiertes Auftreten nicht verwehrte, erhielt "die HJ nach ihrer Angabe von ihrer Oberführung andauernd Anweisung, jegliche Aufzüge, Ausmärsche und Spaziergänge in Kluft und Wimpeln evü. mit Gewalt zu verhindern." Die HJ mußte sich von Reeder wegen ihres provokativen Auftretens, das unnötige Schärfen in die Auseinandersetzungen brachte, harsche Kritik gefallen lassen. Für das - aus Sicht Reeders - unkluge Auftreten der HJ machte er die Qualität der HJ-Führer verantwortlich, die "im umgekehrten Verhältnis zu der Grösse der hier zu erledigenden, fast historisch zu nennenden Aufgaben" stand. Als besondere Belastung erwies sich die Berufung Gottfried Tersteegens23 zum HJ-Oberbannführer im Oktober 1933. Tersteegen, seit 1931 führend in der Aachener HJ tätig, hatte sich bereits häufig durch antikirchliche Parolen profiliert. Die Beförderung Tersteegens löste auf katholischer Seite heftige Proteste aus.24 Reeder hatte erhebliche Mühe, den Konflikt beizulegen; die Aachener Geistlichen kündigten für den Christkönigstag eine Kanzelverkündigung an, in der alle Eltern ausdrücklich gewarnt werden sollten, ihre Kinder der HJ anzuvertrauen. Der Kreisleiter Eduard Schmeer betrachtete die Berufung Tersteegens als reine Parteiangelegenheit und verbat sich jede Einmischung des Regierungspräsidenten. Daraufhin sah Reeder sich gezwungen, unmittelbar mit der Gauleitung in Kontakt zu treten; der Gauleiter erteilte dem Aachener HJ-Führer eine Verwarnung und untersagte die Verteilung antikirchlicher Flugblätter. Trotz der massiven Proteste aus Kirchenkreisen wurde die Beförderung Tersteegens nicht rückgängig gemacht; bis 1935 blieb er als HJ-Führer in Aachen. Insgesamt wird Reeders Beurteilung der Gesamtsituation von der Kenntnis der besonderen Schwierigkeiten der NSDAP in seinem Bezirk geprägt. Eine Behebung des bestehenden "Kampfzustandes" sah Reeder in einem Kompromiß: die Verteilung der Aufgaben der Jugenderziehung einerseits auf die HJ (weltliche Erziehung) und andererseits auf die katholischen Organisationen (religiöse Erziehung). Dieser Vorschlag entbehrte jedoch jeder realistischen Grundlage, da er die Unvereinbarkeit der beiden Weltanschauungen außer acht ließ. Um die Jahreswende 1933/34 verschärften sich die Auseinandersetzungen erheblich.25 Sowohl von der HJ als auch von der katholischen Jugend wurden an den verschiedensten Stellen im Stadtgebiet Parolen auf Häuserwänden angebracht, die den tiefen Graben zwischen den Jugendorganisationen aufzeigten: "Schwarze Separatistenhunde", "Sturmschärler - Du bist ein feiger Landesverräter, Deine Führer sind schwarze Hunde" - "Hinein in die Sturmschar. Das Zentrum lebt." Daneben häuften sich jedoch auch die handgreiflichen Konflikte, die ein Einschreiten der Polizei notwendig machten. Eine Veranstaltung des Katholi23
) Gottfried Tersteegen (15. November 1898 - 2. Juli 1941); Parteiei.itritt: 1. August 1930; seit 1929 NSDStB (Hochschulgruppenführer); seit 1931 führend in der Aachener HJ; NSDAP-Ratsherr der Stadt Aachen; seit 1936 in der SS (zuletzt SS-Untersturmführer) (vgl. BDC, Akte Tersteegen). 24 > Vgl. LHA Koblenz, 403/16843, Bl. 145/153. 25 ) Ebd.. 403/16845, Bll. 305 ff.
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sehen Jungmännerverbandes am 21. Januar 1934 in Aachen wurde vom Polizeipräsidenten "auf Grund der angespannten Lage und zur Wahrung von Ordnung und Sicherheit" verboten. Diesem Verbot war am 20. Januar eine Anordnung der Staatspolizeistelle Aachen vorausgegangen, nach der den konfessionellen Jugendverbänden das Tragen einer einheitlichen Kluft, jedes geschlossene Auftreten in der Öffentlichkeit, öffentliche Kundgebungen in Wort und Schrift und jede sportliche Betätigung untersagt war.26 Was jedoch nach wie vor fehlte, waren einheitliche Bestimmungen bezüglich der Jugendverbände. Mit Schreiben vom 28. April 1934 forderte der Aachener Regierungspräsident deshalb die Erweiterung der Tagesordnung für die folgende Regierungspräsidentenbesprechung um den Punkt: "Einheitliche Anordnung über Beschränkung der konfessionellen Jugendarbeit." 27 Reeders Vorstellungen deckten sich dabei mit Lünincks Wünschen; auch der Oberpräsident empfand eine einheitliche Regelung als unbedingt wünschenswert, konnte aber in Berlin mit seinen Vorstellungen nicht durchdringen. Eine auch kirchliche Interessen berücksichtigende Klärung der Verhältnisse - wie Reeder und Lüninck sie anstrebten - lag bei der sich vollziehenden Stabilisierung des NS-Regimes nicht mehr im Rahmen des Möglichen. Ein deutliches Zeichen für die Schwächung des katholischen Einflusses in der Politik war der Rücktritt des Kölner Regierungspräsidenten zur Bonsen im April 1934. Lüninck versuchte, wenigstens für die Rheinprovinz einheitliche Richtlinien für die Behandlung der katholischen Jugend durchzusetzen. Auf der Basis der von Lüninck Mitte Mai 1934 formulierten "Grundsätze" erließen die Regierungspräsidenten in der Folge entsprechende Anordnungen, die die "Grundsätze" jedoch wiederum unterschiedlich auslegten. Das "Amtsblatt der Preußischen Regierung in Aachen" veröffentlichte am 26. Mai 1934 die entsprechende Polizei Verordnung. Darin wurden die Bestimmungen der Aachener Staatspolizei vom Januar 1934 größtenteils bestätigt. Das geschlossene Auftreten (ohne einheitliche Kluft) wurde nun allerdings bei "hergebrachten Prozessionen und Wallfahrten, Primizen und Begräbnissen" gestattet. Eine Verschärfung der bisher geltenden Bestimmungen bedeutete das Verbot, "Presseerzeugnisse jeder Art, insbesondere auch Flugblätter" in der Öffentlichkeit zu verkaufen oder zu verteilen. Dieses Verbot veranlasste das Generalvikariat, den Verkauf von Zeitschriften etc. innerhalb der Kirchen zu gestatten. 28 Welchen Stellenwert die Unterdrückung - und als solche muß man die Polizeiverordnung trotz des "guten Willens" von Reeder und Lüninck bezeichnen - der katholischen Jugendverbände für das Regime hatte, geht aus der Tatsache hervor, daß entsprechende Verordnungen für die jüdischen Jugendorganisationen erst am 25. August 1934 im Amtsblatt Aachen veröffentlicht wurden. Die von Reeder erlassene Polizeiverordnung vom 26. Mai 1934 bedeutete das Ende aller Versuche, das Verhältnis zwischen HJ und katholischer Ju26
) Ebd., 403/16844, Bl. 299. ) HSTA Düsseldorf, Reg. Aachen, 20116. 28 ) LHA Koblenz, 403/16845, Bl. 803. 27
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gend in gütigem Einvernehmen zu regeln. Dazu hatte es in der Rheinprovinz und speziell im Regierungsbezirk Aachen - 1933 Ansätze gegeben. Noch im Herbst 1933 verfolgte Domkapellmeister Rehmann29 den Plan, den Aachener Domchor (Knabenchor) geschlossen in die HJ zu überführen.30 Dieser Plan fand die Zustimmung des Bischofs, scheiterte aber dann daran, daß der um Vermittlung gebetene Kreiskulturwart der Kreisleitung Aachen-Stadt die HJ nicht benachrichtigte. Dieses Beispiel zeigt, daß man auf regionaler Ebene durchaus Chancen für die Verwirklichung eines konfessionellen Friedens auf der Grundlage des Reichskonkordats sah. Daß dabei - bis hin zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz - die Situation auf Reichsebene eklatant falsch bewertet wurde, bedarf keiner weiteren Erörterung. Nachdem der Katholizismus sich im Anschluß an den Kulturkampf in Jahrzehnten auch politisch etabliert hatte, schien eine erneute Zurückdrängung des konfessionellen Einflusses zunächst jenseits aller Vorstellungskraft zu liegen. Die Unvereinbarkeit von Rechtsstaatlichkeit und Christentum mit dem Nationalsozialismus wurde u. a. durch die Amtsenthebung Lünincks deutlich. Hier wurde offenkundig, daß die NSDAP ihren Totalitätsanspruch zu Beginn des Dritten Reiches nur aus taktischen Erwägungen nicht in die Realtität umgesetzt hatte. Mit fortschreitender Konsolidierung des NS-Regimes waren solche Rücksichten nicht mehr nötig, was auch die Kirche erfahren mußte. Die Reaktionen der Kirche in Aachen auf die seit Beginn des Jahres 1934 festzustellenden Verschärfungen der staatlichen Maßnahmen waren eindeutig. Bischof Vogt, 1933 noch auf friedliche Koexistenz hoffend, setzte sich allein im April in zwei Hirtenschreiben mit dem Nationalsozialismus auseinander.31 Beide Hirtenbriefe beschäftigten sich vordringlich mit der Frage des Verhältnisses der katholischen Jugend zum Nationalsozialismus. Eindringlich mahnte der Bischof die Eltern, ihre Kinder im katholischen Glauben zu erziehen. Trotz der eindeutigen Absage an kirchenfeindliche Tendenzen innerhalb des Nationalsozialismus schien Vogt die Zeichen der Zeit noch immer nicht in ihrer vollen Tragweite erfaßt zu haben, wenn er schrieb: "Wir Katholiken freuen uns, wenn die Volksgemeinschaft in unserem Vaterlande eine immer festere wird und wir wissen, dass unser katholischer Glaube die stärksten Bausteine zu dieser Volksgemeinschaft beiträgt."32 Textpassagen wie diese unterstreichen das Urteil von Fettweis, daß es dem Bischof schwerfiel, "sich einzugestehen, daß die neuen Machthaber für mehr verantwortlich zu machen waren als nur die vermeintlich notwendige Stärkung Deutschlands."33 Im Kirchenvolk, v. a. auch in der Jugend, wurde man sich der Herausforderung durch das NS-Regime zusehends bewußt. Die Folge war ein stär29
) Theodor Bernhard Rehmann (9. Februar 1895 - 4. Oktober 1963); vgl. auch Β Poll: Geschichte Aachens in Daten. Aachen 2 1965, S. 318. 30 ) LHA Koblenz, 403/16845, Bll. 837 ff. (Bericht des Regierungspräsidenten Aachen an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 14. Juni 1934). }i )Ebd„ 403/16845, Bll. 101 ff. und 403/16846, Bll. 225 ff. 32 ) Ebd., 403/16845, Bl. 103. " ) K. Femeis (Anm. 11), S. 104.
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keres Zusammenrücken der Katholiken; Prozessionen und Wallfahrten erlebten einen geradezu demonstrativen Zuspruch. Am Tag Christi Himmelfahrt (Mai 1934) erlebte die Stadt Aachen anläßlich einer Jugendwallfahrt zum Gnadenbild der Mutter Gottes im Aachener Dom einen Aufmarsch von 25.000 - 30.000 Jugendlichen.34 Die Veranstaltung verlief ohne Zwischenfälle, da aus Zufall (?) - die Aachener HJ fast vollständig auf Fahrt war und für die in Aachen anwesenden HJ-Mitglieder ein Uniformverbot erlassen worden war. Als besonders geschickten Schachzug bewertete die Aachener Gestapo die Einladung zahlreicher Journalisten auch aus dem benachbarten Ausland durch das Generalvikariat. Am 28. Oktober 1934 (Christkönigstag) fand auch in der Diözese Aachen der katholische Jugendsonntag statt. Während im Bereich der Staatspolizeistelle Aachen im allgemeinen keine besonderen Beobachtungen gemacht wurden, fand in der Stadt selbst eine - aus Sicht der Staatspolizei "bemerkenswerte Feier" statt.35 Nicht nur die Beteiligung der Jugend - es sollen rd. 10.000 Jugendliche teilgenommen haben, was den Rahmen der bisherigen Teilnehmerzahlen weit übertraf - sondern v. a. auch die rege Anteilnahme der übrigen Bevölkerung ist für Dr. Nockemann, den Leiter der Staatspolizeistelle, erwähnenswert. Über den Charakter des Jugendsonntages läßt Nockemann keinen Zweifel aufkommen: "Die ganze Feier trug unverkennbar den Charakter einer Demonstration." Kennzeichnend für den relativen Mißerfolg der HJ in Aachen sind die Bemerkungen am Schluß des Berichts. Nockemann konstatiert - wie oft zuvor36 - daß die Geistlichkeit zäh um die Gewinnung der Jugend ringt. "Dafür, dass sie bei diesem Bestreben Erfolg hat, war u. a. auch ein Beweis der Verlauf des katholischen Jugendsonntages." Der Einfluß der Geistlichen resultierte nicht zuletzt aus der Tatsache, daß sie über den schulischen Religionsunterricht breite Einwirkungsmöglichkeiten hatten. Bevor von Seiten der Staatsführung die Existenz der konfessionellen Schulen zur Disposition gestellt wurde, entzündeten sich an der Tätigkeit von Geistlichen im Schuldienst immer wieder Streitigkeiten. Da die Geistlichen der Schulaufsicht des Regierungspräsidenten unterstanden, war ihre Position in den Schulen angreifbar. Sehr früh erkannte man deshalb auch, daß ein Verbot zur Erteilung des Religionsunterrichts die Kleriker disziplinieren konnte.37 Dieses wirksame Mittel wurde häufig angewandt, da Priester u. a. auch von ihren Schülern denunziert wurden. Die Aachener HJ war 1934, trotz der Festigung des Regimes, noch immer in einer Defensivstellung. Hinzu kam, daß ein nicht unerheblicher Teil der HJ-Mitglieder ehemals in der konfessionellen Jugend tätig gewesen war und zunächst einmal den äußeren Reizen der neuen Organisation erlegen oder von den Eltern zur Vermeidung beruflicher Nachteile zum Eintritt in die HJ veranlaßt worden war. Täglich sah sich die HJ der Konkurrenz der konfessionellen Jugend ausgesetzt, die durch den hochangesehenen Klerus intensiv betreut wurde. Ein 34
) ) ) 37 ) 35 36
LHA Koblenz, 403/16845, BU. 453 f. (Bericht der Staatspolizei Aachen). Ebd, 403/16847, BU. 545 ff. B. Vollmer (Anm. 16) passim. Ebd., S. 75.
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einseitig auf Konfrontation ausgelegter Kurs wäre unter diesen Voraussetzungen ausgesprochen töricht gewesen. Aus dem Jahr 1934 lassen sich so auch wenige zaghafte Versuche von Seiten der HJ erkennen, eine Annäherung an die Kirche zu erreichen. Dabei stand aber außer Frage, daß über die kirchlichen Jugendverbände keine Einigung zu erreichen war. Der Westdeutsche Beobachter eröffnete seine Berichterstattung über eine Protestkundgebung der HJ gegen die katholische Jugend mit der programmatischen Schlagzeile: "Kein Kampf gegen die Kirchen, aber: 'Fort mit den konfessionellen Jugendverbänden'".38 Angesichts der demonstrativen Treffen der katholischen Jugend in Aachen veranstaltete die HJ am 22. Juli 1934 in der Stadt einen "Gebietsaufmarsch" des Gaues Köln-Aachen.39 Zu den Höhepunkten zählte der Besuch des Reichsjugendführers Baidur von Schirach, der am 1. April 1935 in Aachen an einer HJ-Führertagung des Obergebietes West der HJ teilnahm.40 Solche überregionalen HJ-Veranstaltungen scheinen ganz bewußt nach Aachen verlegt worden zu sein, um die Präsenz der HJ auch hier zu demonstrieren. Die Schwierigkeiten der HJ, in Aachen zu einem durchschlagenden Erfolg zu kommen, waren v. a. auf die starken konfessionellen Bindungen der Bevölkerung zurückzuführen. Aber auch der innere Zustand der HJ war nicht dazu angetan, sich das Vertrauen der Eltern zu erwerben. Am 6. März 1935 nahm die Staatspolizei Aachen die Vorkommnisse in der HJ zum Anlaß, einen gesonderten Bericht abzufassen. Besorgt äußerte sich der Berichterstatter über die sich häufenden mutwilligen Sachbeschädigungen und die sich ausbreitenden "sittlichen Verfehlungen" in der HJ.41 Da die HJ offensichtlich den konfessionellen Organisationen im Kampf um die Jugend unterlegen war, wurde der Eintritt in die nationalsozialistische Jugendorganisation durch Zwangsmaßnahmen forciert. Besonderer Druck wurde dabei ζ. B. auf die Beamten ausgeübt, die unmittelbare Nachteile in Kauf nehmen mußten, wenn ihre Kinder nicht der HJ beitraten. Das Jahr 1936 war insgesamt von einem Rückzug/Zurückdrängen der katholischen Jugend auf den innerkirchlichen Raum gekennzeichnet, den die Bischöfe mit den im April 1936 herausgegebenen "Richtlinien für die Jugendseelsorge" begleiteten. Der Rückzug von der Jugendarbeit bisheriger Prägung zur neuen Gemeindeseelsorge war nicht zugleich das Ende jeglicher katholischer Jugendarbeit. Schwierig war indes für die Geistlichen, einen Kurs auszuloten, der ohne Konflikte mit der Staatsjugend blieb. Zahlreiche Beispiele aus dem Bistum Aachen belegen, daß die Geistlichen in ihren Bemühungen um 38
) Westdeutscher Beobachter vom 2. Februar 1934. ) Ebd., Ausgabe vom 23. Juli 1934: "Gewaltiges Grenzlandtreffen der HJ". 40 ) Ebd., Ausgabe vom 2. April 1935; zu den Vorbereitungen des Besuchs vgl.: STA Aachen, Einzelakten nach 1933, 11055, Bl. 155. 41 ) LHA Koblenz, 403/16756, Bl. 497. Bereits 1934 hatte die Gestapo berichtet, daß sich ein Bannführer der HJ "wegen Geschlechtskrankheit in Behandlung begeben muß und dies allgemein bekannt ist." (Β. Vollmer (Anm. 16), S. 65); 1935 wurde der Bannführer der HJ - Straßburger - "wegen seines Finanzgebarens" abgesetzt, da "während dessen Tätigkeit die HJ beträchtlich zurückgegangen war". (Ebd., S. 188) 39
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die Jugend nicht nachließen und deshalb auch von der Gestapo gemaßregelt wurden. 42 Am 18. Juni 1937 wiederholte von Schirach das bereits am 29. Juli 1933 erlassene Verbot der Doppelmitgliedschaft in HJ und katholischen Jugendbünden. Dieses Verbot wurde analog auch auf andere katholische Standesorganisationen (ζ. B. die Christlichen Gewerkschaften) angewandt. Nachdem im März 1937 die bündische Jugend - die Nachfahren der früheren Wandervogelbewegung - im Regierungsbezirk Aachen aufgelöst worden war43, verbot die Staatspolizei Aachen am 1. Februar 1938 den Katholischen Jungmännerverband in der Diözese Aachen. 44 Betroffen von diesem Verbot waren auch die Unter- und Nebengliederungen (ζ. B. St.Georgs-Pfadfinder, Sturmschar, Meßdiener); das Vermögen des KJMV wurde beschlagnahmt und sichergestellt. Begründet wurde das Verbot mit Verstößen gegen die "Verordnung betr. der Betätigung der konfessionellen Jugendorganisationen", die die Preußische Geheime Staatspolizei am 23. Juli 1935 erlassen hatte.45 Die Begründungen, z. B. Verstoß gegen das Verbot sportlicher Betätigung, waren äußerst fadenscheinig. Mit der Ausschaltung jeglicher Konkurrenz bzw. deren Abdrängung in die Illegalität war für die HJ der Weg zur Totalerfassung der deutschen Jugend frei. Mit der 2. Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitlerjugend, der sog. "Jugenddienstverordnung" vom 25. März 1939, wurde für alle Jungen und Mädchen im Alter von zehn bis achtzehn Jahren eine Jugenddienstpflicht eingeführt. Ein Indiz für die lasche Dienstauffassung in der HJ bietet der nachdrückliche Hinweis auf die Dienstpflicht im Westdeutschen Beobachter vom 4. März 1941. Darin werden alle HJ-Mitglieder daran erinnert daß sie an drei Sonntagen im Monat von 9 bis 12 Uhr zum Dienst zu erscheinen hatten. Diese Dienstzeit führte zwangsläufig zu Kollisionen mit dem Gottesdienstbesuch der katholischen Jugendlichen, was man - nach Lage der Dinge - als Absicht bezeichnen muß, da nach dem Verbot der katholischen Jugendorganisationen die Einflußnahme der Geistlichkeit auf die Jugend weitgehend auf den Kirchenraum beschränkt war. Die Erziehung der HJ-Mitglieder wurde ganz auf die Staatsbedürfnisse und -anforderungen abgestellt. Im Kriegssommer 1940 führte die Aachener HJ in vermehrtem Umfang Fahrten durch, doch war die Arbeit der HJ immer weniger durch "Lagerfeuerromantik" geprägt, da die Jugend auch ihren Beitrag zum Krieg leisten mußte: sei es durch ausdrücklich als "Kriegseinsatz der HJ" deklarierte Kräutersammlungen 46 , durch die Betreuung von Verwundeten
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) K. Fettweis (Aran. 11), S. 164. ) Amtsblatt der Preußischen Regierung in Aachen, 13. März 1937, lfd. Nr. 63; die Deutsche Jugendkraft (DJK) war - unter Bezug auf das Verbot sportlicher Betätigung - bereits Mitte 1935 aufgelöst worden. 44 ) Ebd., 1. Febniar 1938, lfd. Nr. 27. 45 ) LHA Koblenz, 403/16849, Bll. 135 ff. 4δ ) Westdeutscher Beobachter vom 31. Mai 1940. 43
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durch den BDM 47 oder durch die Verbesserung ihrer allgemeinen Wehrtüchtigkeit.48 Die organisatorische Gliederung der Aachener HJ war erst im Mai 1941 abgeschlossen worden: ab diesem Zeitpunkt war der HJ-Bann 25/Aachen analog zur Ortsgruppeneinteilung gegliedert. 49 Der HJ-Bann 25 war unterteilt in fünf "Stamme", die sich im Durchschnitt aus vier "Gefolgschaften" zusammensetzten, d. h., zu jeder Ortsgruppe in Aachen gehörte eine HJ-Gefolgschaft. Zusammenfassend kann man sagen, daß sich im Verhältnis von Hitleijugend und konfessioneller Jugend symptomatisch die Probleme der Aachener NSDAP insgesamt widerspiegeln. Stärker noch als die Gesamtbevölkerung widersetzte sich die Jugend über einen längeren Zeitraum der Integration in den NS-Staat. Verantwortlich für diese Entwicklung war der massive Einsatz des Klerus, der seine bis dahin unangefochtene Position im Bereich der Jugenderziehung auch unter Inkaufnahme persönlicher Risiken mit allen Mitteln zu verteidigen versuchte. Beide - Kirche und NSDAP - waren sich der Bedeutung der jungen Generation für die zukünftigen Entwicklungen bewußt, was die Hartnäckigkeit der Auseinandersetzungen förderte. Den Erfolg der Kirche - zumindest bis zum Jahr 1935 - wird man aber auch damit begründen müssen, daß die Jugendlichen in der Anfangsphase des Dritten Reiches unbekümmerter der NSDAP fernbleiben konnten als viele Erwachsene, deren berufliche und gesellschaftliche Existenz vom Wohlverhalten gegenüber der Partei abhing. Zugute kam den katholischen Jugendverbänden auch, daß sie sich frühzeitig dem für die zeitgenössische Jugend offenbar anziehenden äußeren Erscheinungsbild der HJ angepaßt hatte. Ohne die Einflußnahme des Staates konnte die Aachener HJ nicht zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für die konfessionelle Jugend werden. Erst das Gesetz über die Hitlerjugend, das den Weg zum Verbot der katholischen Jugendorganisationen ebnete, und seine Ausführungsbestimmungen verhalfen der HJ zur Durchsetzung ihres Totalitätsanspruchs, den sie ohne fremde Hilfe - zumindest in Aachen - nicht hätte verwirklichen können. Seit Anfang des Jahres 1935 verschärften sich in Aachen wie im gesamten Reich die Auseinandersetzungen, als die NSDAP einen antikirchlichen Propagandafeldzug startete, der die Kirche zunehmend in die Defensive drängte. Die Entscheidung der Partei für eine Verschärfung des Kurses mußte für die Kirche umso brüskierender wirken, als sie kurz zuvor noch einmal ihren guten Willen zur Integration demonstriert hatte. Anläßlich der Saarabstimmung vom 13. Januar 1935 hatten die Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz am 26. Dezember 1934 ein Hirtenschreiben veröffentlicht. Daraus wurde wiederum ersichtlich, wie sehr der Episkopat die nationalen Komponenten des neuen Staates überbewertete, ohne der Gesamtsituation Rech47
) Ebd.. Ausgabe vom 23. August 1940. ) Ebd., Ausgabe vom 20. Mai 1940. ) Ebd., Ausgabe vom 7./9.Mai 1941: "Gliederung der Aachener HJ"; zum Aufbau der HJ insgesamt: A. KWnne: Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegner. Düsseldorf-Köln 1982, S. 43.
4S 49
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nung zu tragen: "Als deutsche Katholiken sind wir verpflichtet, für die Größe, die Wohlfahrt und den Frieden unseres Vaterlandes uns einzusetzen." 50 Einen besonderen Stellenwert in der NS-Propaganda des Jahres 1935 nahmen die Devisenprozesse gegen katholische Ordensangehörige ein. Aufgrund der rigorosen deutschen Devisenbestimmungen hatten zahlreiche Orden, die auch im Ausland Niederlassungen unterhielten, bei der Rückzahlung ausländischer Kredite aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg illegale Transaktionen vorgenommen, die von einer im März 1935 beim Landgericht Berlin eingesetzten Sonderstaatsanwaltschaft aufgedeckt wurden. Gerne ergriff auch der Westdeutsche Beobachter die sich nun bietende Gelegenheit zu einer Abrechnung mit der Kirche.51 Am 14. März 1935 hatten Zollfahndung, SD und Gestapo in Aachener Klöstern Haussuchungen vorgenommen, die zu verschiedenen Verhaftungen führten. Die erhoffte Wirkung der Devisenprozesse, das Ansehen der Kirche zu unterminieren, trat jedoch nicht ein. Die propagandistische Auswertung der Devisenvergehen stellte für die Kirche und das Kirchenvolk eine ernste Belastung dar. Wurden die Verstöße gegen die bestehenden Devisenbestimmungen auch von einem Teil der katholischen Bevölkerung verurteilt, so muß der Lagebericht der Aachener Staatspolizei dennoch vermerken: "[...] aber man darf sich nicht darüber täuschen, daß ebenso weite Kreise der streng katholisch eingestellten Bevölkerung das Vorgehen des Staates und der Strafverfolgungsbehörden als eine Klosterverfolgung und die Angeschuldigten dementsprechend als Märtyrer ansehen." 52 Der gleiche Lagebericht nennt darüber hinaus einen entscheidenden Grund dafür, daß der geplante Propagandaeffekt wirkungslos verpuffen mußte: Die sich ständig wiederholenden Berichte der Parteipresse zum Thema Devisenprozesse erreichten gar nicht ihre Adressaten, da nur ein kleiner Teil der Bevölkerung überhaupt das NS-Hausorgan, den Westdeutschen Beobachter, zur Kenntnis nahm. Die wahre Absicht der Schauprozesse war schnell von der Bevölkerung durchschaut worden. Interessanterweise macht der Berichterstatter der Aachener Staatspolizei die Gesamtstrategie der Propaganda für den völligen Mißerfolg, den die Aktion hinsichtlich der intendierten Wirkung hatte, verantwortlich. Die Bestrafung der "Devisenschieber", auch wenn es sich dabei um Ordensangehörige handelte, wäre in katholischen Kreisen akzeptiert worden. Die propagandistische Aufblähung dieser Fälle in der Parteipresse machte aber allen nur zu deutlich, "daß man wohl von Devisenschiebern redet, man aber die Kirche und die katholische Religion treffen wolle." 53 Nicht zuletzt das Auftreten der NSDAP bzw. ihrer Repräsentanten in Aachen trug dazu bei, die Katholiken enger zusammenrücken zu lassen. Obwohl (oder gerade weil) ein erheblicher Teil der Stadtbewohner auch 1935 noch geschlossen hinter der Kirche stand, glaubte die Aachener NSDAP, im 50
) ) ) 53 ) 51 52
B. Stasiewski (Aran. 2), Bd. 2, Dokument 186. Westdeutscher Beobachter vom 17. Mai, 28. Mai, 4. Juni 1935. B. Vollmer (Anm. 16), S. 223. Ebd., S. 239.
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Rahmen des Propagandafeldzuges nicht abseits stehen zu dürfen. Die damit verbundene Provokation der Katholiken konnte allerdings kaum dazu beitragen, das Ansehen der Partei zu heben. Am Sonntag, dem 18. August 1935, veranstaltete die SA eine mehrstündige Propagandafahrt durch die Stadt, auf der Transparente mitgeführt wurden, die - "in hässlicher Entstellung" - Patres und Nonnen beim Devisenschmuggel zeigten.54 Gegen die karikierende Darstellung von Geistlichen und Ordensleuten sowie die verbalen Verunglimpfungen durch das sog. "Devisenschieberlied"55 legte das Generalvikariat Aachen schärfsten Protest ein. Die SA-Brigade 76 wurde von der Staatspolizei zu einer Stellungnahme bezüglich der Beschwerde des Generalvikars aufgefordert. Danach fand die beanstandete Propagandafahrt im Rahmen der "Leistungsprüfungen des Reichswettkampfes der SA" statt. Seit Anfang 1935 machte die "Deutsche Glaubensbewegung" in Aachen von sich reden, in der sich die nicht in einer der beiden großen Konfessionen beheimateten Deutschen zusammengefunden hatten, sofern sie nicht als religionslos galten. Führender Kopf der Glaubensbewegung war Prof. Jakob Wilhelm Hauer. Den ersten größeren Auftritt hatte die Deutsche Glaubensbewegung in Aachen im Zusammenhang mit dem Karlsfest 1935. Am 3. Februar 1935 wurde das traditionelle Karlsfest mit einem Pontifikalamt im Aachener Dom gefeiert. Trotz der recht umfangreichen Beteiligung von Personen aus Parteikreisen wurde der Gottesdienst empfindlich durch den Vorbeimarsch einer HJ-Kapelle gestört, was in der Bevölkerung "grösste Entrüstung" hervorrief. Für größere Aufregung sorgte aber der von der Deutschen Glaubensbewegung für den folgenden Tag angekündigte Vortrag mit dem Thema: "Karl, der grosse Sachsenschlächter". Gegen diesen Vortrag protestierte der Aachener Bischof beim Gestapa Berlin, allerdings ohne Erfolg.56 Der Vortrag fand dann im Haus der DAF statt; er wurde von zahlreichen Interessenten besucht, diese waren aber "zum grössten Teil Angehörige der katholischen Jugendverbände." Der drohende Eklat wurde nur durch die Anwesenheit von Gestapobeamten vermieden; eine angekündigte Diskussion wurde wohlweislich angesichts des erschienenen Publikums abgesagt. Die Umbewertung, die Karl der Große durch die nationalsozialistische Geschichtsschreibung erfuhr, mußte gerade in Aachen, wo Karl als Stadtpatron besonders verehrt wurde (wird), auf starke Ablehnung stoßen. Die von Rosenberg 1934 eingeleitete Neubewertung des Kaisers diente in erster Linie der Diskriminierung des Christentums. Mit dem in Aachen brisanten Thema hatte sich die Deutsche Glaubensbewegung jedenfalls einen hohen Grad von Aufmerksamkeit verschafft. Als Prof. Hauer im Mai 1935 zu einem Vortrag nach Aachen kam, strömten 3.000 Zuhörer in den Westpark57. Die Aktivitäten der Glaubensbewegung im ersten Halbjahr 1935 bedeuteten aber nur eine Scheinblüte; schon im Sommer 1935 berichtete die Staatspolizei von einem starken Rückgang der öffentlichen Auftritte. Dies scheint in 54
) ) ) 57 ) 55 56
LHA Koblenz, 403/16849, Bll. 447 ff. Ebd., Bll. 471 ff. Ebd., Bl. 449. Westdeutscher Beobachter vom 18. Mai 1935.
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engem Zusammenhang mit dem Abflauen der Diskussion um Karl den Großen zu stehen. Nicht zuletzt durch Beiträge von Fachhistorikem wie Hampe und Lintzel wurde das Bild des Kaisers allmählich von der Partei einer erneuten Revision unterzogen. 1943, zur 1200-Jahr-Feier der Geburt Kaiser Karls, erschien mit Gauleiter Grohe einer der höchsten Repräsentanten der Partei in Aachen, um dem ehemals Geschmähten seine Referenz zu erweisen. Die Deutsche Glaubensbewegung spielte in Aachen, abgesehen von der geschilderten Blütezeit zu Beginn des Jahres 1935, keine Rolle mehr. Die von ihr propagierte neuheidnische Rückkehr zum Glauben der alten Germanen hatte bei der tiefen Verwurzelung der Bevölkerung im katholischen Glauben keine Erfolge erzielen können. Stellte das Jahr 1935 insgesamt einen Wendepunkt für das Verhältnis von Kirche und Staat dar, so muß in diesem Zusammenhang darauf verwiesen werden, daß in Aachen ein merkwürdig anmutender Zick-Zack-Kurs verfolgt wurde. Zieht man die o. a. Gesichtspunkte (Devisenprozesse, Klosterdurchsuchungen etc.) in Betracht, so erscheint es geradezu absurd, daß der nationalsozialistische Oberbürgermeister ausgerechnet im Sommer 1935 dem Stiftskapitel einen bis dahin im Besitz der Stadtverwaltung befindlichen Altar für die Fronleichnamsprozessionen schenkt!58 Solche - im Grunde nebensächlichen Vorgänge - zeigen, daß der von der Reichsleitung der NSDAP verfolgte Kurs der Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens sich dort nur schwer durchzusetzen vermochte, wo die Kirche traditionell großen Einfluß ausübte. Mit der Absicht, die Bekenntnisschulen abzuschaffen, wurde seit 1937 eine weitere Konfliktzone betreten.59 Wie in vielen anderen Bereichen auch, kollidierte der Plan zur Auflösung der Bekenntnisschulen mit dem Reichskonkordat; dieser Umstand konnte letztlich die Einführung der "Deutschen Schule" nur verzögern - verhindern konnte er sie nicht. Wiederholte Mahnungen des Bischofs von Aachen, die Bekenntnisschule zu erhalten, fanden in der Bevölkerung breiten Widerhall, doch zeigten sich die Machthaber von solchen Forderungen unbeeindruckt. Eine im Frühjahr 1939 in den Diözesen Köln, Aachen und Münster durchgeführte Abstimmung über den Erhalt der Bekenntnisschulen unterstrich eindeutig den Willen der Eltern: 2,25 Millionen Katholiken sprachen sich für den Erhalt der Bekenntnisschulen aus. Rücksicht auf katholische Interessen, wie sie noch zu Beginn des Dritten Reiches feststellbar sind, wurde 1939 nicht mehr genommen. Zum Schuljahresbeginn 1939/1940 wurde die "Deutsche Schule" in den westlichen Provinzen Preußens generell eingeführt. War 1937 die generelle Entfernung der Schul-
58 ) STA Aachen, Beschlüsse des Oberbürgermeisters, 1935, Nr. 106. Das besondere Verhältnis von Oberbürgermeister Jansen zu Bischof Vogt drückt sich auch in einem Dankschreiben anläßlich der Glückwünsche zu seiner Ernennung zum Oberbürgermeister aus: "An Euer Exzellenz als dem Oberhirten der Aachener Diözese richte ich deshalb die ergebene Bitte, mir auch weiterhin zum Wohle unserer Vaterstadt ihre oberhirtliche Unterstützung angedeihen zu lassen." (STA Aachen, Einzelakten nach 1933, 11161) Mit diesen Formulierungen ging Jansen weit über das notwendige Maß an Freundlichkeit hinaus. 59 ) R. Eilers: Die nationalsozialistische Schulpolitik. Köln-Opladen 1963.
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kreuze von Minister Rust noch untersagt worden60, wurde 1939 der Verbleib der Kruzifixe verboten. Im Zuge der Auflösung der Ordensschulen, 1936 mit der Einschränkung der öffentlichen Zuschüsse an Privatschulen eingeleitet, übernahm die Stadt Aachen 1939 die von den Ursulinen geführte Oberschule für Mädchen (St. Ursula). Dieser Übernahme war der Zwangsverkauf der Schul- und Klosterräume im März 1939 vorausgegangen.61 Wie die Devisenprozesse, so dienten auch die mit großem propagandistischem Aufwand durchgeführten Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester aus den Jahren 1936/37 dem Zweck, die Kirche und ihre Repräsentanten in der (katholischen) Öffentlichkeit zu diskreditieren.62 Eine vorübergehende Beruhigung bei der Verfolgung der Sittlichkeitsvergehen trat im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 1936 in Berlin ein, die das Regime zu einer grandiosen Selbstdarstellung nutzte. 1937 wurden die Prozesse dann mit neuer Energie fortgesetzt und propagandistisch ausgewertet. Damit antwortete das Regime indirekt auf die Enzyklika Pius XI. "Mit brennender Sorge" vom März 1937. Im Zuge der Ermittlungen wurde am 24. / 25. Juni 1937 auch das Aachener Generalvikariat - vergeblich - nach belastendem Material durchsucht. Die Beschwerde, die der Bischof beim Innenministerium einlegte, gehörte zu den insgesamt nur beschränkten Mitteln, mit denen sich die Kirche zur Wehr setzen konnte. Schon im Mai hatte Bischof Vogt sich an seine Diözesanen gewandt und mit deutlichen Worten die propagandistische Auswertung des Themas Sittlichkeitsverbrechen angeprangert.63 Inwieweit die von der nationalsozialistischen Propaganda durchgeführten Kampagnen den gewünschten Erfolg hatten, läßt sich am ehesten aus dem vorhandenen Zahlenmaterial zu den Kirchenaustritten belegen.64 Danach ergibt sich für die Diözese Aachen folgendes Bild: Austritte 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938
1579 755 661 1090 2182 5160 3745
Übertritte Gesamtverlust 284 463 323 272 221 203 ...
1295 292 338 818 1961 4957 —
Die Zahlen bringen zum Ausdruck, daß die Devisen- und Sittlichkeitsprozesse - neben anderen Faktoren - ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Von 1935 bis 60
) HSTA Düsseldorf, Reg. Aachen, 20303. ) STA Aachen, Protokolle der Stadtverordnetenversammlung zu Aachen Sitzung vom 14. April 1939. 62 ) H.-G. Hockerts: Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/37. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf ^Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 6). Mainz 1971. 63 ) K. Fettweis (Anm. 11), S. 283. 64 ) Die folgenden Zahlen aus: Zentralstelle für kirchliche Statistik des katholischen Deutschlands, Köln (Hg ): Kirchliches Handbuch für das katholische Deutschland. Köln 1933 ff. 61
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1937 läßt sich ein Anstieg der Kirchenaustritte feststellen. Die Umsetzung der Zahlen in Prozentanteile macht jedoch deutlich, daß die Austrittswelle keineswegs bestandsgefährdend für die Kirche war; selbst 1937, auf dem Höhepunkt der Bewegung, betrug der prozentuale Verlust in der Aachener Diözese nur 0,42%! In der Stadt Aachen verminderte sich die Zahl der Katholiken zwischen 1933 und 1939 um 6.483 (= 4,4%), wobei hier nicht mehr eindeutig zu klären ist, ob dieser Verlust durch Wegzug der Einwohner oder Kirchenaustritte zustandegekommen ist, da die Differenz von 6.483 Katholiken auf den Zahlen der Einwohnerstatistiken basiert. Bereits oben wurde darauf verwiesen, daß die zweite Welle der Sittlichkeitsprozesse u. a. die Antwort des Staates auf die Enzyklika "Mit brennender Sorge" war, die am Palmsonntag (21. Mai 1937) in allen Kirchen verlesen worden war.65 Die Reaktion des NS-Regimes auf die Veröffentlichung des päpstlichen Rundschreibens bestand zunächst darin, die zwölf an der Herstellung beteiligten Druckereien zu schließen. Unter diesen Betrieben befand sich auch die Druckerei Wilhelm Metz in Aachen, in der u. a. auch die Kirchenzeitung des Bistums hergestellt wurde. 66 Damit war auch das Erscheinen der Kirchenzeitung gefährdet; vom 4. April bis 2. Mai konnten nur vier Notausgaben ausgeliefert werden. Am 19. April war die Arbeit in der Druckerei wieder aufgenommen worden, bevor am 4. Juni die endgültige Beschlagnahmung erfolgte. Bischof Vogt bemühte sich in Schreiben an das Reichsinnenministerium, das Gestapa Berlin und an Gauleiter Grohd, eine Rücknahme der Schließung zu erwirken. Gegenüber dem Druckereibesitzer übernahm Vogt die volle Verantwortung. 67 Auch in den Schreiben an Staats- und Parteidienststellen wies Vogt nachdrücklich darauf hin, daß Metz lediglich im Auftrag gehandelt habe und daher nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. Damit zog Vogt die gleichen Konsequenzen wie Faulhaber und von Galen, in deren Zuständigkeitsbereich ebenfalls Druckereien beschlagnahmt worden waren. Die Bemühungen des Bischofs waren vergeblich; die Beschlagnahmung der Druckerei wurde nicht rückgängig gemacht. Metz wurde in der Folgezeit als Angestellter in dem Betrieb weiterbeschäftigt. Die endgültige Enteignung des Betriebes und Einziehung der beschlagnahmten Gegenstände erfolgte durch Schreiben des Aachener Regierungspräsidenten vom 11. Oktober 1937. Metz und das Bistum verhandelten längere Zeit über eine Entschädigung für den Verlust des Betriebes, bevor am 30. Dezember 1940 ein Vergleich geschlossen wurde. Das in den Auseinandersetzungen von Staat und Kirche durchaus nicht ereignisarme Jahr 1937 hatte aber noch einen weiteren Höhepunkt aufzuwei65
) Η -A. Raem: Pius XI. und der Nationalsozialismus. Die Enzyklika "Mit brennender Sorge" vom 14. März 1937 (=Beiträge zur Katholizismusforschung). Paderbom-München-Wien-Zürich 1979; L Volk: Die Enzyklika "Mit brennender Sorge". In: Stimmen der Zeit 183 (1969), 174-194. 66 ) Ausführlich dazu: H.-A. Raem (Anm. 65), S. 197 ff.; A. Brecher (Anm. 13), S. 97 ff.; K. Fettweis (Anm. 11), S. 261 ff. (Dokumente Nr.16-18). 67 ) Zit. nach A. Brecher (Anm. 13), S. 99.
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sen - die Aachener Heiligtumsfahrt vom 10. bis 25. Juli.68 Diese seit dem 13. Jahrhundert durchgeführte Pilgerfahrt unterstreicht eindrucksvoller als die Zahlen der kirchlichen Statistik die Bekenntnistreue der Katholiken und das Vertrauensverhältnis zu den Bischöfen, das v. a. durch die Sittlichkeitsprozesse hatte untergraben werden sollen. War die Beteiligung an kirchlichen Veranstaltungen in den letzten Jahren allgemein sichtbar gestiegen, so wurde die Heiligtumsfahrt zu einem "jeden Vergleich übersteigenden Ereignis", zur "bedeutendsten Glaubenskundgebung des Jahres 1937".69 Dabei hatte es im Vorfeld der Heiligtumsfahrt durchaus Bedenken gegeben, ob man diese Veranstaltung nicht besser verschieben würde, um nach den Auseinandersetzungen der letzten Monate eine durchaus für möglich gehaltene "Blamage" - etwa durch ein Fernbleiben der Gläubigen - zu vermeiden und dem Regime nicht noch neue Angriffsflächen zu bieten. Insbesondere Kardinal Schulte, der für sein zögerndes Verhalten gegenüber dem Regime bekannt war, hatte ernste Bedenken gegen die Durchführung geäußert. Die Zahl der tatsächlich nach Aachen gekommenen Pilger bewies indes, daß die Stimmungslage unter den Katholiken von den Bischöfen ζ. T. völlig falsch eingeschätzt wurde; die Gesamtteilnehmerzahl von rd. 800.000 übertraf bei weitem die bisher gewohnte Beteiligung. Dabei waren die äußeren Bedingungen denkbar ungünstig gewesen: die Reichsbahn ζ. B. nahm eine vorher zugesagte Fahrpreisermäßigung für Sonderzüge zurück; auch die geplante Werbung in den Bahnhöfen lehnte die Reichsbahndirektion ab. Die Stadt Aachen versagte ihre Mithilfe bei der Organisation der Unterbringung der erwarteten Besucher. Einer Reihe von geplanten Prozessionen verweigerte Polizeipräsident Zenner, der nicht nur hier seine antikirchliche Gesinnung unter Beweis stellte, aus "verkehrspolizeilichen Gründen" die Zustimmung. Die städtische Verwaltung, insbesondere der Oberbürgermeister, wurde durch die Heiligtumsfahrt in eine prekäre Situation gebracht. Seit altersher waren Stiftskapitel und Bürgermeister gleichermaßen an der Öffnung des Reliquienschreins beteiligt. Jansen, Mitglied der NSDAP, die die Heiligtumsfahrt ζ. T. in unflätigster Weise kommentiert hatte, konnte unmöglich diesen Brauch fortsetzen. Am 7. Juli 1937 teilte er dem Bischof den Verzicht der Stadtverwaltung auf die Mitwirkung bei der Öffnung des Schreins mit.70 Das Schreiben ließ jedoch in Form und Inhalt erkennen, wie sehr Jansen sich von weiten Teilen seiner Partei distanzierte. Der massenhafte Zustrom der Gläubigen zur Heiligtumsfahrt kann nichts anderes als die weitgehende Unwirksamkeit der NS-Propaganda in Kirchenkreisen bedeuten. Die öffentliche Demonstration der Treue zur Kirche war aber auch eine Demonstration gegen das Regime, die in der Anonymität der Massenveranstaltung eher möglich war, als unter der fast lückenlosen Kon68
) Zur Aachener Heiligtumsfahrt allgemein: Η Schiffers: Aachener Heiligtumsfahrt. Reliquien Geschichte - Brauchtum (Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen, Bd. 5). Aachen 1937; zur Heiligtumsfahrt 1937: B. Seiung (Hg): Heiligtumsfahrt Aachen 1937. Mönchengladbach 1937; P. Emunds: Der stumme Protest. Aachen 1963; H. L Baumanns: "Die Aachener Heiligtumsfahrt 1937" - Ein sozialgeschichtlicher Beitrag zui katholischen Volksopposition im III. Reich, phil. Diss. Aachen 1968. 69 ) V. v. Hehl: Katholische Kirche und Nationalsozialismus im Erzbistum Köln 1933-1945 ^Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 23). Mainz 1977, S. 172. 70 ) P. Emunds (Anm. 68). S. 57.
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trolle in den jeweiligen Wohnorten. Die zahlenmäßig drückende Überlegenheit der Zuhörer gegenüber den aufgebotenen Polizeikräften stärkte den Mut zu kollektiven Unmutsbekundungen gegenüber dem NS-Staat. Vor allem bei den Predigten Bornewassers und von Galens fehlte nur noch der berühmte "Funke im Pulverfaß", um die Widerstandsbereitschaft in offene Rebellion umschlagen zu lassen. Dies lag nicht im Interesse der Bischöfe, zumal der Aachener Polizeipräsident nach den Vorkommnissen während der Predigt Bornewassers härteres Durchgreifen angedroht hatte. Obwohl auch Graf von Galen, entgegen vieler Erwartungen und Hoffnungen, seine Predigt völlig unpolitisch gestaltete, glitt auch diese Veranstaltung den Ordnungskräften aus der Hand. Umso größer war die Enttäuschung über die letzte Abendpredigt, die Bischof Wienken hielt71, der anstelle des verhinderten Kardinals Faulhaber eingeladen worden war. Wienken, Verhandlungsführer des Episkopats mit den Parteistellen der NSDAP, sagte von der Kanzel: "Daß wir uns heute in dieser Weise zu Tausenden zusammenfinden, verdanken wir dem Führer." 72 Mit dieser Bemerkung stiftete Wienken erhebliche Unruhe unter seinen Zuhörern, die zunächst wohl völlig irritiert waren. Versucht man, die Aachener Heiligtumsfahrt einzuordnen in die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche, so konnte der Katholizismus dieses Ereignis zweifellos 1937 als großen Erfolg buchen. Trotz aller Versuche der Partei, v. a. die Amtskirche und ihre Vertreter vom Kirchenvolk zu isolieren, wurde das Scheitern dieser Bemühungen durch die überwältigenden Teilnehmerzahlen augenfällig. Neben dem Bekenntnis zum Glauben wurde die Heiligtumsfahrt zugleich als Zeichen der festen Verbundenheit mit dem Episkopat genutzt, dessen Mitglieder, von Ausnahmen abgesehen, geradezu frenetisch gefeiert wurden. Von der Bereitschaft des Kirchenvolkes zur Demonstration scheinen nicht nur die staatlichen Organe, sondern auch die Bischöfe überrumpelt worden zu sein; für sie stellte sich unmittelbar die Frage, wie sie mit ihrem hochemotionalisierten Publikum umzugehen gedachten. Dabei muß m. E. in Erwägung gezogen werden, daß das katholische Kirchenvolk durch die massenhafte Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen - die Aachener Heiligtumsfahrt war nur ein, wenn auch herausragendes Beispiel - gegenüber den zögernden Bischöfen ein Signal setzen wollte. Die Bischöfe hatten es nach der Ernüchterung, die auf die Hochstimmung nach dem Abschluß des Konkordats folgte, sicher nicht an mehr oder weniger deutlicher Kritik an dem NS-Regime fehlen lassen. Diese Kritik, die sich vielfach nur in der bekannten "Eingabepolitik" wiederfindet, war im katholischen Fußvolk weitgehend unbekannt. Gelegenheiten wie die Heiligtumsfahrt scheinen daher nicht nur als Demonstrationsmöglichkeit gegen das Regime genutzt worden zu sein, sondern auch als Aufforderung an den Episkopat, mit stärkerem Nachdruck und mehr Mut zur Offensive für kirchliche Belange einzutreten. In weiten Teilen des Kirchenvolks, aber auch des (niederen) Klerus, hatte sich der Eindruck verfestigt, im täglichen Kleinkrieg mit Staats- und Parteibehörden von den Bischöfen nicht ausΊ] ) M. Höllen: Heinrich Wienken, der "unpolitische" Kirchenpolitiker. Eine Biographie aus drei Epochen des deutschen Katholizismus (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 33). Mainz 1981. 72 ) P. Emunds (Anm. 68), S. 95.
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reichend unterstützt zu werden. Bei der Heiligtumsfahrt 1937 wurde eine auf breitester Basis ruhende "Volksopposition" sichtbar. Die Demonstrationswilligkeit der Teilnehmer war den Bischöfen bewußt - zu einer politischen Veränderung unternahm die Amtskirche jedoch nicht die notwendigen Schritte. Der entscheidende Anstoß, wie er durch von Galen in Münster gegeben wurde, fehlte. Die Gründe für diese Zurückhaltung, die angesichts der sich in Aachen bietenden Gelegenheit in der Retrospektive unverständlich erscheinen mag, müssen aus den Zeitumständen erklärt werden. Der Umschlag in eine offene Revolte hätte in Aachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Erfolg gehabt; dieser wäre jedoch nur vorübergehender Natur gewesen, da das Regime, ausgestattet mit ungleich mehr Machtmitteln, diese Chance zu einer Abrechnung genutzt hätte. Unter diesen Aspekten ist die Entscheidung der anwesenden Bischöfe, ungeachtet der dadurch ausgelösten Enttäuschungen, zumindest vertretbar. Dennoch - der "Parteitag der Schwarzen", wie die Heiligtumsfahrt von den Zeitgenossen in Anlehnung an die Reichsparteitage der NSDAP genannt wurde, war eine Protestveranstaltung in einem Ausmaß, wie es der NS-Staat bisher noch nicht erlebt hatte, auch wenn es ein "stummer Protest" blieb. Wenige Wochen nach der Heiligtumsfahrt, am 5. Oktober 1937, starb Bischof Vogt im Alter von 72 Jahren. Sein Wirken war - wie gezeigt - nicht ohne Widersprüche, als er nach 1933 mit den Herausforderungen durch den Nationalsozialismus konfrontiert wurde. Vogts Anteil an dem von Bernhard Poll in einer Kurzvita des Bischofs beschriebenen "inneren Widerstand des Aachener Landes gegen die Ansprüche des totalitären Staats- und Parteiregimes" 73 kann man nicht allzu hoch veranschlagen. Erst mit zunehmender Dauer der NS-Herrschaft löste er sich - wie viele andere auch (!) - allmählich von seinen Illusionen und erkannte die "Gefahren der neuen Zeit".74 Die Wahl seines Nachfolgers führte zu einer erneuten Belastungsprobe für das Verhältnis von Kirche und Staat.75 Seit dem Abschluß des Reichskonkordats, das der Kirche "grundsätzlich das freie Besetzungsrecht für alle Kirchenämter" garantierte, konnte die Ernennung des jeweiligen Amtsinhabers erst dann erfolgen, wenn von staatlicher Seite mitgeteilt worden war, "daß gegen ihn Bedenken allgemeinpolitischer Natur nicht bestehen." 76 Diese Bestimmung führte bei der Neubesetzung des Aachener Bischofsstuhls zu einer Kontroverse, die als "Fall Aachen" in die (Rechts-) Geschichte einging.
73
) K. Delahaye / E. Gatz/H. Jorissen: Bestellt zum Zeugnis. Festgabe für Bischof Dr. Pohlschneider zur Vollendung des 75. Lebensjahres und zur Feier des 50jährigen Priesteijubiläums. Aachen 1974, S. 331. 74 ) So der gleichlautende Titel eines Hirtenschreibens an die Aachener Diözesanen. 75 ) Vgl. ü. AlbrechS: Die politische Klausel des Reichskonkordats in den deutsch-vatikanischen Beziehungen 1936-1943. In: Ders.: Katholische Kirche und Drittes Reich. Eine Aufsatzsammlung. Mainz 1976, 128-170; J. H. Kaiser: Die Politische Klausel der Konkordate. Berlin-München 1949 (v.a. S. 158 ff. und 207 ff ). 76 ) Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 20. 7. 1933; §14; Druck bei; D. Albrecht (Bearb ); Der Notenwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl und der deutschen Reichsregierung (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bd. 1). Mainz 1965, S. 304 ff.
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Das Aachener Domkapitel wählte aus dem päpstlichen Dreiervorschlag am 18. Dezember 1937 Pfarrer Wilhelm Holtmann, Dechant von Kevelaer, zum neuen Bischof. Das Wahlergebnis wurde daraufhin gemäß den Konkordatsbestimmungen den staatlichen Behörden zur Stellungsnahme vorgelegt. "Wenn es noch eines Beweises für die große staatspolitische Bedeutung der Besetzung eines Bischofsstuhls bedürfte, so würde er durch die folgenden Vorgänge erbracht." 77 Nach Aussage des Schlußprotokolls des Konkordats stand eine Frist von 20 Tagen zur Formulierung der "staatspolitischen Bedenken" zur Verfügung, so daß das Kirchenministerium schleunigst mit der Einholung von Informationen über Pfarrer Holtmann begann. Ausschlaggebend für die Bedenkenserhebung wurde die Stellungnahme des Oberpräsidenten der Rheinprovinz: "Er [Holtmann, E.G.] gilt als ausgeprägter Anhänger des Bischofs Graf Galen in Münster f...]."78 Fristgerecht wurde dem Domkapitel am 5. Januar 1938 die Entscheidung des Kirchenministers mitgeteilt, wobei jedoch lediglich davon die Rede war, der Kandidat sei "nicht genehm" - "staatspolitische Bedenken", auf die sich die Ablehnung des Kandidaten nach dem Konkordatstext allein hätte stützen dürfen, wurden nicht erwähnt. Aus der engen Verbindung Holtmanns zum Bischof von Münster folgerten die Behörden eine ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus; damit fußte die Bedenkenserhebung nicht auf staatspolitischen, sondern auf weltanschaulichen Gründen. Die Reaktion der Kurie bestand in der Ernennung des Kapitularvikars, Weihbischof Sträter, zum "Apostolischen Administrator" (Bistumsverweser) für die Diözese Aachen. Damit unterschied Sträter sich nur dem Namen nach von einem regierenden Bischof. Auf die Einsetzung eines Apostolischen Administrators hatte der Staat keinerlei Einwirkungsmöglichkeiten, er war durch einen geschickten Schachzug der Kurie ausmanövriert worden. Sträters Position als Bistumsverweser, vom Amt her eigenüich zeitlich begrenzt, war von vorneherein als dauerhafte Einrichtung geplant gewesen. Der "Fall Aachen" wirkte als Präzedenzfall: in den folgenden Jahren erhob das NS-Regime bei keiner Bischofswahl mehr Bedenken! Der neue Aachener Bischof war seit 1922 Stiftspropst in Aachen und Kölner Weihbischof sowie seit 1931 Generalvikar unter Bischof Vogt, war also mit den örtlichen Gegebenheiten bestens vertraut. Mehr noch als sein Vorgänger im Bischofsamt hatte Sträter durch seine Tätigkeit als Generalvikar Einblick in den ständigen Kleinkrieg, in den die Kirche seit 1933 von Staat und Partei verwickelt wurde. Bei seinem Amtsantritt war Sträter bereits 72 Jahre alt; seine politische Haltung "darf man wohl konservativ und national zugleich nennen." 79 Dennoch hatte Sträter seiner nationalen Überzeugung nicht alle Bedenken gegen das NS-Regime geopfert, auch wenn er die Rheinlandbesetzung 1936 empha-
77
) J. H. Kaiser (Anm. 75), S. 161. ) Ebd., S. 211. 79 ) K. Delahaye u. a. (Anm. 73), S. 334. 78
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tisch begrüßt hatte.80 Daß Sträters Ernennung keineswegs im Sinne der Nationalsozialisten war, belegt ein SD-Bericht aus dem Frühjahr 1939: "Neben Kardinal Faulhaber, Erzbischof Gröber und Bischof Graf von Galen [...] hat sich besonders der Ende des Jahres zum apostolischen Administrator der Diözese Aachen ernannte Weihbischof Sträter durch eine besonders hetzerische Darstellung des Kirchenkampfes in Deutschland hervorgetan, wobei er sich nicht scheute, den Nationalsozialismus als satanische Macht zu bezeichnen." 81 Sträter übernahm das Bischofsamt zu einer Zeit, als der Druck auf die Kirche ständig wuchs. Nicht nur in den großen Fragen - wie katholische Jugend und Bekenntnisschule - sondern auch im kleinen Rahmen wurden die Auseinandersetzungen fortgeführt, was nicht minder zermürbend wirkte. Auf Betreiben des Aachener Polizeipräsidenten Zenner wurde im April 1938 das Läuten der Kirchenglocken vor 7 Uhr und nach 20 Uhr verboten. Zenner konnte sich dabei auf ein Gutachten des städtischen Gesundheitsamtes stützen, wonach das Läuten außerhalb dieser Zeiten als ruhestörender Lärm galt!82 Das Generalvikariat erklärte sich, wohl zähneknirschend, mit Schreiben vom 5. Mai mit der neuen Regelung einverstanden, ohne es jedoch zu versäumen, auf die weitaus größere Lärmbelästigung durch andere Geräusche (Autos, Straßenbahn etc.) hinzuweisen. Schon bald wurde die Amtszeit Sträters überschattet vom Ausbruch des Krieges. Nur oberflächlich wurde durch den Vorrang der außenpolitischen Ereignisse der Kampf gegen die Kirche überdeckt. In vielen Bereichen mußte die Kirche Be- und Verhinderungen ihrer Arbeit in Kauf nehmen. Wegen der Belastungen der Zivilbevölkerung durch nächtliche Fliegeralarme, so die offizielle Version, durften seit 1940 Gottesdienste nur noch nach 10 Uhr morgens beginnen. 1941 bekamen die katholischen Büchereien die Auflage, nur noch katholische und erbauliche Literatur auszuleihen, was zwangsläufig deren Attraktivität schmälern mußte. Im gleichen Jahr wurde die Kirchenzeitung des Bistums "wegen Papierknappheit" eingestellt. Schon 1939 - zwei Jahre vor dem Erlaß Fricks - hatte Polizeipräsident Zenner in einem Schreiben an den Aachener Regierungspräsidenten die Aufhebung der gesetzlichen Beschränkungen für den Allerseelentag gefordert die er als "völlig ungerechtfertigt und überflüssig" bezeichnete. 83 Der Regierungspräsident hatte dieses Ansinnen aber abgewiesen. Noch gravierender war die Übernahme der katholischen Kindergärten durch die NSV im April 1941.84 Begründet wurde die Beschlagnahmung mit 80
) B. Vollmer (Aran. 16), S. 376. Mit den Nationalsozialisten hatte Stiäter sich schon früh angelegt: am 5. Mai 1933 telegraphierte er an Reichskanzler Hitler mit der dringenden Bitte, den bisherigen Regierungspräsidenten Stieler im Amt zu belassen. (BA Koblenz, R43/1/2302, Bl. 146). 81 > //. Boberach: Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934-1944 (=Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bd. 12). Mainz 1971, S. 301. Der Aachener Regierungspräsident Vogelsang hatte Sträter in einem betont knapp gehaltenen Schreiben anläßlich seiner Amtseinführung "guten Erfolg" gewünscht; eine Gratulation vermied der Regierungspräsident. (HSTA Düsseldorf, Reg. Aachen, 202C3). 82 ) HSTA Düsseldorf, Reg. Aachen, 23474. 83 ) Ebd., 23153. 84 ) L. Volk: Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche. Bd. IV. ^Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bd. 34). Mainz 1983, S. 359/369.
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der "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar 1933, die der Abwehr "kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte" dienen sollte! Allein im Regierungsbezirk Aachen wurden auf diese Weise 85 Kindergärten der kirchlichen Aufsicht entzogen. Nur wenige Wochen nach der Beschlagnahmung der Kindergärten begann die Aachener Gestapo im Rahmen einer zentral durchgeführten Aktion mit der Enteignung und Schließung von Klöstern.85 Wie die aufgeführten Beispiele zeigen, war die nur kurze Amtszeit Sträters - er starb am 16. März 1943 - entscheidend geprägt von den Angriffen des Nationalsozialismus auf die Kirche. Die Neubesetzung des Aachener Bischofsstuhls nach dem Tod Sträters vollzog sich infolge der Erfahrungen von 1938 und der schwierigen Kriegslage reibungslos. Mit dem 54jährigen Johannes Joseph van der Velden erhielt die Aachener Diözese wieder einen verhältnismäßig jungen Bischof; er stammte wie seine beiden Vorgänger aus dem Bistum. Von 1929 an war er Generaldirektor des 1933 verbotenen "Volksvereins für das katholische Deutschland" (Sitz Mönchengladbach) gewesen. Nach 1933 bekleidete er das Amt eines Vizepräsidenten des "Päpstlichen Werkes der Glaubensverbreitung" in Aachen, bevor ihn Sträter 1938 zum Regens des Priesterseminars berief. Durch seinen Werdegang war van der Velden ausgewiesener "Fachmann in soziologischen Fragen", was ihn nach der Kapitulation Aachens zu einem kompetenten Gesprächspartner für die amerikanischen Truppen machte.86 Die Amtszeit van der Veldens stand ganz im Zeichen des Krieges; nahezu täglich war seine Bischofsstadt von direkten Kriegshandlungen betroffen. Die Arbeit der Bistumsverwaltung wurde dadurch enorm erschwert, bevor sie unter Generalvikar Dr. Müssener nach Mönchengladbach evakuiert wurde. Am Jahrestag seiner Bischofsweihe (10. Oktober 1944) übersiedelte van der Velden in einen Luftschutzkeller. Nach einem Beschluß der westdeutschen Bischöfe auf ihrer Tagung in Honnef am 22. / 23 August 1944 hatte van der Velden den Evakuierungsbefehl, der an die Aachener Bevölkerung ergangen war, ignoriert. Das hatte die Gestapo verunsichert; am 20. Oktober 1944, einen Tag vor der Kapitulation Aachens, wurde der Kölner Erzbischof Frings von der Gestapo aufgesucht und nach dem Verbleib van der Veldens befragt, da man "in Sorge" um den Bischof von Aachen sei.87 Am gleichen Tag fand die Unterredung van der Veldens mit einem Emmissär der amerikanischen Truppen in Aachen statt, das der Bischof mit der Bitte um größte Geheimhaltung führte, um der Gestapo keinen Vorwand für neue antikirchliche Aktionen zu geben. Das Interesse der Amerikaner an van der Velden, auch wenn es anfangs mit Mißtrauen gepaart war, unter-
85
) In Aachen waren 8 Klöster betroffen: vgl. B. Poll (Anm. 29), S. 363. ) L Volk (Anm. 8); nach der ersten Begegnung mit van der Velden hatten die Amerikaner weitere Untersuchungen über die Zuverlässigkeit des Bischofs durchgeführt: vgl., A. Boyens: Die Kirchenpolitik der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland von 1944-1946. In: Oers. u. a.: Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschichtliche Beiträge (=Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 8). Gottingen 1979, S. 20 f. 87 ) L Volk (Anm. 84), Bd. VI. Mainz 1985, S. 433 f. 86
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streicht nachhaltig die Bedeutung der katholischen Kirche als einer Organisation, die sich den Gleichschaltungsversuchen erfolgreich widersetzt hatte. In der abschließenden Bewertung des Gesprächs van der Veldens mit einem amerikanischen Truppenoffizier wird der Bischof als "wertvoller Aktivposten für die amerikanischen Behörden" bezeichnet der das "Dritte Reich aus ganzem Herzen verabscheut". Van der Velden bot den Amerikanern seine Hilfe für die Lösung der anstehenden Aufgaben an; er tat dies jedoch nicht bedingungslos: "Daß er sich selbst als deutscher Bischof bekennt und darauf besteht, daß alle Auskünfte, die er uns zu geben beabsichtigt, im Interesse seines Landes gegeben würden, ist lediglich das Zeugnis eines Mannes, der nicht nur seinem Glauben dient, sondern auch seinem Heimatland."88 Das Angebot des Bischofs zur Zusammenarbeit mit den Amerikanern erhielt besonderes Gewicht durch den Umstand, daß er seine rd. 1.000 Priester darin einschloß, was bei dem nach wie vor großen Einfluß des Klerus in der katholischen Bevölkerung wichtig war. Allerdings mußte der Bischof einräumen, daß er sich nur "für die Anti-Nazi-Gesinnung von 997 seiner 1.000 Geistlichen" verbürgen könne. In der Tat arbeiteten einige Kleriker als VMänner für die Aachener Staatspolizei; für Beträge zwischen 25,00 und 50,00 RM im Monat verkauften ein Pfarrer, zwei Kapläne und zwei Ordensgeistliche ihre Informationen, die ζ. T. Interna der Dekanatskonferenzen, aber auch der Bistumsverwaltung betrafen.89 So unverständlich das Handeln dieser Personen auch erscheinen mag, eine Unterwanderung der kirchlichen Behörden durch Gestapo-Spitzel kann daraus nicht gefolgert werden. Gerade dies lag aber im Interesse der Gestapo: am 21. August 1941 forderte der Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD im Wehrkreis VI u. a. den Leiter der Aachener Staatspolizeistelle auf, den Ausbau eines Nachrichtennetzes in Kirchenangelegenheiten systematisch zu betreiben. Dazu beabsichtigte man die Durchleuchtung aller bei kirchlichen Stellen beschäftigten Personen auf etwaige Schwächen (Trunksucht; sexuelle Neigungen; Schulden etc.); nach Feststellung solcher Schwachstellen sollten die in Frage kommenden Personen "als Nachrichtenträger für Zwecke der Sicherheitspolizei gewonnen werden".90 Das angestrebte Ziel wurde nicht erreicht, v. a. gelang es der Gestapo nicht V-Leute - wie anderenorts - direkt im Generalvikariat zu piazieren.
Zieht man an dieser Stelle ein Fazit zu den Ereignissen um die katholische Kirche in Aachen, so wird man zuerst konstatieren müssen, daß sich die Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat nicht wesentlich vom übrigen Reich abhoben. Einen besonderen Stellenwert erhielten sie aber durch die Verwurzelung der Bevölkerung in der katholischen Kirche. Die Aktionen von Staat und Partei stießen bei den Katholiken, die durch vielfache Beziehungen in ein katholisches Milieu eingebettet waren, auf tiefes Mißtrauen und Ablehnung. 88
) L Volk (Anm. 8), S. 214. ) HSTA Düsseldorf, RW 35-8/RW 35-9; vgl. auch BA Koblenz, R 58/1134.
89
90
) H. Boberach (Anm. 81), S. 868.
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Auch wenn Bischof Vogt zu Beginn des Dritten Reiches, nicht zuletzt wegen seines guten Verhältnisses zu Regierungspräsident Reeder, gegenüber dem NS-Staat Kompromißbereitschaft zeigte, konnte sich das Kirchenvolk mit der nationalsozialistischen Weltanschauung und ihrer Trägerin, der NSDAP, nur schwer anfreunden. Dies hing in erster Linie mit den eskalierenden Zusammenstößen zwischen Staat und Kirche zusammen. Besonders im Bereich der Jugenderziehung prallten die Gegensätze mit großer Härte aufeinander. Der nur ungenügenden Identifikation der katholischen Bevölkerungsmehrheit mit dem NS-Gedankengut, die die Lageberichte der Aachener Staatspolizei fast stereotyp hervorheben, begegnete die Staatsführung zunehmend mit Zwangsmaßnahmen. Dabei ließ man die anfänglich geübte Zurückhaltung, die in weiten Teilen der kirchlichen Würdenträger die Illusion von der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz geweckt hatte, immer mehr fallen. Die Kirche geriet in die Defensive, aus der sie sich nur selten befreien konnte. Einer der seltenen Fälle eines sichtbaren Aufbegehrens gegen die wachsende Unterdrückung war die Aachener Heiligtumsfahrt 1937, bei der v. a. das Kirchenvolk die Bereitschaft zu einer entschlossenen Gegenwehr demonstrierte. Die Bischöfe haben - aus einsichtigen Gründen - den bei der spannungsgeladenen Atmosphäre möglich erscheinenden Umschlag in eine offene Revolte verhindert - es blieb bei einem "stummen Protest". Die Verbote katholischer Vereine beraubte die Kirche vieler Möglichkeiten der außerkirchlichen Einflußnahme, über die sie bis dahin verfügen konnte. Die Arbeit der Priester konzentrierte sich daher in Zukunft auf die seelsorgerliche Arbeit, die bewußt intensiviert wurde. Ein vorübergehendes Nachlassen des priesterlichen Einflusses muß dennoch beobachtet werden, auch wenn - die Zahlen der kirchlichen Statistik zeigen es - hier bei weitem nicht der von dem Regime erwünschte Umfang erreicht wurde. Die NS-Propaganda schaffte es bis 1939 nicht, Katholiken in nennenswertem Umfang zum Kirchenaustritt zu bewegen. Die Zahl der Kirchenaustritte hat zu keinem Zeitpunkt - trotz des rapiden Anstiegs 1935 bis 1937 - einen für die Kirche bedrohlichen Umfang angenommen. Im Krieg wurde die Entwicklung wieder in ihr Gegenteil gekehrt, als viele Menschen wieder in die Kirchen zurückkehrten, was die NS-Parteikanzlei zu dem Kommentar veranlaßte: "Jedenfalls wird die alte Erfahrung hundertfach bestätigt daß Zeiten der Not für die Kirche Zeiten der Ernte sind."91 Insgesamt betrachtet ist Aachen mit seinem Katholikenanteil von rd. 90% geradezu ein Paradebeispiel für die wechselvollen Beziehungen von Kirche und Staat/Partei während des Dritten Reiches. Wie bei der Geschichte der evangelischen Gemeinde Aachens finden sich hier auf lokaler Ebene viele Elemente wieder, die den "Kirchenkampf' im Dritten Reich geprägt haben. Das dabei entstandene Bild wird von Fehleinschätzungen und falsch verstandener Loyalität gegenüber dem Staat genauso geprägt wie von dem verzweifelten Bemühen um den Erhalt des kirchlichen Einflusses auf das Kirchenvolk. 91
) zit. nach K. Cotto / K. Repgen (Hg.): Kirche, Katholiken und Nationalsozialismus. Mainz 1980, S. 77.
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Dadurch geriet die Kirche zwangsläufig in eine Frontstellung gegenüber dem Nationalsozialismus. Eine über den beschriebenen Zustand der Nicht-Anpassung, Selbstbehauptung oder Resistenz hinausgehende Bekämpfung des Unrechtssystems fand in Aachen nicht statt; auch ohne einen aktiven Widerstand betrachtete die Aachener NSDAP das Wirken der Kleriker als ständiges "Ärgernis", das sie aber nicht aus der Welt schaffen konnte, obwohl sie sich dazu alle erdenkliche Mühe gab. Erleichtert wurde der Kirche ihre Positionsbehauptung durch den teilweise desolaten inneren Zustand der Aachener NSDAP. Stadtbekannte Skandale - ζ. B. bei der HJ - konnten die der Partei ablehnend gegenüber stehenden Menschen in ihrer Haltung nur bekräftigen.
GETEILTE FREIHEIT - ZUR MENSCHENRECHTSFRAGE IN DEUTSCHLAND von Herbert
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Die Diskussion über die politische Lage Deutschlands erfaßte seit dem Beginn der achtziger Jahre neben den politisch-ideologischen zunehmend auch die humanitären Aspekte der Deutschen Frage angesichts der drohenden Gefahr eines Krieges in Europa, der die Mitte des Kontinents zum Schlachtfeld gemacht hätte. Die Teilung Deutschlands wäre im Emstfall historisch auf tragische Weise ein für allemal erledigt gewesen. Zugleich wäre offenbar geworden, daß dieser Zustand selbst keine Friedensgarantie darstellte und die Sicherheit des Kontinents nur sehr bedingt im Zeichen eines Gleichgewichts des Schreckens gewährleistet war. Das Gegenteil, die Überwindung der Teilung, war nicht die einzige rationale Alternative des Ernstfalls gewesen. Sie blieb aber doch lange Zeit eine nicht realisierbare Möglichkeit deutscher Politik, da Deutschland, die Mitte des Kontinents in die Machtsphären der Supermächte einbezogen war. Der Rüstungswettlauf der Supermächte begleitete und förderte den Prozeß der Spaltung des Landes, ja hatte sich seit der weitgehenden Erstarrung des status quo - nach einer kurzen Phase der "Entspannung" und der darin eingeschlossenen Episode der westdeutschen "Ostpolitik" anfangs der achtziger Jahre - noch einmal beschleunigt. Die von dem Bundestagsabgeordneten Bernhard Friedmann 1987 geforderte Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas als Weg zu wirklicher Entspannung und Abrüstung1 gewann durch die veränderte weltpolitische Lage an Überzeugungskraft. Die Renaissance der Deutschen Frage war nicht zuletzt eine Folge der Ende der siebziger Jahre zwischen den heutigen Supermächten USA und Sowjetunion entstandenen neuen außenpolitischen Spannungen, die zu verstärkten Rüstungsanstrengungen in Europa und damit auch in Deutschland führten. Der gleichsam eingefrorene Konflikt, der im Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 seinen sichtbaren Ausdruck fand, schien im Zeichen der sogenannten Entspannungspolitik äußerlich an Gefährlichkeit zu verlieren - bis sich die führenden Politiker in Ost und West eingestehen mußten, daß weder die Konfrontations- bzw. Spaltungspolitik der beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte noch die späteren Entspannungsbemühungen das Problem gelöst, geschweige denn die Gefahren für den Weltfrieden beseitigt hatten. Die politische Situation Deutschlands, die Richard von Weizsäcker 1985 noch als
') So in einem Thesenpapier "Die Wiedervereinigung der Deutschen als Sicbertieitskonzept" für die CDU/CSU-Fraktion v. 16. 5. 1987. S. dazu auch Friedmanns Buch: Ei.iheit statt Raketen. Thesen zur Wiedervereinigung als Sicherheitskonzept. Herford 1987. - Ähnliche Argumentation auf Grund anderer Prämissen bei E. Bahr. Zum europäischen Frieden. Eine Antwort auf Gorbatschow. Berlin 1988. Kritik an Friedmann und Bahr bei A. Baring (in Zusammenarbeit mit V. Zastrow): Unser neuer Größenwahn. Deutschland zwischen Ost und West. Stuttgart 3 1989, S. 145 ff. u. 182 ff.
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"doppelte Randlage" bezeichnete2, veränderte sich erneut innerhalb weniger Jahre. Die seit den siebziger Jahren wieder belebte internationale Diskussion um die Menschenrechtsfrage ist als Vorbote eines grundsätzlichen Wandels in den internationalen Beziehungen anzusehen, der schließlich zu den Reformen in der Sowjetunion und zum Sturz des kommunistischen Regimes in den meisten Ostblockstaaten führte. Die von dem amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter gemäß seiner geheimen Richtlinie NSC 30 vom 17. Februar 19783 zur außenpolitischen Doktrin gemachte Menschenrechtspolitik und die von ihr ausgehende weltweite Diskussion ließen auch die Verhältnisse in den beiden deutschen Staaten nicht unberührt - wie die Verhandlungen des Expertentreffens im Rahmen der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) im Frühjahr 1986 in Bern und die wenige Monate später einberufene Fortsetzung der Konferenz in Wien (14. November 1986 - 19. Januar 1989) zeigten. Das Ost-West-Gespräch über die Menschenrechte eröffnete einen Ausweg aus der Sackgasse der gegenseitigen Bedrohung, in dem es den Entspannungsprozeß förderte, enthüllte aber zugleich die spezifische Problematik der Teilung eines Landes, in dem sich der Ost-West-Gegensatz als verworrener, wenn auch teilweise erstarrter innerer Konflikt darstellte. Seine Lösung verlangte Geduld und Zähigkeit in den Verhandlungen der Diplomaten. Der Bonner Vertreter bei den Wiener KSZE-Verhandlungen, Ekkehard Eickhoff, meinte nach der ersten Verhandlungsrunde, die Sowjetunion und ihre Verbündeten seien "gesprächsbereiter" als früher gewesen4. Die beiden deutschen Staaten in der Weltpolitik Auf dem KSZE-Experten-Treffen vom 23. April bis 17. Juni 1985 im kanadischen Ottawa ist die seit 1975 veränderte Rolle der beiden deutschen Staaten in der Weltpolitik erstmals klar hervorgetreten. Ihre Vertreter betonten die Erfolge auf dem Gebiet der Verwirklichung der Menschenrechte und äußerten sich "befriedigt" über die Lage in Mitteleuropa. Angesichts der politischen Verhältnisse in Deutschland waren die zurückhaltenden Aussagen verständ2 ) "Die Bundesrepublik ist der Osten des Westens geworden, die DDR der Westen des Ostens. Die Teilung Deutschlands setzt voraus, daß die Teilung Europas überwunden werden kann. Trotz doppelter Randlage bleibt Deutschland aber von den Bedingungen seiner Lage in Mitteleuropa geprägt. Zwar ist diese Mitte geteilt, aber sie bleibt Mitte [...]", Vortrag am 8. 6. 1985 auf dem Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf. In: EA 40 (1985), D 398. G. Konräd benutzt eine ähnliche Formel für Mitteleuropa: "Es ist irgendwo am Ostrand des Westens und am Westrand des Ostens." Nach E. Busek / E. Drix: Projekt Mitteleuropa. Wien 1986, S. 18 f., 24 f., zit. bei J. Wozniakowski: Europa von der Weichsel gesehen. In: K. Michalski (Hg ): Europa und die Folgen. Castelgandolfo-Gespräche 1987. Stuttgart 1988, S. 167. 3 ) E.-O. Czempiel / C.-C. Schweitzer (Hg ): Weltpolitik nach 1945. Einführung und Dokumente (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 210). Bonn 1987, S. 28. Zum Hintergrund: F. Pfluger: US-Außenpolitik und Menschenrechte. Die Wiederbelebung des amerikanischen Idealismus in den siebziger Jahren. Diss. Bonn 1983, S. 223 ff. et passim. 4 ) Zit. nach: H. Schleicher: KSZE-Konferenz positiv. In: Frankfurter Rundschau v. 20. 12. 1986. "Wir können zwar nicht sagen, daß sich mit Veränderungen im Stil auch schon Veränderungen in der Substanz verbinden. Ich hoffe aber, vielleicht in einem Jahr eine positivere Aussage treffen zu können." Ebd.
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lieh. Eickhoff bescheinigte seinem Ost-Berliner Kollegen Wolfgang Kiesewetter "eine gemäßigte, sachliche Sprache", obwohl die Gegensätze zwischen Ost und West in ihrer ganzen Schärfe deutlich geworden seien. Im Gegensatz zu der Wiener Konferenz konnte in Ottawa kein Kommunique verabschiedet werden, was auf intensive Verhandlungen hinter den Kulissen schließen ließ. Die Menschenrechtsfrage blieb jedoch in allen ihren Aspekten auf der Tagesordnung der Konferenz5. Einzelfragen, auch die Behandlung von Ausreiseanträgen wurden vor allem in bilateralen Gesprächen außerhalb der Plenarsitzungen erörtert6. Die Vertreter der beiden deutschen Staaten hielten sich an diese diskrete Diplomatie. Denn zwischen der DDR und der Bundesrepublik herrschte seit ihrer Aufnahme in die Vereinten Nationen am 18. September 1973 als 133. bzw. 134. Mitgliedsstaat ein stillschweigendes Einverständnis darüber, die Arbeit der internationalen Organisationen möglichst nicht mit den besonderen innerdeutschen Problemen zu belasten. Dies war die Voraussetzung, gewissermaßen die Geschäftsgrundlage für die Aufnahme der beiden nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entstandenen Teilstaaten gewesen. Wegen ihres politischen Gegensatzes hatten sie vorher auf die Mitgliedschaft in der Weltorganisation verzichtet bzw. verzichten müssen. Man verständigte sich zwischen Bonn und Ost-Berlin darüber, die politischen Gegensätze nicht vor dem Forum der Vereinten Nationen auszutragen, zumindest nicht in vorderster Linie an der ideologischen Front zwischen Ost und West aufzutreten. Stattdessen wollten die Deutschen innerhalb der jeweiligen Militärbündnisse - Nato und Warschauer Pakt - die Entspannungs- und Friedensbemühungen fördern7. Diese Politik hielt man auch in den KSZE-Verhandlungen seit der Konferenz von Helsinki im Jahre 1975 durch. Im Interesse friedlicher internationaler Beziehungen schien es unerläßlich, die innerdeutschen Probleme allenfalls diskret untereinander zu erörtern. Das war nicht immer möglich. Denn das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR beruhte nie auf rein bilateralen Beziehungen, die nur die Deutschen selbst berührten. Das Verhältnis zwischen ihnen glich gerade wegen ihrer unbestreitbaren, aber von der östlichen Seite nur ungern eingestandenen Gemeinsamkeiten, zuweilen dem von "feindlichen Brüdern". Die Abhängigkeit von der Sowjetunion veranlaßte die DDR-Führung immer wieder dazu, ihre Souveränität vor allem gegenüber der Bundesrepublik zu demonstrieren. Daher führte der sogenannte Grundla5
) "Wenn die Expertenkonferenz sich auch auf keinen Schlußbericht einigen konnte, so hat sie doch - menschenrechtlicbe Mißstände umfassend dargelegt, - zur Klärung gegensätzlicher Standpunkte beigetragen, - extreme Umdeutungsversuche ad absurdum geführt und zurückgewiesen, - die Gültigkeit der menschenrechtlichen Verpflichtungen als Berufungsgrundlage und die Integrität des Menschenrechts-Teils im Gesamtzusammenhang der KSZE ungeschmälert behauptet, - und neben offener Polemik auch konkrete und konstruktive Gespräche unter den Teilnehmerstaaten erlaubt." E. Eickhoff. Das KSZE-Expertentreffen über Menschenrechte in Ottawa - eine Bewertung. In: EA 40 (1985), Beiträge und Berichte, S. 577. 6 > Ebd., S. 577. 7 ) Vgl. W. Bruns: Die Uneinigen in den Vereinten Nationen. Bundesrepublik Deutschland und DDR in der UNO. Köln 1980, S. 105 ff. Offiziöse Darstellung der westdeutschen UN-Politik u. a. bei R. Finke-Osiander. Die UN-Politik der Bundesrepublik. In: P. J. Opitz / V. Rittberger (Hg ): Forum der Welt. 40 Jahre Vereinte Nationen (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 249). Bonn 1986, S. 211 ff.
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genvertrag vom 21. Dezember 1972, wie Mauer und Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze, aber auch der von der DDR einseitig eingeführte und aufrechterhaltene Visumzwang für Westdeutsche und die jahrzehntelangen massiven Reisebeschränkungen für DDR-Einwohner beweisen, trotz mancher Erleichterungen keineswegs zu "gutnachbarlichen Beziehungen". Die Deutsche Frage ist keine Nebensache der Weltpolitik gewesen, wenn man allein die Konzentration militärischer Macht auf beiden Seiten der innerdeutschen Demarkationslinie zwischen Lübeck und Hof berücksichtigt. Sie bildete ebenso wie im 19. Jahrhundert auch nach dem Ende des Dritten Reiches zugleich ein innerdeutsches und internationales Problem. Nicht von ungefähr ist die Deutsche Frage zuerst im europäischen Ausland, dann auch in Deutschland "wiederentdeckt" worden, ehe sich ihre Lösung abzeichnete. Deutschland stellte zwar seit 1945 keinen offenen Konfliktherd dar, befand sich aber in einer nur vorübergehend eingefrorenen politischen Spannungszone. Die Instabilität in der Mitte Europas war nur notdürftig verdeckt. Die in Mitteleuropa bestehende machtpolitische Konstellation hätte die beiden getrennten deutschen Staaten politisch überfordert, wenn es zu einem ernsten Konflikt zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion gekommen wäre. Diese Konstellation war bedingt durch den Zusammenbruch der früheren Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkrieges. Die Alliierten des Krieges, die Hitler selbst durch seine Welteroberungspläne in das Bündnis gegen Deutschland hineinmanövriert hatte, gerieten wenige Jahre nach dem Untergang des sogenannten Dritten Reiches in einen unversöhnlichen Gegensatz zueinander, dessen Auswirkungen nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa und weite Teile der übrigen Welt erfaßte. Es hätte einer handlungsfähigen und entschlossenen politischen Führung auf deutscher Seite bedurft in dieser Lage die Einheit des Landes zu wahren. Das geteilte Deutschland mit seiner ebenfalls geteilten Hauptstadt ist der anschauliche Ausdruck der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Mächtekonstellation und damit einer spannungsreichen, jederzeit gefährdeten Weltordnung gewesen, deren Gesetzen schließlich auch viele "blockfreie" Staaten der sogenannten Dritten Welt unterlagen. Diese Weltordnung beruhte bei allen Spannungen auf dem bisher unangefochtenen gemeinsamen Willen der Supermächte, die eigenen Konflikte in Grenzen zu halten. Zu einer gemeinsamen Herrschaft über Deutschland ist es schließlich nicht gekommen, obwohl ein "Kondominium" (Hans Kelsen) nach der Katastrophe von 1945 in den Augen mancher westlicher Politiker ein geeignetes Mittel zu sein schien, den Zusammenbruch der Anti-Hitler-Koalition nach dem gemeinsamen Sieg zu verhindern8.
8 ) L Kettenacker: Das Entstehen der Blöcke: Die deutsche Frage und die Teilung Europas. In: Η Duchhardt (Hg ): In Europas Mitte. Deutschland und seine Nachbarn. Bonn 1988, S. 158 ff.
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Deutschland und die Vereinten Nationen Die Vereinten Nationen sind die legitimen Erben der Anti-Hitler-Koalition. Die von dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt und dem britischen Premierminister Churchill als "Gemeinsame Erklärung" verkündete "AtlantikCharta" vom 14. August 1941 bekannte sich zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, zum freien Welthandel und zu einem zu schaffenden allgemeinen Sicherheitssystem.9 Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Sowjetunion verabredeten auf der Moskauer Außenministerkonferenz Ende Oktober 1943, künftig eine "allgemeine internationale Organisation zur Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit zu schaffen, die auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller friedliebenden Staaten" beruhen sollte. Zugleich verständigte man sich über die Bestrafung der auf der Seite der sogenannten Achsenmächte während des Krieges begangenen Verbrechen und Grausamkeiten. Die Zerstückelung Deutschlands (dismemberment) zeichnete sich seit Moskau ab, auch wenn sie erst am 1. Dezember 1943 von den "Großen Drei" (Churchill, Roosevelt, Stalin) in Teheran näher erörtert und dann vorläufig wieder fallen gelassen wurde. Stalin hatte schon dort Bedenken geäußert, daß ein solcher Plan die erwünschte außenpolitische Wirkung zeitigen würde10. Der Zusammenhang zwischen dem Sieg der Alliierten über HiderDeutschland und der Gründung der Vereinten Nationen spiegelt sich nicht nur in der von 26 Staaten unterzeichneten "Washingtoner Erklärung der Vereinten Nationen" vom 1. Januar 1942 wieder, die einen "vollständigen Sieg über ihre Feinde" als notwendig bezeichnete, "um Leben, Freiheit, Unabhängigkeit und religiöse Freiheit zu verteidigen"11. Er steht auch hinter der "Feindstaatenklausel" der UN-Charta vom 26. Juni 1945 (Art. 53 und 107) und charakterisiert insofern auch noch die spätere politische Rolle der beiden deutschen Staaten in der Weltorganisation. Das Ende des Zweiten Weltkrieges bot eine scheinbare Chance, eine neue - wie man meinte - gerechtere Weltordnung im Sinne des Paktes der Vereinten Nationen ins Leben zu rufen, in der jede Gewalt, vor allem der Krieg, als Mittel der Auseinandersetzung zwischen den Staaten und Völkern endgültig geächtet und abgeschafft sein sollte. Nach Ansicht des Völkerrechtlers Felix Ermacora bestätigt der Ausgang des Zweiten Weltkrieges die schon 9
) Dazu P. Opitz: Zur Gründungsgeschichte der Vereinten Nationen. In: Ders. / V. Rittberger (Hg.): Forum der Welt (Anm. 7), S. 15 und Anhang 316. !0 ) Vgl. Die Moskauer Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritanniens (19.-30. Okt. 1943). Dokumentensammlung, Moskau/Berlin 1988, Nr. 94, S. 293 ff. - Die Teheraner Konferenz der drei höchsten Repräsentanten der drei alliierten Mächte UdSSR, USA und Großbritannien (28. Nov.-l. Dez. 1943). Dokumentensammlung, Moskau/Berlin 1986, Nr. 62 (Sitzung am runden Tisch am 1. 12.) und Nr. 63 (Aufzeichnung einer Unterredung Stalins mit Roosevelt am 1. 12.) S. 133 ff. - P. Kluke: Selbstbestimmung. Vom Wege einer Idee durch die Geschichte. Göttingen 1963, S. 133 f.; A. Hillgruber: Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit (1945-1963). München 31987, S. 17. u ) Erklärung der Vereinten Nationen, Anerkennung der Prinzipien der Atlantik-Charta vom 1. Januar 1942. EA 1947, 343. K. Dicke: 40 Jahre Menschenrechtsschutz durch die Vereinten Nationen. In: P. Opitz/V. Rittberger (Hg.): Forum der Welt (Anm. 7), S. 153.
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von den Philosophen des Altertums erkannte Wahrheit, daß die Leiden der Kriege indirekt immer auch zum Fortschritt der menschlichen Zivilisation beizutragen vermögen12. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion betrachteten die Charta der Vereinten Nationen als ein Mittel zur Friedenssicherung, vor allem aber als Instrument zur Beseitigung der bei Kriegsende noch über weite Teile der Welt verbreiteten Kolonialherrschaft. Die Meinungsverschiedenheiten über diesen Prozeß wurden durch die Formel "progressive development towards self-government or independence" verdeckt13. Großbritannien und Frankreich gehörten dagegen - bei allem grundsätzlichen Einverständnis mit ihren Partnern über die Friedensmission der Weltorganisation - zu den Leidtragenden dieser Entwicklung, da sie noch über einen beträchtlichen Kolonialbesitz verfügten. Vergeblich hatte sich Churchill noch im Frühjahr 1943 um Unterstützung für seinen Plan bemüht, regionale Sicherheitszonen zu schaffen, um das Kolonialproblem zu entschärfen14. Die Charta der Vereinten Nationen konnte nicht an einen aktuellen politischen Zweck gebunden bleiben, wenn die Vereinten Nationen nicht dasselbe Schicksal wie der frühere Völkerbund erleiden sollten, der weder das Selbstbestimmungsrecht der Völker, noch den Weltfrieden zu sichern vermocht hatte. Die Vereinten Nationen bekannten sich zu beiden Zielsetzungen. Sie waren entschlossen, wie es in der Charta hieß: "[...] die kommenden Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zu unseren Lebzeiten zweimal unsagbares Leid über die Menschheit gebracht, und um den Glauben an grundlegende Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person, an die gleichen Rechte von Männern und Frauen und von großen und kleinen Völkern wieder zu befestigen f...]"15. Der Kern der Menschenrechtsidee Es ist nicht zu übersehen, daß sich die Charta darauf beschränkte, die Achtung vor den Rechten der Menschen zu proklamieren. Der einzelne Mensch wurde immerhin erstmals als Subjekt des Völkerrechts (Art. 55) anerkannt16. Doch ist 12 ) "Die Erfahrung, mit der durch das NS-Regime bewirkten systematischen Rassendiskriminierung und die Aufdeckung von Handlungen, die zur späteren Ausfonnulierung des international strafrechtlichen Delikts des Völkermordes führten, setzten Emotionen und Impulse frei, die auf menschenrechtlichem Gebiet die Verantwortlichen beflügelten, eine neue Weltordnung als menschenrechtliche Wertordnung zu konzipieren. Erstmals war dieser Gedanke auch von einer universellen Gesinnung getragen - jeder Staat, ob Sieger oder Besiegter, ob groß oder klein, sollte durch die menschenrechtliche Ordnung verpflichtet sein. (Für die Besiegten allerdings galten faktisch besondere strafrechtliche und auch diskriminierende Regeln.)" F. Ermacora: Die Menschenrechte im Rahmen der Vereinten Nationen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 19. 5. 1986, S. 4. 13 ) Art. 76 der UN-Satzung: L M. Goodrich / E. Hambro / Α. P. Simons: Charter of the United Nations. Commentary and Documents. New York 3 1969, S. 466 ff. Vgl. Τ. Schieder: Zum Problem des Staatenpluralismus in der modernen Welt. Köln 1969, S. 18. 14 ) Vgl. P. Kluke: Selbstbestimmung (Anm. 10), S. 132 ff.; U. Scheuner: Die Vereinten Nationen als Faktor der internationalen Politik. Opladen 1976, S. 31. 15 ) F. Ermacora: (Hg ): Internationale Dokumente zum Menschenrechtsschutz. Stuttgart 3 1982, S. 13. L M. Goodrich /E. Hambro /Α. P. Simons: Charter oft the United Nations (Anm . 13), S. 19 ff. 16 ) Vgl. L M. Goodrich / E. Hambro / Α. P. Simons: Charter of the United Nations (Anm. 13), S. 371 ff. H. Bull: Die anarchische Gesellschaft. In: K. Kaiser / H.-P. Schwarz (Hg ): Weltpolitik.
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dies nicht das letzte Wort der Vereinten Nationen in dieser Frage gewesen. Schon drei Jahre später, am 10. Dezember 1948, verabschiedeten sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die seither die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes entscheidend bestimmte. Die Präambel erklärte diese Rechte zur Richtschnur für das Handeln aller Völker und Nationen. Die drei ersten Artikel fassen die wichtigsten Prinzipien der seit der Aufklärung lebendigen europäischen Menschenrechtstradition im Sinne von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" zusammen und tragen einen entschieden antikolonialistischen Tenor17. Auf die Nachkriegsverhältnisse angewandt, hätte es von deutscher Seite kaum Klagen über Verletzungen dieser Grundsätze geben können, wenn man von Artikel 13 absieht: " 1. Jeder hat das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb der Grenzen aller Staaten. 2. Jeder hat das Recht, jedes beliebige Land einschließlich seines eigenen zu verlassen, sowie in sein Land zurückzukehren."18 Das Recht auf Freizügigkeit gehört zum Kem der Menschenrechtsidee. Freizügigkeit genießen heißt, jeder Art von gewaltsamem Zugriff durch Dritte - sei es durch den mehr oder weniger gerechtfertigten Strafanspruch eines Staates oder auch durch den Druck wirtschaftlicher Ausbeutung - entzogen sein. Es ist die - gleichsam negative - Formel für das aus der europäischen Naturrechtslehre folgende Postulat, wie es schon der römische Jurist und Philosoph Domitius Ulpian (170 - 228 nach Chr.) bestimmt hat: ehrenhaft leben, niemandem Schaden zufügen, jedem das Seine zugestehen19. Im Unterschied zur aristotelischen Einteilung zwischen Freien und Sklaven vertrat die Stoa das Prinzip der Gleichheit innerhalb der ganzen Menschheit, der civitas ma-
Strukturen-Akteure-Perspektiven (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 217). Bonn 1985, S. 40. 17 ) "Artikel 1. Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen sich zu einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen. Artikel 2, 1. Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen. 2. Weiter darf keine Unterscheidung gemacht werden auf Gnind der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, ohne Rücksicht darauf, ob es unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregiening besitzt oder irgendeiner anderen Beschränkung seiner Souveränität unterworfen ist." F. Ermacora (Hg.): Dokumente (Anm. 15), S. 21 f. Übersicht über die UN-Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte bis 1979 bei W. von Bredow (Hg.): Geschichte und Organisation der UNO. Ein Studien- und Arbeitsbuch. Köln 1980, S. 174 ff. 1S ) F. Ermacora (Hg.): Dokumente (Anm. 15), S. 23. I9 ) Ulpian dehnt nach dem Vorbild Theophrasts und der Pythagoreer, jedoch im Gegensatz zur Stoa, das ius naturale auf alle Lebewesen aus. Er unterscheidet es vom ius gentium der meisten Juristen: "Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Iuris praeeepta sunt haec: honeste vivere, alteram non laedere, suum cuique tribuere. Iuris pradentia est divinanjm atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia". Iustiniani Digests 1, 1, 10 (Corpus iuris civilis. Hg. v. T. Mommsen u. P. KrUger. Bd. 1, Berlin "1908, 29). - M. Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen 3 1967, S. 263 f. Nach H. Thielicke: Theologische Ethik Bd. 3,3. Tübingen 1964, S. 331, geht es bei Ulpian weniger um "Ordnung" als um "Intention", die Willensrichtung des Menschen als Person.
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xima. Der Knecht, dem diese Eigenschaften abgehen, sei nur ein halber Mensch, da er auf Herrschaft angewiesen sei20. Der Staat ist nicht Eigentümer des Menschen. Die Menschenrechte stellen in ihrem neuzeitlichen Verständnis eine zugegebenermaßen individualistische, dem Entwicklungsstand moderner Gesellschaften entsprechende Konsequenz des Naturrechts dar21. Schon im römischen Recht war die Gleichheit der Menschen trotz der noch geltenden Sklaverei nach dem Naturrecht grundgelegt: Nach dem bürgerlichen Recht gälten die Sklaven nichts, das folge jedoch nicht aus dem Naturrecht, nach dem alle Menschen gleich seien (Quod attinet ad ius civile servi pro nullis habentur: non tarnen ex iure naturale, quia ad ius naturale attinet, omnes homines aequales sunt [Ulpian])22. Danach war das natürliche Recht eines jeden Sklaven, einem grausamen Herrn oder Unterdrücker einfach wegzulaufen, in sich plausibel und nicht auf andere Prinzipien zurückführbar. In ihm kam die "Kritik des persönlichen Rechtsgewissens" am positiven, "erzwungenen Recht" zum Ausdruck (Franz Wieacker). Es entsprach, wie der mittelalterliche Theologe Johannes von Salisbury (um 11151180) erkannte, der Lebenspraxis mehr als das Gegenteil. Die Sklaverei sei gleichsam ein Abbild des Todes, die Freiheit das Abbild der Sicherheit des Lebens (servitium enim quaedam imago mortis est, et libertas securitas vitae)23. Die politischen Konsequenzen dieser Lehre waren unterschiedlich. In Deutschland stand seit dem Augsburger Reichstagsabschied von 1555 das ius emigrationis dem ius reformandi der Fürsten und Obrigkeiten gegenüber. Ludwig XIV. von Frankreich verbot 1669 allen Untertanen die Auswanderung bei Todes- und Konfiskationsstrafe. 1685 wurde die Todesstrafe durch die Galeerenstrafe ersetzt. Als der König das Toleranzedikt von Nantes am 18. Oktober 1685 für ungültig erklärte, zugleich aber den Hugenotten das Recht auf Auswanderung verwehrte, erhob das protestantische Europa Einspruch. Der Große Kurfürst intervenierte zugunsten der Verfolgten und bot ihnen Zuflucht24. Demgegenüber gehen alle Einwände gegen das Freizügigkeitsargument ins Leere, die von einem ursprünglicheren Recht des Menschen auf Nahrung und Arbeit (Art. 118 der sowjetischen Verfassung vom 5. Dezember 1936) oder zuletzt auf "Frieden" - sprechen. Auch die vor wenigen Jahren von sowjetischer Seite noch proklamierten angeblichen Menschenrechte der zweiten oder dritten Generation dienten dem durchsichtigen Zweck, den Anspruch auf 20 ) Dazu R. Koseileck: Die Grenzen der Emanzipation. - Eine begriffsgeschichtlichc Skizze. In: K. Michalski (Hg ): Europa und die Folgen (Anm. 2), S. 51 ff. Vgl. G. Oestreich: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß. Berlin 1968, S. 16 f. 21 ) T. Mayer: Prinzip Nation. Dimensionen der nationalen Frage am Beispiel Deutschlands. Opladen 1986, S. 71. 22 ) Iustiniani Digesta SO, 17, 32: Corpus iuris civilis, (Anm. 19), S. 921. 23 ) F. Wieacker: Zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NRW. Geisteswissenschaften H. 122). Köln 1965, S. 19. - Joannis Saresberiensis, Polycraticus Liber VII, Cap. XVII, Opera omnia Bd. 4. Ed. A. Giles. Oxford 1948, S. 144. 24 ) E. Jahan: La confiscation des biens des religionnaires fugitifs de la Rfivocation des l'Edit de Nantes ä la Involution. Thfcse pour le doctorat en droit. Paris 1959, S. 12 ff.; R. Pilorget: Die juristischen, finanziellen und familiären Auswirkungen des Edikts von Fontainebleau in Frankreich. In: H. Duchhardt (Hg ): Der Exodus der Hugenotten: die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 als europäisches Ereignis. Köln-Wien 1985, 53-68. M. Kriele: Legitimitätsprobleme der Bundesrepublik. München 1977, S. 259.
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Freizügigkeit aus den Angeln zu heben. All dies hieße, wie Martin Kriele unter Berufung auf Kant betont, nicht individuell einklagbare allgemeine Staatspflichten mit den universalen vorstaatlichen Menschenrechten zu verwechseln. Staatspflichten lassen sich unmittelbar nur aus dem Wesen des Staates, mitnichten aber aus dem Wesen des Menschen herleiten. Die Machthaber der Zweiten und Dritten Welt versuchen ihre Repressionen lediglich aus ihren politischen Absichten zu legitimieren, ohne die Einhaltung der Staatspflichten wirklich garantieren zu können 25 . Dies hat folgerichtig zu einer Art "Verstaatlichung der Menschenrechte in Osteuropa" (Otto Schily) geführt 26 . Kriele hat schon früher darauf hingewiesen, daß das Argument, in den sozialistischen Staaten würden die Menschenrechte als gesellschaftliche Rechte verstanden, darauf hinausläuft, daß die "Menschenrechte gerade durch ihre Beseitigung verwirklicht würden." Die Texte der Menschenrechtspakte unterscheiden nicht zwischen einem 'individualistischen' und einem 'gesellschaftlichen' Menschenrechtsverständnis. Menschenrechte gelten für jedermann 27 . Die Staaten des "realen Sozialismus" führten lange Zeit die soziale Sicherheit zu ihren Gunsten ins Feld. Anspruch und Wirklichkeit fallen in dieser Frage oft weit auseinander. Freizügigkeit kann von jedem Staat unmittelbar gewährt werden, soziale Sicherheit nicht. Sie ist kein vom Staat ausgehendes Privileg. Kant sprach von einem Weltbürgerrecht, das er allerdings mit guten Gründen auf ein Besuchsrecht auf "allgemeine Hospitalität" eingeschränkt wissen wollte. Das widerlegt das vor der politischen Wende in der DDR von dem Ost-Berliner Anwalt und späteren PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi vorgetragene Argument, ein weltweites Auswanderungsrecht hätte ein weltweites Einwanderungsrecht zur Voraussetzung 28 . Schon die Einwanderungserlaubnis bzw. Asylgarantie eines einzigen Landes genügt um im konkreten Fall das Argument hinfällig werden zu lassen. Der weltweite Kampf um das Prinzip der Freizügigkeit ist als Reaktion darauf zu verstehen, daß es ebenso wie das Asylrecht per definitionem nur von den Staaten verletzt wird. Jeder Flüchtling, der einem bestimmten politischen System zu entkommen sucht zieht die äußerste, letzte Konsequenz aus der Tatsache, daß alle Formen politischer Gewalt auch von den ihnen unterworfenen Menschen abhängig sind. Über dieses Problem war der Staat des Ancien Regime gewissermaßen schon hinaus. Man sollte nicht übersehen, daß das Recht auf Arbeit erstmals im Edikt Ludwigs XVI. über die Aufhebung der Zünfte vom 12. März 1776 zum Gesetz erhoben worden ist und dies keines25
) "Die Verwendung des Begriffs 'Menschenrechte' für reine Staatspflichten dient nur dem Zweck, ihn für Despotien verfügbar zu machen, die unter Berufung auf die 'Menschenrechte der 2. und 3. Generation' beanspruchen, den Menschen die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte vorenthalten zu dürfen." M. Kriele: Gibt es eine Rangordnung der Menschenrechte? In: FAZ Nr. 136 v. 15. 6. 1987, S. 13; Ders.: Die demokratische Weltrevolution. München 1987, S. 42 ff. 26 ) 0. Schily, Abgeordneter der Grünen, am 4. 2. 1988 im Deutschen Bundestag. Zit. nach: Das Parlament Nr. 7/8 ν. 12 /19. 2. 1988, S. 6. 27 ) M. Kriele: Die Menschenrechte zwischen Ost und West. Köln 1977, S. 47 f. 28 ) I. Kam: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), Dritter Definitivartikel. In: Ders.: Politische Schriften. Hg. ν. 0. Η v. d. Gablentz. Köln 1965, S. 120. G. Wetzel: Bei den Menschenrechten nichts dazugelernt. Der letzte "Staatenbericht" der DDR nach einem Pakt von 1976. In: FAZ Nr. 124 v. 1.6. 1989, S. 13.
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wegs, um damit die Bewegungsfreiheit seiner Untertanen zu beschränken. Das Recht auf Arbeit, vor allem die Freiheit der Berufwahl, richtete sich gegen die Zunftverfassung und zielte auf die allgemeine Freizügigkeit im Innern des Landes. Es entstammte physiokratischen Reformvorstellungen, die von einer natürlichen Ungleichheit der Menschen ausgingen, aber die Rechtsgleichheit auf der Grundlage der propridt£ naturelle anstrebten. Dieses Edikt 29 war das Werk des Generalkontrolleurs der Finanzen, des bedeutenden Reformtheoretikers und -politikers Anne-Robert Turgot. Es verdankte sein Entstehen einer besonderen historischen Situation, d. h. einem bestimmten Entwicklungsstadium der französischen Gesellschaft, vor allem der gewaltigen Ausdehnung der Staatstätigkeit, und gehörte insofern zu den fortschrittlichen Errungenschaften des Ancien Regime und des aufgeklärten Absolutismus. Das allgemeine staatliche Auswanderungsverbot ist zwar noch eine Schöpfung des Absolutismus, wurde dann aber doch während der Revolution im Sinne der späteren totalitären Praxis beträchtlich verschärft. So wurde im Zusammenhang mit der Abreise der Tanten des französischen Königs am 19. Februar 1791 nach Rom ein solches Verbot als Maßnahme gegen einen möglichen Landesverrat erlassen 30 . Das Ancien Rögime kannte das Ausreiseverbot als Ausdruck der persönlichen Bindung der Untertanen an den Landesherrn, später auch als Mittel der Wirtschaftspolitik. In der Revolutionszeit wird es einerseits allgemein proklamiert andererseits aber auch bereits prinzipiell in Frage gestellt. Das Allgemeine Landrecht machte die Auswanderung von staatlicher Zustimmung abhängig. Der Verfassungsliberalismus setzte die Auswanderungsfreiheit seit dem 19. Jahrhundert allmählich durch, nachdem sie in der Wiener Bundesakte anerkannt worden war. Das Auswanderungsverbot geht von der Staatsräson aus, wie sie Bodin und Hobbes verstanden, und macht deutlich, daß die Revolution nicht nur die Menschenrechtsidee, sondern auch die Macht des Staates gestärkt hat. Die hinter der amerikanischen Verfassung von 1776 stehende Idee eines naturrechtlich begründeten Selbstbestimmungsrechtes wurde mit der angeblich absoluten "Tyrannei" des englischen Königs begründet. Die USA stellten die erste Staatsgründung auf der Grundlage des Menschenrechtsprinzips jenseits eines nationalistisch verstandenen Selbstbestimmungsrechts der Völker dar31. Die historische Herkunft der Menschenrechtserklärung aus der westeuropäischen Freiheitstradition ist unbestritten. Dies bedeutet jedoch nicht, daß man sie aus östlicher und westlicher Sicht verschieden, ja geradezu gegensätzlich interpretieren darf. Dies mag im Falle der Religionsfreiheit und bei den Bürgerrechten innerhalb der Staaten noch denkbar sein. Gerade die Verhandlungen über Freizügigkeit und Ausreisemöglichkeiten auf den KSZEKonferenzen machten deutlich, daß die Partner trotz aller Propaganda genau wußten, worüber sie sprachen. Der richtungweisende Sinn der Menschenrechte, ihre "Normstruktur", erschließt sich der praktischen Vernunft eher als der theoretischen, da sich ihr 29
) Les edits de Turgot. Paris 1976. Vgl. G. Oestreich: Geschichte (Anm. 20), S. 66 f. ) Vgl. G. Chaussinand-Nogaret: Mirabeau. Stuttgart 1988, S. 297 ff. 31 ) A. Erler: Art. Auswanderung. In: Ders. /E. Kaufmann (Hg.): HRG, Bd. 1. Berlin 1971, S. 274 f.; T. Schieder: Staatenpluralismus (Anm. 13), S. 15. G. Oestreich: Geschichte (Anm. 20), S. 58 ff. 30
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Inhalt kaum für eine unvorhersehbare Anzahl von Fällen kodifizieren ließe32. Der Begriff der Freizügigkeit beispielsweise ist in der praktischen Lebenswirklichkeit ebenso klar wie der des Asylrechts, auch wenn er den klassischen Menschenrechtsvorstellungen der westlichen Zivilisation besonders verpflichtet und durch sie kulturell geprägt ist; abgesehen davon, daß in die moderne Menschenrechtsidee verschiedene Formen des Humanismus einschließlich des indischen und chinesischen eingegangen sind33. Die Rolle der Diktaturen Man mag mit Recht einwenden, daß den Millionen von hungernden Menschen in den ärmsten Entwicklungsländern das in Europa formulierte und unverkennbar europäisch geprägte Recht auf Freizügigkeit, geradezu als "Luxusproblem" erscheinen muß und daß diese Menschen das Recht auf Arbeit, Wasser und Brot gem gegen ihre zweifellos im Überfluß vorhandene, aber für das physische Überleben zunächst wertlose Freizügigkeit eintauschen würden. Zu einem solchen Tausch dürfte auch mancher Schwerkranke bereit sein, der schon die physische Gesundheit eines Gefangenen als erstrebenswertes Gut betrachtet. Dem ist entgegenzuhalten, daß das Problem der Diktatur sich in der Tat nur in den entwickelten Industriestaaten Europas in seiner ganzen Schärfe stellt während es in den "Entwicklungsländern" in den meisten Fällen noch als Modernisierungsproblem verstanden werden kann, solange Leben und Gesundheit der Menschen nicht unmittelbar bedroht sind. Die Alternative "Freiheit oder Brot" ist fragwürdig, wenn sie nur dazu dient, Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen. Sie ist meist nichts anderes als eine - glücklicherweise nicht immer einlösbare - Drohung, dem seiner Freiheitsrechte bereits beraubten Menschen weiteren Schaden zuzufügen, etwa, ihm auch noch Nahrung oder Arbeit zu entziehen. Andererseits bezieht die Alternative "Recht auf Freizügigkeit contra Recht auf Arbeit" ihre relative Überzeugungskraft unter bestimmten Umständen aus der unmittelbaren Lebenswirklichkeit und den höchst unterschiedlichen Erfahrungen und Hoffnungen der betroffenen Menschen. Die Menschenrechtsfrage ist international in den Nord-Süd- und den OstWest-Gegensatz eingebunden gewesen 34 . In ihr spiegelten sich der Wettkampf der ideologischen Systeme bzw. die Attraktivität der von den Supermächten repräsentierten gegensätzlichen weltpolitischen Ideen. Sie ist kein leerer Prinzipienstreit, dessen Ausgang allenfalls von juristischem Interesse wäre. Welche allgemein menschliche Bedeutung dieser Streit hatte, macht die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch deutlich. Sie kritisiert den Irrtum, "eine Wahl zwischen Kommunismus und freier westlicher Gesellschaft komme einer Wahl zwischen sozialer Gerechtigkeit und individueller Freiheit gleich". Der Mensch fürchte sich vor dem Tod und dem Mangel und strebe daher nach im32
) K. Dicke: Menschellrechtsschutz (Anm. 11), S. 154 ff. ) F. Ermacora: Menschensrechte (Anm. 12), S. 10. Dort Hinweis auf De la Chapelle: La Declaration Universelle des Droits et le Catholicisme. Paris 1967. Vgl. G. Schwan: Probleme und Möglichkeiten einer Menschenrechtspolitik. In: K. Kaiser /H.-P. Schwarz (Hg ): Weltpolitik (Anm. 16), S. 285 f. 34 ) G. Schwan: Probleme (Anm. 33), S. 295. 33
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mer mehr Sicherheit und versuche sich gegenüber allen möglichen Gefahren zu schützen. Dieses gemeinschaftliche Streben verlange aber eine öffentliche Kontrolle, da jede Form von Macht größer werden wolle. Die Geschichte der Menschheit, aber auch die Lehre und die Praxis des Marxismus zeige, "daß deqenige, der über mehr Macht verfügt auch mehr Güter besitzt". Unkontrollierte Macht sei das größte Hindernis für soziale Gerechtigkeit. In den westlichen Demokratien sei aber die soziale Gerechtigkeit ungleich höher entwickelt als in den kommunistischen und anderen Diktaturen, da individuelle und politische Macht durch demokratische Kontrollen begrenzt werde35. Die Garantie der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen wäre wertlos, wenn die Politik einzelner Großmächte, vielleicht aber auch einer Mehrzahl ihrer Mitgliedstaaten nicht nur gegen die Deklaration verstieße, sondern prinzipiell gegen die in der Erklärung verkündeten Grundsätze gerichtet wäre. Wenn Tyrannei und Diktatur in allen ihren Erscheinungsformen heute geradezu durch ihre Menschenrechtsfeindlichkeit definiert wären, dann machte der Kampf um die Menschenrechte den größten Teil der internationalen politischen Konflikte aus, da die Souveränität der großen und kleinen Staaten in der Völkergemeinschaft prinzipiell anerkannt ist. Das spricht für die von Kant in Übereinstimmung mit Aristoteles vertretene These, allen Despotien eigne ein kriegerischer, also terroristischer Charakter36. Auch wenn hin und wieder das Gespenst an die Wand gemalt wird, die Vereinten Nationen als "kleines Tollhaus" 37 könnten in absehbarer Zeit von einer Mehrheit großer und kleiner Tyrannen und Diktatoren beherrscht werden, sind doch die meist auf dem Wege der zwischenstaatlichen Konsultation erreichten Fortschritte auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes seit 1948 unverkennbar. Auch der KSZE-Prozeß bestätigt dies38. Instrumente des Menschenrechtsschutzes Der Grund für diesen relativen Fortschritt liegt in dem schon mit der Menschenrechtserklärung von 1948 geschaffenen Instrumentarium zu ihrer politischen Realisierung, die sich nicht in der formalen Unabhängigkeit der bisherigen Kolonialgebiete erschöpfte. Die Menschenrechtskommission hat anläßlich der Beratungen über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte drei Wege der Sicherung dieser Rechte vorgeschrieben: Deklaration, Konvention und Verwirklichung (declaration, covenant, implementation). Mit der bloßen Deklaration wollte man sich von vornherein nicht zufrieden geben, zumal sie nur ein indirektes Mittel des Menschenrechtsschutzes war, d. h. nicht einmal einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den damals noch 58 Mitgliedsstaaten darstellte und lediglich - um in der UN-Sprache zu reden - dem standard setting diente. 35 ) Interview im Rheinischen Merkur v. 17. 5. 1986 Nr. 21, S. 7 mit A. Reif "Mehr Ehrfurcht vor dem Mitmenschen". 36 ) M. Kriele: Weltrevolution (Anm. 25), S. 166 f. 37 ) W. Bruns: Die Uneinigen (Anm. 7), S. 125 f. 38 )D. Frei: Die Entstehung eines globalen Systems unabhäniger Staaten. In: K. Kaiser / H.-P. Schwarz (Hg.): Weltpolitik (Anm. 16), S. 28 f. Vgl. W. von Bredow (Hg.): Geschichte (Anm. 17), S. 7 f.
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Als die Vereinten Nationen in ihrer Charta von 1945 erstmals den Einzelmenschen als Träger von völkerrechtlich bedeutsamen Rechten anerkannten, relativierten sie das Prinzip staatlicher Souveränität. Sie verhalfen damit zugleich den Grundsätzen des liberalen Verfassungsstaates zu internationaler Anerkennung39. Auf der Menschenrechtserklärung von 1948 beruhen die späteren Vereinbarungen und Kontrollmechanismen, die sich allerdings mehr oder weniger in einer regelmäßigen Berichtspflicht der sonst gegenseitig als souverän respektierten Staaten auswirkten40. Immerhin schufen die Vereinten Nationen seit 1974 eine eigene Menschenrechtsabteilung (Genf) und seit 1976 einen Menschenrechtsausschuß neben der seit 1946 bestehenden Menschenrechtskommission. Der Menschenrechtsausschuß bestand anfangs aus 18 ad personam ernannten Mitgliedern, während die Menschenrechtskommission 46 vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) nominierte Staatenvertreter umfaßte41. Die Tatsache, daß die Sowjetunion sich 1948 bei der Gesamtabstimmung über die Erklärung der Menschenrechte der Stimme enthielt, mag ein ungünstiges Omen gewesen sein, zumindest belastete dies die spätere Entwicklung. Doch war die Stimmenthaltung weniger auf die Freizügigkeitsgarantie als auf die nach Ansicht der Sowjetunion unzureichenden Minderheitenschutzrechte - darin folgte ihr auch Dänemark - zurückzuführen. Die Deklaration teilte das Schicksal vieler anderer Resolutionen der Generalversammlung. Während des schon Ende der vierziger Jahre ausbrechenden Kalten Krieges schien sie zeitweise das Papier nicht wert zu sein, auf dem sie gedruckt war. Die Renaissance der Menschenrechtsdiskussion war jedoch nach dem definitiven Ende des Kolonialzeitalters in den sechziger Jahren unausweichlich. Die Vereinten Nationen hatten Reste des Kolonialismus durch eine Reihe von Einzelabkommen gegen Rassendiskriminierung, Sklaverei und jede Form des Völkermordes bekämpft so daß die Menschenrechtsfrage nie von der internationalen Tagesordnung verschwand. Die Vollversammlung verabschiedete mit ihrer Resolution 2200 Α am 16. Dezember 1966 zwei große internationale Pakte - den "Internationalen Pakt über ökonomische, soziale und kulturelle Rechte" und den "Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte" -, die zehn Jahre später, nach Abschluß der Helsinki-Konferenz, in Kraft traten. Sie wurden damals von 35 Staaten ratifiziert, auch von der Sowjetunion und den beiden deutschen Staaten. Die nach Begründung, Umfang und Durchsetzbarkeit der in ihnen anerkannten Prinzipien verschiedenen Menschenrechtspakte sollten vor allem Leben und Freiheit des einzelnen im Sinne der klassischen Naturrechtslehre schützen, andererseits die gerechte Teilhabe aller Menschen am sozialen Fortschritt und an der Daseinsvorsorge sicherstel-
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) K. Dicke: Menschenrechtsschutz (Anm. 11), S. 153 f. ) F. Ermacora: Menschenrechte (Anm. 12), S. 6. ) Mitteilung von Herrn Prof. Dr. D. Grille, Erlangen, an den Verfasser. K. Dicke: Menschenrechtsschutz (Anm. 11), S. 159 ff. - Nach Art. 61 der UN-Charta besteht der ECOSOC aus 54 (ursprunglich 27) von der Vollversammlung gewählten Mitgliedern; W. SprOte / H. Wünsche: Die UNO und ihre Spezialorganisationen. Berlin 1983, S. 86 ff. L Μ Goodrich / E. Hambro / A P. Simons: Charter of the United Nations (Anm. 13), S. 408 f. 40
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len42. Sie garantierten die kollektiven Menschenrechte ausdrücklich. Schon in Artikel 1, Absatz 1 der beiden Dokumente heißt es: "Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung."43 Gewiß bestimmten wieder die für souverän erklärten Staaten, was ein Volk ist und in welchem Rahmen es sein Selbstbestimmungsrecht ausüben kann. Die Sowjetunion legte nicht ohne Grund jahrzehntelang den Terminus Seifdetermination of Nations als "Selbstbestimmung der Staaten" aus und versuchte, diesen Sprachgebrauch international durchzusetzen. Das stieß in den Vereinten Nationen immer wieder auf Widerspruch und Widerstand, wie die Anerkennung von sogenannten Befreiungsbewegungen wie der SWAPO in Südafrika und der PLO im Nahen Osten zeigte. Auch die KSZE hat das Selbstbestimmungsrecht der Völker ausdrücklich in Abschnitt VIII ihrer Schlußakte vom 1. August 1975 anerkannt44. Die Gemeinsame Erklärung von Generalsekretär Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl vom 13. Juni 1989 deutete einen Kurswechsel der Sowjetunion in dieser Frage an. Sie erkannte das "Recht aller Völker und Staaten" an, "ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten". Man erkannte ausdrücklich den "Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik" an45. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Mitbestimmungsrechte der Bürger der einzelnen Staaten sind in Artikel 25 des Weltpaktes für bürgerliche und soziale Rechte vom 16. Dezember 1966 klar und konkret aufeinander bezogen: "Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, [...] ohne unangemessene Einschränkungen a) an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen; b) bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden; c) unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben."46
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) K. Dicke: Menschenrechtsschutz (Anm. 11), S. 157 f. ) F. Ermacora (Hg ): Dokumente (Anm. 15), S. 86 und 99. Vgl. Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil II Nr. 6 v. 26. 2. 1974, S. 57 ff. 44 ) Text: EA 17 (1975), 437-485, auch in: H. Volle / W. Wagner (Hg.): KSZE. Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Beiträge und Dokumente aus dem Europa-Archiv. Bonn 1976, S. 237 ff. Vgl. T. Mayer: Nation (Amn. 21), S. 167. 45 ) Text u. a. in: FAZ Nr. 135 v. 14. 6. 1989, S. 2. 46 ) Yearbook for Human Rights for 1966. Hg. United Nations. New York 1969, S. 446 zit. nach F. Ermacora (Hg.): Dokumente (Anm. 15), S. 111. 43
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Die Menschenrechtsfrage in Deutschland Die internationale Menschenrechtsdiskussion ließ scheinbar die Verhältnisse in Deutschland unberührt. In Helsinki hielten sich die beiden deutschen Staaten ebenso wie in den Vereinten Nationen in der Debatte um die Menschenrechte zurück und setzten auch der Garantie der bestehenden Grenzen keine Widerstände entgegen - freilich aus unterschiedlichen Gründen. Der Anspruch auf nationale Einheit war in der Präambel des als provisorisch erklärten Grundgesetzes als vorrangiger Staatszweck festgeschrieben worden, ohne daß ihm die frühere Bundesrepublik in vierzig Jahren nähergekommen war. Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes stellt einen klaren Zusammenhang zwischen den Menschenrechten, dem Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes im Sinne eines Anspruchs auf nationale Einheit her. Das Gegenteil, die Teilung des Landes, war aus dem Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht herzuleiten. Das dürfte auch für das von der DDR angeführte Argument gelten, die Bevölkerung der DDR habe ihr (angebliches) Recht auf Selbstbestimmung ein- für allemal wahrgenommen und damit endgültig konsumiert47. Es ist fraglich, ob das Selbstbestimmungsrecht der Völker ohne weiteres auch für Teile von ethnischen Einheiten gilt und ob es jeweils nur einmal, etwa bei der Gründung eines Staates oder der Einführung einer Verfassung ausgeübt werden darf. DDR-Außenminister Oskar Fischer nahm es auf der 29. Generalversammlung der Vereinten Nationen 1974 für das "Volk der Deutschen Demokratischen Republik", das ein für allemal die sozialistische Gesellschaftsordnung gewählt" habe, in Anspruch48. Mit gleichem Recht hätte man auch sagen können, daß in der DDR wiederkehrende politische Wahlen nicht erforderlich seien. John Rawls greift in seiner Theorie der politischen Gerechtigkeit auf die traditionellen Vertragstheorien zurück, um die Notwendigkeit regelmäßiger Wahlen einsichtig zu machen: Die Menschen wollten die "Gesetze ihrer Vereinigung bestimmen können, entweder durch unmittelbare Mitwirkung oder mittelbar durch Abgeordnete, mit denen sie sich kulturell und gesellschaftlich verbunden fühlen."49. Nicht einmal die objektive Wohlfahrt der Gesellschaft, sondern die Selbstachtung des einzelnen und der Gruppen, also der empirisch faßbare und rational artikulierbare Konsens über die politische Freiheit steht am Beginn einer erträglichen gesellschaftlichen Ordnung. Die KSZE schrieb die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstandene außenpolitische Ordnung fest. Die Möglichkeit einer friedlichen Veränderung bestehender Grenzen und damit einer friedlichen Wiederherstellung der Einheit Deutschlands wurde mit der grundsätzlichen Anerkennung des status quo in einem Formelkompromiß verbunden. Außenminister Walter Scheel erkannte diesen Kompromiß bereits in der ersten Phase der KSZE-Verhandlungen am 4. Juli 1973 im Namen der Bundesregierung ausdrücklich an 47
) G. Hoffmann: Wiedervereinigung und Westintegration. In: FAZ Nr. 1 v. 2. 1. 1989, S. 6. - Dazu G. Welzel: Bei den Menschenrechten nichts dazugelernt (Anm. 28). 48 ) Zit. nach W. Bruns: Die Uneinigen (Anm. 7), S. 107. 49 ) J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975, S. 589.
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und betonte den Verzicht auf jede Form der Gewalt im Streben nach Überwindung der innerdeutschen Grenze50. Die konkreten Menschenrechtsprobleme in Deutschland kamen erst auf den Nachfolgekonferenzen in Belgrad, Madrid und Ottawa zur Sprache. Meist ging es um Klagen von Einzelpersonen, die sich auf das Prinzip VIII (Respektierung der Menschenrechte und Grundfreiheiten) und den "Korb III" der Schlußakte von Helsinki vom 1. August 1975, der die Absicht der Mitgliedstaaten zur "Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen" dokumentierte, beriefen51. Eine solche Kooperationsbereitschaft war der Preis für die vor allem von der Sowjetunion verlangte Anerkennung der politischen Nachkriegsgrenzen einschließlich der polnischen Westgrenze in Europa gewesen. Nach langwierigen, sich über zehn Jahre hinziehenden Verhandlungen ist 1985 in Ottawa ein wesentlicher Durchbruch erzielt worden. Man behandelte vor allem das Problem der Religionsfreiheit und das Problem der Minderheiten in Bulgarien und Rumänien in bisher nicht gekannter Breite. Die östliche Seite nahm erstmals das Freizügigkeitsargument emsthaft auf und bezog auch die Menschenrechtspakte von 1966 in ihre Argumentation ein. Den "Menschenrechten der zweiten Generation" setzte sie zwar noch das erwähnte "Menschenrecht der dritten Generation" entgegen, ein "Recht auf Leben in Frieden" angesichts der atomaren Bedrohung der Menschheit52, doch wurde ihre Position zusehends schwächer. Das Problem freier Wahlen, nach Art. 25 des Internationalen Bürgerrechtspakts garantiert, erwies sich für die OstblockVertreter als besonders schwierig. Die DDR versuchte noch in ihrem Staatenbericht an das Human Rights Committee vom 8. Juli 1988, ihr Einheitslistenwahlsystem zu rechtfertigen, zog dann aber den gesamten Bericht zurück53. Die alte, von der Sowjetunion und ihren Verbündeten lange Zeit vorgetragene Parole, "Einmischungen" in die inneren Angelegenheiten souveräner 50 ) "Die Bundesrepublik Deutschland hat den Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt stets als wesentliches Element ihrer Politik betrachtet. Sie hat sich mehrfach vertraglich verpflichtet, Grenzen nicht mit Gewalt zu ändern. Eine entsprechende Verpflichtung aller Teilnehmerstaaten sollte auch in einer Konferenz-Erklärung über die Grundsätze zwischenstaatlicher Beziehungen bekräftigt werden. Sie läßt die friedliche, einvemehmliche Änderung von Grenzen unberührt. Eine solche Möglichkeit ist für uns aus zwei Gründen wichtig: einmal im Interesse der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften, die sich bereits das Ziel gesetzt haben, vor dem Ende dieses Jahrzehnts die Gesamtheit ihrer Beziehungen in eine europäische Union umzuwandeln. Zum anderen ist es - wie die Bundesregierung wiedelholt klargestellt hat, das politische Ziel der Bundesrepublik Deutschland, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, indem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt." Zit. bei H. Volle / W. Wagner (Hg ): KSZE (Anm. 44), S. 183. 51 ) Text u. a. in: H. Volle / W. Wagner (Hg ): KSZE (Anm. 44), S. 237 ff. (EA 1975/11, D 437). Vgl. dazu das Weißbuch über die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa. Hg. v. der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages. Bonn Oktober 1977. F. Pflüger: US-Außenpolitik (Anm. 3), S. 317 ff. 52 ) W. Eickhoff: KSZE-Expertentreffen (Anm. 5), S. 576. Zu dieser Entwicklung systematisch: L. KUhnhardt: Die Universalität der Menschenrechte. Studie zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs. München 1987, S. 161 ff. 53 ) Stellungnahme der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Deutsche Sektion e. V. für das Human Rights Committee zum Staatenbericht der Deutschen Demokratischen Republik v. 8. 7. 1988, S. 8. Vgl. Zeitungsbericht "DDR-Text für Uno-Menschenrechtskomitee. Bericht zurückgezogen. Das Papier ist angeblich nicht mehr aktuell". In: Nürnberger Zeitung v. 26. 10. 1989.
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Staaten seien nicht zulässig, trat allmählich in den Hintergrund. Sie war offenkundig modernisierungsbedürftig. Sie war längst diskreditiert, da sie u. a. dazu hatte herhalten müssen, die Intervention der Sowjetunion in anderen kommunistischen Staaten zu rechtfertigen, indem man behauptete, damit eine drohende oder bereits erfolgte Intervention von dritter Seite abzuwehren. Die sowjetische Völkerrechtsdoktrin kannte zwar den Begriff des Nichtangriffs (nenapadenie), nicht aber das Gewaltverbot. Die paradoxe Anwendung des Nichteinmischungsprinzips mit "ausschließlicher Strenge" nach angeblich sozialistischem Völkerrecht, indem man Truppen nach Afghanistan schickte, erinnerte fatal an das alte Präventivkriegsprinzip 54 und war jenen hegemonialen Strategien verhaftet die in der europäischen Geschichte seit dem Attischen Seebund, den Bündnisverträgen der Römer bis hin zur Heiligen Allianz immer wieder entwickelt worden waren. Auch Carl Schmitts Theorie eines "Interventionsverbots für raumfremde Mächte" (1941) griff auf diese Tradition zurück und war von einem ähnlichen Interesse bestimmt. Das Nichteinmischungsprinzip nach sowjetischem Verständnis enthüllte die Idee der Weltrevolution als hegemoniale Doktrin, die den Weltfrieden gefährdete. Ohne Zweifel war es aber angesichts der technischen Entwicklung der Angriffswaffen die vornehmste Aufgabe des Völkerrechts, wie aller Außenpolitik, dem Frieden zu dienen 55 . Denn das Verbot der Nichteinmischung folgte aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und ließ sich nicht ohne weiteres von den Staaten gegen die Rechte der Völker ausspielen. Hier galt das 1874 von Friedrich Engels auf die russische Polen-Politik des 19. Jahrhunderts geprägte Wort, daß "ein Volk, das andere unterdrückt sich nicht selbst emanzipieren kann". Engels begründete dies - mit einem Seitenblick auf Preußen und Deutschland - einleuchtend: "Die Macht deren es zur Unterdriikkung der andern bedarf, wendet sich schließlich immer gegen es selbst. Solange russische Soldaten in Polen stehen, kann das russische Volk sich weder politisch noch sozial befreien." 56 Die grundsätzlichen Probleme des Selbstbestimmungsrechts aller Völker sind auch heute noch ungelöst. Prinzipielle Fortschritte haben sich hingegen bei den individuellen Menschenrechten ergeben. Der vorstaatliche, keineswegs durch die jeweilige Staatsbürgerschaft begründete Charakter der Menschenrechte wird kaum noch bestritten 57 . Das innerstaatliche Recht kommunistischer Staaten unterlag daher nicht nur logischen Widersprüchen, sondern wurde gegen Ende der achtziger Jahre zunehmend durch ihre eigene praktische Politik desavouiert 58 . Das "Recht auf Leben in Frieden" wurde zwar noch oft beansprucht; man wagte aber nicht zu behaupten, es werde erst durch die 54
) Vgl. u. a. T. Schweisflirth: Sozialistisches Völkerrecht? Darstellung-Analyse-Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht "neuen Typs". Berlin 1979, S. 304 f. 55 ) Ebd.. S. 567 ff. 56 ) F. Engels: Eine polnische Proklamation (Der Volksstaat Nr. 69 v. 17. 6. 1874). In: K. Marx /F. Engels. Werke Bd. 18. Berlin 1862. S. 527. Vgl. T. Schweisfurth: Sozialistisches Völkerrecht? (Anm. 54), S. 577. 57 ) Diese Tendenz ist offenkundig im Kommuniqu6 der Tagung der Warschauer Pakt-Staaten vom 16. und 17. Juli 1988 in Warschau. Auszug in: FAZ Nr. 165 v. 19. 7. 1988, S. 4; K. Dicke: Menschenrechtsschutz (Anm. 11), S. 162 f. 58 ) Umfassend: 0. Luchterhandt: UN-Menschenrechtskonventionen, Sowjetrecht, Sowjetwirklichkeit. Baden-Baden 1980, S. 21 ff. et passim.
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Staatsbürgerschaft begründet. Denn die Suspendierung der klassischen Menschenrechte ließ sich zu allen Zeiten mit dem "Friedensargument" rechtfertigen, das sogar einer verdeckten Kriegsdrohung gleichkam: Der Anspruch auf die Verwirklichung der Menschenrechte wurde als Provokation denunziert. Mit gleichem Recht konnte man fordern, daß sich die politischen Führungen undemokratisch regierter Länder im Interesse des Weltfriedens doch frei wählen lassen sollten, da das liberale Demokratiemodell offenkundig ein höheres Maß an sozialer Stabilität bei entwickelten Gesellschaften ermöglichte als alle auf totalitären Ideologien beruhenden sozialen Systeme, die nur mit einem Übermaß an physischer und politischer Unterdrückung funktionierten. Ihre Voraussetzung war nicht die Gewaltenteilung, sondern die Machtkonzentration59. Das demokratische Prinzip selbst garantiert zwar nicht die Menschenrechte, da die Mehrheit stets in Versuchung ist, die Minderheit zu unterdrücken. Erst eine gewaltenteilige demokratische Verfassung mit wirksamer Normenkontrolle und Machtbalance gewährleistet die Rechte von Minderheiten60. Der Gedanke, daß es keine Rechte des einzelnen geben dürfe, die den Aufbau des Sozialismus gefährden, stand hinter der Beschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte einschließlich des Rechts zur Opposition61. Der Staatszweck widerstrebte den individuellen, vorstaatlichen Menschenrechten. Dies führte zwangsläufig zu der Forderung nach einer politischen Ordnung, die diese Rechte des einzelnen garantierte. Unverkennbar gab es Formen der wechselseitigen Einwirkung zwischen den europäischen Staaten, da sich die gegensätzlichen Gesellschaftsordnungen auf Dauer auch theoretisch immer wieder rechtfertigen mußten. So betonte der Schriftsteller Stephan Hermlin - Mitglied der SED - im Juni 1988, die innere Situation in der DDR sei "meilenweit von den Zuständen in Südafrika und Chile entfernt", vielmehr seien bald Fortschritte in Richtung "Demokratisierung" zu erwarten. Zuvor hatte ein kritischer Vergleich, den der Bonner Oberbürgermeister Hans Daniels zwischen der Menschenrechtssituation in Südafrika und in der DDR nach der "Luxemburg-Liebknecht-Demonstration" vom Januar 1988 anstellte, zu einer Belastung der gerade erst besiegelten Städtepartnerschaft zwischen Bonn und Potsdam geführt62. Der zeitlich unbegrenzte Machtbesitz einer zufälligen, nur historisch identifizierbaren Gruppe ist das prinzipielle Problem der Demokratisierung totalitärer Strukturen. In der Demokratie kommt es weniger darauf an, wie regiert wird, als darauf, wer regiert, hat Franz Schnabel einmal gesagt63. Der erzwungene Verzicht der vielen einzelnen auf die politische Handlungsfreiheit mag zwar ihnen allen zugutekommen und der Selbsterhaltung des Gemeinwesens dienen. Er steht aber der politischen Aufklärung, dem "politischen Projekt der Moderne"
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) G. Schwan: Probleme (Anm. 34), S. 289 ff. ) 0. Höffe: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat. Frankfurt/M. 1987, S. 467 f. 61 ) G. Hoffmann: Wiedervereinigung (Anm. 47). 62 ) Interview mit dem DLF am 21. 6. 1988. Zur Städtepartnerschaft Bonn-Potsdam: Mitteldeutscher Kurier, 1.1. 1989, S. 1 f. 63 ) Hinweis bei R. v. Weizsäcker: Interview in der Tageszeitung "Die Welt" v. 31. 12. 1982. 60
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(Jürgen Habermas) 64 , und der autonomen Vernunft des einzelnen entgegen, die sich auf beliebige, d. h. nicht vorher festzulegende Ziele richtet. Nach Rousseau und Kant gehört zu diesem Projekt die freie Wahl von Handlungszielen und die gesetzmäßige Regelung der gesellschaftlichen Konflikte. Die internationale Diskussion um die Menschenrechte hat die politische Situation in Deutschland vor dem November 1989 nachhaltig beeinflußt. Auch das SED-Regime hat sich dem nicht entziehen können. Die jährliche Zahl der Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik erhöhte sich in den achtziger Jahren beträchtlich. Sie erreichte 1985 mit rund 66.000 Personen eine Rekordhöhe für die Zeit nach dem Mauerbau. 1986 durften nach offiziellen Angaben aus Bonn 244.000 (nach Ost-Berliner Angaben 573.000), 1987 schon über eine Million DDR-Einwohner unterhalb des Rentenalters Verwandte in Westdeutschland und West-Berlin in sogenannten dringenden Familienangelegenheiten besuchen - ebenfalls Rekordzahlen im Vergleich zur langjährigen Praxis65. Der Beschluß der Wiener KSZE-Konferenz, das Freizügigkeitsprinzip künftig als Regel des Reiseverkehrs und die Beschränkungen als Ausnahme anzusehen, zeichnete sich bereits ab, als die DDR ihre Reiseverordnung vom 30. November 1988 erließ, die die Erlaubnis von Besuchsreisen in die Bundesrepublik für DDR-Deutsche unterhalb des Rentenalters gegenüber der eine Zeitlang geübten großzügigeren Praxis wieder einschränkte. Die Beschränkung der Reisegenehmigung auf Blutsverwandte wurde daher wenige Wochen später wieder zurückgenommen 66 . Die Reiseverordnung vom 30. November war schon durch das Wiener KSZE-Schlußdokument vom 15. Januar 1989 politisch überholt67. Sie erweckte den Anschein einer Tendenz zu mehr Rechtssicherheit innerhalb des politischen Systems der DDR, obwohl der Wortlaut mit seinen zahlreichen "Kann-Vorschriften" an der bisherigen Praxis nichts änderte. Diese Vorschriften waren ebenso wie alle Schikanen oder Übergriffe in zahllosen Einzelfällen unvereinbar mit den Bürger- und Sozialrechtspakten der Vereinten Nationen sowie den KSZE-Abkommen. Sie waren allerdings auch formal anfechtbar. Genehmigungen konnten nach § 14 der Verordnung versagt werden, "wenn das zum Schutz der öffentlichen Ordnung 64
) J. Habermas: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. In: Ders.: Kleine politische Schriften IIV, Frankfurt/M. 1981, 444-464. Ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M. 1985. Vgl. O. Hüffe: Politische Gerechügkeit (Anm. 60), 21, S. 396 ff. 65 ) Nach dem Jahresbericht des Bundesministeriums für innerdt. Beziehungen 1986, S. 20 bzw. Jahresbericht 1987, S. 25. Zahlenspiegel Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik. Ein Vergleich 3 1988. Hg. v. Bundesministerium für innerdt. Beziehungen. Bonn Mai 1988, S. 124. 66 ) Verordnung über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik Teil I Nr. 25, 1988, S. 271 ff. und Erste Durchführungsbestimmung zur Verordnung über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland v. 14. 3. 1989, ebd. Teil Nr. 8. Text der Verordnung auch in: DA 22 (1989), Η. 1, S. 108 ff. - Auszug in: FAZ Nr. 292 v. 15. 12. 1988, S. 6. Vgl. W. Bruns: Mehr Substanz in den Ost-West-Beziehungen. Zur dritten KSZE-Folgekonferenz in Wien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B12/89 v. 17. 3. 1989, S. 7. Text des auf der 162. Plenarsitzung der KSZE-Konferenz verabschiedeten Schlußdokuments: Bulletin des Presse- und Informationsamtes des Bundesregierung Nr. 10/1989, 77-108. 67 ) Dazu W. Bruns: Mehr Substanz (Anm. 66), S. 7. Übersicht für die Jahre 1961 bis 1988: "Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR", FAZ Nr. 245 v. 21. 10. 1989, S. 2.
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oder anderer staatlicher Interessen der Deutschen Demokratischen Republik notwendig" erschien. Das lag beispielsweise vor, wenn der begründete Verdacht bestand, "daß der Auslandsaufenthalt zu Handlungen benutzt werden soll, die nach den Rechtsvorschriften der Deutschen Demokratischen Republik als Straftaten zu verfolgen sind" oder "Privatreisen oder ständige Ausreisen zu Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik erfolgen sollen, die sich entgegen den Rechtsvorschriften der Deutschen Demokratischen Republik im Ausland aufhalten" (Buchst, d und f). Ohne Zweifel war die DDR in der Ära Honecker verpflichtet gewesen, derartige Verordnungen an die internationalen Vereinbarungen anzupassen, was ihrer faktischen Aufhebung gleichgekommen wäre. Die Verantwortlichen in Ost-Berlin behaupteten ohne weitere Begründung in einer "Parteiinformation" zu den erwähnten Regelungen über den Reiseverkehr sowie in einer gleichzeitig erlassenen Verordnung zur "Gewährung des ständigen Wohnsitzes für Ausländer" und zur "Eheschließung von Bürgern der DDR mit Ausländern", die beiden einschlägigen Rechtsvorschriften stünden "in voller Übereinstimmung mit der Internationalen Konvention über zivile und politische Rechte von 1966"68. Artikel 5 der beiden Bürger- und Sozialrechtspakte verbot die indirekte Beschränkung oder Abschaffung der in ihnen garantierten Rechte durch innerstaatliche Maßnahmen69. Der am 6. November 1989 veröffentlichte Entwurf eines Reisegesetzes kam dem internationalen Standard näher, ohne ihm - etwa durch die zeitliche Begrenzung der Reiseerlaubnis auf 30 Tage - voll zu entsprechen. In ihm wurde das Freizügigkeitsprinzip als Regel erstmals anerkannt70. Die Zusammenführung getrennter Familien, das Recht auf Ausreise und das Recht, eine bestimmte Religion auszuüben und dafür öffentlich zu werben, gehören ebenso zu den klassischen Menschenrechten wie das Recht auf Freizügigkeit. Doch ist zu fragen, warum dies vor allem in Deutschland ein so brennendes Problem darstellte. Die Statistik gab darauf eine einfache Antwort. Etwa die Hälfte der Einwohner der DDR hatte engere oder entferntere Verwandte in der Bundesrepublik. Dies entsprach etwa einem Drittel der west68
) Neue Regelungen über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland - Parteiinformation. In: DA 22 (1989), Η. 1, S. 116. Text der Verordnung über den Aufenthalt von Ausländern und die Eheschließung mit Ausländern in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik Teil I Nr. 25, 1988, S. 274; DA 22 (1989), Η. 1, S. 112. - Zum Hintergrund: U.-E. Böttger: Stichwort: Reise und Ausreise, ebd. S. 24 f. Über die grundsätzliche Position der SED zum Thema "Freiheit und Menschenrechte" vor der Wende in der DDR siehe die Beiträge in der Theorie-Zeitschrift "Einheit" 44 (1989), H. 5, S. 401 ff. 69 ) "(1) Keine Bestimmung dieses Paktes darf dahin ausgelegt werden, daß sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in diesem Pakt anerkannten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in dem Pakt vorgesehen, hinzielt. (2) Die in einem Land durch Gesetze, Übereinkommen, Verordnungen oder durch Gewohnheitsrecht anerkannten oder bestehenden grundlegenden Menschenrechte dürfen nicht unter dem Vorwand beschränkt oder außer Kraft gesetzt werden, daß dieser Pakt derartige Rechte nicht oder nur in einem geringen Ausmaße anerkenne." Weltpakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte v. 16. 12. 1966 (UN-Doc. 2200/A [XXI]). Fast gleichlautend Artikel 5 des "Weltpakts für bürgerliche und politische Rechte" (5 Abs. 2 anstelle von "Land" das Wort "Vertragsstaat", statt "geringen": "geringeren"). Texte in: F. Ermacora (Hg.): Dokumente (Anm. 15), S. 88 und 102. 70 ) Text in: FAZ Nr. 259 v. 7. 11. 1989, S. 4.
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deutschen Bevölkerung. Trotzdem ließ sich die Menschenrechtsproblematik in der DDR nicht auf die "Ausreise in den Westen" verkürzen, auch wenn sie sich darin auf spezifische Weise konkretisierte. Denn das Freizügigkeitsprinzip berührt das Selbstbestimmungsrecht der Völker, an dem der einzelne Mensch als Sozialwesen teilhat. Die Sowjetunion hat aus naheliegenden Gründen stets die kollektive Seite dieses Problems betont, in dem sie sich darauf berief, daß Einmischungen in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten unzulässig seien. Im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker war j a gerade der Prozeß der Entkolonialisierung eingeleitet worden. Das Selbstbestimmungsrecht ist u. a. in der Declaration of the General Assembly on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples vom 14. Dezember 1960 allen Völkern (all peoples), nicht aber, worauf Theodor Schieder hinweist, allen Menschen (all men) zugesprochen worden, was der Menschheit vielleicht im Sinne der US-Verfassung einen Weg zur prinzipiellen Überwindung einer jeden Art von Nationalismus gewiesen hätte71. Die Menschenrechtsidee bleibt aber nur scheinbar, nämlich nur in einer individualistischen Interpretation, hinter dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zurück, denn sie stellt dessen eigentliche Grundlage dar. Das Völkerrecht der Vereinten Nationen ist naturrechtlich begründet und steht im Widerspruch zu positivistischen Theorien, die die Staaten als alleinige Rechtsquelle von Bürgerrechten ansehen72. In Deutschland war, wie bereits angedeutet, dieses Selbstbestimmungsrecht durch die gemeinsame UNO-Mitgliedschaft von Bundesrepublik und DDR in einer Weise suspendiert, zumindest ausgeklammert die die Tatsache verschleierte, daß die Menschenrechte nicht nur eine individuelle, sondern auch eine soziale, kollektive Seite haben. Wenn man Deutschland als Ganzes betrachtete, mußte man feststellen, daß das deutsche Volk, der gesamtdeutsche Souverän, die von den Vereinten Nationen deklarierte Souveränität unter den Auspizien der Teilung nicht genoß. Nur als Einzelstaaten beanspruchten Bundesrepublik und DDR Souveränität. Sie trieben ihre eigene Außenpolitik gewissermaßen aneinander vorbei und klammerten in ihren Beziehung das Problem gesamtstaatlicher Souveränität ebenso aus wie ihre aus dem Weltkonflikt der Supermächte resultierenden politischen Gegensätze in der Menschenrechtsfrage. Die individuelle Freizügigkeit blieb daher formal gesehen jahrzehntelang weit unterhalb der Normen des bereits erwähnten Artikels 13 der Menschenrechtserklärung von 1948, nach der jeder das "Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb der Grenzen aller Staaten" genießt, insbesondere "jedes beliebige Land einschließlich seines eigenen zu verlassen, sowie in sein Land zurückzukehren"73.
T. Schieder: Slaatenpluralismus (Anm. 13), S. 18 f. H. Bull: Die anarchische Gesellschaft (Anm. 16), S. 40 f. 71) F. Ermacora (Hg.): Dokumente (Anm. 15), S. 23.
71) 72)
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Freizügigkeit im eigenen Land? - "Ausreise" als politisches Alarmsignal Streng genommen genossen die Deutschen beiderseits des Eisernen Vorhangs jahrzehntelang nicht einmal Freizügigkeit im eigenen Land. Zwar konnte der aus Sachsen, Mecklenburg oder Thüringen stammende mitteldeutsche Landsmann ohne westdeutsches Visum in die Bundesrepublik einreisen, vorausgesetzt, daß ihm die DDR-Behörden eine Reiseerlaubnis, ein Ausreisevisum, erteilten. Bis zum 9. November 1989 war dies nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Für Westdeutsche, die ohne Genehmigung aus der Bundesrepublik überall hin und selbstverständlich auch in die DDR ausreisen durften, bestand dagegen bei der Einreise in die DDR bis Heiligabend 1989 Visumzwang. Innerdeutsche Freizügigkeit war deutschen Staatsbürgern nur von der Seite der Bundesrepublik her garantiert. Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob die DDR aus eigener oder fremder Souveränität diese Freizügigkeit behinderte, oder ob dies ein Ausdruck vorhandener oder fehlender Souveränität gewesen ist. Nun gehört es, wie wir gesehen haben, von Anfang an zur inneren Problematik der Menschenrechte, daß sie im Rahmen der Vereinten Nationen überhaupt nur von souveränen Einzelstaaten garantiert, vertreten und verwirklicht werden können, auch wenn sie sich nicht aus innerstaatlichem Recht herleiten. Sie begründen zunächst Ansprüche von Menschen untereinander, die ihrerseits gewöhnlich unter dem Schutz der jeweiligen Rechtsordnung stehen 74 . Der kritische Punkt liegt da, wo der Staat selbst diese Rechte verletzt, ja als "Haupttäter" auftritt. Dies ist in vielen Staaten der Fall, die das Recht auf Souveränität beanspruchen und ausüben. Das Problem, daß die Staaten zugleich Adressaten und Garanten des Menschenrechtsschutzes sind, ließe sich nur durch die Konstruktion eines übernationalen Weltstaates mit absoluter Souveränität beseitigen, der über absolute, d. h. wiederum unaufhebbare und unkontrollierbare Sanktionsmöglichkeiten verfügte. Ansätze, kollektive Menschenrechte von den individuellen Menschenrechten her zu schützen, ließen sich u. a. von den Minderheitenrechten her entwickeln 75 . In Deutschland konkretisierte sich, so fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen, die Menschenrechtsproblematik in der Behinderung der Freizügigkeit durch das SED-Regime in der DDR. Hohe Zuwandererzahlen aus der DDR in die Bundesrepublik waren nicht schlechthin ein politischer Erfolg im Sinne der allgemeinen Menschenrechte und nur sehr bedingt im nationalen, d. h. gesamtdeutschen Interesse. So meinte der frühere Bonner Staatssekretär und Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Klaus Bölling, nach der ersten größeren Ausreisewelle im Frühjahr 1984 unter Berufung auf eine Stellungnahme des stellvertretenden Vorsitzenden des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Konsistorialpräsident Stolpe: "Können wir eigentlich wollen, daß immer mehr Deutsche die DDR verlassen, 74
) 0. Höffe: Politische Gerechtigkeit (Anm. 60), S. 465. ) K. Dicke: Menschenrechtsschutz (Anm. 11), S. 158. T. Veiter: Ungelöste Grundrechtsfragen im Weltjahr der Menschenrechte. In: Deutschland, Europa und die Menschenrechte. Hg. v. Mitteldeutschen Kulturrat. Bonn-Troisdorf 1968, S. 142 ff. Vgl. W. Haug: Politische Verfolgung. Ein Beitrag zur Soziologie der Herrschaft und der politischen Gewalt. Chur 1986. 75
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viele von ihnen, wie der DDR-Protestant Manfred Stolpe treffend diagnostiziert, nur die eigenen Probleme in den Westen tragend?" 76 Für unsere Fragestellung ist es unerheblich, welche individuellen Probleme jemanden zur Ausreise aus der DDR veranlaßten, so sehr dies mit Recht ein Problem christlicher Seelsorge war. Wie sollte man die Probleme, die der einzelne in den "Westen" trug, bewerten? Schließlich gab es auch Übersiedler aus der Bundesrepublik in die DDR, deren Zahl im Jahre 1986 etwa 2.500 betragen haben soll77. Die Ost-West-Bewegung ist aber zweifellos von größerer politischer Bedeutung gewesen. Doch war sich die politische Führung der Bundesrepublik bewußt, daß die Einheit der Nation nicht durch eine Massenauswanderung verwirklicht werden dürfe 78 . Diese Befürchtungen bestätigten sich nicht, obwohl die Ausreisezahlen in den achtziger Jahren beträchtlich zunahmen. Stolpe ermunterte am 22. Juni 1985 die SED-Führung auf dem Greifswalder Kirchentag vergeblich zu größeren Zugeständnissen in der Reisefrage, indem er auf die "bedeutenden sozialen und kulturellen Rechte" hinwies, die in der DDR verwirklicht seien. Sie stellten eine "unschätzbare Errungenschaft" dar, "deren Wert erst der spürt, der sie nach leichtfertiger Auswanderung verliert". Daher lohne es sich, "noch vorliegende Defizite bei individuellen Rechten und Möglichkeiten schrittweise abzubauen." 79 Der thüringische Landesbischof Werner Leich forderte im Juli 1988 seine Landsleute nachdrücklich zum Verbleiben in der DDR auf, warnte aber davor. Ausreisewillige ins "Abseits" zu drängen. "Wir bitten unsere Gemeindeglieder, aber auch alle Bürger unseres Landes darum, hier zu bleiben." 80 Wer als Deutscher gleichsam für sich privat die Deutsche Frage durch Umsiedlung in den anderen Teil seines Landes löste und vermeintlich für sich allein die Nachkriegszeit beendete, indem er sich nach Westen absetzte, nahm ein selbstverständliches Recht wahr, auch wenn er möglicherweise nicht im "nationalen Interesse" handelte. Dieses Recht auf Freizügigkeit war nicht zu bestreiten - von westdeutscher Seite schon gar nicht.
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) K. Bölling: Honecker ist kein Träumer. In: Der Spiegel Nr. 14. v. 2. 4. 1984, S. 21. ) Dazu gibt es vereinzelte Berichte in der westdeutschen Presse: U. Klein: Viele Wanderer von West nach Ost. Was 'Bundesmüde' in den DDR-Auffanglagern erwartet - Letztes Jahr zogen 2500 Westdeutsche um. In: Kreiszeitung/Böblinger Bote v. 29. 10. 1987. G. Bensch: "Flüchtlinge" aus der Bundesrepublik Deutschland. Strenges Reglement im militärisch gesicherten DDR-Auffanglager. In: Der Danziger, März 1988, Abdruck im Pressespiegel des Zentralverbandes Politischer Flüchtlinge und Ostgeschädigter (ZPO), Juni 1988. Zur Situation nach der Grenzöffnung siehe J. I .eithäuser: Alle Plätze sind belegt im Übersiedlerheim des Bezirks Halle. Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche. In: FAZ Nr. 64 v. 16. 3. 1990, S. 3. 7S ) "Der Spiegel" kommentierte 1984 das Problem ironisch: "Je mehr Deutsche (Ost) zu den Deutschen (West) kommen, desto größer wird das Unbehagen in Bonn. Einträchtig tönen der innerdeutsche Minister Heinrich Windelen und der im Kanzleramt für die Deutschlandpolitik zuständige Staatsminister Philipp Jenninger, es sei nicht das Ziel der Bundesregierung, die DDR zu entvölkern'. Ironisch fügt ein Kabinettsmitglied hinzu, es entspreche 'auch nicht unserem Anspruch auf Einheit der Nation, wenn sich am Ende die Nation bei uns versammelt. " Artikel "Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg". In: Der Spiegel Nr. 14 v. 2. 4. 1984, S. 17. ™)Zit. v. K. W. Fricke in der Sendung "Themen der Zeit", DLF, 31.3. 1986, 21.40-22.00 Uhr. 80 ) Interview mit den Lutherischen Monatsheften, zit. nach: Die Welt, Nr 173 v. 27. 7. 1988, S. 5 ("Bürger in der DDR sollen im Land bleiben"). 77
DER EILIGE ABSCHIED VON DER NATION. ZUR BEWUSSTSEINSLAGE DER DEUTSCHEN NACH 1945 von Peter Alter Mit der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches im Mai 1945 ging eine Epoche deutscher Geschichte zuende. Die Kapitulation bedeutete einen Einschnitt, wie er radikaler nicht sein konnte. Dem totalen Krieg folgte die totale Niederlage - und die Niederlage von 1945 war unvergleichlich tiefgreifender und erfahrbarer als die von 1918. Zeitgenossen haben unter dem Eindruck des ungeheuren Geschehens und angesichts der Aufgaben des Wiederaufbaus von der "Stunde Null" gesprochen - zu Recht, auch wenn sich Jahre später herausstellte, daß von einem umfassenden Neuanfang in Deutschland 1945 und in den Jahren danach nicht die Rede sein konnte. Aber das Gefühl und auch der Wille, daß nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur ein Bruch mit fundamentalen Traditionen ihrer Geschichte notwendig sei, war damals bei der Mehrheit der Deutschen weit verbreitet. Zu diesen Traditionen gehörte fraglos ein Denken in militaristischen und nationalistischen Kategorien. Es wurde nun verantwortlich gemacht für die Entwicklung, die 1933 zur Etablierung des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland und 1939 zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges geführt hatte. Die deutsche Politik, das verblendete Handeln der Nationalsozialisten, die für Krieg und Holocaust verantwortlich waren, hatten die nationale Idee pervertiert. So war es nur natürlich, daß 1945 der Nationalismus oft in einem Atemzug mit dem Nationalsozialismus als verbrecherische Ideologie bewertet und die Nation und der Nationalstaat von den Deutschen infrage gestellt wurden. Als Ordnungsprinzipien der Staatengesellschaft, so schien es, war ihre Zeit abgelaufen. Der epochale Umbruch im Denken der Deutschen, der hier kurz skizziert werden soll, wurzelte im Erleben des Nationalsozialismus und des Weltkrieges. Die unmittelbare Konfrontation mit der Diktatur, mit Verbrechen und Zerstörung zeitigte für die Mentalität der Deutschen Konsequenzen bis in unsere Gegenwart. Im westlichen Teilstaat auf dem Boden des ehemaligen Reiches, in der Bundesrepublik Deutschland, galten Nationalstaat und Nationalbewußtsein nicht länger als oberste Werte; Freiheit, Frieden, Toleranz waren ihnen nun übergeordnet.1 Die Überzeugung hatte sich Bahn gebrochen, daß nationaler Egoismus und nationalstaatliche Rivalitäten kein tragfähiger Grund für das Zusammenleben der europäischen Völker waren. Als der Philosoph Karl Jaspers Mitte der sechziger Jahre seine politische Streitschrift Wohin treibt die Bundesrepublik? veröffentlichte, schrieb er etwas konsterniert über das politische Bewußtsein der Westdeutschen: "Man hat von einem Vakuum unseres politischen Bewußtseins gesprochen. Wir haben in der Tat noch kein in den Herzen gegründetes politisches Ziel, kein Bewußtsein, auf einem selbstgeschaffenen Grunde zu stehen [...] Das Vakuum wird nicht erfüllt durch
') Siehe dazu M. Hättich: Nationalbewußtsein im geleilten Deutschland. In: W. Weidenfeld Die Identität der Deutschen. München 2 1983, bes. S. 279 f.
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ein Nationalbewußtsein. Dieses fehlt entweder oder ist künstlich."2 Selbst noch zu einem Zeitpunkt, als die Vereinigung der beiden Nachfolgestaaten des untergegangenen Deutschen Reiches wieder auf der Tagesordnung der Weltpolitik stand, begegnete die westdeutsche Bevölkerung der nationalen Rhetorik mit Zurückhaltung, ja vielfach mit Mißtrauen und Ablehnung. Die Absage an die Nation, so stellte der Münchner Historiker Thomas Nipperdey im Sommer 1990 fest, sei "etwas spezifisch Deutsches". Nipperdey warnte indes vor der "fatalen Neigung", die "anderen, ach so Rückständigen mit unserem Nicht-Nationalbewußtsein zu belehren. Am fortschrittlichsten und besseren, am postnationalen Wesen soll offenbar wieder einmal die Welt genesen, und man spürt die Arroganz der scheinbar so edlen Absagen an das Nationale. Wir sollten uns nicht erheben."3 I
Die Absage an die Nation und ihre Verabsolutierung im Zuge des "Wertzusammenbruchs" am Kriegsende,4 die Abkehr von der Idee des Nationalstaats als dem zentralen Wert aller Politik entsprangen dem Erlebnis der "deutschen Katastrophe" (F. Meinecke). Im besiegten und besetzten Deutschland konzentrierte sich daher die Abrechnung mit der Vergangenheit von Anfang an auch auf den Nationalismus und seine Folgen für die deutsche Geschichte. "Nationalismus", vielfach gleichgesetzt mit Nationalsozialismus, war nun eindeutig negativ besetzt, und als Begriff der politischen Abgrenzung und der Polemik ist er es bis heute in Deutschland geblieben. Nationalismus wurde der Gegenbegriff zu Patriotismus, der sich nicht notwendig auf die Nation richten muß und konkurrierende Loyalitäten zuläßt. Nationalismus wurde gesehen als Antithese zur freiheitlichen Demokratie und zum "gesunden" Nationalbewußtsein, was immer dies im einzelnen bedeuten mochte. Die öffentliche Debatte beschränkte sich dabei auf einen letzten Endes sehr kleinen Kreis von Teilnehmern. An ihr beteiligten sich führende Intellektuelle, die entweder zum nationalsozialistischen Regime in Gegnerschaft gestanden oder die Jahre der Diktatur in der Emigration überlebt hatten. Erst in den fünfziger Jahren, als sich die Verhältnisse in Westdeutschland konsolidiert hatten, weitete sich die Debatte aus und wurde ein Element parteipolitischer Auseinandersetzungen.5 2
) K. Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen. München 1966 (ND 1988), S. 177 f. 3 ) So Thomas Nipperdey beim "Wartburgtreffen 1990" vor Studenten und Professoren aus ganz Deutschland. Der Vortrag ist abgedruckt unter dem Titel "Die Deutschen wollen und dürfen eine Nation sein" in: FAZ 13. Juli 1990, S. 10. Knapp ein Jahr nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten schrieb der Berliner Schriftsteller Peter Schneider im amerikanischen Nachrichtenmagazin "Time": "Faced with unification, West German society turns out to be morally and intellectually unprepared for the challenge. The problem is precisely not the new German nationalism some people fear but the almost total lack of it. In the ruins of the National Socialist megalomania, West Germans fell back on a very convenient credo: I only believe what I see (in the till)" (1. Juli 1991, S. 40). 4 ) H. Klages: Wandlungsschicksale der Identität der Deutschen: Ein Szenario der Wertwandlungen seit 1871. In: W. Weidenfeld (Hg.): Geschichtsbewußtsein der Deutschen. Materialien zur Spurensuche einer Nation. Köln 1987, S. 214. 5 ) Siehe dazu / Gabbe: Parteien und Nation. Zur Rolle des Nationalbewußtseins für die politischen Gnmdorientienjngen der Parteien in der Anfangsphase der Bundesrepublik. Meisenheim 1976.
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Die Masse der deutschen Bevölkerung, die 1945 und in den Jahren unmittelbar danach nahezu ausschließlich von der Sorge um die Sicherung ihrer nackten Existenz beherrscht war, verharrte eher in einer gleichgültigen und apathischen Haltung gegenüber politischen Fragen.6 Die Meinung, Politik werde in Zukunft von den Besatzungsmächten über die Köpfe der Deutschen hinweg gemacht, war weit verbreitet. Indes, präzisere Aussagen über die Bewußtseinslage der deutschen Bevölkerung, ihre politische Einstellung und ihr politisches Denken entziehen sich für die Nachkriegszeit einem systematischen Zugriff. Doch es spricht vieles gegen die Vermutung, daß in der deutschen Bevölkerung nach 1945 ein mächtiges, wenngleich noch schweigendes Potential von nationalistischen Gefühlen vorhanden war. Selbst die Millionenzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen, die ihre Heimat in Ostdeutschland und anderen Teilen Mittel-, Ost- und Südosteuropas verloren hatte, scheint entgegen manchen zeitgenössischen Voraussagen nicht den Nährboden für einen fortlebenden oder neuen Nationalismus abgegeben zu haben. Militanter politischer Revisionismus und rechter Nationalismus hatten in der Bundesrepublik nach deren Gründung nur eine marginale und, abgesehen von kurzfristigen Wahlerfolgen, rasch abnehmende Bedeutung. Schon einige Wochen vor der deutschen Kapitulation finden sich Zeugnisse für die entschiedene Verurteilung des Nationalismus. Als das thüringische Konzentrationslager Buchenwald im April 1945 von amerikanischen Truppen befreit wurde, entwarf eine Gruppe ehemaliger Inhaftierter, die sich allesamt zum demokratischen Sozialismus bekannten, einen Katalog von Forderungen und Leitvorstellungen für eine neue deutsche Politik. Dieser Katalog fand sich in der Folgezeit ansatzweise in der alliierten Besatzungspolitik und auch in den Programmen der neugegriindeten deutschen Parteien wieder. Das sogenannte Buchenwalder Manifest "Für Frieden, Freiheit, Sozialismus" vom 13. April 1945 stellte den ebenso anspruchsvollen wie wegweisenden Versuch dar, eine Perspektive zu entwerfen, "um Deutschland aus diesem geschichtlich beispielslosen Zusammenbruch zu retten und ihm wieder Achtung und Vertrauen im Rate der Nationen zu verschaffen". Das Manifest enthält Aussagen zur künftigen deutschen Innen- und Außenpolitik. Für die Außenpolitik des neuen Deutschland fordert das Manifest die Aufgabe jeden Nationalismus. Seine Autoren setzen sich für die Schaffung eines "europäischen Gesamtbewußtseins" ein. Weiter heißt es dort: "Dazu brauchen wir einen neuen Geist. Er soll verkörpert werden durch den neuen Typ des deutschen Europäers. Uns kann niemand umerziehen, wenn wir es nicht in Freiheit selbst tun". Als konkrete erste Schritte auf diesem langen Weg befürwortete das Manifest die Verständigung und Zusammenarbeit mit den unmittelbaren Nachbarn Deutschlands im Westen und Osten, Frankreich und Polen, und den "Eintritt Deutschlands in den angelsächsischen Kulturkreis". Damit verband sich bei den Autoren des Manifests der Wunsch, daß Deutschland "baldigst in die
6
) Vgl. dazu B. Marshall: German Reactions to Military Defeat, 1945-1947: The British View. In: V. R Berghahn/Μ. Kitchen (Hg.): Germany in the Age of Total War. London 1981, S. 218-239.
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Weltorganisation des Friedens und der Sicherheit" aufgenommen werde, also in die damals im Entstehen begriffenen Vereinten Nationen.7 Die Terminologie des Buchenwalder Manifests war reichlich unscharf und beließ es weitgehend bei allgemeinen Wendungen. Aber die Richtung, in die sich Deutschland bewegen sollte, wurde von den Autoren des Manifests hinreichend deutlich gemacht. Das Aufgehen des herkömmlichen Nationalbewußtseins in ein europäisches Bewußtsein, wie es das Manifest forderte, wurde zur gleichen Zeit auch von dem liberalen Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Röpke als Ziel aller deutschen Politik im neuen Deutschland vertreten. Röpke war 1933 emigriert und hatte seit 1937 in Genf gelehrt. Sein Buch Die Deutsche Frage erschien im Frühjahr 1945 in der Schweiz. Zwei Jahre später war bereits die dritte Auflage fällig. Es wurde ins Englische, Französische und Italienische übersetzt. Die darin enthaltenen Thesen und Forderungen trafen den Nerv der Zeit. Röpkes Werk hatte in der deutschen Öffentlichkeit und auf deutsche Politiker in den Nachkriegsjahren einen kaum zu Uberschätzenden Einfluß. Nach dem Urteil von Hans-Peter Schwarz stellte es "den in sich geschlossensten, fundiertesten Entwurf deutscher Politik" dar, der bei Kriegsende in deutscher Sprache vorlag.8 In ihm stellte Röpke den Deutschen eine Diagnose und zugleich verordnete er ihnen eine Therapie für alle ihre Probleme und Krankheiten. Die Deutschen seien nun reif für eine moralische Revolution, die 1918 seiner Meinung nach verhängnisvollerweise ausgeblieben war. Am Ende des Ersten Weltkrieges sei "das Gift des Nationalismus" nicht ausgeschieden, "sondern jetzt unter dem Einfluß der Niederlage, des Zusammenbruchs und der wirtschaftlich-sozialen Erschütterungen nur noch weiter angehäuft" worden. "Was an sehr ernstem Willen zur Selbstprüfung und Einkehr nach dem November 1918 vorhanden war, schmolz rasch zusammen und wurde machtlos gegenüber dem entgegengesetzten Willen, zum alten Geist nur noch um so trotziger zurückzukehren."9 Die Quittung dafür hätten die Deutschen 1933 und 1945 erhalten. Zunächst 1933, denn "mit dem Dritten Reich hat das Deutsche Reich, so wie es Bismarck gegründet hat, selbst ein Ende gefunden".10 Zwölf Jahre später erlebten die Deutschen den "völligen Bankerott eines Geistes, einer Politik, einer Art von Patriotismus und Kollektivmoral, die die Nationalsozialisten benutzt hatten, um sie bis zu den äußersten Konsequenzen zu treiben. Man ist starrsinnig und verblendet einen Irrweg zu Ende gegangen, und nun sehen selbst die Führer keine andere Rettung mehr als die, sich das Leben zu nehmen. Das Volk als solches aber wird nicht Selbstmord begehen, sondern umkehren, sofern man ihm einen Rückweg zeigt."11 7
) Das Buchenwalder Manifest ist abgedruckt in: M. Overesch: Deutschland 1945-1949. Vorgeschichte und Gründung der Bundesrepublik. Ein Leitfaden in Darstellung und Dokumenten. Königstein/Ts. 1979, S. 171-176. 8 ) H.-P. Schwarz: Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsheirschaft 1945-1949. Stuttgart 2 1980, S. 393. 9 ) W. Röpke: Die Deutsche Frage. Erlenbach-Zürich 1945, S. 215. 10 ) Ebd., S. 228. n )Ebd„ S. 224.
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Röpke empfahl den Deutschen eine dreifache Revolution: eine moralische, eine politische und eine wirtschaftlich-soziale. "Die Lösung der deutschen Frage, die in dieser dreifachen Revolution besteht, ist die einzige, die die Voraussetzung einer wirklichen Dauerlösung erfüllt: sie gestattet, alle vernünftigen und gerechten Ansprüche der Sieger auf künftige Sicherheit Europas vor Deutschland zu erfüllen, und sie ist zugleich diejenige Lösung, die jeder klarblickende und gutwillige deutsche Patriot für seine Heimat wünschen muß, nachdem er sich selber über die Natur der deutschen Frage klargeworden ist. Deutschland war zur Gefahr für seine Nachbarn geworden, weil es von einer schweren Krankheit befallen war. Daß es endlich und gründlich geheilt werde, ist also das gemeinsame Interesse der Sieger und der Besiegten". 12 Röpke zog den Schluß: "Nur wenn die Deutschen von Vermassung und Proletarisierung geheilt werden, werden sie sich auf die Dauer von den Rauschgiften des Nationalismus, des Totalitarismus und jeder Art von politischer Massenhysterie abwenden und sie verabscheuen". 13 Röpkes Urteil und seine Prognose über die schwierige Rückkehr der Deutschen in die Völkergemeinschaft teilte ein anderer großer Liberaler der Nachkriegszeit. Theodor Heuss, der bis 1933 dem Reichstag angehört hatte und 1949 zum ersten Präsidenten der neuen Bundesrepublik gewählt wurde, verurteilte nicht weniger entschieden als Röpke die nationalistischen Exzesse der jüngsten deutschen Vergangenheit. Wie Röpke empfahl er den Deutschen eine fundamentale Läuterung. "Wir waren 12 Jahre in der Hölle der Geschichte", stellte Heuss im März 1946 in einem Vortrag im zerstörten Berlin fest. "Wir sind auf langehin jetzt im Fegefeuer des Läuterungsweges. Und dann kommt das Paradies? Nein, das Paradies, das gibt es nur in utopischen Romanen [...] Wir werden froh sein, wenn es nicht das Paradies ist, sondern wenn wir nur einmal wieder den festen Boden eines freien Lebens bekommen. Dies sollen wir bekommen im Zeichen der Demokratie [...] Die Deutschen müssen bei dem Wort Demokratie ganz vorn anfangen im Buchstabieren, auch wenn sie sich heute Demokraten nennen. Sie sind in der schauderhaften Lage, kein Wort zu besitzen, wie es etwa die Engländer haben, das Fairness heißt". 14 Alexander Abusch, der emigrierte kommunistische Publizist und spätere Minister für Kultur in der DDR, klagte zur gleichen Zeit im ähnlichen Sinne: "Spät und falsch entdeckten viele Deutsche den Patriotismus - als einen verstiegenen Supernationalismus".15 Und wie Röpke und Heuss hielt er eine "moralische Erneuerung des deutschen Volkes" für unumgänglich. "Unter den eigenartigen Verhältnissen einer jahrelangen Besetzung durch die Armeen der Vereinten Nationen muß sich die deutsche Nation an Haupt und Gliedern erneuern. Das bedeutet, daß sie die dringendsten Lehren ihrer Geschichte im
12)
Ebd ., S. 237.
1 3 )£M„
S. 236.
T. Heuss: Um Deutschlands Zukunft. In: Ders.: Aufzeichnungen 1945-1947. Tübingen 1966, S. 2()6 f. 15) A. Abusch: Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte. Berlin 1946. S. 184. 14)
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neuen Handeln realisiert und die demokratische Umwälzung von 1848 und 1918 nunmehr in einem Anlauf zu Ende führt."16 In dieser Debatte über Nationalismus, über deutsches Verschulden und deutsche Schuld meldeten sich auch die Historiker zu Wort. Der damals schon 84jährige Friedrich Meinecke, der Doyen der deutschen Historiker, beschloß sein berühmtes Buch von 1946 über die "deutsche Katastrophe" mit einem Kapitel über "Wege zur Erneuerung". Meinecke, der einen "amoralisch werdenden Nationalismus" als "unmittelbares Vorspiel des Hitlertums" bezeichnete,17 akzeptierte es, daß das "Werk der Bismarckzeit [...] uns durch eigenes Verschulden zerschlagen worden" ist.18 Dennoch: "Auch ein seiner nationalpolitischen Selbständigkeit beraubtes und zerstückeltes Deutschland, wie es uns heute beschieden ist, darf mit stolzer Trauer der Einheit und Macht gedenken, die es vordem genossen hat".19 In seinen äußeren Beziehungen konnte Meinecke sich Nachkriegsdeutschland "nur als Glied einer künftigen, freiwillig sich zusammenschließenden Föderation mittel- und westeuropäischer Völker" vorstellen.20 Um darauf vorbereitet zu sein, empfahl er den Deutschen, "im Zeichen der Humanität an der Reinigung und Verinnerlichung unseres seelischen Daseins zu arbeiten".21 Wie die geforderte Reinigung und Verinnerlichung konkret geschehen sollte, vermochte aber auch ein so scharfsinniger und weiser Gelehrter wie Meinecke nur in höchst nebelhaften Wendungen zu umschreiben: "Die Orte, wo wir uns seelisch wieder anzusiedeln haben, sind uns gewiesen. Sie heißen Religion und Kultur des deutschen Geistes".22 Meinecke plädierte insbesondere für eine Besinnung auf das "heilige Erbe der Goethezeit".23 Er wünschte sich in jeder deutschen Stadt und größeren Ortschaft "künftig eine Gemeinschaft gleichgerichteter Kulturfreunde", für die er den Namen "Goethegemeinde" vorschlug.24 Die "Wege zur Erneuerung", die Meinecke aufzeigte, zeugten von einer idealistischen Gesinnung, aber auch von Weltferne, ja von Hilflosigkeit angesichts des Geschehenen, der bedrückenden Gegenwart und der gewaltigen Aufgaben in der unmittelbaren Zukunft. Pragmatischere, eher dem liberalkonservativen Lager zugehörende Geister wie etwa Meineckes Freiburger Kollege Gerhard Ritter oder der Journalist Ernst Friedlaender sprachen zwar auch von einer geistigen Erneuerung Deutschlands, aber wenn es um die Verdammung eines Denkens in nationalen Kategorien ging, urteilten sie wesentlich zurückhaltender. Ritter hatte während des Krieges den Männern des Widerstandes um Carl Goerdeler nahegestanden und wurde einer der führenden Historiker der frühen Bundesrepublik. Er vertrat schon 1946 die Meinung, daß ein Volk, IS
) Ebd., S. 268. Mit "Vereinte Nationen" wurde die Kriegskoalition gegen Hitler bezeichnet. ) F. Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 2 1946, S. 42. 18 ) Ebd., S. 168. 19 ) Ebd., S. 159. 20 ) Ebd., S. 161. 21 ) Ebd., S. 164. 22 ) Ebd. 23 ) Ebd., S. 21. 24 ) Ebd., S. 174. 17
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"das grundsätzlich auf 'Nationalbewußtsein' verzichtet, damit sich selber fallen läßt und dadurch sittlich nicht besser, sondern schlechter wird."25 Das Festhalten an nationalen Werten bedeutete für ihn aber nicht den Verzicht "auf eine politische Erziehung der deutschen Jugend und der deutschen Menschen überhaupt im Sinne des Weltfriedens und eines Strebens nach größerer, demokratischer Freiheit".26 Ernst Friedlaender, der nach langer Emigration seit 1946 bei der neugegründeten Wochenzeitschrift "Die Zeit" als Leitartikler arbeitete, rief Anfang 1947 zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem nationalen Denken auf, das er von einem nationalistischen Denken unterschieden wissen wollte. "Wir haben allen Grund", schrieb er, "mit den Begriffen 'Nationalist', 'Nationalismus', 'nationalistisch' ins reine zu kommen. Seit der Kapitulation werden diese Worte in der deutschen Öffentlichkeit ausschließlich in einem höchst abfälligen Sinne gebraucht. Vor der Kapitulation galten die gleichen Worte zwölf Jahre lang in der offiziellen Propaganda als unantastbar gut. Das gehört in den an sich unbedingt notwendigen Prozeß einer Umwertung der Werte, der in Deutschland im Gange ist. Aber es kommt hierbei eben mehr auf die Werte an als auf die Worte."27 Der Kampf gelte nicht dem liberalen Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts, sondern dem "imperialistischen Nationalismus". Diese Variante des Nationalismus sei "skrupelloser nationaler Egoismus, der, wie das Beispiel des Nazismus gezeigt hat zu unerhörten Verbrechen, zur Weltbrandstiftung führen kann. Mit diesem Nationalismus ist das Maß verlorengegangen, nach dem alle Völker 'ein gleiches Recht auf Existenz, auf Freiheit und Würde haben". Nach Friedlaenders Meinung durfte der "berechtigte Antinationalismus [...] nicht zu einem Antinationalismus werden, der nicht mehr gegen das Nationalistische, sondern gegen die Nation, gegen das Volk Sturm läuft. Und deshalb ist es unbedingt notwendig, zwischen dem Nationalen und dem Nationalistischen eine klare, für jeden verständliche Trennungslinie zu ziehen, die uns ermöglicht, zu dem einen ja und zu dem anderen nein zu sagen. Ohne das tappen wir im Dunkeln, nicht nur mit unserem Denken und Werten, sondern auch in unserer politischen Praxis."28 Friedlaenders Schlußfolgerung war ein Plädoyer für das "Nationale" oder, wie später oft gesagt wurde, für ein "gesundes" Nationalbewußtsein: "Heute jedenfalls, da allein das machtpolitisch Nationalistische zur Debatte steht, das vom Nationalen klar und ohne jedes Risiko für die geistige Volksgesundheit zu unterscheiden ist besteht keinerlei Anlaß, dieses Nationale über 25
) Gerhard Ritter an Erwin Eckert, 8. Juli 1946. In: K. Schwabe / R. Reichardt (Hg.): Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen. Boppard 1984, S. 414. Siehe dazu jetzt A. Biensdorf: Gerhard Ritter 1942-1950. In: GWU 42 (1991), S. 1-21 und S. 67-91, bes. S. 69 ff. Auch W Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1989, und E. Schulin ( H g ) : Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1965). München 1989. 26 ) Gerhard Ritter an Hellmut Ritter, 23. Juni 1947. In: Schwabe / Reichardt (Hg.): Ritter (Anm. 25), S. 430. 27 ) E. Friedlaender: Nationalismus, 6. Februar 1947. In: N. Frei / F. Friedlaender (Hg.): Emst Friedlaender: Klärung für Deutschland. Leitartikel in der ZEIT 1946-1950. München-Wien 1982, S. 35. 28 ) Ebd., S. 36.
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Bord zu werfen. Wir haben keinen Grund, einer von nationaler Selbstangst und nationalem Selbsthaß gepeinigten Minderheit unter uns zuzustimmen, die am liebsten Deutschland verschwinden lassen möchte, die einverstanden wäre, wenn es zugunsten aller seiner Nachbarn aufgeteilt würde [...] Es ist überhaupt weder gut noch gesund, wenn wir in unserer jetzigen Notgemeinschaft nicht nur mit physiologischen, sondern gerade auch mit nationalen Kalorien 'unterernährt' werden. Denn auch das führt zu Mangelerscheinungen. Und daraus können sich Verkrampfungen ergeben, die alles andere sind als die erstrebte Umerziehung."29 Mit dieser entschiedenen, wenngleich differenziert positiven Haltung zum Nationalismus war Friedlaender in den Nachkriegsjahren in Deutschland fast ein Außenseiter. In der Rückschau auf die Nachkriegsjahre hat sich, so weit ich zu sehen vermag, das Urteil der Zeitgenossen über Nationalismus und nationales Denken nicht gemildert. In seiner Schrift über die deutsche Frage, die 1948 erschienen war, hatte Gerhard Ritter auch über den "neudeutschen Nationalismus" reflektiert.30 Er übernahm das lange Kapitel nahezu unverändert in die überarbeitete, 1962 erschienene zweite Auflage des Werkes.31 In dem Kapitel verfolgte Ritter die Geschichte des deutschen Nationalismus bis in die Zeit der Weimarer Republik. Eine Diskussion des Nationalismusproblems im Nachkriegsdeutschland hatte er 1948 allerdings vermieden. Aber sein Urteil über den Nationalismus war damals eindeutig. Nationalismus, so schrieb Ritter, "ist niemals und nirgends der Ausdruck eines ruhig-sicheren, sondern eines gereizten, irgendwie aufgescheuchten, zu Sorge oder Empörung getriebenen Nationalbewußtseins. Je greller er sich hören läßt, um so wahrscheinlicher ist es, daß eine letzte innere Unsicherheit dahintersteckt."32 In beiden Ausgaben des Werkes definierte Ritter den Nationalismus als "einseitig zugespitztes, zur Selbstüberhebung gesteigertes, politisches Nationalbewußtsein".33 Aber hier ist schon darauf hingewiesen worden, daß Ritters Haltung zum Nationalismus im Grunde ambivalent war. In der erweiterten "Schlußbetrachtung" von 1962 heißt es: "Da er zu den schrecklichsten Gewalttaten mißbraucht wurde, ist der Nationalismus mit Recht in Verruf gekommen." Ritter fährt dann fort: "Aber war er nicht auch das Symptom einer starken, ungebrochenen Vitalität? Wäre dieser Geltungsdrang auf vernünftige Ziele gelenkt worden, so hätte er durchaus keine zerstörerische Wirkung zu haben brauchen."34 Unter den führenden Politikern der jungen Bundesrepublik hat sich vor allem der christlich-demokratische Bundeskanzler Konrad Adenauer wiederholt zum Problem des Nationalismus geäußert. In den meisten Fällen nahm er dazu Besuche im europäischen Ausland zum Anlaß. So vertrat Adenauer An29
) Ebd., S. 37. ) Neudeutscher Nationalismus. In: G. Ritter: Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens. München 1948, S. 55-150. 31 ) Ders.: Das deutsche Problem. Grundfragen deutschen Staatslebens gestern und heute. München 1966, S. 55-146. 32 ) Ders : Europa und die deutsche Frage (Anm. 30), S. 55 f. 33 ) Ebd.. S. 55. 34 ) Schlußbetrachtung: Hitler und das Deutschland von heute. In: Ritter: Das deutsche Problem (Anm. 31), S. 204. 30
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fang 1949 in Bern die Ansicht, daß es in Deutschland nur verhältnismäßig wenige "Anhänger des Nationalismus hitlerscher Prägung" gebe. Er glaubte jedoch, das Wiedererwachen eines Nationalgefühls in der westlichen Hälfte des geteilten Landes zu bemerken. Adenauer argumentierte bei dieser Gelegenheit wie Gerhard Ritter im Jahre 1946: "Man kann das Wiedererwachen eines gesunden, sich in den richtigen Bahnen haltenden Nationalgefühls nur begrüßen, denn ein Volk, das kein Nationalgefühl mehr besitzt, gibt sich selbst auf."35 Ein Jahr später, als es um den politischen Status des Saargebiets ging, befürchtete Adenauer das Aufleben nationalistischer Strömungen im deutschen Volk.36 Als 1951 der Schuman-Plan bei "einem Teil der Deutschen" auf Widerstand stieß, deutete Adenauer dies als Beweis für die Schwierigkeit, "diesen Teil der Deutschen von ihrem bisherigen nationalistischen Denken zu befreien."37 Im selben Jahr 1951 versicherte er jedoch während eines Besuches in London, daß "die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes über den Nationalismus hinausgewachsen" sei.38 In seinen Erinnerungen nannte Adenauer den Nationalismus unmißverständlich den "Krebsschaden Europas".39 Gegenüber einem hohen sowjetischen Besucher bezeichnete er sich im April 1958 als "ausgesprochenen Gegner des Nationalismus".40 Mit dem Präsidenten der Europa-Union stimmte er 1955 darin überein, daß die Deutschen lernen müßten, die angestrebte Wiedervereinigung ihres Landes nicht als nationales, sondern als gesamteuropäisches Problem anzusehen. Ein deutscher "Wiedervereinigungsnationalismus" werde zur politischen Isolierung der Deutschen in Europa führen.41 Adenauer, Gegner Hitlers und Mitbegründer der CDU, wußte nur zu gut, daß Anzeichen eines neuen deutschen Nationalismus im Ausland tiefe Beunruhigung auslösen würden. Nationalistische Bewegungen in der neuen Bundesrepublik, die mehr oder weniger eine Schöpfung der Westmächte war, würden mit Argwohn beobachtet werden und die Konsolidierung des jungen Staates erschweren. In der Tat überschattete nach 1945 Mißtrauen noch lange die Deutschlandpolitik der Alliierten und die Haltung der Öffentlichkeit in ihren Ländern. Geradezu typisch für die Haltung der Alliierten war ein Memorandum, das der Foreign Secretary Anthony Eden Anfang 1945 seinen Kollegen im Kriegskabinett zugehen ließ. In dieser "study of the German mentality and its possible development in the future"42 wurde die Gefahr eines wiederauflebenden Nationalsozialismus nach der nun absehbaren Niederlage Deutschlands als gering angesehen - nicht jedoch die Gefahr eines fortbestehenden deutschen Nationalismus. "It would be superficial to regard Hitlerism as likely to remain a menace of the same order as German nationalism and 35
) Rede in Bern am 23. März 1945. In: K. Adenauer: Erinnerungen 1945-1953. Bd. 1. Stuttgart 1973 (1965). S. 188. Siehe auch oben S. 190. 36 ) Adenauer: Erinnerungen. Bd. 1 (Anm. 35), S. 307. yl )Ebd. S. 467. 38 ) £ M „ S. 501. ,9 ) Ebd., S. 425. 40 ) Adenauer: Erinnerungen 1955-1959. Bd. 3. Stuttgart 1967, S. 383. 41 ) Ebd.. S. 252. 42 ) So Eden in seiner einleitenden Bemerkung (Public Record Office, London, FO 371/46791/C 150, W.P., 45, 18: German Reactions to Defeat, 10. Januar 1945, S. 1). 2
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German militarism. These two evils may unite again under a new totalitarian cloak."43 Das Memorandum fuhr dann warnend fort: "The mere resentment of defeat and disarmament, quite apart from the final political, economic and territorial settlement imposed upon her, will be enough no doubt to inflame nationalist and militarist feelings in Germany [...] It is, however, a fact, simple and unoriginal but inescapable, that Germany's mental reaction to defeat will be determined, in the long run, not by the mere fact of defeat, but by the settlement it leads to. It will be determined most of all by the territorial settlement, and by such possible accompanying burdens as the wholesale transfer of populations from ceded areas." Territoriale Verluste Deutschlands und damit einhergehende Vertreibungen von Deutschen aus ihrer Heimat würden jede europäische Nachkriegsordnung von vornherein mit einer schweren Hypothek belasten. "To exacerbate Germany's feelings of nationalism and militarism by inflicting on her very extensive territorial losses, which she will regard as unjust and intolerable and to which she will never become resigned, would gravely diminish any hope there may be that Germany might eventually become reconciled to the settlement of Europe, and cooperate in its maintenance."44 So kann es kaum erstaunen, daß ζ. Β. die britische Besatzungsmacht sehr aufmerksam Anzeichen eines wirklichen oder vermeintlichen Nationalismus in ihrer Zone beobachtete. Die Stimmung der deutschen Bevölkerung und ihre politische Haltung wurden aufmerksam registriert. Die Informationen über nationalistische Aktivitäten, die das Public Opinion Research Office sammelte oder in Consular Reports an die Militärregierung enthalten sind, erweisen sich in ihrer Aussagekraft allerdings als begrenzt. Sie sind impressionistisch und oft sehr spekulativ. Sie lassen eher den Schluß zu, daß vom Weiterleben oder Wiederaufleben eines deutschen Nationalismus nach der Kapitulation nicht die Rede sein kann. Die diesbezüglichen Befürchtungen der Alliierten waren also übertrieben, wenn nicht sogar unbegründet gewesen. Ein Bericht des britischen Nachrichtendienstes meldete beispielsweise im Juli 1945 aus Berlin, daß "the prevalent mental attitude, where it is not one of dumb indifference, is one of complete cynicism. They [the Germans] have learnt at last how disastrously wrong their own propaganda was".45 Noch drei Monate später hatte sich an dieser Stimmungslage der Bevölkerung wenig geändert. "With regard to politics", so heißt es Ende Oktober 1945 in einem Bericht, "there is still a general apathy among the mass of Germans. All four parties are by way of starting new drives to combat this, but they all admit that they have so far not touched the great masses of the nation."46 Bei der Besetzung Deutschlands hatten die Alliierten eigentlich erwartet, daß sie auf weitaus stärkeren Widerstand der Deutschen gegen die Besatzungsbehörden 43
) Ebd., S. 5. ) Ebd., S. 6. 45 ) Public Record Office, London [=PRO], FO 1005/1706. HQ British Troops Berlin, Intelligence Summary No 1, 8. Juli 1945. 46 ) PRO, FO 1005/1727: HQ British Troops Berlin, Political Intelligence Report No 15, 27. Oktober 1945. 44
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stoßen würden. Doch das Resümee lautete Ende 1945: "We could not expect the Germans to be so devoid of national feeling as to accept being occupied with complacency or even with resignation."47 Der Schock des Zusammenbruchs und die Angst vor der ungewissen Zukunft - beides wirkte lähmend auf die Bevölkerung. Gelegendich erbrachten Umfragen, für die Deutschen ein bislang unbekanntes, von den angelsächsischen Besatzern mitgebrachtes Instrument der politischen Meinungsforschung, allerdings beunruhigende Ergebnisse. Im Sommer 1947 wurde in Hamburg 350 Personen die Frage gestellt: "Has the dictatorial method of Government advantages over a democratic form?" Über die Hälfte der Befragten (57,5%) bejahte die Frage, wobei 19,1 Prozent der Befragten ihre Meinung damit begründete, daß in der gegenwärtigen Krise strikte Organisation und Planung notwendig seien.48 Im September desselben Jahres erbrachte eine Umfrage unter 6000 Deutschen beiderlei Geschlechts aus der Perspektive der Besatzungsmächte noch ein weitaus deprimierenderes Ergebnis. Auf die Frage, ob der Nationalsozialismus eine schlechte Sache oder eine nur schlecht ausgeführte gute Sache war, antwortete die Hälfte der Befragten, der Nationalsozialismus sei eine gute Sache gewesen.49 Die Glaubwürdigkeit und der Wert solcher Meinungsumfragen mag dahingestellt sein, zumal andere Beobachtungen auf britischer Seite ihnen widersprachen. So meldete ζ. B. Ende 1948 ein Konsularbericht aus Bremen an die Militärregierung: "The Germans are beginning to gain confidence at least in their local democratic institutions [...] and feel that democracy can not be imposed by dictatorial methods. It would be a mistake, even a contradiction to describe this tendency as nationalistic, though in an entirely different sense nationalism has always been strong in Bremen, and has been more vocal of late amongst the Right Wing parties [...] The press and responsible opinion has uttered frequent warnings against nationalist temptations and there has been more than a hint that not only the USSR but even the Western allies [...] may have encouraged nationalist manifestations in support of their Machiavellian ends."50 Indes, schon wenige Wochen später hieß es in einem Bericht des Public Opinion Research Office: "Increasing anti-British sentiments and a revival of German nationalist feeling are reported on all sides, perhaps because it has become fashionable to recognize these symptoms which have, in fact.
47
) PRO, FO 1005/1700: CCCXBE), Intelligence Review No 1, 12. Dezember 1945. > PRO, FO 1014/190: Reaction Report for June 1947 from Information Control Hamburg. 49 ) PRO, FO 1056/130: Morale Report No 111A. Siehe auch einen amerikanischen Bericht vom September 1946 in: A. J. u. R. L Merritt (Hg ): Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys, 1945-1949. Urbana (111.) 1970, S. 103-106. Hinweise auf Befürchtungen der Amerikaner auch bei L Haupts: Deutschland, die Staatengemeinschaft und der Frieden. Zur deutschen Frage nach den beiden Weltkriegen. In: J. Dülffer u. a. (Hg ): Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Frankfurt/M.-Berlin 1990, S. 73-94. 50 1 PRO, FO 1049/1782: Political and General Report on Land Bremen for December Quarter 1948 to CCG(BE) Political Division, Berlin, S. 3. 48
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always been there. Such sentiments are now expressed with increasing confidence."51 II Wie konnte die Gefahr eines Wiederauflebens des aggressiven Nationalismus in Deutschland gebannt werden? Wie konnte ein "postnationales" Deutschland gestaltet werden - ein Deutschland, das nach den ungeheuren Ereignissen zwischen 1933 und 1945 wieder in die Völkerfamilie aufgenommen werden wollte? In der Rückschau schrieb Franz Josef Strauß, der die Geschichte der Bundesrepublik seit ihrer Gründung maßgeblich mitgestaltet hat: "In dieser Zeit von 1945 und danach [...] haben wir uns die Frage gestellt: Wie soll das eigentlich weitergehen? Hat denn dieses Deutschland noch eine Zukunft?"52 Der Philosoph Karl Jaspers erinnerte später an die zentrale Aufgabe, vor die sich die Deutschen nach dem Ende des Dritten Reiches gestellt sahen: "Seit 1945 war die Frage: Wird jetzt ein deutscher Staat geboren aus einer Umkehr des politischen Bewußtseins der Staatsmänner und der Bevölkerung? Oder wird er ein äußerlich gefügtes Ordnungsgebilde sein ohne Ursprung in den Herzen und Köpfen des Volkes, ohne eine neue politische Gesinnung?"53 Auf diese Frage wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Antworten gegeben, vor allem von denjenigen Deutschen, die schrittweise politische Verantwortung übernahmen und unter der Aufsicht der Besatzungmächte in Deutschland die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft zu legen versuchten. Im Kern liefen alle Antworten, wie sehr sie sich auch in den Einzelheiten unterscheiden mochten, auf wenige Leitlinien hinaus, nach denen das künftige Deutschland gestaltet werden sollte. Auf allen Seiten, bei Politikern ebenso wie bei Publizisten in den westlichen Besatzungszonen, bestand darüber Einigkeit, daß die staatliche Einheit Deutschlands erhaltenbleiben, eine bundesstaatliche Verfassung angestrebt werden und die innere Ordnung Deutschlands sich an den Werten der westlichen Demokratien orientieren sollte. Im Verhältnis zu seinen Nachbarn im Westen sollte das vordringliche Ziel die Schaffung einer engeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit sein. Im Grunde waren dies Vorstellungen, die von den angelsächsischen Mächten schon seit längerem diskutiert und nun von den Deutschen in mehr oder weniger abgewandelter Form übernommen wurden. Das bereits zitierte Memorandum des Foreign Office von Anfang 1945 hatte beispielsweise eine Neubelebung von partikularistischen Bestrebungen in Deutschland vorausgesagt, die einen föderativen Staatsaufbau Deutschlands begünstigen würden, und auch schon eine Einbeziehung Deutschlands in eine neue europäische Ordnung angedeutet.54
51
) PRO, FO 1056/131: CCG(BE), Public Opinion Research Office, German Morale Report No 29, 1.-31. Januar 1949, S. 1. 52 ) F. J. Strauß: Die Erinnerungen. Berlin 1989, S. 60. 53 ) Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? (Anm. 2), S 67. 54 ) PRO, FO 371/46791/C 150, W.P. (45) 18: Gennan Reacüons to Defeat, S. 2 und S. 6. Dazu auch Haupts: (Anm. 49), S. 77 ff.
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Die Vorstellungen der Amerikaner und Briten, denen sich die Franzosen erst spät und dann auch nur widerstrebend anschlossen, fielen bei den Deutschen nach der Kapitulation schon deshalb auf fruchtbaren Boden, weil sie einen Weg in die Zukunft zu weisen und zugleich eine Garantie gegen eine Wiederkehr des Nationalismus zu geben schienen. Das "Recht auf Einheit", von dem in den innerdeutschen Debatten nach 1945 viel die Rede war, wurde dabei ausdrücklich als ein Verlangen bezeichnet, das mit Nationalismus nichts, aber mit den Menschenrechten viel zu tun habe. "Man komme uns nicht mit dem Einwand, dieser Rechtsanspruch sei nationalistisch", meinte 1947 der Publizist Ernst Friedlaender. "Nationalismus ist nichts anderes als unberechtigter nationaler Egoismus. Sowenig wie ein Bestohlener, der auf sein Eigentum nicht verzichtet, als Egoist zu gelten hat, ebensowenig sind wir Nationalisten, weil wir ein Recht auf Heimat nicht preisgeben."55 Der liberale Politiker Reinhold Maier berichtete in seinen Erinnerungen vom Beginn des politischen Lebens in Württemberg, das er aktiv mitgestaltete. Manche seiner Reden hätten die Zuhörer schweigend angehört. "Aber an der Stelle, die über das deutsche Vaterland handelte, hellten sich für einen Augenblick die Gesichter auf und lösten sich die Arbeitshände zu leisem oder zu lauterem Beifall."56 Selbst ein so regional verhafteter Politiker wie Maier hielt an der deutschen Einheit fest, aber gleichzeitig trat er für eine Föderalisierung Deutschlands ein, für "kräftige Bundesländer als Glieder des ganzen Deutschlands".57 Wilhelm Röpke wollte noch weitergehen als Maier: Dem staatlichen Neuaufbau Deutschlands sollte eine Dezentralisierung vorausgehen, die durch die Auflösung des Bismarckreiches und die Schwächung Preußens ermöglicht werde. Die verschüttete Tradition der alten deutschen Staaten müsse wiedererweckt werden. "Das bedeutet, daß das Rheinland, Westfalen, Hannover, Hessen oder Schleswig-Holstein den Rang selbständiger deutscher Staaten gewinnen [...] Das ist genau die Therapie, die unserer eingehenden Diagnose der deutschen Krankheit entspricht. Deutschland muß seinen Charakter als eine 'Nation von Nationen' zurückerhalten und zu den guten Traditionen zurückkehren, die es zu seinem Unglück vor drei Generationen verlassen hat."58 Die Genesung Deutschlands hänge entscheidend davon ab, daß "dieser 'Einheitsdeutsche' - der eben der 'Bismarckdeutsche' mit seiner gefährlichen Mentalität ist - wieder dem echten Typus des Bayern, Hannoveraners, Rheinländers oder Württembergers Platz macht."59 Die fundamentalen Gegebenheiten in Deutschland kämen dem Föderalismus entgegen, denn "München ist gottlob noch immer bayrisch, Hannover hannoversch, Hamburg hamburgisch und Köln rheinisch, und man kann sich nur beglückwünschen, wenn sie es bleiben wollen."60
55
) E. Friedlaender: Der deutsche Standpunkt, 27. Februar 1947. Abgedruckt in: Frei / Friedlaender (Hg.): Emst Friedlaender (Anm. 27), S. 98. 56 ) R. Maier: Ein Grundstein wird gelegt. Die Jahre 1945-1947. Tübingen 1964, S. 212 f. 57 ) £ M . , S. 162. 58 ) Röpke: (Anm. 9), S. 226 f. 59 ) Ebd., S. 232. 60 > Ebd.
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In Absetzung von Röpke spachen sich die neuen Parteien in ihren ersten Verlautbarungen aber eindeutig gegen den staatenbündischen und für den bundesstaatlichen Charakter Deutschlands aus. Im Programm der ChristlichDemokratischen Partei im Rheinland und in Westfalen vom September 1945 heißt es lapidar: "Die politische Lebensform des deutschen Volkes ist das Reich als Bundesstaat."61 Die Christlich-Soziale Union Bayerns forderte 1946 "den föderativen Aufbau Deutschlands auf bundestaatlicher Grundlage".62 Die Sozialdemokraten wollten das gleiche: "Die deutsche Republik der Zukunft soll sich aufbauen auf Ländern, die nicht in ihrer eigenen Existenz ihren höchsten Zweck sehen, sondern die sich nur als Bausteine einer höheren nationalen Ordnung betrachten."63 Die Liberalen schließlich erarbeiteten im Februar 1946 Richtlinien, in denen es hieß: "Dieser Staat soll auf breitester Grundlage von unten nach oben aufgebaut werden, in freier Selbstverwaltung sollen unten die Gemeinden, darüber die Kreise, im größeren Bereich die Länder ihre eigenen Angelegenheiten selbständig regeln. Die Grenzen dieser Selbständigkeit bestimmt das Reich. Das Reich allein führt und bestimmt die Politik."64 Reinhold Maier, inzwischen Ministerpräsident von WürttembergBaden, erklärte im März 1946: "Wir wissen, worauf wir hinauswollen, nämlich auf einen Bundesstaat mit beachtlichen Zentralbefugnissen ohne Entmündigung der Länder."65 Die Bestrebungen konservativer Kreise in Bayern, das Land zu einem selbständigen Staat zu machen und zu einer konstitutionellen Monarchie unter den Wittelsbachern zurückzukehren, blieben eine eher kuriose Episode ohne breite Resonanz.66 Meinungsumfragen in den Jahren 1947 und 1948 zeigten, daß die überwiegende Mehrheit der Deutschen in den westlichen Besatzungszonen für einen einheitlichen Staat auf föderaler Grundlage votierte.67 Wie über die Organisation Deutschlands als Bundesstaat waren sich nach 1945 die großen politischen Parteien und ihre führenden Repräsentanten auch über die europäische Einbindung Deutschlands weitgehend einig. Bekannt ist, daß für einen Mann wie Konrad Adenauer die Westintegration Deutschlands höchste Priorität besaß. Nach seinem ersten Besuch in Bonn im November 1949 urteilte der damalige amerikanische Außenminister Dean Acheson über Adenauer: "I was Struck by the imagination and wisdom of his approach. His great concern was to integrate Germany completely into Western Europe. Indeed, he gave this end priority over reunification of unhappily divided 61
) Abgedruckt in: T. Stammen (Hg.): Einigkeit und Recht und Freiheit. Westdeutsche Innenpolitik 1945-1955. München 1965, S. 87. ) Abgedruckt in: Ebd., S. 99. Dazu auch Strauß: Erinnerungen (Anm. 52), S. 100. 63 ) Politische Leitsätze der SPD vom Mai 1946. Abgedruckt in: Stammen (Hg ): (Anm. 61), S. 124. Vgl. auch C. Schmid: Erinnerungen. Bern 1979, S. 293. 64 ) Abgedruckt in: Stammen (Hg.): (Anm. 61), S. 108. 65 ) Zit. in: K.-J. Matz: Reinhold Maier (1889-1971). Eine politische Biographie. Düsseldorf 1989, S. 309. 66 ) Vgl. die Aufzeichnungen Walter Doms vom Februar 1946: W. L. Dorn: Inspektionsreisen in der US-Zone. Notizen, Denkschriften und Erinnerungen aus dem Nachlaß. Hg. von L. Niethammer. Stuttgart 1973, S. 73. Siehe auch Strauß: Erinnerungen (Anm. 52), S. 99 f. 67 ) E. Noelle/E. P. Neumann: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955. Allensbach 3 1975, S. 145. 62
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Germany."68 Schon vier Jahre zuvor, im Oktober 1945, hatte sich Adenauer für die Bildung eines deutschen Bundesstaates aus den westlichen Besatzungszonen ausgesprochen. Die Wirtschaft des westdeutschen Gebietes sollte mit deijenigen Frankreichs und Belgiens eng verflochten werden, "damit dadurch gemeinsame wirtschaftliche Interessen entstünden".69 In diesem Verbund wollte er auch die Niederlande, Luxemburg und, wenn möglich, England einbezogen haben.70 Die spätere Montanunion und dann die EWG, zu deren Griindungsvätern Adenauer gehören sollte, zeichneten sich hier schon 1945 in ersten Umrissen ab. Auch der Vorsitzende der anderen großen Partei Nachkriegsdeutschlands, Kurt Schumacher, trat mit Nachdruck für die europäische Einbindung Deutschlands ein. In den im wesentlichen von ihm verfaßten programmatischen Erklärungen der SPD vom 5. Oktober 1945 heißt es: "[Die Sozialdemokratische Partei] weiß, daß für die lebensnotwendige europäische Wirtschaftseinheit die Bildung entsprechender politischer Formen ebenso notwendig für Deutschland wie für die Welt ist. Wie Montesquieu einmal sagte: 'Europa ist nur eine Nation, die sich aus mehreren zusammensetzt'."71 Im Juni 1946 schrieb Schumacher: "Die Sozialdemokratie will aber ein neues geschlossenes Deutschland nicht als einen neuen Nationalismus [sie!]. Sie will es von vornherein in den Rahmen einer europäischen Föderation eingebaut sehen [...] Heute ist klar, was schon immer eine Wahrheit war, daß nämlich national und international keine Gegensätze sind [...] Der große Feind der Nation ist nicht die internationale Idee, sondern der Nationalismus."72 Wenige Wochen zuvor hatte Schumacher festgestellt: "Ein neues Deutschland darf kein nationalistisches Deutschland sein. Es muß sich von vornherein in den Rahmen der europäischen Notwendigkeiten stellen. Wir Deutsche sind auch von uns aus bereit, zugunsten dieses neuen Europa manche von zukünftig möglichen Souveränitatsrechten aufzugeben, verlangen dasselbe aber auch von den anderen Ländern Europas."73 Von der deutschen Bevölkerung wurde, wie ζ. B. eine Umfrage der britischen Militärregierung im April 1948 ergab, die europäische Integrationspolitik lebhaft unterstützt.74
6S
) I). Acheson: Present at the Creation. My Years in the State Department. London 1969, S. 340. ) Adenauer: Erinnerungen. Bd. 1 (Anm. 35), S. 35. 70 ) Anlage zum Schreiben Adenauers an den Duisburger Oberbürgermeister Heinrich Weitz, 31. Oktober 1945. In: Adenauer. Briefe 1945-1947. Bd. 1. Bearbeitet von Η. P. Mensing. Berlin 1983, S. 130. 7I > Abgedruckt in: Stammen (Hg.): (Anm. 61), S. 117. 72 ) K. Schumacher: Die Sozialdemokratie im Kampf (Juni 1946). In: Ders.: Nach dem Zusammenbruch. Gedanken Uber Demokratie und Sozialismus. Hamburg 1948, S 162. 73 ) Oers.: Deutschland braucht den Sozialismus (März 1946). In: Ebd., S. 133 f. 74 ) P R O , FO 1012/818, CCG(BE), P.O.R.O., Information and Statistics, Report No 7: German Views on Marshall Plan, United Nations, Western Union and Bizonia, 23. Juni 1948, S. 1. 69
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III Die Gespaltenheit und Distanz, ja Aversion der Mehrheit der Deutschen gegenüber nationalen Kategorien nach dem Einschnitt des Jahres 1945 spiegelte sich auf anschauliche Weise in ihrer Haltung zu nationalen Symbolen, insbesondere zu dem Zeitpunkt, als es nach der Gründung der Bundesrepublik darum ging, eine "Nationalhymne" festzulegen. Die bittere Erkenntnis, im nationalen Selbstverständnis von einem Unrechtsregime mißbraucht worden zu sein, hatte das Nationalbewußtsein der Deutschen tief getroffen. Ein naives Nationalgefühl wie im 19. Jahrhundert, ein ungebrochenes Verhältnis zum Nationalismus war nach 1945 für die Deutschen nicht mehr möglich. Wenn heute gelegentlich gesagt wird, daß die Abwesenheit eines ausgeprägten deutschen Nationalgefühls im europäischen Vergleich eine "erklärungsbedürftige Anomalie" darstelle,75 so sind Erklärungen dafür zweifellos in der jüngsten deutschen Geschichte zu suchen, in der gründlichen Diskreditierung nationaler Werthaltungen seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Nun sind Unsicherheit über nationale Symbole, Diskontinuitäten in ihrem Gebrauch und Zweifel an ihrer Allgemeingültigkeit in der deutschen Geschichte seit der Entstehung des Nationalstaates von 1871 nichts Neues.76 Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus war aber die bis dahin gebräuchliche nationale Symbolik nahezu völlig entleert. Die Schaffung neuer Symbole und ihre Akzeptanz in der Bevölkerung war daher ein Prozeß, der sich über Jahre hinzog. Als die Bundesrepublik Deutschland 1949 gegründet wurde, ließ sich über die Flagge des neuen Staates noch am ehesten Einigkeit erzielen. Ohne größere Diskussion im Parlamentarischen Rat wurde Schwarz-Rot-Gold, die Fahne der Revolution von 1848/49 und der Weimarer Republik, als "Bundesflagge" festgelegt (Art. 22 des Grundgesetzes). Die Verfassung des anderen deutschen Teilstaates, der aus der Konkursmasse des Dritten Reiches hervorgegangen war, erklärte im Oktober 1949 ebenfalls Schwarz-Rot-Gold zu den "Farben der DDR". Schwarz-Rot-Gold symbolisierte seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon im frühen 19. Jahrhundert die liberale Tradition in der deutschen Geschichte. Viel schwieriger gestaltete sich in der Bundesrepublik die Entscheidung über eine Nationalhymne, auf die die Politiker des neuen Staates nicht verzichten wollten.77 Dabei wurde vergessen oder verdrängt, daß der deutsche Staat bis 1922 überhaupt keine offizielle Nationalhymne besessen hatte. Nach der Bismarckschen Reichsgründung konkurrierten zunächst "Die Wacht am 75
) So H. Mommsen: Nationalismus und Nationalstaatsgedanke in Deutschland. In: Journal Geschichte 6/Dez. 1990, S. 47. 76 ) Siehe T. Schieder: Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. Köln-Opladen 1961. Auch E. Fehrenbach: Über die Bedeutung der politischen Symbole im Nationalstaat. In: Historische Zeitschrift 213 (1971), 296-357. 77 ) Auf die lange geführte Diskussion über einen Nationalfeiertag für die Bundesrepublik sei hier nur hingewiesen. Siehe H. Hattenhauer: Deutsche Nationalsymbole. Zeichen und Bedeutung. München 1984, S. 129-135.
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Rhein" und die zur Kaiserhymne erhobene Preußenhymne "Heil Dir im Siegerkranz". Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich mehr und mehr das Deutschlandlied Hoffmanns von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn durch.78 Das Deutschlandlied wurde dann 1922, also erst in der Weimarer Republik, vom Reichspräsidenten Friedrich Ebert zur offiziellen deutschen Nationalhymne erklärt.79 Während des Dritten Reiches wurde die Hymne nicht zuletzt dadurch diskreditiert, daß sie meist zusammen mit dem Horst-Wessel-Lied gesungen wurde. Im Juli 1945 verboten die Alliierten mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 154 nicht nur das Singen nationalsozialistischer Lieder, sondern auch ganz allgemein das Singen "deutscher Hymnen", um "die Fortsetzung und Wiederaufnahme militärischer Ausbildung [...] zu unterbinden".80 Als die Alliierten das Verbot Ende 1949 im Zeichen ihrer veränderten Deutschlandpolitik aufhoben, setzte in der jungen Bundesrepublik die Diskussion über das Problem einer deutschen Nationalhymne ein. Letztenendes war die Bundesrepublik, so wurde argumentiert, ein Staat unter Staaten, die alle an ihren nationalen Symbolen festhielten. Die Bundesrepublik könne diese Usancen nicht einfach ignorieren. Im September 1951 sprach sich bei einer Umfrage 73 Prozent der befragten Deutschen in der Bundesrepublik für die Wiedereinführung des Deutschlandliedes als Nationalhymne aus. Dreißig Prozent von ihnen votierte für das Singen der dritten Strophe, während nur 25 Prozent für die erste Strophe eintrat.81 Im Jahr zuvor war es noch zu einem Eklat gekommen, als der Bundeskanzler Adenauer am Ende einer großen politischen Veranstaltung in Berlin die Anwesenden zum Singen der dritten Strophe des Deutschlandliedes aufforderte. Die westalliierten Stadtkommandanten blieben damals demonstrativ sitzen; prominente sozialdemokratische Politiker verließen den Saal.82 In der öffentlichen Debatte der Jahre 1951 und 1952 wurde eine Nationalhymne vielfach als überflüssig bezeichnet und statt dessen eine supranationale europäische Hymne gefordert. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss sprach sich öffentlich sogar gegen die dritte Strophe des alten Deutschlandliedes als Nationalhymne aus, weil nach seiner Meinung "der tiefe Einschnitt in unserer Volks- und Staatengeschichte einer neuen 78
) Schieder: Das Deutsche Kaiserreich (Aran. 76), S. 75. ) H. Tümmler: "Deutschland, Deutschland über alles". Zur Geschichte und Problematik unserer Nationalhymne. Köln-Wien 1979. Hattenhauer: Nationalsymbole (Anm. 77), S. 59 ff.; U. Mader: Wie das "Deutschlandlied" 1922 Nationalhymne wurde. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 38 (1990), S. 1088-1100. Nach Mader spielte bei der Entscheidung über die deutsche Nationalhymne die britische Regierung eine Rolle. Sie hatte im Juni 1920 in Berlin angefragt, "welches der gegenwärtige nationale Gesang Deutschlands sei". Der damalige AuBenminister Walter Simons schlug im Oktober 1920 im Reichstag vor, "der englischen Regierung einfach und ehrlich zu antworten: Augenblicklich hat das deutsche Volk keinen nationalen Gesang. Jedes Lied, das wir vorschlagen würden, wenn es noch so sehr von der einen Seite bejubelt würde, würde von der anderen Seite ausgepfiffen. Solange wir diese Verhältnisse haben, können wir weder einen nationalen Gesang noch einen nationalen Feiertag haben" (S. 1091). 79
80
) Siehe O. Busch: 125 Jahre - "Deutschland, Deutschland über alles". München 1967, S. 26. ) Noelle /Neumann: Jahrbuch (Anm. 67), S. 159. 82 ) Μ Overesch: Grenzen der Erneuerung. Die bundesdeutsche Nationalhymne. In: Journal Geschichte 1/Jan. 1988, S. 12. Tümmler: (Anm. 79), S. 17. Haltenhauer: Nationalsymbole (Anm. 77). S. 66. 81
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Symbolgebung bedürftig sei" und er die Restauration politischer Strömungen des 19. Jahrhunderts vermeiden wollte.83 Doch seit 1950 gab es unübersehbar Anzeichen dafür, daß in der westdeutschen Bevölkerung die dritte Strophe des Deutschlandliedes immer mehr als nationale Hymne akzeptiert wurde. Von Theodor Heuss inspirierte Versuche, eine ganz neue deutsche Hymne populär zu machen, stießen auf wenig Resonanz. Vor diesem Hintergrund setzte sich schließlich Adenauer gegen die Bedenken von Heuss durch. Durch einen Briefwechsel zwischen Adenauer und Heuss im April und Mai 1952, der im Bulletin der Bundesregierung veröffentlicht wurde, wurde die dritte Strophe des Deutschlandliedes als bundesdeutsche Hymne festgelegt. Von manchem Zeitgenossen wurde dies als Symptom einer ungewollten und im Grunde unerwünschten nationalen Restauration gesehen - vielleicht zu Recht. Aber der Vorgang, in dem über die Notwendigkeit und Opportunität einer Nationalhymne eher bürokratisch und unsentimental entschieden wurde, kann ebensogut als Symptom für die Mentalität der Menschen in einem Deutschland gewertet werden, das aus den Exzessen des Nationalismus geläutert hervorgegangen ist.
Heuss an Adenauer, 2. Mai 1952. In: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 51 vom 6. Mai 1952, S. 537.
CHARLES DE GAULLE UND DIE WESTDEUTSCHEN IN DER BERLINKRISE 1958-1963. ÜBER DIE WIRKMÄCHTIGKEIT EINES NATIONALEN STEREOTYPS AUF DIE OPERATIVE AUSSENPOLITIK
von Reiner
Marcowitz
Charles de Gaulle hat sich zeit seines Lebens mit Deutschland beschäftigt. Das Schicksal dieses Landes, hat er Ende 1944 einmal bemerkt, sei "le problöme central de l'univers"1. Eine solche Einschätzung spiegelt natürlich die damalige säkulare Auseinandersetzung mit Hitler-Deutschland wider, sie kann aber auch als zeitlos gültige Aussage über den hohen Stellenwert verstanden werden, der dem Nachbarn im Osten in der Gedankenwelt des Generals zukam. "L'Allemagne lui est autant que Moliöre ä un comödien du Thiätre frangais, et l'Himalaya ä un alpiniste. L'inspiration centrale, le thdme majeur."2 Nicht nur von Frankreich, sondern auch von Deutschland und den Deutschen hatte de Gaulle "une certaine id£e"3. Um diese Vorstellung und ihre Auswirkungen auf Haltung und Politik des Generals in der Berlin-Krise der Jahre 1958 bis 1963 soll es im folgenden gehen. Ziel ist es, die "longue duree" und die normative Kraft eines nationalen Stereotyps aufzuzeigen, das seinen ersten literarischen Ausdruck in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg fand und alle tagespolitschen Schwankungen überdauerte, um als Movens operativer Politik in der zweiten Nachkriegszeit zu fungieren. I. De Gaulles Verhältnis zu Deutschland war eine Haßliebe, in der Anziehung und Abstoßung, Idealisierung und Perhorreszierung einander ablösten. Mal überwog das eine, mal das andere. Die Janusköpfigkeit seines Deutschlandbildes, in dem die positiven Züge nicht minder stark gezeichnet waren als die negativen, verdeutlicht besonders gut seine militärtheoretische Schrift "Vers l'armee du metier" (1934)4. Nirgendwo sonst hat de Gaulle ähnlich klar und überzeugend die deutsch-französischen Antinomien, wie sie sich in seinen Augen darboten, herausgearbeitet wie in diesem Buch. Den deutsch-französischen Gegensatz, der ihm zu jenem Zeitpunkt eine unvermeidliche Fatalität zu sein schien, begründete er hier sowohl geopolitisch mit Frankreichs ungeschützter Ostgrenze als auch - und dies interessiert hier mehr - mit dem unter') De Gaulle in einer Rede vom 22. 11. 1944 vor der "Assemble Consultative". In: C. de Gauile: Discours et Messages. Bd. 1: Pendant la Guerre, Juin 1940-Janvier 1946. Paris 1970, S. 483. 2 ) J. Lacouture: De Gaulle. Bd. 3: Le souverain, 1959-1970. Paris 1986, S. 289. ' ) C. de Gaulle: M£moues de Guene. Bd. 1: L'Appel, 1940-1942. Paris 1954. S. 1. 4 ) Ders.: Vers l'armie de notier. Paris 1934. Unveränderter Nachdruck. Paris 1971.
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schiedlichen Nationalcharakter von "Gaulois et Germains"5. Dem widersprüchlichen, unschlüssigen, letztlich aber liebenswürdigen französischen Bonvivant stand für de Gaulle ein unberechenbarer und gewalttätiger Teutone gegenüber: "Ce Francis, qui met dans son esprit tant d'ordre, et si peu dans ses actes, ce logicien qui doute de tout [...] ce jacobin qui crie: 'Vive l'Empereur!' [...] bref ce peuple mobile, incertain, contradictoire, comment le Germain pourrait-il le rejoindre, le comprendre et s'y reposer? Inversement, nous inqutete l'Allemagne, force de la nature ä laquelle elle tient au plus pres, faisceau d'instincts puissants mais troubles, artistes-nes qui n'ont point de goüt, techniciens restes feodaux, pöres de famille belliqueux, restaurants qui sont des temples, usines dans les forets, palais gothiques pour les necessitis, oppresseurs qui veulent etre aimes [...] chevaliers du myosotis qui se font vomir leur bi£re [...] 6pique le matin, romantique vers midi, guerrifere le soir, ocean sublime et glauque d'oü le filet retire pelemele des monstres et des trösors, cathddrale dont la nef polychrome, assemblant de nobles arceaux, emplie de sons nuancds, organise en Symphonie, pour des sens, pour la pensee, pour l'ame, l'emotion, la lumiöre et la religion du monde, mais dont le transept obscur, retentissant d'une rumeur barb are, heurte les yeux, l'esprit et le coeur."6 Seiner plastischen Schilderung deutsch-französischer Wesensunterschiede schloß de Gaulle eine eindringliche Warnung vor dem politischen Bewegungsgesetz eines nur oberflächlich geeinten Staates, der durch "mille tendances divergentes"7 bedroht werde, an: "f...] cette menace d'anarchie pousse l'Empire aux entreprises. Son unit£ a pour conditions l'expansion au-dehors et les grands desseins, qui seuls justifient aux yeux des Allemands les sacrifices dont ils la paient. [...] Le Reich d'aujourd'hui suit la meme pente. Qui peut douter qu'une crise nouvelle attirerait, une fois de plus, les Allemands vers Paris. " s Dieser Vorwurf des steten Aktionismus', des unheilvollen Dynamismus', die die Deutschen zu immer neuen Expansionen und Eroberungen trieben, sollte "das lebenslange Trauma"9 des Franzosen werden, das sich fortan in vielerlei Formen und Variationen in seinen Reden wiederfand und "das Hauptmotiv seiner diversen Deutschlandpolitiken"10 wurde. 5
) Ebd.: S. 25. ) Ebd.: S. 26 ff. 7 ) Ebd.: S. 30. 8 ) Ebd. 9 ) Ä. Kapferer: Charles de Gaulle. Umrisse einer politischen Biographie. Stuttgart 1985, S. 194. 10 ) Ebd. 6
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Daneben aber erwähnte de Gaulle in "Vers l'armee de metier" auch die verlockende Perspektive einer deutsch-französischen Verständigung und Zusammenarbeit. Doch die skizzierten Eigengesetzlichkeiten und Gegensätze ließen ihn hier noch wenig hoffen: "Ce n'est point que chacun meconnaisse la valeur de lautre et ne se prenne ä rever, parfois, aux grandes choses qu'on pourrait faire ensemble. Mais les reactions sont si diffdrentes qu'elles tiennent les deux peuples en 6tat constant de m6fiance."" Dennoch sollte den Franzosen künftig der "Traum"12 von der Entente zwischen Deutschland und Frankreich nicht mehr loslassen. In seinen Reden während des Zweiten Weltkriegs betonte de Gaulle immer wieder den aggressiv-militaristischen Charakter "du dynamisme allemand", der der Grund für alle kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa in den letzten Jahrhunderten gewesen sei.13 Aus seiner Sicht lief eine deutliche Traditionslinie von Bismarck über Wilhelm II. bis zu Hitler. Diese verkörperten für ihn alle drei in steigender Form "la volonte germanique de domination" 14 . Vor diesem Hintergrund forderte de Gaulle als Führer des "Freien Frankreich" und erster französischer Regierungschef nach der "Liberation" endgültige Sicherheiten gegenüber der deutschen Gefahr. Er sah sie vor allem in territorialen Amputationen gegeben: Das linke Rheinufer einschließlich des Saargebiets und das Ruhrgebiet sollten von Deutschland abgetrennt werden. Dieses sollte internationalisiert werden, jenes sollte ein autonomes, zumindest an Frankreich orientiertes, wenn nicht gar von ihm dominiertes Dasein führen, wobei de Gaulle das Saarland auf jeden Fall zu annektieren gedachte. Der nach Gebietsabtretungen im Westen und Osten - de Gaulle hatte im Dezember 1944 gegenüber Stalin als erster westlicher Regierungschef der Oder-Neiße-Linie als neuer deutscher Ostgrenze zugestimmt verbleibende deutsche Torso sollte staatenbundlich organisiert werden. 15 Die harten, aus der Erfahrung des deutschen Angriffs resultierenden deutschlandpolitischen Forderungen de Gaulies waren keineswegs ein Ausdruck grundsätzlicher "heftige[r] antideutschefr] Gefühle" 16 , wie man versucht sein könnte zu glauben. Das belegen Äußerungen de Gaulies, in denen er selbst während des Krieges die Deutschen noch als "grand peuple" 17 bezeichnete und die Möglichkeit einer deutsch-französischen Zusammenarbeit beschwor. Krieg und Nazigreuel sollten ihn nicht dazu bringen, die von ihm immer als denk- und wünschbar betrachtete Möglichkeit einer deutsch-französi1
') C. de Gaulle (Anm. 4), S. 26. ) Ρ Maillard: De Gaulle et l'Allemagne. Le reve inachevi. Paris 1990 " ) De Gaulle in einer Rede vom 25. 11. 1941 in der Universität Oxford. In: C. de Gaulle (Anm. 1), S. 143. u ) De Gaulle in einer Rede vom 21. 12. 1944 in der "Assemble Consultative". In: Ebd. S. 487 15 ) Vgl. den noch immer gültigen Abriß von W. Lipgens: Bedingungen und Etappen der Außenpolitik de Gaulies 1944-1946. In: VfZG 21 (1973), 52-102. 16 )7. Chauvel: Commentaire. D'Alger ä Berne (1944-1952). Paris 1972, S. 110. Zit. η. E. Weisenfeld: Charles de Gaulle. Der Magier im Elysee. München 1990, S. 87. 17 ) De Gaulle in einer Rede vom 12. 9. 1944 im Palais de Chaillot. In: C. de Gaulle (Anm. 1), S. 444. 12
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sehen Verständigung und Zusammenarbeit völlig von der Hand zu weisen. So kommentierte er selbst die verzweifelt-aberwitzige Aufforderung Himmlers aus den letzten Kriegstagen, sich von seinen aktuellen Verbündeten, die ihm letztlich doch nur schadeten, zu lösen und sich Deutschland zuzuwenden, prinzipiell zustimmend: Diese Einschätzung der französischen Interessenlage enthalte "im Kern fraglos etwas Wahres"18. Und anläßlich einer Reise durch die französische Besatzungszone im Oktober 1945 fand er überraschend versöhnliche Worte für die Besiegten. Seine Werbung um Verständigung und Zusammenarbeit war natürlich ein Gutteil taktische Camouflage seiner Territorialforderungen, doch eben auch Ausdruck jenes alten Traums von der deutschfranzösischen Aussöhnung.19 Ähnlich zwiespältig fielen auch de Gaulles Auslassungen Uber Deutschland in der Zeit von seiner Demission im Januar 1946 bis zu seiner erneuten Regierungsübernahme im Mai 1958 aus: Äußerungen des Mißtrauens und des Unbehagens wechselten mit Bekundungen von Anerkennung und Vertrauen. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland betrachtete der General als "la reconstitution du Reich", den Vorläufer einer "nouvelle dictature".20 Gleichzeitig aber erwähnte er die Möglichkeit einer "entente rielle entre le peuple fran9ais et le peuple allemand"21. Und Adenauers Vorschlag einer deutschfranzösischen Union als Kern eines vereinigten Westeuropas, den der Kanzler im März 1950 mittels eines Interviews mit dem amerikanischen Journalisten Kingsbury-Smith lanciert hatte und den die französische Regierung vollkommen ignorierte, begrüßte der General überschwenglich als eine zeitgemäße Neuauflage des "l'entreprise de Charlemagne"22. Auch zur deutschen Wiederbewaffnung hatte er eine ambivalente Einstellung: Einerseits hatte er als erster französischer Staatsmann Westdeutschland bereits im Juli 1950 das Recht zugebilligt, sich gegen die von der Sowjetunion aufgerüstete DDR verteidigen zu dürfen23, andererseits wurde er dann einer der entschiedensten Kritiker des EVG-Projekts. Eine Begründung, die er im Juni 1952 für seine Ablehnung der "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" gab, kann helfen, diese Widersprüche aufzulösen. In einer Erklärung bezeichnete er die Vereinbarungen über die Bundesrepublik Deutschland und die EVG als "protocoles de l'abandon"24. Sie schwächten Frankreich in dem Maße, wie sie Westdeutschland stärkten. Nichts verhindere, daß dessen "dynamisme va, une fois de plus, le devoyer vers l'aventure"25.
18
) Ders.: Memoiren 1942^6. Die Einheit - der Ruf. Düsseldorf 1961, S. 457. ) Zu de Gaulles Auslassungen vgl. R. Hudemann: Le g£n£ral de Gaulle et la politique de reconstruction en zone fran^aise d'occupation en Allemagne aprfes 1945. Drucksache der Jounces internationales "De Gaulle et son sifcele", Institut Charles de Gaulle, 19. - 24. 11. 1990, UNESCOParis. 20 ) De Gaulle in einer Rede vom 22. 5. 1949 vor dem Landesrat des "Rassemblement du Peuple Fran^ais" (RPF). In: C. de Gaulle: Discours et Messages. Bd. 2: Dans l'Attente, 1946-1958. Paris 1970, S. 292. 21 ) Ebd.: S. 293. 22 ) De Gaulle auf einer Pressekonferenz vom 16. 3. 1950. In: Ebd.: S. 350. 23 ) De Gaulle in einem Interview mit UPI vom 10. 7. 1950. In: Ebd.: S. 377. 24 ) De Gaulle in einer Erklärung vom 6. 6. 1952. In: Ebd.: S. 524. 25 ) Ebd. 19
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Hier war der Bogen von der Zwischenkriegszeit zur Nachkriegszeit geschlagen: Die Angst vor dem deutschen "Dynamismus", vor der Unberechenbarkeit und der Unkalkulierbarkeit der Deutschen war geblieben. Ja sie war nun noch potenziert durch die künstliche Teilung Deutschlands in zwei ideologisch entgegengesetzte Teilstaaten. Würde das alte, jetzt kommunistisch regierte "Preußen" nicht erneut die Rolle des Einigers Deutschlands übernehmen - nunmehr eines linkstotalitären, eng mit der Sowjetunion verbundenen Staates? Ein Alptraum, der den General seit der Gründung von Bundesrepublik Deutschland und DDR drückte: "On peut [...] imaginer [...] un jour, l'uniti allemande, realisöe une fois de plus autour de la Prusse, - mais cette fois d'une Prasse totalitaire liee corps et äme ä la Russie sovietique ainsi qu'aux ßtats 'populaires' de l'Europe centrale et balkanique[...]." 26 Welches kriegerische Potential entstünde dann, "zu welchen Extremen des Imperialismus und der Tyrannei könnte sich das totalitäre Rußland an dem Tage versteigen, an dem es mit einem in seiner Gesamtheit kommunisierten, von Eroberungs- und Herrschaftsinstinkten besessenen Deutschland eine Einheit bildete"27. Dies werde das europäische Gleichgewicht zerstören und den Casus belli bedeuten, sollte er im März 1960 den sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow eindringlich warnen. 28 Gegen diese neue gefährliche Spielart des deutschen "Dynamismus" galt es, sich zu wappnen: Zum einen mußte zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland ein Verhältnis institutionalisierter französischer Überlegenheit hergestellt werden, durfte nur ein starkes Frankreich Westdeutschland die Hand zur Versöhnung reichen. Hier machte sich de Gaulles Kritik an der Deutschlandpolitik der IV. Französischen Republik fest, die das eine - die Versöhnung - anbot, ohne das andere - die französische Superiorität - sicherzustellen. Zum anderen mußte die Bundesrepublik fest an Frankreich und den Westen gebunden werden. Diese beiden Axiome sollten de Gaulles Deutschlandpolitik in den Jahren nach 1958 bestimmen. II. Der Mann, der im Mai 1958 wieder die Regierungsgeschäfte in Frankreich übernahm, stellte sich zur Überraschung vieler, gerade in der Bundesrepublik Deutschland, und zur Enttäuschung der sowjetischen Regierung als ein ganz anderer heraus, als man erwartet hatte: Im September 1958 trafen und "fanden" sich de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer, der "alte[.] Franzose[.] und [...] [der] sehr altef.] Deutschet·]" 29 , in Colombey-les-deux-iglises. De Gaulle versicherte seinem deutschen Gesprächspartner, daß er seiner 26
) De Gaulle in einer Erklärung vom 9. 6. 1948. In: Ebd.: S. 189. ) De Gaulle in einem Gespräch im März 1960 zu Chruschtschow, zit. n. Ders.: Memoiren der Hoffnung. Die Wiedergeburt, 1958-1962. Wien-München-Zürich 1971, S. 276. 2S ) Ebd. 29 ) Ebd.: S. 218. 27
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Deutschlandpolitik der frühen Nachkriegszeit abgeschworen habe, da sich nun die Voraussetzungen gänzlich geändert hätten: Westdeutschland stelle keine Bedrohung mehr für Frankreich dar; im Gegenteil, jetzt gelte es zusammenzustehen gegen die eigentliche - die sowjetische - Gefahr.30 Diese Feststellung bildete fortan die Arbeitsgrundlage, auf der französischer Staatspräsident und bundesdeutscher Kanzler zusammenwirkten. Das Einvernehmen, das de Gaulle und Adenauer anläßlich ihres ersten Treffens zwischen sich herstellten, mochte manchem wie ein Wunder anmuten. Der General nicht mehr der Verfechter eines harten Siegfriedens und der aggressive Warner vor der deutschen Gefahr - was mochte den Sinneswandel ausgelöst haben? Adenauer selbst glaubte an einen Läuterungsprozeß: Er wußte später Gesprächspartnern zu berichten, die lange Zeit der Abgeschiedenheit, die de Gaulle in seinem Landhaus in Colombey-les-deux-figlises verbracht habe, habe ihn zum Umdenken bewogen. Der General "habe [...] in dieser Zeit über die wesentlichen Fragen in Ruhe nachdenken und sich ein eigenes Urteil bilden können"31. Doch handelte es sich wirklich um eine Konversion - bedurfte es dieser überhaupt? Nach allem, was bisher über de Gaulles Deutschlandbild gesagt wurde, ist diese Frage zu verneinen. Der historische Kontext hatte sich geändert und de Gaulle hatte sich dem angepaßt. Oder anders gesagt: Nun - unter den Bedingungen eines west-ösüichen Bipolarismus - sah der General die Möglichkeit, seinen immer gehegten, bisher aber noch "nicht zu Ende geträumten Traum"32 von der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu realisieren. Der Kommentar, den de Gaulle in einem Brief an Robert d'Harcourt vom August 1958 über dessen Einstellung zum Adenauer-Deutschland - dem der Schriftsteller gerade ein Buch gewidmet hatte - abgab, traf wohl ziemlich genau seine eigene hoffnungsvolle Stimmung dieser Tage: "En ddpit de ce qui fut, mais par raison quant au prösent et par espoir en l'avenir, vous aimez et vous admirez ce peuple multiple, douloureux, si mal saisissable. C'est ä lui qu'il appartient de vous donner raison. Combien tout homme de coeur et de bon sens souhaite qu'il le fasse!"33 Ähnlich aufschlußreich ist die Ankündigung des Generals, die er gegenüber dem designierten französischen Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland, Francis Seydoux, vor dessen Abreise Anfang September 1958 machte und derzufolge er beabsichtigte, "des relations particuliferement chaleureuses"34 mit dem deutschen Volk zu knüpfen. Gelinge es ihm, bei dem
30
) K. Adenauer: Erinnerungen, 1955-1959. Stuttgart 1967. S. 424 ff. ) Adenauer in einem Informationsgespräch am 4. 6. 1960 mit dem amerikanischen Journalisten Cyrus L. Sulzberger. In: Konrad Adenauer. Teegespräche 1959-1961. Hg. v. R. Morsey u. HP Schwarz. Bearb. v. H. J. Küsters. Berlin 1988, S. 276. 32 ) P. Maillard (Anm. 12). 33 ) De Gaulle in einem Brief vom 6. 8. 1958 an Robert d'Harcourt. In: Charles de Gaulle. Lettres, Notes et Carnets. Juin 1958-D6cembre 1960. Paris 1985, S. 65 f. 34 ) F. Seydoux: De Gaulle, l'Allemagne. Paris 1974, S. 1. Zit. n. J. Lacouture: De Gaulle, Bd. 2: Le politique, 1944-1959. Paris 1985, S. 636. 31
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bevorstehenden Treffen mit Adenauer Einvernehmen herzustellen, werde man "de grandes choses"35 zusammen auf den Weg bringen. Nachdem sich der General und der Kanzler in ihren Vorstellungen über die deutsch-französischen Beziehungen gefunden hatten, galt es für de Gaulle nunmehr lediglich, "alle Vorkehrungen zu treffen, um die Rückkehr der bösen germanischen Dämonen zu verhindern"36. Fortan mußte man Westdeutschland dauerhaft auf dem Kurs seines jetzigen Bundeskanzlers versöhnungsbereiter und kooperationswilliger Westpolitik zu halten trachten und vor allen Versuchungen alter unheilvoller Dynamik, die unter den gegebenen weltpolitischen Bedingungen nur in dem Versuch einer Einigung mit dem Osten bestehen konnte, bewahren. Adenauer sei er sich sicher, bekannte de Gaulle dem französischen Botschafter in den USA, Herv6 Alphand, Anfang 1959. Dessen Ziel sei es, die Bundesrepublik Deutschland mittels der westeuropäischen Einigung fest im Westen zu verankern. Aber das Ende der Regierungszeit des alten Kanzlers sei absehbar - und was dann: "[...] derriöre lui il y a beaucoup d'intrigues et d'incertitudes".37 Im März 1959 erklärte de Gaulle sozusagen coram publico seine deutschlandpolitische Wandlung. Zwei Aussagen ließen in der Zeit der BerlinKrise und der aggressiven Anwürfe der sowjetischen Regierung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland aufhorchen38: "[...] das heutige Deutschland bedroht uns in keiner Weise." "Die Wiedervereinigung der beiden gegenwärtig getrennten Teile zu einem Deutschland, das völlig frei wäre, betrachten wir als das Ziel und das normale Schicksal des deutschen Volkes, vorausgesetzt, daß es seine gegenwärtigen Grenzen im Westen, Osten, Norden und Süden nicht in Frage stellt und gewillt ist sich eines Tages in eine vertragliche Organisation ganz Europas für Zusammenarbeit Freiheit und Frieden einzufügen." Die erste Aussage des Generals konnte für die Bundesregierung in einer Zeit west-östlicher Hochspannung, in der sie sich täglich mit neuen RevanchismusVorwürfen seitens der sowjetischen Propaganda konfrontiert sah, nur als ein hochwillkommener Unbedenklichkeitsnachweis durch den einstigen "Erbfeind" gewertet werden. Aber - der "Persilschein" war dem "heutigen" Deutschland ausgestellt worden: De Gaulle stellte sich hinter die westlich geprägte und nach Westen orientierte Bundesrepublik unter der Regierung des Rheinländers Adenauer.39
?s
) Ebd. > C. de Gaulle (Anm. 27), S. 208. )H. Alphand: L'£tonnement d'etre. Journal (1939-1973). Paris 1974, S. 311 (Eintragung vom 20. 8. 1959). 38 ) De Gaulle auf einer Pressekonferenz vom 25. 3. 1959, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Bd. IV/1.2, S. 1267. w ) Vgl. de Gaulles Pressekonferenz vom 23. 4. 1960, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Bd. IV/4.2, S. 806. ,6
}1
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De Gaulies zweite Aussage auf seiner Pressekonferenz vom März 1959 mochte der Bundesregierung einerseits zweischneidig erscheinen: Dem klaren Bekenntnis zur deutschen Wiedervereinigung waren die nicht minder eindeutige Forderung nach vorheriger Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutscher Ostgrenze - zu der Zeit und noch für lange Zukunft ein Anathema für die bundesdeutsche Politik - sowie eine die Realisierung weit hinausschiebende zeitliche Perspektive beigegeben. Andererseits aber konnte man in der Bundesrepublik Deutschland auch in diesem Punkt hochzufrieden mit den Auslassungen des Generals sein: In einer Zeit, in der sich Amerikaner und Briten selbst verbal in der Frage der Einheit der deutschen Nation zurückhielten, legte der französische Staatspräsident hierzu ein zukunftsgewisses Bekenntnis ab. Daß es dafür nicht nur großer Geduld, sondern auch einer dauerhaften festen Verankerung im Westen bedürfe, verdeutlichte de Gaulle ein Jahr später Bundespräsident Heuss. In einem Gespräch mit dem deutschen Staatsoberhaupt am 3. 3. 1960 entwarf er das Szenario einer anzustrebenden "gesamteuropäischen Kooperation" des "europäischefn] Westen[s] mit dem europäischen Osten, unabhängig von den Regimen", wie er sie bereits in seiner Pressekonferenz vom März 1959 als Voraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung genannt hatte.40 Mahnend setzte der General nun aber noch hinzu: "Eine solche gesamteuropäische Kooperation würde natürlich ein Gleichgewicht zwischen Westeuropa und Osteuropa voraussetzen. Dieses aber ist nur dann, wirklich nur dann gegeben, wenn sich Deutschland fest und überzeugt mit Frankreich und mit dem Westen verbindet."41 Dem sich in diesen Äußerungen niederschlagenden Interesse an der Westbindung der Bundesrepublik Deutschland, ihrer festen Verankerung in der westeuropäischen und der atlantischen Allianz kam auch eine entscheidende Bedeutung bei den Überlegungen des Generals zur Reaktion der Westmächte auf das sowjetische Berlin-Ultimatum zu. Am 10. 11. 1958 forderte der sowjetische Staats- und Parteichef Chruschtschow in einer Rede in Moskau den Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland und eine Überprüfung des Vier-Mächte-Status' von Berlin. In Noten an die drei Westmächte, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR vom 27. 11. 1958 konkretisierte die sowjetische Regierung dies dann dahingehend, daß West-Berlin in eine "Freie Stadt", also eine selbständige politische Einheit, umgewandelt werden sollte. Erfülle man ihre Forderung nicht binnen sechs Monaten, drohte die sowjetische Führung, ihre Besatzungsrechte auf die Regierung der DDR zu übertragen. Die eigentliche Stoßrichtung dieser Offensive verdeutlichte eine weitere sowjetische Note vom 10. 1. 1959, in der die Einberufung einer Friedenskonferenz vorgeschlagen und ein Friedensstatut für die beiden deutschen Staaten unterbreitet wurde, das die Option einer Wie40
) Gespräch General de Gaulles mit Bundespräsident Heuss im Hlysie am 3. 3. 1960. Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Blankenhom (351), 99. ) Ebd.
41
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dervereinigung - eines neutralisierten und faktisch entmilitarisierten - Deutschlands auf dem Weg über eine Konföderation offenließ. Am 17. 2. 1959 drohte Chruschtschow in einer Rede neuerlich, die Sowjetunion werde mit der DDR einen Separatfriedensvertrag abschließen und ihr alle Rechte und Pflichten im Hinblick auf Deutschland übertragen.42 Der sowjetische "Griff nach Berlin"43 stellte sich als die größte Herausforderung dar, der sich die Bundesrepublik Deutschland in ihrer bisherigen Geschichte gegenübergesehen hatte, galt es doch einer Entwicklung gegenzusteuern, in deren Verlauf "alle Deutschland- und Berlin-Positionen des Westens ins Schwimmen"44 gerieten. Vom ersten Tag der nun einsetzenden Krise an versicherte die französische Regierung den westdeutschen Nachbarn ihrer uneingeschränkten Unterstützung. So übergab de Gaulle selbst bereits am 26. 11. 1958 anläßlich des Treffens einer deutschen und einer französischen Regierungsdelegation unter Führung der jeweiligen Regierungschefs in Bad Kreuznach seinen Gesprächspartnern sozusagen einen Blankoscheck, indem er zusagte: "Nous sommes avec vous, sans reserve [...] Gardons la tete froide et attendons de voir ce qui va se passer. [...] Je ne pense pas que les Russes veuillent pousser les choses jusqu'ä l'öpreuve de force [...] d'ailleurs ils ne sont pas assez forts."45 Diese Zusage umriß gleich in zweifacher Hinsicht die Haltung, die die französische Regierung in den Jahren bis 1962/63 gegenüber den sowjetischen Forderungen einnehmen sollte: Beständigkeit in der Unterstützung der Bundesregierung bei deren Bemühen, die westlichen Alliierten von jeder Konzession in der Berlin- und Deutschlandfrage auf Kosten des Status quo abzuhalten und äußerste Kaltblütigkeit, eine manchmal schon befremdlich anmutende Gelassenheit gegenüber den sowjetischen Kriegsdrohungen. Die eindeutige und endgültige Ablehnung aller Konzessionen gegenüber den sowjetischen Forderungen hatte verschiedene Motive: 1. De Gaulle war nicht bereit, unter dem Druck ultimativer Drohungen zu verhandeln: "Iis [die Russen, d. Verf.] parlent d'utiliser contre nous la bombe atomique, de nous dötruire, etc. Ce n'est pas dans ces conditions que nous pouvons parier".46
42
) Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik, Bd. IV/1.1, S. 3-23 (Rede Chruschtschows vom 10. 11. 1958); ebd., S. 151-177 (sowjetische Noten an die drei Westmächte vom 27. 11. 1958); ebd., S. 178191 (sowjetische Note an die Bundesregierung vom 27. 11. 1958); ebd., S. 192-201 (sowjetische Note an die Regierung der DDR); ebd., S. 537-566 (sowjetische Noten an die drei Westmächte und Friedensvertragsentwurf vom 10. 1. 1959); ebd., S. 890-893 (Rede Chruschtschows vom 17. 2. 1959). 43 ) K. Adenauer (Anm. 30), S. 458. 44 ) H.-P. Schwarz: Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957-1963. (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 3.) Stuttgart-Wiesbaden 1983, S. 141. 45 )Zit. η. B. Ledwidge: La crise de Berlin 1958-1961: Strategie et tactique du ginfiral de Gaulle. Drucksache der Joumfies internationales "De Gaulle et son siücle", Institut Charles de Gaulle, 19 24. 11. 1990, UNESCO-Paris, S. 3. 46 ) Zit. η. H. Alphand (Anm. 37), S. 362 (Eintragung vom 23. 8. 1961).
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2. Zudem: Worüber sollte man verhandeln? Der französische Staatspräsident betrachtete die sowjetische Aufkündigung des Viermächtestatus' von Berlin als ungültig und die westliche Präsenz in der Stadt als "un droit dont nous n'avons pas ä döbattre"47. Vor diesem Hintergrund schienen ihm Verhandlungen die Lage nur noch zu verschlimmern: Entweder zeigten sie "un disaccord fondamental entre l'Est et l'Ouest" oder aber der Westen gebe "plus ou moins" den sowjetischen Forderungen nach.48 Schwerwiegende Auswirkungen auf den Zusammenhalt der westlichen Allianz in diesem Falle, eine weitere Verschärfung des Kalten Kriegs in jenem Falle wären die Folge.49 Überdies lehnte de Gaulle auch alle weitergehenden sowjetischen Forderungen im Hinblick auf ein Disengagement oder eine Neutralisierung Westdeutschlands ab. Eine Realisierung solcher Ideen hielt er einerseits in Zeiten weitreichender Raketen für unsinnig und für Frankreich, das sein Sicherheitsglacis verlöre, zudem besonders gefährlich. Andererseits schien sie ihm den Zusammenhalt des westlichen Bündnisses zu gefährden, da in seinen Augen ein Austritt der Bundesrepublik Deutschland aus der NATO den Zerfall dieser Organisation herbeiführte.50 3. Hinzu trat die grundsätzliche Überlegung, daß eine Politik des Nachgebens letztlich nur das herbeiführte, was sie verhindern wollte - den Krieg. Gab man der sowjetischen Drohung nach, war für den General "das psychologische Gleichgewicht"51 zerstört. Eine nun einsetzende Spirale immer neuer sowjetischer Forderungen und immer weitergehender westlicher Konzessionen führte schließlich zu einer Situation, in der "für diese ein weiteres Zurückweichen unannehmbar und für jene die Versöhnlichkeit unmöglich sein und damit die Deflagration eintreten werde"52. An dieser Gesetzmäßigkeit war in de Gaulles Augen bereits die Appeasement-Politik vor dem Zweiten Weltkrieg gescheitert. Wolle man eine kriegerische Auseinandersetzung verhindern, müsse man die sowjetische Herausforderung annehmen, hatte der französische Staatspräsident den amerikanischen Außenminister Dulles bereits zu Beginn der Krise beschworen, wobei er sich des unkalkulierbaren Restrisikos durchaus bewußt war:"[...] meme si cela devait entrainer la guerre".53 4. De Gaulle war davon überzeugt, daß die sowjetische Regierung genauso wie die Westmächte einen Krieg, der keinen Sieger kennen würde, nicht wollte: "Sie wollen nicht für Berlin sterben, aber Sie können sicher sein, daß die Russen das genauso wenig wollen", beruhigte er anläßlich des westlichen Gipfels im Dezember 1959 in Paris den amerikanischen Präsidenten Eisenhower und den britischen Premierminister Macmillan.54 Somit war das Ganze für de Gaulle ein Poker - mit zugegebenermaßen hohem Einsatz -, in dem vor allem Nervenstärke zählte. Den sowjetischen Drohungen galt es, in gleichem Stile zu antworten. In diesem Sinne beschied der französische 47
) ) ) 50 ) 51 ) 52 ) 53 ) 54 ) 48 49
De Gaulle in einem Brief vom 11.3. 1959 an Eisenhower. In: C. de Gaulle (Anm. 33), S. 205. De Gaulle in einem Brief vom 20. 10. 1959 an Eisenhower. In: Ebd., S. 271. Ebd. Vgl. Anm. 38. C. de Gaulle (Anm. 27), S. 269. Ebd. De Gaulle in einem Gespräch am 14. 12. 1958 zu Dulles. Zit. η. B. Ledwidge (Anm. 45), S. 7. C. de Gaulle (Anm. 27), S. 269.
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Staatspräsident die Warnung des sowjetischen Botschafters in Frankreich vor einem möglichen Krieg mit der Feststellung: "Eh bien, monsieur l'ambassadeur, nous mourrons tous, mais vous aussi [...]"55. Neben diese - in der Forschung diskutierten - Überlegungen, die gegen ein Arrangement mit der Sowjetunion sprachen, trat als ein weiteres Motiv das bisher allenfalls beiläufig Erwähnung gefunden hat - de Gaulies Sorge vor den Auswirkungen einer west-östlichen Einigung auf die Politik und den Status der Bundesrepublik Deutschland. 56 Sie knüpfte an seine bekannte Vorstellung von der deutschen "Dynamik", die sich in einer, wie auch immer gearteten Einigung mit dem Osten manifestieren werde, an. Hier sei die These aufgestellt daß der Überlegung de Gaulies, daß jegliche westliche Konzessionsbereitschaft gegenüber den sowjetischen Forderungen die Bundesrepublik Deutschland langfristig aus der westlichen Allianz heraus- und auf einen neuen deutschen "Sonderweg" Richtung Moskau führen werde, eine ganz herausragende, wenn nicht entscheidende Bedeutung für seine Obstruktionspolitik zukam. Das Tagebuch des französischen Botschafters in den USA, Herve Alphand, das etliche Gespräche festhält, die der Diplomat mit de Gaulle in den Jahren der Berlin-Krise geführt hat, erweist sich als äußerst ergiebige Quelle für diese Überlegung des Generals.57 Immer wieder erklärte der französische Staatspräsident dem Botschafter die harte Haltung Frankreichs in der Berlin-Krise mit dem Hinweis darauf, daß es nicht nur gelte, die Freiheit der Berliner zu sichern, sondern auch die Westdeutschen von einer grundsätzlichen außenpolitischen Neuorientierung abzuhalten. Diese sah er unweigerlich kommen, gäbe der Westen den sowjetischen Forderungen nach. De Gaulle erwartete dann einen Austritt der Bundesrepublik Deutschland aus der NATO, was auch das Ende dieser Allianz bedeuten werde: "[...] je crois, que si nous abandonnions nos droits ä Berlin, les Allemands de l'Ouest se retourneraient vers les Russes et que 9'en serait fin de Γ Alliance."58 Vor diesem Hintergrund tadelte er "l'incertitude fondamentale des AngloSaxons et leur frenisie de negocier". 59 Doch könne die französische Regierung Amerikaner und Briten nicht davon abhalten, sich "sur cette voie fatale" 60 von Verhandlungen mit der Sowjetunion zu begeben. An deren Ende stünde der wie auch immer kaschierte - Verlust West-Berlins, vielleicht gar die angelsächsische Zustimmung zum eigentlichen Ziel der sowjetischen Regierung,
55
) Zit. n. J. Lacouture (Anm. 2), S. 388. ) Zu de (jaulles Verhalten in der Berlin-Krise vgl. ebd., S. 387 ff.; C. Buffet: La politique nucl6aire de la France et la seconde crise de Berlin (1958-1962). In: Relations Internationales 59 (1989), 347-358; B. Ledwidge (Anm. 45). 57 ) H. Alphand (Anm. 37). 58 ) Ebd., S. 344 (Eintragung vom 21. 12. 1960); vgl. S. 320 (Eintragung vom 23. 12. 1959) und S. 363 (Eintragung vom 23. 8. 1961). 59 ) De Gaulle in einer Note vom 14. 4. 1962 an Couve de Murville. In: C. de Gaulle: Lettres, Notes et Carnets, Janvier 1961-D6cembre 1963. Paris 1986, S. 230. 60 ) Zit. η. H. Alphand (Anm. 37), S. 363 (Eintragung vom 23. 8. 1961). 56
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der Neutralisierung Deutschlands.61 De Gaulle sah nur eine Möglichkeit, dieser Entwicklung entgegenzuwirken: Eine entschiedene französische Obstruktion, die vielleicht das Schlimmste verhindern, auf jeden Fall aber dazu führen werde, daß Frankreich als einziger nicht kompromittierter westlicher Partner auch zukünftig für eine "entente europ^enne avec une Allemagne dösemparee, d£sorient£e"62 zur Verfügung stehe. Die westeuropäische Einigungspolitik erschien de Gaulle als einzige Alternative zur möglichen Hinwendung einer vom Westen enttäuschten Bundesrepublik Deutschland zur Sowjetunion. Seine Überlegungen teilte der französische Staatspräsident auch Amerikanern und Briten mit: So warnte er Eisenhower und Macmillan auf der westlichen Gipfelkonferenz Ende 1959, daß jegliche westliche Konzessionsbereitschaft in der Berlin-Frage dazu führen werde, "daß Deutschland desertierte und im Osten eine Zukunft suchte, an deren Sicherung im Westen es nicht mehr glauben würde"63. Dem britischen Premierminister erklärte de Gaulle anläßlich seines Besuchs auf Macmillans Landsitz Birch Grove im November 1961 seine Intransigenz in der Berlin-Frage damit, Westdeutschland so an den Westen zu binden und ihm das Gefühl zu vermitteln, daß es dort zumindest einen Freund habe. Jede Einigung mit der Sowjetunion verlange von der Bundesrepublik Deutschland Opfer; deshalb werde sie dort - wenn nicht von der jetzigen Regierung so doch zumindest von der westdeutschen Bevölkerung als eine Art westlicher Verrat empfunden werden.64 Und auch den amerikanischen Präsidenten Kennedy verwies er Anfang 1962 auf die weitreichenden Konsequenzen einer west-östlichen Einigung auf Kosten der Bundesrepublik Deutschland. Deren enttäuschte Bevölkerung werde dann "sous la pression de la peur, de la rancune, et du calcul"65 die Neutralisierung anstreben. Dies aber werde unweigerlich einen entsprechenden Status ganz Westeuropas nach sich ziehen und damit letztlich die USA isolieren und gegenüber der Sowjetunion entscheidend schwächen.66 Vor dem Hintergrund der skizzierten Ängste de Gaulles wird auch der (Hinter-)Sinn seiner angelegentlichen Erkundigungen bei deutschen Gesprächspartnern nach der Einstellung der bundesdeutschen Bevölkerung zur Wiedervereinigung und nach den Auswirkungen möglicher westlicher Konzessionen in der Berlin-Frage auf ihre Haltung gegenüber dem Westen deutlich. Es scheint, als spiele der französische Staatspräsident in diesen Unterredungen ganz bewußt den Advocatus Diaboli. So fragte er den neuen Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Frankreich, Herbert Blankenborn, anläßlich dessen Antrittsbesuchs im November 1958, ob er nicht glaube, "daß es im deutschen Volk erhebliche Strömungen gibt, die bei Abzug der Sowjets aus der Ostzone sich auch mit einem kommunistischen deutschen Teilstaat abfin-
61
) Ebd.; vgl. S. 367 (Eintragung vom Dezember 1961). ) Zit. n. ebd., S. 364 (Eintragung vom 23. 8. 1961). 63 ) C. de Gaulle (Anm. 27), S. 269. m )H. Macmillan: Memoirs. Bd. 5: Pointing the way, 1959-1961. London 1972, S. 419 f.; vgl. S. 110 über Ausführungen de Gaulles mit ähnlichem Tenor im Dezember 1959. 65 ) De Gaulle in einem Brief an Kennedy vom 11. 1. 1962. In: C. de Gaulle (Anm. 59), S. 192. 66 ) Ebd. 62
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den würden?"67 Bei dem auf Besuch in Frankreich weilenden Bundespräsidenten Heuss erkundigte er sich im März 1960 nach den "Tiefenwirkungen"68 etwaiger westlicher Konzessionen in der Berlin- und Deutschland-Frage auf die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik Deutschland. Und von dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heinrich Krone, wollte er anläßlich dessen Paris-Aufenthalts im Juni 1961 wissen, "wie stark Berlin sei, ob die Bevölkerung dort aushalte und ob die deutsche Bevölkerung den Weg der Härte und Festigkeit mitgehe."69 In allen drei Fällen zeigte sich de Gaulle überzeugt, ja gar befriedigt, wenn seine Gesprächspartner der von ihm suggerierten Gleichgültigkeit der westdeutschen Bevölkerung gegenüber der Wiedervereinigung bzw. westlichen Konzessionen in der Deutschland-Frage entschieden widersprachen. Den Bundespräsidenten, der am nachhaltigsten davor warnte, daß mögliche Konzessionen des Westens der mit der Zuverlässigkeit der Westmächte rechnenden Außenpolitik der Bundesregierung "einen sehr schweren Schlag versetzen" würden, verwies der französische Staatspräsident mit Nachdruck auf die deutsch-französische Aussöhnung, die "ein ganz außerordentlich historisches Ereignis" sei.70 Auch von anderer Seite bekam de Gaulle wiederholt eine Bestätigung für seine "Rapallo"-Ängste: Bundeskanzler Adenauer, dem es nicht minder als dem französischen Staatspräsidenten vor den Abgründen möglicher außenpolitischer Irrungen und Wirrungen seiner Landsleute graute - wobei er allerdings auch in steter Sorge vor ähnlichen Neigungen bei den Franzosen lebte hatte den französischen Staatspräsidenten bereits zu Beginn der Krise in einem Brief auf die verhängnisvollen Folgen eines westlichen Nachgebens gegenüber dem sowjetischen Ultimatum aufmerksam gemacht: Jedwede Konzessionen würden "eine tiefe Beunruhigung, wenn nicht eine Panik in Berlin auslösen".71 Diese werde schließlich die Bundesrepublik in Gänze erfassen und letztlich Westeuropa sowie die gesamte westliche Welt erschüttern. Und im Dezember 1959 warnte der Kanzler die Führer der drei Westmächte: "Wenn Berlin verlorengeht, wird meine politische Situation unhaltbar. Dann werden in Bonn die Sozialisten die Macht übernehmen. Sie werden sich direkt mit Moskau verständigen, und dann ist es aus mit Europa."72 Auch wenn de Gaulle in seinen Memoiren dieses Menetekel, das der Kanzler da an die Wand malte, aus der rückblickenden Distanz etwas ironisiert kann 67
) Tagebucheintragung Blankenborns vom 24. 11. 1958. Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Blankenborn (351), 92. Vgl. H. Blankenhorn: Verständnis und Verständigung. Blätter eines politischen Tagebuchs 1949-1975. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1980, S. 335. 6li ) Vgl. Anm. 40. 69 ) H. Krone: Aufzeichnungen zur Deutschland- und Ostpolitik 1954-1969. In: R. Morsey / K. Repgen (Hg ): Adenauer-Studien III. Untersuchungen und Dokumente zur Ostpolitik und Biographie. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen, 15.) Mainz 2 1974, S. 161 (Eintragung vom 14./15./16. 6. 1961). 70 ) Vgl. Anm. 40. 71 ) Adenauer in einem Brief vom 11. 11. 1958 an de Gaulle. Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Blankenhorn (351). 92. 72
) Zit. n. C. de Gaulle (Anm. 27), S. 270.
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kein Zweifel daran bestehen, daß er solche Sorgen - sieht man einmal von ihrem parteipolitischen Vorzeichen ab - durchaus teilte.73 III. De Gaulles Verhalten in der Berlin-Krise bestätigt in seiner Konsequenz und seinem machiavellistisch anmutenden Kalkül Gerhard Schröders Urteil Uber den französischen Staatspräsidenten als dem "härteste[n], klarstefn] und kältestefn] Politiker der Welt"74. Der General bewies in dieser Zeit, daß er - weiland einer der Vordenker einer neuen flexiblen Panzertaktik - auch die Bewegungsgesetze der Außen- und Sicherheitspolitik im Atomzeitalter intemalisiert hatte. Seine Drohung gegen Drohung setzende Politik gegenüber der Sowjetunion war nichts anderes als die politische Variante jenes militärischen "Gleichgewichts des Schreckens", wie es sich in diesen Jahren mit dem atomaren Patt der beiden Supermächte herausbildete. Es besteht kein Zweifel, daß de Gaulles Härte der Bundesrepublik Deutschland geholfen hat und zu dem großen "Abwehrerfolg"75 des Westens gegenüber dem sowjetischen Versuch, West-Berlin, wenn nicht gar Westdeutschland, unter Kuratel zu bekommen, wesentlich beigetragen hat. De Gaulles Intransigenz sorgte dafür, daß die westliche Verhandlungstaktik zwangsläufig "eher etwas nach der härteren Richtung hingedreht"76 wurde und stärkte damit die zunehmend unter Druck geratende bundesdeutsche Position in den Gesprächen mit Amerikanern und Briten. Ob allerdings mehr die - überspitzt ausgedrückt - angelsächsischen "Tauben" oder der französische "Falke" zur Erhaltung der politischen und territorialen Integrität von Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin beigetragen haben, läßt sich kaum mit ähnlicher Sicherheit sagen. Letztlich obsiegte wohl die richtige Mischung von Flexibilität und Härte.77 Es ist kaum vorstellbar, daß eine Verfolgung allein der französischen Obstruktionspolitik noch mehr erreicht hätte, als am Ende erzielt wurde, gar den Bau der Berliner Mauer verhindert haben würde.78 Zwar richtete de Gaulle in einer Pressekonferenz am 5. 9. 1961 wieder starke Worte an die sowjetische Adresse, erinnerte sie daran, daß es Gegenden in der Welt gäbe, wo die Sowjetunion ähnlich verwundbar sei wie die Westmächte auf ihrem exponierten Vorposten West-Berlin - doch dies verband er nicht mit der Forderung nach Abriß der Mauer, sondern lediglich mit der Warnung vor einer weiteren Eskalation der Ost-West-Spannungen.79 Was konkrete Maßnahmen anbetraf, hatte der General ohnehin während der gesamten Krise kaum mehr zu bieten als die 73
) Ebd. ) Schröder in der Kabinettssitzung vom 6. 4.1 966. Zit. n. Militärisches Tagebuch Kai-Uwe von Hassel. Archiv für Christlich-Demokratische Politik 1-157-002/2. 75 ) H.-P. Schwarz (Anm. 44), S. 251. 76 ) Felix von Eckardt auf dem Kanzler-Tee vom 14. 12. 1961. Bundespresseamt, 219: Adenauers Reden und Interviews 1960-1963. Vgl. W. Grewe: Rückblenden 1976-1951. Frankfurt/M.-BerlinWien 1979, S. 489. 77 ) Vgl. die analoge innenpolitische Bilanz von H.-P. Schwarz (Anm. 44), S. 254. 78 ) Das suggeriert E. Weisenfeld: Frankreichs Geschichte seit dem Krieg. Von de Gaulle bis Mitterrand. München 2 1982, S. 172. 79 ) Dokumente zur Deutschlandpolitik, Bd. IV/7.1, S. 316. 74
Charles de Gaulle und die Westdeutschen
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mehr oder minder glaubwürdige Bekundung der Bereitschaft Frankreichs zum Untergang. Die militärischen Kräfte des Landes waren zu der Zeit überwiegend in Algerien gebunden, seine Atomwaffe befand sich noch in statu nascendi. De Gaulles Drohungen und Härtebezeugungen konnten letztlich nur von den Amerikanern militärisch umgesetzt werden. 80 So bekräftigte der General auch gegenüber dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Brandt, im April 1963 das grundsätzliche französische Engagement für West-Berlin, um dann aber daran zu erinnern, daß Frankreich "nicht allein da sei und auch nicht die stärkste westliche Macht darstelle" 81 . Auch die französische Außenpolitik wußte um die Unmöglichkeit eines "Rollback" und intendierte allenfalls ein "Containment": "Wir waren nie der Meinung [...] man könne versuchen, den gegenwärtigen Zustand [in Berlin, d.Verf.] gewaltsam zu verändern"82, gestand der französische Außenminister Couve de Murville im Dezember 1961 auf einer Sitzung des französischen Senats. Gleichsam im Nachsatz aber verdeutlichte er den Unterschied zwischen der französischen und der angelsächsischen Haltung in der Berlin- und Deutschland-Frage: "Diesen Zustand [der deutschen Teilung, d.Verf.] jedoch als endgültig hinzustellen [...] [h]eißt das nicht den Versuch unternehmen, Westdeutschland vom Westen zu trennen, indem man das deutsche Volk zur Verzweiflung, d. h. zu Abenteuern treibt?"83 Stärker als Amerikaner und Briten bedachten die Franzosen - allen voran de Gaulle - Folgen und Wirkung ihrer Berlin- und Deutschlandpolitik auf die westdeutsche Bevölkerung. Das klare Bekenntnis des Generals zur deutschen Wiedervereinigung und sein unnachgiebiges Festhalten an den westlichen Rechtspositionen sollte den Deutschen das Leben mit der Mauer und der Teilung erleichtern, indem es die Hoffnung auf deren letztliche Aufhebung offenließ. Mehr als jedem anderen war dem französischen Staatspräsidenten, der so oft mit Worten und Visionen Politik gemacht hatte, die Bedeutung einer solchen '"the light at the end of the tunnel' idea"84 bewußt. Faktisch waren auch die Franzosen mit dem bei Ende der Krise 1962/63 Erreichten zufrieden - und unterschieden sich damit nicht von entsprechenden Einschätzungen der Amerikaner und Briten. So resümierte Couve de Murville gegenüber Brandt im April 1963: "Es sei wichtig, festzuhalten, daß das andere Ergebnis neben der Mauer das sei, daß sie [die Russen, d. Verf.] keinen Fortschritt erzielt hätten, und daß sich inzwischen soviel ereignet habe, und soviel neue Probleme für die Russen entstanden seien, daß sie sich keine neuen Krisen leisten können." 85
80
) Vgl. B. Ledwidge (Anm. 45), passim. ) Vermerk Brandts Uber Gespräch mit General de Gaulle in St. Dizier, 24. 4. 1963. Archiv der sozialen Demokratie, Brandt-Bestand, Regierender Bürgermeister 74. 82 ) Couve de Murville in einer Erklärung vom 5. 12. 1961 vor dem französischen Senat, zit. n. Dokumente zur Deutschlandpolitik, Bd. [V/7.2, S. 1062. 83 ) Ebd. 84 ) Η Macmillan: Memoirs. Bd. 4: Riding the Stoim, 1956-1959. London 1971, S. 637. 85 ) Vermerk Brandts über Gespräch mit Couve de Murville am 25. 4. 1963. Archiv der sozialen Demokratie, Brandt-Bestand, Regierender Bürgermeister 74. 81
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Der Hintersinn der Politik de Gaulies in der Berlin-Krise erwies sich letztlich als überflüssig: Zwar läutete der Mauerbau für viele in der Bundesrepublik Deutschland zunächst einmal "die Stunde der großen Desillusion" 86 ein und zog einen "Schlußstrich unter illusorische deutsche Amerika-Hoffnungen" 87 , doch gebar diese Frustration keine gänzlich neue außenpolitische Konzeption. Das von de Gaulle befürchtete "Rapallo" blieb aus. Auch wenn es langfristig zu einer Annäherung der Bundesrepublik Deutschland an die Sowjetunion kam, so doch nicht im Sinne einer umfassenden außenpolitischen Neuorientierung, sondern lediglich im Rahmen einer begrenzten und in die Politik der Westbindung eingefügten Detente. Am Ende der Berlin-Krise stand eher Resignation denn Revolution. 88 Es bedurfte keiner westeuropäischen Rückfallposition, wie der französische Staatspräsident kalkuliert hatte, um den Nachbarn im Osten daran zu hindern, neue Ab- und Sonderwege einzuschlagen. Es ist fraglich, ob dies nur darauf zurüchzuführen war, daß ja der schlimmste Fall in de Gaulies Szenario - der Verlust West-Berlins - nicht eingetreten war. Viel näher liegt die Annahme, daß die Deutschen in der Bundesrepublik 15 Jahre nach Kriegsende einerseits noch immer jeglichen bellizistischen und nationalistischen Neigungen abhold waren, andererseits mittlerweile auch in den Genuß der Früchte der Westbindung gekommen waren, sich materiell saturiert und mit dem West-Modell Deutschland cum grano salis soweit eins fühlten, daß sie nicht so leicht bereit waren, es wieder aufs Spiel zu setzen. Tatsächlich scheint de Gaulle in den Tagen der Berlin-Krise die nationalen Empfindungen der Westdeutschen falsch eingeschätzt, nämlich überschätzt zu haben. Ausgehend von der eigenen, aus der französischen Tradition erwachsenden Hoch-und Wertschätzung des Nationalstaates unterstellte der französische Staatspräsident auch den Westdeutschen eine ähnliche Orientierung. Es handelte sich hier um ein "malentendu franco-allemand" 89 , das kennzeichnend für die gesamte Regierungszeit des Generals und alle Bereiche der bilateralen Beziehungen sein sollte. Insofern gerierte sich der französische Staatspräsident in der Berlin-Krise tatsächlich "deutscher [...] als wir"90, wie einer seiner prominenten deutschen Anhänger melancholisch bemerkte - Ausfluß eines Deutschlandbildes, das seinen französischen Ursprung nicht verleugnen konnte.
86
) H. Krone (Aran. 69), S. 162 (Eintragung vom 18. 8. 1961). ) G. A. Sonnenhol: Untergang oder Übergang? Wider die deutsche Angst. Stuttgart-Herford 1984, S. 151. 88 ) Vgl. H.-P. Schwarz (Anm. 44), S. 141-149. 89 ) I. Kolboom: Charles de Gaulle et le malentendu franco-allemand Sur la nation et l'Europe. Drucksache der Joum6es internationales "De Gaulle et son sifccle", Institut Charles de Gaulle, 19. 24. 11. 1990, UNESCO-Paris. Dt. in: W. Loth / R. Picht (Hg ): De Gaulle, Deutschland und Europa. Opladen 1991, 135-150. 90 ) Karl Theodor von und zu Guttenberg in einem Brief vom 14. 8. 1963 an Paul Verbeek. Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Guttenberg (397), 69. 87
MITARBEITER
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Alexander, Manfred: ( * 1939), Dr. phil. habil. Prof. für Osteuropäische Geschichte an der Universität zu Köln (1983). Studium der Germanistik, Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Philosophie und vergleichende Sprachwissenschaft in Köln; 1. wiss. Staatsexamen 1964; Promotion 1968; Habilitation in Köln 1976. Mehrere Lehrstuhlvertretungen (Bielefeld, Bochum, Bonn) und Gastprofessuren (Eastern Illinois University, Charleston, Halle/Saale); Aufenthalte in der Sowjetunion, Polen, in der Tschechoslowakei; Mitglied des Collegium Carolinum in München. Veröffentlichungen: "Der deutsch-tschechoslowakische Schiedsvertrag von 1925 im Rahmen der Locarno-Verträge" (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum Bd. 24) (1970); "Der Petrasevskij-Prozeß. Eine 'Verschwörung der Ideen' und ihre Verfolgung im Rußland von Nikolaus I." (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Bd. 12) (1979); "Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag. Innenpolitik und Minderheitenprobleme in der Ersten Tschechoslowakischen Republik". Teil I. 1918-1922 (1983). Teil II. 19221926 im Druck; Mitherausgeber von Festschriften und Sammelbänden; zahlreiche Aufsätze und Beiträge (zumeist in Publikationen des Collegium Carolinum, Bohemia, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas; sowie in Sammelbänden); Hans Roos: "Geschichte der Polnischen Nation. 1918-1985. Von der Staatsgründung im Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart". Vierte, überarbeitete und erweiterte Auflage, fortgeführt von Manfred Alexander (1986). Alter, Peter: ( * 1940), Dr. phil., Professor für Neuere Geschichte. Studierte Geschichte, Anglistik und Volkswirtschaftslehre in Köln und Oxford. Promotion 1970, Habilitation 1981. Lehrte seit 1981 in Köln, Freiburg, Brighton und Cambridge. Wichtigste Veröffentlichungen: Die irische Nationalbewegung zwischen Parlament und Revolution. Der konstitutionelle Nationalismus in Irland 18701918 (1971); Wissenschaft, Staat, Mäzene. Anfänge moderner Wissenschaftspolitik in Großbritannien 1850-1920 (1982); Nationalismus (1985). Zahlreiche Aufsätze zur irischen, deutschen und britischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert.
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Brunn, Gerhard: ( * 1939), Dr. phil, Jean Monnet Professur für europäische Regionalgeschichte und Geschichte der europäischen Integration an der Universität Gesamthochschule Siegen, Studium der Geschichte, Soziologie und politischen Wissenschaften an den Universitäten Göttingen, Rio de Janeiro und Köln. Promotion 1967 und Habilitation 1977. Seit 1969 Mitarbeiter an der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln. Lehrstuhlvertretungen in Bielefeld, Saarbrücken, Düsseldorf. Seit 1989 in Siegen. Veröffendichungen u. a. Deutschland und Brasilien (1969), Brasilien (1972), Die Organisation der katalanischen Bewegung (1978). Herausgeber diverser Aufsatzsammeibände zur Hauptstadtgeschichte, Regionalgeschichte, Geschichte Berlins. Burian, Peter: ( * 1931), Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Universität zu Köln. Düding, Dieter: ( * 1940), Dr. phil., Professor für Neuere Geschichte an der Universität Köln. Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Pädagogik. Staatsexamen für den höheren Schuldienst 1969, Promotion 1970, Wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Köln, Habilitation 1981. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Politik- und Sozialgeschichte, Mentalitäts- , Kultur- und Alltagsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Insbesondere: Parteiengeschichte und Geschichte des modernen Nationalismus. Veröffentlichungen u. a.: "Der Nationalsoziale Verein 1896 - 1903. Der gescheiterte Versuch einer Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus", 1972; "Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland 1808 - 1847", 1984; "Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg" (hrsg. zusammen mit P. Friedemann u. P. Münch, 1988. Dülffer, Jost: ( * 1943), Dr. phil., Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität zu Köln; studierte Geschichte, Latein, Politik, Soziologie in Hamburg und Freiburg, dortselbst Promotion 1972, Habilitation Köln 1979. Wichtigste Veröffentlichungen: "Weimar, Hitler und die Marine. Reichspolitik und Flottenbau 1920-1939" (1973); "Hitlers Städte. Baupolitik im Dritten Reich" (mit anderen - 1978); "Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der internationalen Politik" (1981); "Deutsche Geschichte 1933-1945" (im Druck - 1992); Herausgeber (mit Beiträgen) von verschiedenen Sammelbänden zur Historischen Friedensforschung, Weltkriegsgeschichte, internationalen Beziehungen; Handbuchdarstellungen zur deutschen Marinegeschichte 1919-1939 (1978), zum Deutschen Kaiserreich 1871-1918(1989).
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Gasten, Elmar: ( * 1956), Kulturamtsleiter, studierte Geschichte und Germanistik an der Universität zu Köln. 1983 1. Staatsexamen, 1989 2. Staatsexamen. 1990 Promotion über "Aachen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft 1933-1944." (erscheint in Kürze). Hömig, Herbert: ( * 1941), Dr. phil.. Professor für Neuere Geschichte an den Universitäten Dortmund und Köln. Zur Zeit Gastprofessur in Leipzig. - Studium in Köln und Bonn. 1. Philosophisches Staatsexamen 1968 in Geschichte und Germanistik, Promotion in Neuerer Geschichte 1969, 2. Philologisches Staatsexamen 1970. 1972/1973 Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Habilitation in Neuerer Geschichte an der Universität zu Köln am 4. Februar 1976. Mitglied der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde und der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften, Erfurt Vorsitzender der Stiftung Thüringen, Mainz. Wichtigste Veröffentlichungen: "Rheinische Katholiken und Liberale" (1979), "Das preußische Zentrum in der Weimarer Republik" (1979), "d'Argenson, Politische Schriften" (Hrsg. und übers., 1985), "Saint Pierre, Kritik des Absolutismus: Die Polysynodie - Betrachtungen zum Antimachiavel" (Mithrsg. 1988), "Von der Deutschen Frage zur Einheit Europas" (Aufsätze 1991). Klueting, Harm: ( * 1949), Dr. phil. habil., M.A., Professor der Neueren Geschichte am Historischen Seminar der Universität zu Köln. Studierte Geschichte, Slavistik, Germanistik und evangelische Theologie in Bochum, Köln und Edinburgh, Schloß das Slavistikstudium 1974 in Bochum mit der Promotion und das Geschichtsstudium 1978 in Köln mit dem Magisterexamen ab, war Habilitandenstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft habilitierte sich 1983/84 in Köln für Neuere Geschichte, lehrte seit 1984 an verschiedenen Universitäten und Hochschulen: 1984-89 Privatdozent an der Universität Köln, 1985-87 Lehrstuhlvertreter an der Universität Osnabrück, 1989außerplanmäßiger Professor an der Universität Köln, 1989-90 Lehrstuhlvertreter an der Universität Bonn, 1990-91 Lehrstuhl Vertreter an der Universität Göttingen, 1991 Gastprofessor an der Pädagogischen Hochschule Halle (DAAD) und an der University of Leicester/Großbritannien (ERASMUS-Stipendiat), 1992 Gastprofessor an der Emory-University, Atlanta/USA. Wichtigste Veröffentlichungen: "Die Säkularisation im Herzogtum Westfalen 1802-1834. Vorbereitung, Vollzug und wirtschaftlich-soziale Auswirkungen der Klosteraufhebung" (1980); "Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der 'Politischen Wissenschaft' und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert" (1986); "Johann Suibert Seibertz (1788-1871). Leben und Werk des westfälischen Historikers" (Hrsg., 1988); "Das Konfessionelle Zeitalter 1525-1648" (1989); "Stadt und Bürger im 18. Jahrhundert" (Mithrsg. - erscheint 1992); "Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland" (Hrsg. - erscheint 1992).
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Marcowitz, Reiner: ( * 1960), Erstes Staatsexamen Lehramt, Doktorand am Historischen Seminar der Universität zu Köln, studierte Deutsch, Geschichte und Erziehungswissenschaft in Köln, Promotionsstipendium der Universität Köln, schreibt eine Dissertation über die Einstellung von CDU, CSU und SPD zu Charles de Gaulle in den Jahren 1958 bis 1969. Veröffentlichungen: "Grundzüge der Deutschland-Politik de Gaulles und Bidaults von Herbst 1944 bis Frühjahr 1947". In: Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 2 (1988). Pabst, Klaus: ( * 1934), Dr. phil., Akademischer Oberrat am Historischen Seminar der Universität zu Köln. Studierte Geschichte, Germanistik und Rechtswissenschaft in Aachen, München und Köln. Nach Promotion bei TH. Schieder 1963 in Köln Archivtätigkeit in Düsseldorf und Marburg, dort 1965 2. Staatsprüfung für den höheren Archivdienst. 1965-1989 in der Forschungsabteilung des Historischen Seminars zu Köln befaßt mit Fragen des Nationalismus, der modernen Universitätsgeschichte sowie mit der neueren Geschichte des Rheinlands, Belgiens und der Niederlande. Seit 1989 im Historischen Seminar Köln. Wichtigste Veröffentlichungen: "Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik", 1964; "Das Problem der deutsch-belgischen Grenze in der Politik der letzten 150 Jahre", 1965; "Historische Vereine und Kommissionen bis 1914", 1986: "Der Kölner Universitätsgedanke zwischen der Französischen Revolution und preußischer Reaktion (1794-1818)", 1988. Schumacher, Winfried: ( * 1957), Bankkaufmann, Doktorand; studierte Geschichte, Französisch und Erziehungswissenschaften an den Universitäten Köln und Montpellier; Ablegung des ersten und zweiten Staatsexamens; arbeitet zur Zeit an seiner Dissertation "Die diplomatischen Verhandlungen über das Schicksal des Saarlandes im Dreieck Paris, Bonn und Saarbrücken (19481955)", die dieses Jahr erscheint. Wichtigste Veröffentlichungen: "Konventionsverhandlungen - Kristallisationspunkt saarländischer Politik". In: Von der 'Stunde 0' zum 'Tag X'. Das Saarland 1945-1959, 1990; "Konrad Adenauer und die Saar." In: Die Saar 1945-1955. Ein Problem der europäischen Geschichte. Hg. v. R. Hudemann u. R. Poidevin, 1991.