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German Pages 492 Year 1999
Paul Böckmann Dichterische Wege der Subjektivierung
Paul Böckmann Dichterische Wege der Subjektivierung Studien zur deutschen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert
Herausgegeben von der Deutschen Schillergesellschaft
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999
Eine Veröffentlichung der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar Redaktion: Hanna Becker
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Böckmann, Paul:
Dichterische Wege der Subjektivierung : Studien zur deutschen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert ; [eine Veröffentlichung der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar) / Paul Böckmann. Hrsg. von der Deutschen Schillergesellschaft. - Tübingen : Niemeyer, 1999 ISBN 3-484-10793-6 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
Christoph König und Ulrich Ott: Vorwort
VII
Dichterische Wege der Subjektivierung Deutsche Lyrik im 19. Jahrhundert
3
Verkennen und Erkennen im Drama Grillparzers
25
Die epische Objektivität in Stifters Erzählung »Die Mappe meines Urgroßvaters«
45
Theodor Storm und Fontäne. Ein Beitrag zur Funktion der Erinnerung in Storms Erzählkunst
71
Der Zeitroman Fontanes
83
Die Bedeutung Nietzsches für die Situation der modernen Literatur (Mit einem unveröffentlichten Brief von Thomas Mann an Paul Böckmann)
111
Feuerbachianismus und mythisches Schema in Thomas Manns Jasep/2-Roman
142
Die Bedeutung der Bewußtseinskrise für Hermann Hesses Literatur- und Zeitverständnis
178
Der Naturalismus Gerhart Hauptmanns
201
Die komödiantischen Grotesken Frank Wedekinds
230
Wandlungen der Dramenform im Expressionismus
252
Provokation und Dialektik in der Dramatik Bert Brechts
277
Das Gedicht als Sprachsetzung bei Stefan George
299
Der Strukturwandel der modernen Lyrik in Rilkes Neuen Gedichten
317
V
Inhaltsverzeichnis
Gottfried Benn und die Sprache des Expressionismus
347
Die Sageweisen der modernen Lyrik
372
Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge und autobiographische Texte . . 401 Tradition und Moderne im Widerstreit: Friedrich Gundolf und die Literaturwissenschaft
403
Mein Weg zur Germanistik. Als Antrittsworte in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vorgetragen in der Sitzung vom 17. März 1945
425
Erläuterungen zum Methodenwandel in der Hölderlinforschung . 436 Über die Leistung der Dichtung im Zeichen der Bewußtseinskritik. Dankesworte zum 5. n. 1984
441
Bibliographie und Dokumentation (bearbeitet von Birte Giesler) . . 447 Verzeichnis der Schriften von Paul Böckmann
449
Verzeichnis der von Paul Böckmann angekündigten Lehrveranstaltungen
467
Verzeichnis der von Paul Böckmann betreuten Dissertationen
VI
. .
481
Christoph König und Ulrich Ott Vorwort
Paul Böckmann hat schon vor dem Erscheinen des ersten Bandes seiner Formgeschichte der deutschen Dichtung (1949), der den Untertitel Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache trägt, den auf dem Gesamttitelblatt angekündigten zweiten Band vorbereitet. Er sollte Die Entfaltung der Ausdruckssprache behandeln. Die vorgesehene Fortsetzung hat ihn immer wieder - wenn auch zwangsläufig mit wechselnder Intensität — beschäftigt. Viele seiner Vorlesungen und Seminare galten der Vorbereitung, nicht wenige der nach 1949 veröffentlichten zahlreichen Aufsätze hätten Bausteine zum zweiten Band sein können. Dennoch ist es zu diesem Buch nicht gekommen. Äußere Umstände — die schon in den Heidelberger Jahren, mehr dann noch in Köln wachsenden Studentenzahlen, zunehmende Aufgaben in der akademischen Selbstverwaltung und in Wissenschaftsorganisationen, andere Arbeitsvorhaben - standen der Ausarbeitung entgegen, aber auch Schwierigkeiten, die in der Sache selbst, in der vielschichtigen Entfaltung der deutschen Literatur seit dem Sturm und Drang und bis in die Moderne liegen, haben den Autor wohl mit der Fortführung und Vollendung seines Plans zögern lassen. Ohne daß der Verfasser dies in seinem Vorwort ausdrücklich gesagt hätte, mochte man in einem Teil der Aufsätze, die er 1966 in dem Band Formensprache. Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpretation versammelte, in den Arbeiten zu Goethe, Schiller, Hölderlin, zu Kleist, Jean Paul und zur romantischen Stimmungslyrik einen — vorläufigen oder endgültigen — Ersatz für einzelne Kapitel des zweiten Bandes der Formgeschichte sehen. Das gilt auch für die Arbeiten über Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts, die nach einem Hinweis am Ende jenes Vorworts einer späteren Zusammenfassung vorbehalten bleiben sollten. Paul Böckmann hat diese Zusammenfassung in seinen späten Jahren noch selbst vorbereitet, ihr Erscheinen aber nicht mehr erlebt. Diesen Band legen wir nunmehr vor. Sein Titel, die Auswahl der Aufsätze und die der jeweiligen Druckvorlage, die bei jedem der Aufsätze in einer ersten Fußnote genannt ist, VII
Vorwort
beruhen auf Notizen und Anweisungen, die der Verfasser hinterlassen hat. Abgewichen wurde in einigen Fällen von der Reihenfolge der Aufsätze, die in seinen Aufzeichnungen nur vorläufig festgelegt war. Im Text der Aufsätze sind einige wenige offenkundige Druckfehler und geringfügige sprachliche oder sachliche Versehen stillschweigend berichtigt worden. Die Anmerkungen und bibliographischen Angaben sind für den Neudruck vereinheitlicht und im Rahmen des Möglichen überprüft und ergänzt worden. Nicht auf dem Plan des Autors, sondern auf Überlegungen in Marbach beruht der Anhang. Er soll mit einer Bibliographie der Veröffentlichungen, die um Vollständigkeit bemüht ist, und mit Verzeichnissen der Lehrveranstaltungen und der von Böckmann betreuten Dissertationen sein Wirken als Forscher und akademischer Lehrer zusammenfassend dokumentieren und mit dem Abdruck einiger wissenschaftsgeschichtlicher und autobiographischer Beiträge zeigen, wie Paul Böckmann selbst sich in den Rahmen der Fachgeschichte stellte, welche er jahrzehntelang beeinflußt hat. Die Vorbereitung des Bandes geschah in enger Zusammenarbeit mit Hans-Henrik Krummacher und Walter Müller-Seidel durch die Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv. Sie hat Böckmanns umfangreichen wissenschaftlichen Nachlaß 1987 übernommen. Birte Giesler hat als Marbacher Stipendiatin zunächst die Korrespondenz im Nachlaß Böckmanns geordnet und über den Inhalt einen ersten Bericht in den Mitteilungen des Marbacher Arbeitskreises für Geschichte der Germanistik (Heft 9/10, Mai 1996, S. 43 — 45) gegeben und nun die Bibliographie sowie die Verzeichnisse der Dissertationen und der Lehrveranstaltungen erarbeitet. Hanna Becker hat im Rahmen eines Werkvertrags die redaktionelle Bearbeitung der Aufsätze geleistet. Beiden gilt aufrichtiger Dank, wie auch dem Verlag, der sich zur Übernahme des Bandes bereitgefunden und sein rechtzeitiges Erscheinen zum Gedenken an den 100. Geburtstag Paul Böckmanns möglich gemacht hat.
VIII
Dichterische Wege der Subjektivierung
Deutsche Lyrik im 19. Jahrhundert*
Die Beschäftigung mit der deutschen Lyrik des 19.Jahrhunderts ist heute problemreicher geworden, als sie es früheren Generationen war. Wir stehen mitten in der Auseinandersetzung mit der ihr zugehörigen LyrikGesinnung, als sei sie mit einer Gefühls- und Stimmungswelt verbunden, die nicht mehr die unsere ist. Seit dem Symbolismus hat das moderne Gedicht sich immer entschiedener von der erlebnisunmittelbaren Ausdruckssprache entfernt. Rückschauend mag uns die Klang- und Seelenfülle, der menschliche Reichtum und die Vielgestaltigkeit der lyrischen Produktion von Goethe bis Storm besonders bewegen; aber wir werden zugleich den historischen Abstand empfinden, in den wir zu einer bedeutenden Dichtungsepoche geraten sind. Damals verlangte man vom Gedicht jenen Gefühlsausdruck, der uns auf die eigene Innerlichkeit zurückführt und Erlebnisse oder Stimmungen vermittelt, in die wir uns einzustimmen vermögen. Diese Grunderwartung kam zu breitester Wirkung, nicht nur weil die Dichter sie auf so vielfältige Weise fruchtbar machten, sondern weil zugleich eine Reihe bedeutender Komponisten die Texte vertonten. Im Familienkreis wie im Konzertsaal brachte das gesungene Lied den Empfindungsreichtum der romantischen und nachromantischen Lyrik zur Geltung. Diese Vertonungen suchten durch Melodie und Klavierbegleitung hörbar zu machen, was im einzelnen Gedicht an Stimmung und hintergründigem Gehalt verborgen hegt. Robert Franz sagte gelegentlich, er habe Empfindungen, nicht Worte komponiert.1 Das Gleichgewicht zwischen kantabler Melodienführung und der eindringlichen Ausschöpfung der seelischen Stimmung des Liedtextes war seit Franz Schuberts Vertonungen das eigentliche Ziel des Bündnisses zwischen Dichtung und Gesang. Es gehört zu der besonderen Situation der deut* In: Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart, hrsg. von Hans Steifen, 1
Göttingen 1963 (Kleine Vandenhoeck-Reihe Sonderband i), S. 165-186. Vgl. H. J. Moser, Das deutsche Lied seit Mozart, Berlin 1937, S. 181; vgl. S. 53 und 126.
Deutsche Lyrik im ig. Jahrhundert
sehen Lyrik im 19.Jahrhundert, daß sie in so starkem Maße durch die Vermittlung der Musik zur Wirkung kam und damit die Aufmerksamkeit vom Wort und Bild auf die Empfindung abgelenkt wurde. Der gesungene Vers ermöglichte es, sich den wechselnden Stimmungslagen zu überlassen und alle Lyrik als einen unmittelbaren Gefühlsausdruck aufzufassen. Zugleich entstand durch die Pflege des gesungenen Liedes ein eigener Überlieferungszusammenhang. Die Dichter der nachfolgenden Generationen wuchsen durch die Vertonungen in eine bestimmte Lyrikerwartung hinein, wurden mit einer Dichtungswelt vertraut, die den Anforderungen der Musik entsprach. So ist es z. B. für Liliencron kennzeichnend, daß er lange, bevor er selber zu dichten begann, durch sein Singen und Musizieren mit der Liedtradition vertraut wurde. Er schrieb 1871 seiner Braut, Helene von Bodenhausen, daß er die Lieder wieder sänge, an denen sie sich gemeinsam gefreut hatten, und rühmte Schubert als den »größten aller Liederkomponisten«: »Schubert war der Erfinder, wenn man so sagen darf, des Liedes; nach ihm erst kommen Schumann, Franz! Singst du Loewe? ach seine Balladen!«2 Durch diese Vertonungen, auch diejenigen von Mendelssohn und Brahms, kam er in eine enge Beziehung zur Lyrik. So wie Schubert vor allem Goethe und Wilhelm Müller vertont hatte, so bevorzugte Schumann die Gedichte von Heine, aber auch von Eichendorff, Uhland, Kerner, Rückert, Lenau, die bei Mendelssohn und Robert Franz ebenso im Vordergrund standen, während Brahms sich Tieck und Mörike zuwandte. Diese Liederwelt wirkte offenbar stärkstens auf Liliencrons Lebensverhalten zurück, als könne er in ihr seine Gefühlswelt wiederfinden. Freilich, als er dann selber zu dichten begann, verwandelte er den ihm vertrauten musikalischen Stimmungston durch einen Klang der Ernüchterung, als müsse er Poesie und Wirklichkeit noch auf andere Weise verknüpfen. Eine seiner ersten Strophen (vom April 1877) lehnt sich an den Ton EichendorfFs nur noch an, um sich von ihm loszusagen:
Unbegreiflich Herz. Detlev von Liliencrons Liebesbriefe an Helene von Bodenhausen, hrsg. u. eingel. von H. Spiero, Stuttgart 1925, S. 165; vgl. S. 23, 128, 143, 150. Er meldet: »Ich singe jetzt viel aus dem kleinen Heft Schumannscher Lieder; der Text sind Heinesche Gedichte. Ich finde, die ganze Musik darin ist märchenhaft, zauberhaft, voll der unendlichsten Schwärmerei« (September 1871). Später heißt es: »Immer muß ich bei seinen [Schumanns] Liedern an Köthener Zeiten denken« (als er seine Braut kennenlernte). Oder er benutzt EichendorfFs Verse: »Dein Bildnis wunderselig - hab ich im Herzensgrund«, um seiner Liebe Ausdruck zu geben.
Deutsche Lyrik im 19. Jahrhundert Durch die Heide, durch den Wald, sind wir lustigfortgezogendoch die Hörner sind verklungen, und die Lieder sind verhallt.3
Er bezeugte damit, daß die Gemeinsamkeit dieser lyrischen Grundhaltung sich nur in wechselnden Formen behauptet. Denn diese Stimmungslyrik birgt eine eigene Problematik in sich. Sie richtet sich nicht nur auf den Wechsel der Gefühlszustände und psychischen Situationen, sondern in ihr schwingt ständig die Frage mit, wie Mensch und Natur zusammenstimmen und sich der Mensch von der Natur her zu begreifen vermag. Erst deshalb hat das Gedicht Anteil an einem geistigen Geschehen, ereignet sich in ihm ein produktives Weltverständnis. Je mehr die neuzeitliche Naturerkenntnis das Weltbild der sinnlichen Wahrnehmung entwertet hat, je mehr sie den Menschen einem kausalgesetzlichen, sinnfremden Geschehen überantwortet und dadurch versachlicht, um so wesentlicher wird der konkrete Gefühlsund Erlebniszusammenhang, in dem sich der Mensch als ein je schon gestimmtes eigenes Ich erfährt. Der Rückgang auf die erlebnisunmittelbare Subjektivität erweist sich als ein Gegenhalt gegen jede Veräußerlichung des Lebens, als Gegenpol zur Objektivierung aller Lebensgehalte durch die exakte Naturforschung. So läßt sich die Erlebnis- und Stimmungslyrik wohl als eine Antwort auf die seit der Aufklärung entstandene Bewußtseinssituation verstehen. Die Subjektivierung der lyrischen Sprache zeugt von dem Versuch, die Lebensunmittelbarkeit zurückzugewinnen, nachdem die wissenschaftliche Naturerkenntnis die überkommenen Glaubensordnungen in Frage gestellt hat. Nur in der Erlebnisunmittelbarkeit und Stimmungsgebundenheit scheint der Mensch in die Heimat der Natur zurückkehren zu können. Aber zugleich sieht er sich damit der Fragwürdigkeit eben dieser seiner Subjektivität überantwortet, da sie keine Gewähr dafür bietet, daß ihre Gefühlsunmittelbarkeit einen echten Wirklichkeitsgehalt erschließt und sich nicht als täuschender Trug erweist. Die Ergriffenheit im eigenen Innern kann als bloße Traumerfahrung, als Illusion entlarvt werden und endet dann in der Melancholie des Einsamen oder in der Sensibilität der Skepsis. So stellt sich vom Grundansatz dieser Lyrik her die Frage, wie sich in ihr Ich-Aussprache und Naturbildlichkeit aufeinander beziehen und sprachlich zur Darstellung
Ebd., S. 154.
Deutsche Lyrik im 19. Jahrhundert
kommen. Dafür gibt es keine festen Antworten, sondern nur eine Folge von immer neuen Bewältigungsversuchen. Auch diese Problematik läßt sich bei Liliencron an einem konkreten Beispiel erläutern. Als er 1877 mit eigenen Versen begann, wies er seine Braut auf ein Gedicht von Rückert hin, »Aus der Jugendzeit«, das wohl 1817 in Rom entstanden war und den Volksliedton des Wunderhorns grüblerisch umspielte. Es sind die als gesungenes Lied zu so weiter Verbreitung gelangten Verse: Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit klingt ein Lied mir immerdar; o wie liegt so weit, o wie liegt so weit, was mein einst war!
Die Erinnerung an das heimatliche Dorf weckt die Sehnsucht, aber auch das Gefühl der Vergänglichkeit, von dem dann das Lied der Schwalbe refrainartig singt. Liliencron sagt dazu: »O das Gedicht ist so wundervoll. Als ich es als Knabe las, konnte ich's gleich auswendig. Und dann las es mir zuweilen meine Mama ... vor ...; so ist das Lied mir ganz ins Herz gewachsen. Der Schluß ist: Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt dir zurück, wonach zu weinst; doch die Schwalbe singt, doch die Schwalbe singt im Dorf wie einst.«
Und weiter heißt es bei Liliencron: »Damit hat Rückert alles gesagt: Unser Leben, unser geistiges, seelisches Leben verrauscht, vergebens sehnen wir uns und wünschen es zurück — umsonst... Nur die Natur bleibt immer dieselbe; sie kümmert sich absolut nicht um das Menschenherzlein — ... mag es brechen; die Schwalbe singt ruhig weiter im Dorf, wie sie es immer tat und tun wird — Und das Menschenherz ist zerstückt und leer.« Mit dieser Erläuterung hat Liliencron freilich mehr einen Hinweis auf seine eigene Situation als auf diejenige Rückerts gegeben. Denn dessen Verse sprechen noch nicht von der Gleichgültigkeit der Natur gegen das Menschenherz, sondern weisen den sich erinnernden Menschen auf sich zurück, wie er Einst und Jetzt, Frühling und Herbst, Jugend und Alter überschauen kann und ihn die Wehmut des Abschieds und die Macht der Erinnerung bewegt. Am Gleichmaß der Natur erkennt das Herz seine Vergänglichkeit, wird es »vogelsprachekund«, wie es bei Rückert heißt, als erführe es noch in der Schwermut seinen Zu-
Deutsche Lyrik im ig. Jahrhundert
sammenhang mit der Natur. Erst bei Liliencron erscheint die Natur als eine dem Menschen fremde Macht, durch die er die Vergeblichkeit seines Sehnens und Wünschens erfährt und von der er mit neuer Nüchternheit spricht. So gibt er denn auch dem Schwalbenmotiv in dem Gedicht, mit dem er das Rückertsche auf seine Weise umdichtet, eine kennzeichnend andere Gestalt. In seiner »Schwalbensiziliane« bleibt nur das Bild vom Hinund Herjagen der Schwalben übrig, während bei Rückert die Zugvögel gerade den rhythmischen Wechsel als Gesetz der Natur sinnenfällig machen. Bei Liliencron ist die Natur einerseits menschenferner und gefühlsarmer, andererseits aber übermächtiger geworden, sofern das menschliche Leben nur noch als ein unerbittlicher, naturgebundener Ablauf erscheint, der sich in vier Stationen gliedert: Kindheit, erste Liebe, männlichen Kampfund Tod. So heißt es nun: Zwei Mutterarme, die das Kindchen wiegen, Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder. Maitage, trautes Aneinanderschmiegen, Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder. Des Mannes Kampf: Sieg oder Unterliegen, Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder. Ein Sarg, auf den drei Hand voll Erde fliegen, Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.
Für jede Lebensstufe bleibt nur eine Verszeile, während der sich viermal wiederholende Schwalbenvers auf die sich immer gleiche Natur verweist; sie kümmert sich nun wirklich nicht mehr um das »Menschenherzlein«, das denn auch nicht mehr »vogelsprachekund« werden kann, sondern die ihm zugehörigen Situationen illusionslos ergreifen muß und nur dadurch den Stimmungston bewahrt.4 Wir halten also fest: vom gesungenen Lied her zeichnet sich wohl ein die Epoche beherrschender Grundtypus des empfindungsreichen, erlebnisnahen Gedichts ab. Aber sobald man nach den Voraussetzungen fragt, die zu dem jeweiligen Gefühlsausdruck gehören und die Sprachgestalt bestimmen, enthüllt sich die vielschichtige Problematik des Naturverhältnisses in einer scheinbar so einfachen und na4
Vgl. O. Loerke, der Weihnachten 1939 unter dem Widmungsgedicht »Vogelbotschaft unterm Regenbogen« sich als »Schüler der Vogelsprache« unterschreibt (Oskar Loerke, Gedichte und Prosa, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1958, Bd. I: Die Gedichte, S. 608). [Die genannte Unterschrift findet sich nur auf einer Handschrift des Gedichts im Nachlaß Loerke, Sammlung Jacubeit, Deutsches Literaturarchiv Marbach.]
Deutsche Lyrik im ig. Jahrhundert
turnahen Dichtungsweise. Der erstrebte Einklang von Mensch und Natur bleibt widerspruchsvoll und vielgestaltig, so daß sich an der Art seiner Darstellung der Formenwandel der Lyrik im 19. Jahrhundert ablesen läßt. Die Naturmotive begrenzen immer wieder den Vorstellungshorizont der Gedichte, als Ahnung und Einweihung, als beziehungsreiches Geschehen in der Zeitlichkeit, als Zeichensprache des Lebenswillens, als Chiffre des Namenlosen. So stehen sie in einem Wechselverhältnis zum Lebensgefuhl und Daseinsverständnis, wie es sich in der Subjektivität des jeweiligen Dichters bezeugt. Die Frage nach den Naturbildern fuhrt deshalb immer zugleich auf die nach dem lyrischen Ich zurück, das für die Stilform der Gedichte entscheidend bleibt. Je weniger das Ich sich einer überkommenen Glaubens- oder Schöpfungsordnung einzufügen vermag, je mehr es sich aus einer festgefügten Gesellschaft löst, um so bedeutsamer und aufschlußreicher wird es, wie sich in der Lyrik ein personaler Bezug behauptet, obgleich sich das Ich nur noch auf ein unpersönliches Naturgeschehen verwiesen sieht. Es bringt sich auf die verschiedenste Weise zur Geltung, nicht nur durch die ausdrückliche Nennung im Personal- oder Possessivpronomen, sondern schon durch die syntaktische Fügung der Verse, die rhythmische Sprachbewegung und die Verknüpfung der Motive bis hin zur Verwendung von Rollenfiguren. Unter diesem Gesichtspunkt wird die entscheidende Bedeutung verständlich, die Goethes Gedichte für die weitere Entwicklung behalten. Die Gefühlsaussprache gewinnt bei ihm eine neue Intensität, weil das Ich zu sich selbst spricht und sich in seinem Personsein bezeugt, gerade indem es sich den Lebenserscheinungen als dem ihm zugeordneten Du verbunden weiß. In dem Mondlied z.B. erläutert die Anrede an den Mond zugleich die Art, wie sich das Ich erfährt: Füllest wieder Busch und Tal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz.
Die Seele als »meine Seele« führt auf das seiner selbst bewußte Ich zurück, das sich dem Mond als jenem Du zuordnet, durch das es sich auf sich selbst verwiesen sieht. Es spricht zu sich als das der Zeit überantwortete Ich, das in der Anrede an den Mond oder den Fluß sich zu der Art seines so veränderlichen Daseins bekennt und von sich als dem Ich weiß, das sich in seinem Sprechen als Person behauptet:
Deutsche Lyrik im 19. Jahrhundert
Fließe, fließe, lieber Fluß! Nimmer werd ich froh ... Ich besaß es doch einmal, Was so köstlich ist! Daß man doch zu seiner Qual Nimmer es vergißt!
Erst in dieser fünften Strophe ist das Ich wirklich bei sich eingekehrt, zu jenem Personsein, das sich nur im Wechsel kennt und deshalb den Wechsel des Lichts oder das Fließen des Flusses als ein zugleich fremdes und vertrautes Du der Natur sich zuordnen kann. Für Goethe wird die Subjektivierung des Lebensgeflihls der Weg, auf dem das Ich sich selber findet und in seinem Personsein behauptet; deshalb kann seine Lyrik so beispielhaft und vorbildlich wirken. Im 19. Jahrhundert fuhrt diese Selbstvergewisserung der Person durch die Rückwendung des Ich auf sich selbst zu einer neuen Innerlichkeit und seelischen Erfulltheit der lyrischen Sprache, aber auch zu einer wachsenden Beunruhigung und Angefochtenheit. Es ist damit nicht gesagt, daß das Ich nur noch von sich spricht; es kann in sehr vielfältiger und oft nur vermittelter Weise bei sich einkehren, da es ja das gesamte Weltverhältnis durchseelt. Eichendorffs »Mondnacht« z. B. setzt ganz unpersönlich ein und fuhrt trotzdem sofort auf die Beteiligung des Ich zurück: Es war als hätt der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müßt.
Mit dieser Formel: »Es war als hätt« ist schon das Ich als dasjenige gegenwärtig, das sich der Naturstimmung überläßt, das menschliche Verhalten auf den Naturvorgang überträgt und das sichtbare Geschehen mit persönlicher Beteiligung aufnimmt. In den Worten »Es rauschten leis die Wälder / So sternklar war die Nacht ...« schwingt die Ergriffenheit mit, ohne daß eine grammatische Beziehung zum Ich hergestellt würde. Erst in der dritten Strophe spricht die Seele von sich selbst: Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus ...
Deutsche Lyrik im ig. Jahrhundert
nicht um von sich zu erzählen, sondern um die Selbstvergewisserung ausdrücklich zu bezeugen und den Irrealis der ersten Strophe wieder aufzugreifen: »als flöge sie nach Haus ...« Das prägende Wort zeugt von einer Einstimmung in die Natur, die das Ich auf sich zurückführt, ohne daß es grammatisch in Erscheinung träte. So gewinnt das Stimmungsgedicht sein eigentliches Leben durch den personalen Bezug. Das abendliche Dunkel ist nicht Zeichen der Verlorenheit oder Bedrohung, sondern einer tieferen Vereinigung und Vermischung, einer traumhaften Verbundenheit. Himmel und Erde begegnen sich wie Liebende und zeugen damit von einem seelisch erfüllten Dasein, in das der Mensch wie in sein Vaterhaus zurückkehrt. Die Aussagen verschweben im Vergleich. Eine naturnahe, erfahrungsgebundene Sprache wird seelisch bedeutsam und gewinnt einen religiösen Unterton. Daß damit eine für die nachgoethische Lyrik bis Nietzsche hin wirksame Grundsituation sich abzeichnet, bezeugen immer neue Abwandlungen der Nachtmotive. Sie begegnen als einweihendes Zeichen bei Brentano so gut wie bei Mörike oder der Droste. Das nächtliche Licht der Sterne wird zum Zeugnis einer »heimlichen Welt«, eines »heiligen Sinns«, der Verbundenheit alles Lebens: Sind durch die Nächte die Lichter gewunden, Alles ist ewig im Innern verwandt. Sprich aus der Ferne, Heimliche Welt, Die sich so gerne, Zu mir gesellt!
Die Parallelität von Naturbild und Gefühlsbewegung gibt diesen Versen Brentanos ihre Intensität; im flüchtigen Anrühren der konkreten Erscheinungen kommt die Gefühlsbewegung als Lebensbewegung zur Geltung, so daß Innen und Außen sich vertauschen und in einer Metaphorik der Seele vereinen: In goldenen Kähnen Schiffen die Geister im himmlischen See.
Die Nacht wird zum »himmlischen See«, durch den die Sterne als »goldene Kähne« ziehen; oder die Sterne werden als »Kränze still leuchtender Funken« bezeichnet, die sich die Nacht um die »schattigte Stirne« flicht. Das Bildwort verselbständigt sich in Anthropomorphisierungen, um das Geheimnis der Identität zu bezeugen. io
Deutsche Lyrik im jp. Jahrhundert
Freilich, bei einem genaueren Hinhören bemerkt man Unterschiede. Der Wechselbezug zwischen Mensch und Natur, der eine metaphysische Geborgenheit anzubieten schien, bleibt ambivalent und kann ebenso das Alleinheitsgefuhl bestätigen wie den Gegensatz zwischen Wunsch und Wirklichkeit bewußt machen. Das sichtbare Dasein gibt seinen Sinn nicht zu erkennen und wirkt um so verwirrender, je mehr es das Gefühl täuschen kann. In einem bisher kaum beachteten, im Nachlaß verborgenen Sonett Brentanos verliert sich das Ich im Zweifel der Fragen, weil Außen und Innen nicht aufeinander verweisen, als ob die Zeichen der Liebe und des Todes auswechselbar wären. Das Bild einer liegenden Frauengestalt bleibt doppeldeutig: liegt sie auf dem Freudenbett der Liebe oder der Bahre des Todes? In der Bestürzung über diese Vertauschbarkeit entsteht eine Unbedingtheit des Fragens, die allein noch das Ich vor sich selbst bringt; das Gedicht nennt immer zugleich Sinn und Gegensinn, um das im Bilde dargestellte, ambivalente Geschehen zu entschlüsseln. In Lieb? - In Lust? - Im Tod? Verschmachtet? Trunken? Ob Odem von der süßen Lippe fließt? Was ist's, das der gefallne Becher gießt? Hat Gift, hat Wein, hat Tränen sie getrunken? Kein Öl die Lampe? oder keinen Funken? Ob ihr ein Gott? ein Krampf? den Mund verschließt? Ob rings nur Dorn? ob keine Rose sprießt? Ist an ein Herz das andre hier gesunken, Sag? diese Arme wollen Flügel werden Nein Falten sind es - Leichentuches Falten. Das süße Haupt strahlt Gloria - zerraufte Haare! Sink nieder, Nacht! nein! Blitz, strahl zu der Erde! Deck zu, erleucht des Zweifels Peingestalten, Verhüll, enthüll das Rosenbett, die Bahre.5
Das Ich kennt sich nur noch als das der Ambivalenz überantwortete, so daß jede Aussage durch die nächste wieder aufgehoben wird und das Sprechen in eine Art Kreisbewegung gerät, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Damit deutet Brentano nicht nur auf die Ausgesetztheit
5
Vgl. Rene Guignard, Chronologie des Poesies de Cl. Brentano avec un Choix de Variantes, Paris 1933, S. 49f., wo das Gedicht in zwei Fassungen abgedruckt wurde, mit der Bemerkung »Über eine Skizze« und dem Titel »Verzweiflung an der Liebe in der Liebe«. II
Deutsche Lyrik im ig. Jahrhundert
seines eigenen Dichtens, sondern zugleich auf die Kräftespannung, die in der Lyrik des 19. Jahrhunderts immer entschiedener nach vorn drängt und die Selbstgewißheit des Gefühls bedroht. In Mörikes Gedichten tritt die Personsphäre trotzdem eindringlich hervor. Das zu sich selber sprechende Ich gibt den Versen den Grundton. Aber es verharrt nur dadurch in seiner Individualität, daß es sich ahnungsvoll und wandlungsreich dem Lebensgeschehen überläßt. Das Gedicht »An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang« nimmt auf seine Weise die Nachtmotive des Goetheschen Mondlieds wieder auf, indem nun die Stunde der ersten Dämmerung vor Sonnenaufgang als Zwischenzustand zwischen Nacht und Tag den Zeitenwandel fühlbar macht. Der Bezug des Menschen zur Natur erschöpft sich fast ganz im Bezug zur Zeit, den der erste wie der letzte Vers herausheben: »O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe«; »Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entfloh'n«. Das lyrische Ich findet zu sich selbst, indem es im Wechsel der Zeit — »hier gilt kein Stillestehn« — sich zu sich ruft. Erst dadurch bezeugt es den Reichtum eines Innern, das sich von der Zeit mitgenommen weiß und doch bei sich bleibt. So sind die Verse ein gültiges Zeugnis für die Art, wie die erlebnisgebundene Lyrik den personalen Bezug des Menschen im unpersönlichen Naturvorgang bewahrt. Die Zeit der »dunklen Frühe« wird zu dem Du, das das Ich auf sich zurückwendet; durch das »Du in mir« bekennt es sich zum »Ich in dir«: Welch' neue Welt bewegest du in mir? Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?
Es begegnen Worte, die sowohl die Identität des Ich wie seine Wandlungsfähigkeit hervorheben: »einem Kristall gleicht meine Seele nun«, »zu fluten scheint mein Geist«; die vielfältigen Organe, die Sinne, Augen, Busen, Herz, Gefühl erläutern den Reichtum des Innern; »der Genius jauchzt in mir«. Dies Ich kennt sich nicht mehr als Teil einer vorgegebenen Ordnung; aber es vertraut seiner inneren Kraft, mit der es sich in das bewegte Dasein verstrickt. Die Frage nach dem lyrischen Ich erweist sich hier als Frage nach der dem Menschen möglichen Entschiedenheit in seiner Zeitlichkeit. Freilich ist damit zugleich gesagt, warum es auch für die Lyrik des 19. Jahrhunderts »kein Stillestehn« gibt. Das »Du in mir« und »Ich in dir« weist auf einen Gleichgewichtszustand, der nur zu leicht gestört wird und der Labilität und Sensibilität ebenso Raum gibt wie der Ernüchte12
Deutsche Lyrik im ig. Jahrhundert
rung und Entzauberung. Solche Sensibilität möchte man bei Annette von Droste-Hülshoff finden, wenn sie sich dem Naturgeschehen mit allen Sinnen öffnet, um es doch nur als ein fremdes »Es« zu erfahren, das sich zwischen Ich und Du stellt, als ließe es keinen Einklang zu. Das Gedicht »Durchwachte Nacht« macht eher die Angefochtenheit als die Selbstgewißheit des Personseins deutlich, als ginge es nur noch um die Reizbarkeit der Nerven in der Gefühlsbetroffenheit: O wunderliches Schlummerwachen, bist Der zartren Nerve Fluch du oder Segen? s' ist eine Nacht, vom Taue wach geküßt, Das Dunkel fühl ich kühl wie feinen Regen ... Wie mir das Blut im Hirne zuckt! Am Söller geht Geknister um, Im Pulte raschelt es und ruckt, Als drehe sich der Schlüssel um.
Das Impersonale Es drängt sich vor: es zuckt, knistert, raschelt, ruckt, ohne daß ein wirkliches Gegenüber entstünde, an dem sich das Ich erkennen könnte; nur die Uhr schlägt und gliedert das Verfließen der Zeit im Ungreifbaren. Die Schlaflosigkeit bekundet noch, wie sehr das Einverständnis von Mensch und Natur aufgehoben ist, wie das Fremde übermächtig wird und das Personsein gefährdet. In den Versen spricht der beobachtende Mensch, der die verschiedenen Stadien seines Verhaltens und Erfahrens festzuhalten sucht und dadurch die Art seiner eigenen Beteiligung zu erkennen gibt, sein Fühlen, Lauschen, Sehnen, Ahnen. Die Naturempfindung vereinigt sich mit der Selbstreflexion, die das Ich auf sich zurückführt, selbst wenn es vor der Übermacht des Lebens erschrickt. Wieder scheint damit eine Grenzsituation erreicht, als würde ein Schritt genügen und der Mensch verlöre die Gewißheit seines Personseins. Hebbels »Nachtlied« spricht von der unheimlichen, zerstörerischen Gewalt des Lebens, vor der erst der Schlaf zu schützen verspricht: Steigendes, neigendes Leben, Riesenhaft fühle ich's weben, Welches das meine verdrängt.
Die Gleichgültigkeit der Lebensvorgänge gegenüber dem Einzelschicksal entwertet den Stimmungseinklang und läßt nach einer anderen Vergewisserung des Personseins fragen, als sie der erlebnisgebundene Gefühlsausdruck zur Geltung bringen kann.
Deutsche Lyrik im ig. Jahrhundert
So wird es für die Situation der Lyrik im 19. Jahrhundert aufschlußreich, wie Platen von früh an auf die Gefühlserfüllung verzichtet, den Einklang unerreichbar findet und nur noch das Gefühl der Vergeblichkeit und Verlorenheit zur Grundlage seines Dichtens macht. Die Erwartung, das Ich im Du bestätigt zu finden, erscheint als immer enttäuschte Hoffnung, als müßte sich der Mensch im Wechsel der Gefuhlszustände verlieren, wenn sich nicht ein letzter Rückhalt im Bewußtsein von diesem Wechsel ergeben würde. Das Ich soll die rechte Folgerung aus seinen Erfahrungen ziehen und im Gegensatz zur Natur sich zu sich selbst wenden. Das Personsein kann sich erst im geistbewußten Wort wiederherstellen. Der Gefuhlston kommt nur noch zur Geltung, um die Leistung der Kunst über allen Wechsel von Lust und Schmerz zu erheben und ihre Distanz vom Leben als einen letzten Rückhalt zu preisen: Erlitten hat das bange Herz Begier und Furcht und Graun, Erlitten hat es seinen Teil von Schmerz, Und in das Leben setzt es kein Vertraun; Ihm werde die gewaltige Natur Zum Mittel nur, Aus eigner Kraft sich eine Welt zu baun.6
Aus dem das Leben erleidenden, »zerrissenen Herzen« wird das tätige Herz, das sich zu sich selbst entschließt, indem es dem dichtenden Wort vertraut, mit ihm eine eigene Welt erschafft und den »Adel der Form«7 zur Geltung bringt. So endet bei Platen die Selbstvergewisserung in der Paradoxie, daß sie erst in der Klage über die verlorene Einheit von Mensch und Natur eine Beglückung findet: Selig fühl ich mich getragen, Auf den Schwingen meiner Klagen In des ewgen Friedens Land.8
Man könnte fragen, wieweit solchen Versen eine Zwiegesichtigkeit zugehört, als knüpften sie an humanistische Formtraditionen der Antike nur an, um zugleich auf eine moderne Lyrik hinzuführen, die auf die Erlebnisnähe verzichtet und sich im Umgang mit dem Wort bewährt. 6
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August Graf v. Platen, zu den »Liedern und Romanzen«: »Wie stürzte sonst mich ...«, 1821. Ders., »Einladung nach Sorrent«: »Laß, o laß, Freund ...«, 1827. Ders., »Lieder und Romanzen«: »Wohl mit Hafis darf ich sagen ...«, 1823.
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Sobald der Einklang von Mensch und Natur in der Stimmungslyrik des 19. Jahrhunderts nicht mehr die Selbstvergewisserung des Personseins ermöglicht, bietet sich offenbar als ein anderer Weg der der kunstbewußten Sprachbehandlung an, der zur sprachlichen Setzung wie später bei Stefan George oder zur Sprachmontage wie in manchen Gedichten Gottfried Benns fuhrt. So hat die Frage nach der Naturbeziehung und den Formen der IchAussprache die Frage nach der Sprachbehandlung und Tonlage der Gedichte dringlich werden lassen. Wir müssen noch einmal zurückblicken und zu klären suchen, warum die Sprachhaltung des Erlebnis- und Stimmungsgedichts in sich brüchig werden konnte und schließlich einer entschiedeneren und selbstgenugsameren Sprachkunst Raum geben mußte. Offenbar war die Selbstvergewisserung des Personseins im Stimmungseinklang nur eine mehr oder minder verborgene Voraussetzung dieser Lyrik. Für ihre Breitenwirkung war dagegen die Einfachheit und Anschaulichkeit ihrer gefühlsbestimmten Sprache entscheidender. Das Verlangen nach dem möglichst unmittelbaren Erlebnisausdruck rechtfertigte den Rückgriff auf das Volkslied und den Balladenton, so daß im Versund Strophenbau die volksläufigen Formen mit alternierenden Takten und einfacher Reimbindung weit überwiegen. Die Lyrik des 17. und 18. Jahrhunderts hatte sich viel entschiedener bemüht, durch die Übernahme verschiedenster Gedichtformen und Versmaße, der Oden, Elegien, Sonette und Epigramme, die Sprache in einen kunstbewußten Gang zu versetzen. Die Sprache des Herzens dagegen, der Ton der Empfindung, suchte den Vers als Ausdrucksgebärde zur Geltung zu bringen. So konnten die überlieferten lyrischen Formen nur noch benutzt werden, wenn sie die rhythmisch-klanglichen Qualitäten der Sprache dem Ausdrucksverlangen dienstbar machten. Schon bei Herder vollzog sich deshalb die Annäherung an das Volkslied, als zeichne es sich vor allem durch die Innigkeit und Unmittelbarkeit seines Tones aus, als zeuge es von einer Betroffenheit der Seele, die zugleich die den Lebenssituationen zugehörige Poesie zur Geltung bringt. Nicht die Kunstfertigkeit ist ihm zugehörig, sondern das Lautwerden des Gemüts. Dieser Volksliedton weiß durch typische Figuren und Motive auf die den Menschen bewegenden Gefühle hinzudeuten und kann dadurch helfen, die Lyrik aus der Differenzierung des neuzeitlichen Bewußtseins zur Einfalt zurückzuführen. Aber nicht nur durch das Volkslied, sondern auch durch die Volksballade hat die Lyrik seit Herder und Goethe ihre Ausdruckskraft zu steigern
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gewußt. Man hat die Ballade als erzählendes Gedicht gern von der eigentlichen Lyrik abgesondert und sie lieber zu den epischen Gattungen gerechnet. Aber im 19. Jahrhundert steht die Kunstballade doch in besonders enger Beziehung zum Erlebnisgedicht. Sie will nicht einen epischen Handlungszusammenhang vorfuhren, sondern beschränkt sich auf ein Ereignis und dessen gefühlsbewegende Kraft. Die Vorgänge werden nicht beredet oder erzählt, sondern im knappen szenischen Dialog vergegenwärtigt. So wird man im Anschluß an Heusler die Ballade als ein »Ereignislied« bezeichnen dürfen, das nicht von Vorfällen berichtet, sondern die ihnen zugehörige Gefühlsbeteiligung zu wecken vermag.9 Aus dieser alten Gebrauchsform hat die lyrische Ausdruckssprache eine bewußte Kunstform entwickelt. Je mehr es der deutschen Lyrik des 19. Jahrhunderts um die Sprache des Gefühls ging, um so wichtiger wurde ihr das balladische Ereignis als Ausdrucksträger. Der einfache Stimmungston bleibt eigentümlich punktuell, solange ihm die Entfaltung in einem Vorgang fehlt. Mit Hilfe der balladischen Form ließen sich die subjektiven Gefühlszustände objektivieren. Das Ereignis verweist den Gefühlsausdruck nicht auf die Sprachkunst, sondern auf ein naturverbundenes Geschehen und dessen gefühlsbestimmende Kraft. So nimmt es nicht Wunder, daß die Lyriker des 19. Jahrhunderts immer zugleich als Balladendichter hervorgetreten sind und der balladische Ton wesenhaft zur Erlebnis- und Stimmungslyrik hinzugehört. Als Uhland 1815 die Sammlung seiner Gedichte herausgab, bestätigte er damit in besonders eindrucksvoller Weise diesen Zusammenhang zwischen Lied, Gedicht und Ballade. Die notvolle Gefährdung der auf die Subjektivität zurückgeworfenen Dichterexistenz trat bei ihm in den Hintergrund. Seine Verse verlieren den bei Tieck oder Brentano, Mörike oder der Droste so spürbaren seelisch gespannten und sprachlich experimentierenden Charakter und bringen einen schlichten Stimmungston durch Rollenfiguren oder einen balladischen Vorgang zur bildhaften Darstellung. Je mehr es Uhland in seinen Versen auf das »Erscheinen unseres Gemüts im Bilde« ankam, um so lieber überließ er sich einer poetischen Sagenwelt, die er in einfachen Situationen mit typisierenden Gebärden vorzuführen wußte. Aber zugleich werden bei ihm die Gefahren erkennbar, die einer Lyrik drohen, die sich zu sehr von der eigenen Lebenswirklichkeit entfernt und sich einer poetisierten Ritterwelt zuwendet, um in die Ursprünglichkeit des Fühlens und die Einfachheit y
Vgl. A. Heusler, Lied und Epos in germanischer Sagendichtung, Dortmund 1905, S. I3ff.
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des Sprechens zurückzugelangen. Die Gefahr, daß sich im balladischen Vorgang die Poesie zu einer Traumwelt verselbständigt, wird bei den Gefährten und Nachfolgern Uhlands noch deutlicher, bei Justinus Kerner oder Gustav Schwab und den vielen Dichtern historischer Balladen, in denen nur zu leicht das stimmungsgebundene Sprechen zu einem konventionellen Gedichttypus erstarrt und die Sagenstoffe zur Altertümelei verfuhren. Im Bereich der liedhaften Dichtung kann man bei Wilhelm Müller entsprechend beobachten, wie die Naturstimmungen zum Requisit erstarren und der Liedtypus sich veräußerlicht, trotz des liebenswürdigen Temperaments, das sich in der Rolle des Jägers, Müllers oder Wanderburschen volksliedhaft einfach darstellt. So nimmt es nicht wunder, daß der Widerspruch zwischen der eigenen Lebenswirklichkeit und einer solchen poetisierten Sprache zur Kritik herausforderte und eine Verwandlung der Sprachhaltung in Gang setzte. Ein neuer ironischer Ton des desillusionierenden Witzes stellte die gemütsbestimmte Bilderwelt in Frage. Es ist die Bedeutung und Leistung Heines, daß er den Stimmungszauber bricht und in seiner Lyrik die Gefühlsbewegung auf die skeptisch-wache Bewußtheit zurückbezieht. Wenn er gelegentlich von Byron sagt, er habe »im Schmerze neue Welten entdeckt«, so könnte man damit auch sein Dichten kennzeichnen, sofern es im Widerstreit von Illusion und Wirklichkeit den Grund aller Schmerzen findet und die Flucht in die Lüge und Selbsttäuschung als begehrtes Beruhigungsmittel kennt. Er entwickelt sein eigenes lyrisches Verfahren immer im Hinblick auf den Typus der Stimmungslyrik, wie er ihm durch Uhland und Wilhelm Müller vor allem vertraut geworden war. Er schreibt dem letzteren 1826 bei Übersendung der Reisebilder, daß sein »kleines Intermezzo-Metrum seinen geheimsten Tonfall« den Müllerschen Liedern verdanke, weil ihm bei deren Lektüre »zuerst klargeworden, wie man aus den alten vorhandenen Volksliedformen neue Formen bilden kann«. Noch in seiner Abrechnung mit der Romantischen Schule, 1833, schaut er mit Wehmut auf seine Begeisterung für das Wunderhorn und die Lyrik Uhlands zurück, um sich dann um so entschiedener gegen die Vorstellung zu wenden, als könne man in den Naturzustand zurückkehren, aus dem das Volkslied hervorgewachsen ist. Die Geruhlssituationen seien in der Moderne andere geworden, als sie Uhland in der Liebe des Schäfers zur Königstochter (im Gedicht »Der Schäfer«) darstellte. Er empfinde nicht mehr das unnennbare Weh, das ihn einst ergriff, »wenn das Königstöchterlein stirbt«. Denn die Schmerzen der Liebe entstünden eher durch die Gegenwart als durch den Tod der Geliebten, da »der
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geliebte Gegenstand ... durch beständigen Widerspruch und blödsinnige Kapricen uns Tag und Nacht verleidet«. So gewinnt Heines Gedicht seinen eigenen Ton, indem es den Widerspruch von Phantasie und Reflexion, Poesie und Wirklichkeit, Sagenüberlieferung und moderner Zeit mannigfach umspielt, bald mehr witzig-ironisch, bald melancholischempfindsam. Er bleibt dabei beständig auf den Stimmungston bezogen, befreit sich aber von der Gefahr der Sentimentalität durch die Reflexion auf das Gefühl. Die Sprache gewinnt dadurch eine neue Wachheit und Bewußtheit. Die desillusionierende Kontrafraktur wird zum bestimmenden Darstellungsprinzip. Das muß nicht nur durch den Stimmungsbruch geschehen, sondern kann durch sehr unscheinbare Stilmittel erreicht werden, durch Halb- und Zwischentöne, die die Innigkeit des poetischen Einklangs aufheben und die schmerzlich beunruhigte Freiheit des Bewußtseins zur Geltung bringen. Die poetisierten Naturbilder geraten in Widerstreit zu der das Ich bedrängenden Wirklichkeit. So zerfällt dann die Stimmung in einen faktischen Naturvorgang einerseits und eine von ihm unabhängige psychische Situation andererseits, die zueinander in einem ironischen Kontrast stehen. Im »Frühlingslied« z. B. (aus den Neuen Gedichten) geht es nicht mehr um eine Einstimmung in den Naturvorgang, sondern höchstens um die Entlarvung der falschen Poetisierung. Gekommen ist der Maie, Die Blumen und Bäume blühn, Und durch die Himmelsbläue Die rosigen Wolken ziehn. Die Nachtigallen singen Herab aus der laubigen Höh', Die weißen Lämmer springen Im weichen grünen Klee. Ich kann nicht singen und springen, Ich liege krank im Gras; Ich höre fernes Klingen, Mir träumt, ich weiß nicht was!
Diese einfachen Verse suchen bewußt einfältig zu wirken, schon durch die banalisierte Verwendung der Verben: die Bäume blühen, die Wolken ziehen, die Nachtigallen singen, die Lämmer springen. Entsprechend begnügen sich die Beiworte mit dem Klischee: die rosigen Wolken, die weißen Lämmer, der grüne Klee. Dieser poetisierten Natureinfalt wird 18
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dann das lyrische Ich entgegengesetzt, dem keine Frühlingsstimmung hilft, da es krank darniederliegt. Der Frühling bleibt nur als Faktum bestehen, ohne daß ein Wechselbezug zwischen Mensch und Natur wirksam werden könnte. Der Stimmungston kann hier nicht mehr vorgeben, die Sprache der Natur zu entschlüsseln, sondern wird seinerseits entzaubert und umspielt nur ironisch einen höchst subjektiven Zustand. Damit vollzieht sich bei Heine die psychologische Auflösung der Stimmungslyrik. Die Einstimmung in die Natur wird zur Maske, hinter der sich das Gefühl vor sich selbst verbergen möchte. Dem nüchternen Alltag steht eine poetisierte Welt gegenüber, die nur als Traum und Märchen Berechtigung hat, in die sich der Mensch aber gerne flüchtet, um sich das Leben erträglicher zu machen. So gewinnt das reflektierende Bewußtsein die Aufgabe, ihn aus den Illusionen herauszureißen, damit die Lüge nicht übermächtig wird. Durch die Psychologisierung und Desillusionierung des Stimmungstons hat Heine nicht nur eine breite Wirkung erreicht, sondern vor allem der stimmungsgebundenen Sprache eine neue Bewußtheit und Wachheit des Tons gegeben, die auch in der modernen Lyrik sich mannigfach behauptet hat. Wenn trotzdem seine Stimme nicht mehr die gleiche Faszination behielt wie für frühere Generationen, so hängt das offenbar mit den Wandlungen des Lyrikverständnisses und der Ausbildung einer neuen lyrischen Sprachhaltung zusammen. Je mehr das Gedicht sich von dem Verlangen nach Erlebnisunmittelbarkeit und Stimmungsgebundenheit entfernte, um so mehr rückte auch Heine aus dem Blickfeld. Die psychologisierende Kontrafraktur des stimmungsgebundenen Gedichts verlor mit der Stimmungslyrik selber an Bedeutung. Die subjektivistisch-ironischen Brechungen des Stimmungstons führten von der sprachprägenden Kraft des Gedichts eher noch weiter weg, als es in der am Volksliedton orientierten Stimmungslyrik schon der Fall war. Weder von Hölderlin noch von Stefan George aus konnte sich deshalb ein Zugang zu Heine ergeben. Je mehr die symbolistische Lyrik im Zeichen Mallarmes die entscheidende Aufgabe des Gedichts im Umgang mit der Sprache fand, um so problematischer wirkte sein Verhalten. Freilich, im 19. Jahrhundert blieb der Stimmungston trotz seiner Desillusionierung durch Heine noch lange herrschend: er drängte nur stärker zu einer möglichst konkreten Gefühlssituation und damit zugleich zu einer genaueren sprachlichen Umgrenzung durch Motive und Bilder. Storm setzte seinem Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius, dieser repräsentativen Lyriksammlung des 19. Jahrhunderts, noch 1870 eine die
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Auswahl begründende Bemerkung voran, die die Lyrik wieder ganz vom sangbaren Lied her begriff. Die Einheit von Sprache und Empfindung erschien ihm als der bestimmende Wesenszug, weil man - wie er sagt vom Kunstwerk »wie vom Leben unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden« will. Die Unmittelbarkeit der Gefühlssprache hat er damit als das entscheidende Kriterium von neuem bestätigt.10 Mit den Gedichten Conrad Ferdinand Meyers, auf die er durch Gottfried Keller so eindringlich aufmerksam gemacht wurde, konnte er sich deshalb nicht befreunden; er sagt recht unwirsch: »Ein Lyriker ist er nicht, dazu fehlt ihm der unmittelbare, mit sich fortreißende Ausdruck der Empfindung oder auch wohl die unmittelbare Empfindung selbst« (22.12.1882). Er erwartet von jedem »Gedichtbuch« vor allem ein »Liederbuch«. 11 So geht er an der kunstbewußten Lyrik vorbei, die die Distanz zur Empfindung sucht oder — wie Hegel sagt — den Geist in der Empfindung befreit. Seine eigenen Gedichte besitzen gemütsbewegende Kraft, weil sie vom Erscheinungsbild aus einen Seelenzustand wachrufen und die Erinnerungstiefe des persönlichen Lebens mitschwingen lassen. Ein Blatt aus sommerlichen Tagen, Ich nahm es so im Wandern mit, Auf daß es einst mir möge sagen, Wie laut die Nachtigall geschlagen, Wie grün der Wald, den ich durchschritt.
Solche Verse haben ihre eigene Melodie. Aber seine Forderungen an die Lyrik - so sehr sie auch einer communis opinio entsprechen mochten und lange nachwirkten — sind nicht geeignet, der lyrischen Überliefe10
Theodor Storm klagt in seinen Briefen an Gottfried Keller, daß ein Urteil im Punkt der Lyrik »so unglaublich selten sich findet«; »das Ohr für den Naturlaut fehlt«. Er tadelt die Gedichte Leutholds: »Ihm fehlt das >Tirili»Die Mappe meines Urgroßvaters< und ihre Bedeutung im Zusammenhang von Stifters Werk und Weltanschauung«, in: Neophilologus 30, 1946, S. 172—184; wiederabgedruckt in: van Stockum, Von Friedrich Nicolai bis Thomas Mann. Aufsätze zur deutschen und vergleichenden Literaturgeschichte, Groningen 1962, S. 193-214. Die eingehende Analyse der Erzählung und ihrer biographischen Bezüge läßt freilich das für die »Mappe« so entscheidende Motiv des Mißverhältnisses zwischen subjektiver Vorstellung und objektiver Wirklichkeit unberücksichtigt. Stefl, Urfassung (Anrn. 4), S. 6.
Stifters Erzählung »Die Mappe meines Urgroßvaters«
die Gegenwart aufschrieb und mein Petschaft darauf drückte mit dem Schwüre, es erst in drei Jahren zu lesen ... Da das erste geöffnet wurde und da ich es nun so las, lachte und weinte ich fast, denn alles war anders geworden, als ich dachte ... Was ich bin und ward, das bin und ward ich durch diese Pakete«.7 Es geht also doch nicht nur um den TagebuchRahmen um verschiedenartige Erzählungen, sondern um eine eigentümliche Bedingung, die eine besondere Distanzierung vom Geschehenen ermöglicht. Das Aufgeschriebene soll immer erst nach drei Jahren wieder gelesen werden, um sich dadurch in seiner Fragwürdigkeit und Unangemessenheit gegenüber den Ereignissen zu enthüllen. Die Mappe entlarvt den Schreibenden oder doch die ihn in der jeweiligen Gegenwart bestimmenden Gefühle und Erwartungen in ihrer bedenklichen Subjektivität und führt auf das Mißverhältnis von Sein und Bewußtsein zurück. In der Studienfassung erhält dieses symbolische Motiv verstärktes Gewicht. Nun heißt es von dem »Mittel für mein Heil«: »Es besteht darin, daß einer sein gegenwärtiges Leben, das ist, alle Gedanken und Begebnisse, wie sie eben kommen, aufschreibt, dann aber einen Umschlag darum siegelt und das Gelöbnis macht, die Schrift erst in drei bis vier Jahren aufzubrechen und zu lesen«. Über das Ergebnis dieses Verfahrens heißt es: »Alles war anders geworden, als ich einst gedacht hatte; vieles besser, manches schlechter - aber jedes irdischer und wahrer, als es sich einmal vorgespiegelt hatte, meine Ansichten waren gewachsen und gereift, und ich hatte die heftigste Begierde, sie gleich wieder in einem neuen Packen niederzuschreiben ... Ach, ich wußte damals noch nicht, weil es das erste Päckchen war, das ich geöffnet hatte, daß es mir bei jedem so ergehen würde ... Es ist merkwürdig, daß ich mir erst durch diese angeratene Beschäftigung eine Denkweise, eine Rede- und Handelsweise zugebildet habe ... Ich lernte nach und nach das Gute von dem Gepriesenen unterscheiden und das Heißerstrebte von dem Gewordenen«.8 Hier ist deutlich ausgesprochen, in welcher Weise die eigentümliche Bedingung, unter der die Niederschrift der eigenen Gedanken steht, der Selbsterkenntnis dient. Sie macht die Unsicherheit der Gefühle und Vorstellungen bewußt, hilft zur Unterscheidung von Wunsch und Wirklichkeit und befördert das Heranreifen des Menschen. - In der letzten Fassung wird der Sinn dieser Bedingung noch entschiedener er7
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Ebd., S. 20. Stifters gesammelte Werke, Leipzig o.J., Bd. i: Studien, S. 40of.
Stifters Erzählung »Die Mappe meines Urgroßvaters«
läutert; nun ist es »das Mittel, von dem ich glaube, daß ich ihm alles verdanke, was ich geworden bin«. Wenn man das Geschriebene wieder liest, »sei alles anders und man lerne erst, wie man gewesen« ... Jede neue Situation scheint nur neue Täuschungen zu bewirken: »Die rechten Ansichten waren beim Öffnen eines Päckchens oft nicht mehr die rechten, und es wurden die neuen niedergeschrieben. Und so ging es fort. Ich habe mir durch diese Beschäftigung erst eine Redeweise und Handlungsweise zugebildet... ein Päckchen erzählte mir später die Sache, wie sie gewesen ist, und wie ganz anders dachte ich von ihr, als da sie sich vor meinen Augen zugetragen hatte. So wurde ich mitten im Kriegsleben ein Mensch, der ich sonst vielleicht nicht geworden wäre«.9 Die Bedingung, unter der die Aufzeichnungen niedergeschrieben wurden, erscheint nun als die eigentliche Voraussetzung der Humanität; sie macht den Menschen erst zum Menschen; ihr verdankt er alles, was er geworden ist, weil sie den Unterschied zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit hervortreten läßt. Man könnte geneigt sein, darin so etwas wie ein Selbstbekenntnis des reifen Stifter zu erblicken, als wollte er dem ihm so lange vertrauten Motiv noch einmal verstärkten Nachdruck geben, als habe er mit diesen Sätzen auf ein von ihm geübtes Verfahren verwiesen, das in enger Beziehung zur Thematik und Erzählweise seiner eigenen Schriftstellerei steht. Die Einsicht in die Bewußtseinsproblematik wird ausdrücklich als Bedingung des Menschseins wie aller dichterischen Bemühungen hervorgehoben. Aber wie sollen wir dieses Mittel genauer verstehen? In welchem Sinn kann das Niederschreiben der Gedanken und Empfindungen zur Menschwerdung helfen, wenn sich doch das Niedergeschriebene immer wieder als unzulänglich erweist und die vermeintlich rechten Ansichten eben nicht die rechten sind? Wie soll sich gerade dadurch eine eigene »Denkweise« bilden, eine »Redeweise« und »Handlungsweise«? Diese Problematik scheint um so schwerer auflösbar, als ja die im Anschluß an die Mappe des Urgroßvaters erzählten Geschichten selber nicht der Bedingung entsprechen, unter der die Niederschriften standen. Sie geben nicht eine Folge von wechselnden Situationen und Ansichten, die durch die nachfolgenden überholt und entwertet werden, sondern erzählen vielmehr von zwei Lebensläufen, dem des Obristen und dem des Arztes, in denen die durch die Niederschriften gewonnene Einsicht in die Veränderlichkeit des Denkens und Fühlens zur Voraussetzung einer andersarStißers Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 12, S. 2o6f. 52
Stifters Erzählung »Die Mappe meines Urgroßvaters»
tigen Lebensführung wird. Erst wenn man auf diese Diskrepanz achtet, wird die durch das Motiv der Mappe bewirkte Umkehr im erzählerischen Verfahren deutlich. Denn der gestellten Bedingung entspricht viel eher der traditionelle Roman als die Erzählweise Stifters. Der Wilhelm Meister z. B. konfrontiert die verschiedenen Lebensabschnitte des Helden und stellt immer den einen durch den folgenden in Frage. Sie entlarven einander wechselseitig und rücken dadurch in eine ironische Beleuchtung, so daß man über sie fast in einem Atem »lachen und weinen kann«. Das angegebene Prinzip entspricht also der epischen Ironie und der Erzählweise des neuzeitlichen Romans als eines Entwicklungsromans, der mit jeder erreichten Stufe die vorangehenden desillusioniert. Sofern aber dieses Erzählprinzip bei Stifter nur noch als Voraussetzung eines andersartigen Verhaltens erscheint, kann die Einsicht in die der Subjektivität gesetzten Grenzen die Bedingung einer Erzählhaltung werden, die dem Verlangen nach epischer Objektivität nachgibt und sie an die Stelle der Ironie treten läßt. Das Motiv der Mappe ist nicht nur ein erzählerisches Mittel der Distanzierung durch einen Rahmen, sondern vor allem das Strukturprinzip eines Erzählens, das die ihm zugehörige Ironie aufhebt und dadurch die Aufgabe, die epische Objektivität zurückzugewinnen, dringlich macht. Sobald nun freilich die Erzählung sich auf die Objektivität der Vorgänge richtet und im Sinne des alten Epos das Verhältnis von Mensch und Schicksal darzustellen sucht, entsteht nur wieder die Problematik, die die Subjektivierung des Romans bewirkte und rechtfertigte. Denn diese Schicksale entziehen sich dem menschlichen Begreifen und führen den Menschen nicht auf sich und das ihm zugehörige Eigentum zurück. Sie drohen ihn der Beliebigkeit und Nichtigkeit zu überantworten, da sie nicht mehr zu einer überschaubaren und gläubig anerkannten Ordnung gehören. Die Rückkehr in den alten Mythos ist dem modernen Erzähler versperrt. So bleibt Stifter auf die kritische Situation des Romans bezogen; auch bei ihm droht das Erzählen seinen objektiven Boden zu verlieren. Die Subjektivität des Erlebens reicht nicht mehr aus, da sie sich im Wechsel der Zeitperspektiven in ihre eigenen Widersprüche ironisch auflöst; der Rückweg in die epische Objektivität scheint ein Wunschtraum zu bleiben, da die nach Sinngebung verlangenden Schicksale als ein unbegreifliches Geschehen aus aller menschlich vertrauten Ordnung herausführen. Das Erzählthema der »Mappe« zeugt damit von einer merkwürdigen Bedrängnis: es geht um die Art, wie der Mensch den ihn zerstörenden Katastrophen begegnen und von ihnen noch erzählen kann. 53
Stifters Erzählung »Die Mappe meines Urgroßvaters«
Der Verlust der geliebten Frau wird in der Lebensgeschichte des Obristen wie des Doktors gewissermaßen zum Exempelfall, an dem sich ausweisen muß, wie sich vom menschlichen Leben noch erzählen läßt, wenn die subjektive Gefühlsäußerung nicht zureicht und das Schicksal in seiner Fremdheit den Menschen seines Eigenwertes beraubt. Damit wird der Tod der Frau zum Drehpunkt der Geschichte des Obristen nicht nur, sondern auch der Erzählweise. Sie stürzte auf einer Gebirgswanderung in einen Abgrund, den sie auf einer Holzriese zu überqueren suchte: »Sie lag unten zerschmettert«, »ein armseliges Häufchen zerquetschter Glieder«. Der Zurückbleibende vermag das Geschehene nicht zu begreifen: »als ich die Augen wieder hob, da standen die Berge und Wälder, aber sie waren fremd - eine andere Sonne schien darauf und eine leere, fremde Luft spannte sich über sie«. Das Leben ist durch den Verlust des geliebten Menschen fremd geworden und läßt den Zurückbleibenden ohne Antwort, so daß er sich auf sich zurückgewiesen sieht und zwischen Empörung und Selbstüberwindung hin- und hergerissen wird. Der Obrist grübelte, »wozu denn nun der Herr des Himmels gerade das, gerade das getan, gerade das - aber als er keine Antwort gab, und liebreich seine Sonne, seine Sterne, seinen Regen und Tau, seine goldenen Früchte alle heraufRihrte, da erkannte ich, wie mein Unglück in diesem unermeßlichen Haushalte eigentlich ein unbedeutend Ding sei, ein Verlust, wie der einer kleinen goldnen Mücke — ja nicht einmal ein Verlust, so wie das Senfkorn, das in lockeres Erdreich fällt, vergeht, aber nicht verloren ist«.10 Die Nichtigkeit des Menschen und seiner Erwartungen scheint in der Katastrophe offenkundig zu werden; der einzelne gilt nicht mehr als eine Mücke, deren Verlust ein »unbedeutend Ding« bleibt. Er kann sich nur noch dadurch behaupten, daß er den »unermeßlichen Haushalt« als solchen anerkennt und darauf vertraut, daß das Verlorene schließlich doch nicht verloren ist. Das Wort vom Senfkorn klingt an das biblische Gleichnis an, aber doch nur so, wie dem »unermeßlichen Haushalt« der Natur der »Herr des Himmels« zugeordnet wird. Der Entschluß, »so sanft, so gut zu sein«, wie die Verstorbene es war, weist auf eine Möglichkeit der Selbstüberwindung, ohne schon ihren Sinn zu erkennen zu geben. Denn zunächst drängt sich nur die Verfremdung des Lebens als Folge des Geschicks auf. Diese Lebensgeschichte des Obristen erläutert das sie umrahmende Mahnwort: »Vor Gottes Augen macht es einen geringen Unterschied, ob du bist oder nicht - das 10
Stefl, Urfassung (Anm. 4), S. 26-32.
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Stifters Erzählung »Die Mappe meines Urgroßvaters«
merke dir, Augustinus«." Aber schon am Anfang der Erzählung wird die Empörung abgewehrt: »wenn der andere Vater etwas tut, was uns entsetzliches Unheil deucht, so schreien wir, es sei gänzlich vom Argen, und rechnen es ihm als pures Unding an, statt daß wir sagen: wie groß muß Ziel und Zweck der Allheit sein, daß dies mein grenzenlos Unglück bloß ein Schrittlein der großen Reise ist, und ach - vielleicht nur ein unbedeutendes«. Die Fragwürdigkeit der Subjektivität und die Fremdheit der Natur, beide lenken den Blick auf eine erhabene Macht, die sich dem Menschen zwar verbirgt, aber als Bedingung seines Daseins anerkannt sein will. So kehrt in allen Fassungen die Schilderung dieser Fremdheit des Lebens mit ähnlichen Worten wieder. Das den Menschen erschütternde und seine Existenz bedrohende Ereignis bleibt der Drehpunkt der Erzählung wie des erzählerischen Verfahrens. Nachdem der Obrist seine Gattin verloren hat, heißt es in den späteren Fassungen: »Und der Tag verging, und der nächste verging und immer mehrere vergingen, und die Sonne stand am Himmel, die Getreide wuchsen, die Bäche rauschten, nur daß sie dahin war, und daß es war wie der Verlust einer goldenen Mücke. Und wie ich in jener Zeit fast mit Gott haderte, hatte ich nichts, gar nichts, als daß ich mir fest dachte, ich wolle so gut werden wie sie und wolle tun, wie sie täte, wenn sie noch lebte«.12 Die Fremdheit des Geschehenen bleibt das zentrale Thema, wenn auch die subjektive Klage zurückgedrängt wird und statt dessen das Gleichmaß der Verrichtungen, der Wechsel der Tage und ihrer Forderungen stärker zur Geltung kommen, wie sie schon das Dasein der Verstorbenen bestimmten. Der »Zweck der Allheit« bleibt verborgen, aber er wirkt im Gleichmaß des Daseins. So kann schon in der Studienfassung die Bestürzung über die Katastrophe auf eine allgemeine Betrachtung zurückführen, die als erste Eintragung des Doktors im Lederbuch den gesamten Erzählhorizont begrenzt. Die Verflechtung des Schicksals mit dem Gang der Natur verweist nicht nur auf eine verborgene Macht, sondern zugleich auf die Verantwortung des Menschen, der durch sein Denken und Tun immer auch das Schicksal herbeiruft oder zu bannen vermag. »Man sagt, daß der Wagen der Welt auf goldenen Rädern einhergeht. Wenn dadurch Menschen zer" Ebd., S. 9 u. 36. 12 Letzte Fassung, Stifters Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 12, S. 219; vgl. Studienfassung (Anm. 8), S. 472.
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Stifters Erzählung »Die Mappe meines Urgroßvaters«
drückt werden, so sagen wir, das sei ein Unglück; aber Gott schaut gelassen zu, er bleibt in seinen Mantel gehüllt und hebt deinen Leib nicht weg, weil du es zuletzt selbst bist, der ihn hingelegt hat; denn er zeigte dir vom Anfange her die Räder, und du achtetest sie nicht. Deswegen zerlegt auch der Tod das Kunstwerk des Lebens, weil alles nur Hauch ist und ein Reichtum herrscht an solchen Dingen. - Und groß und schreckhaft herrlich muß das Ziel sein, weil dein unaussprechbar Wehe, dein unersättlich großer Schmerz nichts darinnen ist, gar nichts — oder ein winzig Schrittlein vorwärts in der Vollendung der Dinge. Das merke dir, Augustinus, und denke an das Leben des Obrist«.'3 In der letzten Fassung wird diese Betrachtung bis an das Ende des ersten Bandes hinausgeschoben und zu dem Vorbild des Johannes Kepler in Beziehung gebracht, »der stets die Sterne des Himmels betrachtete, um ihr Wesen zu ergründen«. »Da er die Gesetze der Bewegungen der Wandelsterne auf das genaueste gefunden hatte und darstellen konnte, rannen ihm die Tränen von den Augen und er sagte: O du geliebter Gott, wer bin ich denn, daß du mich würdigst, dir deine Welt nachdenken zu können? ... Da wurde er wieder verhöhnt, und man nannte ihn einen Narren. Dann kamen die Einsichtigen, forschten seinen Forschungen wieder nach und sagten, es sei so«. Das Verfahren des Naturforschers steht in betonter Parallelität neben dem des Erzählers; wie jener die Himmelsbewegungen beobachtet, um ihre Gesetze zu erkennen, so richtet sich dieser auf die menschlichen Schicksale, um ihr Wesen im Zusammenhang der dem Menschen zugeordneten Welt zu ergründen und bewußt zu machen. So erhalten die Worte der Studienfassung nur noch größere Bestimmtheit: »Das Geschick fährt in einem goldenen Wagen. Was durch die Räder niedergedrückt wird, daran liegt nichts ... Wenn ein Volk dahingeht und zerstreut wird und das nicht erreichen kann, was es sonst erreicht hätte, so wird ein anderes Volk ein Mehreres erreichen ... Und wenn du deinem Herzen wehe getan hast, daß es zucket und vergehen will, oder daß es sich ermannt und größer wird, so kümmert sich die Allheit nicht darum und dränget ihrem Ziele zu, das die Herrlichkeit ist. Du aber hättest es vermeiden können oder kannst es ändern und die Änderung wird dir vergolten; denn es entsteht nun das Außerordentliche daraus«.14 13 14
Studienfassung, Stifters gesammelte Werke (Anm. 8), S. 442. Letzte Fassung, Stifters Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 12, S. 24yff.; der Vergleich mit Kepler taucht auch in Stifters Briefen auf und liegt um so näher, als Stifter seine eigene Situation in Linz zu Keplers dortiger Stellung in Parallele setzte. So schreibt er am 29. Februar 1856: »Vielleicht wird man einmal diesen Brief lesen, und die im Mutterleibe 56
Stifters Erzählung »Die Mappe meines Urgroßvaters«
Es geht in solchen Sätzen nicht so sehr um Schicksalsvorstellungen oder Glaubensüberzeugungen Stifters, als vielmehr um den Horizont, in dem das Erzählen zur Geltung kommt. Das Erzählenswerte begegnet weder in der Subjektivität des Erlebnisses noch in der Faktizität der Schicksale, da es vielmehr darauf ankommt, wie sich das Ich jener »Allheit« zuordnen kann, die als eine fremde Natur ihre Ziele verbirgt und die Einzelexistenz mit Gleichgültigkeit behandelt. Es genügt nicht die subjektive Brechung des Humors oder der Ironie; aber es fehlt auch die objektive Ordnung einer Mythologie, die dem Menschen seinen Platz anwiese. Es bleibt nur übrig, das dem Menschen zugehörige Dasein mit seinen alltäglichen und ständig wiederkehrenden Lebensformen erzählenswert zu machen, um die Einsicht in den Gang der Dinge zu steigern und dadurch die epische Objektivität zurückzugewinnen. So kann sich nun als drittes Motiv in der Umarbeitung das erzählerische Interesse immer mehr auf die unscheinbaren Vorgänge im heimatlichen Lebenskreis verlagern, nicht eigentlich um ihrer Beschreibung willen, sondern als die das Bewußtsein erfüllende Bilderwelt, die auf die verborgene Ordnung verweist. Es entsteht eine eigene Art der Selbstbesinnung, die in der Studienfassung ausdrücklicher gekennzeichnet wird, wenn es heißt: »Man muß die Gebote der Naturdinge lernen, was sie verlangen und was sie verweigern; man muß in der steten Anschauung der kleinsten Sachen erkennen, wie sie sind und ihnen zu Willen sein. Dann wird man das Wachsen und Entstehen erleichtern«.15 Die Aufmerksamkeit richtet sich immer entschiedener darauf, wie die Dinge des Lebens — und das sind immer zugleich die menschlichen Dinge — ihre eigene Gesetzlichkeit haben und vom Menschen beachtet sein wollen, wenn sie ihn nicht zerstören sollen. Die Leidenschaft macht den Menschen blind, sofern sie ihn daran hindert, die ihm zugehörige Welt mit reinen Sinnen aufzufassen. Nur der wissende Mensch wird zur Selbstüberwindung bereit, indem er den Dingen dient. So heißt es in der ersten Fassung: »denn Sanftmut und das Gold der Vernunft ist es, wodurch wir über die Erde herrschen und herrschen sollen«. Es kann nicht mehr genügen, »mit Gefühlen« zu sehen oder zu erzählen; denn das getöteten Kinder bedauern, dann wird es zu spat sein, wie es bei Kepler zu spät war, der auch in diesem unseligen Linz lebte.« (Stifters Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 18: Briefwechsel, hrsg. von Gustav Wilhelm, 2. Aufl., Reichenberg 1941, S. 314.) - Vgl. dazu die Nachweise in den Anmerkungen S. 482!".; auch ders., »Ein Gutachten Adalbert Stifters«, in: Euphorion 40, 1939, S. 113-115, bes. S. 113, und Lunding (Anm. 2), S. 242. Studienfassung, Stifters gesammelte Werke (Anm. 8), S. 599.
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leidenschaftlich erregte, sich selbst überlassene Herz droht den Menschen zu zerstören. Im Hintergrund der Erzählung wird deshalb auf die Gefährdung des Menschen durch den Selbstmord verwiesen. Der junge Doktor scheint bereit, sich zu töten, als er sich von der Geliebten trennen soll und Margaritha ihm absagt: er stand vor einer alten Birke, des festen Willens sich daran zu erhängen; aber in diesem Augenblicke lernte er »das wilde Roß, sein Herz, etwas bändigen und leiten«.10 Es geht nicht mehr um das Ich als solches, sondern um die Ordnungen, in denen es sich selbst erfährt und die das Gleichmaß der Tage bestimmen. So ist es für die späteren Umarbeitungen der »Mappe« kennzeichnend, daß sie den Augenblick der zerstörerischen Leidenschaft nicht mehr zum Ausgangspunkt des Erzählens nehmen, sondern auf die unscheinbaren Vorgänge des alltäglichen Verhaltens zurückbeziehen. Wenn in der ersten Fassung von der Krise schon auf der fünften Seite erzählt wird, so taucht sie in der letzten Fassung erst nach 200 Seiten auf, ohne daß die Selbstmordgedanken noch ausgesprochen würden. Es heißt nur noch, »auf der Steinwand glänzten fürchterliche Dinge und Flimmer in der Sonne«.' 7 Schon in der Studienfassung war eine stärkere Distanzierung wirksam geworden, sofern die Geschichte von der Wiederauffindung des Lederbuches selbstgenugsamer zur Geltung kam und erst nach 20 Seiten auf das besondere Erlebnis des Urgroßvaters verwiesen wurde. Offenbar gewinnen die verschiedenen Fassungen dadurch Bedeutung, daß sie den leidenschaftlich erregten Augenblick immer mehr in das Gleichmaß der Vorgänge einlagern. Die epische Objektivität hilft dazu, die Distanz zwischen dem subjektiven Gefühl und der den Menschen beanspruchenden Wirklichkeit zu vergrößern. Die Kunst Stifters besteht fortan darin, auf die Spannung der Vorgänge zu verzichten und statt dessen die Spannung des Ungesagten herauszuarbeiten. Die Ordnung des Ganzen, die als solche unbegreiflich bleibt, ist auf den Mitvollzug durch den Menschen angewiesen, der sich ihr in der Leidenschaftlichkeit seines Gefühls widersetzen kann, um dadurch aber nur sich selbst und die ihm verbundenen Menschen zu gefährden. Diese Distanzierung kommt in dem Maße erzählerisch zur Geltung, wie Stifter von den individuellen Schicksalen zu den beständigen Vorgängen des Lebens hinüberlenkt. Das geschieht in der ersten Fassung nur im Schlußteil der Erzählung, in dem Kapitel »Das Scheibenschießen zu Stefl, Urfassung (Anm. 4), S. 10; vgl. S. 21 f. ' 7 Letzte Fassung, Stifters Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 12, S. 193.
Stifters Erzählung »Die Mappe meines Urgroßvaters«
Pirling«. Das Verfließen der Jahre macht hier das Gleichmaß des Lebens erkennbar und bindet Jugend und Alter zusammen. »Es ist alles so, wie es einst vor zwanzig und mehr Jahren war«. Der Erinnerungsraum des Menschen gibt ihm einen Rückhalt durch die Wiederkehr der gewohnten Lebenssituationen und Vorgänge. In der zweiten Fassung wird diese Erinnerungssituation schon für den Rahmen und den Erzähler als den Nachfahren des Doktors wichtig; vor allem aber kommt das Gleichmaß des Lebens durch dessen Lebensbericht zu breiter Entfaltung; das Kapitel »Margaritha« führt nur sehr langsam an die kritischen Tage heran, umfaßt nun über 120 Seiten und erzählt zunächst, wie der Doktor in die Heimat zurückkehrt, sich als Arzt einrichtet und einen schweren Winter mit einem beängstigenden Eisregen erlebt, dann mit dem Obrist zusammentrifft und dessen Tochter kennenlernt. Erst durch die Schilderung des Alltäglichen und Gewohnten oder durch die Sitte Geforderten wird das Besondere und Bedrohende in seinem Gewicht spürbar und die Bedeutung der Selbstüberwindung erkennbar. In der letzten Fassung wächst die Gelassenheit des Erzählens noch mehr an, indem auf die in der zweiten Fassung weggelassenen Episoden aus den Studienjahren des Doktors »Von den zwei Bettlern« zurückgegriffen wird und die Chronologie des Lebenslaufs die ruhige Entfaltung aller Daseinsbezüge ermöglicht.
II
Wenn sich derart an den verschiedenen Fassungen der »Mappe« ein sehr bewußtes Kunstwollen und eine Stifter eigentümliche dichterische Verfahrensweise ablesen läßt, so bleibt zu fragen, wie sich diese Praxis zu seiner Dichtungslehre und Kunstanschauung verhält. Zwar ist er kaum ausdrücklicher als Theoretiker hervorgetreten; entsprechende Pläne blieben in Ansätzen stecken; aber seinen Briefen und beiläufigen Äußerungen lassen sich doch sehr bestimmte Überzeugungen entnehmen. Sie stehen in der Tradition einer humanistischen Dichtungsgesinnung, berufen sich gern auf das Vorbild der Alten, besonders Homers, und sprechen aus besonderer Verehrung Goethes. So zeugen sie von der weiterwirkenden Kraft einer religiös gestimmten Schönheitslehre, wie sie seit Winkkelmann zur Geltung kam. Aber eine erhellende Bedeutung gewinnen sie erst in dem Maße, wie sie Stifters Verlangen nach epischer Objektivität rechtfertigen. 59
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Noch bis weit in seine Mannesjahre hinein hatte er sich vor allem an Jean Paul orientiert, wie er auch dessen metaphorischen Stil noch lange pflegte. Als Dreißigjähriger verglich er sich 1836 in zwei Briefen mit Schoppe - der Gestalt aus Jean Pauls Titan - und gab damit zu erkennen, wie sehr er sich einem gesteigerten Subjektivismus überantwortet hatte, in dem sich Gefühl und Bewußtheit gegenseitig hemmten. Er habe »gar keine Aussicht, in Zukunft glücklicher zu werden, da dieser Schoppicismus mit den Jahren zunimmt«, heißt es am 17.6.1836. Und einige Monate später beschwor er einen Freund, ihm zu vertrauen: »Fielen dir denn nicht eher alle Schoppeismen und Parokitäten (!) meines Charakters ein als der Gedanke an Erkaltung?« (9.12.1836). l8 Man könnte meinen, daß Stifter in dem Maße eine schriftstellerische Selbständigkeit gewann, wie er diesen »Schoppicismus« überwinden lernte, ja daß seine Schriftstellerei sich erst in dem Augenblick Bahn brach, als er jenseits der wechselnden Gefühlszustände nach den beharrenden Formen menschlichen Daseins zu fragen begann. Als er 1840 zunächst mit dem »Condor« und dann den »Feldblumen« hervortrat, bescheinigte man ihm zwar noch, daß er unleugbar in Form und Stoffwahl ein »Jean Paulianer« sei, zugleich begann jedoch sein Bemühen um eine »Einfachheit« der Darstellung, die den Umarbeitungen der frühen Erzählungen für die Studien ihr Gepräge gibt.'9 Schon im Frühjahr 1841, bei der Ausarbeitung des »Hochwald« kündigt sich das neue Stilideal an, wenn das Erzählen nun »ein einfach schön Ergießen« sein soll, »ohne dem koketten Herumspringen, das mich in den Feldblumen ärgert« (6. 3.1841). In diesem Zusammenhang will auch die Bearbeitung der »Mappe« gesehen sein. Wenn sie durch Jahre hindurch als eine Hauptaufgabe in den Mittelpunkt seiner Schriftstellerei rückte und schließlich doch nur als »Bruchstück« in den Druck ging, so lag das offenbar daran, daß Stoff und Thema zwar festlagen, aber die Erzählhaltung, durch die das Jugendleben des Doktors bis zu seiner Heirat hin erst bedeutsam wurde, zum eigentlichen Problem geworden war. Durch das Erzählen sollte die im Thema angelegte Subjektivität der Erlebniszustände überwunden und auf eine höhere Einheit bezogen werden, die erst das eigentlich Menschliche 18
ly
Für die Jugendbriefe vgl. Adalbert Stifters Jugendbriefe 1822-1839, m ursprünglicher Fassung aus dem Nachlaß hrsg., ergänzt u. mit einer Einleitung versehen von Moriz Enzinger, Nürnberg 1954. Sonst werden die Briefe zitiert nach: Stifters Sämtliche Werke (Anm. 4), Bde. 17-24: Briefwechsel Bde. 1-8. Franz Stelzhamer in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, 1840, zitiert in den Anmerkungen zu Stifters Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 17, S. 357.
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zu erkennen gibt. Nur deshalb konnte Stifter sich fünf Jahre lang, von 1842 bis 1847, um den Text bemühen und das Ergebnis doch wieder kritisch in Frage stellen: »Daß ich die Mappe, mein Lieblingskind, wie Sie sagen, so strenge beurteile, kömmt eben daher, weil sie mein Lieblingskind ist und ich an demselben nur das Klarste, Edelste, Schönste sehen möchte« (1.3.1847). Im Erzählen soll die gefährdete Subjektivität doch zugleich auf jene Klarheit und Einfachheit verweisen, die das Kunstwerk zum Zeugen jener Schönheit macht, die den Menschen an ein Höheres, Göttliches bindet, durch das er seines Maßes innewird. So soll sich das Werk am Vorbild der Alten bewähren: die Erzählung des »Obrist« »muß graniten sein« und könnte dann als das erste Stück gelten, »was man etwa klassisch nennen konnte«. »In anspruchloser Einfachheit und in massenhaft gedrängtem Erzählen muß ein ganzes Leben und einer der tiefsten Karaktere liegen ... Aus einem Bogen Material ist ein Blatt Text geworden, damit mir die Figur so eisenfest bleibe, wie ich ihre Form beabsichtige« (25.12.1844). Damit ist eine Erwartung ausgesprochen, die über alle stilistischen Einzelheiten hinweggreift, weil durch die Darstellung eine Selbstvergewisserung des menschlichen Daseins gelingen soll, wie sie die antike Kunst zu leisten vermochte. Aber diese Erwartung bleibt im Widerstreit zum Erreichten, so daß Stifter 1847 nur in den Druck einwilligt, weil er auf eine weitere Umarbeitung hofft. Damals schreibt er seinem Verleger: »Das Buch gefällt mir nicht ... Ich wollte drei Karaktere geben, in denen sich die Einfachheit, Größe und Güte der menschlichen Seele spiegelt, durch lauter gewöhnliche Begebenheiten und Verhältnisse geboten - wäre es gelungen, dann hätte das Buch mit der Größe, mit der Einfalt und mit dem Reize der Antike gewirkt ... Der Leser würde in dem Buche fort gehen zwischen allbekannten geliebten Dingen und sachte gebannt und eingezirkelt werden, so wie man im Frühlinge in warmer Luft in allseitigem Keimen in glänzender Sonne geht und glückselig wird, ohne sagen zu können, wodurch man es geworden ... Lassen wir nun dieses Bruchstück wie es ist: Ich werde allmälig an dem Dinge arbeiten und endlich das ganze Werk rein gefeilt, geordnet, vollendet und geklärt in ihre Hände geben ... Die Leute werden bei der Schönheit des Neuen ... darauf vergessen, daß sie das schon einmal gelesen haben« (16.2.1847). Diese Sätze fassen zusammen, was Stifter durch sein Dichten zu erreichen suchte: Mensch und Natur sollen sich wechselseitig erhellen, aber so, daß sich am unscheinbaren und alltäglichen Verhalten die bestimmenden Seelenkräfte zu erkennen geben und dadurch das Kunstwerk die Einfachheit und Größe ge61
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winnt, die der Schönheit eigentümlich ist. Es sind Forderungen, wie sie Stifter noch in einer seiner letzten Erzählungen, »Nachkommenschaften« (1864) umschreibt, wenn dort der Maler in das unscheinbare Moor hinausgeht, »die wirkliche Wirklichkeit« darstellen möchte und alle Bedenken abwehrt, es sei »ein Fehler, wenn man zu wirklich das Wirkliche darstelle«, als ob man dann allen »dichterischen Duft der Arbeit« zerstöre. Die Wirklichkeit, die hier erreicht werden soll, ist nicht die beobachtbare Faktizität als solche, sondern jenes lebendige Ganze, mit dem sich der Mensch verbunden weiß und durch das er sich auf Gott gewiesen sieht: denn »in der Welt und in ihren Teilen ist die größte dichterische Fülle und die herzergreifendste Gewalt. Macht nur die Wirklichkeit so wirklich wie sie ist.« Dieser Mahnung sucht Stifters Erzählen gerecht zu werden, auch wenn er sich der Kluft zwischen Anspruch und Erfüllung bewußt bleibt und mit seinem Bestreben nur zu erkennen gibt, in welchem Sinn es ihm auf eine objektive Erzählhaltung ankommt. Da jene »wirkliche Wirklichkeit« als das »Wesen der Dinge« sich nur durch subjektive Vermittlungen zu erkennen gibt, bleibt die Frage, wie sie trotzdem erzählerisch zur Geltung kommen kann. Die bei der Bearbeitung der »Mappe« auftauchenden Gesichtspunkte kehren in allen theoretischen Äußerungen Stifters über die Aufgabe der Kunst und Dichtung wieder, nur daß in ihnen die Einheit von Kunst und Religion, Kunst und Sitte stärker betont wird. Dabei zeigt sich noch deutlicher, wie das Bemühen um die Einfachheit und Ruhe des Schönen, um das Maß des Natürlichen vor allem darauf gerichtet ist, die Subjektivität der individuellen Bewußtseinssituationen auf die ihnen voranliegenden allgemeinen Lebensvorgänge zurückzubeziehen. Um sich gegen Hebbels Verfahren abzugrenzen, betont Stifter, daß alle großen Bilder, scharfen Gedanken oder tragischen Blitze einem Letzten harmonisch dienen sollen, der »Darstellung der objektiven Menschheit als Widerschein des göttlichen Waltens« (21.8.1847). Entsprechend rühmt er Grillparzers Novelle vom »Armen Spielmann«, weil sie »menschliche Größe in dem schwächsten, zerbrechlichsten Gefäße« aufzeigt; denn »jede Größe ist einfach und sanft, wie es ja auch das Weltgebäude ist« (Juli 1847). Einem befreundeten Maler, der einen Wallenstein malen möchte, rät er als einer »objektiven« Natur, nicht Schillers Trauerspiel, sondern den historischen Wallenstein zugrunde zu legen. Denn »Schiller ist so subjektiv, daß selbst in diesem bedeutenden Werke trotz aller Objektivität, die er hier anstrebte ..., alle Personen lauter Schiller sind und mit seiner Sprache reden, nicht mit ihrer. Das sind modern denkende 62
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fühlende sprechende Figuren« (13.1.1854). Wieder setzt er damit voraus, daß es in der Kunst nicht genügen kann, ein individuelles Temperament zum Ausdruck zu bringen, sondern daß es darauf ankommt, »in die Sache als solche« einzugehen und dadurch das Besondere und »Moderne« mit dem Allgemeinen und Zeitlosen zu verknüpfen. Daß damit eine eigene Problematik entsteht und das Verlangen nach dem Objektiven in sich zweideutig bleibt, hat Stifter freilich nicht übersehen. In dem Aufsatz »Die Poesie und ihre Wirkungen« weist er auf die Gefahr hin, daß der Dichter »das Zufällige für das Wesentliche nehmen« wird, »das zunächst ihn Berührende für das Allgemeine«, so daß das vermeintlich Objektive sich nur wieder als ein Subjektives entlarvt.20 Es kann sich offenbar nicht darum handeln, eine zeitlose Norm durchzusetzen, sondern im subjektiv Konkreten das Walten des Allgemeinen sinnenfällig zu machen. Wenn schon die Kunst als Darstellung des Schönen verstanden werden soll, so genügt es doch nicht, »daß jeder sein eigenes Schöne habe« und also das Schöne nur subjektiv wäre; vielmehr geht es um »ein Allgemeines, welches in den Gesetzen der menschlichen Natur liegt« und insofern um »die großen und ewigen Empfindungen der Menschheit«. Vom Individuellen und Subjektiven muß der Dichter zum Ganzen einer Welt hinführen. Denn »das höchste Schöne ist die Welt. Wenn der Mensch schafft, so ahmt er Stücke derselben nach, und weil das Nächste er sich selber ist, so sind es menschliche Leiden und Freuden, es sind menschliche Gefühle und Zustände, die er in das Naturganze verflicht«. Das Objektive liegt nicht in einer vom Menschen unabhängigen Sachlichkeit, sondern in der Rückbeziehung des Einmalig-Besonderen auf das Naturganze, zu dem der Mensch selbst gehört und in dem er seine sittliche Freiheit bewahrt oder verliert. Damit hat Stifter aus der ihm von Jean Paul, E. T. A. Hoffmann oder Tieck her geläufigen Situation des modernen Romans sehr eigene Folgerungen entwickelt. Er bleibt sich dessen bewußt, daß das eigentliche Erzählenswerte nicht die Fakten und Ereignisse, sondern die Bewußtseinsvorgänge sind, daß das subjektive Vorstellungsleben eigentümlich an der faktischen Wirklichkeit vorbeizuführen vermag und den Menschen in eine Traumwelt der Wünsche und Leidenschaften verlockt, bis er sich selbst zu zerstören droht. Aber diese Bewußtseinsvorgänge mit ihren Ka20
Unter dem Obertitel »Über die Behandlung der Poesie in Gymnasien« ist nur ein erster Teil mit dem Titel »Die Poesie und ihre Wirkungen« ausgearbeitet worden. Vgl. Stifters Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 16: Vermischte Schriften. Dritte Abteilung, hrsg. von Gustav Wilhelm, Reichenberg 1927, S. 301-318, bes. S. 3 i r f .
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tastrophen lassen bei ihm die Frage auftauchen, ob denn nicht trotz des so subjektivierten Weltverhältnisses eine »wirkliche Wirklichkeit« und wahre Natur bestehen bleibt, an der der Mensch Anteil hat und die in seinem Verhalten und Vorstellen ständig mit gegenwärtig ist. So wird es sinnvoll, daß er sich an die unscheinbaren und alltäglichen Situationen hält, an die »gewöhnlichen Begebenheiten und Verhältnisse«, an den Menschen als das »schwächste und zerbrechlichste Gefäß«, um dessen selbstverständlichen und unreflektierten Zusammenhang mit dem »Naturganzen« vorzuführen. Er begnügt sich nicht mit den sich vordrängenden Bewußtseinsvorgängen der Hoffnungen und Leidenschaften, sondern lenkt zurück auf jene wenig beachteten, aber immer schon wirksamen Vorstellungsgehalte, wie sie alle menschliche Tätigkeit, die täglichen Verrichtungen und Beziehungnahmen, als Sitte oder Überlieferung, begleiten. Die subjektive Bewußtseinsproblematik sieht sich damit zurückgewiesen auf einen objektiven Lebensgehalt der immer schon vorgegebenen Grundsituationen menschlichen Daseins. Der Dichter im Sinne Stifters soll deshalb nicht nur seinen Gefühlen lauschen, sondern muß sich »um die Gegenständlichkeit der Welt kümmern« und die »Erweiterung unserer Kenntnisse« für sich nützen. Denn »mit jeder neuen Kenntnis wächst der Dichtkunst ein Arm zu«, so daß sie in allen sich wandelnden Bewußtseinssituationen doch das lebendige Ganze zur Darstellung bringen kann. Die Leistung der Kunst besteht geradezu darin, im Wechsel der Weltverhältnisse die Macht des Schönen lebendig zu halten und die alte Aufgabe neu zu erfüllen: »Wenn neue Kenntnisse der Dichtkunst hinderlich werden, so ist es nur meist die Schuld der Dichter selber, die ... es nicht verstehen, sie in eine dichterische, glänzende Waffe in ihrer Hand umzuwandeln, wodurch es geschieht, daß sie in ihren alten Vorstellungskreisen bleiben, die Menschheit aber durch neue Anschauungen in neue gerät und ihre alten Sänger nicht mehr versteht oder nicht mehr liebt«. So sucht Stifter zwischen »neuen Kenntnissen« und »alten Vorstellungskreisen« zu vermitteln, aber nicht indem er sich den begrenzten Zwecken der Tendenzschriftstellerei zur Verfügung stellt, sondern nach der bleibenden Aufgabe fragt. Mit dem Bestreben des »jungen Deutschland«, die »Tagesfragen und Tagesempfindungen in die schöne Literatur zu mischen«, kann er nicht einverstanden sein, da er im Gegenteile meint, »daß das Schöne gar keinen anderen Zweck habe, als schön zu sein, und daß man Politik nicht in Versen und Deklamationen macht, sondern durch wissenschaftliche Staatsbildung ... und durch zeitbewußte Taten« (9.1.1845). Wohl bleibt 64
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es wichtig, einen den »neuen Kenntnissen« entsprechenden Vorstellungskreis zu entwickeln, aber nicht um der begrenzten Tageszwecke willen, sondern um den »höchsten irdischen Zweck«, »die Ausbildung des Menschen als Menschen« und also die »Humanität« zu befördern. 21 Die Kunst bleibt bei ihm auf ein mittelbares Verhältnis zu den Kenntnissen und Aufgaben des jeweiligen Tages bezogen und macht sie erst dadurch fruchtbar, daß sie sie in den Vorstellungskreis einbezieht, in dem sich der Mensch als Mensch erfährt. Damit ist der Horizont erkennbar, in dem das griechische Vorbild für Stifter besondere Bedeutung erhielt: es machte ihm das Verhältnis von Mensch und Natur in beispielhafter Weise anschaubar. So schrieb er im Rückblick auf seine persönliche Entwicklung: »In reiferen Jahren nahm ich wieder die Alten vor und lernte sie bis zum heutigen Tage immer höher achten« (16. u. 1846). Das »Studium der Alten« hatte ihm die Nichtigkeit der »Modepoesie« und ihres »Funkulirens« lebhaft gezeigt (22.4.1850). Er kennt kein größeres Lob seiner eigenen Arbeiten, als daß man sie mit antiken Werken vergleicht; er freut sich besonders, als ein Fremder ihm sagt, die Bunten Steine seien »mit Xenophontischer Klarheit und Einfachheit geschrieben«. Er bestätigt ausdrücklich, daß seine »Kunstbildung auf der griechischen Kunst hauptsächlich ruht« (12.6.1856). An Eichendorffs »Julian« schätzt er wohl das »romantische Talent«, aber er meint doch, daß das Gedicht noch schöner wäre, wenn es »mehr Klarheit der antiken Welt« hätte (2. 3.1854). Sein Liebling unter den Alten ist Homer, an dem er sich zum eigenen Dichten stärkt und dessen »unglaubliche Kraft und Gewalt« er seinem Verleger rühmt; dieser möge doch wenigstens »Vossens Übersetzung des Odysseus« lesen: »obwohl holperig und dem Originale weit nachstehend, ist das Werk auch in dieser Gestalt so groß, daß alle neueren Dichter nicht davor bestehen können« (n. 12.1853). Man spürt bei derartigen Äußerungen, wie sehr Stifter in seinem Schaffen daraufgerichtet blieb, eine seinem eigenen Zeitalter angemessene Nachfolge der Alten und besonders Homers zu erreichen. Immer geht es dabei um jene Einfachheit und Klarheit, die dem Erzählen erst die epische Objektivität gibt. Als er die Reisebeschreibung des Erzherzogs Ferdinand Maximilian zu lesen bekommt, fühlt er sich an Homer erinnert, weil er alles Geschilderte »sinnlich greifbar« vor sich sieht und ihn die »wärmste kräftigste Poesie« anspricht; er zitiert eine kleine Episode und meint: »das Trinken an der Quelle im Walde in Albanien mit dem Bereiftwerden des 21
Ebd., 5.314.
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Silberbechers ist fast ein homerischer Vers« (2.12.1856). Er fand hier eine Sorgfalt in der Beachtung des Unscheinbaren, die auch seinen eigenen Erzählungen einen homerischen Zug geben mochte. Aber zugleich blieb er sich dessen bewußt, daß die rechte Nachfolge nur gelingen kann, wenn sie auf die eigene Welt mit ihren andersartigen Lebensverhältnissen zurückfuhrt. Er sagt: »Der Dichter, der heute den alten ähnlich werden will, muß seine wie sie ihre Welt kennen. Weil aber dies schwerer ist als einst, weil man durch Menge und Mannigfaltigkeit der Teile nicht leicht zum Ganzen kömmt, was aber zum Dichten nötig ist, weil es daher so selten in Wirklichkeit tritt, so erklärt sich die Erscheinung, daß uns die Alten trotz unseres mannigfaltigen Vorschreitens in Kenntnissen und Erfahrungen doch in der Kunst weit voraus sind«.22 Hier spricht die Wehmut, von der Stifters eigenes Dichten überschattet blieb, die Zurückhaltung, mit der er das in seinem Werk Erreichte beurteilte, ja der Verzicht, sich in einem entschiedeneren Sinn als Dichter anzusehen, und die Scheu, sich mit den großen Gestalten der europäischen Dichtungsgeschichte zu vergleichen. Er konnte statt dessen nur auf Goethe verweisen, dem er solche Ebenbürtigkeit mit den Alten wohl zuerkannte, gerade weil er bei ihm — in Hermann und Dorothea und der Iphigenie vor allem - jene Einfachheit und Klarheit des Schönen fand, die er verehrte und erstrebte. So konnte er schreiben: »Ich bin zwar kein Goethe aber einer aus seiner Verwandtschaft, und der Same des Reinen, Hochgesinnten, Einfachen geht aus meinen Schriften in die Herzen« (13.5.1854). Wenn er derart Goethe als das eigentliche Bindeglied zwischen dem antiken Vorbild und den eigenen Erwartungen verehrte, wird man beachten müssen, wie sehr seine Kunstanschauung und die ihr zugehörige Praxis sich mit den Vorstellungen und Lehren berühren, die Wilhelm von Humboldt in seinen Ästhetischen Versuchen »Über Goethes Hermann und Dorothea« entwickelte. Zwar hat Stifter nicht — so weit ich sehe — ausdrücklich auf diese Schrift verwiesen; aber seine Vertrautheit mit ihr ist um so sicherer anzunehmen, als er selber das Goethesche Epos besonders hoch schätzte und ein ausgedehntes Studium der Ästhetik betrieben hatte.23 Die Parallelität zwischen Humboldt und Stifter ist jedenfalls so " Ebd., 8.313. 23 In einer »Beilage zu dem Gesuch um Bewilligung öffentlicher Vorträge über Ästhetik« vom 18. März 1847 bemerkt Stifter über die geplanten Vorträge: »sie werden auf Grundlage zwanzigjähriger Studien und Beobachtungen gehalten, aus denen ich mir selber wohl Auszüge, Abschriften, Zusammenstellungen und endlich eine Skizze meiner Vor-
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groß, daß sie noch einmal verdeutlichen kann, in welchem Sinn die epische Objektivität bei beiden zum entscheidenden Kriterium wird. Hier wie dort soll »die schlichte Einfachheit des geschilderten Gegenstandes und die Größe und Tiefe der dadurch hervorgebrachten Wirkung« das Kunstwerk auszeichnen.24 Der Dichter ist - nach Humboldts Worten - »nie mit etwas andrem als mit seinem Gegenstande beschäftigt ..., nie tritt er in seiner eignen Individualität hervor, nie schweift er in eine eigne Betrachtung oder eine eigne Empfindung aus«.25 Nur darum erscheint Homer als das unerreichte Vorbild, weil er wie kein anderer »das ganze Leben der Phantasie vorzuführen« weiß. »Nicht bloß in seinem ganzen Gedicht, in jedem einzelnen Gesänge, fast in jeder einzelnen Stelle liegt das ganze Leben offen und klar vor uns da ... Daher die beruhigende Wirkung, die jedes rein gestimmte Gemüt bei der Lesung der Alten erfährt«.26 Nur so vermag der Mensch »sein Verhältnis zu der Welt und dem Schicksal« ganz zu übersehen. Damit ist der Sinn jener Objektivität schon gekennzeichnet, die der epischen Erzählung ihre dichterische Kraft geben soll. Unabgelenkt von subjektiven Empfindungen und Betrachtungen muß der Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen vorstellbar werden. Humboldt betont ausdrücklich, daß kein Begriff in der Theorie der Kunst so wichtig ist, als der der Objektivität. Aber zugleich macht er darauf aufmerksam, daß diesem Begriff eine Vieldeutigkeit zugehört, die nicht nur durch einen irrigen Gebrauch entsteht, sondern in der Sache selbst gegründet ist. Denn das Objekt der Kunst ist - wie er sagt - »nie ein wirkliches Objekt«, da die Kunst innerhalb des Kreises der Einbildungskraft bleibt und es ihr nur auf die Beziehungsnahme zwischen Natur und Mensch, Sache und Person ankommt. Die Objektivität muß also als ästhetische Objektivität in der Art dieser Beziehungsnahme liegen und träge gemacht habe«. Vgl. Stifters Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 14: Vermischte Schriften. Erste Abteilung, hrsg. von G. Wilhelm, 2. Aufl., Reichenberg 1933, S. 3O4ff. u. 426ff. Zu diesen »Studien« wird auch die Schrift Wilhelm von Humboldts »Über Goethes Hermann und Dorothea« gehört haben, die 1843 in den Gesammelten Werken, j Bde., hrsg. von C. Brandes, Berlin 1841-1852, Bd. 4, wieder gedruckt worden war. Stifters Verehrung für Wilhelm von Humboldt kommt in dem Lesebuch zur Förderung humaner Bildung zum Ausdruck, das er mit Johannes Aprem 1854 herausgab; dort hat er mehrere Stücke aus Humboldts Briefen an eine Freundin, zuerst 1847 erschienen, abgedruckt. Vgl. Faksimiledruck des Lesebuchs, hrsg. von Max Stefl, München und Berlin 1938 (Schriften der Corona XVIII), S. 308-321. 24 W. v. Humboldt, Gesammelte Werke (Anm. 23), Bd. 4, Kap. i, S. 13. 25 Ebd., S. 14. -n Ebd., Kap. 8, S. 29. 67
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nicht einfach den »wirklichen Gegenstand« außerhalb der Dichtung meinen. Das Gedicht gewinnt seine Objektivität erst durch die »Bestimmtheit, mit der es einen rein durch die Einbildungskraft erzeugten Gegenstand hinstellt«.27 Nur in solchem Sinn ist die Anschaulichkeit und Lebendigkeit der Schilderung wichtig: »überall ist Handlung und Gestalt ...; wir erblicken die reinen Formen sinnlicher Gegenstände«; aber zugleich hängt die einzelne Schilderung mit allen übrigen zusammen und wird durch sie mitbestimmt, so daß derselbe Geist das Ganze des Gedichts durchdringt. Dem entsprechend liegt auch die Objektivität Stifters nicht in der sachlichen Beschreibung einer bestimmten Landschaft oder besonderer Lebenszustände, sondern in der Vergegenwärtigung einer Beziehung zwischen Mensch und Natur, die alle besonderen Schicksale und Katastrophen mit den bleibenden Lebensformen und täglichen Verrichtungen in Austausch bringt. Es ist nicht jene Objektivität, von der später Spielhagen sprach, als er den Objektivitätsbegriff der Naturwissenschaften auf den Roman zu übertragen suchte und darunter die durchgeführte Kausalmotivation verstand. Für Stifter bleibt im Sinne Humboldts die epische Objektivität auf die anschauende Vergegenwärtigung jenes Lebensganzen bezogen, das immer zugleich konkret bestimmt und undurchschaubar auf die tätige Verantwortung des Menschen zurückfuhrt. Damit wird verständlich, in welcher Weise Stifters Erzählungen an der Ausbildung eines poetischen Realismus Anteil haben. Die epische Objektivität schafft hier die Voraussetzung, um die Erfahrungswirklichkeit des täglichen Lebens zur Geltung zu bringen, nicht um das Einzelschicksal auf die konkreten Bedingnisse der Umwelt und Vererbung zurückzurechnen wie im späteren Naturalismus, sondern um das individuelle Verhalten mit jenen unscheinbaren Vorgängen im Zusammenhang zu zeigen, die das Maß des Menschlichen bestimmen. Stifter selber hat gelegentlich von seiner Sorge gesprochen, daß er sich zu sehr der Idylle überlassen könnte, und deshalb dem geplanten historischen Roman besondere Bedeutung zuerkannt, als würde in ihm das »Tragische« zur Geltung kommen, das man in den »idyllischen Sachen« vermißte. So äußerte er sich 1850, als die Studien erschienen waren und die Bunten Steine in Druck gehen sollten; und im gleichen Sinn schrieb er noch wieder, als der Nachsommer zum Abschluß kam, 1856: »Der Wittiko muß aber jetzt folgen ..., daß des Idyllischen nicht zu viel wird«.28 Aber dieses idyllische Vgl. ebd., Kap. 14, bes. S. 45. Stifters Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 18, S. 40 (20.3.1850) und S. 314 (29.2.1856).
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Moment seines Erzählens besitzt doch ein eigenes Recht, gerade weil er mit seiner Hilfe eine neue Wirklichkeitsnähe gewann. In welchem Sinn das Idyllische mit der epischen Objektivität zusammenwirken konnte, läßt sich wieder von Wilhelm Humboldt aus verdeutlichen; denn als dieser das Verhältnis der Idylle zur »Epopee« bestimmte, hob er als ihr Thema die Naturverbundenheit des Menschen heraus: »Unter dem Namen der Idylle pflegt man den ganzen Teil der Poesie zusammenzufassen, welcher mehr ein häusliches Familienleben als eine Existenz in größeren Verhältnissen, mehr ruhige als unternehmende Charaktere, mehr sanfte und friedliche Gesinnungen als heftige Aufwallungen und Leidenschaften schildert und vorzugsweise bei der Freude an der Natur und in dem engen, aber lieblichen Kreise unschuldiger Sitten und einfacher Tugenden verweilt«.29 So bringt die Idylle als eine eigene Dichtungsart eine besondere »Empfindungsweise« zur Geltung; sie läßt die »lieblichste und anmutigste Seite der Menschheit, ihre Verwandtschaft mit der Natur hervortreten« und entspricht damit einer Seite der im Menschen angelegten Doppelnatur; sie kommt überall da zur Geltung, wo der Mensch »mit seinem physischen Dasein geradezu übereinstimmt« und sich nicht »zuerst von demselben losmacht, um reicher und gebildeter dazu zurückzukehren«. In der Idylle ist der Mensch »gleichsam an dem Boden festgewurzelt, der ihn erzeugt hat, und gehört selbst als ein Glied zur physischen Natur, nur daß er nicht aus der Not an sie gefesselt, sondern freiwillig durch Liebe mit ihr verbunden ist«.30 Man möchte meinen, daß damit der Horizont gekennzeichnet ist, in dem die Figuren der Erzählungen Stifters sich bewegen, auch wenn sie im Sinne der Epopee zur »Darstellung einer Handlung« gehören. Denn immer bleibt bei ihm der Anspruch bestehen, daß die Handlungsfreiheit des Menschen erst dadurch in ihrem Recht erkennbar wird, daß sie sich ihrer »Verwandtschaft mit der Natur« bewußt bleibt. Das Thema der Idylle nötigt ihn schon von sich aus zur Objektivität des Erzählens und ermöglicht den ihm eigenen Realismus. Zugleich wehrt sich Stifter aber gegen das Mißverständnis, als seien seine »idyllischen Sachen« auf eine selbstgenugsame Genremalerei gerichtet, als könne man ihn als einen »Kleinmeister« abtun, wie es 1855 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung geschah, während es ihm doch nur darum ging, »das Reich des Hohen und Wahren zu verbreiten« "y W. v. Humboldt, Gesammelte Werke (Anrn. 23), Kap. 67, bes. S. 180. 10 Ebd., S. 182. 69
Stifters Erzählung »Die Mappe meines Urgroßvaters«
(3.4.1855). Erst dieses »Hohe« rechtfertigt die Selbstgenügsamkeit des Kunstwerks, die sich weder durch konfessionelle oder politische Ansprüche begrenzen noch als Kleinmalerei auf eine vorgegebene Dingwelt einschränken läßt. So hatte sich Stifter schon in seinen Anfängen gegen eine Besprechung »Über die Kunstausstellung in Wien im Jahre 1836« gewandt, die »keine andere Kunst gelten ließ, als christliche, katholische, nur das sei würdig, jedes andere Genremalerei« (17.6.1836). Hier waren Overbeck, Cornelius, Philipp Veit als »die Wiederhersteller der christlichen Malerkunst« gerühmt worden, die die »einzig wahre« Bahn eingeschlagen hätten, auf der ihnen Kupelwieser, Führich, Steinle folgten. Demgegenüber betonte Stifter, daß ihm das »Kunstwidrige« jener »so gelobten altdeutschen Bilder« aufgegangen sei.3' Und wie er sich gegen eine traditionsgebundene Kunst im Sinne einer katholisierenden Romantik wandte, grenzte er sich auch gegen die politische Tendenzliteratur des jungen Deutschland ab, gegen ihre Art, die »Tagesfragen und Tagesempfindungen in die schöne Literatur zu mischen«.32 — Es bleibt dabei, daß seine Darstellungsweise aus der Bildungssituation der Goethezeit ihre eigenen Folgerungen zieht und dem klassischen Humanitätsideal eine neue Wirklichkeitsnähe gibt. Mit Hilfe der epischen Objektivität und der Thematik der Idylle gelingt es ihm, die Bewußtseinsproblematik eines subjektivierten Lebensverständnisses zu der dem Menschen vorgegebenen Ordnung eines ebenso unscheinbaren wie alltäglichen Daseins in Beziehung zu setzen und dadurch der Erzählkunst einen hohen Rang zu geben. Im Sagen des Objektiven bleibt das Bewußtsein als das Nichtgesagte ständig gegenwärtig, weil das Objektive sich nur in ihm greifen läßt und ihm gerade deshalb wieder zu entgleiten droht.
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Stifters Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 17, S. 54. Ebd., S. 138 (9.1.1845). 70
Theodor Storm und Fontäne Ein Beitrag zur Funktion der Erinnerung in Storms Erzählkunst
Theodor Storm hat von früh an seine Erzählinhalte gern in einen Erinnerungshorizont gestellt, als lohne es nur, von dem zu erzählen, was das innere Vorstellen seit langem beschäftigt hat und im Wechsel der Zeiten als lebendiges Bild weiterwirkt. Aber seine erinnerte Welt ist kaum noch die unsere; seit der letzten seiner großen Erzählungen, dem »Schimmelreiter«, sind 80 Jahre vergangen, in denen nicht nur die äußeren Lebensumstände und gesellschaftlichen Erwartungen sich grundlegend gewandelt haben, sondern auch die Erzählkunst. Selbst wenn sie den Erinnerungshorizont festhält - wie bei Proust -, richtet sie sich weniger auf einzelne Erinnerungsgehalte als vielmehr auf das kaleidoskopische Wesen des Erinnerns, auf seine Beziehung zu wechselnden Erwartungen und Bedürfnissen, auf seine Mehrdimensionalität und Widersprüchlichkeit zwischen beglückender Illusion und verführerischem Trug. Was bedeuten demgegenüber Storms Erinnerungsbilder von einer ländlich umfriedeten Heimat, den selbstbewußten Charakteren und herben Frauen, ihren Schicksalen und Vergänglichkeitsstimmungen? Wie können wir sie in unsere eigene Erinnerungswelt aufnehmen und ihre Lebendigkeit rechtfertigen? Vielleicht hilft es, auf Storms Ausgangssituation zurückzublicken und sich seiner Begegnung mit Theodor Fontäne in Berlin zu erinnern und nach den Erwartungen zu fragen, die ihren Austausch ermöglichten. Beide fühlten sich als Vertreter einer neu heraufkommenden Generation und hatten gerade ihre ersten Bücher erscheinen lassen. Storms Sommergeschichten und Lieder wurden im gleichen Jahr, 1851, veröffentlicht wie Fontanes erste Gedichtsammlung. Beide waren sich ihres Zusammenhangs mit den seit dem achtzehnten Jahrhundert wirksam gewordenen literarischen Traditionen bewußt und verstanden ihr Dichten als einen Beitrag zu einem erneuerten Welt- und Lebensverständnis, das ein welt* In: Wege zum neuen Verständnis Tlieodor Storms. Vorträge und Referate zum 150. Geburtstag, Heide 1968 (Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 17), S. 85-93.
Theodor Storm und Fontäne
immanentes Naturverhältnis rechtfertigte und die alten Gesellschaftsund Glaubensordnungen in Frage stellte. Sie waren auf die Generation der Jungdeutschen, besonders auf Heine, aufmerksam geworden und suchten im Gegensatz zur Transzendentalpoesie der Romantik eine neue Wirklichkeitsnähe. So haben beide im Zeichen des vielberufenen Realismus begonnen. Als sie 1852/1853 miteinander in persönlichen Austausch kamen, verstanden sie sich als Gleichstrebende, die von ähnlichen Voraussetzungen ausgingen. Die Verschiedenheit ihrer Temperamente, ihrer Herkunft wie auch ihrer ersten dichterischen Äußerungen war unverkennbar; aber sie sahen zugleich das Gemeinsame, so daß sie sich wechselseitig durch einander erläuterten. Sie sprachen beide davon, daß sie ihrem Dichten die Wirklichkeitsnähe nur durch den Rückgang auf die Subjektivität geben könnten. So ist es ebenso reizvoll wie aufschlußreich, die Äußerungen beider über einander genauer zu verfolgen. Storm hatte nach der Besetzung Schleswig-Holsteins durch die Dänen seine Heimat verlassen müssen und bei einem ersten Besuch in Berlin im Winter 1852 Fontäne und dessen Freundeskreis kennengelernt; es bahnte sich ein brieflicher Austausch an, vor allem, weil Fontäne den gleichaltrigen Poeten als Mitarbeiter an dem von ihm herausgegebenen Jahrbuch Argo gewinnen wollte. Storm schickte denn auch im Frühjahr 1853 die Novelle »Ein grünes Blatt« und einige Gedichte, so daß das literarische Gespräch in Gang kam, das nach Storms Übersiedlung zunächst nach Berlin und dann nach Potsdam im Herbst 1853 zu freundschaftlichem Austausch führte. Schon im Sommer 1853 hatte Fontäne einen ausführlichen Artikel über Storms erste Dichtungen verfaßt, als die wohl früheste Würdigung seines Schaffens überhaupt. Auch in dem Essay über »Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848« hatte er Storm als Dichter des Realismus gerühmt und Heine und Mörike als seine Vorbilder bezeichnet. Storm seinerseits veröffentlichte 1855 einen Aufsatz über Fontäne, in dem er ihn als einen Balladendichter kennzeichnete, der sich die altenglische Ballade zum Vorbild nimmt und überall »die starke und eigentümliche Subjektivität« hervortreten läßt.1 Das Verhältnis von Realismus und Subjektivität erscheint damit als das eigentliche Thema ihrer literarischen Erörterungen. Es erhellt ihre persönlichen Beziehungen ebenso wie die verschiedenartigen KonseTheodor Storm, »Theodor Fontäne«, zuerst in: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes 2, 18. . 1855, S. 85ff. Zitiert wird nach: Theodor Storm, Sämtliche Werke in acht Bänden, hrsg. von Albert Köster, Leipzig 1923, Bd. VIII, S. 100.
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quenzen, die sie aus ihrer Ausgangssituation entwickelten. Sofern sie in der Argo sich als »Argonauten« vereint wußten, verstanden sie unter dem von ihnen gesuchten »goldenen Vließ« doch sehr Verschiedenes.2 Was sich zunächst in der Einschätzung der preußisch-berlinischen Lebensführung an Gegensätzen äußerte, führte bald - im Sommer 1854 — nicht nur zu einer persönlichen Entfremdung, sondern auch zu unterschiedlichen dichterischen Erwartungen. Storm meinte, daß man in Berlin »den Schwerpunkt nicht in die Persönlichkeit, sondern in Rang, Titel, Orden und dergleichen Nipps legt«, während Fontäne betonte, daß es nirgends so wenig eine »exklusive Gesellschaft« gäbe wie in Berlin und »die großen und ewigen Dinge des Lebens, Freiheit, Unabhängigkeit, Glauben, Sitte, Familie« dort noch immer opferbereite Verteidiger gefunden hätten.3 Die verschiedene Beurteilung der »Persönlichkeit« oder der »Gesellschaft« wirkte je länger je mehr auf die der Dichtung zuerkannten Aufgaben zurück. Storm wehrte sich gegen den »preußischen Menschenverbrauch im Staatsmechanismus« und rief statt dessen das Bild der Heimat, »der lieben friedlichen Gegend, beschienen vom warmen Jugendsonnenschein« vor sein »inneres Auge«.4 Fontäne dagegen bekannte, daß seine Vorliebe seit frühester Jugend die »Historie« gewesen sei und er über sich selbst nur aus der Perspektive seiner Figuren heraus sprechen könne: »Das Lyrische ist meine schwächste Seite, wenn ich nicht aus einer von mir geschaffenen Person heraus dies und das zu sagen versuche«.5 So kündigen sich die Unterschiede früh an; um so aufschlußreicher ist es aber, in welcher Weise sie voneinander sprechen. Dabei war Fontäne derjenige, der von Anfang an bereit ist, die besondere poetische Leistung Storms anzuerkennen und der noch in seinen Lebenserinnerungen hervorhebt, daß in dessen Werken alles was »zu Herzen Gehendes« habe und »das Gegenteil von Phrase« herrschend sei.6 In dem frühen Essay grenzte er ihn gegen die »vielen literarischen Meßreisenden« ab, die mit einer »gewissen Zeitungseilfertigkeit« arbeiten. »Der faule Fleck unserer Literatur ist die Überproduktion; selbst ent1
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Vgl. Th. Storm, Briefe an seine Frau, hrsg. von Gertrud Storm, Berlin 1915, S. 10 (15.9.1853). Vgl. Th. Storni, Th. Fontäne, Briefe der Dichter. Erinnerungen von Tlieodor Fontäne, Einfuhrung u. Erläuterungen von Erich Gülzow, Reinbek 1948, S. 21 (an Fontäne, 23.3.1853); ebd., S. 68f. (an Storm, 2. 5.1853). Vgl. Theodor Storm's Briefe in die Heimat ÜHS den Jahren 1853-1864, hrsg. von Gertrud Storm, Berlin 1907, S. 42f. (an seine Eltern, 7. 5.1854). Storm, Fontäne, Briefe (Anm. 3), S. 99, (an Storni, 14.2.1854). Ebd., »Erinnerungen von Theodor Fontäne«, S. 28.
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schiedene Talente gehen daran zu gründe.« Storm habe ihnen gegenüber das eine voraus, »ein Dichter zu sein«.7 In der »Zeit der fabrizierten Poesie« begegne bei ihm eine »wirkliche, herzgeborne und -gebotene«.8 Dabei zeichne ihn - wie er noch 1877 in einer Kritik der späteren Schriften schrieb — die »Sorglichkeit« aus, mit der er jeweils wartet, »bis er das eine Wort gefunden hat, das ... genau das sagt, was gesagt werden soll«.9 Er habe die »jedes Wort zur Rechenschaft ziehende Gewissenhaftigkeit« gekannt, von der die Brüder Goncourt sprachen.10 Wenn seine Stoffe auch einem »ziemlich engbegrenzten Kreise« angehören, so gewinnen sie doch ihre Wahrheit durch »jene feinen, nie zu erfindenden Züge«, die auch den Naturschilderungen ihren Reiz verleihen.11 Poetische Stimmung und gewissenhafte Treue und Wahrheit sieht er in seinen Situationsschilderungen verbunden; er rühmt diese Mischung als das eigentlich »Stormsche«, »als Verkörperung von etwas ganz besonderem in der Poesie«, als eine »Art Gattungsbegriff«, wie er gleich in seinem ersten Brief vom 8.3.1853 sagte.12 Diese Stormsche Gattung der Poesie entsprach offenbar Fontanes Erwartungen von einem neuen Realismus, der sich nicht an stofflichen Inhalten, sondern an der Wahrheit der subjektiven Empfindungen orientiert. Er ging davon aus, daß die Wirklichkeit nicht als ein vorgegebenes Faktum zur Verfügung steht, das der Dichter nur abzuschildern braucht; er verlangte vielmehr nach einer »Widerspiegelung ... aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst«'3 und sah sich damit auf das durch die Subjektivität bestimmte Wirklichkeitsverhältnis verwiesen, wie es die an die Erinnerung gebundene Erzählweise Storms zu erhellen versprach. Wenn — wie Fontäne sagt - die eigene Zeit durch ihren Realismus gekennzeichnet ist,'4 so muß sich auch in der Kunst das Verlangen äußern, den konkreten Erfahrungen, wirklichen Bedürfnissen und materiellen Fragen zu entsprechen und auf das bloße Spekulieren 7
Vgl. Th. Fontäne, Sämtliche Werke, Abt. 1-4, hrsg. von Edgar Groß und Kurt Schreinert, München 1959-64, Bd. XXI,i: Literarische Essays und Studien i. T., ges. u. hrsg. von K. Schreinert, 1963, »Theodor Storm« (1853), S. 1431". * Storm, Fontäne, Briefe (Anm. 3), S. 73 (an Storm, 13.8.1853). 9 Vgl. Fontäne, Werke (Anm. 7), Bd. XXI,i, »Theodor Storm, Gesammelte Schriften« (1877), S. 152. 10 Vgl. Storm, Fontäne, Briefe (Anm. 3), »Erinnerungen von Th. Fontäne«, S. 42. " Vgl. Fontäne, Werke (Anm. 7), Bd. XXI,i, »Theodor Storni«, S. 146. [i Storm, Fontäne, Briefe (Anm. 3), S. 56 (an Storm, 8.3.1853). '·' Vgl. Fontäne, Werke (Anm. 7), Bd. XXI,i, »Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848«, S. 13. 14 Ebd., S. 7.
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zu verzichten. Aber sie kann sich nicht mit der »nackten Wiedergabe alltäglichen Lebens« begnügen und sich nicht auf die »bloße Sinnenwelt« einschränken, sondern sucht das menschlich Wahre und richtet sich deshalb gegen »die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene«.IS Er versteht diesen Realismus als einen Realismus des Bewußtseinslebens, der von sich aus auf die Subjektivität des Wirklichkeitsverhältnisses zurückfuhrt. Die subjektiven Vorstellungen und Gefühle, Erwartungen, Enttäuschungen, Absichten und Ziele sollen sich in ihrer eigenen Wirklichkeit zu erkennen geben oder als bloßer Schein entlarvt werden. Damit wird verständlich, in welchem Sinn Fontäne Storms Subjektivität betont, die »Weichheit einer Poetenseele«, den »Reichtum an Empfindung« und die »Macht seiner Überzeugung«, seine »Tiefe und Innerlichkeit«, um ihn zugleich den neuen Realisten zuzurechnen.' 6 Er sagt: »Sein Wesen ist rein lyrischer Natur«;' 7 er meint damit offenbar, daß Storm durch die subjektiv erinnerte Welt seinen eigenen Wirklichkeitsbezug zu erkennen gibt. Auch die »lokalpatriotische Husumerei«, die sich — nach Fontäne - »durch seine ganze Produktion hindurchzieht«,' 8 erhält so ihren eigenen Sinn, als Rechtfertigung oder Bewährung einer Subjektivität, die sich auf ihren eigenen Erfahrungsraum verwiesen sieht, sich in ihm verwirklicht, ohne ihn im Sinn einer fragwürdigen Verabsolutierung der Heimat mythisieren zu können oder zu wollen. Storms Äußerungen über Fontäne bleiben demgegenüber karger und zurückhaltender; sie führen ihn rasch auf die ihn selbst beschäftigenden Dichtungsprobleme zurück, vor allem auf die Frage nach dem Recht des lyrischen Dichters. Wohl ruft er den Angehörigen in der Heimat zu: »Wollt Ihr ... Freund Fontäne liebgewinnen, so lest die Novelle James Monmouth und die prächtigen Percyballaden«.'9 Er spricht davon, daß Fontäne »seine Helden niemals aus dem Banne und der Atmosphäre einer empfindungsvollen Begeisterung« entläßt, und nennt seine Erzählung eine »Ballade in Prosa«.20 So scheint es, als wollte er an dem Freund die gleiche Subjektivität hervorheben, die jener bei ihm gefunden hatte, und auch ihn als »wesentlich lyrische« Dichternatur kennzeichnen. Aber aufschlußreicher ist der Horizont, in den er seine Würdigung Fontanes s
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s y :0
Ebd., S. I2f. Ebd., »Theodor Storm«, S. 142, 150. Ebd., S. 146. Vgl. Storm, Fontäne, Briefe (Anm. 3), »Erinnerungen von Th. Fontäne«, S. 32. Vgl. Storm's Briefe in die Heimat (Anm. 4), S. 30 (an seine Eltern, 19. 12. 1853). Vgl. Storm, Sämtliche Werke (Anm. i), Bd. VIII, »Theodor Fontäne«, S. 99, 104.
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Theodor Storm und Fontäne stellt. Er geht von der Meinung aus, daß »das Höchste in der Poesie« gerade nicht in ihrer Subjektivität, sondern vielmehr in dem Eigenleben der Charaktere und Handlungen und also in ihrer Objektivität zu finden sei. Den Dichter solle die Fähigkeit auszeichnen, »den Stoff lediglich aus sich selber zu entwickeln und die Gestalten seiner Phantasie ... völlig abgetrennt und selbständig von sich handeln und leben zu sehen«. Dementsprechend erscheint es ihm als beunruhigend und bedenkenswert, wenn wir in einem Werke »stets und unabweisbar die Persönlichkeit des Autors, die eigentümliche Art seines Geistes und Gemütes so empfinden, daß wir darüber zu einem ungemischten Interesse an dem behandelten Stoffe nicht gelangen können«.21 Das eigene lyrische Temperament Storms oder auch dasjenige Fontanes scheint also der epischen Objektivität abträglich zu sein und damit den Erwartungen von einer Dichtung zu widerstreiten, die nicht nur einen Wirklichkeitsbezug widerspiegeln, sondern das dem Stoff zugehörige Eigenleben entfalten soll. Die erzählbare Fabel droht die Erinnerungsbilder zu entwerten und mit der eigenen Produktivität in Widerspruch zu geraten. Noch im Hinblick auf Fontanes Reiseberichte aus London vermerkt Storm, daß sie nicht sowohl eine Darstellung der Dinge selbst geben, »als vielmehr des Eindrucks, den sie ihm zurücklassen«.22 So stellt sich die Frage, in welcher Weise das subjektive Erlebnis und die vorgegebene Faktizität derart aufeinander bezogen werden können, daß eine kunstgerechte Wirklichkeitsnähe entsteht. Es ist das Problem, das die für Storm und Fontäne gemeinsame, fruchtbare Ausgangsposition bildete und dann von beiden auf jeweils eigene Weise bewältigt wurde. Denn dieses durch die Subjektivität bestimmte Wirklichkeitsverhältnis konnte auf verschiedenen Wegen erzählerisch fruchtbar werden. Fontäne sah sich zum Zeit- und Gesellschaftsroman geführt, während Storms Chroniknovellen sich dem historisierenden Roman nähern. Fontäne machte in seinen reifen Werken sichtbar, wie die Wirklichkeit in jeweils individuellen Perspektiven begriffen und darstellbar wird, wie aber zugleich die Vielfalt der subjektiven Perspektiven die gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmt, mit der der einzelne rechnen muß, um sich in ihr zu behaupten. Storm verzichtete auf diesen gesellschaftlichen Perspektivismus, um statt dessen die vor das »innere Auge« gebrachte eigene Erfahrungswirklichkeit mit einem objektivierbaren Erzählvorgang zu 21 22
Ebd., S. 96. Ebd., S. 105. 76
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verknüpfen und eine Art Rollenhandlung zu erfinden, die die subjektive Erinnerung in historische Räume zurückprojizierte. Er setzte sich damit der Gefahr des Historismus aus, die persönlichen Lebenssituationen in Kostüme der Vergangenheit einzukleiden oder die Überlieferung fabulierend nachzuspielen. Er gewann damit aber auch die Möglichkeit, die verschwebenden Stimmungslagen wechselnder Lebenszustände erzählerisch zu objektivieren, entsprechend seiner zur Zeit des Austausches mit Fontäne geäußerten »Kunstforderung«, daß das Gefühl sich nur durch das Medium der Phantasie aussprechen könne.23 Das Verhältnis zwischen der subjektiven Erinnerung und dem objektivierbaren Erzählvorgang will als das eigentliche Geheimnis seiner Erzählkunst verstanden sein. Wir befragen deshalb die Erzählungen seiner Anfänge, um ihre Erzählleistung mit derjenigen einer Erzählung der späteren Jahre zu konfrontieren, in der dem historischen Stoff und seinen Gestalten ein größeres Eigenleben gegeben wird. In den frühen Novellen, die man eher noch Skizzen nennen möchte, überrascht der unverkennbare Stormsche Ton, von dem Fontäne sprach. Die Umgrenzung der jeweiligen Erzählsituation fuhrt auf den Erzähler als den am Geschehen Beteiligten zurück, der die Vorgänge in der Erinnerung gegenwärtig hält und damit zugleich seinen konkreten Zusammenhang mit Ort und Zeit zu erkennen gibt. Dabei weitet sich der Erzählrahmen von Erzählung zu Erzählung; dem Wachrufen einer einzelnen Lebenssituation in »Ein grünes Blatt« folgt die Kontrastierung zweier Bilder, die — unter dem Titel: »Im Sonnenschein« - das Schicksal einer Liebenden erläutern; in der Novelle »Auf dem Staatshof« begegnet eine ganze Stationenfolge von Erinnerungsbildern, die das Ende der letzten Erbin eines einst mächtigen Geschlechts verständlich machen. Aber jeweils bleibt das Faktische auf den Mitvollzug durch den Erzähler bezogen, der es in den Erlebniszusammenhang zurückholt, indem er es als Erlebniswirklichkeit erinnert. Das Wort »Erlebnis« erhält damit eine herausgehobene Bedeutung, so daß es in einem damals noch sehr neuen und markanten Sinn auftaucht. Erlebnis und Erinnerung korrespondieren miteinander und rechtfertigen erst das Erzählen. Es sind »unbedeutende Geschichten oder eigentlich gar keine«, weil hier die Phantasie nur »die Lücken des Erlebnisses« auszufüllen sucht oder das Erzählen »dem inneren Erlebnis zugewendet« ist, wie in einem Tagebucheintrag oder Vgl. Theodor Storm, Briefe an Friedrich Eggers, hrsg. von H. Wolfgang Seidel, Berlin 1911, S. 16 (13.3-1853).
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einem lyrischen Vers.24 Dabei bleibt es fast gleichgültig, ob das Berichtete als Ich- oder als Er-Erzählung gegeben wird, da alles Beobachten nur als ein Erinnern wichtig wird und der sich Erinnernde vom Erinnerten erzählen kann, als wäre es ein objektiver Vorgang. So gehört der Erzähler hier immer wesentlich mit zur Geschichte, als derjenige, der den Erzählhorizont eröffnet und zugleich dem Erzählten die konkrete Bestimmtheit gibt. Er rechtfertigt sein Erzählen im Rückgriff auf die Erinnerung, entsprechend der Einleitung zur Geschichte vom Staatshof: »Wie es die Erinnerung mir tropfenweise hergibt, so will ich es erzählen.« Er geht »rückwärts« mit seinen Gedanken in die eigene Jugend und die Abfolge seiner Jahre zurück und bleibt ungewiß, ob die Phantasie nicht nur »zerstreute Vorfälle verschiedener Tage« zu einem einzigen Bild zusammengedrängt hat. Aber immer bleiben die »geringfügigen Vorfälle« die eigentlichen Anknüpfungspunkte des Erinnerns, sofern sie ihm erst die konkrete Bestimmtheit geben und von den für das eigene Leben wichtigen Augenblicken »noch jeder kleine Umstand gegenwärtig« geblieben ist.25 Das Erlebnis gibt sich erst durch einzelne Vorfälle und bestimmte Umstände in seiner Bedeutung zu erkennen und bleibt mit ihnen in der Erinnerung lebendig. So gewinnen diese Erzählungen eine eigene Wirklichkeitsnähe und Erlebnisintensität vor allem durch die Art, wie das erinnernde Erzählen auf die alltäglichen Lebenssituationen, die unscheinbaren Begleitumstände und konkreten Bilder einer vertrauten Umwelt zurückfuhrt. Der Weg über die Heide oder durch die Marschweiden zu der Bauernkate mit dem Immenhof oder zu dem Staatshof, der auf einer von einer »Graft« umgebenen »Werft« liegt, schafft einen festen Orientierungspunkt für die wechselnden Situationen; das sinnlich Wahrnehmbare gibt den Erinnerungsbildern ihre Eindringlichkeit: das »Zirpen der Heuschrekken«, die »Levkojen vor dem Fenster«, das »Klirren holländischer Kaffeeschälchen« oder das »Rupfen des Viehs«, der »Ruf eines Seevogels«, das »Branden der Wellen« gehören zu der Erlebniswirklichkeit hinzu, als 24
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Vgl. Storm, Sämtliche Werke (Anm. i), Bd. I, »Ein grünes Blatt«, S. 313; Bd. II, »Auf dem Staatshof«, S. 19. - Vgl. Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 56ff.; in seinen Bemerkungen »Zur Wortgeschichte von Erlebnis« macht er darauf aufmerksam, daß die Wortbildung »Erlebnis« erst in den yoer Jahren des 19. Jahrhunderts geläufig wurde und sowohl die Unmittelbarkeit wie das bleibende Ergebnis des Erlebens bezeichnet. Im Hinblick auf diese Feststellungen ist aufschlußreich, daß das Wort bei Storni schon in den 5oer Jahren auftaucht, um den Erinnerungsgehalt zu erläutern. Storm, Sämtliche Werke (Anm. i), Bd. II, »Auf dem Staatshof«, S. i, 2, 5, 18, 30. 78
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wäre dadurch das Momentane und Besondere dem beständig Wiederkehrenden zugeordnet.26 Zugleich aber erläutern diese scheinbar gleichgültigen Dinge die sich anbahnenden Konflikte und schicksalsvollen Ereignisse. Der Gartenpavillon auf dem Staatshof, der auf dünnen Pfählen über dem Wasser der Graft steht, erregt schon in dem kleinen Jungen Furcht, lange bevor man die Tür verschließt, da »der Fußboden unsicher« geworden ist und bevor dann der Raum zum Ort des Verhängnisses wird: als das Mädchen ihn in nächtlicher Stunde betrat, schlug ein Brett des Fußbodens in die Höhe und ließ es in der Tiefe versinken.27 Die Konkretion der Lebensvorgänge nötigt zur sorgfältigen Beachtung von Ort und Stunde und verbindet die seelischen Zustände mit äußeren Umständen. Die Liebe des adligen Offiziers zu der Kaufmannstochter, »dem Fränzchen«, erwacht in dem Augenblick, als er sie vor sich hergehen sieht: »Sie stieß im Gehen unmerklich fast mit den Knien gegen das Gewand. Der junge Mann folgte dieser Bewegung, so wenig schön sie sein mochte, mit den glücklichsten Augen ... Gehen tut sie wie eine Bachstelze.«28 Seitdem meinte er nicht mehr von ihr lassen zu können. Diese Erlebnisverbundenheit des Menschen mit seiner Welt erläutert zugleich die ihm zugehörigen Zeitdimensionen. Die Dinge werden zu Zeugen einer vergangenen Zeit, in der sie noch im lebendigen Gebrauch waren. Von dem Fränzchen sind schließlich nur noch »knappe Spuren eines früh dahingegangenen Lebens« übrig und nur vor dem »inneren Auge« mag die Phantasie noch wieder den Garten sich vorstellen, in dem sie einst eine glückliche Erfüllung ihrer Wünsche erwartete:29 ihr Fächer liegt noch nach über sechzig Jahren in der Spiegelkommode und wird zum Anlaß für ein altes Mütterchen, dem Nachgeborenen von der Schwester seines Großvaters zu erzählen; aus dem eingestürzten Sarg in der Gruft kommt ein »verstaubtes Kleinod« der Tante mit einer »schwarzen Haarlocke« zum Vorschein, die noch wieder von ihrer einstigen Liebe Zeugnis gibt. Entsprechend will der Staatshof als ein Ort verstanden sein, mit dem die Schicksale vergangener Geschlechter verbunden bleiben und der noch von ihrem tätigen Wirken zeugt, nachdem sie schon alle dahingegangen sind. Den Erzähler ergreift ein Schauer, der »aus dem Verlangen nach Erdenlust und dem schmerzlichen Gefühl ihrer 26
Ebd., Bd. I, »Ein grünes Blatt«, S. 315, 320; »Im Sonnenschein«, S. 356; Bd. II, »Auf dem Staatshof«, S. 32. 27 Ebd., Bd. II, »Auf dem Staatshof«, S. 5, 13, 34. -* Ebd., Bd. I, »Im Sonnenschein«, S. 362. 29 Ebd., S. 364.
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Vergänglichkeit gemischt« ist und ihn zugleich nötigt, nach den »Spuren« zu fragen, die der in die »Schatten der Vergänglichkeit« Sich-Verlierende hinterlassen hat.30 Die Bilderwelt der Erinnerung konfrontiert den der Zeitlichkeit überantworteten Menschen immer zugleich mit der Macht des Todes und bleibt deshalb einer schwermütigen Stimmung zugeordnet. Nur einzelne Figuren - die altgewordenen Menschen - heben sich als die eigentlich wissenden Gestalten heraus, weil sie in den wechselnden Schicksalen das Gleichmaß bewahrt haben: der Greis, der die schwärmenden Bienen zu hegen weiß, die Großmutter, die dem Enkel von Fränzchen erzählt, die alte Dienerin Wieb, die in dem von der Herrschaft verlassenen Staatshof weiter wirtschaftet. Wenn man von diesen frühen Erzählungen Storms zu den späteren hinüberblickt, wird man die bisher gekennzeichnete Erzählhaltung in ihnen weiterhin wirksam finden. Jeweils wird ein Erinnerungshorizont eröffnet, in dem die Erlebnissituationen durch eine an der Erfahrungswirklichkeit sich orientierende Beobachtung konkretisiert und in einen Stimmungsraum der Vergänglichkeit gerückt werden. Das »Stormsche« bleibt gattungsbestimmend. Aber stärker als früher begegnet ein Bemühen um eine größere Selbstgenügsamkeit der Fabel, so daß die Frage entsteht, ob das in der Frühzeit so lebendige Verhältnis zwischen subjektiver Erinnerung und objektivierbarem Erzählvorgang nicht seine Unmittelbarkeit in dem Maße zu verlieren droht, wie die Stoffe und Motive an Eigenrecht gewinnen. Das mag man an der 1883/84 entstandenen Novelle »Zur Chronik von Grieshuus« beobachten, die Fontäne 1884 in einem Brief an Storm als »Genrebilderbuch« noch wieder besonders gerühmt hat. Wieder setzt die Erzählung mit der Rückerinnerung an die »Jugendfreuden« des Erzählers in seiner Heimat ein, an die Stelle in der Heide, wo er auf dem sandigen Grasboden »Streifen wie aus Schutt« oder auch behauene Quadern wahrnimmt, die er als den letzten Schatten eines düstern Menschenschicksals deuten möchte. In alten Archiven oder aus umgehenden Erzählungen konnte man wohl Angaben über ein »altes Geschlecht« erhalten, das »nun von der Erde verschwunden« ist. 3 ' Damit verschiebt sich die Erzählperspektive zum Historischen hin: die Erinnerung beruft sich weniger auf das Erlebnis, als auf das »Gedächtnis«, das in den übriggebliebenen Spuren »Verborgenes wittert«; der Erzähler wird zum Chronisten, wenn er sagt: »Mein Vater nannte mich den Chronisten 30 31
Ebd., Bd. II, »Auf dem Staatshof«, S. 32, 35. Ebd., Bd. VI, »Zur Chronik von Grieshuus«, S. 80
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von Grieshuus«.32 Aber auch als Chronist bleibt er auf die Einheit von Erlebnis und Erinnerung bezogen, da er keine anderen Quellen hat als dürftige Zeugnisse, die für den sachlichen Bericht eines Historikers nicht ausreichen würden. Er muß sich mit der Phantasie die alten Mauern wieder aufrichten und kann sie nur beleben, indem er stets mögliche menschliche Situationen und Konflikte erinnert, denen das eigene Erleben sich beimischen kann. Er begibt sich in die Rolle eines zweiten, den Ereignissen verbundenen Erzählers und gibt vor, ein »vergilbtes Schriftstück« zu finden, in dem der Magister Bokenfeld aus eigener Beteiligung an den Ereignissen heraus erzählt, was sich begeben hat: »Die alte Zeit begann selbst zu sprechen«.33 Aber diese Verschiebung der Erinnerungsperspektive aus der eigenen Gegenwart in die Zeit um 1700 führt weniger zu einer Objektivierung des Erzählvorgangs als vielmehr zu einer Reduzierung des novellistischen Themas auf einzelne Genrebilder von phantasiemäßig entworfenen Erlebnissituationen. Die Fabel von der standeswidrigen Ehe des Junkers mit der Schreiberstochter Berbe und deren Folgen bestimmt den Handlungsrahmen; Enterbung, Brudermord, tätige Reue und späte Sühne bis hin zum Tod des Enkels wirken als mehr oder minder spannende Motive, ohne eine individuellere Dynamik entstehen zu lassen. Erst die Konkretisierung der Vorgänge in einzelnen, erinnerten Szenen gibt der Geschichte ihr Leben, als würde den Figuren dadurch eine subjektive Erlebnismöglichkeit zuerkannt. Der jugendliche Jähzorn des Junkers, der aus geringem Anlaß seinen jungen Knecht fast totschlägt; der Kornschreiber, der mit Hilfe seiner Bienen die marodierenden Soldaten vertreibt; der Standesherr, der seinen Pastor veranlassen will, den eigenen Sohn in den Kirchenbann zu tun; das Verhalten der ungleichen Brüder beim Kirchgang, als beide den der Familie gehörigen Kirchenstuhl als Erbe beanspruchen, bis hin zu der späten Rückkehr des landflüchtig gewordenen Junkers als alter Wildmeister, der die übermächtig gewordenen Wölfe vernichtet — all das sind balladische Situationen mit lebensnaher Gestik und affektgeladener Stimmung, die es an Beobachtung der konkreten Umstände und besonderen Vorfälle nicht fehlen lassen. Aber trotzdem bleiben sie viel schemenhafter als die Erlebnissituationen der frühen Erzählungen, weil sie die Erinnerungswirklichkeit nicht von sich aus bewältigen, sondern zur Illustration einer vorgeblichen Historic dienen. 32 33
Ebd., S. 199. Ebd., S. 248.
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Theodor Storm und Fontäne
Aus der dichterischen Erschließung einer Dimension der Zeitlichkeit des Menschen ist mehr oder minder eine Technik der novellistischen Darbietung verschiedenartiger Stoffe geworden, die mit künstlerischer Meisterschaft gehandhabt wird. So hatte Fontäne wohl recht, wenn er an der »Chronik von Grieshuus« die »Kunst der poetischen Szenerie, der immer wechselnden Situationsmalerei« rühmte und das Ganze »ein Genrebilderbuch ohnegleichen« nannte.34 Aber auch Storms Vorbehalt gegen dies Urteil ist verständlich; er wehrte sich in einem Brief an Heyse gegen das mögliche Mißverständnis, als habe er »nur einzelne Bilder« und nicht ein zusammenhängendes Ganzes gegeben.35 Denn dieses Ganze will von jenem Stormschen Realismus her verstanden sein, der durch die Erinnerung die Wirklichkeit als Erlebniswirklichkeit erzählbar macht.
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Vgl. Storm, Fontäne, Briefe (Anm. 3), S. 161 (an Storm, 1884). Ebd., S. 161 (an Heyse, 8.11.1884); vgl. Der Briefwechsel zwischen Paul Heyse und Theodor Storm, hrsg. von GeorgJ. Plotke, 2 Bde., München 1917/18, Bd. 2, S. 122. 82
Der Zeitroman Fontanes*
Der Roman ist immer mehr zur bestimmenden Form des literarischen Lebens geworden, je mehr er dem Verlangen nach Wirklichkeitsnähe, nach psychologischer oder soziologischer Analyse entgegenkam und der Zeit- und Gesellschaftskritik zu dienen vermochte. Dabei geriet er zugleich in eine ihm eigene Zweideutigkeit, als gewinne er schon durch seine Lebensnähe dichterischen Rang. Die Beurteilung der deutschen Romanüberlieferung wurde noch dadurch erschwert, daß sie lange im Zeichen des persönlichkeitsbewußten Erziehungs- und Bildungsromans gestanden hat und nur zögernd eine besondere Form des Zeitromans zur Geltung brachte. Es mochte dann scheinen, als habe sie zur Entfaltung des neuzeitlichen Wirklichkeitsbewußtseins kaum etwas beigetragen.1 Man wird zugestehen können, daß die deutschen Erzähler um die Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Sinne Stendhals oder * In: Theodor Fontäne, hrsg. von Wolfgang Preisendanz, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 381), S. 80-110. Zuerst veröffentlicht in: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung u, 1959, H. 5, S. 59-81. ' Vgl. E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946. Das Buch schildert die Geschichte der literarischen Eroberung der modernen Wirklichkeit. Es greift weit zurück und weiß in eindringlichen Interpretationen die ganz verschiedenen Auffassungs- und Darstellungsweisen zu verdeutlichen, mit denen seit der Antike und dem Mittelalter die alltägliche Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens zur Geltung gebracht wurde. Aber je mehr Auerbach sich dem 19. Jahrhundert nähert, um so mehr scheint er geneigt, die Wirklichkeitsdarstellung des französischen Romans als beispielgebend anzusehen, so daß demgegenüber die deutschen Erzähler sehr in den Hintergrund treten (S. 409, 431, 4570^). - Zur Kritik an Auerbach und zur Problematik des Realismus-Begriffs vgl. Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion, Tübingen 1957, bes. S. 58 und 78. Es handle sich sowohl um die Frage der »objektiven« Wirklichkeit wie die der Möglichkeit und Art ihrer »Objektivation« in der Dichtung. Brinkmann unterscheidet damit in aufschlußreicher Weise die Frage, was in der Dichtung von objektiver Wirklichkeit zu finden sei, von der eigentlich dichtungsgeschichtlichen nach einer Strukturform, die den Namen »realistisch« verdient. Aber ob nicht bei solcher Begriffsldärung die europäische Diskussion — vor allem bei den Franzosen — im Blick bleiben müßte? Das Problem einer »realistischen« Dichtung wird in der Neuzeit offenbar bestimmend, sofern sie sich durch eine wissenschaftlich erforschbare und objektivierbare Wirklichkeit auch des gesellschaftlichen Daseins zugleich in Frage gestellt und herausgefordert sieht. 83
Der Zeitroman Fontanes
Flauberts zunächst kaum bemüht sind und daß erst im naturalistischen Roman um 1900 die soziale Analyse auch in Deutschland in den Vordergrund drängt. Es stellt sich aber die Frage, ob nicht der deutsche Roman eine andere, ebenfalls wichtige Seite des modernen Wirklichkeitsverhältnisses zur Geltung gebracht hat. Gewinnt nämlich der französische Roman durch die Beobachtung des Menschen in seinem Verhältnis zum politisch-ökonomischen Geschehen einen analytischen und psychologischen Charakter, so gehen die deutschen Erzähler viel stärker von der subjektiven Erfahrung aus und durchforschen den Raum der Erinnerung. Der sachliche Beobachter verharrt in einer größeren Distanz zum Dargestellten, um den verborgenen Motiven nachzuspüren; die erinnernde Erfahrung dagegen sucht die menschlich-persönliche Bedeutung der begegnenden Wirklichkeit festzuhalten. Offenbar sind diese beiden Pole der subjektiven Selbsterfahrung und der gegenständlichen Beobachtung für den modernen Wirklichkeitssinn gleich wichtig; so haben sich schließlich auch beide Formen des Romans gegenseitig befruchtet. Schon im frühen 19. Jahrhundert begannen auch in Deutschland die ersten Bemühungen um den Zeitroman, die zu bedeutsamen Werken führten. Aufweiche Weise Fontäne diese Versuche zu einer eigenen Romanform weiterentwickelte, soll unsere eigentliche Frage sein. Zwischen 1880 und 1890 mehren sich die Anzeichen, daß die deutsche Literatur aus dem Bannkreis der Goethezeit herausstrebt. Im Sinne Nietzsches treten Geist und Leben in eine veränderte Zuordnung, sei es mit Hilfe naturalistischer oder symbolistischer Parolen. Neben den tastenden Versuchen einer jungen Generation gewinnen Fontanes Romane durch die überlegene Beweglichkeit und unpathetische Wachheit ihrer Prosa eine besondere Bedeutung. Erst als Sechzigjähriger ließ er seinen ersten Roman erscheinen. Er fühlte sich dabei als Anwalt der »realistischen Bewegung« und verteidigte als Vertreter einer viel älteren Generation die Bemühungen der Jungen, der »naturalistischen Schule«. Als 1889 Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang die Gemüter erschreckte, war Fontäne einer der wenigen, die die Bedeutung des Neuen öffentlich rechtfertigten; er rühmte nicht nur das »große« und »seltene Talent» dieses »wirklichen Hauptmanns der schwarzen Realistenbande«, sondern wußte »ein stupendes Maß von Kunst« in diesem Stück zu finden, »das dem Laien einfach als abgeschriebenes Leben erscheint«.2 Es Vgl. Fontäne, Briefe an seine Familie, 2 Bde., hrsg. von K. E. O. Fritsch, Berlin 1905 (zitiert als Briefe 7); und Briefe. Zweite Sammlung, 2 Bde., hrsg. von O. Pniower und
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sei ein »völlig entphraster Ibsen«.3 Und entsprechend sagte er 1890 über die »Freie Bühne«: »Ich verfolge all diese Erscheinungen mit dem größten Interesse und finde, die Jugend hat recht. Das Überlieferte ist vollkommen schal und abgestanden.«4 Dieser so ironische und skeptische Alte, dessen Erzählungen den märkischen Adel besonders liebenswert erscheinen ließen, konnte 1896 im Hinblick auf eine englische Arbeiterzeitung sagen: »Die neue, bessere Welt fängt erst beim vierten Stande an ... Das was die Arbeiter denken, sprechen, schreiben, hat das Denken, Sprechen und Schreiben der altregierenden Klassen tatsächlich überholt. Alles ist viel echter, wahrer, lebensvoller.«5 In solchen Äußerungen kam es ihm nicht so sehr auf eine politische Stellungnahme an, als vielmehr auf die ihm wesentliche Betrachtungsweise literarischer und gesellschaftlicher Vorgänge: es wird auf eine zeitliche bedingte Einheit von Denken und Sprechen geachtet, die über das Verhältnis des Alten zum Neuen ebenso entscheidet wie über das der Kunst zur Phrase: das neue Wahre ist zugleich das Lebensvoll-Dichterische und umgekehrt. Man hat sein so persönlich geprägtes und überraschend hervortretendes Werk oft mit einer gewissen Verlegenheit betrachtet. Mit bestimmten literarischen Strömungen läßt es sich schlecht in Verbindung bringen; die üblichen literarhistorischen Epochenbegriffe wollen nicht recht passen. Es genügt aber auch nicht, seine dichterische Eigenart mit seiner Abstammung von französischen Hugenotten in Zusammenhang zu bringen und aus seinem »romanischen« oder »französischen Geisteserbe« zu erklären. Das bleibt eine Verlegenheitsauskunft, deren faktische Bedeutung schwer zu bestimmen ist und die die näher liegenden Fragen nur zu leicht verdeckt. Denn die poetischen Neigungen haben Fontäne schon seit seiner frühen Jugend begleitet und brachten ihn mit der deutschen literarischen Situation in Austausch, seitdem er 1843 in Verbindung mit jener Berliner literarischen Gesellschaft kam, die als »Tunnel über der Spree« bekannt wurde. Wie dann aus dem Balladendichter der Journalist, der Berichterstatter über England und dann über die deutP. Schlenther, Berlin 1910 (zitiert als Briefe II); Briefe I, Bd. 2, S. 232, und Briefe II, Bd. 2, S. 222; 14. Sept., 10. und 22. Okt. 1889. Briefe II (Anm. 2), Bd. 2, S. 250. Vgl. Fontäne, Briefe an G. Friedlaender, hrsg. u. erl. von K. Schreinert, Heidelberg 1954, zitiert als Friedlaender-Briefe; S. 124, 29.4.1890. Briefe H (Anm. 2), Bd. 2, S. 380, 22.2.1896.
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sehen Einigungskriege wurde, wie die Wanderungen durch die Mark die Romane vorbereiteten, all das ist in seinen Zusammenhängen und Motiven noch zu wenig erforscht und würde erst die eigene Konsequenz des Fontaneschen Weges sichtbar machen. Seine dichterische Leistung will als Ergebnis einer langen und oft sorgenvollen Entwicklung, einer geistigen Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Epoche verstanden sein. Wir wollen diesen Weg nicht nachzeichnen, sondern uns an das Ergebnis halten und fragen, wie Fontäne die gesellschaftliche Situation seiner Zeit gesehen hat, welche Möglichkeiten er für den Zeit- und Gesellschaftsroman gewinnt und in welcher Weise er sich damit den bisherigen Formen eines deutschen Zeitromans zuordnet. Der Plan, einen Roman zu schreiben, reicht bei Fontäne weit zurück. Wenn er mit der Ausführung zögert, steht dahinter die Frage, wie ein solches Buch dichterische Bedeutung gewinnen und »länger als ein Leitartikel oder eine Theaterrezension« leben kann.6 Schon 1866 schreibt er über seine Erwartungen von seinem ersten Werk, Vor dem Sturm, das erst 1878 erschien: »Ohne Mord und Brand und große Leidenschaftsgeschichten hab ich mir einfach vorgesetzt, eine große Anzahl märkischer ... Figuren aus dem Winter 1812 auf 1813 vorzuführen ... Es war mir nicht um Konflikte zu tun, sondern um Schilderung davon, wie das große Fühlen, das damals geboren wurde, die verschiedenartigsten Menschen vorfand, und wie es auf sie wirkte.«7 Es geht ihm also von Anfang an um den Zusammenhang der Menschen mit einer geschichtlich bestimmten Situation und insofern um die Bedeutung der Zeit. Seine Formulierung erinnert an entsprechende Kennzeichnungen Immermanns, der gelegentlich sagt, er möchte in seinen Romanen zeigen, wie die allgemeine Geschichte durch das Individuum hindurchzog.8 Die die Romane bestimmende Thematik entspricht sich bei beiden trotz aller Unterschiede in der Durchführung. 6 7 8
Briefe I (Anm. 2), Bd. i, S. 227, 22.8.1874. Briefe II (Anm. 2), Bd. i, S. 245, 17.6.1866. Vgl. Karl Immermann. Sein L·ben und seine Werke. Aus Tagebüchern und Briefen an seine Familie zusammengestellt, 2 Bde., hrsg. von Gustav zu Pulitz, Berlin 1870, Bd. 2, S. 121: »Vielfach keimte in diesen Zeiten in mir der Gedanke, meine Lebenserinnerungen aufzuschreiben, welche insofern einen eigenen Charakter haben, als fast jede meiner Lebensentwicldungen mit einer großen historischen Weltwendung zusammenfiel und durch das Individuum gewissermaßen die allgemeine Geschichte hindurchzog.« Siehe ferner Immermann, Memorabilien: »Ich werde nur erzählen, wo die Geschichte ihren Durchzug durch mich hielt.« (Werke, 5 Bde., hrsg. von H. Maync, Leipzig und Wien 1906, Bd. 5, S. 239.)
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Immermann war zum ersten bedeutsamen Vertreter eines deutschen Zeitromans geworden, weil er seine eigenen Erfahrungen während und nach den Napoleonischen Kriegen aus der Verflechtung mit den Zeitereignissen heraus zu begreifen suchte. Er war darauf aufmerksam geworden, wie sehr die persönlichen Erwartungen und Schicksale durch geschichtliche Situationen bestimmt werden. Er verstand das Individuum als ein Kampffeld alter und neuer Zeit, dessen Erfahrungen und Entscheidungen selber geschichtliches Gewicht gewinnen, und stellte in seinen Romanen nur immer die Frage: In welcher Zeit leben wir? Welche geschichtlichen Schicksale haben uns bestimmt? Seine Gestaltungskraft zeigt sich viel weniger in der Charakterzeichnung oder der Handlungsentwicklung als vielmehr in der Erfindung von kennzeichnenden Situationen, die die Kräftelagerung der Epoche erkennen lassen. Er weiß die Zeitsituation durch widerspruchsvolle Bilder und kühn pointierte Arabesken fühlbar zu machen und dadurch dem Zeitroman dichterisches Leben zu geben. Wenn er sich dabei der Mittel des Witzes und der Ironie bedient, so wirkt dieser Witz doch nicht nur als Gedankenspiel; vielmehr sucht er das zu greifen, was die Zeit selbst auf so eigentümliche Weise gemischt hat. So weist die Darstellung auf den fühlbaren Riß im Gefuge der Epoche hin und mahnt zur Selbstbesinnung. Fontäne nimmt auf seine Weise die bei Immermann sichtbar gewordene Thematik des Zeitromans wieder auf, ohne sich freilich mit dessen Darstellungsform eines »Romans in Arabesken« zufriedengeben zu können. Er bewältigt das für den Zeitroman typische darstellerische Problem, indem er den Menschen auf seine Zeitlichkeit zurückbezieht. Der Roman findet sein eigentliches Thema wohl immer erst dadurch, daß er den Menschen in einem ihn umfangenden Geschehen zeigt, das auf seine Bewußtseinslage zurückwirkt; auch die Gesellschaftsanalyse wird erst bedeutsam, wenn sie sinnenfällig macht, wie der Mensch dem Geschehen ausgesetzt ist. Im Erzählen wollen die zugehörigen Bewußtseinsvorgänge jeweils neu entdeckt sein; sie geben dem Roman sein unerschöpfliches Thema. Wenn es von den gesellschaftlichen Zeitvorgängen her faßbar werden soll, entstehen besondere Schwierigkeiten. Die Zeit als solche entzieht sich dem Zugriff; sie ist in sich widerstreitend, vieldeutig und in ständiger Bewegung. Ihre Darstellung gelingt am ehesten dem Historiker, der sich auf den Motivationszusammenhang der Ereignisse richtet, aber deshalb das einzelmenschliche Geschick vernachlässigen muß. Den Erzähler dagegen beschäftigt gerade umgekehrt die Bedeutung der Zeitereignisse für den Menschen. Er kann eine Zeit nur 87
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dadurch zur Darstellung bringen, daß er sie von den persönlichen Situationen und Konflikten aus sichtbar macht. Damit droht er aber sein eigenes Verfahren wieder zu entwerten. Die dargestellten Figuren, die doch in sich lebendig und bedeutsam sein sollen, scheinen nur noch als Vertreter bestimmter Zeitkräfte wichtig zu sein und müssen derart zusammengeordnet werden, daß sie ein gewisses Totalbild der Zeit ergeben. Es soll ein Wechselverhältnis von Zeitbild und Menschenbild entstehen, das das Eigenrecht der Individualität aufzuheben droht und nach Darstellungsmitteln suchen läßt, die auf die zeittypischen, überpersönlichen Zusammenhänge hinzuweisen vermögen. Das Formgesetz des Zeitromans scheint erst dann bewältigt zu sein, wenn die wechselseitige Erhellung von Zeit und Mensch glückt und die Zeit so auf den Einzelnen zurückweist, wie dieser auf die Zeit. Immermann steigerte deshalb die Situationen und Motive zu Arabesken und Hieroglyphen des Zeitgeschehens; er mischte das Realistische und das Phantastische so witzig, wie es der abenteuernde Zeitgeist mit den gegensätzlichen Zeitgestalten selber zu tun liebte. Er bediente sich noch ähnlicher Mittel wie der romantische Roman, der den Zusammenhang des Menschen mit den überpersönlichen Mächten des Geistes und Schicksals durch Symbole und hieroglyphische Zeichen erläuterte. Aber diese Form verhinderte es offenbar, daß Immermanns Romane in Deutschland Schule machten, und so wurde sie auch von Fontäne nicht wieder erneuert. Ihn bestimmte statt dessen ein neues Verhältnis zur Prosa des Alltags; im Miteinanderreden der Figuren mußte zugleich ihre Gesellschaftssituation faßlich werden. Denn inzwischen war mit dem Hervortreten der sog. Jungdeutschen ein neues Element in der deutschen Literaturentwicklung zur Geltung gekommen, das besonders auf die Erwartungen vom Roman zurückzuwirken begann. Wenn bei ihnen alles Dichten sich nur durch die Berufung auf das »Leben« und die »Wirklichkeit« rechtfertigen konnte, so sah es sich damit in neuer Weise auf die politisch-sozialen Zustände und Aufgaben verwiesen. Es trat gewissermaßen ein neuer Partner in die ästhetischen Diskussionen ein, sofern nach dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft gefragt wurde. Es ging nicht mehr allein um die Naturwahrheit der dichterischen Darstellung im Sinn ihrer menschlichen Bedeutsamkeit, sondern wesentlicher wurde ihre gesellschaftlich-politische Wirksamkeit. Es mag offenbleiben, ob die Jungdeutschen schon echte Gestaltungskräfte außer auf dem Felde der literarischen Parodie und Satire zur Geltung bringen konnten, ob sie nicht die Literatur vor allem den politischen Tendenzen dienstbar machten und den Journalismus zu 88
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einer selbständigen Macht entwickelten. Aber trotz der fühlbaren Schranken ihrer Bemühungen entstand doch durch die Begegnung von Literatur und Gesellschaft eine neue Situation von ständig wachsender Bedeutung, die vor allem der Ausbildung der Prosa zugute kam. Die »Emanzipation der Prosa« hat z.B. Theodor Mundt in der Kunst der deutschen Prosa 1837 als entscheidende Aufgabe der modernen Literatur bezeichnet, nicht nur in dem Sinn, daß der Roman als bevorzugte Gattung erscheint, sondern vor allem so, daß alles Dichten als Aussprache der das gesellschaftliche Leben bestimmenden Gedanken verstanden wird. Bei ihm heißt es: »Das Verhältnis der deutschen Sprache zum wirklichen Leben ist noch ein unausgebildetes ... Unsere Sprache fühlt und gebraucht ihre tiefsten Lebenskräfte in der Ausarbeitung unseres ideellen Menschen, sie ist ein Monolog unserer Gefühle ... Aber in alle die äußerlichen Verbindungen unserer Wirklichkeit ist sie uns bis jetzt so verdrossen und nachlässig gefolgt.« Das öffentliche Leben, die gesellschaftliche Wirklichkeit soll fortan dem Gedanken und damit auch der Sprache die Richtung weisen, so daß sie nur noch als sachnahe Prosa berechtigt zu sein scheint. Die Erwartung, die Literatur in ein möglichst unmittelbares Verhältnis zum Leben, zur Wirklichkeit und den gesellschaftlichen Zuständen bringen zu können, führt zur Rechtfertigung einer gedanklich bestimmten realistischen Prosa, die auf dieses Leben zurückzuwirken vermag; das Eigenrecht der Dichtung droht demgegenüber zu versinken. Es ist nur folgerecht, daß man sich dem Journalismus zuwendet und hier die neuen Aufgaben ergreift. Damit erhebt sich aber die Frage, ob unter dem Anruf des gesellschaftlichen Lebens nur die Hinwendung zu den sozialkritischen Wirkungsmöglichkeiten der Prosa für die Dichtung übrigbleibt oder ob ihr durch die Verbundenheit des Menschen mit seiner Zeit und bestimmten gesellschaftlichen Situationen eine besondere und eigenständige dichterische Aufgabe zufällt. Die Art, wie die Zeitbedingtheit der Menschen sich in ihrem Sprechen enthüllt, kann offenbar der Prosa eine über die aktuelle Wirkung hinausgreifende, erzählerische Bedeutung geben. Es ist Fontanes Leistung, daß er dem Zeitroman eine eigene Gestalt zu geben wußte, nachdem er als Journalist die Möglichkeiten der gesellschaftlich bezogenen Sachprosa sich angeeignet hatte, um dann in der Gesprächssituation der gesellschaftlich gebundenen Menschen ihr Verhältnis zur Zeit zu entfalten. Sein Urteil über Gutzkow, dem er eine relative Bedeutung nur für die literarischen Be89
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mühungen der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts zuzugestehen vermag, ist durch die Unterscheidung zwischen dem Journalisten und Dichter kennzeichnend für seine eigene Einstellung: »Er war ein brillanter Journalist, der sich das >Dichten< angewöhnt hatte und es ähnlich betrieb wie Korrespondenzen und Tagesartikelschreiben.«9 So wird zu klären sein, in welchem Sinn Fontäne dem Zeitroman trotz des gesellschaftlich-aktuellen Bezugs eine eigentlich dichterische Aufgabe stellt. Seine Werke gewinnen menschliche Fülle und Lebendigkeit, weil sie nicht nur Zeitsituationen reproduzieren wollen, sondern nach der Zeitlichkeit des Menschen fragen und sich nicht mit der Vertretung bestimmter Zeittendenzen begnügen. Die meisten Vertreter eines Zeitromans in Deutschland versuchten umsonst, dem Zeitthema eine allgemeinere Bedeutung zu geben. Sie suchten entweder zu direkt als Anwalt bestimmter Zeittendenzen zu sprechen oder vertrauten überkommenen poetischen Motiven, ohne sie aus den bedrängenden Zeitvorgängen selbst zu entwickeln. Gutzkows Ritter vom Geiste (1850) wollten zwar ausdrücklich ein »Panorama unserer Zeit« entwerfen. Aber da der Erzähler sich als einer der »Missionäre der Freiheit und des Glaubens an die Zeit« fühlt, bewältigt er die Auseinandersetzung zwischen alter und neuer Zeit mehr propagandistisch als dichterisch. Demgegenüber bemühte sich Gustav Freytag in seinem Roman Soll und Haben von 1855, sein »Verständnis der Zeit« in einer »poetischen Erzählung« auszusprechen; er möchte vermeiden, daß sich die »Tendenz in den Vordergrund« drängt, und lieber die »Muse der Poesie« als alleinige Herrin gebieten lassen, wie er in den Erinnerungen aus meinem lieben 1887 sagt. Durch diese Alternative von Tendenz oder Poesie droht die dem Zeitroman eigene Thematik zu verflachen und nur noch als Verlangen nach Aktualität oder kulturhistorischem Kolorit wirksam zu werden. Bei Friedrich Spielhagen, dessen Problematische Naturen 1861/62 erschienen, tritt der Romanschreiber zudem noch in Wetteifer mit dem naturwissenschaftlichen Beobachter. In seinen Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans, 1882, heißt es, daß die epische Phantasie den Menschen so sehen soll, wie ihn die moderne Wissenschaft auch sieht, nämlich »auf dem Hintergrunde der Natur und in der Abhängigkeit von den Bedingungen der Kultur«. Der Zeitroman soll deshalb die sozialen Voraussetzungen unter der »Observanz des Gesetzes der Objektivität« zur Geltung bringen und »den Briefe II (Anm. 2), Bd. i, S. 306, 29. IV. 73, und ebd., S. 400, 17.XII. 78. 90
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Stoff in eine ganz bestimmte Zeit verlegen«. Die dichterischen Möglichkeiten werden einer vermeintlichen wissenschaftlichen Objektivität aufgeopfert. Erst bei Fontäne können wir wieder in einem bedeutsamen und gewichtigen Sinn von einem Zeitroman sprechen, weil bei ihm der Mensch in seiner Zeitlichkeit zum bestimmenden Thema wird. Auch für ihn gibt es keine isolierten poetischen Motive mehr und so sagt er: »Für die >reine Schönheit haben die Menschen allerorten den Sinn verloren; sie grenzt immer an Langeweile.«10 Aber gegen Spielhagens Forderung der erzählerischen Objektivität gibt er zu bedenken, daß es mitunter schwer festzustellen sein wird, »wo das Hineinreden beginnt«: der Schriftsteller müsse doch als er selber eine Menge tun und sagen, auch wenn er sich des Urteilens und Predigens enthält.'' Man könnte vielleicht zu der Vorstellung neigen, daß Fontäne es nur darauf angekommen sei, einen bestimmten Lebenskreis mit seinen besonderen gesellschaftlichen Situationen zu schildern. Sein Realismus bestünde dann darin, daß er ein Bild der märkischen Landschaft, des preußischen Adels und Berliner Bürgertums in der Reichsgründungszeit gegeben hat. Der Zeitroman würde sich mit der Reportage von Zeitzuständen begnügen und damit in seiner dichterischen Bedeutung fragwürdig bleiben. Gewiß hat Fontäne sich als ein wacher Beobachter gesellschaftlicher Verhältnisse gefühlt und sich in langen Jahrzehnten eine reiche Anschauung von seiner Umwelt erworben. So hat er auch gelegentlich einer Besprechung von Gustav Freytags Die Ahnen die Aufgaben des modernen Romans dahin erläutert, daß er im Unterschied zum romantischen wie zum historischen Roman »ein Bild der Zeit« sein sollte, »der wir selber angehören«; der Zeitroman als »Zeitbild« scheint sich darauf beschränken zu können, das einer Zeit zugehörige Leben widerzuspiegeln.12 Aber dichterischen Rang gewinnen seine Romane doch erst durch die besondere Art, wie sich sachliche Beobachtung, menschliche Anteilnahme, ironische Skepsis und Kulturkritik miteinander verbinden und in einer Prosa zur Geltung kommen, die fast ganz auf jede direkte Aussage verzichtet, dafür aber im Reden der Figuren ihr individuelles Verhältnis zur Zeit faßlich macht.
Ebd., Bd. 2, S. 380, 22.11.96. Ebd., S. 373, 15.11.96. Vgl. Tlieodor Fontäne. Aus dem Nachlaß, hrsg. von J. Ettlinger, 2. Aufl., Berlin 1908, S. 241 f.
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Je weniger Fontäne in seinen Romanen mit seinen Gedanken und Erwartungen hervortritt, je mehr er sich mit der Haltung des Wissenden und Eingeweihten begnügt, der die Figuren, Motive und Konflikte für sich sprechen läßt, um so nützlicher ist es freilich, zunächst nach den ihm wesentlichen Vorstellungen und Absichten zu fragen, wie er sie in seinen Briefen kennzeichnet. Vor allem seine Briefe an Georg Friedlaender, die seit 1884 seine Romanproduktion begleiteten, lassen erkennen, mit welcher inneren Freiheit er den herrschenden Lebensformen gegenüberstand, wie er die Zeitgebundenheit des Menschen auffaßte und die darstellerische Aufgabe auf ein eigenberechtigtes ästhetisches Verhalten bezog.13 Der Austausch mit dem Freunde war ihm wichtig, weil dieser ihm mancherlei Einblicke in gesellschaftliche Zustände und Vorfälle gab, ihm von Vertretern der herrschenden Schichten berichtete und ihn dadurch nötigte, sich über sein Verhältnis zu den überkommenen Ansprüchen des Adels klar zu werden. Er schreibt ihm: »Ganz besonders interessieren mich immer die Mitteilungen aus dem High-life ... Alles was der Zeitgeschichte dient und zugleich Aufschluß über wirkliche oder prätendierte >höhere Menschenseelen< gibt, hat einen ganz besonderen Reiz für mich.«' 4 So lassen die Briefe etwas von dem Verhältnis erkennen, in dem seine Romane zur Lebenswirklichkeit seiner Zeit stehen, vor allem aber in welcher Weise er ihr gegenüber jene Unabhängigkeit gewinnt, um zwischen politisch-moralischem und ästhetischem Urteil unterscheiden zu können. Die bitterste Kritik an der politischen und sozialen Haltung des Adels geht mit einer ästhetischen Hochschätzung seiner einzelnen Vertreter Hand in Hand. Er spricht im Hinblick auf die literarische Uninteressiertheit des Adels von der »die feineren Dinge des Lebens betreffenden Beschränktheit« in den oberen Gesellschafts- und Regierungskreisen, die den »Verkehr mit diesen vielfach ausgezeichneten Menschen mehr oder weniger unerquicklich macht«.' 5 Er meint: »Mit dem Adel, hohen und niederen, bin ich fertig.«16 Es sei ihm klargeworden, »daß diese Form in die moderne Welt nicht mehr paßt, daß sie verschwinden muß und je'·' Fontäne hatte den in Schmiedeberg am Riesengebirge wohnenden Amtsrichter Friedlaender auf einer Ferienreise nach Krummhübel kennengelernt und seitdem mit ihm bis zu seinem Tode 1898 einen eifrigen Briefwechsel gepflegt, der erst 1954 von Kurt Schreinert herausgegeben wurde. 14 Friedlacnder-Briefe (Anm. 4), S. 114, 25.11.91. " Ebd., S. 114, 14. IX. 89. 16 Ebd., S. 129, 29. V. 90. 92
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denfalls, daß man in ihr nicht leben kann«.' 7 »Der Prozentsatz der Ungebildeten ist zu groß.«'8 Er sieht in den Vertretern des Adels eine Gefahr für das öffentliche Leben. In bezug auf einen Prinzen Reuß sagt er: »Solche Personen haben eigentlich nur noch ein Recht, als privateste Privatleute zu existieren ... Daß wir jetzt einen so schrecklich zurückgebliebenen Eindruck machen, hat darin seinen Grund, daß Tausende solcher aus der Steinzeit stammenden Persönlichkeiten herumlaufen, mit deren Anschauungen und in Egoismus wurzelnden Einbildungen die Regierung rechnen muß oder wenigstens nicht brechen will.«'9 So fällt er sein Urteil: »Die Welt hat vom alten Adel gar nichts, es gibt Weniges, was so aussterbereif wäre wie die Geburtsaristokratie; wirkliche Kräfte sind zum Herrschen berufen, Charakter, Wissen, Besitz, - Geburtsüberlegenheit ist eine Fiktion und wenn man sich die Pappenheimer ansieht, sogar eine komische Fiktion.«20 Er schilt über die »Borniertheit« und meint: »Die Bülows und Arnims sind zwei ausgezeichnete Familien, aber wenn sie morgen von der Bildfläche verschwinden, ist es nicht bloß für die Welt (da nun schon ganz gewiß), sondern auch für Preußen und die preußische Armee ganz gleichgültig und die Müllers und Schultzes rükken in die leergewordenen Stellen ein. Mensch ist Mensch.«21 Oder er sagt: »Es gibt entzückende Einzelexemplare ..., aber der >Junker- Ebd., S. 61, 8. XI. 86; vgl. Anm. S. 339 und 344. 13 Ebd., S. 68, 19.11.87; vgl. S. 88. •u Ebd., S. 70, 3. IV. 87.
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so muß man, und Sie mit, als Patriot und Mensch blutige Thränen weinen ... Da war die Inquisition nichts dagegen... Vor Gericht seine Ehre einzubüßen, weil man nach 17 Jahren erzählt, ein dämlicher Oberst habe >verblüfft< ausgesehn, das ist unerhört.« 35 Er faßt schließlich zusammen: »Ich werde täglich an Ihre Ehrengerichtsgeschichte erinnert; freie Menschen von natürlicher unbefangener Empfindung gibt es nicht mehr; alles steckt, zum Teil ohne es zu wissen, in Staatspatentheit und Offiziosität.«36 Im Hinblick auf solche, ihm durch Friedlaender vermittelten Geschichten heißt es: »Je mehr wir verassessort und verreserveleutnantet werden, je toller wird es.«37 »Alles, was jetzt bei uns obenauf ist, ... ist mir grenzenlos zuwider: dieser beschränkte, selbstsüchtige, rappschige Adel, diese verlogene oder bornierte Kirchlichkeit, dieser ewige Reserveoffizier, dieser greuliche Byzantinismus.«38 Die Kritik am Adel fuhrt zur Kritik an der Zeit und ihrem gesellschaftlichen Verhalten weiter, so daß das Phänomen der Zeitlichkeit des Menschen dringlich wird. Für die in den Friedlaender-Briefen begegnenden Urteile lassen sich denn auch in den Romanen mancherlei Entsprechungen finden, nur daß sie dort mit der jeweiligen Situation verknüpft und den Figuren in den Mund gelegt werden, denen solche Äußerungen zuzutrauen sind. In dem ersten Roman Vor dem Sturm ist es der polnische Graf Bninski, der seine Meinung über den preußischen Adel mit äußerster Schärfe formuliert: »>Und was herrscht nun hier? Der Vorteil, der Dünkel, die großen Worte!< ... >Denn alles, was hier in Blüte steht, ist Rubrik und Formelwesen, ist Zahl und Schablone, und dazu jene häßliche Armut, die nicht Einfachheit, sondern nur Verschlagenheit und Kümmerlichkeit gebiert ... und dabei die tiefeingewurzelte Vorstellung, etwas Besonderes zu sein. Und woraufhin? Weil sie jene Rauf- und Raublust haben, die immer bei der Armut ist . . . wir müssen mit dem alten Schlendrian aufräumen ... Wie ging es bisher? Ein Zieten eine Bamme, ein Bamme eine Zieten. Und was kam schließlich dabei heraus? Das hier!< ... >und ich bin nicht dumm genug, Vitzewitz, mich für ein Prachtexemplar der Menschheit zu halten.< ... >Mitunter ist es mir, als wären wir in einem Narrenhaus großgezogen. Es ist nichts mit den zweierlei Menschenrichtige< Worte sind oder nicht.« 57 Aber kaum hat er diese Bekenntnisrede zu Ende gebracht, da fragt er schon wieder: »Überdies, was sind die richtigen Worte? Wo sind sie?«, als wollte er auch mit seinen Worten nur eine neue Antwort hervorlokken und sie nicht absolut setzen. Das Gespräch verharrt im Licht einer Skepsis, die sich der Spannung zwischen Wort und Wahrheit bewußt
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Vgl. M. E. Gilbert, Das Gespräch in Fontanes Gesellschaftsromanen, Leipzig 1930 (Palaestra
'74)·
·" Vgl. Th. Fontäne, Gesamtausgabe der erzählenden Schriften, erste Reihe in 5 Bdn., zweite Reihe in 4 Bdn., eingel. von P. Schlenther, Leipzig und Berlin 1925, Reihe II, Bd. 3, S. 383. 102
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bleibt und als entscheidende menschliche Hakung die Bereitschaft zur Duldung des anderen anerkennt. Denn — wie es gelegentlich heißt — »etwas ganz Richtiges gibt es nicht«. 58 Erst im Hinblick auf diese Ironie und Skepsis wird verständlich, in welchem Sinn Fontäne seine Romane mit Vorliebe im Umkreis des preußischen Adels spielen läßt. Er zeigt ihn in den verschiedensten Lebensumständen, als Grundbesitzer auf den alten Familiengütern, als Offizier im preußischen Heer, als höheren Beamten im Dienste des Staates, aber auch als verarmten Adel in der Berliner Mietwohnung. Wohl spürt man oft seine menschliche Sympathie für die Vertreter dieses Standes, für ihre traditionsreiche, selbstbewußte Art; zugleich aber führt die Darstellung ständig auf die Bedingtheit und Grenzen ihrer Ansprüche hin, so daß von einer Glorifizierung des Adels als einer bestimmenden Gesellschaftsschicht keine Rede sein kann. An den menschlichen Schicksalen der einzelnen Adligen, an ihrer gesamten Lebenssituation erweist sich vielmehr die Macht der Zeit, die alle überkommenen Ordnungen ständig wieder in Frage stellt. Der Adel ist nicht dargestellt, weil er als gültige Lebensform anerkannt würde, sondern weil sich an ihm die Bedeutung der geschichtlichen Wandlungen, das Verhältnis von alten und neuen Lebensformen am deutlichsten ablesen läßt. Die Adelsfamilien kommen von weit her und eröffnen insofern die Zeitperspektive, in der das menschliche Dasein gesehen sein will. Das Ringen des Neuen mit dem Alten wird vom Adel aus besonders faßbar, so daß er in einem zweideutigen, ironischen Licht erscheint und sehr skeptisch betrachtet wird. So heißt es im Stechlin: »Unsre Leute gefallen sich nun mal in der Idee, sie hingen mit dem Fortbestande der göttlichen Weltordnung aufs engste zusammen. In Wahrheit liegt es so, daß wir sämtlich abkommen können.« 59 Oder, wie es die Gräfin sagt: »Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.«60 Als schlimm gilt nur, wenn man die überkommenen Gesellschaftsformen »für etwas ewig zu Konservierendes ansieht«. »Was mal galt, soll weiter gelten, was mal gut war, soll weiter ein Gutes oder wohl gar 5lf
5y
fto
Ebd., S. 356. Ebd., S. 123. Ebd., 5.316.
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ein Bestes sein. Das ist aber unmöglich.«6' So bleibt es gefährlich, »dem Niedersteigenden eine künstliche Hausse zu geben«. Der echte Adel des Menschen ist an keine Standeszugehörigkeit gebunden, sondern hängt allein von der Frage der persönlichen Haltung und Gesinnung ab. Nur insoweit als Fontäne bei den Vertretern des Geburtsadels viel von diesem echten Adel wahrnimmt, gilt ihm seine besondere Sympathie. Und im übrigen wird er ihm beispielhaft für die Art, wie der Mensch dem Wandel der Zeit ausgesetzt ist. Auch die sonstige Thematik der Fontaneschen Erzählungen hängt offenbar eng mit der Fragestellung und besonderen Form des Zeitromans zusammen. Die eigentlichen Handlungsvorgänge und Konflikte ergeben sich durchweg aus einer Liebesgeschichte und entsprechen damit den üblichen und beliebtesten Wegen der Romanschreiber. Aber wenn man genauer hinsieht, wird erkennbar, daß die Art, wie das Liebesthema in Ansatz gebracht wird, eng mit der Zeitgebundenheit alles Menschlichen in Verbindung steht. An den Liebesbeziehungen enthüllt sich, wie der einzelne mit seinen persönlichen Gefühlskräften und Liebeserwartungen sich zu den gesellschaftlichen Ansprüchen, Ordnungen und Konventionen verhält, wieweit das Echte und Unmittelbare sich behauptet oder mit den überkommenen Vorstellungen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Standes in Konflikt gerät. Die individuellen Glücksmöglichkeiten hängen geradezu davon ab, ob und in welcher Weise die Vereinigung der widerstreitenden Kräfte gelingt, ob die persönlichen und gesellschaftlichen Erwartungen zusammentreffen oder Verzicht und Entsagung nötig machen. Gerade an den persönlichsten und menschlichsten Beziehungen zwischen Mann und Frau läßt sich also ablesen, wie die Zeitmächte das Schicksal des einzelnen mitbestimmen. Die Unwahrhaftigkeit und Scheinhaftigkeit der Standesansprüche wird an den Liebesverhältnissen offenkundig; oder es ergeben sich Kompromißformen zwischen dem gewohnten Alten und dem erwünschten Neuen; oder es kommt zu vernichtenden Katastrophen. In mannigfachen Abwandlungen hat Fontäne die Liebesbeziehungen so dargestellt, daß sie die Gesellschafts- und Adelsansprüche in ein fragwürdiges Licht rücken. In dem historischen Roman von 1883 Schach von Wuthenow geht dieser an seiner Beziehung zu Victoire von Carayon zugrunde, weil er als Offizier schwach und abhängig vom Urteil seiner Kameraden bleibt und ihren Spott und Witz fürchtet; seine Verlobte ist Ebd., S. 3i8f. IO4
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von Blatternarben entstellt, und so wagt er es nicht, seinem Herzen zu vertrauen und »hinter dem anscheinend Häßlichen eine höhere Form der Schönheit«62 zu erkennen und für sie einzutreten. An seinem Verhalten und Schicksal läßt sich das »Wesen der falschen Ehre« erkennen. »Sie macht uns abhängig von dem Schwankendsten und Willkürlichsten, was es gibt, von dem auf Triebsand aufgebauten Urteil der Gesellschaft, und veranlaßt uns, die heiligen Gebote, die schönsten und natürlichsten Regungen eben diesem Gesellschaftsgötzen zum Opfer zu bringen.« So wird dieser Schach-Fall zum Symptom; er soll als eine «Zeiterscheinung« verstanden werden, die die Situation der Friderizianischen Armee vor der Schlacht von Jena erhellt: das »beständige Sprechen von Ehre, von einer falschen Ehre, hat die Begriffe verwirrt und die richtige Ehre totgemacht«/'3 In anderer Weise wirkt in Irrungen Wirrungen von 1888 die Liebesbeziehung über die Standesgegensätze hinweg erhellend für die Gesellschafts- und Zeitsituation. Der junge Baron Botho von Rienäcker und Lene Nimptsch, die Pflegetochter einer Wasch- und Plättfrau, haben sich kennen- und liebengelernt, aber sie erfahren bald, daß ihre Liebe nicht dauern kann, daß ihnen das Glück nur eine flüchtige Stunde gönnt. Lene spricht es deutlich aus: »Daß ich dich habe, diese Stunde habe, das ist mein Glück. Was daraus wird, das kümmert mich nicht. Eines Tages bist du weggeflogen.«64 Und als es so weit gekommen ist, daß Botho den Erwartungen seiner Familie nachgeben muß und aus wirtschaftlichen Gründen sich standesgemäß verlobt, da sagt er: »Es liegt nicht in mir, die Welt herauszufordern und ihr und ihren Vorurteilen öffentlich den Krieg zu erklären; ich bin durchaus gegen solche Donquichotterien.« Er erfährt, »daß das Herkommen unser Tun bestimmt«, und meint: »Wer ihm gehorcht, kann zugrunde gehn, aber er geht besser zugrunde als der, der ihm widerspricht.« Das Gefühl ist nicht »souverän«, sondern muß sich den »Verhältnissen« unterordnen. So nötigt die Zeitgebundenheit des Menschen die Liebenden zum Verzicht; man darf nicht klagen, »daß der Traum aufhört und die Wirklichkeit wieder anfängt«. Botho hat durch Lene »Natürlichkeit, Schlichtheit und wirkliche Liebe« kennengelernt, und so kann ihr Bild in seiner Seele nie ganz verblassen; aber er meint auch zu wissen, daß einer, der von Grund aus »mit Stand und Herkom62 61 64
Ebd., Reihe I, 13d. 3, S. 208. Ebd., 5.291. Ebd., Bd. 5, S. 145. 105
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men und Sitte« bricht, sich selbst ein Greuel und eine Last wird/'5 Wieder ist die Liebesgeschichte zum Symptom geworden, aber nun nicht eines falschen, entleerten Ehrbegriffs, sondern des Widerspiels von persönlichen und gesellschaftlichen Erwartungen, wie es in wechselnden Formen jede Zeit bestimmt. In anderen Romanen werden durch die Liebesgeschichte die Gesellschaftsspannungen in der Bourgeoisie deutlich: in L'Adultera, 1882, fuhrt der Altersunterschied zwischen dem Kommerzienrat und seiner 25 Jahre jüngeren Frau die Ehescheidung herbei, als handle es sich um ein naturalistisches Gegenstück zu Goethes Wahlverwandtschaften. In Frau Jenny Treibel, 1892, bewirken die Gegensätze zwischen Besitz und Bildung die humorvoll gezeichneten Verwirrungen. So wird man sagen dürfen: je mehr Fontäne sich auf die unscheinbaren, alltäglichen Vorgänge des privaten Lebens richtet und sie im Dialog entfaltet, je mehr er seine Skepsis walten läßt und die Zweideutigkeit der menschlichen Situationen beachtet, um so mehr gelingt es ihm, das lebendige Wechselverhältnis zwischen dem einzelnen, der Zeit und der Gesellschaft vorzufuhren. Es erhält nicht einfach das Persönliche gegenüber dem Allgemeinen, das Neue gegenüber dem Alten recht, sowenig wie umgekehrt, sondern das ständige Ineinanderwirken des Bestehenden und des Werdenden bestimmt das Schicksal der Menschen und erscheint als das »ewig Gesetzliche«, von dem der alte Stechlin spricht: »Ein ewig Gesetzliches vollzieht sich, weiter nichts, und dieser Vollzug, auch wenn er >Tod< heißt, darf uns nicht schrecken. In das Gesetzliche sich ruhig schicken, das macht den sittlichen Menschen und hebt ihn.«66 Die ausdrücklichen Berufungen auf die Zeit, wie sie in den Romanen mannigfach begegnen, rücken dadurch selbst nur wieder in ein ironisches Licht; denn nicht diese oder jene Erscheinung gibt das Wesen der Zeit zu erkennen; Bestehendes und Werdendes fordern den Menschen immer zugleich; in ihrem Widerstreit liegt seine Not begründet. Wenn Sidonie zu Effi Briest sagt: »Da liegt es. Keine Zucht. Das ist die Signatur unserer Zeit ...!«, oder wenn sie schilt »Geist der Zeit! Kommen Sie mir nicht damit. Das kann ich nicht hören, das ist der Ausdruck höchster Schwäche, Bankrotterklärung«, dann verleugnet sie damit das Recht des Werdenden, rückt selber in eine ironische Beleuchtung und verrät ihre Enge und Starrheit/'7 Und wenn der alte Stechlin sagt: »Jeder will heutzutage 65
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Ebd., S. 2i2ff., 218, 278f. Ebd., Reihe II, Bd. 3, S. 434. Ebd., Bd. 2, S. 289, 292.
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hoch raus. Das ist, was sie jetzt die Signatur der Zeit nennen«,68 so klingt darin die Skepsis gegen den Fortschrittsglauben mit, als hätte nur das Neue recht und nicht auch das Alte, wenn es nur echt und lebendig geblieben ist. So gelingt es Fontäne, an die Doppelgesichtigkeit aller menschlichen Dinge heranzuführen. In dem Roman Effi Briest, 1895, kann man besonders eindringlich verfolgen, wie er sich nicht mit dem Zeitkolorit, nicht mit besonderen Zeitzuständen oder Zeitsignaturen begnügt, sondern wie er die inneren Situationen der Menschen auf ihre Teilhabe an der Zeitlichkeit zurückbezieht. Auch hier ist der Handlungsverlauf durch eine Liebesgeschichte bestimmt, diesmal durch eine Ehebruchsgeschichte, die doch eine besondere, sehr kennzeichnende Zuspitzung erhält. Der Roman beginnt in dem Augenblick, als Effi erfährt, daß Geert von Innstetten, der 38jährige Landrat und Jugendfreund ihrer ihm gleichaltrigen Mutter, um ihre Hand angehalten hat. Sie spricht noch wie ein Kind und ist plötzlich verlobt und fügt sich naiv und bedenkenlos in die neue Situation, die so ganz den gesellschaftlichen Konventionen ihres Standes entspricht. Ihr Gespräch mit den Freundinnen, mit denen sie wie ein reizender, ahnungsloser Backfisch redet, gibt das Unwirkliche ihrer Vorstellungen zu erkennen. Auf die Frage: »Ist es denn auch der Richtige?« antwortet sie: »Gewiß ist es der Richtige. Das verstehst du nicht, Hertha. Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen.«69 Sie merkt gar nicht, wie sehr die Jahre zwischen ihr und ihrem Verlobten stehen, wie sehr sie erst heranreifen müßte, um ihn in seiner Eigenart auch nur zu erkennen oder zu verstehen. Es folgen die Vorbereitungen zur Hochzeit, die Hochzeitsreise, und dann findet sie sich plötzlich einsam und hilflos in dem kleinen pommerschen Landstädtchen an der Ostsee, in Kessin, wo sie als Frau Landrat in einer engen und bedrückenden Atmosphäre sich nicht zurechtzufinden weiß und von mancherlei Ängsten geplagt neben dem pflichtbewußten und ehrgeizigen Manne leben muß, der ihre Nöte seinerseits kaum wahrnimmt. Sie bleibt ohne einen Pflichtenkreis und gerät immer mehr in den Bann des Majors von Crampas, dem man nachsagt, daß er ein »Mann vieler Verhältnisse, ein Damenmann« sei, und der sie zum Ehebruch verführt:
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Ebd., Bd. 3, 5.425. Ebd., Bd. 2, S. 140.
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»Sie fühlte, daß sie wie eine Gefangene sei und nicht mehr herauskönne ... So trieb sie denn weiter, heute, weil sie's nicht ändern konnte, morgen, weil sie's nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht über sie.«70 Aber dann meint es das Schicksal gnädig mit ihr: ihr Gatte wird als Ministerialrat nach Berlin versetzt; sie fühlt sich wie erlöst und kann fünfviertel Jahre nach ihrer Hochzeit die beengende Welt Kessins wieder verlassen. Es scheinen alle Schwierigkeiten überwunden zu sein; sie lebt die nächsten sieben Jahre in zufriedener Eintracht mit ihrem Mann zusammen. Da findet er eines Tages, als sie zu einer Badekur nach Ems gefahren ist, durch einen Zufall ein kleines Päckchen Briefe, die ihm von der lang vergangenen Beziehung seiner Frau zu Crampas Kunde geben. Innstetten meint es dem Ehrenkodex der Gesellschaft schuldig zu sein, seine Frau zu verstoßen und Crampas im Duell zu stellen, in dem dieser den Tod findet. Effi sieht sich verfemt und siecht dahin, bald nachdem sie sich mit den Eltern ausgesöhnt hat und zu ihnen zurückgekehrt ist. Man könnte diese Geschichte wie einen Novellenstoff hinnehmen, der die Sitte einer streng gefügten Gesellschaft rechtfertigt. Aber Fontäne setzt seine Akzente so, daß wir uns von den objektiven Vorgängen auf die subjektiven Bedingungen zurückgewiesen sehen und rasch merken, daß das von der Konvention geforderte moralische Urteil über den Ehebruch nicht an das Geschehen heranreicht, weil es die Zeiterstreckung der Vorgänge nicht beachtet. Was besagt es erzählerisch, daß das Mädchen noch als halbes Kind heiratet, daß der Mann 20 Jahre älter ist, und vor allem, daß zwischen dem Ehebruch und seiner Entdeckung sieben Jahre einer ungestörten Ehe liegen? Wenn Innstetten gemäß dem starren Gebot der Ehre handelt, so blickt er an der Macht der Zeit vorbei. Ist nicht die Schuld, die er meint strafen zu müssen, längst verjährt? Ist nicht die Wirklichkeit ihres gemeinsamen Lebens über diese im Verborgenen gebliebene Störung hinweggegangen? Er sagt selbst: »Ich bin ohne jedes Gefühl von Haß oder gar von Durst nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht? so kann ich zunächst nichts anderes finden als die Jahre ... Ich hätte nie geglaubt, daß die Zeit, rein als Zeit so wirken könne ... Aber jenes uns tyrannisierende GesellschaftsEtwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung.«71 70
Ebd., S. 310.
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Nach dem Duell sagt er sich von neuem: »Es muß eine Verjährung geben ... ich bin jetzt fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig Jahre später gefunden hätte, so wäre ich siebzig ... Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht schon bei zehneinhalb heißt es Unsinn. Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon überschritten?«72 Es zeigt sich: Fontäne nimmt an dem novellistischen Fall nur Anteil, sofern sich von ihm aus die Macht der Zeit ermessen läßt. Die gesellschaftlichen Konventionen verlangen nach einem Urteil ohne Rücksicht auf diese Macht; sie wollen zeitlos gelten und werden gerade dadurch unwahr und richten sich gegen das Lebendige. In alle menschlichen Beziehungen wirkt die Zeit hinein. So wird auch das Schicksal EfFis erst dadurch erzählenswert, daß es gewissermaßen negativ die Zeitverstrickung des Menschen bestätigt und das starre Gesetz der Konvention in ein ironisches Zwielicht bringt. Das menschliche Handeln mag noch so sehr nach festen Normen verlangen; die Zeit als Lebenszeit des Menschen zwischen Geburt und Tod fordert ihr eigenes Recht. So sagt sich Effi: »Er hatte recht und noch einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er doch unrecht. Alles Geschehene lag so weit zurück, ein neues Leben hatte begonnen, - er hätte es können verbluten lassen, statt dessen verblutete der arme Crampas.«73 In der Geschichte Effi Briests geht es um das Verhältnis von Bestehendem und Werdendem, von altem und jungem Leben; gerade deshalb kann hier der private Fall den Rahmen für einen echten Zeitroman abgeben. Die wechselnde Zeit kommt im individuellen Leben als der eigentliche Erfahrungsraum des Menschen zur Geltung. Sosehr Fontäne sich von der traditionellen Form des Bildungsromans entfernt, er bewahrt doch die Polarität von subjektiver Beteiligung und objektiver Erfahrung und gewinnt dadurch menschliche Weite und Fülle. Ob es ihm gelungen ist, dem deutschen Zeitroman auch europäische Geltung zu verschaffen, mag offenbleiben. Diese Frage führt auf Probleme der künstlerischen Wirkung, die über die besonderen Voraussetzungen des Zeitromans noch hinausführen und mit der Frage der Übersetzbarkeit des eigentlich Dichterischen zusammenhängen. 72
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Ebd., S. 395. Ebd., S. 425.
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Wir werden uns damit begnügen müssen, daß Fontäne dem Zeitthema eine echte dichterische Bedeutung zu geben wußte. Die mannigfachen Bemühungen des 19. Jahrhunderts um einen realistischen Zeitroman in Deutschland hat er auf sehr persönliche Weise für sich fruchtbar gemacht. Es genügt ihm nicht, Zeitfragen zu erörtern, ein Zeitkolorit zu geben oder Zeittendenzen zu vertreten. Sein wesentliches Thema ist der Mensch in seiner Zeitlichkeit, die Macht der Zeit im Wandel der politisch-gesellschaftlichen Zustände und Ordnungen. Insofern steht er trotz aller Verschiedenheit des dichterischen Verfahrens doch in einer geheimen Nähe zu Immermann. Beide bewegt das eigentliche Wechselspiel von Zeit und Charakter. Deshalb möchte man auch bei beiden jenes Wirklichkeitsverständnis wirksam sehen, das sich nicht mit der Abschilderung oder Analyse eines Faktischen beruhigt, sondern jenes philosophisch-kritische Bewußtsein bewahrt, von dem Kant spricht: daß zwar alle Wirklichkeitserkenntnis mit der Erfahrung anfange, aber darum doch nicht aus der Erfahrung entspringt. Denn immer kommt es zugleich auf die menschlichen Auffassungsformen an, in denen sich Wirklichkeit erschließt. Im Hinblick auf Fontäne wird man von einem deutschen Zeitroman des 19. Jahrhunderts sprechen dürfen, der eine echte wirklichkeitserschließende Kraft besitzt, weil er die Zeitdimension des menschlichen Daseins erzählerisch fruchtbar macht.
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Die Bedeutung Nietzsches für die Situation der modernen Literatur*
Die Zusammenhänge, in denen die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte gesehen sein will, die Veränderungen, die sich in ihr vollzogen haben, sind noch wenig begriffen und lassen sich wohl auch nicht auf eine einfache Formel bringen.1 Man mag betonen, daß die dichterischen Bemühungen in enger Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Vorgängen stehen und von ihnen her verstanden sein wollen. Aber bevor darüber etwas auszumachen ist, wird man die geistigen Situationen und literarischen Probleme selbst klären müssen. Dazu genügt es nicht, auf die in der klassisch-romantischen Zeit entwickelten Vorstellungen von der Leistung und Aufgabe des Dichters zurückzugreifen. Wir haben uns in der Literaturforschung der letzten Jahrzehnte mannigfach bemüht, die literarische Überlieferung nicht einseitig von den ästhetischen Begriffen und Erwartungen aus zu beurteilen, die in der Goethezeit beispielhaft wurden. Wir haben gelernt, daß die Formensprache der älteren Epochen ihr eigenes Recht und ihre besonderen Voraussetzungen hat; so werden wir auch die literarischen Vorgänge der letzten 50 Jahre daraufhin befragen müssen, wie weit sie eine geistige Situation zu erkennen geben, die zu tiefreichenden Veränderungen der dichterischen Sprachfähigkeit gefuhrt hat. Wir werden uns darauf besinnen müssen, warum die seit dem 18. Jahrhundert erstrebte Versöhnung von Dichten und Denken in der subjektiven Erlebnisaussprache nicht mehr genügte, um den dichterischen Bemühungen der Moderne ihren Sinn zu geben. Man mag es symptomatisch finden, daß die Dichtung seit 1900 vielfach einer eigentümlichen Mitteilungsnot begegnet ist, von der z.B. Hofmannsthal in * In: Deutsche Vierteljahrsschrift Jür Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27, 1953, H. i, S. 77-101. ' Diese Ausführungen wurden am 28. Februar 1952 vor der Freistudentenschaft in Bern und am 15. September 1952 auf der Germanistentagung in Münster vorgetragen. Die Nietzsche-Zitate beziehen sich auf die Krönersche Gesamtausgabe [d.h. Nietzsches Werke, Leipzig [1919] (Kröners Klassiker Ausgabe); Zitate aus Bd. I beziehen sich dagegen vermutlich auf folgende Ausgabe: Nietzsches Werke, 15 Bde., Leipzig 1901-1905, Bd. r]. III
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dem »Brief« des Lord Chandos ausgeht. Da wird das Unbehagen laut, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen: die Worte »zerfielen wie modrige Pilze«. Je mehr das alltägliche Reden und Schreiben überhand nimmt, um so gefährdeter scheint das echte dichterische Wort, um so bedrohlicher wächst das Schweigen über die dem Menschen wesentlichen Fragen. Wenn man heute nach neuen deutschen Autoren gefragt wird oder gar nach allgemeineren Strömungen und Zielen, wird man sich in einer gewissen Verlegenheit sehen. Vielleicht ist ein Grund für diese beunruhigende Lage, daß die seit dem Naturalismus in Gang gekommenen literarischen Bestrebungen zu wenig verarbeitet und bewußt geworden sind und dadurch eine gewisse Orientierungslosigkeit entstehen konnte. Ich möchte deshalb versuchen, auf die Erscheinung näher einzugehen, deren Wirkung auf die Literatur unbestritten ist, deren Bedeutung und Leistung aber nur zu leicht von jeweils aktuellen Positionen aus bejaht oder verurteilt wird. Es liegt mir nicht daran, Nietzsches Überzeugungen zu verabsolutieren; aber mir scheint, daß sich von kaum einer anderen Gestalt der Moderne aus die eigentlich zentralen Fragen so klar zu erkennen geben, weil es bei ihm immer um die Grundsituation des Menschen geht, wie sie sich durch die neuzeitliche Bewußtseinsproblematik ergeben hat. Dabei mag es sich vielleicht zeigen, daß ihm kaum bestimmte Formeln oder Schlagworte zu entnehmen sind, daß er eher noch auf Sinn und Aufgabe eines eigentlichen Humanismus zurückfuhrt und gerade deshalb für die Literatur so wichtig werden konnte. Diese moderne Literatur wirkt oft sehr reflektiert, subjektivistisch-unverbindlich oder auch konstruiert und unwirklich. Sie verzichtet weitgehend auf eine freiere Entfaltung der Phantasiekräfte und schlägt daher leicht um in nüchterne oder grausame Sachlichkeit. Vielleicht läßt sich auch über diese Erscheinungsformen des literarischen Tuns und ihre Gründe von Nietzsche aus etwas sagen. Jedenfalls zeigt sich schon einem ersten orientierenden Rückblick, daß die Wirkung Nietzsches auf das literarische Leben seit dem Naturalismus der achtziger Jahre kaum überschätzt werden kann, daß sie allerdings in ihren wechselnden Formen nicht leicht zu bestimmen ist und ihm oft wohl gar zu eindeutige Parolen entnommen wurden. Aber gerade bei den bedeutenden Erscheinungen dieser Epoche — an denen sie ja gewiß nicht arm ist - spielt das Werk Nietzsches eine mehr oder minder entscheidende Rolle, sofern in seinem Zeichen eine Selbstbesinnung über die eigenen Absichten möglich wurde. Thomas Mann hat frühzeitig und 112
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später zu wiederholten Malen bezeugt, wie wesentlich ihm die Begegnung mit Nietzsches Denken wurde und wie sehr er das Faszinierende dieser Gestalt empfunden hat. Hermann Hesse hat schon im Peter Camenzind von 1904 den Namen Nietzsches sehr betont an den Anfang des geistigen Erwachens seines Helden gestellt und 1919 in der Schrift Zarathustms Wiederkehr ein Wort an die deutsche Jugend gerichtet, das sie auf die Gestalt verweist, die den Dichter selbst »zuerst und zustärkst an sein eigenes Ich und sein eigenes Schicksal gemahnte«. Auch für Rilke scheint Nietzsche eine entscheidende Bedeutung besessen zu haben, vor allem wohl seit der Begegnung mit Lou Andreas-Salome: wenn man sein Florenzer Tagebuch von 1898 liest, in dem sich eine eigentliche Entschiedenheit seines geistigen Lebens zuerst deutlicher zeigt, ist die Nähe zu Nietzsches Zarathustra kaum überhörbar, so wenn er sagt, daß der Weg des »Schaffenden« nur »der Weg zu sich selbst« sein kann und daß er nun aufhöre, »das Leben zu verdächtigen und seiner Macht zu mißtrauen«. Stefan George hat in seinem Nietzsche-Gedicht im Siebenten Ring bald nach Nietzsches Tod 1900 ihn als ein erhellendes Zeichen auch für das eigene Schicksal gefeiert. Und die Vertreter der nachfolgenden Generation haben nicht aufgehört, sich an ihm zu orientieren. Gottfried Benn, der als Essayist und Lyriker heute eine stetig wachsende Beachtung findet, sagte zu Nietzsches 50. Todestag über ihn: »Er ist, wie sich immer deutlicher zeigt, der weitreichende Gigant der nachgoethischen Epoche ... Ich könnte hinzufugen, für meine Generation war er das Erdbeben der Epoche und seit Luther das größte deutsche Sprachgenie.«2 Wir können nicht versuchen, der Vielfalt der Beziehungen Nietzsches zur modernen Literatur nachzugehen; bevor darüber etwas auszumachen ist, wird zu klären sein, in welchem Sinn sein Werk überhaupt eine so entscheidende Bedeutung für das literarische Leben gewinnen konnte. Wir wollen deshalb zu erläutern suchen, inwiefern er den Erwartungen von der Dichtung eine neue Richtung gab und dadurch zugleich ihre Formensprache verwandelte und überkommene Maßstäbe in ihrer Geltung einschränkte. Indem wir dann zwei so gegensätzliche Vertreter der modernen Literatur wie Stefan George und Thomas Mann zu Nietzsches Positionen in Beziehung setzen, hoffen wir etwas von dem übergreifenden Zusammenhang des literarischen Geschehens sichtbar zu machen. Auf den ersten Blick lassen sich kaum größere Unterschiede des künstle2
Gottfried Benn, Frühe Prosa und Reden, Einl. von M. Dense, Wiesbaden 1950, S. 253, 255. 113
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rischen wie menschlichen Verhaltens denken. Bei George begegnet ein gesteigertes Pathos der Form; bei Thomas Mann steht das Dichten in einem ständigen Wechselverhältnis zur Bewußtheit, ja zur fast wissenschaftlich beobachtenden Analyse. Und doch, sofern man auf die Bedeutung achtet, die Nietzsche für beide besitzt, zeigt sich eine tiefere Gemeinsamkeit, die das Kräftespiel des literarischen Lebens erhellt. Nietzsche hat als Altphilologe begonnen und ging dann einen Weg, der ihn von aller Einzelforschung wegführte. Aber war er damit zum Dichter oder auch nur zum Theoretiker der Dichtkunst geworden, etwa in der Art der früheren Ästhetiker? In welchem Sinn vermag er eine für die Dichtung wesentliche Situation erkennbar zu machen? Wenn er in seinen frühen Schriften mit einer Kritik des deutschen Bildungslebens beginnt und den Ursprung der griechischen Tragödie zu deuten versucht, so besagt das, daß er über die Situation der Goethezeit hinausdrängt und sowohl das Verhältnis von Wissenschaft und Dichtung wie das zur antiken Bildungstradition neu zur Erörterung stellt. Es geht ihm nicht primär um die Dichtung, sondern allgemeiner um das Recht des Geistes und den Anspruch der Bildung; er begnügt sich nicht mehr mit den bisherigen Zuordnungen, sondern radikalisiert sie, indem er grundsätzlicher nach dem Verhältnis von Geist und Leben fragt und damit die seit den Jungdeutschen ständig wiederkehrende Berufung auf das Leben in ihrer Hintergründigkeit bewußt macht. Die Bildungs- und Sprachkritik führt ihn auf die Frage, wie alle Kultur sich vor den Anforderungen des Lebens verantworten kann. Seine Kritik rechtfertigt den Primat des Lebens. Er sagt: »Soll nun das Leben über das Erkennen, über die Wissenschaft, soll das Erkennen über das Leben herrschen? Welche von beiden Gewalten ist die höhere und entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt, denn ein Erkennen, welches das Leben vernichtete, würde sich selbst mitvernichtet haben«.3 Mit dieser Unterordnung des Erkennens unter das Leben ist scheinbar eine eindeutige Stellungnahme gewonnen, die in der modernen Literatur oft genug zum Ausgangspunkt genommen wurde und jeden Naturalismus und Biologismus in der Themenstellung zu rechtfertigen schien. Es käme dann nur noch auf die vielberufene Lebensnähe an. Und doch ist nun für Nietzsche die Hinwendung zum Leben erst deshalb entscheidend, weil es im Erkennenden selbst wirkt; das Erkennen kann sich nicht 3
Nietzsche, Werke (Anm. i), Bd. I, »2. Unzeitgemäße Betrachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historic fur das Leben«, S. 380. 114
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aufgeben, sondern muß sich unter dem Anruf des Lebens wiederherstellen, so daß das Leben das Erkennen, den Geist als ihm selbst zugehörig umgreift. Sofern zum menschlichen Bewußtsein auch Sprache und Kunst gehört, muß die Dichtung vor diesem Primat des Lebens sich in ihrem Wesen, ihrer Leistung zu erkennen geben und damit aus dem Raum der Goethezeit heraustreten. Die Kulturkritik im Zeichen des Lebens fuhrt mit eigener Konsequenz zu einer Besinnung auf die Leistung der Kunst im Zeichen des Lebens. Die Dialektik von Erkenntnis und Leben muß auch in ihr wirksam werden. So läßt sich Nietzsches Bedeutung für die literarische Situation nur genauer fassen, wenn wir uns klar machen, in welchem Verhältnis er Dichten, Denken und Leben sieht; das Dichten sieht sich durch das Erkennen, die Wissenschaft in Frage gestellt und zugleich durch seine Bedeutung für das Leben auf eigentümliche Weise gerechtfertigt. Die Möglichkeiten wie die Gefährdungen der modernen Kunst kommen deshalb durch Nietzsche zu neuer Bewußtheit. In diesem Fragezusammenhang zeigt sich die eigentliche Bedeutung von Nietzsches erstem Buch, der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1870/71). Hier zuerst spricht er von seinen Erwartungen von der Kunst; rückschauend, in seinem Vorwort von 1886, sagt er ausdrücklich, daß er sich damals an die ihm wesentliche Aufgabe gewagt habe, »die Kunst unter der Optik des Lebens« zu sehen. So begnügt er sich nicht mit einer Interpretation der griechischen Tragödien oder mit der Frage nach ihren konkreten Entstehungsbedingungen, sondern er geht bewußt über das hinaus, was die Griechen selbst dazu gedacht haben; er sagt, daß ihnen der tragische Mythus niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist und ihre Helden oberflächlicher sprechen als sie handeln.4 Er erläutert die Kunst als eine rettende, heilende Kraft, durch die das Leben erst möglich gemacht wird. »Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen«.5 »Ihn rettet die Kunst und durch die Kunst rettet ihn sich das Leben«.6 Die Kunst bekommt also eine Funktion für das Leben selbst; sie wird zum Mittel, durch welches sich das Leben den Menschen rettet, kraft dessen der »Wille«, als die das Leben erfüllende Macht, sein Geschöpf im Dasein festhält und zum Weiterleben zwingt. 4 5 6
Ebd., S. 118. Ebd., S. 31. Ebd., S. 55-
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Die Kunst wird also nicht mehr als ein Werk des Menschen befragt, sondern sie weist über ihn zurück, auf etwas im Menschen Waltendes, das sich der Kunst als Mittel bedient: »Der gierige Wille findet ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen«.7 In dieser Umwendung der Fragestellung, in der Rückverweisung der Kunst an das Leben, das sie braucht, um sich den Menschen zu erhalten, liegt all das beschlossen, was durch Nietzsche an Beunruhigungen wirksam wurde und die Selbstgenügsamkeit des künstlerischen Schaffens in Frage zu stellen vermochte. Denn nun kann zwischen dem, was sich im Kunstwerk unmittelbar zeigt, und dem, was es eigentlich leistet, unterschieden werden und eine eigentümliche Entlarvung der Kunst beginnen. Sie muß sich nicht mehr nur, wie seit dem 18. Jahrhundert so oft, neben der Erkenntniswahrheit behaupten, sondern ihre Bedeutung für die Lebensbewältigung rechtfertigen. Nietzsche fragt über das Wechselverhältnis von Mensch und Kunst hinaus, so daß das Werk vom Leben her gesehen immer noch etwas anderes bedeuten kann, als es von sich aus zeigt. In der Kunst ist der Wille des Lebens wirksam; es fragt sich, wie dieser Wille die Kunst braucht, um sich selbst zu behaupten, inwiefern der Künstler als Medium des Willens dazu hilft, das Leben zu bewahren. So kann nun Nietzsche die Frage nach dem Ursprung der Kunst neu stellen und das künstlerische Schaffen auf die Kunsttriebe der Natur zurückbeziehen, die als Traum und Rausch begegnen und jeder bewußten Verfügungsgewalt des Menschen entzogen sind. Die »Bilderwelt des Traumes« und die »rauschvolle Wirklichkeit« einer mystischen Einheitsempfindung sind die »Kunstzustände der Natur«, denen jeder Künstler als »Nachahmer« folgt, so daß er entweder als »apollinischer Traumkünstler« oder als »dionysischer Rauschkünstler« verstanden werden kann. Das Apollinische und das Dionysische verhalten sich zueinander wie Traum und Rausch. Aber wesentlich ist nun, daß Nietzsche diese Begriffe nicht benutzt, um eine Künstlertypologie zu entwerfen, sondern um das Verhältnis der Kunst zum Leben zu erläutern. Wenn für die gewohnte Vorstellung die Kunst dem Reich Apolls zugehört und eine eigene Welt der Bilder und Gestalten schafft, so hat für Nietzsche diese apollinische Kunst nur eine vordergründige Bedeutung, da sie von sich aus noch nichts über ihre eigentliche Leistung aussagt. Sie rückt in die Nähe der Täuschung, der Illusion, des bloßen Scheins und vermag das 7
Ebd., S. 125.
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ästhetische Verhalten noch nicht zu rechtfertigen. Sie wirkt wie ein Schleier, der die dionysische Welt verbirgt, um sie dem Menschen erträglich zu machen. Die apollinische Kunst gewinnt ihre Lebenswirksamkeit erst dadurch, daß sie eine Traumwirklichkeit vortäuscht, die den Menschen vor der zerstörerischen Gewalt des Dionysischen und damit der Übermacht des Lebens bewahrt. So läßt sie sich in ihrer Bedeutung erst vom Dionysischen her fassen, das als ein Zustand des Rausches zu der Macht des Willens als dem bestimmenden Grundzug des Lebens in einem unmittelbaren Bezug steht. Diese Kunstanschauung steht im Zusammenhang mit einer Willensmetaphysik, die ihre Herkunft von Schopenhauer nicht verleugnet, aber dadurch wirksam wird, daß sie nach der Leistung der Kunst für die Lebensbewältigung fragt. Das Dionysische ist als Zustand des Rausches dem Apollinischen seinem Wesen nach zwar völlig entgegengesetzt, aber es bedient sich zugleich seiner, um dem Menschen erträglich zu werden. Die Musik als dionysische Kunst des Rausches drängt im Sinne Richard Wagners von sich aus zum Bild, zum Wort und damit zu apollinischen Kunstformen; sie wird als Voraussetzung der griechischen Tragödie und ihrer Mythenwelt verstanden. Im tragischen Mythos spricht sich die dionysische Erfahrung, in der der Mensch mit dem Willen des Lebens eins wird, als Bild gleichnishaft aus. So wird in dieser Deutung der Tragödie erkennbar, wie Nietzsche sie unter der Optik des Lebens begreift: er versteht sie als die Kunstform, die es den Griechen ermöglicht, der zerstörerischen Gewalt des Lebens standzuhalten. Indem er die »Verbildlichung der dionysischen Weisheit durch apollinische Kunstmittel« als die eigentliche Leistung der griechischen Tragödie bezeichnet, hat er die Kunst auf die Mächtigkeit des Lebens zurückbezogen. Die Umwendung von der ästhetischen Fragestellung, die die Kunst als Werk und Leistung des Menschen erläutert, zu der lebensphilosophischen Deutung, die die Kunst als eine Funktion des Lebens begreift, bleibt die Voraussetzung für alles, was Nietzsche an eigenen Kunstanschauungen entwickelt, aber auch für alles, was ihm an Darstellungsmitteln und Aussageweisen zur Verfügung steht. Darüber hinaus werden wir zu fragen haben, wie weit er durch diese Rückbeziehung der Kunst auf das Leben die Grundlagen bewußt macht, die der Situation der modernen Kunst zugehören. Denn nun ergibt sich aus dieser Analyse der Lebensfunktion der Kunst zunächst ein tiefes Mißtrauen gegen ihre konkreten Erscheinungsformen. Wenn das Bewußtsein einmal durchschaut hat, daß die Bilderwelt der Dichtung nicht ihren Sinn in sich trägt, sondern sich wie ein täuschender 117
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Traum vor die Abgründe des Lebens schiebt, dann bleibt die Frage, wie eine solche Welt des Scheins sich noch behaupten kann. In der Abhandlung über die Geburt der Tragödie erscheint Sokrates, der theoretische Mensch, als der große Gegenspieler des dionysischen, des künstlerischen Menschen; der philosophische Gedanke überwächst die Kunst. Aber zugleich erhebt sich das Bedenken, ob es nicht die Möglichkeiten des Erkennens weit übersteigt, wenn dieses sich anmaßt, an die Stelle der Kunst treten und das Gesetz des Lebens enthüllen zu können. Es erscheint als Wahn, »daß das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche«.8 So bleibt die Frage, ob nicht die Kunst »ein notwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft ist«9 und diese an ihren Grenzen wieder in Kunst umschlagen muß, da sie nicht umhin kann, sich dem »metaphysischen Wahn« zu überlassen. Es meldet sich die Hoffnung, daß in der eigenen Zeit eine Wiedergeburt der Tragödie möglich sei, die dann freilich später, im Kampf gegen Richard Wagner, um so energischer verleugnet wird. Wichtig ist an diesen Zukunftserwartungen nur, daß durch die Rückbeziehung der Kunst auf das Leben auch ihr Verhältnis zur Wissenschaft wieder zu einem dringlichen Problem geworden ist und die Selbstgewißheit der Kunst erschüttert scheint. In dem Aphorismenband Menschliches-Allzumenschliches (1876/78), der einer mehr positivistisch-skeptischen Periode Nietzsches angehört, spielt die Entlarvung der Kunst als einer bloßen Scheinwelt eine große Rolle, so daß nun das wissenschaftliche Erkennen einen echteren Zugang zum Leben verspricht. Jetzt heißt es: »Der Künstler hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität als der Denker; er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen«.10 Oder es wird gesagt: »Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch, daß sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt«." Oder: »Die Künstler sind die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrtümer der Menschheit«.12 Oder schließlich: »Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen«.13 So erscheint hier der Künstler in einem sehr problema* Ebd., S. 105. '·> Ebd., S. 102. 10 Nietzsche, Menschliches-Allzumenschliches I (1876/78), Nr. 146. " Ebd., Nr. 151. 12 13
Ebd., Nr. 220. Ebd., Nr. 222.
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tischen Licht: das Poetenvolk hat »Lust an der Lüge«, besteht aus »Betrügern«. Denn »sie sind der Wirklichkeit zeitweilig müde und nehmen den dichterischen Traum als eine wohltätige Ausspannung für Kopf und Herz«.' 4 Man wird den Künstler deshalb immer mehr als ein »herrliches Überbleibsel« ansehen, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hing. Er kann nur noch in dem Maß Geltung beanspruchen, wie er selber »Wegweiser für die Zukunft« wird, und das kann er nur noch, wenn er statt an den Götterbildern am »schönen Menschenbilde« fortdichtet: er wird »nur Wirkliches darstellen und von allen phantastischen abergläubischen ... Gegenständen absehen«.15 Er scheint damit auf eine der modernen Bewußtseinssituation entsprechende selbstkritische Haltung zurückgewiesen zu sein, die sich nur noch um die Erschließung der Wirklichkeit bemüht. Und doch, sofern Nietzsche davon ausgegangen war, daß sich das Leben den Menschen durch die Kunst rettet, bleibt die Frage, ob nicht Kunst und Erkenntnis unter dem gleichen Schicksal stehen und sich immer von neuem wechselseitig fordern, ob nicht auch der Freigeist seine eigene Art von Künstlertum durchsetzen wird. Wenn das Erkennen nur immer dem Leben dienen muß und nie ans Ziel kommt, bleibt es einem Dichten verschwistert, das dem Denken selbst noch sein Ziel weist. Diese Dialektik führt dazu, daß Nietzsche im Zarathustra 1883/84 sich einer dichterischen Darstellungsform nähert und das ihn bewegende Verhältnis von Dichten, Denken und Leben von neuem zu durchdringen sucht. Zarathustra ist der Dichter, der seines Dichtertums bewußt wird, über es hinausstrebt zum Tun und Vollbringen, um es doch nur von neuem zu rechtfertigen. In dem Zarai/iwiira-Kapitel »Von den Dichtern« zeigt sich, daß die bisherige Kritik am Dichter ihr Recht behält: es treffen ihn wieder die Vorwürfe der Halbheit und Eitelkeit, des unreinen Denkens, der Freude am Schein, der Erfindung von Göttern und metaphysischen Hinterwelten. Das Urteil lautet nun: »Die Dichter lügen zu viel«.16 Aber zugleich ist es wesentlich, daß dieses Wort auf Zarathustra selbst zurückgewendet wird, daß er sich in dieses Urteil mit einbegreift und die Notwendigkeit der Lüge anerkennt: »Gesetzt, daß jemand allen Ernstes sagte, die Dichter lügen zu viel: so hat er recht, - wir lügen zu viel. Wir wissen auch zu
14
Nietzsche, Menschliches-Allzutncnschliches II, Nr. 32. " Ebd., Nr. 114. lft Nietzsche, Werke (Anm. i), Bd. VI: Also sprach Zarathustra, S. 125 (»Auf den glückseligen Inseln«) u. 186 (»Von den Dichtern«). 119
Nietzsche und die moderne Literatur
wenig und sind schlechte Lerner: so müssen wir schon lügen«. 17 Um diese Paradoxie von der Dichtung als einer notwendigen Lüge zu begreifen, wird man genauer fragen müssen, in welchem Sinn es in der Dichtung um Wahrheit und Lüge geht, ob mit der Lüge die absichtliche Täuschung, die bewußte Unwahrheit gemeint ist oder ob sie sich als Folge eines Nichtwissens ergibt. In dem Kapitel »Von der unbefleckten Erkenntnis« heißt es: »Wer sich selber nicht glaubt, lügt immer«.' 8 Wenn wir diesen Satz mit dem über die Dichter zusammennehmen, so folgt daraus, daß die Dichter zu viel lügen, weil sie sich selber nicht glauben: die Lüge ist also nicht der Erkenntniswahrheit, sondern der Wahrheit des Menschseins zugeordnet. Das Verhältnis von Wahrheit und Lüge erhält eine neue Dringlichkeit, weil es nicht um ein erkennbares Faktum außer uns geht, sondern um das Selbst in uns selber. Die Dichter lügen zu viel, sofern sie ihrem Selbst nicht folgen. Das Leben ist die entscheidende Macht, auf die sich Nietzsche auch hier zurückgeführt sieht. Aber mit dem Leben ist nicht ein biologischer Vorgang gemeint, sondern die im Menschen wollende Macht, die auch sein Denken und Dichten mit umfaßt und insofern als eine metaphysische Instanz verstanden sein will. Sofern das Selbst sich selber glaubt, glaubt es an seine Teilhabe am Leben, will es im Willen das Leben; sofern es seinem Selbst nicht glaubt oder nur unvollkommen zu ihm vordringen kann, fällt es aus dem Leben heraus und ist zur Lüge geworden. Die Dichter lügen zu viel, heißt also, sie wollen ihr Selbst nicht und geraten dadurch ins Nichts, das die Lüge ist. Die Lüge erscheint nicht im Bewußtseinshorizont, sondern im Seinszusammenhang; der Lügner verfällt einem Schein, sofern er sich selber nicht glaubt. Das Verhältnis des Selbst zum Leben macht erst die eigentümliche Situation der Dichter verständlich und führt auf die Frage zurück, wie weit das Leben die Lüge, den Schein braucht, um sich selbst zu wollen. Das Problem der Dichtung als Lüge weist ins Unheimliche, Verborgene, weil es in der Dichtung um die Bedeutung der Lüge für das Leben geht. Im Dichten handelt es sich letztlich um die Frage nach der Wahrheit der menschlichen Existenz. Damit ist deutlich, daß im Zarathustm alle Äußerungen über die Dichter immer zugleich das Verhältnis von Geist und Leben, Wahrheit und Wille zu klären suchen. In dem Kapitel »Von den Verächtern des Leibes« wird Geist und Vernunft und damit auch das Dichten auf die Macht des 17
llf
Ebd., S. 187. Ebd., S. 181 (»Von der unbefleckten Erkenntnis«). I2O
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Willens zurückbezogen. »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heißt Selbst... Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge ... Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Verachten, es schuf sich Lust und Weh. Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens«.19 Diese Worte meinen nicht, daß das einzelne Subjekt seinen Geist benutzen sollte, um irgendwelche ihm nützlichen Ziele zu erreichen, sondern sie sprechen von der Mächtigkeit des Lebens, die allem bewußten Planen als ein Unbekanntes voranliegt und den Geist als »Hand seines Willens«, als »Werkzeug des Leibes« braucht. Es erfolgt eine Rückbeziehung des Geistes auf den Willen des Lebens, der im Selbst wirksam ist; damit kann auch die Kunst befragt werden, was sie im Hinblick auf den Willen des Lebens leistet. Sie erscheint einerseits als Lüge, sofern sie die Macht des Willens, des Lebens verdeckt, Traum- und Hinterwelten ausbaut, das eigene Selbst verleugnet; andererseits aber bleibt sie ein Mittel, durch das der Wille erst Gestalt gewinnt und sein Ziel zu erreichen weiß. Sie zeigt ein Doppelgesicht, entsprechend jenen beiden Gestalten, denen Zarathustra am Anfang seiner Wanderung begegnet. Der Heilige im Walde macht Lieder und singt sie zum Lobe Gottes, ohne zu wissen, daß Gott tot ist; er glaubt nicht an sich selber und gerät als Hinterweltler in die Lüge. Dagegen hat der Seiltänzer aus der Gefahr seinen Beruf gemacht und wird zum Sinnbild des Menschen »auf dem Wege«, der mit seinem Tanz auf dem Seil ein Beispiel gibt, wie die Kunst noch möglich und nötig bleibt. Erst aus dieser Doppelgesichtigkeit des Dichters ergibt sich die Eigentümlichkeit des Zarathustrastils, der immer fühlbar machen muß, daß Denken und Dichten vom Leben her begriffen sein wollen. Nietzsche sieht sich in eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen Dichten und Denken gebracht, sofern er sich weder dichtend auf eine metaphysische oder mythische Welt zurückziehen, noch denkend und erkennend auf eine Gegenständlichkeit richten kann. Er muß seinem Sprechen einen Sinn geben, obzwar und gerade weil es unter dem Verdacht der Lüge steht. Die Einheit von Geist und Leben, des Individuellen und Allgemeinen, die die klassische Symbolform ermöglichte, scheint in Frage gestellt; nur noch die ins Unbewußte hinabreichende Teilhabe an der Mächtigkeit des Lebens vermag die Sageweise der Dichter zu rechtfertigen. So wird Spiel, Tanz, Ironie und Parodie zum Zeichen einer Kunst im Dienste des Lebens. Es bleibt nichts, als Ebd., S. 47f. (»Von den Verächtern des Leibes«). 121
Nietzsche und die moderne Literatur
entweder redend und singend vom Selbst als einem vom Willen Gewollten Kunde zu geben oder die Lügen der Dichter zu entlarven; diese Doppelheit des Zarathustrastils weist auf Möglichkeiten des Dichtens voraus, wie sie in George und Thomas Mann in sehr gegensätzlicher Weise sich auseinanderlegen. So müssen wir zu klären suchen, wie dieser Zarathustrastil der Zarathustragestalt Bedeutung gibt. In dem Maße, wie Zarathustra nach der Wahrheit des Selbst verlangt und doch der Lüge des Dichters ausgesetzt bleibt, läßt sich sein Wesen an seiner Not, sich mitzuteilen, ablesen; er macht offenkundig, wie sehr Nietzsche vor ein Problem der Mitteilung geraten ist. Dichten und Denken haben sich gegenseitig in Frage gestellt und fordern sich doch. Das Eigenrecht der Phantasie hat ebenso abdanken müssen wie das der Logik; so bleibt nur die Selbstbehauptung der Sprache. Zarathustra begegnet als Sprechender, Redender, der sich wohl als ein Lehrender versteht, aber doch keine Lehre im sachlichen Sinne oder in methodischer Entfaltung vorträgt; selbst wenn man ihn als Propheten bezeichnen wollte, bliebe die Frage, in wessen Dienst er steht, ob man ihn einen »Propheten des Lebens« nennen dürfte. Gleich am Anfang der »Vorrede« heißt es: »Verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zarathustra, ein Erwachter ist Zarathustra«. Als ein Verwandelter und Erwachter beginnt er zu reden, nachdem er in der Einsamkeit gelebt hat und in ihr eine Weisheit gewonnen hat, die sich bezeugen muß: »Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. Ich möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Torheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind«. Wenn er als ein Erwachter die Weisheit zur Torheit macht, so nur darum, weil er zu sich selbst erwacht ist; er kann die Menschen zu nichts anderem rufen als zu sich selbst. Sofern der Arme zu sich selbst erwacht, kann er der Reiche sein, wie der Weise als töricht erscheint, sofern seine Weisheit ihm den Weg zu sich selbst versperrt. So kann Zarathustra im Grunde nur die eine Botschaft bringen: »Werde, der du bist!«.20 Seine Lehre besteht nur in dem Aufruf an die Menschen, das zu sein, was sie sind, zu ihrem Selbst zu erwachen. All seine Reden können deshalb nur den zu sich selbst Erwachten bezeugen und müssen auf die dichterische Entfaltung von Situationen und Geschehnissen ebenso verzichten wie auf die sachliche Erörterung einzelner Erkenntnisse. Im Rückgang auf den in Ebd., S. 346 (»Das Honig-Opfer«). 122
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ihm waltenden Willen ergreift sich das Selbst als Selbst: »O, du mein Wille! Du Wende aller Not, du meine Notwendigkeit! Bewahre mich vor allen kleinen Siegen! ... Daß ich einst bereit und reif sei im großen Mittage ... b.ereit zu mir selber und zu meinem verborgensten Willen«.21 Nur in solchem Sinn ist Zarathustra der »Fürsprecher des Lebens, der Fürsprecher des Leidens, der Fürsprecher des Kreises«; er weiß darum, daß man »sich selber lieben lernen« muß, weil man nur so seinen Weg findet: »Den Weg nämlich — den gibt es nicht«.22 Zarathustra ist nur insoweit ein Prophet und Lehrer des Lebens, als er das Leben in sich selber will und ihm dadurch eigene Tiefe und Bedeutung gibt. Nur wenn man dieses Erwachen zu sich selbst als das eigentliche Thema aller Reden Zarathustras festhält, wird man sich in der verwirrenden Vielfalt der Aussagen zurechtfinden, verraten die oft so befremdlichen Vorstellungen ihren eigentlichen Sinn. Sie werden gerade dadurch paradox, daß sie nicht als sachliche Feststellungen gemeint sind, sondern als Hinweise auf das im Selbst sich wollende Leben. Wenn Zarathustra sich als »Lehrer der ewigen Wiederkunft« bezeichnet, so spricht er von dem Selbst, das sich nur in der ewigen Wiederkehr des Lebens zu finden weiß, das sich nicht im Zusammenhang der Kulturentwicklung versteht oder einer religiösen Erlösungsbotschaft vertraut, sondern sich auf sich selbst verwiesen sieht. So ist auch die Lehre vom Übermenschen nicht biologisch gemeint, als ließe sich durch zweckmäßige Planung der Mensch verändern; es geht vielmehr um eine neue Voraussetzungslosigkeit und Unerschrockenheit des Willens, die den Menschen als Menschen wieder herstellt, sofern er sich als den vom Leben selbst Gewollten auch selber will. So wird das so problematische, immerhin schon in Goethes Faust auftauchende Wort vom Übermenschen zu einem Hinweis auf einen möglichen Humanismus, der im Zeichen des Lebens den Menschen als einen zu sich selbst erwachten und verwandelten begreift. »Dies bedeute euch Wille zur Wahrheit, daß alles verwandelt werde in Menschen-Denkbares, Menschen-Sichtbares, Menschen-Fühlbares«.23 Und wenn sich Zarathustra als der »Gottlose« bezeichnet, geht es nicht um Recht oder Unrecht des Atheismus, sondern um die Frage, ob und wie die Berufung auf Gott den Menschen von sich selbst ablenkt und ihn daran hindert, das in ihm wollende Leben auch zu sein. So ist das Zara21
Ebd., S. 3i2f. (»Von alten und neuen Tafeln«, Nr. 30). Ebd., S. 286 (»Vom Geist der Schwere«). ~3 Ebd., S. 124 (»Auf den glückseligen Inseln«). 22
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thustrareich nur das Reich dieser zu sich selbst verwandelten Menschen, die in der ewigen Wiederkehr des Lebens nur immer auf dem Wege zu sich selbst sind. Zarathustras Lehre ist keine Lehre von Etwas, sei es vom Leben, vorn Übermenschen oder was immer, sondern nur ein Rückruf des Lebens zu sich selbst; seine Worte sind nur der Stimme gewordene Wille, der in seinem Selbst sich will. In dieser Rückwendung der Rede auf den Redenden liegt die eigentliche Aussagenot und Mitteilungsschwierigkeit beschlossen, die letztlich eine Not des Denkens und Dichtens ist. Wenn die Erkenntnis ein Organ des Lebens ist, so entscheidet das Leben und nicht die Erkenntnis darüber, ob das Gesagte wahr oder falsch ist. Der Redende sieht sich vor die Paradoxie gebracht, daß er die Wahrheit der Erkenntnis nur durch die Wahrheit des Lebens bewähren kann, das er selbst ist. Und zugleich braucht dieses Leben sein Dichten und Denken, um ihn im Leben festzuhalten, so daß es ihn täuschen kann. Das Denken gerät in einen Zirkel, der das sachlich erkennende Wort in Frage stellt. Zarathustra kann nur noch als Stimme des Lebens sprechen, sofern sie von ihm als einem Selbst zeugt, in dem sich das Leben will; er muß auf methodische Gedankenentwicklung ebenso verzichten wie auf die Entfaltung einer dichterischen Vorstellungswelt und bleibt bei der Selbstbezeugung stehen. Damit sind die traditionellen Unterscheidungen zwischen Dichtung und Philosophie verlassen; aber zugleich ist die Selbstvergewisserung des Menschen in der Sprache als seine eigentliche Humanisierung zu leisten gesucht. Das dichterische Wort gerät damit in einen neuen Aggregatzustand der Bewußtheit. So lebt nun die Sprache des Zarathustra aus der Metaphorik und dem Paradox. Denn die Gleichnisrede weist hier auf das Paradox zurück, daß die Begriffssprache nicht ausreicht und die Metapher doch nach begrifflicher Auflösung verlangt, die aber höchstens im Wortspiel versucht werden kann. An der Verwendung der Metaphorik wird die Mitteilungsnot offenkundig; das Eigentliche kann nur in Umschreibungen gesagt werden. Solange man Nietzsches Aussagen direkt nimmt, sind sie einem ständigen Mißverständnis ausgesetzt. Die Bestimmtheit des Begriffs scheint preisgegeben zu sein; aber zugleich weist die Gleichnisrede auf die Begrifflichkeit zurück, die durch die Metaphorik neue Stoßkraft bekommt. An der Sprache wird die Widersprüchlichkeit einer Lebenssituation erkennbar, in der die in den Worten gegenwärtige Bildungsüberlieferung nicht mehr der eigenen Lebenswirklichkeit entspricht. Bewußtheit und Bild, Tradition und Wirklichkeit müssen sich von neuem 124
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verbinden. So vollzieht sich im Zarathustrastil die eigentliche Bewegung des zu sich selbst Erwachens. Dabei werden nicht nur einzelne Metaphern verwendet, sondern sie vereinigen sich zur Gleichnisrede, die nach Auflösung verlangt und in die Nähe der Allegorie gelangt. Aber ist sie wirklich auflösbar? Zarathustra fordert seine Hörer auf, seine Rätsel zu raten: »Ihr Kühnen um mich! Ihr Sucher, Versucher und wer von euch mit listigen Segeln sich in unerforschte Meere einschiffte! Ihr Rätselfrohen! So ratet mir doch das Rätsel, das ich damals schaute, so deutet mir doch das Gesicht des Einsamsten! ... Was sah ich damals im Gleichnisse?«24 Schon in diesen wenigen Sätzen geht die begriffliche Aussage in die Metaphorik über, die als ein Bild derjenigen verstanden sein will, die zu sich selbst erwachen, die als die »Rätselfrohen« nach neuen Setzungen verlangen. Das Gleichnis will nicht nur emotional aufgefaßt werden, sondern gibt das Verhältnis von Geist und Leben zu erkennen. So erscheint denn das Bild als ein Gesicht, das sich raten läßt; es wird in dem Maße einsehbar, als es auf den sich selbst wollenden Willen zurückweist. Einem schlafenden Hirten kroch eine schwarze, schwere Schlange in den Schlund und biß sich da fest; der Versuch, sie herauszureißen, ist umsonst. »Da schrie es aus mir: Beiß zu! Beiß zu! den Kopf ab! Beiß zu!« Dieses Gleichnis mutet vieldeutig und unbestimmt an. Und doch, sofern die Schlange als das listigste Tier zu Zarathustras ständigen Begleitern gehört, läßt sich sein Sinn festlegen. Wenn die Schlange schwarz und schwer wird und den Schlafenden würgt, so deutet sie auf das Übermaß des Wissens, das den nicht zu sich erwachten Menschen hindert, er selbst zu sein. Solch Wissen ist nicht einfach auszureißen und abzulegen. Die Aufforderung: »beiß zu« besagt, daß die Situation der Verwandlung gewonnen werden muß, in der das Wissen in den Dienst des Lebens tritt. Und wenn der Hirt dann den Kopf der Schlange ausspeit, so wird damit bedeutet, daß der Hirt ein Verwandelter geworden ist, der sich selbst will. In entsprechender Weise wäre zu fragen, ob nicht die Bilder und Gleichnisse im Zarathustra in einem strengen Verweisungszusammenhang stehen und dadurch ihren Sinn zu erkennen geben. Sie weisen als Chiffern auf das sich selber wollende Leben zurück und bleiben insofern rational bezogen und einsehbar; und doch sagen sie mehr, als die immer nur formelhafte Begrifflichkeit. Es entsteht eine Chiffernsprache, die voraussetzt, daß man den Bezugspunkt kennt, von dem her sich ihr Sinn 24
Ebd., S. 234 (»Vom Gesicht und Rätsel«). 125
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zeigt, die aber dadurch sich rechtfertigt, daß sie die Beziehung von Leben und Geist, Wirklichkeit und Begriff in die Schwebe bringt. Die Sprache sucht den Begriff zu überwinden, um deutlich zu machen, wie er der Existenz verbunden bleibt. Sie wird dadurch aphoristisch-sprunghaft und nähert sich einem eigentümlich rhapsodischen Ton, kann aber auch als Parodie und Ironie sich selbst wieder entlarven. Da Zarathustra vom Leben nur sprechen kann, sofern er dieses Leben in sich selber will, bleibt ihm nichts, als nach Dichterweise zu sprechen, auch wenn er die Dichter durchschaut und ihrer müde geworden ist. Das eigentümlich Glitzernde der Zarathustrasprache entsteht aus der Mitteilungsnot desjenigen, der sein Wort nur als Stimme des in ihm wollenden Selbst zu rechtfertigen vermag: »Meine weise Sehnsucht schrie und lachte also aus mir ..., daß ich nämlich in Gleichnissen rede, und gleich Dichtern hinke und stammle: und wahrlich, ich schäme mich, daß ich noch Dichter sein muß«.25 Nietzsches Redeweise bezeugt also, daß unter der Optik des Lebens die Dichtung zwar als täuschender Trug entlarvt werden kann, daß sie darum aber nicht ihr Recht einbüßt, sondern sich durch die Sprache selbst wiederherstellt. Erkennen und Dichten bleiben auch in dieser Situation aufeinander angewiesen. Wohl mag man zweifeln, ob sich von Nietzsche aus im Sinn der überkommenen Poetik und Ästhetik bestimmte Normen für das Kunstschaffen entwickeln lassen; es geht ihm weder um die Werkgesetzlichkeit noch um die Bedingungen ihrer Wirkung. Aber um so entschiedener fragt er nach der Lebensfunktion der Kunst und trägt dadurch wesentlich zur Erhellung ihrer Möglichkeiten im Zusammenhang der modernen Bewußtseinssituation bei. Wenn er sie als das Mittel begreift, durch das sich das Leben den Menschen rettet, so sieht sich der Dichter insoweit auf das Leben verwiesen, als es in ihm selber sein Selbst will. Es genügt also nicht, das Leben in gegenständlicher Objektivierung abzuschreiben, wie es der Naturalismus in seinen verschiedenen Spielarten versucht hat. Weder der Vererbungsmechanismus noch die Milieubedingtheit noch die tiefenpsychologische oder soziologische Analyse ermöglichen von sich aus die Lebensunmittelbarkeit der Kunst; es entstehen dadurch nur neue Trugbilder, als ob die Erkenntnismittel über das Leben herrschten und es durchschaubar machten. Von Nietzsche aus zeigt sich, daß unter der Optik des Lebens die Kunst die Möglichkeit zur Versachlichung wie zur Mythisierung des Daseins verEbd., S. 288f. (»Von alten und neuen Tafeln«, Nr. 2). 120
Nietzsche und die moderne Literatur
liert, sich vom Gegenstand lösen kann oder muß und die Freiheit zu sich selbst gewinnt. Zugleich aber bleibt das Mißtrauen wach, daß sie in dieser Freiheit sich an die Lüge verliert, so daß ein Widerspiel von Dichtung und Reflexion entsteht, das den Schein entlarvt. Die Kunst wird zur Selbstbehauptung des Menschen in einer Sprache, die zwischen Begriff und Gleichnis schwebend die Mitteilungsnot nicht aufhebt und deshalb in Parodie und Satire umschlagen kann. Man wird also Nietzsches Bedeutung für die deutsche Literatur nur recht verstehen, wenn man sich nicht auf einzelne seiner Thesen richtet, sondern beachtet, in welchem Sinn sich der Mensch hier auf sich selbst und seine ihm selbst verschwiegene Wahrheit verwiesen sieht und wie gerade dadurch das Wagnis der Sprache als der Vereinigung von Dichten und Denken ein tiefes Recht behält. Das eigentliche Menschsein kann sich erst dadurch und nur insoweit bezeugen, als es sich in der Sprache selber in die Schwebe von Geist und Leben bringt. Wenn wir nun noch zu bestimmen suchen, in welcher Weise diese Positionen Nietzsches für Stefan George und Thomas Mann wichtig werden und in welchem Maße sein Beispiel ihr Verfahren als Dichter zu erhellen vermag, werden wir uns freilich beschränken müssen und nur die greifbarsten Berührungspunkte erörtern können. Besonders für George genügt es nicht - wie es in den vorhandenen Interpretationen meist geschieht — im Umkreis seiner eigenen Vorstellungswelt zu verharren, sondern es scheint nötig, die Voraussetzungen zu klären, die seinem Dichten den besonderen Charakter geben. Dazu mag die Konfrontation mit Nietzsche helfen, auch wenn wir keine biographischen Zeugnisse über Umfang und Art der Auseinandersetzung mit ihm besitzen. Wir können nur versuchen, durch Interpretation einzelner Gedichte einen Befund zu gewinnen. Wir fragen also, wie weit bei George eine Situation des Dichtens begegnet, die derjenigen des Denkens bei Nietzsche entspricht, und suchen deshalb zu erläutern, wie hier die lyrische Ich-Aussprache sich selber versteht. Sofern im lyrischen Wort ein verschwiegenes Innere laut wird, hängt die besondere Artung des Gedichts davon ab, in welcher Weise dieses Innere über sich selbst verfügt und sich auslegt. Die für Georges lyrisches Sprechen bestimmende Grundsituation wird im »Vorspiel« zum Teppich des Lebens und den Liedern von Traum und Tod (1899) besonders deutlich. Zugleich läßt sich hier die Nähe zu Nietzsche gut erläutern. Das »Vorspiel« ist ein Zyklus von 24 Gedichten, in denen das lyrische Ich nach den Grundlagen und der Art seiner Selbstgewißheit fragt und 127
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sich vom Engel als dem Boten des schönen Lebens gehalten weiß. Die Ich-Aussprache begreift sich von der Gestalt des Engels her. Der Zyklus beginnt: Ich forschte bleichen eifers nach dem horte Nach strofen drinnen tiefste kümmernis Und dinge rollten dumpf und ungewiß Da trat ein nackter engel durch die pforte
Die Verse leben aus einer doppelten Bewegung; der Unruhe des bleichen Eifers, der dumpfen Ungewißheit, des Ausgesetztseins tritt antwortend der Engel gegenüber; es ist die Polarität, die durch die Gedichte hindurchgeht und erkennen läßt, wie das Ich in eine Verlorenheit geraten ist, wie hier keine selbstverständlich anerkannte Ordnung mehr gilt, von der sich das Ich gehalten wüßte, und wie nur das Erscheinen des Engels eine neue Sicherheit verbürgt. Aber wer ist dieser Engel? Es ist keine herrscherliche Erscheinung mehr, keine Erscheinung, die sich in einem entschiedenen Sinn vom eigenen Leben abhübe, sondern deren Stimme fast der des Ich gleicht: Auf seinem haupte keine kröne ragte Und seine stimme fast der meinen glich
Damit ist offenbar, daß dieser hervortretende Engel dem beunruhigten Ich nicht einfach von außen entgegentritt, sondern ihm innerlich zugeordnet bleibt, daß das Ich und der Engel sich eigentümlich entsprechen, freilich nur soweit, als ein »fast« dieses »gleichen« auch wieder aufhebt. Eine weitere Auskunft erhalten wir in den Zeilen, in denen sich der Engel den »Boten des schönen Lebens« nennt und als solcher die anfängliche Beunruhigung des Ich zu beschwichtigen verspricht. Damit ergibt sich, daß das hier sprechende Ich sich im Hinblick auf das Leben begreifen lernt, das in der Erscheinung des Engels fast dieses Ich selbst ist. Das Ich soll sich als Boten des Lebens verstehen und zwar so, daß dessen Schöne offenbar wird. Die Stilisierung und Metaphorik, unter der der Engel erscheint, hebt ihn in eine sakrale Sphäre hinauf, die nicht zur Verfugung stünde, sofern er nur Bote des Lebens wäre; es geht um eine in der Blumenmetaphorik der Rosen, Lilien und Mimosen umgrenzte Sphäre des Schönen, die nicht in einem Jenseits, sondern im Leben selbst gefunden wird. Es ist ein Sakrales, das zwar den Unterschied zwischen »Leben« und »schönem Leben« stiftet und auch im Hinblick auf das Ich einen Anspruch begründet, aber im übrigen mit dem im Ich sich bezeu128
Nietzsche und die moderne Literatur genden Leben identisch ist. Die Ich-Aussprache stellt sich also her im Hinblick auf ein Eigentliches des Lebens, das dieses Ich schon selbst ist. Damit wird verständlich, daß Georges Lyrik sich nicht mit der Vergegenwärtigung von Gefühlssituationen oder dem Stimmungston begnügen kann, daß nicht die stimmungshafte Teilhabe am Dasein sich ausspricht, sondern daß es um die Selbstvergewisserung des Ich geht, in dem das Leben sich lebt. Wie Zarathustra der Erwachte zu sich selbst ist, in dem das Leben sich will, so spricht das Ich des »Vorspiels« von dem Boten des schönen Lebens, dem es insoweit gleicht, als es seinem Selbst begegnet ist. Das Gedicht bezeugt also, wie sehr George von den Voraussetzungen Nietzsches her verstanden sein will und wie sie es sind, die hier dem lyrischen Ich ein Selbstverständnis geben und die Sageweise ermöglichen. Dieses Ergebnis bestätigt und vertieft sich, wenn wir das 12. Gedicht des Zyklus zu dem bisher Gesagten hinzunehmen. Auch in diesem Gedicht bleibt die doppelte Bewegung der Unruhe, der Verfallenheit und Ausgesetztheit einerseits und der Sicherheit der antwortenden Stimme andererseits; aber es geht nicht um das Wiederbegegnen des Ich mit sich selbst im Zeichen des Engels, sondern jetzt spricht ein »Wir«, das sich nur im Zeichen der Götter meint finden zu können und deshalb danach verlangt, das Amt der Priester und Fürsten zu rechtfertigen. Wir die als fursten wählen und verschmähn Und weiten heben aus den alten angeln Wir sollen siech und todesmüde spähn
und denken daß des höchsten wir ermangeln
Das Wir, das hier spricht, ist von der Sorge erfüllt, daß jenes Höchste mangelt, das der weltlichen oder geistigen Ordnung erst seinen Sinn gibt. Dieses Höchste, nach dem die Liebe verlangt, könnte wohl ein Gott sein, der über das Leben gebietet. Aber statt dessen heißt es: »All unsre götter schatten nur und schäum.« Damit ist die Situation der Verlorenheit auf ihren Grund zurückbezogen. Und doch erhebt sich nun wieder die antwortende Stimme des Engels, die entsprechend wie im i. Gedicht die Umwendung vollzieht und die Frage nach den Göttern auf die Fragenden selbst zurückweist. Das Verlangen nach einem Höchsten, das als das nach den Göttern verstanden werden könnte, wird nicht dadurch beschwichtigt, daß auf neue Götter hingewiesen würde, sondern nur dadurch, daß sich das Verlangen besser verstehen lernt und bei sich selber einkehrt; es führt auf den Menschen zurück, der sich sein Bild schafft:
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Nietzsche und die moderne Literatur
Da jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet Durch euch so groß ist und durch euch so gilt Beweinet nicht zu sehr was ihr ihm liehet.
So begegnet im Bilde der Götter der Mensch nur sich selbst; das Wort des Engels bezeugt es von neuem, daß nicht nur das Ich, sondern auch das Wir erst dadurch seiner selbst gewiß wird, daß es sich selber will. Die Bilder gelten nur so weit, als wir in ihnen unser eigenstes Selbst aus uns herausgestellt haben; es kommt nur darauf an, daß in ihnen dieses Selbst zugleich als Bote des schönen Lebens zu uns spricht. Der Spruch des Engels bleibt eigentümlich paradox, da er die eine Unruhe durch eine andere ersetzt, die aber selbst die Ruhe sein soll. Wenn auch die Götter Schatten nur und Schaum sind, so sind sie es doch nur, sofern sie ihr Wesen zu Lehen tragen und nicht sie selbst sind. Wer macht diese Bilder aber gültig, wenn nicht ein Ich oder Wir, das sich als Stimme des schönen Lebens kennt? Das Höchste, nach dem wir verlangen, kommt nicht von außen auf uns zu, sondern tritt aus uns heraus, sofern in uns das schöne Leben sich selber will. Wir sind damit wieder in dem Horizont, der uns von Nietzsche her vertraut geworden ist, so daß sich mannigfache Einzelparallelen aufweisen ließen. Wenn George von den Bildern spricht, die nur durch die Menschen gelten, so heißt es bei Nietzsche: »Wahrlich, die Menschen gaben sich alles ihr Gutes und Böses ... Werte legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten«.26 Auch die Vorstellung vom schönen Leben ließe sich wohl von Nietzsche aus erläutern, ebenso wie die vom Schwinden der Götter zu Schatten und Schaum. Immer gründet sich diese Gemeinsamkeit darauf, daß auch für George sich das Selbst als ein vom Willen Gewolltes versteht. Die lyrische Ich-Aussprache kann nur noch als Stimme des schönen Lebens, als dessen Lautwerden im Dichter wirklich werden. Es ergibt sich daraus der Anspruch Georges, als Dichter der Wortmächtige zu sein, der die Bilder aufrichtet, in denen das Leben sein Maß zu erkennen gibt. Er spricht nicht mehr als dieses persönlich erlebende Ich, sondern als derjenige, der im Wechselgespräch mit dem Engel die zu sich selbst Erwachten in den Kreis ruft; er nähert sich damit einer Stilisierung, die es wagt, nicht nur Bilder zu entlarven, sondern neue zu setzen. Der Dichter, der dem schönen Leben in sich selber Stimme gibt, wird zugleich zum Willensmächtigen: durch ihn spricht der Ewige: »Ich will! ihr sollt.« '·'' Ebd., S. 851". (»Von tausend und Einem Ziele«). 130
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Damit wird die Voraussetzung erkennbar, von der aus George im Siebenten Ring es versuchen kann, über Nietzsche hinauszugehen, gerade indem er sich ganz auf dessen Hauptfrage einläßt. Das im Selbst sich wollende Leben objektiviert sich im Bild des schönen Menschen, von dem das Wort des Dichters zeugt. So ordnen sich die Gedichte um ein innerstes Zentrum, um die Gestalt Maximins, die im Sinne der Verse aus dem »Vorspiel« als ein Höchstes gelten soll, das es doch nur vom Dichter zu Lehen trägt. Hier kommt es also nicht mehr wie im Zarathustra darauf an, die Sprache in die Schwebe zu bringen, um in ihr das Erwachen des Geistes zu sich selbst zu vollziehen, sondern jetzt will die Sprache selbst die neue Setzung erreichen, als ließe sich der Argwohn überspringen, daß sie gerade dadurch das Selbst dem Schein und der Lüge aussetzt. Nietzsches Wort, daß das Leben den Menschen sich durch die Kunst rettet, wird zur Aufforderung, solche rettende Kraft auch dem eigenen Wort zuzutrauen. Das im Selbst sich wollende Leben stellt sich als Bild vor sich hin, weil es sich als schönes Leben will: der von Nietzsche aus mögliche Humanismus versteht sich damit als ein direkt angebbarer Maßstab und drängt zu einer Absolutsetzung, die von Nietzsche selbst aus kaum möglich schien. Dementsprechend nimmt nun das Nietzsche-Gedicht im Siebenten Ring eine kennzeichnende Umwendung gegenüber der Position Nietzsches vor. Es ist wohl bald nach Nietzsches Tod 1900 gedichtet und geht davon aus, daß seine Bedeutung noch kaum begriffen ist: es zielt auf die Schlußverse hin, in denen seine Erscheinung als Aufforderung an das eigene Dichten gedeutet wird: »Sie hätte singen, nicht reden sollen diese neue Seele!« Damit gipfelt das Gedicht aber in einem Satz, mit dem Nietzsche 1886 eine Selbstkritik seines ersten Buches, der Geburt der Tragödie, versucht hatte: »Hier redete jedenfalls ... eine fremde Stimme, der Jünger eines noch mnbekannten Gottesbloß< zu reden«;33 denn Nietzsche hat »zur kritischen Erziehung, zur Intellektualisierung, Psychologisierung, Literarisierung, Radikalisierung oder, um das politische Wort nicht zu scheuen, zur Demokratisierung Deutschlands stärker beigetragen als irgend jemand«.34 So wird die befruchtende Wirkung Nietzsches vor allem in seiner »Kritik des Künstlertums« 35 gefunden: »denn nicht so sehr der Prophet irgend eines unanschaulichen >Übermenschen< war er mir von Anfang an, wie zur Zeit seiner Modeherrschaft den meisten, als vielmehr der unvergleichlich größte und erfahrenste Psychologe der Dekadenz«.36 In Nietzsche findet Thomas Mann eine neue Bewußtheit wirksam, die das Dichten verwandeln muß, sofern es sich auf eine Erkenntnis zurückverwiesen sieht, die selbst nur dichtend zum Ziel kommt und doch das Dichten ständig in Frage stellen muß. »Es geschah in seiner Schule, daß man sich gewöhnte, den Begriff des Künstlers mit dem des Erkennenden zusammenfließen zu lassen, so daß die Grenzen von Kunst und Kritik sich vermischten. Er brachte den Bogen neben der Leyer als apollinisches Werkzeug in Erinnerung«. 37 Man mag fragen, ob die Hinwendung zur Ironie und Parodie, zur kritischen Spiegelung und Brechung der Lebensunmittelbarkeit nicht bei Nietzsche erst dadurch ihre Entschiedenheit gewinnt, daß sie das sich selbst wollende Leben auf sich zurückfuhrt und insofern einem neuen Pathos zugeordnet bleibt. Aber zugleich wird man bedenken müssen, daß Thomas Mann im Zeichen Nietzsches sowohl den Bogen wie die Leyer als »apollinisches Werkzeug« anerkennt und bis heute hin seinen Büchern dieses Signum schon als Einbandzeichen mitgegeben hat. Um die Bedeutung Nietzsches für seine Schriftstellerei zu erläutern, werden wir deshalb fragen müssen, wie sich in ihr die Kritik des Künstlertums durchsetzt. " Ebd., S. 49. •u Ebd., S. 50. 3S Ebd., S. 36. 16 Ebd., S. 42. 17 Ebd., S. 51. 135
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Im »Tonio Kroger« (1903), den Thomas Mann eine Mischung von Storni und Nietzsche nennt,38 geht es schon um das Künstlerschicksal, das sich aus dem Gegensatz einer wachen Bewußtheit zu dem unmittelbaren Vollzug des alltäglichen Lebens ergibt. In einer Folge von Situationen wird nur immer die schon in der Kindheit aufbrechende Einsamkeit Tonios deutlich: er sieht sich ausgeschlossen von den Spielen der Kameraden, von der Gefühlsseligkeit der ersten Liebe, von der Zielstrebigkeit der praktischen Berufsarbeit. So war er »allein und ausgeschlossen von den Ordentlichen und Gewöhnlichen«; er ist auf »innere Vorgänge und Erfahrungen« aufmerksam, an denen andere vorbeileben; er ist genötigt, ihr Verhalten zu »durchschauen«, und steht unter dem »Fluch der Erkenntnis«, die ihn am Mitvollzug des Lebens hindert. Ihm werden die Hintergründe und Abgründe des Lebens, seine Fragwürdigkeiten vertraut, und so wird ihm die Kunst zur Zuflucht, die es ihm ermöglicht, trotzdem zu bestehen: »Da kam, mit der Qual und dem Hochmut der Erkenntnis, die Einsamkeit ... Aber mehr und mehr versüßte sich ihm auch die Lust am Worte und der Form, denn er pflegte zu sagen, daß die Kenntnis der Seele allein unfehlbar trübsinnig machen würde, wenn nicht die Vergnügungen des Ausdrucks uns wach und munter hielten.« Man möchte meinen, daß sich in solchen Sätzen die Nähe zu Nietzsche bezeugt, die sich bei Thomas Mann von der Gefuhlskritik aus ergibt; wie in der Geburt der Tragödie erfährt nun der am Dasein leidende Mensch in der Kunst eine rettende und helfende Macht, entsprechend Nietzsches Worten: »die Kunst allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt«.39 In dem Maße, wie Tonio Kroger wissend wird, den Mechanismus der Natur im Entstehen der Gefühle durchschaut und sich dadurch von ihnen distanziert, um so mehr braucht er die Kunst, um durch die Darstellung seiner Erfahrungen sich im Leben zu behaupten. Aber er fragt nicht im Sinne Nietzsches, wie sich das Leben in ihm selber will, sondern findet durch die Kunst die Möglichkeit, sich dem Leben gegenüberzustellen: er ergab sich »der Macht des Geistes und Wortes, die lächelnd über dem unbewußten und stummen Leben thront.« So will diese Kunst nicht aus der Unmittelbarkeit des Lebens sprechen, sondern sie nur tiefer in Frage stellen; sie kann sich nicht dem Gefühl überlassen, sondern wird es »analysieren und formulieren« und dadurch gewisserma·'" Ebd., S. 56. 30 Nietzsche, Werke (Anm. i), Bd. i, Die Geburt der Tragödie, S. 56.
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ßen »kaltstellen und aufs-Eis-legen«, um so die Sehnsucht nach dem Harmlosen, Einfachen und Lebendigen rege zu halten. Diese Kunst sieht sich zur psychologischen Analyse, zur Entlarvung aller großen Worte, zur Parodie und Ironie gefuhrt, um der Bewußtheit Raum zu geben, aus der sie selber hervorgewachsen ist. Sie kann sich nur durch eine Hellsichtigkeit rechtfertigen, die freilich erst dichterisch wird, wenn sich der Wissende mitbetroffen weiß und die »Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen« nicht verleugnet. Wenn hier im Sinne Nietzsches der Kunst eine rettende Kraft zuerkannt wird, so nur darum, weil sie in der Not des Bewußtseins die Entzauberung des Daseins mitvollzieht und dadurch auf den Grund des Einfach-Menschlichen zurückweist. Zugleich aber ist damit der Erzählkunst eine vielfach reflektierte Subjektivität zugehörig, die in mannigfachen Brechungen und Spiegelungen das Verhältnis von Phantasie und Bewußtheit einkreist. Diese Deutung des Künstlerschicksals vertieft sich in Thomas Manns zweiter Künstlernovelle, im »Tod in Venedig« (1911), wo im Sinne von Nietzsches Geburt der Tragödie die Kunst noch entschiedener mit den dionysisch-dämonischen Mächten konfrontiert wird und die Nachbarschaft von Schönheit und Tod zur Geltung kommt. Am Schicksal Gustav Aschenbachs, des formbewußten Schriftstellers, erweist sich, daß alle Kunst eigentümlich doppelgesichtig bleibt, weil sie »die einzige Form des Geistigen ist, welche wir sinnlich empfangen«. Sie bezeugt eine Selbstbeherrschung, die »den biologischen Verfall vor den Augen der Welt verbirgt«, sie verlangt nach der Abkehr von »jeder Sympathie mit dem Abgrund« und verhindert doch nicht, daß sich der Künstler dem »Rausch«, dem »Chaos« überläßt; denn er fühlt sich geheimnisvoll angezogen von der sinnlichen Erscheinung der Schönheit, die ihm in einem Knaben begegnet, unter dessen Bild er die Macht des Eros erfährt; so mißachtet er die in der Stadt umgehende Seuche, vermag er den »Traumbann« nicht zu zerreißen, bleibt »zerrüttet und kraftlos dem Dämon verfallen«, bis ihn der Tod eingeholt hat. Die Kunst erscheint trotz all ihrer Zucht in einem verdeckenden Bezug zum Unheimlichen, zu den Mächten des Todes; die apollinische Form verbirgt wohl den dionysischen Taumel des Lebens; aber sie befreit nicht von der Krankheit und dem Tode, sondern treibt in sie hinein; so wird sie tief verdächtig, als sei sie ein »Sündenweg, der in die Irre leitet«. Als Liebe zum schönen Schein wird sie selbst zum Trugbild, weil sie den »Weg zum Geistigen durch die Sinne« geht. Es regt sich ein Mißtrauen gegen die Kunst und den Künstler, der sich nicht über das Leben erheben kann, sondern sich um der 137
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Schönheit willen ihm überläßt. Wenn im »Tonio Kroger« die Lebensformen der Alltäglichkeit ironisch aufgelöst werden, so wird im »Tod in Venedig« der Anspruch des Künstlers an seine eigene Grenze geführt: die Analyse des Menschlichen, wie sie hier und dort geleistet wird, ermöglicht eine Bewußtheit, die Abstand schafft, aber letztlich nur die Hinfälligkeit des Menschlichen bezeugt. Auch hier scheint — wie bei Nietzsche selbst - die Kunst nur noch dadurch auf ein MenschlichBeständiges hinzuweisen, daß sie es durch immer neue Brechungen und Spiegelungen in die Schwebe bringt, sich durch Entlarvung, Ironie und Parodie der Entschiedenheit eines Geistes vergewissert, der dem Leben selbst zugehört. Die durch Nietzsche ermöglichte oder bestärkte Rückbeziehung der Kunst auf das Leben sieht sich vor die Frage gebracht, ob sie die eigentliche Grenzsituation des Menschen so erhellen kann, daß sie ihn aus der Maßlosigkeit zurückführt und seines ihm eigenen Maßes gewiß macht. Damit sind einige Voraussetzungen angedeutet, von denen aus im Fauifws-Roman das Nietzsche-Schicksal in der Gestalt Adrian Leverkühns zur Darstellung kommen kann und in ihm das Schicksal der Epoche zu spiegeln gesucht wird. Wir müssen uns ein näheres Eingehen auf dieses Werk versagen und heben nur einen Zug heraus: Leverkühn ist noch viel stärker als Aschenbach dem Dämonischen ausgesetzt und gewinnt alle Steigerungen seiner Genialität nur im Zusammenhang mit einer Krankheit, die aus der Ungebundenheit des Trieblebens folgt und den Geist in ein Teufelsbündnis zwingt, das die Seele zerstört. Der Rausch des konstruktiven Intellekts verfällt dem seelenlosen Trieb und verfehlt dadurch das eigentlich Menschliche, das Seelische. So führt die Darstellung dieses Lebensweges nur zur Klage über diesen Menschen und damit den Menschen überhaupt. Daß das Buch mit der Klage schließt, macht seine eigentliche Bedeutung sichtbar und erläutert zugleich die Wendung, die hier der Problematik Nietzsches gegeben wird. Der Roman wird selber zu einem »ungeheuren Variationenwerk der Klage«, so wie Leverkühns letztes Werk, die symphonische Kantate »Dr. Fausti Weheklag« als Symphonie der Klage verstanden wird. Der Mensch, der nur sich selbst wollte und damit dem Leben zu folgen meinte, erfährt, daß dadurch die Krankheit in ihm mächtig wurde. So bringt ihn die Krankheit an die Grenze seines Wissens um das Leben. »Nicht zu sich kam er, sondern er fand sich wieder als ein fremdes Selbst, das nur noch die ausgebrannte Hülle seiner Persönlichkeit war.« Indem er zwischen sich und den Abgrund der Krankheit, des Todes die Musik als bewußt durch138
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konstruierte Form stellt, verwandelt sie sich in die Klage und fuhrt dadurch auf die Gefühlswirklichkeit als Zeichen seines Menschentums zurück. Die Klage wird zum Zeichen der Grenzerfahrung in dem sich selbst überlassenen Leben und deutet auf eine mögliche Wiederherstellung des Humanen. Nicht Nietzsches Lehre, sondern dessen Schicksal gilt; wohl wirkt die von ihm in Gang gesetzte Dialektik von Geist und Leben weiter; aber diese Dialektik kommt im Schicksal dessen, der sie zu bewältigen versprach, an ihre eigene Grenze, sofern sie in die Klage umschlägt, die von der Not des Menschen zeugt. »Dies dunkle Tongedicht (Leverkühns oder auch des Nietzeschen Lebens) läßt bis zuletzt keine Vertröstung, Versöhnung, Verklärung zu. Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck der Klage gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte?« So findet nun Thomas Mann im Nietzsche-Schicksal ein Hamletschicksal, ein Ecce-Homo-Bild. In Thomas Manns Sinn können wir sagen: Nietzsche macht durch die Radikalisierung seines Fragens die Grenzsituation sichtbar, in der der Mensch seine Endlichkeit erfährt; sein Leiden rechtfertigt die Klage, die als Hinweis auf ein eigentlich Humanes verstanden sein will: so belebt er die »Ehrfurcht vor dem Geheimnis, das der Mensch ist.« Nietzsche konnte für die moderne Kunst eine entscheidende Bedeutung gewinnen, weil er Recht und Fragwürdigkeit des Humanen von neuem bewußt machte. Indem er Dichten und Denken auf das Leben zurückbezog, stellte er die Versachlichung und Vergegenständlichung des Daseins ebenso in Frage wie jede unreflektierte Gefuhlsseligkeit. Das Eigenrecht des Menschen ist für ihn nicht mehr aus metaphysischen Setzungen ableitbar und inhaltlich festlegbar, sondern allein dadurch zu umgrenzen, daß im Menschen sich das Leben selber will: der Mensch erfährt sich als ein eigener nur noch, sofern er in seiner Sprache Geist und Leben in die Schwebe zu bringen vermag. Damit rückt die Poetisierung des Lebens in der Stimmungshaften Teilhabe des Gefühls ebenso in den Hintergrund wie die Gegenständlichkeit eines poetischen Realismus. Aber dem Menschen bleibt die Kunst zugehörig, als die Art, wie er sich seine Zugehörigkeit zum Leben zugleich erschließt und verdeckt. Diese Kunst lebt aus der notvollen Situation des Humanen, macht deutlich, in welch angefochtene Situation jeder moderne Humanismus kommen muß, gerade weil er sich vor der desillusionierenden Gewalt der Erkenntnis nur retten kann, sofern er den Geist durch das Leben in Frage stellt, das er 139
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selber ist. So bleibt der Kunst nur das Pathos der Selbstbezeugung oder die Selbsterprobung durch Ironie, Parodie, Spiegelung und bewußte Verlarvung.
Thomas Mann an Paul Böckmann Thomas Mann
Erlenbach-Zürich 9. Jan. 54
Sehr verehrter Herr Professor, haben Sie recht herzlichen Dank für Ihren Brief und die erstaunlich schöne und tief gedachte Abhandlung! Ich bekomme soviel Übles zu sch[l]ucken, soviele Schnödigkeiten über meine Existenz zu lesen, die sich als Erkenntnis geben, ohne doch den geringsten Blick zu haben für die Zusammenhänge, in denen mein Dichten und Denken steht, dass Einsichten wie die Ihren in die allgemeine Situation, und also auch in die meine, unbeschreiblich edel und wohltuend auf mich wirken müssen. Es war frappierend für mich, zu sehen, wie Sie Ihre Nietzsche-Analyse anknüpfen an die frühe Schrift »Vom Nutzen und Nachteil der Historic fur das Leben«, in der tatsächlich der ganze spätere Nietzsche präformiert ist. Auch ich habe gelegentlich versucht, davon zu sprechen; aber Sie wissen Erörterungen und Verdeutlichungen des Wesens und der Wirkung des Phänomens Nietzsche daran zu schliessen — von einer Hellsichtigkeit, wie sie eben nur dem zum kritischen Schauen Berufenen, nicht dem im mehr oder minder naiven Sein und Tun Befangenen gegeben ist. An einem ungefähren Gefühl dafür, welche tiefe Cäsur im Leben des Geistes, der Sprache, der Kunst dies Phänomen bedeutet, hat es mir nie gefehlt; aber Weniges oder nichts, was ich je las, war geeigneter, dieses Gefühl zu belehren und zu klären, wie Ihre Untersuchungen.
* Mit diesem eigenhändigen Brief hatte Thomas Mann auf die Zusendung des vorstehenden Aufsatzes geantwortet. Original in Privatbesitz. Kopien im Nachlaß Böckmann, Deutsches Literaturarchiv Marbach, und im Thomas-Mann-Archiv, Zürich (vgl. Die Briefe Tliomas Manns. Regcstcn und Register, hrsg. von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1987, S. 272). Wir danken dem Thomas-Mann-Archiv sowie der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, für die freundliche Genehmigung zum Abdruck des Briefes in diesem Band. I4O
Nietzsche und die moderne Literatur
Ein amerikanischer Kritiker, Harry Levin, hat von Joyce gesagt: »He has enormously increased the difficulties of being a novellist«. Das gilt in einem weiteren und schicksalhafteren Sinn für Nietzsche. Er hat gewaltig die Schwierigkeiten erhöht, ein Künstler zu sein. Auch ich habe unter und mit diesen Schwierigkeiten gelebt und auf meine persönliche Art versucht, mich mit ihnen zu arrangieren, ja, manchmal sogar Freude und Heiterkeit daraus zu gewinnen. Man nehme vorlieb! Ihr sehr ergebener Thomas Mann
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Feuerbachianismus und mythisches Schema in Thomas Manns Josep/z-Roman*
i. Die Aufgabe Das Verhältnis von »Leben« und »Bewußtsein vom Leben«, das Thema, das wie ein roter Faden durch Thomas Manns Werke hindurchgeht, behält auch für seinen dritten großen Roman, Joseph und seine Brüder, eine bestimmende Bedeutung, freilich in einer komplexeren und schwerer greifbaren Weise. Es geht nicht mehr um die erzählerische Durchhellung der persönlich-individuellen Verhaltensweisen des Familienromans wie in Buddenbrooks oder um die zeittypischen Krisensituationen des Sanatoriumromans Der Zauberberg, sondern um die Konfrontation mit der biblisch-mythischen Überlieferung des Alten Testaments im ersten Buch Mose. Der Zugriff zu diesem Stoff bleibt befremdlich genug und hat denn auch der Lesewelt offenbar viel weniger eingeleuchtet als die Gestaltenfolge der übrigen Werke. Es ist wohl das unbekannteste Werk Thomas Manns geblieben. Dabei gibt schon das einleitende »Vorspiel«, die »Höllenfahrt« in den »Brunnen der Vergangenheit«, ausführlich Auskunft über Absicht und Bedeutung des so gewagten Unternehmens, über die als dringlich angesehene Aufgabe, »den Mythus ... in genauer Gegenwart«1 vorzuführen und ihn also nicht als fabulose Märchenerzählung dem Phantasiespiel zu überlassen und erst recht nicht als einen historischen Bericht zu skelettieren. Aber in welchem Sinn kann dann der »Mythus« in die Gegenwart als eine jetzige und heutige zurückgeholt werden, wenn die Gegenwart doch nicht selber mythisiert und mit einem gefühlsschwangeren Irratio* Unveröffentlichtes Typoskript (45 S.), Nachlaß Böckmann, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 1 Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, 3 Bde., Stockholm 1948; Bd. i: Die Geschichten Jaakobs. Der junge Joseph; Bd. 2: Joseph in Ägypten; Bd. 3: Joseph der Ernährer. Ebd., Bd. I, S. 59, »Vorspiel« 10. - Zu beachten ist, daß Thomas Mann zunächst - wie Richard Wagner und Nietzsche - die Wortform »Mythus« bevorzugt und erst später auch die Form »Mythos« benutzt. 142
Tliomas Manns »Joseph«-Roman
nalismus überdeckt werden soll? Diese Gegenwart kann zunächst nur die Zurücknahme der von Kindheit auf vertrauten Geschichten von Joseph und seinen Brüdern in das wache, kritisch geschärfte und desillusionierende Bewußtsein des Erzählers selbst meinen. In der Tat gewinnt das Erzählen auch hier wieder wie sonst seine Eindringlichkeit, Farbigkeit und Spannkraft durch den unverlierbar eigenen Ton Thomas Manns, durch die ständige Präsenz des Erzählers in der rhythmischen Bewegung der weit ausgreifenden Sätze und Perioden, im Spiel der Bezüge, der Spiegelung des Fremden im Vertrauten oder umgekehrt des Vertrauten im Fremden und vor allem durch den langen Atem eines fragenden und forschenden Beteiligtseins, das daraufdringt, auch dem Sprachlosen gegenüber sich sprachlich zu behaupten. Das Verhältnis von Leben und Bewußtsein begegnet hier zunächst und vor allem als das einer vermeintlich altbekannten mythischen Überlieferung zu einem sprachmächtigen Erzähler, der den »Mythus« nicht als leeren Trug entlarven, sondern so in seine Gegenwart zurückholen will, daß er das Verhältnis des Menschen zum »Gottesgedanken«2 wieder zu erkennen gibt. Damit behauptet sich trotz aller artistischen Spielfreude eine sachhaltig berichtende Stillage; der Erzähler kann von seinem Werk als einer »besonnen untersuchenden Erzählung« sprechen, z. B. wenn er für Joseph die Bezeichnung »Herr über Ägyptenland« aufgreift und zu diesem Ausdruck sagt: »Wir brauchen ihn nicht ungeprüft und mit fabelnder Fahrlässigkeit, sondern unter dem vernünftigen Vorbehalt, den die Treue zur Wirklichkeit uns auferlegt. Denn hier wird nicht aufgeschnitten, sondern erzählt, was jedenfalls zwei sehr verschiedene Dinge sind«.3 Die erstrebte »Treue zur Wirklichkeit« führt auf ein Spannungsverhältnis von Fabulieren und Erzählen zurück, das sich sprachlich ausweisen muß. Die Ambivalenz zwischen dem nicht mehr und dem noch nicht Wirklichen rechtfertigt ebenso den sachlichen Ernst wie das scherzende Spiel der Ironie und läßt dem Mitbetroffensein des Humors Raum, der sich der Travestie oder auch der Parodie nähern kann. In Lotte in Weimar heißt es von der »klassischen Walpurgisnacht«: »Auf mythologischen Humor, auf Travestie ist alles zu stellen ... Parodie ... Über sie sinn' ich am liebsten nach.«4 Die Indirektheiten der verhüllenden Aussagen spielen dementsprechend im J05ep/z-Roman eine wesentliche Rolle. Zu dem biblischen Bericht, 2 3 4
Th. Mann, Joseph (Anm. i), Bd. I, S. 142, »Wer Jaakob war«. Ebd., Bd. III, S. 255, »Herr über Ägyptenland«. Thomas Mann, Lotte in Weimar, Berlin 1946, S. 399. 143
Thomas Manns »Joseph«-Roman
daß Joseph ins Gefängnis gelegt wurde, folgt die Bemerkung, daß nur die Kinder alles »wörtlich« nehmen und sich an die »Redensart« halten: »Solche Verwechslung von Ausdrucksweise und Wirklichkeit ist meiner Wahrnehmung nach ein Hauptmerkmal der Unbildung und des Tiefstandes«, obgleich eingeräumt wird, daß eine »gewisse Poesie bei diesem Wörtlich-nehmen der Rede« zu finden ist, »die Poesie der Einfalt und des Märchens«. Aber die Vergegenwärtigung des in der mythischen Überlieferung Gemeinten kann sich damit nicht begnügen und muß deshalb nach der dem Mythus zugehörigen Wirklichkeit fragen: »Es gibt ... zwei Arten von Poesie: eine aus Volkseinfalt und eine aus dem Geiste des Schreibtums. Diese ist unzweifelhaft die höhere; aber es ist meine Meinung, daß sie nicht ohne freundlichen Zusammenhang mit jener bestehen kann und sie als Fruchtboden braucht.« 5 Damit ist die Frage gestellt, wie der »Mythus« zum »Fruchtboden« eines so durchreflektierten, sprachkritischen Erzählens voll eigener, freier Heiterkeit werden kann, das der im Mythus gemeinten Wirklichkeit gerecht wird. Darüber gibt schon das »Vorspiel« wie weiterhin die Durchführung der zentralen Thematik in der Gesamtkomposition der vier Romane hinlängliche Auskunft. Als Voraussetzung und Grundbedingung der geforderten Vergegenwärtigung des Mythus wird die Übereinstimmung der biblischen Welt mit der unsrigen bezeichnet. So heißt es, daß die Entwicklungsstufe der damaligen menschlichen Gesittung sich »von der unsrigen schon nicht mehr wesentlich unterschied«.6 Dementsprechend fühlen wir uns Joseph »nahe und zeitgenössisch in Hinsicht auf die Unterweltschlünde von Vergangenheit, in die auch er, der Ferne, schon blickte. Ein Mensch wie wir war er, so kommt uns vor.«7 Diese Gleichsetzung als Voraussetzung einer möglichen Identifizierung mit ihm gehört zu den Bedingungen der Erzählung. Damit ist aber auch die Nötigung anerkannt, seiner mythischen Vorstellungsweise einen lebendigen, humanen Sinn zu geben.
5 6 7
Ders., Joseph (Anm. i), Bd. Ill, S. 46, »Der Amtmann über das Gefängnis«. Ebd., Bd. I, S. 27, »Vorspiel« 4. Ebd., S. 20, »Vorspiel« 2. 144
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2. Die anthropologische Deutung des Mythus im Sinne Feuerbachs, Richard Wagners und Sigmund Freuds Diese entscheidende Aufgabe, den Mythus so zu beschwören, daß er sich »in genauer Gegenwart« abspielt, bleibt an besondere kompositioneile Vorgriffe und Entscheidungen gebunden, die man sich um so mehr klar machen muß, als es sich für Thomas Mann nicht nur um die JosephGeschichte des Alten Testaments handelt, sondern zugleich um deren Stellung in der mythischen Überlieferung der alten Welt. Man hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, wie sehr er sich dabei an das Buch von Alfred Jeremias (1869-1935), Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients (zuerst 1904, von Th. M. in der 3. neu bearbeiteten Auflage von 1916 benutzt) gehalten hat, das die Joseph-Geschichte im Zusammenhang mit sumerisch-babylonischen Traditionen sah und sie mit dem Tammuz-Osiris-Mythus verknüpfte, ein Buch, das von theologischer Seite aber als Werk eines »wissenschaftlichen Outsiders« betrachtet wurde.8 Thomas Mann selber hat es »als informierendes Quellenwerk von größter Bedeutung« bezeichnet (Brief vom u.V. 1937), aber auch betont, daß er sich »um Jeremias' Tendenzen« nicht gekümmert habe (19.!. 1945). So sollte man seine Anlehnung an diese religionsgeschichtliche Untersuchung eines Assyriologen nicht zu isoliert behandeln. Es geht dabei um das generelle Problem, wie die biblische Überlieferung durch Kultur und Sprache des Zweistromlandes mitbestimmt wurde, etwa durch die Übernahme der dort entwickelten Vorstellungen von der Schöpfungsgeschichte und besonderen Vegetationsriten. So hatte Friedrich Deutsch (1850—1922) in
8
Zu der Bedeutung des Buches von Jeremias vgl. Herbert Lehnen, »Thomas Manns Vorstudien zur Josephtetralogie«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 7, 1963, S. 458-520, bsd. S. 407ff. Auch ders., »Zur Theologie in Thomas Manns Doktor Fatistus. Zwei gestrichene Stellen aus der Handschrift«, in: Deutsche Vierteljahrsschriftfür Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 40, 1966, S. 248-256, bes. S. 249ff. Ferner Lehnerts Berichte zur »Thomas-Mann-Forschung«, in: DVjs 40, 1966, S. 257-297; DVjs 41, 1967, S. 599-653; DVjs 42, 1968, S. 126-157, bsd. S. isof. - Vielfache andere Quellenhinweise bei H. Lehnert, »Thomas Manns Josephstudien. 1927-1939«, in: Jahrbuch d. dt. Schillergesellschaft 10, 1966, S. 378-406. - Das Buch von Manfred Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Tliomas Mann, hrsg. vom Th.-M.-Archiv, Bern und München 1972 (Thomas-Mann-Studien 2), enthält ein Kapitel: »Thomas Manns Vorstudien zum Joseph« (S. 60-80). Als theologische Betrachtung vgl. Gerhard v. Rad, »Biblische Josephserzählung undjosephsroman«, in: Neue Rundschau LXXVI, 1965, S. 546-559, auch als Sonderdruck, mit der Anmerkung, daß »die Fragen nach den wissenschaftlichen Vorstudien ... letztlich doch zweitrangig« sind. Des Dichters »Gesamtkonzeption wird kein Mensch von da her erklären wollen.« 145
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Berlin urn 1900 weithin diskutierte Vorträge über »Babel und Bibel« gehalten, in denen er die Selbständigkeit des A. T. gegenüber Babel leugnete.9 Die Entzifferung der Keilschrift hatte zur Erschließung einer reichen Überlieferung gefuhrt und die Aufmerksamkeit auf Parallelen mit den biblischen Vorstellungen wie denen von der Sintflut geführt. Thomas Mann nimmt denn auch Bezug auf »Tafeltexte« aus dem Palaste Assurbanipals, die zu Niniveh gefunden wurden, und erzählt, daß Joseph »schöne babylonische Verse auswendig wußte« und auch von Gilgamesch, »dem Helden jener Tafel-Mären« gehört hatte.10 Aber es ging ihm nicht so sehr um die Erweiterung des kulturhistorischen Blickfeldes als vielmehr um die Konsequenzen für die Mythendeutung. Er hat offenbar an den Grundsätzen Ludwig Feuerbachs über Das Wesen des Christentums und allgemeiner der Religion festgehalten, nach denen alle Theologie als Anthropologie verstanden werden muß, und brachte die neuen Kenntnisse mit ihnen in Verbindung. Eine Rückbeziehung auf Feuerbach lag für ihn um so näher, als Richard Wager, die ihm so vertraute Leitfigur seines Kunstverständnisses, seine Schrift Das Kunstwerk der Zukunft 1850 »in dankbarer Verehrung« Ludwig Feuerbach gewidmet hatte." Sie zeige, wie dessen Gedanken in ihm (R. Wagner) als Künstler und besonders auf sein Verhältnis zur Mythenwelt zu wirken vermochten. Diese anthropologische Auslegung rechtfertige eine Rückbeziehung auf die griechische Tragödie als »religiöses Fest« einer geschlechtlichen Genossenschaft, die in den Überlieferungen der Sage das Wissen von einer gemeinschaftlichen Herkunft bewahre. So war »das besonders einigende Band gerade dieses Stammes immer nur in eben diesem Mythus und eben dieser Religion gelegen.«12 Vgl. Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 6 Bde. u. Reg. Bd., hrsg. von Kurt Galling, 3., völlig neu bearb. Aufl., Tübingen 1957 (zitiert als RGG): »Babylonische Traditionen und das AT«, beim Stichwort »Babylonien«, i. Bd., Spalte 822ff., und Stichwort »Assyriologie«, ebd., Sp. 655ff. Th. Mann, Joseph (Anm. i), Bd. I, S. 20, 21, 26, »Vorspiel« 2—4. Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, 10 Bde., hrsg. von W. Golther, Berlin o.J., Bd. 10 mit Anmerkungen zu Bd. 3, S. 43. Ebd., Bd. 3, S. 13if. Wenn Th. Mann gern vom »Fest der Erzählung« spricht: »du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Stimme und beschwörst den Mythus, daß er sich abspiele in genauer Gegenwart« (Th. Mann, Joseph (Anm. i), Bd. I, S. 59), so greift er auf entsprechende Formulierungen Wagners zurück, der seinerseits fortfährt: »Die gemeinsame Feier der Erinnerung ihrer gemeinschaftlichen Herkunft begingen die hellenischen Stämme in ihren religiösen Festen, d. h. in der Verherrlichung und Verehrung des Gottes oder des Helden, in welchem sie sich als ein gemeinsames Ganzes inbegriffen fühlten.« 146
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Dieser Mythus-Begriff Richard Wagners ist für Thomas Mann früh bestimmend geworden und erläutert die zumindest indirekte Nachwirkung Feuerbachs auch auf ihn. In seiner Autobiographie erzählte Wagner, wie er in der Revolutionszeit von 1848 mit Feuerbachs Schriften bekannt wurde und in Zürich dessen Buch, die Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (zuerst 1830 anonym erschienen), las,13 ein Buch, in dem Feuerbach mit der Kirchenlehre brach und das eine tiefreichende Wirkung auch auf den jungen Hebbel wie auf Gottfried Keller ausübte. So gehört der Feuerbachianismus zu der dem 19. Jahrhundert eigenen Bewußtseinslage, in der die neuen Kenntnisse von den mythischen Vorstellungen der alten Welt sich mit der Bibelkritik vereinen konnten. Wie Richard Wagner den »Nibelungenmythus« anthropologisch auslegte und als eine Bilderwelt der Kunst seinem Musikdrama dienstbar machte, benutzte Thomas Mann den Tammuz-Osiris-Mythus, um dem Josep/z-Roman die durchreflektierte Lebens- und Beziehungsfülle der Moderne zu geben. In den Bildern der Sagen und Mythen geht es für Wagner nicht um eine selbstgenügsame Götter- und Wunderwelt, sondern um die in den Menschen wirksamen Triebe und Anschauungen, die sich durch den Mythus zu erkennen geben. Er vollzieht die Umkehrung von der Theologie zur Anthropologie, wenn er sagt: »Kein Gott hatte die Begegnung des Zeus und der Semele gedichtet-, sondern der Mensch in seiner aliermenschlichsten Sehnsucht. ... Bewundert, ihr hochgescheiten Kritiker, das Allvermögen der menschlichen Dichtungskraft, wie es sich im Mythus des Volkes offenbart.« 14 Dem entsprechend versteht Wagner den »Nibelungenmythus« als eine Personifizierung der den Menschen bestimmenden Naturkräfte - im Kampf von Tag und Nacht, Licht und Finsternis, Leben und Tod — wie »dieser erste Natureindruck als gemeinschaftliche Grundlage der Religion aller Völker« zugehört.15 Das naturhafte Leben und die mythischen Sagenüberlieferungen verweisen aufeinander und sollen sich durch einander erläutern. Dieses Verhältnis von Leben und Mythus will aber nicht als eine allegorisch auslegbare, sondern als vielsinnige Beziehung verstanden sein. Denn die sagenhaften Vorgänge folgen ihrer eigenen Logik des bildhaften, mythologischen Vorstellens; sie lassen sich ausbauen und variieren und können als ein Vorstellungsgerüst, ein Symbolfeld oder Koordinatensystem dazu helfen, die Vielgestal13 14 15
Wagner, Schriften (Anm. n), Bd. i, Einleitung von W. Golther, S. 1271". Ebd., Bd. 4, S. 290, »Eine Mitteilung an meine Freunde«. Ebd., Bd. 2, S. 131, »Die Wibelungen: Ursprung und Entwicklung des Nibelungenmythus«.
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tigkeit menschlichen Schicksals zu spiegeln. Der Mythos erscheint so als eine vorgegebene Welt der Phantasie und stellt Symbolgestalten zur Verfügung, mit deren Hilfe das Leben sich in seinen Zuordnungsverhältnissen zu erkennen gibt. Wagners Rechtfertigung eines dem Naturalismus zugeordneten kunstfreudigen Symbolismus konnte damit eine beispielhafte Bedeutung auch für die Erzählkunst des Josep/z-Romans gewinnen. Thomas Mann selber hat im Rückblick auf dessen Entstehungsgeschichte bekannt, daß er in seinem Werk mit dem »dramatischen Epos und Riesenmärchenspiel vom Ring des Nibelungen« wetteiferte, trotz aller Verschiedenheit in der Tonlage, da seine »Art den Mythos zu traktieren« sich eher »der Humoristik von Goethe's klassischer Walpurgisnacht« als Wagnerschem Pathos nähere. Aber — heißt es mit Nachdruck — der »Entwicklungsweg, den die Erzählung von Joseph eingschlagen, war insgeheim gewiß doch auch immer von der Erinnerung an Wagners grandiosen Motivbau bestimmt, eine Nachfolge dieses Sinnes gewesen.«16 Damit ist ausgesprochen, daß der Roman entsprechend dem Beispiel Richard Wagners und im Anschluß an Feuerbachs Forderung sich an der anthropologischen Auslegung der mythischen Überlieferung orientiert hat. Sofern Thomas Mann über die Hinwendung zum Mythos sich selber Rechenschaft gab, hob er denn auch jeweils die Gesichtspunkte heraus, die dessen anthropologische Bedeutung erläutern und zugleich seine Abgrenzung gegen die »irrationale Mode« der »intellektfeindlichen Bewegung in Deutschland« ermöglichen.'7 Im Hinblick auf das Handbuch der altorientalischen Geisteskultur von A. Jeremias bezeichnete er 1932 in einer Betrachtung über »Die Einheit des Menschengeistes« die Religionsgeschichte als eine »humanistische Wissenschaft«, die »sich kritisch über das Theologische« erhebt, sofern sie den Mythos als »die Legitimation des Lebens« versteht, wie es »das antike Ich und sein Bewußtsein von sich« auffaßte.' 8 Entsprechend hieß es in einer gestrichenen Episode des Fauiiws-Romans über ein »religionsgeschichtliches Colleg« eines »Mythologen und Orientalisten« mit deutlichen Anspielungen auf die Thesen von 16
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Th. Mann, »Sechzehnjahre. Zur amerikanischen Ausgabe von Joseph und seine Brüder« (1948), in: Das essayistische Werk, Taschenbuchausgabe in 8 Bdn., hrsg. von Hans Bürgin, Frankfurt a. M. 1968 (Moderne Klassiker (MK)), mit Nr. und Seitenzahl zitiert. MK 119, 5.365. Thomas Mann - Karl Kerenyi. Gespräch in Briefen, Frankfurt a. M. 1960, Th. M. an K. K., 20. II. 1934, S. 42. Th. Mann, MK 114 (Anm. 16), S. 50 (»Die Einheit des Menschengeistes«). 148
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Jeremias und im Rückgriff auf Feuerbach: »Gerade als Religionsgeschichte aber offenbart sich die Theologie als eine humanistische Wissenschaft, ... kurz, als eine Wissenschaft vom Menschen und nicht von Gott.«19 Im gleichen Sinn spricht das Fragment »Über das Religiöse« von 1931, das mit besonderer Entschiedenheit die Rückwendung auf den Menschen vollzieht: »Die Stellung des Menschen im Kosmos, sein Anfang, seine Herkunft, sein Ziel, das ist das große Geheimnis; und das religiöse Problem ist das humane Problem, die Frage des Menschen nach sich selbst.«20 Schon 1929 in einem autobiographischen Lebensabriß zog Thomas Mann aus dieser Grundüberzeugung die Folgerung, daß Mythologie und Psychologie zusammengehören und dadurch eine »Umfunktionierung des Mythos« ins Humane möglich wird, wie er es 1942 in einem Vortrag über seinen Roman formulierte, in Wiederaufnahme der Formulierung aus seinem Briefwechsel mit Karl Kerenyi.21 1929 schrieb er über die Anfänge seiner Beschäftigung mit dem J05ep/i-Roman: »Das Problem des Menschen hat vermöge extremer Erfahrungen, die er mit sich selber gemacht, eine eigenartige Aktualität gewonnen; die Frage nach seinem Wesen, seiner Herkunft und seinem Ziel erweckt überall eine neue humane Anteilnahme ...; Vorstöße der Erkenntnis, sei es ins Dunkel der Vorzeit oder in die Nacht des Unbewußten, Erkundungen, die sich an einem gewissen Punkt berühren und zusammenfallen, haben das anthropologische Wissen in die Zeit zurück oder ... in die Tiefen der Seele hinab mächtig erweitert; und die Neugier nach dem menschlich Frühesten und Ältesten, dem Vorvernünftigen, Mythischen, Glaubensgeschichtlichen ist rege in uns allen.« Es handle sich dabei freilich nicht um die »seelische Rück- und Heimkehr« in den Mythus — das wäre eine »Selbstbetörung«, sondern um »Mythus und Psychologie, - die antiintellektualistischen Frömmler wollten das weit geschieden wissen. Und doch konnte es, so schien mir, lustig sein, vermittelst einer mythischen Psychologie eine Psychologie des Mythus zu versuchen.«22 Im Brief an Kerenyi vom Februar 1941 klingt es entsprechend, nur mit noch dezidierterer Vgl. H. Lehnert, DVjs 40 (Anm. 8), S. 2^&f. Th. Mann, MK 119 (Anm. 16), S. 268 ([Fragment über das Religiöse]). Ebd., S. 2491". (»Lebensabriß«); MK 114, S. 384 (»Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag«); Gespräch in Briefen (Anm. 17), Th. M. an K. K., 18.11.1941, S. 98, und 7. IX. 1941, S. loo. Th. Mann, MK 119 (Anm. 16), »Lebensabriß« (1930), aus Anlaß der Verleihung des Nobelpreises 1929, S. 249f. 149
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Abwehr der politisch wirksam gewordenen Schwarmgeisterei: »Was sollte mein Element derzeit wohl sein als Mythos plus Psychologie. Längst bin ich ein leidenschaftlicher Freund dieser Combination; denn tatsächlich ist Psychologie das Mittel, den Mythos den faschistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen und ihn ins Humane mmzufunktionieren 17
Ders., Joseph (Anm. i), Bd. I, S. 139, »Wer Jaakob war«. Ebd., S. 148, »Eliphas«. Vgl. zum Begriff »mythisches Schema« Eberhard Otto, Das Verhältnis von Rite und Mythus im Ägyptischen, Heidelberg 1958 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.-histor. Klasse, 1958,1), S. 25, in Abgrenzung gegen den Begriff »Archetyp« und archetypische Gestalten. Für Otto geht es darum, wie bestimmte »Mächtigkeiten« der Gestirne, der Kräfte der Erde und der Vegetation in einem Bild- oder Ordnungsschema gefaßt werden, das durch verschiedene
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rung festgelegten Lebensformen und Geschehnisabläufe wirken als vorgeprägtes Schema auf das individuelle Verhalten zurück und gewinnen um so größere Macht, als sie dem rhythmischen Wechsel des Naturgeschehens entsprechen. Von Jaakob heißt es: »Sein Leben während der letzten fünfundzwanzig Jahre erschien seinem feierlichen Sinnen im Lichte kosmischer Entsprechung, als Gleichnis des Kreislaufs, als ein Auf und Ab von Himmelfahrt, Höllenfahrt und Wiedererstehen, als eine höchst glückliche Ausfüllung des wachstumsmythischen Schemas.«38 Das »mythische Schema« steht in einem kontrastierenden Wechselverhältnis zur individuellen Bewußtheit und persönlichen Verantwortung. In seinem Freud-Vortrag 1936 sagt Th. Mann entsprechend: »Das Leben ist tatsächlich eine Mischung von formelhaften und individuellen Elementen, ein Ineinander, bei dem das Individuelle gleichsam nur über das Formelhaft-Unpersönliche hinausragt. Vieles Unpersönliche, viel unbewußte Identifikation, viel Konventionell-Schematisches ist bestimmend für das Erleben - nicht nur des Künstlers, sondern des Menschen überhaupt.« In einer Anwendung auf den Josephsroman betont er, daß »dessen Grundmotiv geradezu diese Idee der >Gelebten Vita< sei, das Leben als Nachfolge, als ein In-Spuren-Gehen, als Identifikation.«39 Man wird festhalten müssen, daß es Thomas Mann nicht um den Mythos als eine objektivierbare religiöse Welt, um Götterglauben oder Mächte des Irrationalen geht, sondern um ein Verhaltensschema des Menschen, der sich an Überlieferungen von Zuordnungsverhältnissen und Geschehensabläufen orientiert. Die Wendung vom Mythos zum mythischen Schema ist deshalb gleichbedeutend mit jener Anthropologisierung und Psychologisierung, die dem Erzähler die Freiheit gibt, die biblische Geschichte mit den Mythen der alten Welt zu konfrontieren und auf seine eigene Lebenssituation zurückzubeziehen. Wenn es im Menschen angelegt ist, sich in seinem Denken und Handeln an Vorbildern, Normen und Systemen zu orientieren, ist damit Verwirklichungen und Benennungen hindurchgeht, und sich als Kristallisationspunkt der erzählenden historischen Mythe erweist. Für Th. Mann geht es entsprechend um Grundmotive menschlichen Erfahrene und Verhaltens, die zur Imitatio und Identificatio mit überkommenen Verhaltensweisen zu ihm fuhren — also die anthropologische Situation und das zugehörige Verhaltensschema. -1S Th. Mann, Joseph (Anm. i), Bd. I, S. 174, »Die Zurechtweisung«. 39 Ders., MK 114 (Anm. 16), »Freud und die Zukunft«, S. 224. Vgl. Willy R. Berger, Die mythologischen Motive in Manns Roman »Joseph und seine Brüder«, Köln u. Wien 1971 (Literatur und Leben N. F. 14), bsd. S. 58ff. Die sorgfaltige Aufnahme der benutzten Motive erhellt nur bedingt ihre anthropologische Funktion. I58
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schon gesagt, in welcher Weise ein mythisches Schema wirksam werden kann. Imitation und Identifikation bestimmen das Lebensverhalten, bis ein Widerspruch zwischen der Überlieferung und der individuellen Erfahrungswirklichkeit zu neuer Produktivität und eigenen Antworten herausfordert. Dieses stets sich erneuernde Wechselspiel fuhrt den »Mythus« in jene »genaue Gegenwart« zurück, die ihn erzählbar macht. Es wird damit verständlich, daß die Vergegenwärtigung des Mythus etwas anderes meint als Einfühlung in historische Situationen oder Rückverweisung auf das Mögliche und Wahrscheinliche einer frühen Kulturstufe. Vielmehr muß der Roman die psychischen Dimensionen freilegen, die die Objektivierbarkeit des subjektiven Bewußtseins als ein gegenwärtiges Geschehen ermöglichen. Die Konfrontation der Joseph-Geschichte mit dem altorientalischen Mythus erscheint als der Weg, die Verhaltensweisen einer fernen Vergangenheit auf die Gegenwart des Erzählers zurückzubeziehen. Denn in allen Verwandlungen des mythischen Schemas begegnet nur immer die Frage des Menschen nach sich selbst und dem ihm zugehörigen Selbstbewußtsein. Sofern sein eigenstes Wesen im Anderssein der Göttergeschichten verstellt bleibt, wird die Überlieferung zur Herausforderung an den Erzähler, die Verwechslungen von Sein und Bewußtsein vorzuführen. Kritik, Ironie und Humor erhalten ihr Recht und weisen den Erzähler als den um die Ambivalenz der Lebensvorgänge wissenden Psychologen aus. So läßt sich im Bündnis mit der Psychologie der Mythus ins Humane umfunktionieren, mit einer Psychologie, die hinter allem Indirekten des Gesagten und Geschehenden jenes Direkte zu erschließen weiß, das der Mensch nur zu bezeugen vermag, indem er es verbirgt. So hat es seinen guten Grund, warum Thomas Mann mit der biblischen Geschichte von Joseph und seinen Brüdern sich nicht begnügte, sondern sie mit dem Tammuz-Osiris-Motiv verknüpfte oder auch identifizierte. Zur Konzeption des Josep/i-Romans gehört es von Anfang an, daß die biblische Überlieferung mit den babylonisch-assyrischen Mythen in Zusammenhang gebracht wird. So heißt es im Brief an Ernst Bertram vom 28. XII. 1926 über eine ihm übersandte »Sagen-Genealogie«: »Ich habe schon viel darin gesucht und gefunden. Sie bestätigt mir wieder, daß Joseph eine typhonische Tammuz-Osiris-Adonis-Dionysos-Form ist.«40 Auch das Werk von Jeremias über Das alte Testament im Lichte des 40
Mann an Ernst Bertram. Briefe am den Jahren 1910-1955, hrsg., komm. u. mit Nachw. vers. von Inge Jens, Pfullingen 1960, S. 154. 159
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alten Orients beschäftigte ihn vor allem, weil es ihm Anhaltspunkte für eine solche Rückbeziehung der Joseph-Gestalt auf den Tammuz-Mythos gab, als ein mythisches Grundschema von dem Geopferten, der in verjüngter Gestalt als Heilsbringer wiederkehrt und in dem sich Vegetationsriten verkörpern. Zugleich bietet er Anhaltspunkte, um nicht nur Joseph sondern auch Jesus in den Zusammenhang der mythologischen Vorstellungen des alten Orients einzubeziehen. So sagt Thomas Mann in seinem an Jeremias anknüpfenden Essay über »Die Einheit des Menschengeistes«: »Als das Christentum das Tammuz-Motiv der Höllenfahrt Jesu als Glaubensartikel in die Geschichte des sterbenden und wieder auferstehenden Heilsbringers aufnahm, brauchte es nicht zu furchten, daß man ihm eines Tages diese Lehre als Plagiat an Sumer und Akkad nachweisen und solchen Nachweis als Einwand gegen seine Wahrheit betrachten würde. Im Gegenteil, es hätte einfach etwas gefehlt ohne dieses Motiv.«41 In Hinblick auf Richard Wagners Siegfried-Gestalt heißt es entsprechend: »Der Sonnenheld selbst liegt auf der Bahre, erschlagen von bleicher Finsternis... Die Perspektive reißt auf bis ins Erste und Früheste menschlichen Bildträumens. Tammuz, Adonis, die der Eber schlug, Osiris, Dionysos, die Zerrissenen, die wiederkehren sollen als der Gekreuzigte, dem ein römischer Speer die Seiten wunde reißen muß, — alles, was war und immer ist, die ganze Welt der geopferten, von Wintergrimm gemordeten Schönheit umfaßt dieser mythische Blick.«42 In solchen Zusammenhängen will Thomas Manns Joseph-Gestalt gesehen sein, nur daß der Beziehungsreichtum der Anspielungen und zitathaften Anklänge noch weiter ausgreift und der Wechsel der Perspektiven zur humanen Aus- und Umdeutung der mythologischen Motive gehört. So heißt es in der Freud-Rede: »Der gelebte Mythus aber ist die epische Idee meines Romans«;43 und noch ausdrücklicher im Selbstkommentar von 1942: Das Werk suche vieles zu vereinigen, das Archaische und das Moderne, das Epische und das Analytische, »weil es das Menschliche als eine Einheit empfindet und imaginiert. ... Wie das Jüdisch-Legendäre darin beständig mit anderen, zeitlos behandelten Mythologien unterbaut und dafür durchsichtig gemacht ist, so ist auch sein Titelheld, Joseph, eine durchsichtige und vexatorisch mit der Beleuchtung wechselnde Gestalt: er ist, mit viel Bewußtsein, eine Adonis- und Tammuz-Figur, 41 4i 43
Th. Mann, MK 114 (Anm. 16), »Die Einheit des Menschengeistes«, S. 50. Ebd., »Leiden und Größe Richard Wagners«, S. 128. Ebd., »Freud und die Zukunft«, S. 224.
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aber dann gleitet er deutlich in eine Hermes-Rolle, die Rolle des weltlich-gewandten Geschäftsmannes und klugen Vorteil-Bringers unter den Göttern hinüber, und in seinem großen Gespräch mit Pharao gehen die Mythologien aller Welt, die ebräische, babylonische, ägyptische, griechische so bunt durcheinander, daß man sich kaum noch darauf besinnen wird, ein biblisch-jüdisches Geschichtenbuch vor sich zu haben.«44 Es gehört also zur Grundkonzeption des Romans, daß die JosephGestalt vor dem Hintergrund der Mythen von Tammuz-Osiris erscheint. »Tammuz« ist die hebräische und aramäische Namensform des sumerischen »Dumuzi«, mit der Bedeutung »rechter Sohn«; als Gatte der Inanna-Istar wird er von den Dämonen der Unterwelt ergriffen; als Vegetationsgottheit steht er in Parallele zum phönizischen »Adonis«, mit der Bedeutung »adon« gleich Herr.45 Der altägyptische Osiris war mit Isis verbunden und wurde von seinem Zwillingsbruder »Seth« zerstückelt, im Nil ertränkt und Herrscher der Unterwelt, während der von ihm gezeugte Horus die Herrschaft über die Lebenden erhielt. — Schon im »Vorspiel« zu den Geschichten Jaakobs wird auf Josephs Vertrautheit mit diesen Vorstellungen hingedeutet; er verkehrte mit Ägyptern — heißt es da - und fing dieses und jenes von ihrer Sprache auf; sie sagten ihm von Dingen unvordenklichen Alters: »Es stammt aus den Tagen des Set womit nämlich einer ihrer Götter gemeint war, der tückische Bruder ihres Mardug oder Tammuz, den sie Usiri, den Dulder nannten: ... weil Set ihn ... gemordet hatte, so daß Usir, das Opfer, nun als Herr der Toten und König der Ewigkeit in der Unterwelt waltete.«46 — Entsprechend kennt Jaakob die Gottheit, die die Leute von Schekem = Sichern anbeteten, die »eine Form des syrischen Schäfers und schönen Herrn, des Adonis und jenes Tammuz war, des blühenden Jünglings, den der Eber verstümmelte und den sie drunten im Unterlande Usiri, das Opfer nannten.«47 Und Jaakob selber ist von der Sorge um Joseph bewegt, er möchte in die Zisterne fallen, bei der er ihn sitzen fand, eine Sorge, die daher kam, »daß er die Brunnentiefe nicht denken konnte, ohne daß die Idee der Unterwelt und des Totenreiches sich in den Gedanken ... einmengte ... Uralt mythisches Erbgut der Völker ... die Vorstellung des unteren Landes, in dem Usiri, der Zerstückelte, herrschte, ... das Land 44 45
+ 47
Ebd., »Joseph und seine Brüder. Ein Vertrag«, S. 388. Vgl. RGG (Anni. y) zu »Tammuz« (Bd. 6, Sp. 609), »Isis« (Bd. 3, Sp. yoof), »Adonis« (Bd. i, Sp. 97f.). — H. Zimmern, Der babylonische Gott Tamuz, Leipzig 1909. Th. Mann, Joseph (Anm. l), Bd. I, S. 22, »Vorspiel« 3. Ebd., S. 77, »Der Mann Jebsche«.
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des Schwarzmondes, des Winters und verkohlten Sommers, wohin Tammuz, der Schäfer gesunken war und alljährlich wieder sank ... bis Ischtar, die Gattin und Mutter, Höllenfahrt hielt ... und den geliebten Schönen ... aus Höhle und Grube hervorführte, als Herrn der neuen Zeit.«48 So ergibt sich schon am Anfang des Romans eine eigentümliche Parallelisierung von Joseph und Tammuz, als würde damit auf ein Schema typischer Geschehensabläufe verwiesen, dem die individuellen Schicksale sich zuund unterordnen sollen. Wenn Joseph selber dann von seinem Traum erzählt, »vom Vorrang und von der Kindschaft«, wird diese Parallelisierung noch nachdrücklicher betont, als eine Vordeutung auf Kommendes, die aber offen läßt, in welcher Weise das vorgezeichnete Schema sich mit neuer Wirklichkeit erfüllen wird: »Denn dem Gotteskinde wird vieles beschieden sein . . . sie gruben ein Grab vor meinen Füßen ... Aber ich rief seinen (des Herrn der Heerscharen) Namen aus der Finsternis der Grube, da heilte er mich...« Und von Jaakob heißt es: »Er nannte ihn Damu, >KindleinEinst< seinen Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft und damit seine Ladung potentieller Gegenwart verleiht.«54 In dem Essay über Richard Wagner heißt es entsprechend, die Sprache des Mythus »ist die Sprache des >Einst< in seinem Doppelsinn aus >Wie alles war< und >Wie alles sein wirdEinstSchongesehen< und >Schongeträumt< uns bedeutend anrührt und uns auffordert, ihr nachzuhängen: - so ist das genau dieselbe Erfahrung, die unseren Helden damals erfüllte: eine Übereinstimmung, mit der es wohl seine Ordnung hat,« heißt es von Joseph/" Zugleich aber ist die Identifikation der eigentliche Grund sowohl für ein gesteigertes Selbstbewußtsein wie für Verwechslungen und Selbsttäuschungen. Joseph versteht sich als der Erwählte, den keine »Erhöhung« erschreckt, weil sie dem mythischen Schema entspricht, dem er nachfolgt. Er nahm »alles entgegen wie Einer, den keine Erhöhung überrascht ... Denn seine Gedanken waren nicht hier in Pharaos Saal. Bei einem härenen Hause waren sie auf fernen Höhen, ... mit dem Brüderchen rechter Hand, ... dem er Träume erzählte.«62 So versteht er die Erhö5y
Ebd., S. 179, »Der Vertrag«. Ebd., Bd. II, S. i8if., »Wie lange Joseph bei Potiphar blieb«. nl Ebd. 6 - Ebd., Bd. III, S. 248, »Der versunkene Schatz«. 60
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hung nur als Erfüllung eines Erwarteten, als betrachte er es als seine Pflicht, »den Absichten Vorschub zu leisten und Gott bei ihrer Verfolgung nach besten Kräften behilflich zu sein.«63 Erst spät erfährt er, daß die Verheißung doch anders zu verstehen war, nämlich als ihn Jaakob bei der schließlichen Wiederbegegnung in Ägypten belehrt: »Gott hat dich gegeben und genommen, raunte Jaakob, und hat dich wieder gegeben, aber nicht ganz ... Dich hat er erhöht und verworfen, beides in einem ... Du bist gesegnet ... Doch weltlicher Segen ist es, nicht geistlicher ... Der Erstgeborene bist du in irdischen Dingen und ein Wohltäter, wie den Fremden, so auch Vater und Brüdern. Aber das Heil soll nicht durch dich die Völker erreichen ... Denn kein geistlicher Fürst bist du, sondern ein weltlicher.«64 Die Nachfolge führt zu anderen Zielen als erwartet, sodaß die Selbsttäuschungen, die »verblendenden Selbstverwechslungen« nicht ausbleiben, die doch zugleich das Voranschreiten auf dem eingeschlagenen Weg ermöglichen. Entsprechend heißt es von Jaakobs gewalttätigen Bedingungen gegenüber den Bewohnern von Sichern: »Was ihn verblendet hatte, war die Freude an Imitation und Nachfolge gewesen.«65 Es ist deutlich, sofern die biblische Überlieferung hier als Mythus verstanden wird, handelt es sich um ein anthropologisch gedeutetes mythisches Schema, das durch wechselnde Zeiten hindurch als indirektes Zeugnis wiederkehrender Bewußtseinszustände wirksam bleibt. Es geht nicht um eine religiöse Heilsordnung von Sündenfall und Erlösungshoffnung, sondern um das Verhalten des Menschen zu seiner Zeitlichkeit, um die Überhöhung seiner gegenwärtigen Wirklichkeit durch die Bindung an eine als Zukunftsverheißung wirksamen Vergangenheit. Das als Nachahmung verstandene Handeln deutet die Ereignisse als ein Geschehen nach geprägtem Urbild, als Wiederkehr und Vergegenwärtigung des sich gleich bleibenden Lebens. Der Mythus erscheint als das Werk des Menschen, mit dessen Hilfe er sich in der Zeitlichkeit einzurichten lernt und seine Aufgaben zu verstehen meint, durch den er aber gleichzeitig in ihn täuschende Verblendungen gerät. Der Mythus entspricht also einem menschlich-allzumenschlichen Lebensspiel, das der Erzähler umspielt, um es überschaubar zu machen, in seinem Tiefsinn wie in seiner Hinfälligkeit. Denn die Menschen bleiben sich gleich, indem sie ihr Rollenspiel übernehmen: »Es gibt tief ausgefahrene Gedankengeleise, aus denen man (3
' Ebd., S. 256, »Herr über Ägyptenland«. Ebd., S. 53of., »Von absprechender Liebe«. fti Ebd., Bd. I, S. 197, »Die Nachahmung«. 64
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nicht weicht, wenn man einmal darin ist; urgewohnte, fix und fertige Ideenverbindungen, die ineinanderfassen wie Kettenglieder ... Es ist einmal so, daß der Mensch ganz vorwiegend in Schablonen und Formeln fertigen Gepräges denkt, also nicht wie er sich's aussucht, sondern wie es gebräuchlich ist nach der Erinnerung.«66 Diese Identifikationen, dieses Gehen in Spuren und Anerkennen des mythischen Schemas, setzt freilich voraus, daß das sich gleichbleibende Leben in immer wechselnder Gestalt begegnet und wie in einem Kaleidoskop stets neue Figuren entstehen läßt. »Denn Wiederkehr ist Abwandlung, und wie im Guckrohr ein immer gleicher Bestand an farbigen Splittern in immer wechselnde Schauordnungen fällt, so bringt das spielende Leben aus dem Selben und Gleichen das immer Neue hervor, die Sohnes-Sternfigur aus denselben Teilchen, aus welchen der Lebensstern des Vaters sich bildete.«67
5. Das Personsein und die Entdeckung Gottes: Frömmigkeit als Verinnigung der Welt Durch diese in Abwandlungen sich vollziehende Wiederkehr des Gleichen öffnet sich ein letzter Fragenhorizont von allgemeinster Bedeutung. Was besagt es für den Menschen, wenn der Kreislauf der Dinge sich nur immer wiederholt und der einzelne vorgegebene Rollen ausfüllt? Muß damit nicht die Individualität ihre Bedeutung verlieren und ein genereller Fatalismus um sich greifen? An diese Fragen rührt Jaakob im Gespräch mit Joseph, als er sein Verhältnis zu ihm mit demjenigen Abrahams zu Isaak vergleicht und davon erzählt, daß er sich zu einem entsprechenden Opfergang herausgefordert sah, ohne einer solchen Nachfolge gerecht werden zu können. Joseph sucht sich mit der möglichen Wiederholung des beispielhaften Vorgangs zufrieden zu geben, als wäre die damalige Verweigerung des Opfers Gewähr genug, daß es auch späterhin nicht angenommen würde. Er sagt: »Das ist aber der Vorteil der späten Tage, daß wir die Kreisläufe schon kennen, in denen die Welt abrollt, und die Geschichten, in denen sie sich zuträgt und die die Väter begründeten. Du hättest mögen auf die Stimme und auf den Widder vertrauen.«68 Diese Auskunft weist Jaakob als unzureichend zurück, um statt dessen 66
Ebd., Bd. II, S. 22, »Zum Herrn«. ' Ebd., S. 192, »Im Lande der Enkel«. nii Ebd., Bd. I, S. 116, »Die Prüfung«.
(7
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auf sich selber und die ihm eigene Situation einzugehen: »Deine Rede ist gewitzt, aber unzutreffend ... Hat denn Gott mich geprüft? Nein, er hat Abraham geprüft, der bestand. Mich aber habe ich selbst geprüft mit der Prüfung Abrahams, und mir hat die Seele versagt, denn meine Liebe war stärker denn mein Glaube, und ich vermochte es nicht.« Im Kreislauf der Dinge kann der Mensch sich auf eine Wiederholung nach den Regeln des Schemas nicht verlassen, da er mit seinem Glauben vertrauend oder versagend als Person ins Spiel kommt, als eine »Seele«, die sich des Unterschieds zwischen Abraham und Jaakob bewußt wird und in den Geheimnisgrund des Lebens zurückblickt. Es ist damit der Fragenkreis gekennzeichnet, der das »Gottesdenkertum« Jaakobs vorantreibt und der Imitatio des mythischen Schemas die »Entdeckung Gottes« überordnet. So ist Jaakob derjenige, den »Sanftmut und Gottesdenkertum« auszeichnen gerade in dem Maße, wie in ihm ein Personsein aufwacht/'9 Denn, wie es im Schlußteil des Romans heißt: »Der Anspruch des menschlichen Ich auf zentrale Wichtigkeit war die Voraussetzung für die Entdeckung Gottes, und nur gemeinsam, mit dem Erfolge gründlichen Verkommens einer Menschheit, die sich nicht wichtig nimmt, können beide Entdeckungen wieder verloren gehen.«70 Da der Mythus keine normsetzenden Göttergeschichten erzählt, sondern der Mensch im mythischen Schema Vergangenheit und Zukunft ineinander spiegelt, kann auch der »Gottesgedanke« in seiner Bedeutung sich nur vom Menschen her zu erkennen geben. Das Sprechen von Gott verliert hier jeden Bezug auf ein gegenständlich fixierbares Gegenüber, als ließe er sich als Werkmeister der Kreisläufe begreifen, in denen die Welt abrollt, oder als Verursacher der Lebenserscheinungen. Nur als der im Lebensgeschehen Verborgene und im Geheimnis sich Entziehende eröffnet er dem Menschen einen eigenen Raum, in den das Ich hineinhandelt, ohne einem Notzwang der Nachfolge zu erliegen. So erhält die biblische Überlieferung ihre erzählenswerte, beispielhafte Bedeutung doch nicht nur als ein Mythus, der die dem Menschen gewohnte Haltung der Imitatio und Identificatio vielsinnig umspielt, sondern erst durch den mit dem Mythus eng verflochtenen, aber über ihn hinaus weisenden Gottesgedanken. Die Zusammengehörigkeit des Stammes Israel wird denn auch ausdrücklich auf die weiterwirkende Arbeit am r>y
70
Ebd., S. 173, »Die Zurechtweisung«. - Man sollte Thomas Manns Schreibweise des Namens »Jaakob« beachten, den er dreisilbig aussprach, gewissermaßen als Hervorhebung seines Personseins. Ebd., Bd. III, S. 504, »Ich will hin und ihn sehen«. 169
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Gottesgedanken bezogen und nicht als ein naturhafter Blutszusammenhang verstanden. So heißt es: »Es ist notwendig, Abrahams, des Ur-Einwanderers, Stammvaterschaft hauptsächlich geistig zu verstehen. ... Göttliches aber, die forterbende Arbeit an einem Gottesgedanken war das Band, das bei aller Buntscheckigkeit des Geblütes die geistige Sippschaft zusammenhielt.«7' Abraham steht nur deshalb am Anfang der Geschlechterreihe, weil er Gott als »Herr und Höchster« genannt und also »entdeckt und hervorgebracht hat«, denn er »hatte entdeckt unter den Göttern den höchsten Herrn in der Wahrheit mit seinem Geiste.«72 Ihm folgt Jaakob, der »in seinem persönlichsten Zustand«, dem »der sinnenden Sorge um die Undeutlichkeit Gottes« befangen ist und dessen »Arbeit am Göttlichen« »sich immer als ein Ausdruck von Besorgnis in seiner Miene abzeichnete«, wenn er aufsein Fragen nach dem Tun Gottes keine Antwort erhielt. Denn »der Ruhm der Menschenseele ist es, daß sie durch dieses Schweigen nicht an Gott irre wird, sondern die Majestät des Unbegreiflichen zu erfassen und daran zu wachsen vermag.«73 Auch Joseph geht auf diesem Wege weiter, wenn er zu Pharao davon spricht, daß Abraham Gott »entdeckt« hat, als »sein Trachten über die Sonne hinaus« ging mit seiner Forderung, »der Mensch solle allein dem Höchsten dienen« und nicht einem »Vater am Himmel« sondern »im Himmel.«74 Aber auch diese an die biblische Überlieferung anklingenden oder sogar die neutestamentlichen vorwegnehmenden Worte - wie Pharaos Forderung, Gott »im Geiste und in der Wahrheit anzubeten« - verbergen einen eigenen Hintersinn und fuhren auf den Menschen zurück. Denn im »Gottesgedanken« will eine eigentümliche Wechselbeziehung von Gott und Mensch beachtet sein. Es geht um die Art, wie Gott erst im Gedanken des Menschen wirklich wird, als »das durch den Geist des Menschen nach Verwirklichung trachtende Gotteswesen.«75 Der Bund, den Gott mit Abraham schloß, will auf diese Zweiseitigkeit hin befragt sein; denn »der Bund Gottes mit dem in Abram, dem Wanderer, tätigen Menschengeist war ein Bund zum Endzwecke beiderseitiger Heiligung, ein Bund, in welchem menschliche und göttliche Bedürftigkeit sich derart verschränken, daß kaum zu sagen ist, von welcher Seite, der göttlichen oder der menschlichen, die erste Anregung zu solchem Zusammen71 72 73 74 75
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
Bd. I, S. uif., »Wer Jaakob war«. S. 716, »Jaakob trägt Leid um Joseph«; S. 127, »Zwiegesang«. S. 121, »Vom Öl, vom Wein und von der Feige«; S. 429, »Benoni«. Bd. III, S. 215 u. 4221"., »Allzu selig«. Bd. I, S. 144, »Wer Jaakob war«.
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wirken ausgegangen sei, ein Bund aber jedenfalls, in dessen Errichtung sich ausspricht, daß Gottes Heiligwerden und das des Menschen einen Doppelprozeß darstellen und auf das innigste aneinander >gebunden< sind.« In der Hinwendung zum »Gottesgedanken« geht es um diesen Wechselbezug, »daß Gott seine wirkliche Würde nur mit Hilfe des Menschengeistes erlangt, dieser aber wieder nicht würdig wird ohne die Anschauung der Wirklichkeit Gottes und die Bezugnahme auf sie.«76 So kann Jaakob gegen Gott aufbegehren, als ihm Joseph genommen wird, als wäre damit der »Bund« gebrochen: »Hat er des Bundes vergessen? ... Was leide ich Gewalt statt Gerechtigkeit? ... Spottet er des Menschengeistes, daß er im Übermut umbringt die Frommen und Bösen? Aber wo wäre denn er auch wieder ohne den Menschengeist?«77 Das Gottesdenken gerät mit sich selbst in Widerspruch, wenn es im Bann der mythischen Formeln erwartet, daß das Geschehen dem Schema des Erfüllung verheißenden Kreislaufs entsprechen müsse, während doch gerade das menschlich Unbegreifliche auf die Unbedingtheit Gottes als des im Geheimnis Verborgenen verweist. So bleibt nur der stets neu zu gewinnende Ausgleich gefordert zwischen den Polen einer Gebundenheit im mythischen Schema und der Freiheit des Geistes im Personbewußtsein des Ich, ein Ausgleich, von dem Joseph spricht, als er zur Deutung der Träume Pharaos aufgefordert wird. Erst durch ein Ich als ein »Einzig-Besonderes« soll »die Form und das Überlieferte sich erfüllen«, da ihnen dadurch »das Siegel der Gottesvernunft« zuteil wird. »Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei. Dies aber ist gesittetes Leben, daß sich das Bindend-Musterhafte des Grundes mit der Gottesfreiheit des Ich erfülle, und ist keine Menschengesittung ohne das eine und ohne das andere.«78 Das sind Sätze, die so etwas wie ein Vermächtnis oder Resultat des Romans bezeichnen und eine Summe aus allem Erzählten und Erörterten ziehen, indem sie auf den humanen Sinn der Gesittung als das menschliche Maß verweisen, vor dem sich jede Gegenwart auch in ihrem Verhältnis zur Überlieferung bewähren muß. Auf diese Sätze weist Jaakob zurück, als er am Ende des Weges wieder vor Joseph steht und ihm bestätigend und begrenzend sagt: »Du bist gesegnet, Du Lieber, gesegnet 7n 77 7S
Ebd., S. 352f., »Von Gottes Eifersucht«. Ebd., S. 716, »Jaakob trägt Leid um Joseph«. Ebd., Bd. III, S. 170, »Das Kind der Höhle«.
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vom Himmel herab und von der Tiefe, die unten liegt, gesegnet mit Heiterkeit und Schicksal, mit Witz und mit Träumen.«79 Aber es sind Sätze, auf die Thomas Mann selber gelegentlich mit besonderem Nachdruck verwiesen hat, als wenn sie Sinn und Absicht seiner Bemühungen um den Roman am deutlichsten kennzeichneten. Im Februar 1941 hat er an Kerenyi von seiner Absicht geschrieben, durch das Mittel der Psychologie den Mythos ins Humane umzufunktionieren. Denn »diese Verbindung repräsentiert mir geradezu die Welt der Zukunft, ein Menschentum, das gesegnet ist oben vom Geiste herab und >aus der Tiefe, die unten liegfc.«80 Aber schon viel früher, ganz am Anfang seiner Arbeit an dem biblischen Roman, nimmt ein Brief an Ernst Bertram vom Dezember 1926 auf diese Sätze bezug, um sie als eine Art Koinzidenzpunkt von Bibelwort und zu erzählender Geschichte zu kennzeichnen, als ein biblisches Zitat, das der Roman auslegt, indem er es sich anverwandelt. Da heißt es: »Mein eigentlicher und geheimer Text steht in der Bibel, in der Geschichte zuletzt. Es ist der Segen des sterbenden Jakob über Joseph: >Von dem Allmächtigen bist du gesegnet mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Tiefe, die unten liegt.< Damit man sich zu einem Werk entschließe, muß es, als Stoff, irgendwo einen Punkt haben, bei dessen Berührung einem regelmäßig das Herz aufgeht. Dies ist dieser produktive Punkt.« 8 ' Wenn derart das Segenswort der Genesis i. Mose 49,25 als der »produktive Punkt« und der »eigentliche und geheime Text« bezeichnet wird, aus dem der Roman erwachsen soll, dann erweist sich damit zugleich, wie sehr eine Grundkonzeption durch die Jahre der Entstehung hindurch sich behauptet hat und die verschiedenartigen Einzelmotive zu integrieren vermochte. Schon am Anfang des Werkes, im »Vorspiel«, erscheint das Segenswort als eine Art Krönung oder Verheißung der anthropologischen Erörterungen über das Verhältnis von Natur und Geist, »da Natur ohne Geist sowohl als Geist ohne Natur wohl schwerlich Leben genannt werden kann«. Das Geheimnis liege vielleicht »in der wechselseitigen Durchdringung der beiden Prinzipien und der Heiligung des einen durch das andere zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt«.82 7y 80 81
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Ebd., S. 531, »Von absprechender Liebe«. Mann, Kerenyi, Gespräch in Briefen (Anm. 17), Th. M. an K. K., 18. Febr. 1941, S. 97. Briefe 19/0-1935 (Anm. 40), Th. M. an E. B., 28. Dez. 1926, S. 155. Auch Briefe 1889— 1936 (Anm. 50), S. 263. Th. Mann, Joseph (Anm. i), Bd. I, »Vorspiel« 9, S. 53. 172
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Es ist das Leitwort, unter das sich der Erzähler selber stellt und das er durch das »Fest der Erzählung«83 bestätigt sehen möchte, bis schließlich am Ende des Werks das seit langem geplante Zitat seinen herausgehobenen Platz und damit auch seine Auslegung gefunden hat. Es ist ein Wort, das als Segenswunsch den Menschen auf eine mögliche Erfüllung seines Lebens verweist und überzeitliche, allgemeine Bedeutung beanspruchen kann, sodaß Thomas Mann es auch in Lotte in Weimar benutzt. Hier hilft der »Jakobssegen der Schrift« dazu, »das Phänomen der Größe, des großen Menschen« zu erläutern. Mit jenem Segenswort sei von nichts anderem die Rede als »von der Vereinigung der mächtigsten Geistesgaben mit der stupendesten Naivität in Einer menschlichen Verfassung«: »Es handelt sich um den Doppelsegen des Geistes und der Natur - welches, wohl überlegt, der Segen — aber im ganzen ist es wohl ein Fluch und eine Apprehension damit — des Menschengeschlechts überhaupt ist.« Das Zitat hilft hier dazu, Goethe, wie er sich in Riemer spiegelt, zu kennzeichnen und eine versteckte Verbindung zwischen den benachbarten Werken und Gestalten herzustellen.84 Es behauptet sich als eine Art Drehpunkt und verweist auf beides, auf Natur und Geist, wie auf die Imitatio eines mythischen Schemas, und auf den Gottesgedanken, der das Ich in die Freiheit des Geistes stellt. Beides verschränkt sich auf eine den Menschen sowohl zur Tätigkeit herausfordernde wie auch irreführende und verblendende Weise und fuhrt damit auf den Widerspruch zwischen Leben und Bewußtsein vom Leben zurück. Dem Erzähler bleibt die Aufgabe der Vermittlung, um die dem Lebensspiel eigene Ironie zu durchhellen und die Freiheit des Humors zu bewahren.*5 Aber es wird damit auch verständlich, in welchem Sinn der Erzähler dem Menschen eine Haltung der Frömmigkeit abverlangt, eine Frömmigkeit, die nicht als unterwürfiger Gehorsam oder duldende Ergebung verstanden sein will, sondern als eine Art Rücknahme des Lebensgesches
·' Ebd., »Vorspiel« 10, S. Heilanstalt für Schwachsinnige und Epileptische< zu bringen, ihm gewaltsam den Glauben an Liebe und Gerechtigkeit und damit an einen Gott zu rauben?« -1 Vgl. ebd., 4.. IX. 1892, S. 252: »Ihr würdet mich da natürlich mit dein Pietismus abspeisen ... Da hält man mir Reden: >Wende dich an Gott, an Christus, etc., etc.< Ich kann eben in diesem Gott nichts als einen Wahn, in diesem Christus nichts als einen Menschen sehen, mögt Ihr mir hundertmal fluchen.« — Entsprechend heißt es am 11. IX. 1892, S. 2o5f.: »Ihr seid Christen, und ich - nur ein Mensch ... Wenn Ihr mir schreiben wollt, bitte nicht wieder Euren Christus. Er wird hier genug an die große Glocke gehängt ... Ich glaube, wenn der Geist des verstorbenen >ChristusSelbst< ist sein Gott.« 10 Es ging also um eine grundsätzliche Entscheidung über das Eigenrecht des Ichbewußtseins und Selbstgefühls, ob es seiner eigenen Erfahrungswirklichkeit vertrauen darf oder an eine Offenbarungswahrheit und ihre kirchliche Deutung gebunden bleibt. Hesses Halbbruder Theo Isenberg berichtete von seiner Entscheidung in entsprechenden Konflikten, wie er »von der hochtrabenden Philosophie zum demütigen Christentum zurückgegriffen« und erkannt habe, daß »das Selbstaufgeben die Hauptund Grundidee des Christentums« sei." Demgegenüber fand der jugendliche Hermann Hesse seine innere Gewißheit und Entschiedenheit nur noch in der Unmittelbarkeit des Menschseins als eines Personseins, in der Erlebniswirklichkeit seines eigenen Selbst als eines seiner selbst bewußten Ich. Was im Elternhaus als drohende Sünde erschien, die Berufung auf das Selbst und die Subjektivität des Gefühls, ist fortan die etwas einseitig religiös gesinnten Verwandten zum Schweigen über das mir Wichtige verdammt, bin ich innerlich etwas haltlos, wenigstens einsam.« Vgl. ebd., Pfarrer Schall an Johannes Hesse, 30. VII. 1892, S. 238. Ebd., der Vater an H. H., 22.11. 1893, S. 3371"., und 12. III. 1893, S. 342. Ebd., aus dem Tagebuch der Mutter, 12. IV. 1893, S. 355, und an Adele Hesse, i.VIII. 1893, S. 384. Ebd., Theo Isenberg an H. H., 2. VI. 1893, S. 36yf.
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Grundlage seiner Existenz geblieben und damit auch zum Spielraum und Beobachtungsfeld seines Dichtens geworden. »Der erste große Konflikt seines innern und äußern Lebens« wurde bestimmend für Weg und Anspruch seines Schaffens.12 Denn die Beschäftigung mit der Literatur stand von Anfang an in engstem Zusammenhang mit der eigenen Bewußtseinskrise, die durch die Literatur ausgelöst oder doch vorangetrieben wurde, vor allem durch die Lektüre von Turgenjew und Heinrich Heine. In der Heilanstalt in Stetten wurde dem Fünfzehnjährigen bedeutet, »daß Turgenjew'sche Romane für sein Alter absolut nicht taugen«, und ihm verboten, sich »Nihilist« zu nennen.' 3 Während seiner Lehrzeit als Mechaniker 1895 berichtete er dem Freund von seiner Lektüre, daß er von Turgenjew »acht bis zehn Bücher gelesen« habe, den »pessimistisch-nihilistischen Naturalismus« der »modernen Slaven« also kenne. Er verwies auf Väter und Söhne, auf das Buch, in dem das von Turgenjew geschaffene Wort »Nihilist« zum erstenmal vorkomme, weshalb Turgenjew »Der Vater der Nihilisten« heiße.14 In der Tat hat Turgenjew in jenem Roman sehr genau angegeben, was er unter einem Nihilisten versteht, und damit auf einen Anspruch verwiesen, den der junge Hesse als auch für sich gültig ansehen mochte. Es heißt da: »Ein Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt und der kein einziges Prinzip auf Treu und Glauben hinnimmt, mit wieviel Respekt dieses Prinzip auch sonst anerkannt worden wäre.«' 5 Von diesem Leitwort Turgenjews aus wird aber auch der Horizont erkennbar, vor dem Heines Gedichte bei Hesse zur Wirkung kamen. Wie der Großvater Gundert damals schrieb, hinterließ Hesse - als er in die Heilanstalt zurückgeschickt wurde - »ein Gedicht in Heinescher Mundart, worin er dem Elternhaus und seinem Gott lebe wohl sagte«.'6 Er kaufte sich bald darauf Heines Werke und nannte ihn weiterhin »die eigenartigste, einflußreichste Gestalt der Literatur seit Goethes Tod«; er habe »der Romantik ein Ende gemacht«, aber noch ihre »letzten, reifsten Lieder« gesungen und es verstanden, »über alles
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lft
Ebd., H. H. an Theodor Rümelin, 29. V. 1895, S. 474. Ebd., H.H. an den Vater, 4.IX. 1892, 8.253; Inspektor Pfarrer Scholl an Johannes Hesse, 6. IX. 1892, S. 254. Ebd., H. H. an Th. Rümelin, Mai 1895, S. 462; H. bemerkt dort über Turgenjew: »Eigentlich sollte der Roman >Weder Väter noch Söhne< heißen.« Iwan Turgenjew, Väter und Söhne, Übersetzung von Johannes v. Guenther, München 1955 (Goldmanns Taschenbücher), S. 25. Lcbenszeugnisse (Anm. i), Hermann Gundert an seinen Sohn, 22. VIII. 1892, S. 248. 182
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seinen aristophanischen, glänzenden, witzigen Hohn zu gießen«.'7 Wenn also Turgenjew für Hesse wichtig wurde, weil er durch ihn zum Widerstand gegen jede Autorität herausgefordert wurde, so vermittelte ihm Heine eine Sprache und Bilderwelt, die die täuschenden Harmonisierungen des Gefühls zu entzaubern vermochte. Aber nun besteht das Eindrucksvolle und Ungewöhnliche in Hesses Bildungsweg doch darin, daß er sich mit diesen Vorbildern nicht begnügte, sondern sie in gewissem Umfang widerrufen hat. Sie wurden ihm nicht zu Autoritäten, sondern Anlaß zu einem umfassenden Literaturstudium. Im Februar 1893 berichtete seine Pensionswirtin noch, er lese »Turgenjew und Heine«; im April 1895 schreibt er an den Freund: »Ich bin bekehrt zum Glauben an das Schöne, an Goethe, Schiller, an die Antike; ich habe aufgehört, Ibsen und Turgenjew zu verehren. Nur von Heines bezaubernden Weisen werde ich wohl nie ganz los kommen.« Wenig später heißt es: »Jetzt bin ich Goethe und den Romantikern näher gekommen.«18 Man wird in diesem Wandel nicht ein ängstliches Zurückweichen in die Konvention sehen dürfen, sondern das Zeichen eines persönlichen Entschlusses, sich die Voraussetzungen zu verschaffen, um seinen eigenen Absichten und Wünschen entsprechen zu können. Es ist von eindrucksvoller Konsequenz, wie Hesse nach dem Abgang von der Schule durch ein »Studium der Literatur« sich disziplinierte, durch seine »Privatausbildung« in Calw und dann als Buchhändler in Tübingen und Basel.19 Die ihm von früh an vertraute Welt der Dichtung und Musik, seine frühe Liebe zu Homer und Ovid, zu Klopstock und Schiller, zu Mozart und Beethoven,20 war durch die Bewußtseinskrise als eine Glaubenskrise im Grunde nicht in Frage gestellt, sondern blieb als ein 17
Ebd., Marie Hesse an Adele H., i. VIII. 1893, S. 383; H. H. an Th. Rümelm, Februar 1895, S. 4291!. '" Ebd., David Gundert an Johannes Hesse, 13. II. 1893, S. 334; H. H. an Th. Rümelin, April 1895, S. 450; H. H. an Dr. Kapff, Mai 1895, S. 465. "J Ebd., S. 464, und H. H. an den Vater, Juni 1894, S. 415. -° H. H. hatte für sein Selbststudium die umfangreiche Bibliothek des Vaters wie des Großvaters zur Verfugung. Er stammte aus einem Elternhaus, das nicht nur durch die christliche Mission in Indien geprägt war, sondern an einer reichen Bildungsüberlieferung anteilnahm. Es überrascht deshalb nicht, mit welcher freudigen Leichtigkeit er schon als Schüler der Lateinschule und in den ersten Monaten in Maulbronn von seinem Umgang mit den Büchern erzählt, von der Cicero- und Livius-Lektüre (Lebenszeugnisse (Anm. i), S. 37, 67), von der Aufgabe, Schillers Walletistein ins Lateinische zu übersetzen oder den Ovid in deutsche Hexameter (ebd., S. 79, 145); er liest die Odyssee und das Nibelungenlied (ebd., S. 130, 154); Klopstocks Oden sind ihm so wichtig wie Schillers Werke, die er sich 1891 zu Weihnachten wünscht (ebd., S. 165, 140); auf seinem Pult hat er David Copperfield liegen (ebd., S. 137). 183
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Gegenhalt in dem Maße wirksam, wie sie ihrerseits auf die Unmittelbarkeit des Gefühls und das Eigenrecht des Personseins bezogen war. So konnte sie zur Erhellung und Klärung der eigenen Erwartungen helfen und den Zusammenhang mit allen humanistischen Traditionen bewahren. Diese Bewußtseinskrise erwuchs aus dem Gegensatz zwischen den kirchlichen Glaubenslehren und einem neuzeitlichen Weltverständnis, das die Lebensmöglichkeiten des Menschen so weitgehend verändert hat, das durch Entdeckungen und Erfindungen auf alle Lebensgebiete zurückwirkte und die überlieferten Gesellschaftsstrukturen in Bewegung setzte, vor allem durch die Bevölkerungsvermehrung als Folge der Hygiene und der modernen Energieverstärker. So erscheint diese Krise als eine Voraussetzung der politischen und sozialen Krisen unserer Epoche, die selbst wieder den gewandelten Lebenssituationen der Industriegesellschaft entsprechen und mit den Denkformen des technischen Zeitalters verbunden sind. Für Hesse bleibt die Bewußtseinskrise das entscheidende Phänomen, weil von ihr aus die Situation des individuellen Menschen, sein Personsein sich fassen läßt und sie die Fragen offenhält, wie das Weltverhältnis in einer sich entziehenden, unüberschaubaren Ordnung sich neu begreifen lernt. Nach dem Abklingen der akuten Krise vollzog Hesse eine ebenso nachhaltige wie selbständige Aneignung der literarischen Überlieferung, aus dem Blickwinkel der eigenen Erfahrungen und seiner neu geweckten Skepsis. Er begann mit genaueren geschichtlichen Studien und rühmte Hettners Literaturwerk über englische, französische, deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts; der Band über englische Literatur habe ihn am meisten gefesselt, über Newton, Locke, Swift, Sterne, Fielding usw.21 Wenn er weiterhin nicht mehr der Kritik Heines an der romantischen Schule folgte, sondern mit »ernstlichen Romantikerstudien« beschäftigt ist und ihm Novalis besonders wichtig wird, er sich auf Schleiermachers Leben und Briefwechsel einließ, so stehen dahinter die »geistesgeschichtlichen Studien« von Rudolf Haym und Wilhelm Dilthey.22 Vor allem versuchte er, mit den Hauptrichtungen der modernen Literatur sich vertraut zu machen und durch Zeitschriften sich auf dem laufenden zu halten, um nicht »allzuviel lesen zu müssen«. Er fand es »unglaublich schwer«, sich für eine der beiden herrschenden Richtungen zu entscheiden. Er sagte: 21
Lebenszeugnisse (Anm. i), H. H. an Karl Isenberg, 22. IV. 1895, S. 453. " Hesse, Briefe I (Anm. i), an Helene Voigt-Diederichs, 26. VII. 1898, S. 38; an die Eltern, 2.X. 1898," S. 42.
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»Wir haben viele unmoralische Literaten, die glänzend schreiben und eine Masse Biedermänner, deren Werke Schlafmittel sind.«23 Oder er sprach von zwei Strömungen, denen gegenüber er sich ziemlich neutral verhalte, die eine sei französisch-russisch und scheine vom nihilistischen Pessimismus beherrscht zu sein; die andere »umfaßt die aus dem Epigonenfluch emporringenden titanischen Geister« wie Richard Wagner oder Nietzsche.24 Mit einem gewissen Stolz sprach er dem Freund von seinem »Selbststudium«, das ihn zu Einsichten geführt habe, die er weder in den Klosterschulen noch auf dem Tübinger Stift hätte gewinnen können. Er schrieb ihm: »Diese slavische Richtung in unserer Literatur wirst Du kaum kennen, jedenfalls wird sie so wenig als die andere neue Literatur überhaupt in Euren Literaturstunden behandelt werden.« Und er fragt: »Hätte ich in Literatur z. B. an einer Hochschule auch nur ein Pünktchen mehr lernen können als privatim? Gewiß nicht.« 25 Die Studien, die er als »Literaturfreund« und »Literaturforscher« betrieb, betrachtete er als eine Vorbereitung, um »ernstlich literarisch zu beginnen«, wie er sagte;26 in vollem Bewußtsein, daß seine dichterische Produktion nur fruchtbar werden könnte, wenn sie den persönlichen Erfahrungen eines zu sich entschlossenen Selbst, seiner Seele, eine eigene Sprache gibt. Im späteren Rückblick sagte er: »Beinahe alle Prosadichtungen, die ich geschrieben habe, sind Seelenbiographien, in allen handelt es sich nicht um Geschichten, Verwicklungen und Spannungen, sondern sie sind im Grunde Monologe, in denen eine einzige Person - wie Peter Camenzind, Knulp, Demian, Siddhartha, Harry Haller - in ihren Beziehungen zur Welt und zum eigenen Ich betrachtet wird.«27 Damit ist zugleich gesagt, in welchem Sinn er einer klassischen Kunstanschauung verpflichtet blieb, die der Dichtung ihr Eigenrecht zugesteht und sich nicht mit der Illustrierung und Beförderung bestimmter Zwecke und Ziele begnügt, seien sie religiöser, politischer oder gesellschaftlicher Art; ihr geht es vielmehr um die Rückführung des Menschen auf sich selbst und den ihm zugeordneten Erfahrungsraum, um Erscheinungsweisen seiner geistig-seelischen Existenz. In solchem Sinn rühmte er Goethes 23
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Lebenszeugnisse (Anm. i), H. H. an Dr. KapfF, Mai 1895, S. 468; an Th. Rümelin, April 1895, S. 450. Ebd., H. H. an Dr. KapfF, 15. VI. 1895, S. 491. Ebd., H. H. an Th. Rümelin, u. VI. 1895, S. 483; i. VII. 1895, S. 499. Ebd., H. H. an Karl Isenberg, 22. IV. 1895, S. 453; an Th. Rümelin, Mai 1895, S. 462; i i . V I . 1895, S. 480. Hesse, Gesammelte Werke (Anm. i), Bd. XI, S. 81. I8 5
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Werk: »Es lohnt sich, den Riesen zu studieren, der alles enthält; man lernt die Welt, die Kunst, den Menschen und vor allem sich selber kennen.«28 Er hatte damit eine Orientierungshilfe in der Vielfalt der literarischen Erscheinungen gewonnen, einen Maßstab, der ihm vorerst eine Abgrenzung auch gegen eine betont christliche Literatur ermöglichte, wie sie dem Elternhaus vertraut war. Der Mutter schrieb er: »Mein Haupteinwand gegen alle religiös-fromme Poesie ist der, daß diese eben immer der höheren Tendenz untergeordnet ist, nie Selbstzweck, also überhaupt nie wahre Kunst ist. Die Kunst als Mittel ist höchstens halbe Kunst.«29 Der Weg des Menschen zu sich selbst wird damit als das bestimmende Thema alles Dichtens verstanden, als die Aufgabe, die sowohl eine Beurteilung der dichterischen Leistung als sprachlicher Leistung ermöglicht, wie sie zugleich die Freude an der Vielfalt der geschichtlich wirksam gewordenen Möglichkeiten weckt und den kritischen Sinn schärft. Für seine eigene Literaturkritik blieb entscheidend, daß sie der individuellen Selbsterfahrung zugeordnet ist und sie zu beleben sucht. Hesse wies vor allem auf jene Bücher hin, die von den Dimensionen der Innerlichkeit zeugen und dadurch ihre Intensität gewinnen. Es geht ihm nicht um Erweiterungen der Weltkenntnis oder außerdichterische Zielsetzungen, aber auch nicht um eine dichterische Selbstgenügsamkeit im Sinne der Artistik, sondern nur um die Selbstbezeugung des Humanen in der Vielfalt seiner Erscheinungsweisen. So konnte er 1910 sehr dezidiert sagen: »Ich kritisiere nie, das dient niemandem«; aber er verbinde seine kritische Arbeit »mit höheren, erzieherischen Absichten« und wähle aus seiner Lektüre »von Zeit zu Zeit das Beste aus und suche es ernstlich zu empfehlen«. Er meinte damit einem allgemeineren Bedürfnis zu entsprechen; er wisse »halb gefühlsmäßig, womit den Leuten gedient ist und womit nicht«. 30 Schon 1904 sagte er über seine Literaturberichte: »Ich bringe dort nur gute, schöne Bücher, die ich gern herzlich empfehle, gar keine negative Kritik.« 3 ' Solch Verfahren wird man nur verstehen, wenn man dessen Voraussetzungen beachtet, inwiefern es ihm um eine dichterische Substanz geht, die die Selbsterfahrung des Menschen zu befruchten vermag. Er hatte auf solche Weise die Möglichkeit gewonnen, die literarische Produktion seiner Tage aufmerksam zu verfolgen und Werke 2li 2y
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Ders., Briefe l (Anm. i), an die Eltern, 2. V. 1896, S. 22. Ebd., 4.X. 1897, S. 34. Ebd., an Otto Hartmann, 2. IV. 1910, S. 176. Ebd., an Helene Voigt-Diederichs, 25.X. 1904, S. 128.
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unterschiedlichen Niveaus und verschiedenartigster Thematik knapper oder ausführlicher anzuzeigen. So wurde es möglich, aus diesem heute noch schwer überschaubaren Teil seines literarischen Nachlasses eine Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen zusammenzustellen, als ein umfängliches Gegenstück zu Hesses eigener, ebenso knapper wie liebenswert-lockender Einführung in »Eine Bibliothek der Weltliteratur«.32 Hier wie dort spannt sich der Bogen von den klassischen Namen des östlichen wie des griechischen Altertums bis zur Moderne der europäischen Literaturen. Es zeigt sich, wie hellhörig Hesse für alle Wandlungen des neuzeitlichen Bewußtseins war und wie frühzeitig er auf Namen aufmerksam wurde, die erst verspätet ins Allgemeinbewußtsein vordrangen, man denke an seine Hinweise auf Broch, Kafka und Musil oder auf ausländische Autoren wie Proust, Faulkner oder Lampedusa. Der Generalnenner blieb die Kennzeichnung der jeweils wirksamen humanen Tugenden, sei es, daß er an Hans Falladas Roman Kleiner Mann, was nun? zu rühmen wußte, wie er »hinter dem Angestellten auch noch einen Menschen, hinter den >Zuständen< auch noch ein Leben« gelten läßt, statt zur sozialen Revolution aufzurufen; sei es, daß er meinte, Gottfried Benns Werke künftig besser lesen zu können, seitdem dessen Briefe ihn als einen »humanen, bewundernswert unbestechlichen Charakter« ausgewiesen haben. 33 Und mit Andre Gide wußte er sich in Übereinstimmung, weil dessen geistige Unabhängigkeit jeder »Gleichschaltung« widerstrebte. Er schrieb ihm: »Darum ist es ein Glück und Trost, in Ihnen noch einen Liebhaber und Verteidiger der Freiheit, der Persönlichkeit, des Eigensinns, der individuellen Verantwortung zu wissen. Die Mehrzahl ... strebt nach ganz anderem, nämlich nach Gleichschaltung, sei es nun die römische, die lutherische, die kommunistische oder sonst eine ... Bei jedem Abschwenken eines früheren Kameraden nach den Kirchen und Kollektiven hin ... wird für unsereinen die Welt ärmer.« 34 Der früh erfahrene Konflikt zwischen überkommenen Glaubenslehren und neuzeitlicher Bewußtseinswirklichkeit hat Hermann Hesse nicht nur zum Zweifel an vorgegebenen Autoritäten geführt, sondern ihn auf sich selbst und sein Personsein zurückgewiesen und damit seinem Verhältnis zur Literatur den eigenen Charakter gegeben. 32
Vgl. Hesse, Gesammelte Werke (Anm. l), 13d. XII: Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen, und Bd. XI, S. 335-372: »Eine Bibliothek der Weltliteratur«. « Ebd., Bd. XII, S. 534f. und s i t f . u Hermann Hesse, Erinnerung an Andre Gide, Frivatdruck, St. Gallen 1951, S. 13.
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Daß die Verteidigung eines Eigenrechts der Literatur nicht zu einem leeren Formalismus oder Ästhetizismus fuhren muß - wie man heute gern unterstellt -, zeigt Hesses Radikalisierung seiner Position während des ersten Weltkriegs. Weil er in seinem eigenen Selbst ein Unbedingtes anerkannte, konnte es zur Voraussetzung einer Zeitkritik werden, die zum Bruch mit der Gesellschaft und ihren politischen Vorstellungen bereit wurde. Es entstand eine eigentümliche Umkehr im Verhältnis des Dichters zur Gesellschaft: er begibt sich nicht in ihre Dienstbarkeit, sondern stellt sich gegen den Strom. Hesse geriet erneut - wie in frühen Jugendtagen - in eine Krisensituation, als er den im Kriege so wirksamen Parolen der politischen Parteilichkeit nicht zu folgen vermochte und als »vaterlandsloser Gesell« öffentlich angegriffen wurde, nachdem er im Herbst 1915 einem dänischen Kollegen davon geschrieben hatte, »daß Deutschland sich auch jetzt seiner Verpflichtung zu übernationaler Humanität bewußt sei« und er dementsprechend darauf verzichtete, »Kriegsnovellen und Schlachtgesänge hervorzubringen«.35 Im Januar 1917, als schon der Demian entstand, mahnte er in einem Brief: »Höret auf die Stimme in Euch! ... Wenn einer ... der Stimme tief nachdenkt, so wird er auch einen Weg finden ... Ich z.B. bin mir seit langem darüber klar, daß meine Stellungnahme (auch innerhalb meiner amtlichen Tätigkeit) mich eines Tages zum Bruch mit Heimat, Stellung, Familie, Namen etc. fuhren kann, und ich bin entschlossen, es darauf ankommen zu lassen.«36 Und im Dezember 1917 schrieb er: »Der Krieg hat bei mir eine Auseinandersetzung mit mir selbst zur Reife gebracht, die mich seit über zwei Jahren sehr vereinsamt hat, ohne daß ich das beklage.«37 Wieder stärkten alle Konflikte und zeitkritischen Provokationen nur eine innere Entschiedenheit, die neuen Parolen und Rezepten mißtraute, wenn sie nicht 35
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Ders., Briefe I (Anm. i), »In eigener Sache«, i.XI. 1915, 8.305; Brief aus Bern, I3.X. 1915, S. 294; dazu Belege im Anhang, S. 537ff.; an die Redaktion des Kunstivart, 23.X. 1915, 8.297. Ebd., H. H. an Hans Sturzenegger, 3.!. 1917, S. 342f. Vgl. »Gruß aus Bern«. Offener Brief in der Frankfurter Zeitung vom 2. VIII. 1917, S. 355: »Es ist nichts mit der Politisierung der Dichter ... Ein Dichter soll weder dem Vaterlande zulieb Journalist oder Parteimann werden, noch sich unter die Kriegslieferanten begeben, so verlockend das geschäftlich sein möge ... Was wir Gutes zu zeigen haben an Kunst und Dichtung, das ist nicht aus feiler Anpassungsfähigkeit und glücklichem Zeitinstinkt entstanden, sondern aus Charakter und Not, das meiste davon im Trotz und Krieg wider den Tag und seine nivellierenden Forderungen.« Ebd., H. H. an Max Bucherer, 25.XII.1917, S. 366f.; weiter heißt es: »Wenn ich nicht ein ganz anderes Deutschland als das offizielle kennen und lieben würde, wäre ich längst weggegangen ... Mir liegt alles Politische nicht, sonst wäre ich längst Revolutionär.«
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Hermann Hesse
zugleich das Selbstgefühl bestätigten oder rechtfertigten. Der Fragende fand nur die eine, in sich paradoxe Antwort: »Meine Pflicht ist es, ... dich den einzigen Weg zu fuhren, an den ich glaube: den Weg zu dir selbst.«38 Von solcher Entschlossenheit zeugte auch die Antwort, die er 1918 nach dem Ende des Krieges einer Jugend gab, die die Wirklichkeit, in die sie nun heimkehrte, unbegreiflich und fremd finden mußte, da sie ihren bisherigen Erwartungen so sehr widersprach. Er rief sie nicht zu neuen Kämpfen mit alten oder neuen Feinden, sondern stellte grundsätzlichere Fragen und forderte sie zur Einkehr bei sich selber auf. In seinem Mahnruf Zarathustras Wiederkehr, der 1919 zunächst anonym erschien, entwickelte er zeitkritische Konsequenzen aus Krieg und Niederlage, die aus der damaligen Alternative von aggressivem Nationalismus und revolutionärem Marxismus herauszuführen suchten. Der Rückruf des Menschen zu sich selber begegnete nun als Mahnung, das Schicksal eines sich auflösenden Reiches auf sich zu nehmen und zu »lernen, was Mensch und Schicksal ist«. So heißt es: »Unsere Sache ist, unser Schicksal zu erkennen, unser Leid uns zu eigen zu machen, ... an unserem Leide reif zu werden.«39 Es komme nicht auf den Willen zur Veränderung an, auf die »Weltverbesserung«; das sei nur »Flucht vor dem Leiden« und Verleugnung eines zugeordneten Schicksals und um so mehr ein Irrweg, als die Verleugnung der eigenen Situation ja gerade zum Kriege geführt hatte und nur wieder neues Leiden bewirken würde. Freilich, ein solcher Ruf zur Besonnenheit und Selbsteinkehr sollte nicht einen sich abkapselnden Individualismus rechtfertigen, wie Hesse denn auch im Hinblick auf den Demian das Mißverständnis abwies, »das Leben aus dem eigenen Ich heraus sei einfach Egoismus«. Er sagte: »Das Ich, das der Suchende meint ... ist nicht der einzelne Mensch, wie er sich fühlt und vorkommt, sondern es ist der innerste, wesentliche Kern jeder Seele ... Wer jenes echte Ich sucht, der sucht zugleich die Norm alles Lebens; denn dies innerste Ich ist bei allen Menschen gleich, es ist Gott, es ist der >Sinn Ebd., S. 653ff. Ebd., S. 604. 78 Ebd., S. 634. 7y Ebd., S. 652. 77
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Grotesken Frank Wedekinds
Stapler, der durch sein Geschäft in eine Gesellschaft hineinkommen will, die doch selbst keine Gesellschaft mehr ist, weil sie nur noch das Geschäft kennt. Das Possentreiben entlarvt die Paradoxien einer geldwirtschaftlich bestimmten Lebensform, indem es mit den Ordnungskategorien des Realitätsbewußtseins zu spielen beginnt. Erst in diesem Blickfeld werden die dem Hochstapler zugeordneten Spiegelfiguren in ihrer Bedeutung verständlich. Der Graf Trautenau verfugt über ein Familienvermögen und ist auf die moralische Erwartung bezogen, ein »nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft« zu werden.80 Als ihm dieser Traum verfliegt, hofft er durch Keith ein freies Genußleben kennenzulernen, um dann zu merken, daß die Menschen und auch Keith nur sein Geld brauchen, um ihr eigenes Glück zu machen, und er als der Genarrte sich aus aller Gesellschaft zurückzieht. 81 - Entsprechend scheitert Mollys Liebe zu Keith, die so lange auf ihn hofft, wie sie ihm als dem notleidenden, gefährdeten Menschen meint helfen zu können. Als aber Keiths Pläne zu gelingen scheinen und er zu triumphieren beginnt, glaubt sie, ihn verloren zu haben; sie stürzt hinweg und sucht den Tod.82 Aber ihr Tod erweist sich als ein groteskes Mißverständnis, da die Scheinwelt des Hochstaplers niemals ein Gelingen verbürgen kann, durch das ihr Tod erst ein tragisches Gewicht erhielte. Molly ist selbst nur dem Schein erlegen, so daß ihr Tod nur wieder die Komödie des Scheins erläutert. Durch die Vorführung einer komödiantischen Spielwelt, die das gewohnte Ordnungsgefüge der Wirklichkeit mißachtet, entsteht hier die existentielle Betroffenheit. Im Mißlingen der Pläne vollzieht sich zwar eine Auflösung des Scheins, aber zuleich auch eine Auflösung der von diesem Schein beherrschten Gesellschaft. Das Groteske siegt über das Tragische wie das Komische, sofern Schein und Sein sich unlösbar ineinander verschränken. Das Drama gerät in eine Karussellbewegung, als könnte alles immer wieder von vorn beginnen. Die Verflechtung der Motive gibt die paradoxe Situation zu erkennen, in der die Frage nach dem Sinngehalt des Geschehens offen bleibt und kaum noch sprachlich akzentuiert wird. Man könnte das Stück als eine Moralität vom Weg des Geldes in Parallele zur Lw/w-Tragödie als einer Moralität vom Weg des Fleisches stellen und damit zugleich die Verschiedenheit des jeweiligen Schlusses der beiden Spiele erläutern: der Weg des Fleisches fuhrt zum Tod, während das Geld immer weiter rollt und die Jagd kein Ende nimmt. Xo
Ebd., S. 659 u. 597. Vgl. ebd., S. 598f., 621 u. 651. " 2 Vgl. ebd., S. S93 u. f>3 4 ff. 81
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Grotesken Frank Wedekinds
Wenn man zusammenfassend zu sagen sucht, in welcher Weise Wedekind das alte Thema des Dramas bewältigt und den handelnden Menschen auf der Bühne des Lebens zeigt, könnte man an einige Sätze desjenigen Stückes erinnern, das er im Anschluß an den Marquis von Keith schrieb, an König Nicolo. Dem Menschen ist hier seine Königswürde genommen; er kann nur noch als Hofnarr in das ihm zugehörige Land zurückkehren. Wenn er dann aber als sein Fach auf der Bühne die »große, ernste Tragödie« bezeichnet, fangen die Zuschauer an zu lachen; wenn er von den Tiefen seiner Seele spricht, nennen sie ihn einen »großartigen Komiker«, als wären alle seine Worte nur Parodien und Travestien; sein Spiel stünde als Tragikomödie zwischen Lachen und Weinen.83 Solche Worte entsprechen einer Äußerung Friedrich Hebbels in der Widmung zu seinem Trauerspiel in Sizilien über die Wirkung der Tragikomödie: »man möchte sich durch ein Gelächter von dem ganzen unheimlichen Eindruck befreien, doch ein Frösteln beschleicht uns wieder, ehe uns das gelingt.« Und Hebbel fügt hinzu: »Ich furchte sehr, manche Prozesse der Gegenwart können, so wichtig sie sind, nur noch in dieser Form dramatisch vorgeführt werden«.84 Damit wird zugleich erkennbar, in welchem Sinn Wedekind die moderne Dramatik auf neue Wege zu weisen vermochte. Wenn Max Frisch in seiner »Schillerpreis-Rede« von 1965 sich gegen die klassischen dramaturgischen Postulate wendet und davon spricht, daß die Theorie von der »zwingenden Entwicklung« des dramatischen Vorgangs und seiner Peripetie seit einem halben Jahrhundert verabschiedet sei, so bezeugt er damit, wie sehr er in der Nachfolge Wedekinds steht.85 Und wenn Friedrich Dürrenmatt in den Theaterproblemen sagt: »Uns kommt nur noch die Komödie bei. Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe«, so bestätigt er auch damit das Recht Wedekinds zu seinem Verfahren.86 Von diesen Äußerungen her mag man verstehen, warum der junge Bert Brecht 1918 bei Wedekinds Tod schreiben konnte: »Er gehörte mit Tolstoj und Strindberg zu den großen Erziehern des neuen Europa.« 87
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-' Ebd., König Nicolo oder So ist das L·'ben, S. 710. "4 Friedrich Hebbel, Werke, Bd. 1-5, hrsg. von G. Fricke, W. Keller und K. Pörnbacher, München 1963-1967, Bd. l, Ein Trauerspiel in Sizilien, S. 388. * 5 Max Frisch, Öffentlichkeit ah Partner, Frankfurt a. M. 1967 (edition suhrkamp 209), »Schillerpreis-Rede«, S. 96. Sft Friedrich Dürrenmatt, nieaterproblcme, Zürich 1955, S. 48. 87 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, 8 Bde., Frankfurt a. M. 1967-1981, Bd. 7: Schriften zum Heater I, 1967, »Frank Wedekind«, S. 4. 251
Wandlungen der Dramenform im Expressionismus*
I Das Dichtungsverständnis hat sich seit der Antike immer wieder an dem Begriff der Naturnachahmung, der Mimesis, orientiert. Im Expressionismus kündigt sich der für die Moderne so wesentliche Wandel der Künste an, daß sie auf dieses altüberlieferte und immer neu diskutierte Prinzip verzichtet. Mehr oder minder plötzlich wurde eine junge Generation bereit, in ihren Werken sich nicht mehr am Abbild einer vertrauten Wirklichkeit zu orientieren; der Betrachter der Bilder mochte schockiert sein, daß das Dargestellte nicht als das gegenständlich Bekannte erkennbar war; der Theaterbesucher mochte vergeblich versuchen, sich mit den Figuren und Vorgängen der Bühne zu identifizieren. Die durch die Künste geweckte Illusion löst sich seitdem von der gewohnten Vorstellungswelt der sinnlichen Wahrnehmung ab und verweist auf eine mehr oder minder in sich verschlossene Welt der künstlerischen Erfindungen, ohne daß damit schon einsichtig würde, in welchem Sinn dieser Gegensatz zwischen Kunstwirklichkeit und Lebenswirklichkeit produktiv werden könnte oder warum er überhaupt nötig würde. Nur das Faktum als solches ist offenkundig; es erregte Feindschaft und Widerspruch und behauptete sich doch, so daß es nicht als Marotte von Sonderlingen beiseite geschoben werden kann. Das, was man in Deutschland als Expressionismus bezeichnet, darf nicht isoliert gesehen werden, sondern entsprach parallelen Vorgängen in anderen europäischen Ländern. Man verstand seine eigenen Bemühungen schon frühzeitig unter diesem Leitwort; so schrieb Alfred Döblin im September 1915 über den an der Ostfront gefallenen August Stramm: »Niemand war von so vorgetriebenem Expressionismus in der Literatur; er drehte hobelte bohrte die Sprache, bis sie ihm gerecht * In: Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese, hrsg. von Vincent J. Günther, Helmut Koopmann, Peter Pütz und Hans Joachim Schrimpf, Berlin 1973, S. 445-464. 252
Dramenform im Expressionismus
wurde.«1 Diesem von jeder sachlichen Mitteilung so weit entfernten Umgang mit der Sprache bei Stramm entsprach die freie Verfügung über dramatische oder epische Motive bei anderen Künstlern. So sagt Gottfried Benn in seinem »Bekenntnis zum Expressionismus« von 1933: »Zunächst muß man einmal richtig stellen, daß der Expressionismus keine deutsche Frivolität war und auch keine ausländische Machenschaft, sondern ein europäischer Stil. Es gab in Europa von 1910 bis 1925 überhaupt kaum eine naive, das heißt gegenstandsparallele Gestaltung mehr, sondern nur noch die antinaturalistische ... Der Futurismus als Stil, auch Kubismus genannt, in Deutschland vorwiegend als Expressionismus bezeichnet, vielfältig in seiner empirischen Abwandlung, einheitlich in seiner inneren Grundhaltung als Wirklichkeitszertrümmerung, als rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen bis dorthin, wo sie nicht mehr individuell und sensualistisch gefärbt ... werden können, ... dieser Stil hatte schon seine Vorankündigung im ganzen neunzehnten Jahrhundert.«2 Aber wie sollen wir diesen Stil genauer bestimmen und was meint Benn, wenn er von einer »Wirklichkeitszertrümmerung« spricht? Noch in dem Vortrag von 1951 über »Probleme der Lyrik« hat er das Wort wieder aufgegriffen; er spricht davon, wie das lyrische Ich auf seine Stunde wartet, in der »die Zusammenhangsdurchstoßung, das heißt die Wirklichkeitszertrümmerung, vollzogen werden kann, die Freiheit schafft für das Gedicht - durch Worte«.3 Beide Begriffe, »Zusammenhangsdurchstoßung« und »Wirklichkeitszertrümmerung« wollen nicht wörtlich genommen sein, sondern bezeichnen eine antinaturalistische, nicht mehr gegenstandsparallele Kunstübung und erläutern insofern ein antimimetisches Verfahren. Freilich ist die Forderung der Mimesis als Nachahmung der Natur so vieldeutig wie der Begriff der Natur selbst, so daß sie sehr verschiedenartige Darstellungsweisen rechtfertigen konnte, je nachdem wie die Natur ihrerseits ausgelegt wurde, ob als eine religiös verstandene göttliche Schöpfungsordnung oder als eine wissenschaftlich
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Expressionismus. Literatur und Kunst igio-igzj, Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums, Katalog Nr. 7, Marbach 1960, S. 155. Gottfried Benn, Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. von D. Wellershoff, Wiesbaden 1958-1961, Bd. i, S. 2421". Ebd., S. 512; vgl. auch »Lebensweg eines Intellektualisten«, Bd. 4, S. 46, und »Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts«, ebd., S. 382. - Zur Benn-Problematik siehe Theo Meyer, Kunstproblcmatik und Wortkomhinatorik bei Gottfried Benn, Köln 1971 (Kölner Germanistische Studien 6), S. I73ff. 253
Dramenform im Expressionismus
erforschbare und gesetzlich bestimmbare Wirklichkeit oder eine stimmungsgebundene Lebensbeziehung des Menschen. Die neuzeitliche Dichtung, vor allem seit Newton und der Bewußtseinskritik des 18. Jahrhunderts, stand - wie Schiller formulierte - in einem sentimentalischen Verhältnis zur Natur; sie verfugte nicht einfach über die Natur, verstand sich auch nicht selber als Natur, sondern suchte sie in einem unabschließbaren Prozeß zu ergründen, indem sie auf die Selbsterfahrung des Menschen zurückging. Seitdem war die Kunst in ein wetteiferndes Verhältnis zur Wissenschaft getreten. Sie mußte die die Wirklichkeitserkenntnis ermöglichenden Ordnungskategorien für sich fruchtbar machen, um die Kunstwirklichkeit mit ihnen zu versöhnen; nur so schien sie eine eigene Wirklichkeitsnähe zu gewinnen und zugleich den subjektiven Erlebniszusammenhang des die Natur suchenden und in ihr sich behauptenden Menschen vorzufuhren. Die dargestellten Vorgänge wurden auf möglichst konkrete räumliche und zeitliche Bedingungen bezogen und in ihrer Abfolge derart motiviert, daß eine geschlossene Kausalkette von Ursachen und Wirkungen entstand; die den Charakter bestimmenden Absichten und Zwecke wurden in ihren Folgen entfaltet und dadurch die schuldhaften Verstrickungen in ihrem moralischen Gewicht erkennbar, als Handlungen des naturgesetzlich gebundenen und doch persönlich verantwortlichen Menschen. Die Dichtung sah sich damit an die alle Welterkenntnis ermöglichenden Kategorien gebunden, an Raum und Zeit, Kausalität, Finalität und Moralität. Jede einzelne Dichtungsgattung mußte diesen Erwartungen auf eine ihr mögliche Weise zu entsprechen suchen, da ein Ausbrechen aus dem so geordneten Vorstellungsbereich in eine Welt des Phantastischen, Willkürlichen und Zufälligen führen mußte, zu einer »Zusammenhangsdurchstoßung« und »Wirklichkeitszertrümmerung«, um mit Benn zu sprechen. Erst wenn man sich des traditionellen Bezugs zwischen sachlicher Naturerkenntnis und künstlerischer Naturdarstellung erinnert, wird die Radikalität des im Expressionismus sich vollziehenden Aufbruchs deutlich, als würde damit ein Schritt in das Ungesicherte und Weglose gewagt. Das gilt in besonderem Maße auch für die sich anbahnenden Wandlungen der Dramenform. Denn alle Forderungen an das Drama, wie sie Lessing entwickelt hatte, waren ja auf diese Einheit von Erkenntniswahrheit und menschlicher Wahrheit gerichtet. Man muß sich an seine Thesen erinnern, um den Ansatzpunkt und das Ausmaß der im Expressionismus sich anbahnenden Veränderungen zu begreifen. Lessing ging von der Bestimmung des Aristoteles aus, daß es dem tragischen Dichter vor allem auf die »gute Abfas254
Dramenform im Expressionismus
sung der Fabel« ankommen muß und diese Fabel im Sinne der Mimesislehre als »Nachahmung einer Handlung« zu verstehen sei.4 Er erläuterte seinerseits die Fabel als eine »Verknüpfung von Begebenheiten« nach der Art einer kausal bestimmten Naturgesetzlichkeit in der Abfolge der Ereignisse; es ginge darum, wie sich aus einer bestimmten Leidenschaft — etwa der Eifersucht einer Frau - die grausigsten Verbrechen ergeben, die »Schrecken und Mitleid erwecken«.5 Die Fakten als solche, daß - wie in Corneilles Rodogune — eine Frau ihren Gemahl ermordet, den einen ihrer Söhne erschießt, den anderen vergiften will, um dann selber von diesem vergiftet zu werden, diese Fakten sind nur »gräßlich« und können erst tragisch wirken, wenn der Dichter »der verborgenen Organisation des Stoffes auf die Spur gekommen und sie zu entwickeln verstehet«. Solche »Organisation des Stoffes« kann nur gelingen, wenn die Handlungen sich folgerichtig auseinander entwickeln und aus menschlich begreiflichen Anfängen erwachsen. Es kommt deshalb nach Lessing darauf an, »eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinlichen Verbrechen nicht wohl anders als geschehen müssen«. Denn — wie er sagt — »das Genie können nur Begebenheiten beschäftigen, die ineinander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen«.6 Damit ist die dramatische Fabel auf die Naturwahrheit zurückbezogen, die ihr Wahrscheinlichkeit gibt und die Anteilnahme des Zuschauers zu wecken vermag. Er rechtfertigte damit das Prinzip der Illusionsbühne: nur wenn wir verfolgen können, wie sich aus verständlichen Anlässen in einer stets möglichen Situation die ungeheuersten Schicksale entwickeln, vermögen wir uns mit den dargestellten Figuren zu identifizieren und an ihrem Leiden Anteil zu nehmen. Indem »wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen«, meinen wir bei jedem Schritt der Figuren, »wir würden ihn, in dem nämlichen Grade der Leidenschaft, bei der nämlichen Lage der Sachen, selbst getan haben«, als könnten auch wir Dinge begehen, »die wir bei kaltem Geblüte noch so weit von uns entfernt zu sein glauben«.7 Erst damit wird verständlich, inwiefern Furcht und Mitleid als die eigentlichen Wirkungen der Tragödie gelten können und die Einheit von Handlung und Charakter die dramatische 4
s 6 7
Lessings Hamburgische Dramaturgie, hrsg. von J. Petersen, Berlin u.a. o.J., 38. Stück, S. 169. Ebd., 32. Stück, S. usf. Ebd., 30. Stück, S. 138. Ebd., 32. Stück, S. 146. 255
Dramenform im Expressionismus
Illusion bestimmt. Das klassische Drama der Goethezeit suchte dementsprechend eine Naturwahrheit zur Geltung zu bringen, die die Bindung des Menschen an Ort und Zeit ebenso beachtet wie die Verstrickung seiner Moralität in die Bedingtheiten seines Charakters und der ihm wichtigen Ziele. Die im Zeichen dieser Erwartungen entstandenen Dramen bleiben also auf die Ordnungskategorien einer sachlich erforschbaren Wirklichkeit bezogen, um dadurch zugleich den Menschen auf die persönliche Verantwortung für sein Tun zu verweisen. Wenn demgegenüber das expressionistische Drama sich als »Wirklichkeitszertrümmerung« begreift, kann das nur bedeuten, daß es bereit ist, dieses kategoriale Gefüge zu durchstoßen und statt dessen andere Dimensionen zu eröffnen. Es fragt sich, von welcher Basis aus das möglich sein soll.
II Ein erster Anhaltspunkt läßt sich bei Nietzsche aufweisen. Seine frühe Schrift von 1871 Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik sprengt den Rahmen der von Lessing umgrenzten Dramaturgie, sofern sie hinter das Bündnis von Kunst und Wissenschaft zurückfragt und beide als Funktionen des sich selber wollenden Lebens auslegt. Es geht für Nietzsche nicht um eine historisch-philologische Frage nach den Entstehungsbedingungen der griechischen Tragödie, sondern um die Radikalisierung der Ursprungsfrage im Sinne einer Metaphysik des Willens: die Künste und Wissenschaften verlieren ihren Eigenwert, sofern das sich selber wollende Leben sich ihrer als eines täuschenden Scheins bedient, um den Menschen im Leben festzuhalten und die Art seiner Teilhabe zu ermöglichen. Insofern konnte Nietzsche rückblickend sagen, daß er in jenem »verwegenen Buch« sich an die Aufgabe herangewagt habe, »die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens«.8 Was bedeutet das für eine Dramaturgie, die sich auf eine »Zusammenhangsdurchstoßung« einläßt? Die Erörterung Nietzsches orientiert sich nicht mehr an der Einheit von Handlung und Charakter; weder die erzählbare Fabel noch die individuellen Konflikte und deren Nietzsches Werke, Leipzig [1919] (Kröners Klassiker Ausgabe), Bd. i, Die Geburt der Tragödie. Mit dem Versuch einer Selbstkritik (1886), Abschnitt 2, S. 32. - Vgl. P. Böckmann, »Die Bedeutung Nietzsches für die Situation der modernen Literatur«, in: Deutsche Vicrteljahrsschrift für Literatunt'issenschaft und Gcistesgeschichte 27, 1953, S. 77-90 [s. den Abdruck in diesem Band]. 256
Dramenform im Expressionismus
psychologische Voraussetzungen interessieren, sondern nur die Rückbeziehung auf eine dem Menschen undurchschaubare Lebensmacht, die aller Vergegenständlichung und Objektivierung voranliegt. So fragt er: »Was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehen, alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen die Wahrheit?«9 Die Wissenschaft wird gewissermaßen von außen her auf ihre Lebensfunktion hin befragt und weder mit ihren Erkenntnisinhalten noch ihren Methoden und Kategorien verbindlich gesetzt. Sie wird selbst als ein Ausdrucksphänomen des Lebens verstanden, das als »Ausflucht« und »Notwehr« des Menschen gegen die dunklen Gewalten des Daseins nicht absolut gesetzt werden kann und damit der Kunst eine eigene Freiheit zurückgibt. Die Kunst braucht deshalb nicht mehr mit den Erkenntniskategorien der Wissenschaft zu wetteifern, sondern muß sich als Funktion des Lebensgeschehens und insofern als dessen Ausdrucksgestalt begreifen. Damit verliert die gegenstandsbezogene Gestaltungsweise ebenso ihre bestimmende Bedeutung wie der subjektive Erlebniszusammenhang; die Ausdrucksfunktion der Dichtung verlagert sich von der individuell bestimmten Innerlichkeit auf ein vorbewußtes Vitalgeschehen, das den Menschen mitnimmt und das er ungewollt oder gar im Gegensatz zu seinen bewußten Absichten und Erkenntnissen nur immer mitbefördert. So spricht Nietzsche von dem »dionysischen Künstler«, der »mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, Eins geworden« ist und der das »Abbild dieses Ur-Einen als Musik« produziert, der aber auch diese Musik »wie in einem gleichnisartigen Traumbilde« sichtbar machen kann. 10 Die Tragödie verweist demnach nicht primär auf kausal bestimmte Handlungsabläufe, die den Menchen auf seine eigene Erfahrungswirklichkeit zurückfuhren, sondern zeugt von der Teilhabe an der ur-einen Lebensmacht, die sich hinter allen Bildern nur immer neu verbirgt. Nietzsche betont ausdrücklich, daß er die überlieferte Vorstellung von der Dichtung ablehnt, wenn er sagt: »Das >Ich< des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine >Subjektivität< im Sinne der neueren Ästhetiker ist eine Einbildung.« Er meint, daß der »Gegensatz des Subjektiven und des Objektiven in der Ästhetik ungehörig ist«. Wenn das Subjekt Künstler ist, »ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst y 10
Nietzsches Werke (Anm. 8), Bd. i, »Versuch einer Selbstkritik«, Abschn. i, S. 31. Ebd., Geburt der Tragödie, Abschn. 5, S. 68f.
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Dramenform im Expressionismus
und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subjekt seine Erlösung im Scheine feiert«." Wenn derart die Kunst als eine Funktion des sich selber wollenden Lebens verstanden wird, kann der Künstler nur dieses Leben als dessen Medium zum Ausdruck bringen; die Poesie will »der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit« sein,12 also Expression des Lebens selbst. Erst damit erfüllt die Dichtung dann die ihr eigene Funktion, den Menschen im Dasein festzuhalten; in einem Dasein, zu dem alle »Schrecken und Entsetzlichkeiten« gehören. Nietzsche rühmt die Griechen: »Jenes ungeheure Mißtrauen gegen die titanischen Mächte der Natur ... wurde von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt der Olympier fortwährend von neuem überwunden«, »durch die glänzende Traumgeburt der Olympischen«, die den »Untergrund des Leidens« verhüllt.'3 Das griechische Drama ist also für ihn nicht mehr beispielhaft, weil es im Sinne Lessings die Begebenheiten als naturgesetzlichen Zusammenhang darstellt, sondern weil es eine apollinische Bilderwelt des Scheins vor die »Schreckenstiefe« stellt, die den Menschen zu zerstören droht. Die Gestalt des Dramas läßt sich dementsprechend nicht mehr von der Handlung und den Charakteren aus erläutern, sondern führt auf ganz andere Begriffe. Die Vision, der Mythus, der Chor, die Maske, die Symbolik sind nun die formbestimmenden Kategorien. Es gilt die Einsicht, »daß die Szene samt der Aktion im Grunde und ursprünglich nur als Vision gedacht wurde, daß die einzige >Realität< eben der Chor ist, der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet«.14 Der Chor aber kann diese Vision nur erzeugen, weil er sich als der »dionysische Ausdruck der Natur« versteht. Manche dieser Feststellungen Nietzsches mögen eher als historische Erläuterungen zur Gestalt der griechischen Tragödie denn als gegenwartsbezogene Aussage über Aufgaben und Möglichkeiten eines modernen Dramas erscheinen. So kann es auch nicht unsere Meinung sein, daß die expressionistischen Dramatiker einfach den Lehren Nietzsches hätten folgen wollen. Dafür sind seine Aussagen zu vieldeutig und mehr als experimentierende Vorstöße in neue Dimensionen wichtig, denn als fest umgrenzte Positionen. Aber man wird doch bedenken müssen, wie sehr seine Thesen aus der Auseinandersetzung sowohl mit Schopenhauer wie " Ebd., 5.72. grand old manEntfremdung< (ostranenije)«. Sklovskij hat die Anwendung dieses Verfahrens bei L. Tolstoj analysiert: »Das Verfahren der Entfremdung bei L. Tolstoj besteht darin, daß er eine Sache nicht mit ihrem Namen nennt, sondern sie beschreibt, als sehe man sie zum ersten Mal« (S. 398f). In Brechts Schriften zum Theater (Anm. 7) begegnet der Ausdruck zuerst in der Schrift »Vergnügungs- oder Lehrtheater«, die um 1936 geschrieben wurde. Brecht sagt hier: »Die Darstellung setzte die Stoffe und Vorgänge einem Entfremdungsprozeß aus« (S. 63). In dem Aufsatz von 1937 »Verfremdungseffekte in der Chinesischen Schauspielkunst« wird das neu hervorgehobene Stilmittel mit alten, volksläufigen Verfahrensweisen konfrontiert und dabei auf den »chinesischen Artisten« verwiesen. Aber wenn jetzt nicht mehr vom Entfremdungsprozeß, sondern vom »Verfremdungseffekt« gesprochen wird, so unterstreicht Brecht damit offenbar die »provozierende Wirkung« einer Darstellungsweise, wie er sie im epischen Theater von früh auf zu erreichen suchte. (Vgl. »Anmerkungen zu Mahagonny« von etwa 1930). Erst mit dem Begriff der »Verfremdung« gelingt es ihm, eine Verbindung zu Hegels Begriff der Selbstentfremdung des Menschen herzustellen: der im Menschen auftretende Zwiespalt soll durch die szenische Darstellung als eine Verfremdung des Gewohnten bewußt werden. — Die Bedeutung 290
Zur Dramatik Bert Brechts
Menschen als ein Veränderndes und Veränderbares soll in seinen Konsequenzen wie in seinen andersartigen Möglichkeiten fühlbar werden. Das Verhalten der Figuren muß einerseits so sein, wie es ist, und zugleich doch anders sein können; es trägt seinen Sinn nicht mehr in sich, sondern bleibt auf eine Situation bezogen, in der der einzelne sich auch anders entscheiden könnte: »Das, was er nicht macht, muß in dem enthalten und aufgehoben sein, was er macht«; sein Verhalten erweist sich dadurch als ein »Nicht — Sondern«.'7 Dieser Verfremdungseffekt will also nicht als bloß technisches Mittel zur Erreichung bestimmter Bühnenwirkungen verstanden sein, sondern als Bedingung einer Darstellung, die die Veränderbarkeit des Menschen und seiner Welt als eigentliches Thema ergreift. Die Verfremdung des alltäglichen Verhaltens korrespondiert offenbar der den Menschen bedrohenden Selbstentfremdung, von der Hegel sprach und die schon in Schillers ästhetischen Erörterungen eine wichtige Rolle spielte, als er fragte, wie der sich entgegengesetzte Mensch zu dem mit sich einigen Menschen werden könne. Durch den Verfremdungseffekt bringt die Darstellungsweise Brechts jene Widersprüche zum Vorschein, die den Menschen seiner selbst entfremden und ihn zugleich als das die Welt verändernde Wesen rechtfertigen. Der Dramatiker kann mit dem Wissenschaftler wetteifern, sofern auch er »jenen fremden Blick« entwickelt, »mit dem der große Galilei einen ins Pendeln gekommenen Kronleuchter betrachtete«.' 8 Er macht dann jene Aufspaltungen erkennbar, in die sich der Mensch flüchtet und die er doch vor sich selbst zu verbergen sucht. Von dem Polizeipräsidenten Brown in der Dreigroschenoper sagt Brecht: »Er birgt in sich zwei Persönlichkeiten: als Privatmann ist er ganz anders wie als Beamter. Und dies ist nicht ein Zwiespalt, trotzdem er lebt, sondern einer durch den er lebt. Und mit ihm lebt die ganze Gesellschaft durch diesen seinen Zwiespalt.«'9 Eine solche, scheinbar nur feststellende Äußerung wirkt ihrerseits provokatorisch, weil sie die Ordnung der Gesellschaft mit einem fremden Blick betrachtet und sie auf einen in ihr
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der Verfremdung für Brechts Darstellungsweise untersucht Reinhold Grimm, Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes, Nürnberg 1959 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 5). Vgl. auch Grimms Aufsatz »Vom Novum Organum zum kleinen Organon. Gedanken zur Verfremdung«, in: Das Ärgernis Brecht (mit Beiträgen verschiedener Autoren), Basel 1961, S. 45-70. Brecht, Schriften zum Wicater (Anm. 7), »Neue Technik der Schauspielkunst«, S. 109; vgl. auch »Kleines Organon«, S. 159. Ebd., S. 151. Brecht, Versuche 8-10, Berlin 1931, »Anmerkungen zur Dreigroschenoper«, S. 237f. 291
Zur Dramatik Bert Brechts
nicht ohne weiteres offenkundigen Zwiespalt zwischen dem Privatmann und dem Beamten oder Geschäftsmann bezieht. Sowohl die Figuren wie die Fabel des Dramas sollen ihre darstellerische Funktion erst dadurch gewinnen, daß sie auf die Widersprüche hinfuhren, die durch das verändernde Tun der Menschen entstehen und zu neuer Veränderung auffordern. Es gilt die Widersprüche aufzuzeigen, »welche Taten und Charakter wirklicher Menschen aufweisen«.20 »Die Einheit der Figur wird durch die Art gebildet, in der sich ihre einzelnen Eigenschaften widersprechen.«21 Dementsprechend muß auch die Fabel als der das Drama bestimmende Vorgang »die Möglichkeit einer Zusammenfügung des Widersprüchlichen« bieten.22 Erst dann verweist sie auf alles, was zwischen den Menschen vorgeht, »was diskutierbar, kritisierbar, änderbar sein kann«. Diese den Menschen bedrohenden Widersprüche wollen nicht als bloße Bewußtseinsgegensätze verstanden sein, sondern gewinnen ihre bedrängende Gewalt als die die Lebenswirklichkeit bestimmenden gesellschaftlichen Mächte und Herrschaftsformen. Die »materialistische Dialektik« als Methode der Gesellschaftswissenschaft scheint deshalb dem Dramatiker eine Hilfe bieten zu können, die »gesellschaftlichen Zustände als Prozesse zu behandeln« und in ihrer Widersprüchlichkeit aufzudecken.23 Die Veränderbarkeit der Welt und des Menschen als das eigentliche Thema Brechts führt zu einer Darstellungsweise, die durch die provokatorische Verfremdung des alltäglichen Vertrauten die dem Drama zugehörigen Möglichkeiten entwickelt, »Dialektik zu erleben« und »die Dialektik zum Genuß zu machen«. Nach Gesprächsaufzeichnungen schien Brecht immer mehr geneigt, sein Theater ein »dialektisches Theater« zu nennen: durch »Dialektisieren« käme man auf die bewegenden Widersprüche eines Vorgangs.24 20
Brecht, Schriften zum neater (Anm. 7), »Kleines Organen«, S. 156. Ebd., S. 157. 22 Ebd., S. 165. 2 ·' Ebd., S. 152. 24 Vgl. M. Wekwerth, »Auffinden einer ästhetischen Kategorie«, in: Sinn und Form, Sonderheft 2: Bertolt Brecht, 1957, S. 260-268, bes. S. 266: »Man müsse bei der Arbeit einen Vorgang immer wieder auf seinen Prozeß hin befragen... Denn man käme durch >Dialektisieren< auf die bewegenden Widersprüche eines Vorgangs. Das gelte auch für die Beurteilung eines Kunstwerkes. Das Erzählen einer Fabel auf der Bühne sei letzten Endes auch ein >Dialektisieren< der Vorgänge. Im alltäglichen Leben töte ja meist die Gewohnheit das Lebendige der beobachteten Vorgänge ab«. - Entsprechendes berichtet Pierre Abraham von seinem Gespräch mit Brecht im Frühjahr 1956 über das Lehrstück von 1930: Die Maßnahme. Es sei nicht für einen Leser oder einen Zuschauer geschrieben, sondern nur für die Spielgruppe, in der jeder seine Rolle gegen die der anderen vertauscht und nacheinander Angeklagter, Ankläger, Zeuge und Richter wird, um dadurch 21
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Zur Dramatik Bert Brechts
Was mit diesem Dialektisieren gemeint sein kann, läßt sich mit Kants Definition der Dialektik als der Logik des Scheins - in der Kritik der reinen Vernunft — näher bestimmen. Jene materialistische Dialektik wäre dann eine Logik des Scheins der Wirklichkeit, die die Aufspaltungen des Menschen in ihrer Gesetzlichkeit erfaßt; sie hat in der scheinbaren Einhelligkeit des Vertrauten die Widersprüche aufzudecken. Das dialektische Theater würde das Ziel verfolgen, die Logik des Scheins der Wirklichkeit im dramatischen Spiel zu entfalten. Es unterschiede sich damit vom überlieferten Handlungs- und Charakterdrama, das sich daraufrichtete, die Macht des Scheins im dramatischen Vorgang vorzufuhren. Eine solche Umwendung von der Macht des Scheins hin zur Logik des Scheins ließe sich wohl mit der Wendung der modernen Kunst von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion in Parallele stellen. Man wird zugestehen können, daß Brechts Grundlegung einer dramaturgischen Aufgabe ihre eigene Konsequenz besitzt und seinem künstlerischen Schaffen einen Sinn gibt, der nicht auf bestimmte politische Doktrinen oder Zielsetzungen eingeschränkt werden kann. 25 Wesentlich wahrzunehmen, was Dialektik ist: »A ce prix, chacun d'eux pourra se rompre aux exercices de la discussion et finira par acquerir la notion - la notion pratique - de ce qu'est la dialectique«. Brecht hätte darüber ein Vorwort schreiben wollen: »Ainsi le lecteur sera averti de ne pas avoir ä y chercher de these ou de contre-these, d'arguments pour ou contre telles opinions, de plaidoiries ou de requisitoires qui mettent en cause ses propres fagons de voir, mais exclusivement des exercices d'assouplissement destines ä ces sortes d'athletes de l'esprit que doivent etre les bons dialecticiens« (in: Europe, Revue mensuelle 35, 1957, Nr. 133-34 (Brecht-Heft), S. 173). Für Otto Mann ist Brecht schlechthin der »Demonstrant des Marxismus«; sein Theater diene auch in den sog. »Volksstücken« nur einer »eingekleideten marxistischen Demonstration«. Er mißt seine Stücke am traditionellen Charakter- und Handlungsdrama und versteht das epische Theater nur als ein didaktisches, das die politischen Parolen der Kommunisten illustriert. Er blickt daran vorbei, daß diese Dramatik keine sog. »Lösungen« anbietet, keine revolutionären Handlungen und Charaktere als Vorbilder gibt, sondern die der gesellschaftlichen Situation des Menschen zugehörige Dialektik vorführt. Nur diese Dialektik als das dramatisch bewegende Prinzip menschlichen Daseins gibt den Szenenfolgen ihr dichterisches Leben. Sie überlassen es dem Zuschauer, wie er in und mit dieser Dialektik zu leben vermag; sie gewinnen ihre »lösende« Kraft nur durch das Vertrautwerden mit der Dialektik als einer das gesellschaftliche Leben bewegenden Dynamik und lassen sich deshalb für die politische Propaganda mit ihremVerlangen nach eindeutigen Parolen so schlecht gebrauchen, daß der Dichter Brecht im sowjetischen Herrschaftsbereich eher Zurückweisung als Zustimmung erfuhr. Er ist »Marxist« erst insofern, als er am Grundproblem von Marx orientiert bleibt, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit einen Schein erzeugt, der seine eigene Logik besitzt, so daß die geistigen Interessen zu den materiellen in ein dialektisches Verhältnis geraten. Es wird aber bei ihm niemals ein durch menschliches Handeln erreichbarer Raum jenseits dieser Dialektik sichtbar gemacht, weder ein Raum der heroischen Größe noch des gesellschaftlichen Glückes. Deshalb entzieht sich diese Dramatik nicht nur den Bedürfnissen der Propaganda, sondern auch dem Unbe293
Zur Dramatik Bert Brechts
bleibt nur, daß dieses Dichten der Grunderfahrung des technischen Zeitalters von der Veränderbarkeit der Welt und des Menschen produktiv begegnet und dadurch zugleich einen Einblick in Voraussetzungen der modernen Literatur und der in ihr sich vollziehenden Wandlungen eröffnet. Wohl sucht Brecht ein neues Engagement der Kunst — »das Theater muß sich in der Wirklichkeit engagieren«, sagt er gelegendich26 — aber das Ziel dieses Engagements kann immer nur die Freiheit des Menschen zu sich selbst sein, die sich in jeder gewandelten Situation neu bewähren muß. »Es sind die Freuden der Befreiung, welche das Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters vermitteln sollte«, heißt es auch bei ihm.27 In welcher Weise die Veränderbarkeit des Menschen oder der Gesellschaft politisch wirksam werden kann und neue Widersprüche in Bewegung setzt, wird die Dichtung weder vorwegnehmen noch entscheiden dürfen, wenn sie nicht ihre eigene, nun dringlich gewordene Aufgabe verleugnen will, das der Veränderbarkeit der Welt durch den Menschen zugehörige Spiel der Dialektik dramatisch vorzuführen.28
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dingtheitsanspruch der Tragik. Sie verweist immer nur auf die das Handeln herausfordernde Dialektik und überwindet damit die Milieugebundenheit der naturalistischen Szene. Vgl. O. Mann, Bertolt Brecht - Maß oder Mythos? Ein kritischer Beitrag über die Schaustücke Brechts, Heidelberg 1958, und ders., »Bert Brechts Marxismus und seine marxistische Dramatik«, in: Das Ärgernis Brecht (Anm. 16), S. 79-102. - Eher wird R. Grimm der Komplexität des Phänomens gerecht in seinen Aufsätzen: »Ideologische Tragödie und Tragödie der Ideologie«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 78, 1959, H. 4, S. 394-424, und »Zwischen Tragik und Ideologie«, in: Das Ärgernis Brecht (Anm. 16), S. 104-125. Brecht, Schriften zum Tlteater (Anm. 7), S. 141. Ebd., S. 158. - Vgl. dazu J. P. Sartre, »Qu'est-ce que la litterature?«, in: Situations II, Paris 1948, S. 73: »L'ecrivain >engage< sait que la parole est action: il sait que devoiler c'est changer et qu'on ne peut devoiler qu'en projetant de changer...«; S. 76: »On comprendra que l'art ne perd rien ä l'engagement; au contraire; de meme que la physique soumet aux mathematiciens des problemes nouveaux qui les obligent ä produire un symbolisme neuf, de meme les exigences toujours neuves du social ou de la metaphysique engagent l'artiste ä trouver une langue neuve et des techniques nouvelles...«; S. 112: »L'ecrivain, homme libre s'adressant ä des hommes libres, n'a qu'un seul sujet: la liberte.« Eine ausfuhrliche, gut dokumentierte Schilderung von Brechts Verhältnis zur kommunistischen Partei in Ostdeutschland und zum Sowjet-Regime gibt Martin Esslin, Brecht a choice of evils, London 1959, in den Kapiteln »Brecht and the Communists« und »The Communists and Brecht« (S. 133-200). Er weist auf die gespannten Beziehungen Brechts zu den offiziellen Vertretern des Regimes hin, wie sie sich aus seinem Gegensatz zu dem von der Partei geforderten sozialistischen Realismus ergaben. Die Dramaturgie von Stanislawsky, die den Theaterstil in der Sowjetunion bestimmte und allein als marxistisch anerkannt wurde, widersprach als Illusionstheater allem, was Brecht durch sein Werk zu erreichen suchte. Als im April 1953 eine Stanislawsky-Konferenz in Berlin dazu aufforderte, dem sozialistischen Realismus auch auf dem deutschen Theater zum Durchbruch zu verhelfen und den Kampf gegen den Formalismus auf der Bühne aufzunehmen, war damit ein Angriff auch auf Theorie und Praxis Brechts verbunden 294
Zur Dramatik Bert Brechts
Weil derart Brechts Verfahrensweise auf die durch die Wissenschaften bewirkten Wandlungen der Lebens- wie der Bewußtseinsformen zurückfuhrt, läßt sich von ihm aus etwas über die Voraussetzungen der modernen Kunst und ihr Verhältnis zur Tradition sagen. Diese moderne Kunst gewinnt überall da Konsequenz und Bedeutung, wo auch sie das alte Bündnis von Kunst und Wissenschaft erneuert, von dem Goethe sprach. Sie sieht sich genötigt, die technisch-industrielle Revolution als Basis des künstlerischen Schaffens anzuerkennen, um die so veränderte Situation des Menschen darstellbar zu machen. Sie wagt es immer entschiedener, durch Preisgabe des Sinnenscheins zur Darstellung der Logik dieses Scheins vorzudringen, und bewegt sich damit trotz allem auf den seit dem 18. Jahrhundert verfolgten Bahnen des literarischen Lebens weiter. Damals kamen Imagination und Reflexion zu neuem Austausch. Es wurde bewußt, welch komplexe Aufgabe die »Naturnachahmung« den (S. i n i f ) . Brecht erschien als Repräsentant des Formalismus sowohl im »Kleinen Organon« wie in seinen Stücken. Mutter Courage (S. 153), Das Verhör des Lucullus (S. 154) oder Die Mutter (S. 182) ließen die geforderte propagandistische Wirkung auf das klassenbewußte Proletariat vermissen. So nimmt es nicht wunder, daß sein Werk seit den frühen dreißiger Jahren bis zu seinem Tode in der Sowjetunion unterdrückt wurde (S. 180) und daß auch die ostdeutschen Regierungsstellen den avantgardistischen Stil von Brechts Theater mehr für Propagandazwecke im Westen nützlich fanden als in ihrer eigenen Sphäre (S. 78). - Vgl. auch Willett (Anm. 5), S. 20511"., über die Vorwürfe gegen Brechts Die Verurteilung des Lukullus in Neues Deutschland vom 22.3. 1951 und über Brechts Kritik am »Amt für Literatur« in seinem Brief an Neues Deutschland vom 12. 8.1953, »Kulturpolitik und Akademie der Künste«. — Die Studie von Hans Mayer, Bertolt Brecht und die Tradition, Pfullingen 1961, läßt diese Gegensätze zum sozialistischen Realismus freilich im Dunkel und betont statt dessen Brechts Gegensatz zu Georg Lukacs bei der Auslegung des Realismus-Begriffs (S. 104—7). Auch sonst entzieht sich Mayer einer genaueren Bestimmung von Brechts dichterischem Verfahren. Er geht den Stoffen, Motiven und Themen der Dramen nach, wie sie verschiedenen Traditionsbereichen zugehören, ohne die von Brecht vollzogene Art der »Umfunktionierung« für die neuen »dramaturgischen und politischen Zwecke« genauer zu erläutern (S. 102). Er begnügt sich mit dem handfesten Schematismus der Klassenideologie, um die Wandlungen der literarischen Formensprache zu kennzeichnen; für ihn gibt es keine Grundsituation der modernen Kunst, sondern nur den Gegensatz von bürgerlichem und nicht-mehr-bürgerlichem Theater (S. 114). Als ob man über die »deutsche Klassik« schon etwas ausgesagt hätte, wenn man den »bürgerlichen, antifeudalen Charakter dieser Werke« betont, statt ihr Verhältnis zur neuzeitlichen Erkenntnissituation und ihre Sprachleistung in Betracht zu ziehen (S. 53 u. öfter). Freilich behält Mayer den unabschließbaren Prozeß im Auge, der die provokatorische Entfaltung der Dialektik im Drama rechtfertigt, wenn er sagt: »Zu glauben, die >Provokation< habe für Brecht mit Ende der bürgerlichen Gesellschaft ihren Gegenstand verloren, setzt voraus, daß eine nicht-mehr-bürgerliche Gesellschaft in sich widerspruchslos wäre... Brecht aber blieb auch hier konkret, illusionslos, provozierend. Er war unablässig bemüht, die Widersprüche, die alten wie die neuen, zu studieren, um Erkenntnis zu provozieren« (S. 123). Erst damit ist Brechts produktive und undogmatische Stellung in der modernen Dramatik bezeichnet. 295
Zur Dramatik Bert Brechts
Künsten stellt, wenn die Natur dem Menschen nicht einfach gegeben ist, sondern ihre Gesetzlichkeit nur durch den methodischen Zweifel an der Wahrheit des Sinnenscheins zu erkennen gibt. Die damit geforderte Wendung vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff, vom Gegenstand zu den Bedingungen der Erkenntnis des Gegenstandes, ist seitdem als Voraussetzung auch des künstlerischen Schaffens wirksam geblieben. Die Wandlungen der modernen Kunst ergeben sich als weitere Folgerungen aus der damals gewonnenen Wechselbeziehung von Dichten und Denken. Im 18. Jahrhundert wurde dieses Bündnis geschlossen, als die Wissenschaften das Vorstellungsbild der sinnlichen Wahrnehmung und damit auch den überlieferten religiösen Weltbegriff entwerteten; die Künste konnten demgegenüber die Bedeutung des individuellen Erlebniszusammenhangs mit all seinen subjektiven Weltgehalten freilegen. Inzwischen hat die Wissenschaft nicht nur neue Erkenntnisse gewonnen und ihre kopernikanische Wendung auf alle Lebensgebiete übertragen, sondern in wachsendem Maße aus ihren Voraussetzungen die technische Welt als eine zweite Natur entwickelt. Sie hat dadurch die Lebensmöglichkeiten des Menschen ebenso erweitert wie gefährdet und die Frage von neuem dringlich gemacht, wie der Mensch die durch ihn veränderte Natur sich als eine ihm zugehörige zuordnen und menschlich vertraut machen kann.29 Es genügt immer weniger die erlebnismäßige Durchdringung; an ihre Stelle tritt die funktionale Strukturierung der Sprach- und Bildbereiche. Die Industrielandschaft ließ die alte Bilderwelt der gemütsbestimmten Dinge immer rascher versinken. Das Gefühl erwies sich als ohnmächtig gegenüber der Welt der Apparate und Energien, Formeln und Meßgeräte, Organisationen und Institutionen; deren Bedeutung ist Vgl. dazu Paul Valery, »Le Bilan de l'Intelligence«, in: Variete III, Paris 1936, S. 2y8f. »Ainsi l'action de l'esprit, creant furieusement, et comme dans l'emportement le plus aveugle, des moyens materiels de grande puissance, a engendre d'enormes evenements, d'echelle mondiale, et ces modifications du monde humain se sont imposees sans ordre, sans plan preco^u et, surtout, sans egard ä la nature vivante, a sä lenteur d'adaptation et d'evolution, ä ses limites originelles. On peut dire que tout ce que nous savons, c'est ä dire tout ce que nous pouvons, a fini par s'opposer ä ce que nous sommes. Et nous voici devant une question: . . . l'esprit peut-il nous tirer de l'etat ou il nous a mis? ... Done, toute la question que je posais revient ä celle-ci: si l'esprit humain pourra surmonter ce que l'esprit humain a fait?« - Erst vor dem Horizont dieser Fragen wird die Leistung der modernen Kunst wie auch die der Dramatik Bert Brechts in ihrem eigentlichen Gewicht erkennbar: weil er in seinen Stücken nicht politische Parolen gab, sondern die Dialektik des gesellschaftlichen Prozesses szenisch zu entfalten wußte, entwickelte er neue Sprach- und Darstellungsmöglichkeiten, die über alle Grenzen hinweg wirken und vom Leben des Geistes zeugen. 296
Zur Dramatik Bert Brechts
nicht mehr an ihrem Erscheinungsbild abzulesen, da die in ihnen wirkenden Kräfte sich der konkreten Vorstellung entziehen. Selbst die soziale Anklage oder der Appell an das Mitleid mit der geschundenen Kreatur bleiben vordergründig, wenn sie durch eine bessere Organisationsform hinfällig werden können. Nietzsches provokatorisches Wort: »Die Dichter lügen zu viel«, nötigte zu einer radikaleren Konfrontation von Kunst und Leben. Die damit geforderte neue Lebensunmittelbarkeit ist aber nicht auf direktem Weg zu gewinnen; es genügt nicht, nach den neuen Inhalten des technischen Zeitalters zu greifen, statt sich an dessen Denkformen zu erproben und das in den Wissenschaften entwickelte Verhältnis zum Sinnenschein auch für die Künste fruchtbar zu machen. Die besonders in Deutschland wirksam gewordene Revolte gegen diesen künstlerischen Formenwandel muß als alarmierendes Zeichen der unverstandenen und unbewältigten Beziehungen zwischen der Bewußtseinssituation und dem Vorstellungsleben unserer Generation begriffen werden. Es schien mir nötig, diese Perspektiven wenigstens anzudeuten, da es dadurch möglich wird, die für Brecht entscheidenden Grunderfahrungen von der Veränderbarkeit der Welt und des Menschen in ihrer Bedeutung zu rechtfertigen, ohne seinen gesellschaftspolitischen Begründungen folgen zu müssen. Wenn er sein »episches Theater« gegen das frühere, vermeintliche »Unterhaltungstheater« abgrenzt, das nur den Genuß oder den Rausch gekannt habe, oder wenn er davon spricht, daß das »bürgerliche Theater« durch eine »proletarische Kunst« abgelöst werden sollte, so greift er offenbar zu kurz. Die Wandlungen der Dramenform von Lessing bis Gerhart Hauptmann lassen sich nicht aus ihrer gesellschaftlichen Funktion ableiten, sondern besitzen ihre eigene Konsequenz und bleiben auf das Wechselverhältnis von Kunst und Wissenschaft bezogen. Die durch Erkenntnisse und Entdeckungen ermöglichten Veränderungen bergen ihre eigene Dialektik in sich und kommen zur Wirkung gerade auch dadurch, daß sie die Dichtung vor neue Aufgaben stellen. Die Veränderbarkeit der Welt läßt sich nicht auf eine prima causa in Gestalt der Klassengegensätze zurückfuhren, um so weniger als jede Veränderung sich der Frage stellen muß, ob sie gut und gerecht ist und welche alten oder neuen Widersprüche sie in sich birgt. Freilich, dem Künstler mögen wir bei der Begründung seines Tuns eine gelegentliche Verkürzung seiner Argumente zugestehen, wenn es ihm in seinem Dichten nur gelingt, die Sprach- und Darstellungsfähigkeit des Menschen mit seiner Lebenswirklichkeit wieder in Austausch zu bringen. In welchem Sinn Brecht das in seinen Dramen getan hat, suchten wir zu zeigen. 297
Zur Dramatik Bert Brechts
Es bleibt zum Schluß noch übrig, einen Dank auszusprechen, zugleich im Namen des Germanistischen Institutes der hiesigen Universität. Die Hochschulverwaltung hat die Anschaffung einer Portraitplastik von Bert Brecht ermöglicht, die Gustav Seitz geschaffen hat. Mit der Formensprache der bildenden Kunst unserer Tage gibt sie eine beispielhafte Interpretation einer modernen Dichterexistenz, des »Stückeschreibers«, wie sie sich nennt. Bei starker Portraitähnlichkeit verzichtet sie doch auf die wachstümliche Geschlossenheit der organischen Form und betont statt dessen das konstruktive Gerüst des Schädelbaus. Durch Versetzung der Linien und Flächen gibt sie die aktive Bewußtheit einer Imagination zu erkennen, die das Dichten an eine gesellschaftliche Wirklichkeit bindet, die einem vom wissenschaftlichen Denken geprägten Zeitalter zugehört. So vermag sie den Betrachter dazu aufzufordern, in den Provokationen der modernen Kunst den menschlich bedeutsamen Gehalt zu erkennen.
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Das Gedicht als Sprachsetzung bei Stefan George*
Stefan George hat sich nicht damit begnügt, durch sein lyrisches Werk als Dichter zu wirken, sondern sich eine eigene Gemeinde, einen »Kreis« geschaffen, um ihm seinen geistigen Willen aufzuprägen und eine verpflichtende Lebenshaltung zu entwickeln. Wenn man heute liest, mit welcher Unbedingtheit der junge Friedrich Gundolf sich um 1900 dem geliebten und verehrten Meister zuwandte und erwartete, daß das neue Jahrhundert Georges Jahrhundert heißen möchte, wird man sich der ebenso erstaunlichen wie Bedenken erregenden persönlichen Wirkung bewußt, die von dem Herrschafts- und Richteranspruch dieses oft so rätselhaften Mannes ausging. Für solche vorbehaltlose Nachfolge fehlen inzwischen die Voraussetzungen, so daß es nicht mehr genügen kann durch eine Art »Kreislehre« oder »Heiligen-Geschichte« Georges Absichten zu erläutern. Als legitimer Zugang zu diesem geschichtlich gewordenen Phänomen bleibt jedoch die Frage nach der dichterischen Leistung, um so mehr als George selbst fast ganz auf briefliche oder essayistische Auskünfte verzichtete. Er schrieb 1899 an Gundolf: »Erwarten Sie von mir wenig Antwortzeichen ... Meine Äußerungen sind beinah ausschließlich Bewegung und Gebild.« So werden wir fragen, in welchem Sinn er durch die rhythmischen Gebilde seiner Strophen eine ihm eigene Dimension des geistigen Lebens eröffnete. Ludwig Thormaehlen sagt in seinen Erinnerungen an Stefan George: »Es handelt sich bei den Bemühungen Georges weder um die Konstituierung eines politischen noch religiösen Zusammenschlusses, sondern ... um das Auflebenlassen eines dichterischen Seins, einer dichterischen Tradition«. Wir möchten dementsprechend erläutern, in welcher Weise Georges Verse eine dichterische Sprache sprechen, die auch für denjenigen Bedeutung behält, der von allen sonstigen Erwartungen des Kreises nichts weiß. Gundolf rühmte * Unveröffentlichtes Typoskript (17 S.), Nachlaß Böckmann, Deutsches Literaturarchiv Marbach (in Teilen identisch mit dem Abschnitt über Stefan George im Aufsatz »Die Sageweisen der modernen Lyrik« in diesem Band). 299
Das Gedicht bei Stefan George
den Dante-Übertragungen nach, sie ließen erkennen, »daß die deutsche Sprache doch noch mancher ungeahnten Dinge fähig ist«. Inwiefern zeugen davon Georges eigene Verse? Als er um 1890 mit ersten Versuchen begann, waren die durch Herder und den jungen Goethe geläufig gewordenen Vorstellungen von der Erlebnis- und Stimmungslyrik verblaßt; das Verlangen nach dem möglichst unmittelbaren Gefühlsausdruck war mit sich selbst in Widerstreit geraten, je mehr das Wechselverhältnis von Innen und Außen, von Mensch und Natur seine Eindeutigkeit verloren hatte. Die Desillusionierung des Gefühls hatte schon mit Heines Versen begonnen und machte die Frage bewußt, ob das Gefühls- und Stimmungsleben den Menschen nicht nur in eine subjektive Traumwelt verlockt und ihn aus der Wirklichkeit herausführt, um ihm diese erträglicher zu machen. Der einem eigengesetzlichen Naturgeschehen überantwortete Mensch schien alle seelischen Regungen auf physiologische Vorgänge verrechnen zu müssen, als wären sie nur Reflexe der Sensibilität. Die sinnliche Wahrnehmung und ihre Wirkung auf das Vorstellungsleben schien im Zeichen des Naturalismus als eigentliche Grundlage auch des lyrischen Sprechens übrig zu bleiben, bei Liliencron und Dehmel so gut wie bei Arno Holz. Aber da geschah das Merkwürdige, daß eine neue Lyrik ihre Stimme erhob, die aus den gewohnten Alternativen herausführte, indem sie die Macht des Wortes als die für die Lyrik wesentliche Erfahrung zu ihrer Grundlage nahm. Nicht die Gefühlsaussprache als solche gibt nun dem Gedicht seinen Wert, sondern die Verwandlung einer ungreifbaren Innerlichkeit in Sprache. Der Vers als sprachliche Prägung und Setzung weist auf eine geistige Kraft des Menschen, die ihm zugleich eine neue Selbstvergewisserung ermöglicht. So wird die Lyrik seit George zu einem echten Kreuzungsund Orientierungspunkt in den geistigen Auseinandersetzungen der Moderne. Eine Opposition gegen den Naturalismus hatte sich schon vorher im Zeichen eines neuen Symbolismus geltend gemacht und auch der Lyrik neue Wege zu weisen gesucht. Hermann Bahr veröffentlichte 1894 seine Studien zur Kritik der Moderne mit einem Beitrag über die »Symbolisten«. Sie hätten »aus den Symbolen eine neue Technik gewonnen, ... eine besondere Methode der Lyrik« (S. 28). Der Schmerz des Vaters über den Tod seines Kindes zum Beispiel könne auf sehr verschiedene Weise zur Darstellung kommen: der rhetorische Dichter werde jammern und klagen; der realistische Dichter werde einfach erzählen; aber der Symbolist wird entfernte Tatsachen und Bilder benutzen, welche fähig sind, den gleichen Zustand hervorzurufen, wie ihn der Tod des Kindes im Vater
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Das Gedicht bei Stefan George
bewirkte; dies Verfahren lasse sich mit dem des Traumes und seinen Symbolen vergleichen. Diese Erläuterungen lassen noch kaum erkennen, wie ein solches Verfahren dem Wort neue Bedeutung geben soll; das würde erst klar, wenn die Distanz beachtet würde, die zwischen dem Gefühl und seiner Darstellung entsteht, wenn sich ein Symbol zwischen beide stellt. Durch diese Distanz bleibt der lyrische Ausdruck nicht bei der Gebärdung des Schmerzes stehen; vielmehr gewinnt die Sprache die Freiheit zu ihrem eigenen Bilden und damit zur Gegenüberstellung von Werk und Leben, von Schönheit und Alltäglichkeit. Es ist damit der Weg bezeichnet, den Stefan George einschlug und den Hofmannsthal genauer zu erläutern suchte. In den Aufsätzen von 1896 über »Gedichte von Stefan George« und über »Poesie und Leben« hat Hofmannsthal im Anschluß an Mallarme und unter dem Eindruck seiner Begegnung mit George das neue Verhältnis zur Lyrik gerechtfertigt. Er betont, »daß das Material der Poesie die Worte sind«. Denn — sagt er nun — »das Element der Dichtkunst ist ein geistiges, es sind die schwebenden, die unendlich vieldeutigen, die zwischen Gott und Geschöpf hangenden Worte«. Weder die Berufung auf ihren sachlichen oder erlebnismäßigen Gehalt noch ihre Lebensnähe kann die Bedeutung der Verse rechtfertigen, sondern nur der dichtende Umgang mit der Sprache. So heißt es: »Die Worte sind alles, die Worte mit denen man Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen und nach inspirierten Gesetzen als ein Bewegtes vorspiegeln kann. Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie ... Eine neue und kühne Verbindung von Worten ist das wundervollste Geschenk für die Seelen ... Man lasse uns Künstler in Worten sein.« Wohl verweist Hofmannsthal auf das Leben als die letzte dem Menschen faßliche Instanz des Daseinsverhältnisses; aber er wird sich dessen bewußt, daß die Kunst auf die Distanz zwischen Leben und Werk angewiesen ist und das Geistige der Schönheit nur Gestalt gewinnt, wenn die Worte ihre eigene Ordnung besitzen. »Es ist ein Hauptmerkmal der schlechten Bücher unserer Zeit, daß sie gar keine Entfernung vom Leben haben; eine lächerliche korybantenhafte Hingabe an das Vorderste, Augenblickliche hat sie diktiert.« ... »Wer sich nicht selbst gehört, der hat keine Gewalt, die Worte anders als scheinhaft und gemein zu setzen. Wer lügt, macht schlechte Metaphern.« Wenn Hofmannsthal von der Distanz zwischen Kunst und Leben ausgeht, will er damit nicht ein selbstgenügsames artistisches Spiel rechtfertigen, sondern daran erinnern, daß der Mensch durch Sprache sich selbst gehört und in ihr seinen »eige301
Das Gedicht bei Stefan George
nen Ton« finden kann. Rhythmik und Metaphorik dürfen nicht zum lügnerischen Schein entleert werden, sondern sollen einem inneren Gesetz folgen, das im Dichter lebendig ist. Die prägende Kraft des Wortes wird damit bestimmend und ermöglicht es dem Dichter, in der Sprache sich seiner selbst zu vergewissern. In der sprachlichen Setzung begegnet die geistige Leistung, durch die er sich im Leben heimisch macht und die Welt als Welt zeigt. Hofmannsthal hat diese Überzeugungen im Hinblick auf Georges Gedichte entwickelt, die 1895 in den Büchern der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten erschienen. Er sagt: »In diesen drei Büchern Gedichten ist das Leben so völlig gebändigt, so unterworfen, daß unserem an verworrenen Lärm gewohnten Sinn eine unglaubliche Ruhe und die Kühle eines tiefen Tempels entgegenweht.« Auch Georges Sätze aus den Blättern für die Kunst über die Aufgabe der Dichtung werden von ihm zitiert: »Den Wert der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wären sie etwa Weisheit, Gelahrtheit), sondern die Form, d.h. durchaus nichts Äußerliches, sondern jenes tief Erregende in Maß und Klang, wodurch zu allen Zeiten die Ursprünglichen, die Meister sich von den Nachfahren, den Künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben. Der Wert einer Dichtung ist auch nicht bestimmt durch einen einzelnen, wenn auch noch so glücklichen Fund in Zeile, Strophe oder größerem Abschnitt. Die Zusammenstellung, das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander, die notwendige Folge des einen aus dem ändern kennzeichnet erst die hohe Dichtung« (vgl. Tage und Taten, »Über Dichtung I«, S. 85). Im Zeichen Stefan Georges hat Hofmannsthal die Entschiedenheit gewonnen, der prägenden Kraft des Wortes zu vertrauen und die Selbstvergewisserung in der Sprache als die eigentliche Aufgabe des Gedichts zu erläutern. George selber war im Frühjahr 1889 in Paris mit den Werken der französischen Symbolisten bekannt geworden und konnte an den Dienstagabenden bei Mallarme teilnehmen, wo er Verlaine sah und von Baudelaire hörte. So ist sein eigenes Dichten kaum ohne diese Vorbilder zu verstehen. In welcher Weise Mallarmes Lyrik der Sprache eine neue Bedeutung gab, läßt sich vielleicht am knappsten durch einige Bemerkungen von Sartre bestimmen. Dieser betont in einem Essay, wie sehr sich in Mallarmes Werk unser eigenes Jahrhundert angekündigt habe: »Mallarme fragte sich: kann man im Determinismus einen Weg finden, um aus ihm herauszukommen? Kann man eine Subjektivität zurückgewinnen, indem man das Universum und sich selbst zum Objektiven zu302
Das Gedicht bei Stefan George
rückfuhrt? Er wendete deshalb ein Prinzip auf die Kunst an, das bis dahin nur eines der Philosophie war und eine Maxime der Politik werden sollte: faire et en faisant se faire. Etwas herstellen und im Herstellen sich selbst herstellen. Kurz vor der ungeheuren Entfaltung der Technik erfand er eine Technik der Poesie; er mobilisierte die Sprache, um sich des vollen Ertrages der Worte zu versichern. Noch erregender aber ist die metaphysische Angst, die ihn so sehr bewegte und die er so maßvoll gelebt hat ... Er fragte sich: wenn die Materie die Poesie hervorbringt, kann dann der wache Gedanke von der Materie vielleicht dem Determinismus entgehen?« In diesen Äußerungen Sartres über Mallarme ist auf entscheidende Voraussetzungen nicht nur Mallarmes, sondern der neuen Sprachkunst überhaupt hingewiesen: sie ist nicht als ein artistisches Spiel mit Worten zu verstehen, sondern als ein entschiedener Versuch, im durchgängigen Determinismus des Naturgeschehens einen Raum der Freiheit zu gewinnen, in dem der Mensch zu sich selbst zurückfindet. Im Stellen der Worte stellt sich der Mensch her, auf die Gefahr hin, daß er damit der Lüge verfällt - das ist die neue Maxime, die durch Mallarme auch für Stefan George wesentlich wurde. Die Lyrik zeugt nicht mehr vom Lautwerden einer Stimmung, dem Ausdruck eines Gefühls, sondern von der Selbstbehauptung des Menschen durch Sprache. Freilich, bei George selbst wird auf die besondere Situation der modernen Kunst kaum je reflektiert. Er beschränkt sich auf die dichterische Aussage und auf gelegentliche andeutende Hinweise in den Blättern für die Kunst, die in den Merksprüchen von der »geistigen Kunst« als einer »Kunst für die Kunst« sprechen. Es heißt höchstens einmal, daß »die äußerste Sorge bei der Feilung der Gefüge« mehr voraussetzt als eine Formel, »nämlich eine geistige Haltung, ja eine Lebensführung«. So begnügt sich auch Georges »Lobrede auf Mallarme« damit, auf die »schweren glitzernden Satzgefüge« seiner Verse hinzudeuten, die an dunkle Weisheitsworte erinnern: »Denken wir an jene sinnlosen Sprüche und beschwörungen die von unbezweifelter heilkraft im volke sich erhalten und die hallen wie rufe der geister und götter ... Jeden wahren künstler hat einmal die Sehnsucht befallen in einer spräche sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne ...« Die Art, wie Mallarme mit der Sprache umgeht, seine Art, die Worte zu stellen, wird als das eigentlich Bedeutsame herausgehoben, darin ein Erregendes gefunden, ohne daß auf die inneren Bedingungen eines solchen Verhaltens eingegangen würde. Statt dessen wird der esoterische 303
Das Gedicht bei Stefan George
Charakter der Verse betont und damit der Wille zur Stilisierung herrschend. Die Parallelen zwischen Georges Bemühungen und denen der französischen Symbolisten sind vor allem in seinen Anfängen nicht zu übersehen. Den besonderen Weg aber, den er als Dichter geht, wird man nur von ihm selbst aus erhellen können. Manche Züge seines Dichtens und Verhaltens haben von früh an befremdet und wirken heute vielleicht noch unverständlicher. Daß er in seinen Gedichten alle Wörter klein schreibt, mag noch hingenommen werden. Aber wie soll man die esoterische Haltung beurteilen, mit der er sich gegen die Öffentlichkeit abschloß, die Stilisierung seiner Lebensführung, die manirierte Mischung von priesterlicher Würde und Ästhetentum, die man bei ihm wahrnehmen mochte? Wie soll man den Kult verstehen, der mit der Gestalt Maximins getrieben wurde, als wäre in ihm ein Gott im antiken Sinn erschienen? Ist dieser Dichter dem Irrtum erlegen, eine Art Religionsstifter sein zu können? Solche Fragen mögen sich vor allem denjenigen stellen, die von Georges Gedichten noch kaum etwas wissen und zunächst nur von den mit diesem Dichten verbundenen Lebensumständen hören. Aber kann es genügen, um das Geleistete zu würdigen, auf einzelne seiner Gedichte hinzuweisen, die ihre eigene Schönheit besitzen und deshalb unabhängig von allen sonstigen Ansprüchen Georges ihre Bedeutung zu behalten scheinen? Es geht nicht darum, ihn als einen Dichter zu kennzeichnen, dem einzelne gute Verse glückten, sondern es bleibt die Frage, ob und in welchem Sinne er der Dichtung eine echte Aufgabe zuerkannte und der deutschen Sprache neue Dimensionen erschloß. Jener von Mallarme aus erkennbare Anspruch, daß sich der Mensch im Stellen der Worte selber herstellt, hat offenbar die Erlebnis- und Gefuhlsaussprache der Goethezeit zu verwandeln vermocht und zugleich ein Gegengewicht gegen die erfahrungsgebundene Sachprosa der Moderne geschaffen. Die Sprache als gewollte Setzung gewinnt einen gesetzgebenden Charakter und wirkt formend auf die sich der Sprache anvertrauenden Menschen zurück; das ist die besondere Erfahrung, die Georges Dichten vermitteln kann und durch die es eine eigene menschenbildende Kraft bewährte. Die Sprache als Prägung und Setzung rechtfertigt zugleich ihre Distanz zum Leben. Das lyrische Wort verwirklicht ein Maß, an dem das elementarisch drängende Leben gemessen und durch das es in eine menschlich bedeutsame Form gebracht wird. Es genügt deshalb nicht mehr die Nähe zur Alltagssprache, die - sachbezogen wie sie ist - immer schon 304
Das Gedicht bei Stefan George
das gewohnte Erfahrungsbild wachruft. Die neue Sageweise lebt von der Stilisierung. Sie weist auf das das Leben bändigende Gesetz der Wahrheit und Schönheit des Menschen zurück. Durch die Verfremdung der Sprache im stilisierten Vers behauptet sich das Sprechen als menschliche Tätigkeit im Andrang des Lebensgeschehens. Diese Stilisierung beginnt bei der Kleinschreibung, die dazu nötigt, das Wort in den Mund zu nehmen und den Vers laut zu sprechen, um ihn in seiner rhythmischen Fügung mitzuvollziehen und sich nicht bei dem Gedanken: Bild oder Gefühl zu beruhigen. Diese Stilisierung verwandelt das Natürliche in das Künstliche, um die Tätigkeit des Geistes im Wort zur Geltung zu bringen und es von der Übermacht einer sinnfremden Wirklichkeit zu befreien. Die Verse vertauschen deshalb gern das Nahe mit dem Fernen, das Konkrete mit dem Abstraken und machen dadurch den Unterschied zwischen Aussageinhalt und Aussageweise fühlbar. Sie scheuen jede direkte Mitteilung, da sie nur als sprachliche Setzung dem Willen die Richtung weisen; sie verzichten fast ganz auf die liedhaften Formen der Gefühlsunmittelbarkeit und nähern sich statt dessen den Spruchformen. Die Stilisierung der Wortwahl wirkt mit der grammatisch-syntaktischen Fügung zusammen und gibt auch den Strophen- und Reimformen neue Bedeutung; die geprägte Form nötigt den Sprechenden in den Gang des Verses hinein. So weiß diese Sprachkunst um eine Klanggestalt des Wortes, die zugleich von der ordnenden Macht des Geistes zeugt. Die frühesten Verse Georges in der Fibel lassen einzelne Züge hervortreten, die für die Grundsituation dieses Dichtens erhellend sind und wichtig bleiben. Von Anfang an genügt nicht die subjektive Stimmung oder sachnahe Beobachtung, weder die rhetorische Einkleidung von Vorgängen oder Gedanken, noch die volksliedhafte Geflihlssprache. Vielmehr geht es um ein Ichbewußtsein, das sich seine Sprachgebärden selber schafft und sich dadurch herstellt. Dieses Ich begnügt sich nicht mit seinen wechselnden Gefühlszuständen, sondern fragt nach sich selbst, weiß sich der Einsamkeit, Verlorenheit, Vergänglichkeit ausgesetzt und verlangt doch nach einem Dauernden, Höheren. Wohl sieht es sich auf das Naturleben verwiesen und weiß sich dessen Gesetzen unterworfen; aber zugleich dringt es auf einen eigenen Besitz, schafft es sich ein eigenes Reich, sucht es eine gültige Form. Die Naturmetaphorik und die stilisierende Gebärde sind deshalb von Anfang an gleichermaßen wichtig und bedingen sich gegenseitig. Durch die Naturbilder spricht sich ein selbstbewußter Wille aus, so daß sich die Naturformen ins Un- und Überwirkliche steigern. Infolge der Konfrontation der Natur mit dem Ichbe305
Das Gedicht bei Stefan George
wußtsein begegnen sich verschiedene Sprachräume, entsteht ein Spannungsfeld, in dem die Worte ihr Eigenleben gewinnen können. So heißt es in der Fibel: Wenn die ersten schneekristalle Halb-zerschmolzen schon im falle Von den kahlen zweigen träufeln Neue neue stets sich senken: Warum muss ich gleich da denken An vergehen und verzweifeln? Und wenn in den maientagen Wälder bunte triebe tragen Wenn im grünen kleid sich sehen Froh von neuem bäum und Strauch: Denk ich so gewiss dann auch Gleich an hoffen auferstehen?
Die Parallelität der Strophen, in denen beide Male der Bedingungssatz mündet und je vier Zeilen dem Naturbild gehören, bis in zwei Schlußzeilen die Rückwendung auf das Ich erfolgt, gibt die Beherrschtheit zu erkennen, mit der gesprochen wird. Hier baut der Dichter mit der Sprache; im Bauen ist er selber gegenwärtig; so zeugen die Naturbilder von einem Willen, der auswählt, der die Worte stellt und dadurch die Natur ins Künstliche umsetzt, sie aber zugleich intensiviert. Es ist nicht einfach eine Winterstimmung ausgedrückt, auch nicht eine Verbildlichung innerer Zustände gegeben, sondern ein Spannungsfeld von Gegensätzen mit eigentümlicher Präzisierung der ergriffenen Bilder entstanden. Es schneit nicht, sondern Schneekristalle träufeln und senken sich; das Kristallinische erhält Eigenwert, als wolle es zwischen dem Stofflichen und Luftigen vermitteln, zwischen Fallen und Liegen. Auch der Frühling wird menschlich aktiviert: die Wälder tragen bunte Triebe, Baum und Strauch sehen sich im grünen Kleid. Damit drängt die Bildlichkeit zum Ich zurück, das als ein Denkendes nach sich selbst fragt: »Denk ich dann ...?« Die Natur ist in eine Distanz gebracht, sofern das Ich in der Sprache tätig wird, auswählt und stilisiert; es stellt sich im Sprechen her, ohne sich inhaltlich bestimmen zu lassen. Aber es objektiviert seine Erwartung zu einem Gegenüber, zu einem Traum- und Idealbild, das selbst nur wieder in Naturbildern faßbar wird. Die Begegnung mit der Lyrik der Symbolisten wie auch die wachsende Entschiedenheit des eigenen Verfahrens führen in dem ersten Ge306
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dichtband, den George 1890-1892 als Privatdruck veröffentlichte und der 1899 als Buch erschien, den Hymnen. Pilgerfahrten. Algabal, zu einer Verstärkung der Stilisierung. Die Sprache schafft sich ihr eigenes Kunstreich und hebt den Dichter aus dem Alltag heraus. Die Selbstbezeugung des Menschen im lyrischen Wort bleibt die entscheidende Aufgabe; die Distanz zwischen Natur und Kunst rechtfertigt die Verkehrung des Natürlichen in das Künstliche, ja des Lebendigen in das Tote. Das Gedicht »Im Park« aus den Hymnen ist dafür kennzeichnend: Rubinen perlen schmücken die fontänen · Zu boden streut sie fürstlich jeder strahl · In eines teppichs seidengrünen strähnen Verbirgt sich ihre unbegrenzte zahl. Der dichter dem die vögel angstlos nahen Träumt einsam in dem weiten schattensaal.
Das Vertraute und Lebensnahe eines Parks wird hier ins Künstliche, Fremde und damit ins Stilisierte und Kostbare umgewendet; die Wassertropfen des Springbrunnens werden zu Rubinen und Perlen, das Gras des Rasens zu seidengrünen Strähnen eines Teppichs, der Platz unter den Bäumen zu einem Schattensaal. Das Gedicht spricht nicht aus dem Einklang des Menschen mit dem Leben, sondern aus der Selbstbehauptung in ihm und verwandelt deshalb das vermeintlich Wirkliche der Umgebung in den Traum des Dichters. Er überläßt sich nicht dem Lebensgeschehen wie die Menschen sonst, die »berauscht« die Vereinigung von »Leib und Leib« suchen; er hört wohl »der Töne Lockung«, aber ohne sich rühren zu lassen, weil er mit »seinen Geistern« Rede tauscht. Die Verse wenden sich auf den Dichter zurück und erläutern seine Aufgabe und Haltung, die Art seines Tuns, das sich nicht mit dem Mitvollzug des Lebens zufrieden gibt. »Er hat den Griffel, der sich sträubt zu fuhren«. Das Wort, über das er verfügt, setzt die Distanz zwischen Geist und Leben voraus, wie es das Bild vom sich sträubenden Griffel andeutet. Man hat diese Vereinigung von Künstlichkeit und priesterlichem Tun als Wirkung Mallarmes auf die Hymnen verstanden. Aber unabhängig von der Verwandtschaft solcher Verse mit denen Mallarmes bleibt als wichtiges Ergebnis bestehen, daß Georges Gedicht immer entschiedener aus der Sprache als Setzung lebt; sein Werk gewinnt eine eigene Folgerichtigkeit und Geschlossenheit, weil es diesen Grundansatz in seinen Möglichkeiten nur immer weiter entfaltet, bis hin zu den Gesetzestafeln im Stern des Bundes. Zunächst, in den ersten Büchern, erprobt sich die 307
Das Gedicht bei Stefan George prägende Kraft der Sprache vor allem an der Absonderung vom Vertrauten, durch die Ausbildung eines eigenen Traumreichs; dann bewährt sie sich an der Aus- und Umformung überlieferter Bilderwelten der Geschichte und Natur; und schließlich, seit dem »Vorspiel« und dem Siebenten Ring, wirkt die sprachliche Setzung zugleich als formendes Gesetz einer Willensmetaphysik, die den Menschen zu sich selber ruft. Die Stilisierung der Sprache bleibt wirksam; aber in den Anfängen verschließt sie sich am unbekümmertsten in sich selbst; durch die Verfremdung des Gewohnten will sie auf den ihr zugehörigen geistigen Raum verweisen. Am eindrucksvollsten, aber auch gewalttätigsten setzt sich die neue Sprachform in den Versen des Algabal durch, wo die Stilisierung alles Natürliche aufhebt; die Sprache gerät in eine unerhörte Eigenbewegung, indem sie zur Negation aller Erscheinungen drängt und sich als letzte Bezeugung des Menschlichen vor dem Nichts behauptet. Das »Nicht«, »Nie« und »Nimmer« löscht das Dasein aus, erzeugt aber die »große schwarze Blume« des Gedichts, in dem die Sprache bei sich selber einkehrt. So heißt es im »Unterreich«, als einer vom Dichter »ersonnenen Wortschöpfung«: Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut. Von kohle die stamme · von kohle die äste Und düstere Felder am düsteren rain · Wie zeug ich dich aber im heiligtume ... Dunkle grosse schwarze blume? Das Gedicht kann aus sich selbst leben, weil die Sprache in der Distanz zum Leben ihre eigene Schönheit gewinnt und die Entschiedenheit des Ich nur steigert. In dem befremdenden Klang dieser Verse begegnet eine dichterische Kraft, die aus den Grenzen der Stimmungslyrik des 19. Jahrhunderts völlig herausführt, aber auch auf jede Lebensunmittelbarkeit verzichtet und dadurch eine neue Situation des dichterischen Wortes zu erkennen gibt. Das Wort rückt auf neue Weise in sein Gefüge, weil es aus der Gegenstandsnähe auf seinen eigenen Verweisungszusammenhang umgewendet wird. In den Büchern der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten begegnet eine gelöstere, weniger befremdliche Sprache,
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ein freierer Ton. Die Verse besitzen neues Eigenleben, als wollten sie bestimmte Gestalten wachrufen, auf menschliche Vorbilder hindeuten, wie sie in verschiedenen Geschichtsräumen wirksam wurden. Man mag sich dabei an Zeichnungen griechischer Vasenbilder erinnern oder an die Figuren mittelalterlicher Grabplatten oder an Motive orientalischer Erzählungen. Aber die Darstellung dieser beispielhaften Formen des menschlichen Daseins will nicht geschichtliche Situationen als solche erläutern, sondern erprobt nur die gesetzgebende Kraft der Sprache auf neue Weise. Der Vers zeichnet Bilder, gibt der drängenden Fülle des geschichtlichen Lebens Umriß und Prägnanz, indem er im vergangenen Menschentum das Vorbildliche bezeichnet und das Maß umgrenzt, durch das es beispielhaft wirken kann. In der Durchformung der geschichtlichen Wirklichkeit bewährt der Vers seine ordnende und gestaltende Kraft. Die Bilderwelt der Geschichte - wie vorher die der Natur verwandelt sich in eine künstliche Welt der Sprachgesten, die eine Haltung der Zucht und Schönheit bezeichnen. Die Gedichte fugen sich zu drei großen Zyklen zusammen, die menschliche Verhaltensweisen in den drei Bildbereichen der Antike, des christlichen Mittelalters und des orientalischen Fürstenlebens spiegeln. Die zyklische Form des Dichtens wird in einem sonst kaum bekannten Maß wirksam, weil sich in der zyklischen Abwandlung eines durchgehenden Themas die gesetzgebende Kraft des Wortes nur deutlicher bezeugt. Die geschichtliche Überlieferung bietet den gemeinsamen Boden an, um Bilder und Zeichen aufzurichten, die von der Dauer beispielhafter Lebensformen zeugen und doch erst durch das auswählende Wort wieder lebendig werden. Das Vorwort betont, daß hier nicht »das bild eines geschichtlichen oder entwicklungsabschnittes« entworfen werden soll; »von unseren drei grossen bildungsweiten ist hier nicht mehr enthalten als in einigen von uns noch eben lebt«. Es kommt auch hier auf Sprachfügung, Satzbewegung, Wortwahl und Stilisierung an, weil menschliche Haltungen und Gebärden durch die sprachliche Prägung greifbar werden sollen. Ein Gedicht wie »Flurgottes Trauer« wirkt wie die Zeichnung mit einem Silberstift, weil immer die Sprachfugung als Fügung betont wird; mit Worten werden Linien nachgezogen und Bilder entworfen wie in einer mythologischen Komposition, die Mädchen, die Landschaft, der Flurgott, sein Bitten, sein Spiegelbild in der Quelle, das Spiel auf der Flöte, die Klage über die fehlende Schönheit. Im Spiel von Gott und Nymphen geht es um Macht und Recht der Schönheit; die Verse wollen nicht schildern, sondern im Fügen der Worte das Maß des Schönen von 309
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neuem verwirklichen. Dabei spielt offenbar das Versmaß eine besondere Rolle, so unscheinbar es auch anmuten mag; es ist ein regelmäßig alternierender Fünfakter im jambischen Tonfall, ungereimt und ohne eigentliche Stropheneinteilung, aber so, daß durch die Druckanordnung den elf Zeilen der einen Seite die zwölf Zeilen der anderen gegenüberstehen. Erst wenn man die Überschrift als eigene Zeile hinzunimmt, sind beide Teile gleich ausgewogen. Die Überschrift findet ihr Gegenstück in der Schlußzeile mit ihrer epigrammatischen Kürze: der Flurgott klagt zum Herrn der Ernte, weil er ihm »zum ewigsein die Schönheit nicht verlieh«. Dieser Gedichtaufbau erhält seine Lebendigkeit durch die rhythmische Spannung, in der der Versbau zum Satzbau steht. Der Zeilenschluß fällt nur gelegentlich mit der Satzgliederung zusammen, so daß das Enjambement sowohl Pausen im Zeileninnern wie Übergänge am Zeilenende erzeugt. Das Spannen und Lösen in der Sprachbewegung bestimmt die Gedichtform; besonders der letzte Satz, der über sieben Verse hinweggreift, gibt zu erkennen, wie die Sprache im Vers vibriert: Flurgottes Trauer So werden jene mädchen die mit kränzen In haar und bänden aus den ulmen traten Mir sinnbeschwerend und verderblich sein. Ich sah vom stillen haus am hainesrand Die grünen und die farbenvollen Felder Zur sanften halde steigen und den weissdorn Der bluten überfluss herniederstreun: Als sie des weges huschend mich gewahrten · Verhüllte dinge raunten und dann hastig Und lachend mir entflohn trotz meiner stimme · Trotz meiner pfeife weichem bitte-tone. Erst als ich an dem flachen borne trinkend Mir widerschien mit furchen auf der stirn Und mit verworrnen locken wusst ich ganz Was sie sich zischend durch die lüfte riefen Was an der felswand gellend weiterscholl. Nun ist mir alle lust dahin am teiche Die angelrute auszuhalten oder Die allzu schwache weidenflöte lockend Mit meinem finger zu betupfen · sondern Ich will den abend zwischen grauen nebeln Zum Herrn der Ernte klagen sprechen weil er Zum ewigsein die Schönheit nicht verlieh. 310
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Keine dieser Zeilen ist in sich geschlossen; die Sinneinheiten sind entweder kürzer als der Vers oder übergreifen die Zeilenenden; die Konjunktionen geraten dadurch am Zeilenende in eine ungewöhnliche Isolierung — das oder, sondern, weil er —, während die Pausen sowohl im Zeileninnern wie am Zeilenende ein sehr wechselndes Gewicht erhalten. Ebenso auffällig bewegt sich die Wortwahl zwischen Neubildungen, archaisierenden Formen und eigenwilligen Wortverwendungen: sinnbeschwerend, farbenvoll, Bitteton, neben Worten wie Hainesrand, huschen und raunen, Born; Wortverwendungen wie »der Blüten Überfluss herniederstreun, die Angelrute auszuhalten, die Weidenflöte betupfen, Klagen sprechen«. Dabei bleiben die Bildvorstellungen eigentümlich ornamental: Mädchen mit Kränzen in Haar und Händen, das Spiegelbild: »als ich an dem flachen borne trinkend Mir widerschien«. Man mag fragen, wie weit die Gesten der wachgerufenen Bilder ausdeutbar sind und sowohl auf die Fülle des Lebens wie auf die Haltung der Reflexion und Bewußtheit als die die Schönheit störende Einstellung zu beziehen sind. Denn die kunstvolle Sprachfügung ist nicht als artistischer Selbstzweck gemeint, sondern als ein Tätigsein des Geistes, der sich im Wort seiner selbst versichert und dadurch zugleich seine Welt ordnend durchdringt. Die Bildersprache der Geschichte muß hier zu erkennen geben, wie Schmerz und Trauer, Verlangen nach Schönheit, Liebe oder Ruhm, die Haltung der Verehrung, des Dienstes, der Ergebung oder der Stolz der Einsamkeit und das Gefühl des Erwähltseins eine heutige Seele erfüllen. Dabei bleiben die Gedichte eigentümlich in sich verschlossen; sie wirken als Form und Gebilde und gestatten keinen Einblick in individuelle Erlebnisse oder Probleme, sondern erfüllen ihre Aufgabe im dichterischen Umgang mit dem Wort. Man kann höchstens fragen, wie es zu solcher Selbstvergewisserung des Menschen kommt, zu einer formbereiten Sprache des Prägens und Setzens. Das Verhältnis des Menschen zu den ihn beanspruchenden Lebensgewalten steht auch hier in Frage, wird aber nicht als individuelle Einzelerfahrung entfaltet, sondern im sprachlichen Handeln bestanden. Das Dichten wird als ein geistiges Tun im Andrang der Lebenskräfte wirksam. So ist auch Das Jahr der Seele von der stimmungsgebundenen Naturlyrik sehr weit entfernt. Wohl ist es das Buch, das zu breitester Wirkung gelangt ist, vor allem weil es durch die Naturbilder sich vertrauteren Vorstellungen vom Gedicht nähert. Aber man verstünde es falsch, wenn man es auf jene pantheistische Einheit von Mensch und Natur bezöge, wie sie seit Rousseau und dem jungen Goethe bestimmend geworden
Das Gedicht bei Stefan George war. Nicht der Einklang von Innen und Außen, von Mikrokosmos und Makrokosmos wird gesucht; die Natur erscheint selbst nur wieder als eine den Menschen erfüllende Bilderwelt, fremd und fern, in sich wirklich, aber ohne direkten Bezug zum menschlichen Begreifen und Verstehen. So kann sie in das Wort des Verses hineingenommen werden, aber nur, um zeichenhaft auf menschliche Situationen und Verhaltensweisen hinzudeuten. Die Naturbilder werden zu Metaphern für innere Zustände, geben aber nicht vor, etwas über das Verhältnis von Mensch und Natur aussagen zu können. Nur im Sprechen ordnet sich hier der Mensch die ihm bekannte Natur als zugehörig zu; er sieht sie, kennt sie, weiß sich auch selber im Bezug zu ihr und kann doch nicht mehr sagen, als was ihn bildhaft erfüllt und ihn auf seinen eigenen Zustand zurückweist. Die in sich verschlossene Natur ist wohl nie vorher so ins Wort geholt worden wie durch George, eine Natur, in der sich der Mensch bewegt und tätig wird, der er deshalb auch sprachlich handelnd begegnen kann, die sich aber dem menschlichen Verständnis entzieht. Die Herbstgedichte im Zyklus »Nach der Lese« gewinnen dadurch Einfachheit und Intensität. Wie zwei Liebende im herbstlichen Park die Zeichen des Spätjahrs wahrnehmen, wird Zug für Zug aufgerufen; ihr Tun verfolgen wir: sie »schreiten auf und ab«, sie »sehen« die verspäteten Blüten, »suchen« einen besonnten Ruheplatz, »blicken und horchen«. Indem die Verse die Situation bildhaft eingrenzen, geben sie zugleich jene Verhaltenheit zeichenhaft zu erkennen, die das Verhältnis der beiden Menschen zueinander bestimmt. Auch in ihnen wirkt das »milde Leuchten«, aber im übertragenen Sinn, als Symbolik des Gefühls. Nicht Identifikation, sondern Distanz ist das Gesetz dieser Gedichte, so daß in der Verhaltenheit des Wortes die Not und Gefährdung herbstlichen Abschieds spürbar wird. Wir schreiten auf und ab im reichen flitter Des buchenganges beinah bis zum tore Und sehen aussen in dem feld vom gitter Den mandelbaum zum zweitenmal im flore. Wir suchen nach den schattenfreien bänken Dort wo uns niemals fremde stimmen scheuchten · In träumen unsre arme sich verschränken · Wir laben uns am langen milden leuchten Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen Von wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen 312
Das Gedicht bei Stefan George
Und blicken nur und horchen wenn in pausen Die reifen fruchte an den boden klopfen.
Die vierteiligen Reimstrophen geben der Einzelzeile ein stärkeres Eigengewicht als die reimlosen Verse der »Hirtengedichte«, als sollten wir in den Einzelbildern ausruhen; aber zugleich geht die Satzfügung als drängende Bewegung durch die Strophen hindurch, bis zu den Schlußversen: die an den Boden klopfenden reifen Früchte wollen als das abschließende Zeichen verstanden sein, unter dem die Begegnung der Liebenden steht. Abschied und Trauer spricht sich aus und bezeugt das dem Menschen gesetzte Maß. Ohne daß eigentlich von Gefühlen gesprochen würde, sind sie durch die Sprachform vernehmbar. Gelegentlich mag ausdrücklicher auf einen inneren Zustand verwiesen werden; aber es bleibt auch dann dabei, daß das Gefühl sich nicht naturhaft unmittelbar ausdrückt, sondern als seelisches Geschehen sich durch eine Symbolwelt zu erkennen gibt. Die Gefühlszustände setzen die Kräfte des Geistes in Tätigkeit und das prägende Wort stellt die Bilder der Natur so, daß sie mehr auf die persönliche Gefaßtheit als auf die ErlebnisbetrofFenheit verweisen. Die für Georges lyrisches Sprechen bestimmende Grundhaltung wird dann im »Vorspiel« zu Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod, 1899, mit der Willensmetaphysik Nietzsches in eine dichterisch fruchtbare Verbindung gebracht. Dies »Vorspiel« ist ein Zyklus von 24 Gedichten, in denen das lyrische Ich nach den Grundlagen und der Art seiner Selbstgewißheit fragt und sich vom Engel als dem Boten des schönen Lebens bestimmt weiß. Die Ich-Aussprache bleibt auf die Gestalt des Engels und damit auf den Boten des im Menschen sich selber wollenden Lebens bezogen. Der Zyklus beginnt: Ich forschte bleichen eifers nach dem horte Nach strofen drinnen tiefste kümmerniss Und dinge rollten dumpf und ungewiss Da trat ein nackter engel durch die pforte: Entgegen trug er dem versenkten sinn Der reichsten blumen last und nicht geringer Als mandelblüten waren seine finger Und rosen rosen waren um sein kinn. Auf seinem haupte keine kröne ragte Und seine stimme fast der meinen glich: Das schöne leben sendet mich an dich Als boten: während er dies lächelnd sagte 313
Das Gedicht bei Stefan George
Entfielen ihm die lilien und mimosen Und als ich sie zu heben mich gebückt Da kniet auch ER · ich badete beglückt Mein ganzes antlitz in den frischen rosen.
Diese Verse leben aus einer doppelten Bewegung: Der Unruhe des bleichen Eifers, der dumpfen Ungewißheit, des Ausgesetztseins tritt antwortend der Engel gegenüber; diese Polarität, die durch alle die Gedichte hindurchgeht, läßt erkennen, wie sehr das Ich in eine Verlorenheit geraten ist, wie hier keine selbstverständlich anerkannte Ordnung mehr gilt, in der sich das Ich geborgen weiß und wie nur das Erscheinen des Engels eine neue Sicherheit verbürgt. Aber wer ist dieser Engel? Es ist keine herrscherliche Erscheinung mehr, keine Gestalt, die sich in einem entschiedenen Sinn vom eigenen Leben abhübe, sondern deren Stimme fast der des Ich gleicht. Damit ist offenbar, daß dieser Engel dem beunruhigten Ich nicht von außen entgegentritt, sondern ihm innerlich zugeordnet bleibt, daß das Ich und der Engel sich eigentümlich entsprechen, freilich nur so weit, als ein »fast« dieses »gleichen« auch wieder aufhebt. Eine weitere Auskunft erhalten wir in den Zeilen, in denen sich der Engel den »Boten des schönen Lebens« nennt und als solcher die anfängliche Beunruhigung des Ich zu beschwichtigen verspricht. Daraus ergibt sich, daß das Ich sich von einem Lebensgeschehen her begreifen lernt, das in der Erscheinung des Engels fast identisch mit dem Ich ist; das Ich soll sich als Boten des Lebens verstehen und zwar so, daß dessen Schöne offenbar wird. Die Stilisierung und Metaphorik, unter der der Engel erscheint, hebt ihn in eine sakrale Sphäre, die nicht zur Verfügung stünde, sofern er einfach Bote des Lebens wäre; es geht um eine durch die Blumenmetaphorik umgrenzte Sphäre des Schönen, die nicht in einem Jenseits des Mythos, sondern im Leben selbst gefunden wird; es ist ein Sakrales, das zwar den Unterschied zwischen »Leben« und »schönem Leben« stiftet und auch im Hinblick auf das Ich einen Anspruch begründet, aber im übrigen mit dem im Ich sich bezeugenden Leben identisch ist. Die Ich-Aussprache stellt sich also her im Vertrauen auf ein Eigentliches des Lebens, das dieses Ich schon selbst erfüllt. Das Gedicht gerät damit in die Nachbarschaft von Nietzsches Willensmetaphysik; der Mensch als der zum Leben »Erwachte« will sich als der vom Leben selber Gewollte sprachlich bezeugen. Wie Zarathustra sich als der Erwachte versteht, in dem das Leben sich selber will, so spricht das Ich des »Vorspiels« von dem Boten des schönen Lebens, dem es insoweit gleicht, als es in ihm seinem tieferen Selbst begegnet. Das Gedicht bezeugt also, wie
Das Gedicht bei Stefan George
sehr sich George die Voraussetzungen Nietzsches zu eigen gemacht hat und sich als der Dichter versteht, in dem das Leben sich Sprache gibt und unter das vom schönen Leben gewollte Gesetz stellt. Damit werden die Voraussetzungen erkennbar, von denen aus George im Siebenten Ring versuchen kann, über Nietzsche hinauszugehen, gerade indem er sich ganz auf dessen Hauptfrage nach dem Verhältnis von Geist und Leben einläßt. Das Gedicht als Sprachsetzung verwandelt nicht nur die Bilder der Natur und Geschichte in eine künstliche Welt des menschlichen Sinns, sondern gibt der Zukunftserwartung ein Ziel. Das im Selbst sich wollende Leben objektiviert sich im Bild des schönen Menschen, das das Wort des Dichters verkündet. So ordnen sich die Gedichte um ein innerstes Zentrum, um die Gestalt Maximins, als verkörpere sich in ihm die Stimme des schönen Lebens, als könne er im Sinne der Verse aus dem »Vorspiel« als ein Höchstes gelten, das ihm doch nur das Wort des Dichters verleiht. Im Frühjahr 1902 traf George einen kaum HJährigen Jüngling in München, Maximilian Kronberger. Im Januar 1903 sieht er ihn wieder; es entsteht zwischen ihnen ein Gedichtaustausch, die »Erwiderungen« im Siebenten Ring; im Frühjahr 1904 stirbt Maximin an einer Meningitis, gerade 16 Jahre alt. Auf diese Begegnung mit einem jungen Menschen bezieht sich jener innerste Kern der Dichtung Georges; er will als Folgerung eines lyrischen Verhaltens verstanden sein, das von früh an der sprachlichen Setzung eine gesetzgebende Kraft zuerkannte. Die Vergottung Maximins will als eine Sprachhandlung im Sinne des »Vorspiels« aufgefaßt sein und entspricht den Worten des Engels von dem im Bild sich bezeugenden Menschen. Der Zyklus »Maximin« beginnt mit den Versen: Dem bist du kind · dem freund Ich seh in dir den Gott Den schauernd ich erkannt Dem meine andacht gilt.
Hier kommt es nicht mehr darauf an, das Ich zu sich selbst zurückzurufen, sondern jetzt will die Sprache zugleich eine allgemeine Ordnung stiften, als ließe sich der Argwohn überspringen, daß die Dichtung dadurch nur wieder dem Schein und der Lüge sich aussetzt. Nietzsches Wort aus der Geburt der Tragödie, daß das Leben den Menschen durch die Kunst rettet, wird für George zur Aufforderung, solche rettende Kraft auch dem eigenen Wort zuzutrauen. Den von Nietzsche aus möglichen Humanismus versteht George als Rückwendung auf eine Schönheit des 315
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menschlichen Maßes, das sich im sprachlichen Handeln zu erkennen gibt. So wagt George den für ihn kennzeichnendsten Schritt von den Voraussetzungen Nietzsches aus. Im Bilde Maximins objektiviert er das sich selber wollende Leben, um so ein Maß des Menschlichen zu erzwingen, das durch das Wort des Dichters zur wirkenden Kraft werden soll. Man mag sich fragen, ob und wie weit dieser Weg Georges eine generelle Situation der modernen Lyrik erhellen kann. Gewiß lassen sich seine Themen und besonders seine persönlichen Erwartungen und Verhaltensweisen nicht verallgemeinern. Ob das Maß der Schönheit nur im Zeichen der sinnlichen Gestalt des menschlichen Leibes sich fassen läßt, mag offenbleiben; die Schönheit der Bezüge und des Kräftespiels hat sich immer weiter vom wachstümlichen Gebilde der griechischen Kunst entfernt. Damit gerät auch die Esoterik Georges nur zu leicht in den Verdacht eines neuen Klassizismus oder Manierismus. Aber entscheidend bleibt ein anderes: hier erneuert sich das lyrische Sprechen aus der Distanz zum Leben und seiner Alltäglichkeit; es bringt dadurch den Anspruch des Geistes im Leben und als Leben von neuem zur Wirkung. Die Verfremdung der Erfahrungswelt wird zur Bedingung, um das sprachliche Handeln, das Tätigwerden in der Sprache neu zu bewähren. Das Gedicht schränkt sich ein auf den Raum des prägenden setzenden Wortes und macht damit die Sprache wieder zu einer aktiven Kraft. Man wird deshalb George nicht als »Erben und Spätklassiker eines vielhundertjährigen lyrischen Stils« bei Seite schieben können, wenn man die Struktur der modernen Lyrik zu erkennen sucht; so wird man nur urteilen, wenn man an die ihm eigenen Themen und Gehalte denkt, aber nicht wenn man nach dem Verhältnis des Dichters zur Sprache fragt. Die prägende Kraft des Wortes hat George durch sein Werk in eine erhellende Beziehung zur Sprachverleugnung des naturalistischen und technischen Zeitalters gebracht; seine Haltung des Widerstands und Widerspruchs zu diesem Zeitalter findet darin ihre tiefere Rechtfertigung.
Der Strukturwandel der modernen Lyrik in Rilkes Neuen Gedichten*
Zwischen der modernen Lyrik und den überkommenen Vorstellungen vorn Gedicht ist eine Kluft entstanden, wie sie ähnlich im Bereich der Malerei die Gemüter beunruhigt. Tradition und Neubeginn stellen sich gegenseitig in Frage. Die neuen Sageweisen entsprechen einem sehr komplexen Sachverhalt, der sich kaum auf eine Formel bringen läßt. Doch kann man vielleicht von einer alltäglichen Beobachtung ausgehen, von der Vielschichtigkeit und auch Widersprüchlichkeit der den heutigen Menschen beanspruchenden Sprachwelten, die sich aus der Vielgestaltigkeit seiner Lebensbeziehungen ergeben. Die Sprachen des praktischen Alltags, der subjektiven Empfindungen und religiösen Überzeugungen des Gewußten und Gedachten bilden nicht mehr eine in sich geschlossene Einheit, sondern entwerten sich wechselweise oder sind in Frage gestellt durch die Sprache einer technisierten und immer weiter sich spezialisierenden Berufswelt, durch propagandistische Sprachregelungen der Funktionäre des Gesellschaftsapparates und durch die den Menschen ausschaltende Formelsprache der Physiker. Das Problem der Kulturkritik, die Selbstentfremdung des Menschen durch seine Teilhabe an einer hochdifferenzierten Kultur, begegnet zugleich als sprachliches Problem, als zerfiele die Bewußtseinswelt des Menschen in ebenso viele Sprachbereiche wie Lebensfunktionen. Die Einheit des Ichbewußtseins droht verlorenzugehen, je disparatere Sprachwelten den Einzelnen beanspruchen. In dieser Situation genügt es offenbar nicht mehr, den Sprechenden auf die persönliche Gefühls- und Erlebniswelt zu verweisen, als ließe sich dadurch die Einheit seines sprachlichen Verhaltens zurückgewinnen. Die Disparatheit der Sprach weiten stellt den subjektiven Gefuhlsausdruck in Frage; er kann sich nicht mehr als die eigentliche Grundlage der Lyrik behaupten. Die Subjektivierung der lyrischen Sprache im Erlebnis- und Stimmungsgedicht, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert durchsetzte, war * In: Wirkendes Wort \2, 1962, H. 6, S. 336-354. 317
Rilkes »Neue Gedichte«
nur so lange tragfähig, als das subjektive Gefühl einen unmittelbaren Zugang zum Lebensgeschehen zu eröffnen versprach. Das Gedicht als Gefühlsausdruck konnte damals eine entscheidende Bedeutung gewinnen, weil es in einer sachlich erforschbaren und gesetzlich bestimmten Welt von der individuellen Teilhabe an einem lebendigen Ganzen zeugte; es verwies vom persönlichen Blickpunkt aus auf eine perspektivisch überschaubare Unendlichkeit des Lebendigen, ähnlich wie es die an das perspektivische Raumbild gebundene Malerei durch die Fixierung des Augenpunktes tat. Aber die Gefühlsaussprache verlor ihre begründende Bedeutung für die Lyrik ebenso wie der perspektivisch gesehene Gegenstand für die Malerei; es entstand statt dessen eine Aufbruchsbereitschaft, die sich nicht damit begnügte, die neuen Inhalte der Industriegesellschaft in die alten Formen hereinzuholen, sondern die versuchte, neue Darstellungsformen zu entwickeln, um den Aufspaltungen der Sprache entgegenzuwirken. So ist für die moderne Lyrik nicht mehr der Erlebnis- und Gefühlsausdruck entscheidend, sondern die lebendige Sprachfigur und Werkstruktur. Es geht darum, im Gedicht die Sprache in eine Eigenbewegung zu bringen, so daß die widerstreitenden Sprachdimensionen miteinander in Austausch kommen und dadurch ihre Zuordnung zum Menschen wieder zu erkennen geben. Die Sprache als funktionales Gefüge kommt mit sich selbst in Übereinstimmung trotz der Gegensätzlichkeit der einzelnen miteinander streitenden Sprachbereiche und behauptet sich dadurch als eine geistige Kraft, die dem Gedicht sein Eigenleben zurückgibt. Wir versuchen, diesen schematisch skizzierten Wandel im Werk Rilkes in seinen konkreten Voraussetzungen und dichterischen Konsequenzen genauer zu fassen, ohne darum zu meinen, daß sich von seinem Dichten aus alle Möglichkeiten der modernen Lyrik bestimmen ließen.'
Man hat gelegentlich betont, daß die Struktur der modernen Lyrik bei den Franzosen des 19. Jahrhunderts zuerst in Erscheinung trat und sich von Rimbaud und Mallarme aus erhellen läßt. Aber unabhängig von der Frage nach der Herkunft neuer Formen bleibt die Aufgabe bestehen, die Voraussetzungen und Bedingungen des Formenwandels im eigenen Sprachraum zu erläutern. Erst dann läßt sich fassen, wie die neuen Möglichkeiten eine begründete Funktion erhalten. Es ist schade, daß Hugo Friedrich in seinem so eindringlichen Buch Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire his zur Gegenwart, Hamburg 1956 (Rowohlts deutsche Enzyklopädie), die deutsche Lyrik nur am Rande und mit gar zu schematischen oder auch mißgünstigen Urteilen bedenkt, als ob Rilkes Dichten sich auf eine »inspirative Ergriffenheit« fragwürdigen Charakters beschränkte (S. II6) oder Stefan George als »Spätklassiker eines vielhundertjährigen lyrischen Stils« (S. 8) ohne Bezug zur eigentlichen Moderne bliebe. 318
Rilkes »Neue Gedichte«
Als Rilke Anfang 1907 daranging, seine zuletzt entstandenen Gedichte als Buch herauszugeben, sprach er von dem »neuen Gedichtbuch« oder den Gedichten »aus den neuen Zusammenhängen«, ohne sich auf einen bestimmteren Titel zu richten.2 Allenfalls dachte er daran, nur schlicht »Gedichte ... aus den Jahren 1905 bis 1907« zu sagen.3 Es blieb schließlich dabei, daß die so beiläufig klingende Bezeichnung Neue Gedichte dem Buch den Namen gab und dadurch eine vielsinnige, gewichtige Bedeutung erhielt. Rilke schrieb seiner Frau: »Das neue Buch wird einfach >Neue Gedichte< heißen. Uns fällt nichts Besseres ein. Und das sind sie ja auch, vielleicht in mehr als einem Sinn: neue Gedichte: nicht?«4 Wir dürfen also fragen, in welcher Hinsicht es neue Gedichte sind, ob nur in bezug auf Rilkes eigene Entwicklung oder als Zeichen eines Neubeginns innerhalb der deutschen Lyrikgeschichte, als Durchbruch einer neuen Lyrikgesinnung im Zusammenhang mit der Situation der modernen Kunst. Die frühesten Gedichtbücher Rilkes, die gegen die Jahrhundertwende erschienen waren, zeugten noch von seinem engen Zusammenhang mit der Tradition der Stimmungslyrik, zugleich aber auch von deren Entleerung und Gefährdung durch einen gesteigerten Subjektivismus. Es gelang kaum mehr, die Gefühle und seelischen Erfahrungen mit der konkreten Lebenswirklichkeit in Austausch zu bringen; die Sensibilität drohte die Vorstellungswelt in das Traumspiel der Metaphern aufzulösen. So konnte nur eine Neubesinnung helfen, wie sie sich zuerst im Stunden-Buch anbahnte, das in den Jahren 1899 bis 1903 entstand und die religiöse Thematik wie die Form des Gebets der alten »livres d'heures« aufgriff, um sie für die lyrische Sprache eines monistischen Lebensglaubens fruchtbar zu machen. Die Verse fragten nun vor die Scheidung von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt, Innen und Außen zurück und wandten sich dem namenlosen Dunkel zu, aus dem alles Dasein hervortritt. Sie wiesen " R. M. Rilke, Briefe an seinen Verleger 1906—1926, 2 Bde., hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, neue erweiterte Ausg., Wiesbaden 1949, Bd. I, 9. II. und 28. II. 1907, S. 17 und 19. 3 Ebd., 14.8.1907, S. 28. 4 Rilkes Briefe werden nach der ersten Ausgabe zitiert: R. M. Rilke, Briefe, j Bde., hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1929- 1937. Es handelt sich vor allem um folgende Bände: Bd. 2: 1902 bis 1906, 1929; Bd. 3: 1906 bis 1907, 1930; Bd. 4: 7907 bis 1914, 1933; Bd. 5: 1914-1921, 1937. Für die Briefe an Lou Andreas-Salome ist zu vergleichen: R. M. Rilke, Lou Andreas-Salome, Briefwechsel, mit Erläuterungen und einem Nachwort hrsg. von Ernst Pfeiffer, Zürich 1952. Vgl. Rilke, Briefe 1906-1907, an Clara R., 19.8.1907, S. 312. 319
Rilkes »Neue Gedichte«
auf das Leben als die alles bestimmende Macht hin, der sich der Mensch überantwortet weiß, die ihn durchwaltet und der er sich ebenso beunruhigt wie vertrauend zuwendet. Aber wenn damit auch die Subjektivität sich auf das Lebensgeschehen, auf die Natur als das ihr zugeordnete Du verwiesen sah, so vermochten die Verse doch nur schwer die besonderen Gestalten des Daseins greifbar zu machen. »Damals war mir die Natur noch ein allgemeiner Anlaß, eine Evokation, ein Instrument, in dessen Saiten sich meine Hände wiederfanden ... Ich ... sah nicht die Natur, sondern die Gesichte, die sie mir eingab«, sagt Rilke im Rückblick auf diese Anfangsstufe.5 Das lyrische Bild mußte eine neue Bestimmtheit und Intensität gewinnen, ohne in das Metaphernspiel zurückzufallen. Jenseits der Subjektivierung oder Mystifizierung der dem Menschen zugehörigen Gegenstandswelt mußte deren Bildgestalt so sagbar werden, daß sie das dem Menschen gesetzte Maß zu erkennen gab. Damit erst wird die Aufgabe deutlich, vor der sich Rilke in den Neuen Gedichten sah, das »Neue«, dem er sich als Dichter gewachsen zeigen mußte, wenn er seinen Versen Gewicht und Bedeutung geben wollte. Durch die Begegnung mit den Malern in Worpswede und vor allem mit Rodin war ihm die Parallelität zwischen seinen Bemühungen und denen der bildenden Kunst seiner Zeit bewußt geworden; auch ihr genügte nicht mehr die gefühlsmäßige Aneignung und Durchdringung ihrer Themen — »die Stimmungsmalerei, die um nichts besser ist als die stoffliche«6 -, auch sie mußte in ein neues Verhältnis zur Gegenstandswelt kommen, jenseits der Verstofflichung wie der stimmungsmäßigen Subjektivierung. So suchte Rilke sich weiterhin an den ihm in Paris begegnenden Werken der modernen Kunst zu orientieren, an Manet und van Gogh vor allem, bis ihm im Herbst 1907 die Bilder Cezannes als echtes Gegenstück zu den eigenen Bemühungen wichtig wurden. Er habe »die Wendung in dieser Malerei« erkennen können, weil er sie selbst eben in seiner Arbeit erreicht habe, sagt er in einem Brief vom 18. Oktober 1907. Dabei mochten die Bücher von Julius Meier-Graefe über Manet, über den modernen Impressionismus, über die Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst (1902—1904 u. ff.) ihn mit angeregt und in seiner Beobachtungsrichtung bestärkt haben. Nachdem es im Mai 1906 zum Bruch mit Rodin gekommen war, sah sich Rilke erst recht aufgefordert, der ihn bedrängenden
5
Ebd., an Clara R., 13.X. 1907, S. 377. Ebd., 13. . 1907, S. 378. J2O
Rilkes »Neue Gedichte«
kritischen Situation durch eigene Produktivität zu begegnen und als Dichter mit den bildenden Künstlern zu wetteifern. Innerhalb weniger Monate wuchs die Sammlung der Neuen Gedichte zu einem umfänglichen Zyklus heran, so daß dem ersten Band von 1907 schon im Herbst 1908 der zweite folgte. Es sind Gedichte, die sich von den Grundlagen der Erlebnis- und Stimmungslyrik aus nicht mehr fassen lassen und aus den Traditionen der Goethezeit herausführen; sie binden sich nicht an den Erlebnisaugenblick, sondern sind aus der »Bewältigung des Angeschauten«7 erwachsen als ein »persönliches Besitzergreifen der Außenwelt«.8 Dem Gedicht ist deshalb nicht mehr der Erlebnischarakter, sondern der Werk- und Bildcharakter wesentlich. Die Art, wie es als Sprachding sein Eigenleben besitzt, ermöglicht ihre Zusammenfügung zum Zyklus; in jedem einzelnen kommt es darauf an, das Anschaubare sagbar zu machen, aber so, daß es in der ihm eigenen Lebendigkeit zur Geltung kommt und dadurch auf ein Inneres zurückführt. So werden die Neuen Gedichte zu einem beispielhaften, großen Werk der modernen Lyrik, das sich eher neben Baudelaires Fleurs du Mal stellen läßt als neben Goethes Gedichte. Innerhalb der Entwicklung der deutschen Lyrik stehen sie an einem bedeutsamen Wendepunkt; sie bezeugen, daß die Erneuerung der Lyrik nicht durch neue Stoffe und Themen in Gang gesetzt wird, sondern durch neue Vorstellungs- und Sageweisen. Seit Herder und dem jungen Goethe sah sich das lyrische Sprechen auf den möglichst unmittelbaren Gefühlsausdruck verwiesen. Aber diese scheinbar so selbstverständliche Voraussetzung des Dichtens erwies sich doch in wachsendem Maße als problematisch. Das Gefühl konnte den Menschen über seine eigentliche Situation hinwegtäuschen und ihn in eine Traumwelt schöner Empfindungen und Stimmungen entfuhren, während die ihm zugehörige Umwelt mit ihren Konflikten und Bedürfnissen als unpoetisch beiseite geschoben wurde. Darüber hinaus konnte die Unbeständigkeit des Gefühls seine Selbstsicherheit aufheben und eine ironische Bewußtseinskritik rechtfertigen. Die Einstimmung in die Natur, in den rhythmischen Wechsel der Tages- und Jahreszeiten etwa mochte den Menschen wohl auf das Element seines Daseins verweisen, auf seine Teilhabe an naturhaften Vorgängen, ohne doch auf die Frage nach Sinn und Ziel seines Weges zu antworten. Je mehr die wissenschaftliche Erforschung und BerechRilke, Vcrlegerbriefe (Anm. 2), 19.8.1907, S. 30. Ebd., 11.3.1908, S. 38. 321
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nung der Naturvorgänge die Naturbeziehung des Menschen versachlichte, um so fremder und menschenferner wurden die Erscheinungen, an denen sich das Gefühl entzündet. Die Desillusionierung des Stimmungstons ist deshalb seit Heine für die deutsche Lyrik ebenso kennzeichnend wie die wachsende Verengung des Gefühlsraumes, die Verarmung der Sprache zugunsten der Reflexion, der Pointe und Satire. Bei Liliencron scheint das Gefühl nur noch als Regung der Nerven auf die physiologischen und psychologischen Vorgänge zu antworten. Je mehr darüber hinaus die technische Beherrschung der Natur die Lebensformen veränderte, je mehr die industriellen Erzeugnisse an die Stelle der handwerklichen Gebrauchsgegenstände traten, um so weniger konnte sich die Lyrik ihrer gewohnten Bilderwelt überlassen. Die Symbolkraft der vom Stimmungston mitgetragenen Dinge und Gestalten verblaßte in dem Maße, wie sie im Leben selbst bedeutungslos wurden: der Brunnen, die Kerze, die Mühle, das Posthorn verloren sich in die Unwirklichkeit einer nur poetischen Welt und ließen sich durch die Wasserleitung, die Glühbirne, die Fabrik in ihrer poetischen Funktion nicht ersetzen. Entsprechend wurde es immer unmöglicher, das menschliche Schicksal in den elementaren Gestalten des Hirten, Jägers oder Landmanns aufzurufen, je mehr es aus der Differenzierung und Funktionalisierung aller Tätigkeiten erwächst. So wird es für Rilke zur dringlichen Frage, wie das »innere Leben« noch »ins Sichtbare ausschlägt«; er meint 1910: »Es wird immer schwerer, für das, was die Seele tut, die äußere Handlung zu finden.«9 Er ist sich dessen bewußt, daß unsere Voreltern eine Aufspaltung zwischen »vagen phantastischen Bildern« und der Wirklichkeit heraufbeschworen haben, so daß es uns zugefallen ist, Nähe und Weite »als die eine Wirklichkeit, die in Wahrheit nirgends eingeteilt oder abgeschlossen ist«,10 wiederherzustellen. Diese Wirklichkeit, die Innen und Außen des menschlichen Daseins umgreift, wird ihm nicht mehr durch die einzelnen Gegenstände oder Erlebnisse faßlich, sondern erst durch die Bezüge, in denen sie stehen. Die Bewältigung des Angeschauten, der Außenwelt, kann deshalb im Gedicht nur gelingen, wenn alles Einzelne nicht nur sachlich bezeichnet oder gefühlsmäßig belebt wird, sondern in eine beziehungsreiche Sprachgestalt eingeht. Es war der Irrtum der naturalistisch-sozialkritischen Lyrik, daß sie meinte, durch eine inhaltliche Beziehung zur sozia9 10
Rilke, Briefe 1907-1914 (Anm. 4), i8.ii.igio, S. 115. Rilke, Briefe 1906-1907 (Anm. 4), 25.2.1907, S. 206. 322
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len Situation des Fabrikarbeiters oder zum Leben in der großstädtischen Mietskaserne das Gedicht erneuern zu können. Rilke dagegen ändert wie vor ihm schon Stefan George - die Verfahrensweise des lyrischen Sprechens, um das Gedicht an die Selbsterfahrung des Menschen wieder heranzuführen. Das lyrische Ich kann sich bei ihm nur noch vorn Spiel der unsichtbaren Kräfte her begreifen, nicht aber von den Themen oder Erlebnissen als solchen. Er sagt 1907: »Wir haben im Grunde nur dazusein, aber schlicht, aber inständig, wie die Erde da ist ..., nicht verlangend, in anderem aufzuruhen als in dem Netz von Einflüssen und Kräften, in dem die Sterne sich sicher fühlen.«" Es ist die Leistung der Neuen Gedichte, daß sie ihre Bilderwelt nur dadurch zur Geltung bringen, daß sie von den Dingen des Lebens aus das »Netz von Einflüssen und Kräften« zu erkennen geben, in dem sich der Mensch als ein von innen her bestimmter erfährt. Die neue Sageweise hat sich zuerst in dem Gedicht »Der Panther« durchgesetzt, das schon im September 1903 in einer Zeitschrift Deutsche Arbeit veröffentlicht wurde und wohl Anfang des Jahres, also bedeutend früher als der Zyklus sonst, entstanden war. Man wird annehmen können, daß Rilke dieses Gedicht als eine Art Grundtypus kommender Möglichkeiten aufgefaßt hat und das hier gewonnene Verfahren weiter zu entfalten und abzuwandeln suchte. Wenn wir seine Eigenart bestimmen wollen, müssen wir uns freilich dessen bewußt bleiben, daß die später entstandenen Gedichte meist in freierer Weise auf das »Angeschaute« zurückgreifen und sich noch mehr von der Beschreibung eines Gegenübers lösen. Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein. Ebd., 19.10.1907, S. 395. 323
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Gewiß, in diesem Gedicht begegnet eine Haltung des Aufmerkens, des Anschauens; aber zunächst ist nur eine Einzelheit, der »Blick«, wichtig, also etwas sachlich schwer Bestimmbares, das sich als ein Lebendiges der Beschreibung entzieht. Jede der drei Strophen setzt mit genau aufmerkenden Worten ein; ein gefangenes Wesen taucht vor uns auf, der »weiche Gang« der Wildkatzen, ihre Bewegung im Käfig, das zögernde Öffnen der »Pupille«. Die Einzelheiten scheinen wie von einem naturwissenschaftlichen Beobachter festgestellt zu sein; und doch haben wir es nicht mit sachlichen Angaben zu tun, da von Anfang an eine innere Beteiligung mitschwingt, schon durch den unvermittelten Einsatz der Verse mit dem Possessivpronomen - »sein Blick« —, das uns in eine Situation hineinnötigt. Dann überrascht die kühne Verkehrung des Sachverhalts vom »Vorübergehn der Stäbe«, als gingen sie unaufhörlich am Blick des Tieres vorbei. Das faktische Bezugsverhältnis von Ruhe und Bewegung kehrt sich um und hebt sich damit als sachlicher Vorgang auf; das Tier in seiner gehemmten Kraft ist zum eigentlichen Bezugspunkt geworden und damit die Haltung des Beschreibens in Frage gestellt; es steht dem Beobachter nicht mehr gegenständlich gegenüber, sondern in gleichen Bezügen wie der Mensch; es gehört jenseits von Person- und Sachsphäre zu einem größeren Zusammenhang des Lebendigen. So führt das beschreibende Wort auf ein von innen her bestimmtes Verhalten hin, ohne daß wir darum von einer Subjektivierung des Tieres sprechen könnten, aber auch ohne daß ihm darum schon ein Gefühl, eine Seele zugewiesen würde. Es zeigt sich nur ein Lebendiges, dem etwas geschieht. Der Blick, der Gang, die Bewegung der Pupille deuten auf einen von innen her begreifbaren Zusammenhang, auf die Situation, die dem Tier zugehört, sein Gefangensein und Müdewerden. So kann jeweils die zweite Hälfte jeder Strophe ganz aus der Beschreibung herausfuhren und sich dem deutenden Wort überlassen. Das Tier wird nicht vermenschlicht, aber im Anschauen seiner Bewegungen zeigt sich das ihm zugehörige Innere, eine Befindlichkeit des »ihm ist«, die Betäubung eines »großen Willens«, eine »angespannte Stille«. Was der Blick aufnimmt, »hört im Herzen auf zu sein«. Innen und Außen lassen sich auch beim Tier nicht auseinanderlegen, so wenig wie sich die Teilhabe des Menschen am Dasein ausklammern läßt. Die beschreibende Vergegenwärtigung des Panthers verweist auf ein »Netz von Einflüssen und Kräften«, die den menschlichen Gefühlen entsprechen, ohne sie eigentlich zu meinen: das »müd geworden«, »keine Welt«, »betäubt«, »lautlos«, aber auch das »geschmeidig stark«, »Tanz von Kraft«, »geht ein Bild 324
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hinein« deutet auf eine innere Zuständigkeit. Das Dahinschwinden und Müdewerden der Kraft in der Gefangenschaft des Daseins teilt sich mit, als würde das Tier zum Symbol subjektiver Zustände. Aber es ist nicht so, daß nur die Gefühlssituation nach Vergleichen griffe und sich in Gegenständen symbolisierte. Das aufmerkende Anschauen bestimmt die Aussage; sie läßt das Tier in der ihm eigenen Fremdheit bestehen, so daß es als solches in das Wort hineingeholt werden kann; aber gerade dadurch wird es zum bewegenden Zeichen, zur Chiffre, die auf die Bezüge des Lebens verweist und den Menschen beansprucht. Das Gedicht will nicht Erlebnisausdruck im Sinne der individuellen Gefühlsaussprache sein, sondern Kunstding und Werkstück, das dem Namenlosen der Bezüge Sprache gibt. Es erprobt sich am beschreibenden Wort und dessen SubjektObjekt-Spannung, um die dem Leben zugehörige Grenze des Verschwiegenen und Innerlichen zu erreichen. Es entsteht damit eine gewisse Parallelität zu den Bemühungen der modernen Malerei; wie diese das perspektivische Raumbild und die ihm zugehörige Gegenstandsordnung verläßt, so verliert in der bei Rilke sich durchsetzenden modernen Lyrik die konkrete Erlebnissituation mit ihrer raum-zeitlichen Gefühlsbestimmtheit die zentrale Bedeutung. Dabei geht es Rilke nicht nur um eine möglichst nuancenreiche Vergegenwärtigung des Lebens - wie man wohl gemeint hat 12 —, sondern um die Überwindung sowohl seiner Vergegenständlichung und Verstofflichung wie der ihr entsprechenden Subjektivierung. Die Zuständlichkeit des Daseins wird wesentlicher als die subjektive Reaktion. Rilke selber hat es immer abgelehnt, die sich in seinen Gedichten vollziehenden Wandlungen des Weltverständnisses und lyrischen Verfahrens ausdrücklicher zu erläutern und zu deuten, so daß er sich auch weigerte, etwas von dem zu lesen, was andere über seine Sachen schrieben. Er fürchtete, daß das dann Ausgesprochene jenes Unbewußte vertreiben könnte, das »den Arbeiter mit seiner Arbeit« verbindet.'3 Er war davon überzeugt, daß »nur das zu gelten hat, was schon Arbeit geworden ist«, »losgelöst aus der undefinierbaren Komplexität des eigenen Lebens oder Wollens«.14 Aber wenn wir demnach die Bedeutung des Geleisteten vor allem am Werk selbst ablesen müssen, so bleibt doch aufschlußreich, wie Rilke in seinen Aufsätzen zur bildenden Kunst oder in gelegentli12
Vgl. Eudo C. Mason, Lebenshaltung und Symbolik bei R. M. Rilke, Weimar 1939. '·' Rilke, Briefe 1906-1907 (Anm. 4), 2. IX. 1907, S. 318. 14 Ebd., 29.3.1907, S. 238.
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chen Briefäußerungen seine Erwartungen vom Gedicht eingrenzt. Seine Blickrichtung gibt das neue Verhältnis zur Kunst zu erkennen; denn sie bezeugt, wie wenig er dem traditionellen Lyrikverständnis folgt. Nicht die Erlebnisflille und subjektive Stimmung, nicht die Unmittelbarkeit des Ausdrucks oder die Spontaneität des Tons beschäftigen ihn, so wenig wie die Technik der Sprach- und Versbehandlung; ihm geht es um das Dichten als eine eigene Art der Arbeit, einer Arbeit, die auf das Machen von Kunstdingen gerichtet ist und dabei auf das Anschauen von Dingen angewiesen bleibt. Die ihn bestimmenden Leitvorstellungen führen alle weit weg von dem genialisch-subjektiven Ausdrucksverlangen und weisen statt dessen auf den Werk- und Kunstcharakter des Gedichts, auf das »sachliche Sagen«, das sich für ihn sehr wohl mit dem Eigenrecht der lyrischen Sprache verträgt. Die Dinge, das Machen, die Arbeit, das Anschauen, das sind die Begriffe, von denen aus er sein Dichten beurteilt, nicht die Erlebnisunmittelbarkeit und augenblickliche Betroffenheit. Die für ihn kennzeichnenden Leitbegriffe erhalten einen besonderen Sinn, sofern sie auf das nur in Bezügen faßliche Leben verweisen. Die Neuen Gedichte bezeichnet er als ein »Buch: Arbeit«, das durch die »Kunstdinge« von der »herbeigerufenen und festgehaltenen Inspiration«'5 zeugen könne. Alles Angeschaute führt ihn auf die Arbeit zurück; 16 denn - wie er sagt: »Einsicht ist nur innerhalb der Arbeit.«17 Ziel dieser Arbeit ist das »Machen« der »Dinge«, die Umsetzung des Angeschauten in eine in sich lebendige Sprachgestalt. So berichtet er Paula Modersohn-Becker, der Malerin, von einem Besuch in Neapel: »Was haben wir alles gesehen! Ein Tisch mit Fischen allein war ungeheuer und so, daß ich Ihnen genauer davon erzählen müßte: Ihnen vor allem. Aber das will gemacht sein, nicht erzählt; und wenn ich einmal dazu ausreiche, es zu machen, so sollen Sie's lesen.«'8 In ähnlicher Weise spricht er von einem Rosenbeet im Jardin du Luxembourg in Paris: »So ein Beet möcht ich mal haben, wenn ich alt bin, und davor sitzen und es machen, aus Worten, in denen alles ist, was ich dann weiß.«'9 So wie der Panther aus Worten gemacht ist, sollen nun andere Dinge im Gedicht faßlich werden, aus der Sichtbarkeit in die Sagbarkeit umgesetzt werden; die Erscheinungen des Daseins, etwa die in der Stadt so frühzeitig spürba15
Ebd., 9.8.1907, S. 305. Rilke, Briefe 1907-1914 (Anm. 4), i.XI. 1907, S. 10. ' 7 Rilke, Briefe 1906-1907 (Anm. 4), 21.X. 1907, S. 403. 18 Ebd., 5. ." 9 7, S. 181. 19 Ebd., 9. VII. 1907, 8.293. rn
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ren Herbsttage, sollen nicht nur gesehen, gedeutet oder erinnert werden, sondern »gemacht«. Es regt sich eine Trauer, »vielleicht nur, weil man das alles schon einmal so tief in sich hineingesehen und gedeutet und mit sich verbunden hat, ohne es doch je zu machen«.20 Er wehrt ausdrücklich ab, nur die eigene Liebe zu den Dingen zu bezeugen, statt sie zu machen; die Liebe soll aufgebraucht werden in der »Aktion des Machens«; denn erst durch das »Aufbrauchen der Liebe in anonymer Arbeit« entstehen »reine Dinge«.21 Das Dichten als eine Arbeit, ein Machen in Worten gilt den vielfältigen Dingen des Lebens, so daß sie als »reine Dinge« zu Kunstdingen, zum Gedicht oder Bildwerk, werden. Man könnte diese Meinung im alltäglichen, vordergründigen Sinn auffassen, als solle das Gedicht die Beschreibung einzelner Dinge in eine kunstgerechte Form bringen; man würde damit die Dinge als die Gegenstände mißverstehen, über die der Mensch verfügt, und die Worte als die traditionellen Zeichen für solche Gegenstände. Offenbar meint Rilke mit den Dingen etwas anderes; sie weisen auf das dem Anschauen sich zeigende Dasein, dem sich der Mensch zugehörig weiß, in dem er auch selber tätig wird, das sich ihm aber zugleich als ein Fremdes und Vorgegebenes entzieht und das trotz seiner Bestimmtheit unsagbar bleibt; es ist die Arbeit des Dichters — oder entsprechend des Malers und Bildhauers — , dieses namenlose Sich-Zeigen der Dinge so in Sprache zu verwandeln, daß sich der Mensch seines Bezugs zum Dasein versichern kann. Was mit den Dingen und dem Machen der Dinge gemeint ist, läßt sich deshalb erst von den Kunstdingen her erläutern. Das Wort »Dinge« erhält bei Rilke eine besonders herausgehobene Bedeutung, bis hin zu den Versen der Duineser Elegien: »Preise dem Engel die Welt ... Sag ihm die Dinge .. ,«22 In den Briefen stellt sich das Wort immer wieder ein, bald beiläufig, bald gewichtig. Da wird von den »eigenen Dingen«23 im Hinblick auf die Entwürfe zum Malte gesprochen oder von den »merkwürdigen« oder »gediegenen« Dingen,24 die an fremden Orten die Beteiligung wecken, oder von den »unvergeßlichen«25 Dingen der griechischen Kunst oder den »unermeßlichen« Dingen in Ägypten26 -° Ebd., 13. IX. 1907, S. 326. -' Ebd., I3.X. 1907, S. 379. -- R. M. Rilke, Duineser Elegien, 9. Elegie. 21 Rilke, Briefe 1906-1907 (Anm. 4), 15.7. 1906, S. 51. 24 Ebd., 20.7.1906, S. 53; 9.9.1906, S. 69. -* Ebd., ii.9.1906, S. 76. 2rt Ebd., 5.2.1907, S. 181. 327
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oder den »nie gewesenen« Dingen, die ein neues Jahr bringen wird.27 Das Wort umgreift immer zugleich das Persönliche, das Sachliche und das Künstlerische und weist damit auf die Einheit des Lebendigen zurück. Als Rilke 1900 durch Heinrich Vogeler in die Künstlerkolonie Worpswede eingeführt wurde, benutzte er es schon als eine Art Schlüsselwort, um seine Übereinstimmung mit den Bemühungen der Maler zu erläutern. Sie alle sehen »Menschen und Dinge« in einem gemeinsamen Atem,28 weil sie sie auf die »großen Zusammenhänge« der Natur29 zurückbeziehen. So fällt damals das Wort vom Künstler als dem »Dichter der Dinge«.30 In einem 1902 entstandenen Entwurf »Von der Landschaft« heißt es, daß der Mensch »unter die Dinge gestellt ist wie ein Ding, unendlich allein, und daß alle Gemeinsamkeit aus Dingen und Menschen sich zurückgezogen hat in die gemeinsame Tiefe, aus der die Wurzeln alles Wachsenden trinken«. 3 ' Der Mensch will selber »Ding sein«, weil er wie die Dinge an einem umfangenden Geschehen der Natur Anteil hat, ohne es zu durchschauen oder zu begreifen; auch er tritt aus dem verschwiegenen Dunkel der »Tiefe« hervor wie die Dinge. Er wird zum »Dichter der Dinge«, indem er die Art ihrer Teilhabe an einer fremden, unfaßbaren Natur ins Wort holt: »Denn man begann die Natur erst zu begreifen, als man sie nicht mehr begriff; als man fühlte, daß sie das Andere war, das Teilnahmlose, das keine Sinne hat uns aufzunehmen.«32 Wenn Rilkes Gedichte fortan die Dinge sagen wollen, so bedeutet das, daß er sie aus der dem Menschen vertrauten versachlichten oder subjektivierten Welt herausnimmt und sie in die unfaßbare Landschaft des Lebens, der Natur zurückstellt und damit auch alles Menschliche als Ding unter Dingen begreift. Erst damit wird auch die Wirkung Rodins verständlich und die Art, wie Rilke sich von ihm aus seinen Weg als Dichter verdeutlicht. Denn Rodin erscheint ihm nun als derjenige, der »Kunstdinge« zu schaffen weiß, in denen die Dinge des Lebens anschaubar werden und ihre Wahrheit und Wirklichkeit bezeugen; der im Machen dieser Dinge aufgeht und nur die Arbeit kennt. Zugleich erscheint von Rodin aus auch die 17 28
2 32
Ebd., i.1.1907, S. 155. Vgl. die Essays »Von der Landschaft« und »Worpswede«, in: R. M. Rilke, Ausgewählte Werke, 2 Bde., hrsg. von Ernst Zinn, Leipzig 1948 u. öfter, S. 221-226 und 227-249, bes. S. 247. Ebd., S. 232. Ebd., S. 248. Ebd., S. 226. Ebd., S. 225. 328
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Ausdehnung des DingbegrifFs auf alle seelischen Zustände und menschlichen Gebärden und Schicksale gerechtfertigt. Seine Plastik befriedigt das Verlangen der menschlichen Seele nach der »Dingwerdung ihrer Sehnsüchte oder Ängste«;33 sie weiß von »tausend anderen Gebärden, Gebärden des Greifens, Verlierens, Leidens und Lassens«,34 wie sie dem Menschen einer veränderten Zeit zugehören. Indem er Gestalten und Formen schafft, gibt er ihnen »des Dingseins leise Erlösung«. Die Kunst besitzt ihre Bedeutung dadurch, daß sie im Kunstding die Dinge des Lebens anschaubar und sagbar macht, die doch zugleich namenlos, »unsäglich« bleiben. So sucht nun Rilke das Verfahren Rodins als ein auch für ihn gültiges Beispiel zu begreifen. In dem Brief an Lou Andreas-Salome vom 8. August 1903 rühmt er den Meister als denjenigen, der die Dinge in Kunstdinge umzusetzen weiß: »Ganz offen ist er, wenn er bei Dingen ist, oder wo Tiere und Menschen ihn still und wie Dinge berühren ... Da ist er der Aufmerksame, dem nichts entgeht ... Da es ihm gegeben ward, Dinge zu sehen in allem, erwarb er die Möglichkeit: Dinge zu bauen; denn dieses ist seine große Kunst ... Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muß noch bestimmter sein ... Das Modell scheint, das Kunst-Ding ist. So ist das eine der namenlose Fortschritt über das andere hinaus, die stille und steigende Verwirklichung des Wunsches zu sein, der von allem in der Natur ausgeht. Damit fällt der Irrtum, der die Kunst zu dem willkürlichsten und eitelsten Gewerbe machen wollte, aus; sie ist der demütigste Dienst und ganz getragen von Gesetz.«35 Die Umsetzung des namenlos sich zeigenden Lebens in das Kunstding gibt diesem seine eigene Wirklichkeit, ohne es auf die Subjektivität einzuschränken; Rodins Tun weist in die Richtung, in der die moderne Kunst immer entschiedener ihre eigentliche Aufgabe gesucht hat, je mehr sie das Kunstding als die sich selbst gehörende Wirklichkeit begriff. Rilke sucht nach Entsprechungen zu dem Verfahren Rodins, um seinem eigenen Dichten eine größere Entschiedenheit zu geben; er verweist nicht mehr nur auf die verschwiegene Macht des Lebens - wie im Stunden-Buch —, sondern bringt es zu den Kunstdingen der Überlieferung in Beziehung; er versteht sein Gedicht nun selbst als Kunstding, das auf ein Machen und damit auf ein Handwerk, ein Arbeiten angewiesen ist. Erst damit hat er die Voraussetzungen für die Entstehung der Neuen Gedichte " R. M. Rilke, Gesammelte Werke, 6 Bde., Leipzig 1927, Bd. IV, »Auguste Rodm«, S. 295418, bes. S. 305. - + Ebd., S. 332. -15 Briefwechsel (Anm. 4), 8.8.1903, S. Sjff.
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und im besonderen des »Panther«-Gedichts gewonnen. Nun schreibt er: »Nur die Dinge reden zu mir. Rodins Dinge, die Dinge an den gotischen Kathedralen, die antikischen Dinge — alle Dinge, die vollkommene Dinge sind. Sie wiesen mich auf die Vorbilder hin; auf die bewegte lebendige Welt, einfach und ohne Deutung gesehen als Anlaß zu Dingen. Ich fange an, Neues zu sehen: schon sind mir Blumen oft so unendlich viel und aus Tieren kamen mir Anregungen seltsamer Art. Und auch Menschen erfahre ich schon manchmal so, Hände leben irgendwo, Munde reden, und ich schaue alles ruhiger und mit größerer Gerechtigkeit.«36 Damit ist weitgehend die Themenfolge der Neuen Gedichte gekennzeichnet und das Verhältnis erläutert, in dem die Dinge des Lebens, Tiere oder Blumen, zu den Dingen der Kunst, sei es der antiken oder christlichen Welt, wie zu den menschlichen Dingen, zu Gesten und Situationen, stehen. Es geht in diesen Ding-Gedichten, wie man sie gern genannt hat, nicht um eine abgesonderte Dingwelt, sondern um das Gedicht als Kunstding, in dem sich die Vielfalt des Lebens mit der Ruhe des Dinges zeigt. So heißt es dann im nächsten Brief: »Irgendwie muß auch ich dazu kommen, Dinge zu machen; nicht plastische, geschriebene Dinge, Wirklichkeiten, die aus dem Handwerk hervorgehen. Irgendwie muß auch ich das kleinste Grundelement, die Zelle meiner Kunst entdekken, das greifbare, unstoffliche Darstellungsmittel für Alles.«37 Und er fragt: »Liegt das Handwerk vielleicht in der Sprache selbst, in einem besseren Erkennen ihres inneren Lebens und Wollens, ihrer Entwicklung und Vergangenheit?«,38 obgleich ihm Lou schon geschrieben hatte: »Worte bauen doch nicht wie Steine, tatsächlich und unmittelbar, vielmehr sind sie Zeichen für indirekt vermittelte Suggestionen, und an sich allein weit ärmer, stoffloser, als ein Stein.«39 Das Machen des Gedichts kann offenbar nur gelingen, wenn die Worte zugleich etwas besagen, wenn in ihnen alles beschlossen liegt, was man sieht, fühlt oder weiß, obgleich doch das Lebendige, auf das sie verweisen, zugleich verschwiegen bleibt. Ihr Geheimnis liegt darin, daß im Gesagten das Unsagbare greifbar wird. In einzelnen Briefäußerungen aus der Zeit der Entstehung der Neuen Gedichte finden sich weitere Hinweise, wie das im »Panther«-Gedicht verwirklichte Verfahren immer bewußter ergriffen und auf das Verhältnis •1ft Ebd., S. 89. " Ebd., . 8.1903, S. 97. 38 Ebd., S. 98. 30 Ebd., S. 92.
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von innen und außen bezogen wird. Durch das Sagen der Dinge sollen die wirkenden Kräfte und Bezüge des Lebens so faßlich werden, daß sich die den Menschen bewegenden Mächte bezeugen; es genügt keine direkte Gefühlsäußerung mehr, keine Ineinssetzung von Natur und Seele, sondern es bleibt die Ferne und Fremdheit des Andersartigen, das doch unversehens die Spiegelung ermöglicht, in der das Angeschaute zur Sprache des Unsichtbaren wird. So spricht der Brief an Clara Rilke vom 8. März 1907 das Formgesetz dieser Gedichte mit besonderer Klarheit aus und damit zugleich das aus aller Gefühlsunmittelbarkeit herausführende Verfahren einer modernen Lyrik, die dem Kunstding seine eigene Wirklichkeit gibt, den Kunstcharakter des sprachlichen Gefüges betont und eine Distanz erzeugt, in der die Bewegung des Innern doch kenntlich und wirksam wird. Rilke spricht von einer verdeckten Beziehung zwischen Anschauen und innerem Geschehen, die nur indirekt ihre Bedeutung hervorkehrt, weil beides niemals zur vollen Deckung kommt, sondern sich höchstens eins am anderen erkennt. Er sagt: »Das Anschauen ist eine so wunderbare Sache, von der wir so wenig wissen; wir sind mit ihm ganz nach außen gekehrt; aber gerade wenn wir's am meisten sind, scheinen in uns Dinge vor sich zu gehen, die auf das Unbeobachtetsein sehnsüchtig gewartet haben; und während sie sich, intakt und seltsam anonym, in uns vollziehen, ohne uns — wächst in dem Gegenstand draußen ihre Bedeutung heran, ein überzeugender, starker — ihr einzig möglicher Name, in dem wir das Geschehnis in unserem Innern selig und ehrerbietig erkennen, ohne selbst daran heranzureichen, es nur ganz leise, ganz von fern, unter den Zeichen eines eben noch fremden und schon im nächsten Augenblick aufs neue entfremdeten Dinges begreifend.«40 Dieser Satz erläutert die Komplexität eines lyrischen Sprechens, das sich auf die Dinge verwiesen sieht, in denen ein Lebendiges anschaubar wird und die unversehens als ein Zeichen auf das innere Geschehen im Menschen zurückweisen, so daß es sich als ein solches bestätigt weiß. Es ist die Darstellungsform, die den Neuen Gedichten ihre Eindringlichkeit gibt. Zugleich öffnet sich damit das Gedicht auf eine ihm eigene Weise der Vielfalt des Lebens. Alle Bereiche des Daseins, des Vergangenen wie des Gegenwärtigen, können mit den ihnen zugehörigen Dingen so zur Geltung kommen, daß sie auf ein inneres Geschehen zurückweisen. Es gibt keine Auswahl, keine Unterscheidung zwischen schön und häßlich, son-
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Rilke, Briefe igoo-igo? (Anm. 4), 8. III. 1907, S. 214. 331
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dem nur die Verwandlung ins Sagbare.4' Die überkommenen Grenzziehungen verlieren ihr Recht, weil noch der fragwürdigste Zustand auf jenes »Netz von Einflüssen und Kräften« verweisen kann, in dem der Mensch zu sich selbst findet. Man soll »die Kunst nicht für eine Auswahl aus der Welt halten, sondern für deren restlose Verwandlung ins Herrliche hinein ... Es kann im Schrecklichen nichts so Absagendes und Verneinendes geben, daß nicht die multiple Aktion künstlerischer Bewältigung es mit einem großen, positiven Überschuß zurückließe, als ein Dasein-Aussagendes, Sein-Wollendes.«42 Rilke gibt damit der Neigung der modernen Kunst zur Darstellung des Abstoßenden und Widrigen, des Morbiden, Erschreckenden oder Quälenden eine erhellende Bedeutung; je weniger sich das Gedicht auf die persönliche Erlebnissituation einschränkt, je mehr es auf die innere Zuständlichkeit des Menschen verweist, um so aufschlußreicher werden die Gefährdungen und Beängstigungen, die die Verlorenheit und Ausgesetztheit des nach sich selbst fragenden Menschen zu erkennen geben. Indem das Gedicht den dem Menschen begegnenden Erfahrungen nachgeht, nötigt es sich zu jenem »sachlichen« Sagen, das dem Beteiligtsein nur indirekt Raum gibt. So bezieht sich Rilke auf das Beispiel Baudelaires, vor allem auf dessen Gedicht »La Charogne«, das die Spannweite der künstlerischen Möglichkeiten am extremen Bild des verwesenden Tieres zu erkennen gibt und damit »die Entwicklung zum sachlichen Sagen« begonnen habe: »Erst mußte das künstlerische Anschauen sich so weit überwunden haben, auch im Schrecklichen und scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das, mit allem anderen Seienden, gilt.«43 Es bleibt nur das Sagen der »Dinge«, ganz gleich, ob sie als solche beglücken oder nicht, weil im Sagen selbst schon ihre Verwandlung in ein Eingesehenes und Bewältigtes beginnt. So schließt sich an die Einschätzung Baudelaires die Bemerkung über Trakls Gedichte an; sie seien »Beiträge zur Befreiung der dichterischen Figur« und widerlegten »das gefuhls-stoffliche Vorurteil«, »als ob in der Richtung der Klage nur Klage sei — auch dort ist wieder Welt«.44 Ent41
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Ebd., .XII. 1906, S. uy: »Ich weiß, daß der liebe Gott uns nicht unter die Dinge gesetzt hat, um auszuwählen, sondern um das Nehmen so gründlich und groß zu betreiben, daß wir schließlich gar nichts anderes als Schönes empfangen können in unserer Liebe, unserer wachen Aufmerksamkeit.« Rilke, Briefe 1907-1914 (Anm. 4), 19.8.1909 an Uexküll, 8.74; vgl. ebd., 4.9. und 8.9.1908, S. 48 und 52. Ebd., 19.XI. 1907, S. 393. Rilke, Briefe 1914-1921 (Anm. 4), 22.11.1917, S. I2of. 332
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sprechend kommt in den Neuen Gedichten die Breite des menschlichen Schicksals zur Entfaltung, das notvoll-beunruhigte Dasein des dem Tode zugewandten Menschen, der durch sein Lieben oder Handeln sich nur tiefer verstrickt und dem als Fragenden die endgültige Antwort ausbleibt. Es wird in allen Verwandlungen der dichterischen Bilder nur der dem Leben zugehörige, von der Allgewalt des Lebens her sich begreifende Mensch sichtbar, der in dem Maße über sich selbst verfügt, wie er dieses Leben in sich selber will und es sagend besteht. So sprechen die Neuen Gedichte aus einer Haltung, die Rilke gelegentlich im Rückblick auf seine jugendlichen Anfange als Voraussetzung seiner »Arbeit« gekennzeichnet hat: aus der »Liebe zum Leben«, die aus der Erfahrung erwachsen ist, »daß das Leben nicht das Feindliche sei, sondern ich, ich selbst, und alles andere mit mir«.45 Wir Menschen sind die »Wandelbarsten, die mit einer Neigung, alles zu begreifen, herumgehen und die (indem wir es doch nicht fassen) das Übergroße zur Handlung unseres Herzens machen, damit es uns nicht zerstöre«.46 Das Kunstwerk ist nur noch bemüht, »an der Mannigfaltigkeit draußen die innere Unerschöpflichkeit ernst und gewissenhaft zu entdecken«, wie Rilke von den Bildern Cezannes sagt.47 So wird man den Neuen Gedichten erst gerecht, wenn man ihren Bezug zu den Dingen so vielseitig versteht, wie Rilke selber das Wort »Ding« gebrauchte. Die Parallelstellung von Anschauung und innerem Vorgang, wie sie das »Panther«-Gedicht zeigt, kann höchstens das Grundschema erläutern, das hier gilt. Jedes Gedicht sucht seinen eigenen Weg, um ein Ding des Lebens sagbar zu machen und in das Kunstding zu verwandeln. Darüber dürfen auch nicht die scheinbar gleichartigen Überschriften hinwegtäuschen, als wollten sie nur auf die anschaubaren Tiere, Pflanzen oder menschlichen Gestalten verweisen; denn alle diese Dinge begegnen ja zugleich in mannigfachen Vermittlungen, als gewußte oder vorgestellte Bilder, als die das Gemüt beschäftigenden Überlieferungen oder Kunstwerke, so daß es oft nicht leicht zu entscheiden ist, ob sich das Gedicht an den Sinneneindruck hält oder an eine seiner Brechungen und Ausgestaltungen. Titel wie »Die Gazelle«, »Das Einhorn«, »Der Schwan«, »Die Flamingos« scheinen gleichartig und wollen doch mit sehr verschiedenartiger Einstellung aufgefaßt sein. Wenn die Gazelle die »Verzauberte« heißt, aus deren Stirn »Laub und Leier« steigen; wenn sie ihr Haupt 45 46 47
Rilke, Briefe 1906-1907 (Anm. 4), 17. XII. 1906, S. 136. Ebd., 13.X. 1907, S. 377. Ebd., 12. X. 1907, S. 376. 333
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ins Horchen hält, »wie wenn beim Baden im Wald die Badende sich unterbricht«, dann gehört sie offenbar in eine mythologische Landschaft, trägt sie die Zeichen Apolls und der Diana, als verkörpere sich in ihr eine Welt der Dichtung. - Das »Einhorn«-Gedicht spricht eher umgekehrt, indem es nicht das Reale ins Mythologische wendet, sondern die Vision des Heiligen wie eine sichtbare, reale Gestalt zu beschreiben scheint und dadurch die Wandteppiche des 15. Jahrhunderts im ClunyMuseum in Paris, die mit ihren Einhorndarstellungen zu dem Gedicht anregten, vergessen läßt. Es entsteht eine komplexe Beziehung zwischen der faktischen Bildgestalt, die als Vision ausgelegt wird, und der im Gedicht ausgesagten Ergriffenheit im Gebet, die in die Sichtbarkeit drängt. — Das »Schwan«-Gedicht entspricht wohl am ehesten der Struktur des »Panther«-Gedichts, nur daß die Vergleichsglieder ihr Gewicht vertauscht haben und nun ein menschlicher Zustand der Mühsal sich im Bild des Schwans und seiner Bewegungen zu erkennen gibt. Die »Flamingos« wiederum scheinen nur als Farbeindruck zu sprechen, der seinerseits die Erinnerung an die Rokokobilder Fragonards und ihre galanten Träumereien wachruft, so daß sie sich ganz ins Imaginäre zu verlieren scheinen. Bei anderen Themen mag man fragen, wieweit das Gesehene und Beobachtete oder das Gelesene und Überlieferte oder eine Darstellung der bildenden Kunst den Anlaß zum Gedicht bot. Zu dem Gedicht »Corrida« schreibt Rilke seiner Frau ausdrücklich, daß er selber keinen Stierkampf gesehen habe und doch die Bilder in sich trage: »Wie sehr man das alles doch auch schon vorher in sich hat, je mehr, je fester man über sich die Augen schließt, das hab ich wieder gefühlt, als ich die Corrida schrieb, die ich nie sah: wie wußte und sah ich alles.«48 Und doch möchte man meinen, daß hinter dem Gedicht manche Bildeindrücke stehen, sei es von den Stierkampfdarstellungen Goyas oder denen Manets, so eindringlich sind die diesen Bildern zugehörigen Gesten und Bewegungen des Kampfes zwischen Mensch und Tier in den Versen aufgerufen. Das Gedicht »Der Balkon« ist im August 1907 in Paris entstanden, trägt aber den Hinweis »Neapel« und bildet mit anderen Neapolitanischen Szenen eine Gruppe, mit »Vor-Ostern« und »AuswandererSchiff«. Will es also an die für das südliche Straßenbild so charakteristischen Balkone erinnern, an eine dort beobachtete Situation, oder ist es vielmehr eine freie Umsetzung eines Bildmotivs, wie es Manet so 4
" Ebd., i.X. 1907, S. 339. 334
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eindringlich behandelte, als er drei Figuren in seelisch ganz verschiedener Haltung einander zuordnete und vor das Balkongitter stellte? Rilke sagt von seinen freilich andersartigen Gestalten: »Angeordnet wie von einem Maler und gebunden wie zu einem Strauß« und bezieht damit wieder die Dinge des Lebens auf ein Kunstding zurück, als wollte er mit ihm wetteifern.49 So durchdringen sich in den Neuen Gedichten ständig die konkreten Beobachtungen mit Erinnerungsbildern oder Darstellungen der bildenden Kunst und bildhaften Gestalten der Überlieferung. Nach dem »Panther-Gedicht entstand zunächst Anfang 1904 in Rom das Gedicht »Orpheus. Eurydike. Hermes«, das den Sagenvorgang als das »Ding« hervorhebt, das nun »gemacht« sein will. Aber es ist nicht mehr nur die Sage vom Gang ins Totenreich, durch die sich Rilke angeregt fühlt, sondern das antike Relief, das er im Louvre sehen konnte und dann in einem zweiten Exemplar in Neapel. Die Verhaltenheit der Geste im griechischen Bildwerk mochte ihn veranlassen, sie in das dichterische Wort hereinzuholen. Es sind oft genug die Kunstdinge, die das Sagen Rilkes bestimmen, offenbar häufiger, als den Überschriften nach zu erwarten ist. Daneben sind es Bilderinnerungen von Landschaften und Bauten, die Rilke in Frankreich, vor allem in Paris oder vor der Kathedrale in Chartres, und in Italien, auf Capri, oder in Flandern, in Brügge, sich einprägten. Und schließlich wird die Bedeutung der literarischen Überlieferungen zu bedenken sein, vor allem bei den biblischen Themen aus dem Alten und Neuen Testament. Erst wenn man diese Vielfalt schon im Themenansatz beachtet, wird man dem zyklischen Charakter der Neuen Gedichte gerecht. Neben den Gedichten auf Dinge im eigentlichen Sinn stehen die, die an Kunstdinge und Landschaften anknüpfen, stehen die biblischen und antiken Gestalten, stehen die vielen Bilder menschlichen Verhaltens aus der eigenen Gegenwart. Es entsteht eine wandlungsreiche Folge vielsinniger und beziehungsreicher Gedichte, die aus dem Raum der Erlebnislyrik herausfuhren und eine Struktur gewinnen, durch die die Kunstgestalt des Gedichts in ein freieres Verhältnis zur Innerlichkeit des Herzens tritt. Die verschiedenartigsten Themen und Motive können sich dem Zyklus einfügen, wenn sie nur das namenlos sich zeigende Dasein, die Macht des Lebendigen in einem bestimmten Ding sagbar machen. Auch die antiken oder biblischen Bilder gelten nicht für sich, 49
Das Bild von Manet, »Le Balcon«, jetzt im Musee du Louvre, im Jeu de Paume, war seit 1896 im Musee du Luxembourg und also Rilke gewiß vertraut. Es stand seinerseits in Beziehung zu dem Bild von Goya, »Manolas au Balcon«.
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sondern als Figuren, die im »Netz der Einflüsse und Kräfte« ihre Bedeutung haben. Durch Bildwerk oder Schrift bewahren sie ihre alte Gewalt, beschäftigen sie das Denken und Vorstellen, werden sie zu den Dingen, an denen sich wie einst und je menschliches Leben zu erkennen geben muß. Das Gedicht »Abschied« (Frühjahr 1906) mag die nun gewonnene Struktur und ihren eigentümlichen Gegensatz zu aller erlebnisunmittelbaren Lyrik erhellen. Wenn Goethe den Schmerz des Abschieds ausspricht, klingt die Bewegung des Herzens in den Versen wider: Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen. Da bleibt kein Rat, als grenzenlose Tränen.
Rilkes Einsatz wirkt dagegen eigentümlich reflektiert und distanziert, ja auf den ersten Eindruck hin eher gezwungen und erkältend. Wie hab ich das gefühlt was Abschied heißt. Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes grausames Etwas, das ein Schönverbundnes noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt. Wie war ich ohne Wehr, dem zuzuschauen, das, da es mich, mich rufend, gehen ließ, zurückblieb, so als wärens alle Frauen und dennoch klein und weiß und nichts als dies: Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen, ein leise Weiterwinkendes -, schon kaum erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum, von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.
In diesen Versen spricht nicht mehr der Schmerz, die Unruhe oder Klage, sondern die Gefühle des Abschieds werden wie von außen angeschaut, als ginge es darum, das, was Abschied heißt, als solches zu sagen und im Aussagen als ein Bestimmtes zu wissen, das nicht nur den Menschen überkommt und zerreißt, sondern von ihm ausgehalten wird, das einen Anfang, eine Krise und ein Ende hat und damit zu erkennen gibt, wie der Mensch sich dem Leben zuordnet, als ein in Abschieden Lebender. »Das, was Abschied heißt«, ist als solches nur ein Negatives, ein Leeres, so daß es mit keinem erfüllten Namen bezeichnet werden kann, nur als ein »Etwas«, das tätig wird, indem es nimmt und ein »Schönverbundnes zerreißt«. Zugleich macht es den zum Abschied Genötigten wehrlos, da er die Trennung geschehen lassen muß, nur zuschauen und 336
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fortgehen kann als ein zum Abschied Gerufener. So ist der Abschied dies »grausame Etwas«, das mich, zu sich rufend, gehen läßt und als Leere zurückbleibt, in der alles zu versinken droht — nicht nur der eine Mensch; aber eine Leere, die zugleich wie ein Nichts erscheint, das weiterwinkt, das nicht mehr persönlich bezogen ist und damit ein »Weiter«, ein Neues und Anderes vorbereitet. Wenn also die Verse auch nicht den Schmerz laut werden lassen, wenn sie in einem eigentümlich verschlungenen Satzbau und einer bildleeren Sprache sprechen, so leisten sie doch etwas sehr Bestimmtes. Sie nötigen nicht in ein Abschiedsgefühl hinein, sondern zur Vergegenwärtigung des ganzen Vorgangs, der Abschied heißt. Anfang und Ende werden mitvollzogen, so wie es der abschließende, nun ganz bildhafte Vergleich sagt: Das Etwas, das Abschied heißt, entspricht es vielleicht dem »Pflaumenbaum, von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen«?, also einer Situation, in der Baum und Vogel nichts voneinander wissen und das Fremdsein im Miteinandersein selbstverständlich ist. Muß der Mensch das Grausame und Zerreißende des Abschieds so ins Leere fallen lassen, oder ist vielleicht diese Not erst die eigentliche Not, daß demjenigen, der Abschied fühlt, nicht der Schmerz bleibt, sondern die Leere? In dem so eigentümlich befremdenden Sagen des Gedichts wird das immer schon vorausgesetzte und hingenommene Gefühl tiefer mit sich vertraut, weil es nicht nur ausgedrückt, sondern eingesehen wird. Die Distanz zur GefuhlsbetrofFenheit eröffnet dem Wort einen neuen Raum und der Seele eine eigene Freiheit. In den Sonetten an Orpheus II 12 wird das Thema wiederaufgenommen, wenn der Abschied nun die Offenheit allem Sein gegenüber bezeugt: Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir, wie der Winter, der eben geht ... preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Der Mensch versteht sich als der dem Leben Zugehörige, der durch den Abschied in die Schwingung des reinen Bezugs gerät. Die Gefühlserfahrung wird zum Anlaß, um die dem Menschen mögliche Vertrautheit und Ausgesetztheit im Lebensgeschehen zu bezeugen. Das Gedicht wird zum Kunstding, indem es die Sprache in eine Eigenbewegung bringt und die Distanz wahrt, die ein Anschauen noch der bedrängendsten Erfahrungen und inneren Zustände ermöglicht. Es vereint Schauen und Sagen in einem ebenso lebendigen wie unerschöpflichen Bezug und gehört damit zum Herrschaftsbereich Apolls, von dem das den Zyklus eröffnende Gedicht spricht. 337
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Das Sonett »Früher Apollo« (Juli 1906) ist offenbar angeregt durch eine griechische Plastik im Louvre und nennt einzelne Kennzeichen eines archaischen Jünglingskopfes, die Schläfe, die Augenbrauen, den Mund und vor allem sein Lächeln.50 Aber es geht nicht um die Beschreibung eines Bildwerkes, sondern um die in ihm begegnende Erscheinung des Dichtergottes, jenes Apollo, der die Musen anfuhrt und doch nicht nur als mythologische Gestalt hingenommen, sondern als eine dem Menschen zugehörige Wirklichkeit erkannt sein will. Was in diesem Bildwerk als einem Kunstding begegnet, muß so ausgesagt werden, daß die den Menschen bewegende Macht der Dichtung faßlicher wird. Erst dadurch rechtfertigen sich die Vergleiche und Bilder; nur deshalb können diese Verse den gesamten Zyklus eröffnen. Dabei wirkt die Sprache eigentümlich verschlüsselt, als wollte sie selber so unnahbar bleiben wie die archaische Gestalt; sie schwingt zwischen Bildern, die die verschiedenen Bereiche des Lebens ineinander verschränken und die Plastik bald auf Naturvorgänge, bald auf ein geistiges Geschehen beziehen. Wie manches Mal durch das noch unbelaubte Gezweig ein Morgen durchsieht, der schon ganz im Frühling ist: so ist in seinem Haupte nichts was verhindern könnte, daß der Glanz aller Gedichte uns fast tödlich träfe; denn noch kein Schatten ist in seinem Schaun, zu kühl für Lorbeer sind noch seine Schläfe und später erst wird aus den Augenbraun hochstämmig sich der Rosengarten heben, aus welchem Blätter, einzeln, ausgelöst hintreiben werden auf des Mundes Beben, 50
Ulrich Hausmann, Die Apollo-Sonette Rilkes und ihre plastischen Urbilder, Berlin 1947, S. i3fF., möchte »einen aus Athen stammenden Kopf als das plastische Urbild des Rilkeschen Gedichts« erschließen. Aber er irrt, wenn er sagt: »Frühe Jünglingsstandbilder, die mit Kopf erhalten sind und die Rilke in den Jahren 1902-1907 im Louvre gesehen haben könnte, sind nicht vorhanden.« Im Baedeker, Paris et ses environs, 1898, den Rilke benutzt haben könnte, sind S. 82f. unter den im Salle Greque aufgestellten Bildwerken »2 Apollon« genannt, offenbar die beiden Werke, die auch heute noch dort stehen - der »Torse d'Apollon« und »Apollon ou Couros Archai'que« aus Paros — und auf die sich Rilkes ApolloSonette beziehen. Für das Verständnis des Gedichts »Früher Apoll« scheint mir der Zusammenhang mit der genannten Plastik wichtig, weil die Verse einen Körper und nicht nur einen Kopf voraussetzen, wenn sie von »seinem Haupte« sprechen: Die Statue in drei Fünftel natürlicher Größe, der der rechte Arm fehlt und deren Nase angestoßen ist, reicht vom Kopf bis zu den Knien und besitzt trotz der archaisch gebundenen Körperform ein reiches Linienspiel, das sich im herben Lächeln des Mundes zusammenfaßt. 338
Rilkes »Neue Gedichte« der jetzt noch still ist, niegebraucht und blinkend und nur mit seinem Lächeln etwas trinkend als würde ihm sein Singen eingeflößt.
Die Versfolge verbindet die Aussagen durch die Betonung der Vergleichsglieder des »Wie« und »So«, des »Denn«, durch die Koppelung der Satzglieder, aber derart, daß das Hinübergleiten von einer Aussage zur anderen, aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare, aus dem Äußeren ins Innere kaum verfolgbar scheint. Der winterliche Morgen läßt den Frühling ahnen, wie das Haupt des Bildwerkes den Glanz aller Gedichte; aber dessen Schauen ist noch schattenlos, der Schläfe fehlt der Lorbeer, der Mund ist noch stumm; denn erst später wird der »Rosengarten« des Angeschauten sich aus den Augenbrauen heben und zum Sagen nötigen: Aus diesem Wechselbezug von Schauen und Sagen, von Blick und Mund werden dann die Gedichte erwachsen. In der archaischen Frühe scheint das Lächeln noch nicht Ausdruck des Gesichts zu sein, sondern eher ein Trinken, »als würde ihm sein Singen eingeflößt«. Mit diesem so eigentümlich pointierten Schluß schließt sich das Gedicht zusammen, weist es auf den Sinn, den ein früher Apollo zu erkennen gibt: daß das Dichten nicht Erfindung der Menschen, sondern ein Sprachewerden des Lebens ist, das sich aus seiner Gebundenheit löst und in seinen Reichtum einkehrt. So hebt sich das apollinische Bildwerk aus dem Dunkel des Schweigens wie ein beginnender Morgen: rechtfertigt es das Aufsteigen des dichterischen Wortes aus dem Namenlosen. Die antike Figur gewinnt beispielhafte Bedeutung, sofern sie das Sagen an das Schauen bindet und das Kunstding auf das dem Tod verbundene Leben bezieht, aus dem der Mensch als Sagender hervortritt. Damit ist freilich schon deutlich, wie wenig dieses Sprechen sich an die überkommene Auslegung der christlichen Überlieferung anschließen kann; wenn sie nicht beiseite bleiben soll, kann sie nur noch auf eigenwillige Weise, in freier Ausdeutung der alten Bilder zur Geltung kommen. Nur sofern alle geschichtliche Überlieferung von menschlichen Situationen, Gebärden und Gefühlszuständen spricht, kann auch die biblische Gestaltenwelt auf ein Inneres bezogen werden. Darin liegt dann das Recht, sie neu zu deuten. »Der Ölbaum-Garten« ist dafür ein ebenso radikales wie beunruhigendes Beispiel. In allen Evangelien wird berichtet, wie Jesus vor der Gefangennahme in Gethsemane betet und die Jünger einschlafen, freilich mit leichten Unterschieden im Ton. Das Wort: »Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe,« bestimmt die kirchliche Auslegung und rückt die Szene in den Zusammenhang der Heilsgeschichte. Davon spricht 339
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Rilke nicht; er hält sich vor allem an die Worte, die von der Todesnot zeugen, die bei Lukas lauten: »Und es kam, daß er mit dem Tode rang und betete heftiger. Es ward aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.«5' Zugleich aber verweist Lukas auf den Engel vom Himmel, der Jesus stärkte. Rilke setzt zunächst berichtend ein: »Er ging hinauf ... im Ölgelände«, um dann im Anklang an das Kreuzeswort: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen« ein Selbstgespräch von Jesus wiederzugeben, das nur noch von seiner Verlassenheit zeugt: Er ging hinauf unter dem grauen Laub ganz grau und aufgelöst im Ölgelände und legte seine Stirne voller Staub tief in das Staubigsein der heißen Hände. Nach allem dies. Und dieses war der Schluß. Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde, und warum willst Du, daß ich sagen muß Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde. Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein. Nicht in den ändern. Nicht in diesem Stein. Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein. Ich bin allein mit aller Menschen Gram, den ich durch Dich zu lindern unternahm, der Du nicht bist. O namenlose Scham ... Später erzählte man: Ein Engel kam -. Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht und blätterte gleichgültig in den Bäumen. Die Jünger rührten sich in ihren Träumen. Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht. Die Nacht, die kam, war keine ungemeine; so gehen hunderte vorbei. Da schlafen Hunde und da liegen Steine. Ach eine traurige, ach irgendeine, die wartet, bis es wieder Morgen sei. Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern, und Nächte werden nicht um solche groß. Die Sich-Verlierenden läßt alles los, und sie sind preisgegeben von den Vätern und ausgeschlossen aus der Mütter Schoß. Lukas 22,39-46.
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Jesus ist von sich, von den Menschen, von Gott verlassen. Die biblische Szene ist ganz auf die notvolle Situation des auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen eingeschränkt, aber so, daß das verlassene Ich auf ein Du hinspricht, das es doch eigentlich nicht gibt, ja, das es leugnet: »der Du nicht bist«. Der sich verlierende Mensch kann seine Not nur kundtun, indem er zu dem Du hinredet, das er in Frage stellt. Erst durch dieses Sprechen vom Ich zum Du gewinnt das Gedicht seine Eindringlichkeit, ist es nicht einfach ein Zeugnis eines ungläubigen Aufklärers, sondern eine bewegende Vergegenwärtigung des sich selbst verlierenden Menschen, der nicht umhin kann, sich auf ein anderes Du zu richten, in das er sich verliert. Es kam zwar kein Engel, sondern nur die gleichgültige Nacht; aber sie gibt zu erkennen, was hier geschah: daß der sich selbst Verlierende von allem losgelassen wird und sich doch nicht aus dem Leben verlieren kann, weil er trotz allem an das Du als die Gestalt gebunden bleibt, unter der das Leben begegnet. »Die Sich-Verlierenden läßt alles los«, mit diesen Worten bricht nur wieder die Frage auf, wie der Mensch der Gefahr entgehen kann, sich selbst zu verlieren, wenn er sich nur an den Bezügen erkennt, die sich als das gegen ihn gleichgültige Leben immer zugleich entziehen. Erst im Hinblick auf diese Umdeutung der biblischen Situation wird die Rolle des Engels in Rilkes späteren Dichtungen verständlicher, als die Denkfigur, unter der das in das Leben sich ausgebende Ich sich einem Du zuordnet, um im immer fragwürdigen Dasein auszudauern. Das Gefühl erfährt sich als das gerichtete Gefühl, das im Engel das Du postuliert, um zu sich selbst zurückzukehren und sich im Netz von Einflüssen und Kräften nicht zu verlieren. Der Engel ist dann das im Gefühl Ersparte und im Gebet Erkniete, aber nicht einfach ein vorhandenes Gegenüber. Das biblische Thema gibt damit wesentliche Bedingungen des Rilkeschen Spätwerks und dessen Zusammenhang mit den vorangehenden Stufen zu erkennen. Die Neuen Gedichte wollen nicht nur als eine wichtige Etappe in Rilkes Entwicklung verstanden sein, auch nicht nur als ein eigener und besonderer Ton im vielstimmigen Chor der deutschen Lyrik. Das Neue, das sie bringen, macht Voraussetzungen, Aufgaben und Verfahrensweisen der modernen Lyrik beispielhaft sichtbar. Der Werkcharakter des Kunstdinges ermöglicht eine Distanz zwischen Bild und Innerlichkeit, die einen freieren Weltbezug eröffnet und die Spannung zwischen Sagen und Verstummen produktiv werden läßt. Die Sprache des Gedichts mag dadurch fremder oder auch dunkler geworden sein als im Raum der Erlebnisdichtung. Aber indem sie das Gedicht als eine in sich beschlossene Wirklich341
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keit zur Geltung bringt, gibt sie zugleich dem namenlosen Bezug des Daseins eine erkennbare Gestalt. Wenn man fragt, was damit gewonnen ist, mag man mit der Antwort zurückhaltend bleiben. Gedanken und Erkenntnisse sind hier kaum das Wesentliche, auch nicht anwendbare Lehren für das Lebensverhalten. Es geht auch nicht um eine beispielhafte Lebensführung oder persönliche Vorbildlichkeit des Dichters jenseits des Werkes. Entscheidend bleibt vielmehr das scheinbar so Selbstverständliche, daß die Sprache in eine menschlich bedeutsame Schwingung gerät und dieses Verfugen über die Sprache vom Wesen des Menschseins zeugt. Die Sprachfiguren haben nicht mehr eine Mitteilungs- oder individuelle Ausdrucksfunktion, sondern weisen von sich aus auf die dem Menschen mögliche Teilhabe am Dasein. Das Gedicht ereignet sich zwischen Worten und Sprachgebärden, die durch ihre Fügung eine Werkgestalt erzeugen, in der die dem modernen Bewußtsein immer mehr entgleitende Sichtbarkeit und Überschaubarkeit des Daseins noch sagbar bleibt. In paradoxer Zuspitzung sagt Rilke von den Neuen Gedichten, »daß die dem Buche eigene Sprache, völlig im Kunstmaterial aufgegangen, nicht in erster Linie als deutsch gilt, sondern als Gedicht überhaupt«.52
Anmerkung zur Forschungssituation Über Rilkes Dingbegriff hat man schon früh und von den verschiedensten Positionen aus gehandelt. Trotzdem scheint es weiterer Erläuterung zu bedürfen, inwiefern die Hinwendung zu den »Dingen« der lyrischen Sprache eine neue Gestalt zu geben vermag und eine aus dem Bereich der Erlebnis- und Stimmungslyrik herausführende Struktur des Gedichts ermöglicht. Schon 1926 hatte Kurt Oppert, »Das Dinggedicht. Eine Kunstform bei Mörike, Meyer und Rilke«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4, 1926, S. 747-783, versucht, einen eigenen Gedichttypus gegen die subjektive Stimmungslyrik abzugrenzen, »der auf unpersönliche episch-objektive Beschreibung eines Seienden angelegt ist«. - Ob der Begriff »Dinggedicht« ausreicht, um die im Zeichen der »Dinge« sich vollziehenden Wandlungen der lyrischen Form zu erläutern, mag man freilich bezweifeln, um so mehr, als die Funktion der Dinge für Rilkes Dichtung nicht leicht zu fassen ist. Walter Rehm sprach 1930 von »Wirklichkeitsdemut und Dingmystik«, Vcrkgcrbricfe (Anm. 2), 26.9.1908, S. 49. 342
Rilkes »Neue Gedichte«
in: Logos XIX, S. 297 — 358, und hat 1950 in seinem Buch Orpheus. Der Dichter und die Toten. Selbstdeutung und Totenkult bei Novalis, Hölderlin, Rilke, Düsseldorf 1950, den für Rilkes Dingverständnis entscheidenden Gesichtspunkt herausgehoben, wenn er von ihm sagt: »Er suchte ja nichts Anderes, nichts Höheres als die Welt der Bezüge und der Beziehungen, ihr Leben im >seismographischen Gebilde< des Gedichts« (S. 385). So handelt Rehm vom Dichter als »Bruder der Dinge« und von dessen »Ding-Demut«. Die Dinge gewinnen nur so weit Bedeutung, als sich ein »rücksichtsloses OfFensein« für die »unendliche Bezüglichkeit der Dingwelt« durchsetzt (S. 4i4f.)· Um dieser Bezüge willen geht es im Zeichen der Dinge um die ganze Vielgestaltigkeit des Daseins, gehören zu den Dingen »auch die Menschen und ihr Erleben« (S. 423), »auch die häßlichen, die kaum ertragbaren, die schweren, uns in den inneren Schwerpunkt hinunterdrückenden >DingeGeschichte< beginnt die Wirklichkeit, die an31
Ebd., S. 84. 301
Gottfried Benn
thropologische Wirklichkeit der geistigen Formen. Verraten wir die nie — wenigstens nie auf die Dauer und in unsrem Herzen!«32 Die eigene Doppelexistenz fuhrt vor die Frage, wie das Wort als geistige Form sich zum Leben mit seinen aktuellen Bedürfnissen verhält. Benn weigert sich, sein Wort in den Dienst des politisch-geschichtlichen Lebens nehmen zu lassen, und bekennt sich zur Selbstverantwortlichkeit des Geistes; aber zugleich auch zu dessen Ohnmacht, den Sinn des Lebens zu erkennen oder das Leben seinen Vorstellungen gemäß zu ordnen. Nur die Unterschiedenheit von Geist und Leben gibt den geistigen Formen ihren menschlichen Sinn und ihre Dauer. So heißt es in dem Essay »Pallas«: »Das, was lebt, ist etwas anderes als das, was denkt. Dies ist eine fundamentale Tatsache von heute, wir müssen uns mit ihr abfinden.«33 So sagt er vom Menschen, sein »existentieller Auftrag lautet nicht mehr natürliche Natur, sondern bearbeitete Natur, gedankliche Natur, stilisierte Natur — Kunst«.34 Indem er derart bereit wird, »die Welt als spirituelle Konstruktion« und »das Sein als einen Traum von Form«35 zu verteidigen, gewinnt seine Lyrik ebenso an Präzision wie an durchgängiger Bezüglichkeit; in ihr soll sich nun die »spirituelle Konstruktion« als sprachliche Wirklichkeit entfalten. Wir suchen uns diese Endphase seines Dichtens von einzelnen Gedichten aus klarzumachen und fragen zunächst nach den Wandlungen der Erlebnisperspektive und dann nach den Gedichten, in denen das Gedicht selbst zum Thema des Gedichts wird. Man mißverstünde Benns Gedichte, solange man sie als subjektive Gefühlsaussprache lesen wollte, statt die dem Ich zugeordneten Sprachdimensionen und den eigentlichen Montagestil zu beachten. Erst durch das Ineinanderschieben der Wortfelder und Vorstellungsbereiche entsteht hier das Gedicht als jene Chiffre, die das Weltverhältnis des Ich in seinem geistig konstruktiven Charakter enthüllt. Das Gedicht »Abschied« ist dafür ein eindrucksvolles Zeugnis. Es erschließt sich in seiner konkreten Bestimmtheit erst, wenn man sich die Zuordnung seiner Motive klarmacht. Es spricht vom Ich, nicht nur wie Benn in den »Problemen der Lyrik« sagt: »Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich«, 36 sondern ausdrücklicher, sofern das Ich sich selber als ein ihm zugehöriges Du 32
Gottfried Benn, Ausgewählte Briefe, mit e. Nachw. von M. Rychner, Wiesbaden 1957, S. 69f. (an E. Pfeiffer-Belli, 30.4.1936). 33 Benn, Gesammelte Werke (Anm. i), Bd. I, »Pallas« (1943), S. 365. 3 * Ebd., S. 367. 3S Ebd., S. 366. 3n Ebd., Bd. I, »Probleme d. Lyrik«, S. 50if. 362
Gottfried Benn
anredet und nach der Art seines Seins fragt. Diese Seinsweise des Ich soll sich in der Stunde des Abschieds zu erkennen geben, und zwar im Abschied des Todes, wenn das Ich sich nicht mehr als Bewußtsein von sich kennt. Es ist also der Abschied gemeint, an den der christliche Glaube seine Verheißungen von Erlösung und Auferstehung der Seele knüpft. Wie spricht das Ich zu sich, wenn es mit dem Abschied des Todes konfrontiert wird und nicht eine überkommene Glaubensordnung als vorgegebene Sprachnorm übernimmt? Das ist der Ausgangspunkt, der die Strophenfolge bestimmt und sowohl die Dringlichkeit rechtfertigt, mit der das Ich auf sich als ein Du zugeht, wie die Offenheit, mit der es im Abschied dem menschlich nicht mehr Verfügbaren begegnet. Die erste Strophe spricht auf das Ich als jenes Du hin, dem es auch im Abschied nicht entgehen kann. Was auch immer der Mensch tut und denkt, er kann es nur als dieses Ich, das sich so selbstverständlich bezeugt wie das Blut des Körpers in dessen Wunden. Zugleich erfährt sich dieses Ich in der Zeit und dehnt sich in ihr aus — »wie Nacht in jener Stunde, da sich die Matte färbt zur Schattenflur«; es steht also in der auf den Abschied zulaufenden Zeit, im Übergang vom Tag des Bewußtseins zur Nacht der Schatten. Und doch bewahrt es in allen Veränderungen die Möglichkeit der Beglückung oder Erfüllung und blüht »wie Rosen schwer in Gärten allen«, selbst wenn es im Alter auf die jugendlichen Erwartungen wie auf Träume zurückblickt und in die Einsamkeit des Leidens und Wissens eingeht: Du füllst mich an wie Blut die frische Wunde und rinnst hernieder seine dunkle Spur, du dehnst dich aus wie Nacht in jener Stunde, da sich die Matte färbt zur Schattenflur, du blühst wie Rosen schwer in Gärten allen, du Einsamkeit aus Alter und Verlust, du Überleben, wenn die Träume fallen, zuviel gelitten und zuviel gewußt.37
Das Ich versteht sich im dreifachen Vergleich und ist sich noch im Abschied des Todes zugehörig wie Blut, wie Nacht, wie Rosen.
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Ebd., Bd. III, S. 233. Vgl. die andersartige Interpretation von Edgar Lohner, »Gottfried Benn: Abschied«, in: Die deutsche Lyrik, hrsg. von B. v. Wiese, Düsseldorf 1956, Bd. 2, S. 450-461. Lohner verkennt meines Erachtens das Gedicht, sofern er es nicht auf den Abschied im Tode bezieht, sondern auf ein vages Abschiedsgefuhl. 303
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So bleibt der zweiten Strophe die genauere Bestimmung des dem Abschied entgegengehenden Ich, das sich nicht an seine vielfachen Äußerungsmöglichkeiten verliert, sondern in seinen eigenen Grund, das vorbewußte »tiefe Ich«, zurückkehrt und im Schweigen bei sich verharrt; das Du als das sich selbst erfragende Ich erfährt sich nur durch das »tiefe Ich« als zugehörig zum Lebensgeschehen, nicht aber durch einzelne »Wirklichkeiten«: Entfremdet früh dem Wahn der Wirklichkeiten, versagend sich der schnell gegebenen Welt, ermüdet von dem Trug der Einzelheiten, da keine sich dem tiefen Ich gesellt; nun aus der Tiefe selbst, durch nichts zu rühren, und die kein Wort und Zeichen je verrät, mußt du dein Schweigen nehmen, Abwärtsfuhren zu Nacht und Trauer und den Rosen spät.
Die dritte Strophe ist damit vor die Frage nach der möglichen Identität des Ich mit sich selbst gebracht, wie es sich in der Zeitlichkeit und vor der Macht des Schweigens behauptet. Das Zurückdenken an frühere Lebenszustände gewährt keinen Besitz, da sie sich dem Zugriff wie eine »Sage« entziehen; die aufbewahrten Zeugnisse wecken nur die Frage: »War das dein Bild?«; und selbst die eigenen Worte, die die dem Menschen zugehörige Welt überstrahlen, wie das »Himmelslicht« der biblischen Erzählung die Schöpfung, gehören dem Ich nicht mehr, sind verloren und vertan. So bietet die Erinnerung an die »alten Stunden« keinen Halt, als müßte sich das Ich vergessen und auf seine Identität verzichten: Manchmal noch denkst du dich —: die eigene Sage —: das warst du doch -? ach, wie du dich vergaßt! war das dein Bild? war das nicht deine Frage, dein Wort, dein Himmelslicht, das du besaßt? Mein Wort, mein Himmelslicht, dereinst besessen, mein Wort, mein Himmelslicht, zerstört, vertan wem das geschah, der muß sich wohl vergessen und rührt nicht mehr die alten Stunden an.
In solcher Angefochtenheit und Fragebereitschaft tritt das Ich vor seinen letzten Tag als das im Licht Stehende und sich in die Nacht Verlierende, das nicht darauf verzichten kann, Tag und Nacht aufeinander zu beziehen und seine Situation durch den Vergleich mit Licht und Schatten zu erläutern. Das »tiefe Ich« bleibt auf das »hohe Licht« bezogen und versteht
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den Abschied im Gegenbild des Schattens. Es geht nicht schlechthin unter im leeren Nichts, sondern bleibt zugehörig dem Spiel des Tages, fühlt dessen Licht bis zuletzt, um dann »ohne Erinnern« zu scheiden. So ist in der Konfrontation von Ich und Abschied kein Raum für Gericht und Urteil, Lohn oder Strafe. In diesem »Spiel« des in das Licht tretenden und in das Dunkel zurückkehrenden Ich wird »nach Ernten nicht gefragt«. Es bleibt das sich selbst nicht entgehende, aber in den Abschied gestellte Ich - mehr gibt die Konfrontation der beiden Wortbereiche, Ich und Abschied, nicht her — »alles ist gesagt«: Ein letzter Tag -: spätglühend, weite Räume, ein Wasser fuhrt dich zu entrücktem Ziel, ein hohes Licht umströmt die alten Bäume und schafft im Schatten sich ein Widerspiel, von Früchten nichts, aus Ähren keine Krone und auch nach Ernten hat er nicht gefragt er spielt sein Spiel, und fühlt sein Licht und ohne Erinnern nieder - alles ist gesagt.
Die Verse besitzen nicht nur einen vieldeutigen Beziehungsreichtum, sondern lassen eindrucksvoll erkennen, wie die neuen Sprachmittel die Verwandlungen der Ich-Perspektive herausarbeiten. Die kombinatorische Verknüpfung der Wortbereiche läßt Gewußtes und Erfahrenes, Gedachtes und Angeschautes, Individuelles und Metaphorisches wie in einem Kristall zusammenschießen, so daß sich Dasein facettiert, ohne inhaltlich festgelegt werden zu können. Die Frage nach dem Ich behält ihre zentrale Bedeutung, ohne sich auf die subjektive Gefühlsaussprache einschränken zu lassen. Als eine Art Gegenstück zu dem Gedicht »Abschied« führen die Verse »Verlorenes Ich« auf die durch die neuzeitliche Naturwissenschaft geprägte Bewußtseinssituation hin. Es handelt sich nicht - wie die Überschrift vermuten ließe — um eine weltschmerzlich-pessimistische Klage der subjektiven Verlorenheit, sondern um eine ebenso präzise wie dichterische Umgrenzung eines Sachverhalts, der durch die Verschränkung der widerstreitenden Sprachbereiche der modernen Atom- und Astrophysik einerseits und der christlichen Glaubenswelt andererseits entsteht. Die Verse widerrufen nicht, daß das Ich sich nicht entgehen kann, solange es im Licht steht. Aber dieses Ich weiß zugleich um Horizonte, in denen es nicht mehr auffindbar ist, als hätte die naturwissenschaftliche Weltvorstellung das Ich aus sich verloren. Die Verse rufen Worte auf, mit denen die modernen Theorien arbeiten: Stratosphäre, Ionen, Gammastrahlen, 365
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die »Teilchen« mit elektromagnetischer Ladung, die sich zu magnetischen »Feldern« ordnen, die kosmischen Vorgänge als Fluchtbewegungen. Die um ein personhaftes Ich geordnete Welt ist damit zersprengt und eine neue Begrifflichkeit in die altvertraute eingebrochen, als machte sie von sich aus die religiöse Redeweise unmöglich. Wie soll noch der Gottessohn als Opferlamm die Erlösung des verlorenen Menschen bringen, wenn schon von der Sprache her ein Heilsgeschehen nicht mehr faßbar ist und das Wort vom Opferlamm von neuen Vorstellungen zerrissen wird, als würde das Ich zum »Opfer des Ion«, zum »Gamma-StrahlenLamm«? Die neuen Begriffe werden zu den Chimären einer Unendlichkeit, die die alte Behausung des Ich, den »grauen Stein von NotreDame«, bedrohen: Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären, Opfer des Ion -: Gamma-Strahlen-Lamm — Teilchen und Feld -: Unendlichkeitschimären auf deinem grauen Stein von Notre-Dame. Die Tage gehn dir ohne Nacht und Morgen, die Jahre halten ohne Schnee und Frucht bedrohend das Unendliche verborgen die Welt als Flucht.38
Es bleibt die Frage, ob solche Verse schon als ein Urteil über Mensch und Welt verstanden sein wollen oder — im Sinne des Lyrikers — nur die Sprache in den ihr zugewachsenen Horizonten erproben. Das Gedicht konfrontiert Sprachebenen, auf denen der heutige Mensch sich wie selbstverständlich bewegt; es macht deutlich, wie sie sich begrenzen, in Frage stellen, in ihrer Widersprüchlichkeit ertragen oder neu verknüpft sein wollen; es geht davon aus, daß sie nicht unabhängig voneinander bestehen und im Sprechenden sich begegnen. Man sollte Benn deshalb nicht auf einzelne Aussagen festlegen, als wäre er der Nihilist oder Biologist, der das Eigenrecht des Menschen leugnet.39 Das Gedicht vertritt keine Thesen, sondern setzt die Sprache in Bewegung, indem es verschiedene Sprachbereiche auf die Frage nach dem Ich zurückwendet. Im Horizont der Ionen oder der Stratosphäre begegnet das Ich keiner eigenen »Sphäre« mehr, ist es nur noch ein Lebewesen unter anderen, verliert 3S 39
Benn, Gesammelte Werke (Anm. l), Bd. III, S. 215. Vgl. die Interpretation von Helmut Motekat, »Gottfried Benn: Verlorenes Ich«, in: Wege zum Gedicht, hrsg. von R. Hirschenauer und Albrecht Weber, München 1956, S. 326— 338. 366
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es sich in die Bestialität eines sich selbst erzeugenden und wieder verschlingenden Lebens, als ließe sich alles Dasein nur noch mit einem »Bestienblick« statt dem Seelenblick begreifen, als würde es zum »Spiel von Bestien« und schließlich dem »Bestienschlund« überlassen: Wo endest du, wo lagerst du, wo breiten sich deine Sphären an - Verlust, Gewinn -: ein Spiel von Bestien: Ewigkeiten, an ihren Gittern fliehst du hin. Der Bestienblick: die Sterne als Kaidaunen, der Dschungeltod als Seins- und Schöpfungsgrund, Mensch, Völkerschlachten, Katalaunen hinab den Bestienschlund.
Gewiß steht hinter solchen Versen Nietzsches Frage nach dem europäischen Nihilismus. In seiner Schrift Der Wille zur Macht fragte er: »Was bedeutet Nihilismus?«, und er antwortete: »Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das >Warumwozu< geht von der bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von außen hergestellt, gegeben, gefordert schien - nämlich durch irgendeine übermenschliche Autorität — .«4I Das Gedicht Benns weist auf kein solches Ziel mehr, sondern bezeugt nur durch die Art seines Sprechens, wie sich das Ich im MitvoUzug des Lebens als ein eigenes behauptet. Damit ist aber zugleich deutlich, warum für Benn das »artistische« Gedicht eine so entscheidende Rolle spielen kann, in dem Sinne, daß das Gedicht selbst, das Wort oder der Vers, zum Thema des Gedichts wird. Auch das geschieht nicht, um Meinungen über das Gedicht in Verse zu bringen, sondern um die Kunst als Gehalt der Kunst aus ihrer Verflechtung mit anderen Lebensbereichen zu befreien und als Sprachwirklichkeit zu bewähren. Die Sprachwelten des Gedichts — Vers und Reim, Wortschatz und Syntax, Gedanke und Bild — stehen nicht als Stimmungsgehalt oder Schmuckform der Rede für sich, sondern erproben sich an allen Sprachinhalten des Bewußtseins und ordnen sie sich zu. Das geschieht schon 1925 in dem Gedicht »Der Sänger« und mit gesteigerter Transpa41
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renz in späteren Versen. Was in den Essays theoretisch gefordert oder erläutert wurde, das Umgehen mit dem Wort, das Machen des Gedichts aus Worten, ist in den Versen getan und als Gedichtwirklichkeit vorhanden. So spricht das Gedicht mit dem Titel »Gedicht« (1955) von der Art, wie die Zwänge des Gefühls dessen Wortbereiche mit dem Bild und Kalkül vereinen und in diesem »Potpourri« sich die Art des Daseinsbezugs kundtut. Es geht nicht mehr um die Begründung eines Sinnganzen, sondern um das Vertrautwerden mit Gegensätzen und Beziehungen, die sich durch die Sprache zu erkennen geben. Das Gedicht wird zum »Zaun«, der im Unendlichen das Übersehbare eingrenzt, oder zu einer Ziselierarbeit, die die Figuren aus dem dunklen Grund heraushebt: Du weißt, du kannst nicht alles fassen, umgrenze es, den grünen Zaun um dies und das, du bleibst gelassen, doch auch gebannt in Mißvertraun. So Tag und Nacht bist du am Zuge, auch sonntags meißelst du dich ein und klopfst das Silber in die Fuge, dann läßt du es - es ist: das Sein.42
Indem das Gedicht alle Horizonte offenläßt und nur noch die Wechselbeziehung zwischen dem Ich und seiner Sprache geltend macht, kann es als eine Art Reduktionsform sich mit allen objektiven Ordnungen, wie sie in alten Mythen und Glaubenslehren begegnen, messen. Soweit die jeweiligen Vorstellungen, Riten oder Normen eine sprachliche Gestalt gewonnen haben - und das begegnet bei den Primitiven so gut wie in den Hochkulturen —, fuhren sie auf jene Grundsituation zurück, in der der Mensch als der vom Wort Bewegte erscheint. In den altüberlieferten Strophen begegnet die allen Zeitenwandel überdauernde Form, an der sich das Menschliche als Menschliches zu erkennen gibt. Davon spricht das Gedicht »Verse« (i94i). 43 Es begnügt sich nicht mit einem emphatischen Lob der Sprache oder einer These über die Aufgaben des Gedichts, sondern wird — wie immer bei Benn — erst dadurch zum Gedicht, daß es verschiedene Wortfelder ineinanderschiebt und so die Interferenzen erzeugt, die den Worten eine unerwartete Leuchtkraft geben. Die mythischen Überlieferungen verlieren ihre inhaltliche Gebundenheit und bleiben nur als Konstellationen wirksam: 4i 43
Benn, Gesammelte Werke (Anm. i), Bd. III, S. 298. Ebd., S. i94f. 369
Gottfried Benn Wenn je die Gottheit, tief und unerkenntlich in einem Wesen auferstand und sprach, so sind es Verse, da unendlich in ihnen sich die Qual der Herzen brach; die Herzen treiben längst im Strom der Weite, die Strophe aber streift von Mund zu Mund, sie übersteht die Völkerstreite und überdauert Macht und Mörderbund. Auch Lieder, die ein kleiner Stamm gesungen, Indianer, Yakis mit Aztekenwort, längst von der Gier des weißen Manns bezwungen, leben als stille Ackerstrophen fort: »komm, Kindlein, komm im Schmuck der Siebenähren, komm, Kindlein, komm in Kett' und Jadestein, der Maisgott stellt ins Feld, uns zu ernähren, den Rasselstab und du sollst Opfer sein —«
Man muß schon in der ersten Strophe mithören, wie die Vorstellungen vom biblischen Verkündigungswort und seiner Heilsbotschaft auf die Sprachgesten der Strophe umgewendet werden und deren Dauer erläutern. Das Schöpfungswort der Gottheit und die Botschaft einer Auferstehung werden von der Macht der Verse überlagert. Der feierlich emphatische Ton klingt wie ein Nachhall einer religiös gebundenen Sprache in dem auf sich selbst reflektierenden Gedicht. So kann die zweite Strophe in entsprechender Weise die Lieder der Indianer, das Aztekenwort, im Nachhall einer Ackerstrophe bewahren und die dritte Strophe von den Atem- und Meditationsübungen indischer Fakirie und dem »AUtraum« des Ostens zu den Psalmen und Veden als den eigentlichen der Zeit enthobenen Zeugnissen alter Glaubensformen zurückkehren. Die Interferenzen zwischen dem mythischen und dem lyrischen Wort realisieren nun jenes eigentümliche Doppelleben, in das Benn den Menschen verstrickt sieht, so daß er sich entscheiden muß, ob ihn das Verfallensein an das Lebensgeschehen beherrschen soll und damit der Wille, dessen vermeintlich absoluten Sinn zu verwirklichen, oder ob er im Rückgang auf das Wort dem Geist begegnet, der eine eigene Freiheit und Dauer verheißt: Zwei Welten stehn in Spiel und Widerstreben, allein der Mensch ist nieder, wenn er schwankt, er kann vom Augenblick nicht leben, obwohl er sich dem Augenblicke dankt;
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die Macht vergeht im Abschaum ihrer Tücken, indes ein Vers der Völker Träume baut, die sie der Niedrigkeit entrücken, Unsterblichkeit im Worte und im Laut.
Auch das »artistische« Gedicht bestätigt nur wieder, wie sehr Benn den Menschen auf die ihm in der Sprache begegnenden Wirklichkeiten verweist und damit dem Gedicht eine neue Intensität und Aktualität gibt. Er fordert dazu auf, statt mit den ständig entgleitenden Gegenständen mit den Worten als den Auffassungsformen von Gegenständen zu leben. Je mehr sich das neuzeitliche Weltverhältnis dem Menschen nur noch in Abstraktionsvorgängen erschließt, um so dringlicher stellt sich die Frage, wie die Kunst durch ihre Abstraktionen den Menschen auf sich zurückzuführen vermag. Indem Benn in der Artistik der Sprache einen Gegenhalt gegen die Gefährdung des Ichs findet, erhellt er zugleich den eigentümlichen Aufbruchs- und Durchbruchscharakter des Expressionismus.
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Die Sageweisen der modernen Lyrik*
Wenn man in früheren Epochen von Dichtung sprach, meinte man damit ein Werk in gebundener Sprachform.** Der lyrische Vers war Kennzeichen und Ausweis der dichterischen Leistung; im Umgang mit ihm bezeugte sich die lebenformende und lebensteigernde Kraft der Dichtung. Uns ist das nicht mehr selbstverständlich. Die Überzeugung, daß im lyrischen Wort sich die Grundsituation des Menschen zu erkennen gibt, klingt den meisten wenig glaubwürdig und scheint schwer zu rechtfertigen zu sein. Wir halten uns lieber an die Prosa der sachlichen Erfahrungen und begrifflichen Unterscheidungen als an die Musikalität und Imaginationsfülle einer poetischen Sprache, die sich der Kontrolle des skeptischen Bewußtseins zu entziehen droht. So ist die Dichtung immer näher an die Prosa herangerückt und der Roman zur bevorzugten Literaturgattung geworden. Sobald wir aber fragen, ob und wie die Dichtung einen eigenen Raum des Menschlichen sichtbar machen kann, gewinnt die Lyrik eine neue und entscheidende Bedeutung: sie kann ihrem Wesen nach nicht bei der Versachlichung des Menschen stehenbleiben, sondern muß zu erkennen geben, wie der Mensch zu sich selbst zurückfindet. Wenn auch die moderne Lyrik — wie alle moderne Kunst — den Aufnehmenden leicht in mancherlei Verlegenheiten und Verständnisschwierigkeiten versetzt, so geschieht das doch nur darum, weil sie die Verlegenheit sichtbar macht, in der der Mensch sich heute als Mensch befindet. Denn wo die Kunst spricht, geht es um den Sinn und die Möglichkeiten des Humanen in einer Welt, die dieses Humane nur immer zu verleugnen bereit ist. Und * In: Zur Lyrik-Diskussion, hrsg. von Reinhold Grimm, Darmstadt 1966 (Wege der Forschung in), S. 83-114. Die hier vorliegende Fassung ist eine verkürzte und überarbeitete Version des gleichnamigen Aufsatzes in: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 5, 1953, H. 3, S. 28-56. Auslassungen sind mit [...] gekennzeichnet. ** Den vorliegenden Ausführungen liegt ein Vortrag zugrunde, der am 6. Oktober 1952 auf der Akademie Comburg bei Schwab. Hall anläßlich eines Lehrgangs für Deutschlehrer gehalten wurde. 372
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je mehr sich dieses Humane in die Enge getrieben sieht, um so mehr auch die Kunst. Wir können deshalb nur versuchen, das Verfahren zu verdeutlichen, das sich in der modernen Lyrik durchgesetzt hat. Wir dürfen uns nicht mit überkommenen Vorstellungen zufriedengeben, keine zeitlosen Gattungsnormen voraussetzen, sondern wollen fragen, in welcher Weise die heute sichtbaren Formen auf das Grund- und Bildungsgesetz der Lyrik zurückweisen und es selbst auf neue Weise erhellen. Wir suchen die Eigentümlichkeiten des dichterischen Tuns zu bestimmen und dadurch seine menschliche Bedeutsamkeit sichtbar zu machen. Es genügt nicht, auf Ideen und Vorstellungen zu achten, die sich auch in prosaisch-begrifflicher Rede mitteilen lassen, sondern es bleibt zu klären, inwiefern die Lyrik eigene Sageweisen ausarbeitet, um die innere Selbsterfahrung des Menschen vernehmbar zu machen und zu rechtfertigen. Wir sind es gewohnt, unser Lyrikverständnis an Goethe zu orientieren und alles lyrische Sprechen als eine Gefühlsaussprache aufzufassen, die in engstem Zusammenhang mit dem persönlichen Erleben steht. Es gehört zu den beglückenden Wesenszügen der Goetheschen Dichtung, daß hier nicht über Gefühle gesprochen wird, sondern daß wir im Vers dem Pulsschlag des fühlenden Herzens begegnen; das Innere scheint im Wort gegenwärtig, weil Sprachgebärde und Vorstellungsrhythmus es uns entgegentragen. Die Betroffenheit des Menschen im Fühlen tut sich kund; erst dadurch wird die Lyrik als Erlebnisausdruck wirklich, wie Goethe selbst beteuert: »Immer hab' ich nur geschrieben, wie ich fühle, wie ich's meine.« Damit scheint die Maxime ausgesprochen, die seitdem wie selbstverständlich in allem lyrischen Schaffen weitergewirkt und unseren Erwartungen vom Gedicht die Richtung gewiesen hat. Goethes Dichten hat uns hellhörig gemacht, um ein gefühlsechtes von einem gefühlsunwirklichen Sprechen zu unterscheiden. Die Gebärde des von einem inneren Drang getriebenen Dichters soll sich den Versen mitteilen, so wie es uns Goethe am Anfang des »Ewigen Juden« nahebringt: Um Mitternacht wohl fang ich an, Spring aus dem Bette wie ein Toller ... Vor diesem Andrang der Gefühlskräfte scheint alle Selbstgenügsamkeit der Form ihr Recht zu verlieren und allein das Lautwerden des Herzens den dichterischen Auftrag zu bestimmen. Gegenüber aller rhetorischen oder witzig-spielenden Selbstgenügsamkeit der Form gilt nur noch die Einheit von Erlebnis und Ausdruck. Wo Goethe vom Amt des Dichters spricht, richtet er sich auf den Wechselbezug zwischen der Gefuhlsun-
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mittelbarkeit des eigenen Lebens und der Form und Wahrheit des Gedichts. Aber wir täten Unrecht, wenn wir die Erlebnisunmittelbarkeit des Goetheschen Liedes zum alleinigen Maßstab nehmen wollten, um alle Lyrik von da aus zu beurteilen. Schon in der Goethezeit kommen wir mit einer solchen Erwartung nicht zu einem Verständnis sehr andersartiger Verhaltungsweisen. Wir können bei Hölderlin nicht sagen, daß er die bei Goethe erkennbare lyrische Haltung verleugnen wollte; aber offenbar macht das ihm Wesentliche doch eine ganz andere Kennzeichnung des Dichteramts nötig. Nicht das Verhältnis der Geflihlsbewegung zur Form und Wahrheit des Gedichtes bestimmt ihn, sondern ein religiös oder metaphysisch begriffener Auftrag. So sind für ihn ganz andere Worte als für Goethe erhellend; er sagt: »Beruf ist mir's, zu rühmen Höhers; darum gab die Sprache der Gott und den Dank ins Herz mir.« Oder: »Gut auch sind ... wir, wenn wir kommen mit Kunst und von den Himmlischen Einen bringen.« Für seine Verse ist es kennzeichnend, daß der Dichter nicht nur aufsein eigenes Gefühl zurückweist, um sein dichterisches Sprechen zu rechtfertigen, sondern daß er einen übergreifenden Bezug kennt, den die Dichter vermitteln; ihr Wort richtet sich auf das Höhere oder den Höchsten, auf die Himmlischen oder die Götter, auf den »gemeinsamen Geist« oder - wie es auch heißt - auf den »göttlichen Geist«. Die schwebende Ausdrucksweise läßt schon erkennen, daß mit diesem aus der Gefühls- und Erlebniswirklichkeit hinausweisenden Bezug nicht einfach eine sachliche Gegebenheit gemeint sein kann, sondern eine Macht des umfangenden Lebens. Dem entspricht es, daß sich der Dichter nicht einfach auf sein Ausdrucksverlangen, auf das Lautwerden des Gefühls verwiesen sieht, sondern auf das Rühmen und Danken, auf das Sinnen und Singen; daß er also in seinem Sprechen einem Gegenüber zugeordnet bleibt, das man rühmen kann, dem ein Dank gebührt, das durch das Singen vernehmbar wird. Das Dichten erfüllt sich erst dadurch, daß es im Rühmen einen der Himmlischen bringt und ihn der befreundeten Brust vernehmbar macht; daß es im Danken einen Beruf erfüllt, der für die Menschen eine besondere Bedeutung besitzt. Es ist damit nicht einfach das Ausdrucksverlangen stilisiert und mythisiert, sondern der dichterischen Aussage ein übersubjektiver Gehalt zugeordnet: das Rühmen richtet sich auf ein Objektives, und die Sprache des Dichters erscheint als Gabe, die ihm von einer anderen Macht zukommt. Aber zugleich entzieht sich doch diese objektive Macht jeder gegenständlichen Gewißheit, sofern sie als ein Hö374
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heres, als ein Gott über alles Menschenmaß hinausweist und deshalb gerade ein Rühmen und Danken nötig macht, das nur das dichterische Wort zu leisten vermag. Die Dichtung als Gefühlsaussprache kommt bei Hölderlin insoweit an ihre Grenze, als das Herz sich nicht mehr von sich aus versteht, sondern sich auf ein Höheres verwiesen sieht, das nur in der Innerlichkeit des Geistes sein Recht besitzt; der Dichter fuhrt aus der Sphäre der Welt in die des Gottes hinüber und bindet damit die Gefühlswelt an einen umgreifenden Zusammenhang. Es geht offenbar um die Frage, von wo her sich das Innere verstehen kann oder wie das Gefühl über sich verfügt. Dem Goetheschen Wort: »Immer hab' ich nur geschrieben, wie ich fühle, wie ich's meine« steht deshalb das Hölderlinsche gegenüber: »Beruf ist mir's, zu rühmen Höhers.« Die Lyrik der Gegenwart kann noch deutlicher zeigen, wie sehr wir uns von der lyrischen Form Goethes entfernt haben und wie wir mit den geläufigen Kennzeichnungen des Gedichts nicht mehr auskommen. Da begegnet uns zunächst das Phänomen des epigonenhaften Sprechens, das uns bewußt macht, daß es nicht genügen kann, so weiter zu dichten, wie es gültige und anerkannte Vorbilder getan haben. Man kann dichten wie Goethe oder Eichendorff, wie Storm oder Liliencron, wie George oder Rilke. Darüber hat Hermann Hesse kürzlich eine ebenso launige wie wissende Betrachtung angestellt: »Begegnungen mit Vergangenem.«1 Er erzählt, wie ihm ständig Gedichte zugeschickt werden, denen man nur zu rasch ihre Herkunft anmerkt; wie ihm dann aber ein eigenes, längst vergessenes Jugendgedicht in die Hände fällt und er gestehen muß, daß es auch ihm nicht besser ergangen ist, daß auch er zunächst ganz wie sein Vorbild, wie Eichendorff, zu sprechen suchte. Es gilt aber offenbar in der Kunst und so auch im Gedicht nur das unverwechselbar Eigene, das den alten Sinn des Dichtens wieder neu erfüllt. Daß wir uns gegen das Epigonentum wehren, werden wir als Hinweis darauf verstehen müssen, daß die Kunst mit der Geschichtlichkeit des Menschen eng verbunden ist. Aber wo finden wir das Eigene, das unserer Stunde zugehört und doch Lyrik bleibt? Schon in den achtziger Jahren, zur Zeit des beginnenden Naturalismus, regte sich das Bewußtsein, daß die überlieferte lyrische Formenwelt der eigenen menschlichen Situation nicht mehr angemessen ist. 1885 erschien eine Anthologie Moderne Dichtercharaktere, von Wilhelm Arent herausgegeben, die schon im Vorwort von Hermann Conradi den AnSiehe jetzt Hermann Hesse, Gesammelte Schriften, 7 Bde., Berlin 1957, Bd. 7, S. Soyff.
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spruch erhebt, »endlich die Lyrik geschaffen zu haben, mit der vielleicht wieder eine neue Lyrik anhebt; ... wir brechen mit den alten überlieferten Motiven ... wir wollen alles epigonenhafte Schablonentum über den Haufen werfen«. In allen Mitwirkenden, den Brüdern Hart, Karl Henkkell, Arno Holz und anderen lebt »das grandiose Protestgefuhl gegen Unnatur und Charakterlosigkeit«. Aber so sehr man auch im Zeichen der Moderne nach neuen Möglichkeiten der Lyrik verlangt, das Ergebnis bleibt doch enttäuschend; es lassen sich wohl neue Stoffe und Gesinnungen wahrnehmen, aber die lyrische Sprache bleibt in gewohnten Bahnen, verfällt der Rhetorik oder dem gereimten Alltagsgerede; es fehlt eine eigene lyrische Form. Am aufschlußreichsten sind wohl die Gedichte von Arno Holz, die aus dem üblichen lyrischen Ton ausbrechen und ihn parodieren, dadurch aber nur der Reflexion verfallen: »Der Tonfall meiner lyrischen Kollegen / ist mir ein unverstandener Dialekt, / denn meinen Reim hat die Kultur beleckt / und meine Muse wallt auf anderen Wegen ... Ich seh die Welt sich drehn um ihre Achsen / als Kind der Großstadt und der neuen Zeit.« So greift er nach Motiven des Großstadtlebens, etwa der Elendssituation im Hinterhaus. Aber durch solche neuen Motive entsteht kein neuer lyrischer Ton. Holz selber wird sich später dessen bewußt, daß eine neue Kunst eine neue Darstellungsweise voraussetzt und es mit neuen Inhalten und Ideen nicht getan ist. Daß die Modernen Dichtercharaktere die Lyrik zu revolutionieren meinten, sei ein naiver Irrtum gewesen: »Man revolutioniert eine Kunst nur, indem man ihre Mittel revolutioniert. Oder vielmehr, da ja auch diese Mittel stets die gleichen bleiben, indem man ganz bescheiden nur deren Handhabung revolutioniert.«2 Für Holz geht es dabei um die Frage, wie in einer im Sinne der Naturwissenschaften gesetzlich erklärbaren Welt der Lyrik eine eigene Aufgabe und Möglichkeit bleibt. Das Gedicht soll zur natürlichen Gebärdung des Lebens in der Sprache werden und verzichtet deshalb auf jedes erkennbare Versmaß wie auf den Reim. Der Bruch mit den überlieferten Formen schafft eine neue Freiheit, aber es bleibt dahingestellt, ob die eigenen Versuche von Holz, seine Phantasusgedichte, über den Charakter des Experiments hinauskommen. Die Opposition gegen den Naturalismus regt sich früh und ist geradezu gleichzeitig mit dessen erstem Hervortreten. Schon 1891 erscheint die Schrift von Hermann Bahr Die Überwindung des Naturalismus; 1894 veröffentlicht er seine Studien zur Kritik der Moderne mit einem Beitrag 1
Vgl. Arno Holz, Revolution der Lyrik, Berlin 1899, S. 23. 376
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über die »Symbolisten«: »Die Kunst will jetzt aus dem Naturalismus fort und sucht Neues.« Der Symbolismus habe mit Hilfe der Symbole eine neue Technik gewonnen, ein vorher unbekanntes lyrisches Verfahren, eine besondere Methode. Aber seine Erläuterungen beschränken sich auf ein technisches Verfahren, bleiben entsprechend oberflächlich und lassen noch kaum ahnen, wie es dem lyrischen Wort eine neue Bedeutung gibt; das würde erst klar, wenn man die Distanz erläutern würde, die zwischen dem Gefühl und seiner Darstellung zur Geltung kommen kann, wenn sich ein Symbol zwischen beide stellt: durch diese Distanz bleibt der lyrische Ausdruck nicht bei der Gebärdung des Schmerzes stehen, sondern die Sprache gewinnt die Freiheit zu ihren eigenen Bildern und damit zur Gegenüberstellung von Werk und Leben, von Schönheit und Alltäglichkeit. Es ist der Weg, den Hofmannsthal und George einschlagen. In den Aufsätzen von 1896 über »Gedichte von Stefan George« und über »Poesie und Leben« betont Hofmannsthal im Anschluß an Mallarme, »daß das Material der Poesie die Worte sind«. Denn »das Element der Dichtkunst ist ein Geistiges, es sind die schwebenden, die unendlich vieldeutigen, die zwischen Gott und Geschöpf hangenden Worte«. Weder die Berufung auf den Inhalt noch auf das Leben kann die Bedeutung der Dichtung rechtfertigen, sondern nur der dichtende Umgang mit dem Wort. So heißt es: »Die Worte sind alles, die Worte mit denen man Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen und nach inspirierten Gesetzen als ein Bewegtes vorspiegeln kann. Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie ... Eine neue und kühne Verbindung von Worten ist das wundervollste Geschenk für die Seelen ... Man lasse uns Künstler in Worten sein.«3 Auch für Hofmannsthal ist das Leben die letzte Instanz des Daseinsverständnisses; aber er wird sich dessen bewußt, daß die Kunst auf die Distanz zwischen Leben und Werk angewiesen ist und nur dadurch das Geistige der Schönheit zur Geltung bringen kann, daß sie den Worten durch diese Distanz ihr Eigenleben gibt. »Es ist ein Hauptmerkmal der schlechten Bücher unserer Zeit, daß sie gar keine Entfernung vom Leben haben: eine lächerliche korybantenhafte Hingabe an das Vorderste, Augenblickliche hat sie diktiert.«4 In dieser Distanz von Kunst und Leben 1
4
Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, hrsg. von H. Steiner, Frankfurt a. M. 1950-59, Prosa I, 1950, S. 307 u. 309 (»Poesie und Leben«). Ebd., S. 283.
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geht es nicht um ein artistisches Spiel, sondern um die Art, wie der Mensch sich durch die Sprache selbst gehört, wie er seinen eigenen Ton findet; es genügt nicht, Gebärden des Lebens vorzuführen, sondern es kommt darauf an, in der Sprache sich seiner selbst zu vergewissern. Indem der Dichter den Dingen Sprache gibt, macht er uns erst im Leben heimisch, zeigt er uns die Welt als Welt. Diese neue Sprachkunst ist nicht ein unverbindlicher Ästhetizismus, sondern ein entschiedener Versuch, im durchgängigen Determinismus der Natur einen Raum der Freiheit zu gewinnen, in dem der Mensch sich seiner selbst vergewissert. Im Stellen der Worte stellt sich der Mensch selbst her, auf die Gefahr hin, daß er damit der Lüge verfällt. Die Lyrik ist nicht mehr nur das Lautwerden einer Stimmung, der Ausdruck eines Gefühls, sondern die Selbstvergewisserung des Menschen in der Sprache und durch Sprache. In der Fatalität der Umstände vermag die lyrische Sprachfügung ein eigenes Tätigsein des Menschen zu bezeugen. So geht es in dieser Sprachkunst zwar um ähnliche Voraussetzungen wie im Naturalismus, da auch sie den Menschen auf das »Leben« verweist; aber sie kommt zu radikaleren Folgerungen und bekennt sich zu der Distanz zwischen Sprache und Leben, um dadurch auf das Innere des Gefühls zurückzuweisen. Freilich, bei George selbst wird auf die besondere Situation der modernen Kunst kaum je reflektiert, er beschränkt sich auf die dichterische Aussage selbst und auf andeutende Hinweise in den Blättern für die Kunst, wo die Merksprüche von der »geistigen Kunst« als einer »Kunst für die Kunst« sprechen. Seine Selbstvergewisserung in der Sprache führt zur Stilisierung der Gebärden, der Naturbilder: hier werden nicht Situationen des Lebens sprachmimisch vorgeführt wie im Naturalismus, sondern in eine stilisierende Form gebracht, die vorn Tätigwerden des Dichters in der Sprache zeugt. Die Begegnung mit der Lyrik der französischen Symbolisten wie auch die wachsende Entschiedenheit des eigenen Verfahrens führt in dem ersten Gedichtband, mit dem George hervortrat, den Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal, zu einer dichterisch bedeutsamen Verwandlung der Sprache: sie schafft sich ihr eigenes Kunstreich und erhebt den Dichter über den Alltag. Die Selbstvergewisserung des Menschen im lyrischen Wort bleibt die entscheidende Aufgabe; die Distanz zwischen Natur und Kunst rechtfertigt die Verwendung der kostbaren, erlesenen Worte, die die Umkehrung des Natürlichen in das Künstliche, ja, des Lebendigen in das Tote vollziehen. »Im Park« heißt es:
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Rubinen perlen schmücken die fontänen · Zu boden streut sie fürstlich jeder strahl · In eines teppichs seidengrünen strähnen Verbirgt sich ihre unbegrenzte zahl. Der dichter dem die vögel angstlos nahen Träumt einsam in dem weiten schattensaal ...
Das Vertraute und Lebensnahe wird ins Künstliche, Fremde und damit ins Stilisierte und Kostbare gewendet. Die Wassertropfen des Springbrunnens werden zu Rubinen und Perlen, das Gras der Wiese zu seidengrünen Strähnen eines Teppichs, der Platz unter den Bäumen zu einem Schattensaal: der Dichter spricht nicht aus dem Einklang mit dem Leben, sondern aus der Selbstbehauptung in ihm und verwandelt deshalb das vermeintlich Wirkliche seiner Umgebung in den Traum seiner Seele. Am eindrucksvollsten, aber auch gewalttätigsten geschieht das in den Versen des Algabal, wo die Stilisierung alles Natürliche aufhebt und die vertrauten Worte fremd werden; dadurch gerät die Sprache in eine unerhörte Eigenbewegung; sie drängt in die Negation aller Erscheinungen und behauptet sich doch als letzte Bezeugung des Menschlichen vor dem Nichts. Das »Nicht« und »Nie« und »Nimmer« löscht das Dasein aus, erzeugt aber die »große schwarze Blume« des Gedichts, in dem die Sprache zu sich selbst zurückkehrt: Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme · Der garten den ich mir selber erbaut und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut. Von kohle die stamme, von kohle die äste Und düstere felder am düsteren rain ... Wie zeug ich dich aber im heiligtume . . . Dunkle große schwarze blume?
Das Gedicht kann aus sich leben, weil die Sprache in der Distanz zum Leben ihre eigene Schönheit gewinnt, sofern sie nur die Entschiedenheit des Ichs nicht aufhebt. In dem befremdenden Klang dieser Verse begegnet eine dichterische Kraft und Größe, die aus den Grenzen der Stimmungslyrik des neunzehnten Jahrhunderts völlig herausführt und eine neue Situation des dichterischen Wortes zu erkennen gibt. Das Wort rückt auf neue Weise in sein Gefüge, weil es aus seiner Gegenstandsnähe in die Stilisierung umgewendet wird. Je weniger diese Lyrik sich mit der Gefühlsunmittelbarkeit zufrieden gibt, um so mehr wagt sie eine 379
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Verfremdung der Sprache, um einen Formanspruch sichtbar zu machen. Sie verwirklicht eine geistige Kunst, die nicht ohne Gewaltsamkeit die Gefährdungen des modernen Menschen durch ihre Formstrenge zu bannen sucht. Daß die überkommene Stimmungslyrik nicht mehr genügt, um den inneren Beunruhigungen Sprache zu geben, und daß das Gefühlsleben sich auf neue Weise verstehen muß, ist bei dem frühen Rilke besonders gut zu beobachten. Die Verse im Larenopfer von 1896 suchen noch im Sinne der Tradition den lyrischen Stimmungston; Mensch und Welt scheinen sich gefühlshaft zu durchdringen; alle Gestalten der dem Dichter vertrauten Prager Umwelt weisen auf die eigenen inneren Zustände zurück. Die Beschreibung eines Adelshauses schließt geradezu mit den Worten »Das nenn ich Stimmung, ja, das nenn ich - Zauber«, als wollten diese Gedichte nur den Stimmungszauber des Lebens wachrufen. Und doch, wenn man genauer hinhört, zeigt sich, daß die für die Stimmung wesentliche Übereinstimmung von innen und außen gar nicht mehr unangefochten gilt, daß es vielmehr höchst unsicher geworden ist, ob die individuelle Gefühlswelt irgend einen echten Bezug zur Umwelt besitzt oder ob sie nicht ständig in der Gefahr steht, sich in sich selbst zu verlieren und die Außenwelt in ein unverbindliches Traumreich des Inneren zu verwandeln. Es setzt sich eine Sprachgebärde beherrschend durch, die alle Lebenserscheinungen nur noch als Metaphern eines subjektiven Inneren gelten läßt. Die Eindrücke werden zu einem subjektiv gestimmten »Mir-ist-als-ob« entwertet und dienen nur noch als Vergleich für die wechselnden Bewegungen des Inneren. So heißt es: Mir ist so weh, so weh, als müßte die ganze Welt in Grau vergehn, als ob mich die Geliebte küßte und sprach: Auf Nimmerwiedersehn. Als ob ich tot war und im Hirne mir dennoch wühlte wilde Qual, weil mir vom Hügel eine Dirne die letzte, blasse Rose stahl ...
Hier sucht nur das Gefühl der Verlassenheit und des Schmerzes nach einem Ausdruck, aber so, daß jeder Grund der inneren Zustände zu einem »Als-ob« entwertet wird und damit die eigene Not bezuglos zu werden droht. Die Stimmung spricht nur noch vom »Als-ob« der möglichen Untreue der Geliebten oder der Verlassenheit im Tode. Das Verhältnis von Innen und Außen scheint sich aufzulösen, so daß ein eigentlicher 380
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Stimmungsgrund nicht mehr zur Verfügung steht. Es bleibt nur der Anspruch spürbar, das Innere als ein dem Menschen Wesentliches und Eigenes festzuhalten, ohne daß es sich in einem entschiedeneren Sinn erfassen und verstehen könnte. Die Metaphorik kann immer kühner ausgreifen und eine Vielfalt von Vergleichen in das Gedicht hineintragen, weil die Außenwelt ihren Sinngehalt verliert und zur Metapher der inneren Zustände entwertet ist. Je weniger aber Innen und Außen wirklich zusammenstimmen, je mehr sie sich nur ineinander spiegeln, um so fremder wird sich der Mensch mit seinem Gefühl; wenn er keine Heimat als Zuflucht kennt, kennt er auch sich selbst nicht. So taucht in Rilkes Frühen Gedichten noch eine andere Sprachgebärde auf: der sich selbst fremd gewordene Mensch fragt nach sich selbst und muß es lernen, diese Frage auszuhalten, ohne eine direkte Antwort geben zu können. Das antwortlose Nachfragen nach sich selbst wird zu einer für Rilke entscheidenden lyrischen Geste, die bis in seine späten Gedichte hinein das Sprechen bestimmt und immer zugleich den unaufgebbaren Anspruch auf ein inneres Dasein zu erkennen gibt. So heißt es schon in den »Liedern der Mädchen«: »Fragt jemand, wer ich sei? / ... Gott, ich bin jung und ich bin blond / und habe ein Gebet gekonnt / und geh gewiß umsonst umsonnt / und fremd an mir vorbei.«5 Im Nachfragen begegnet nur ein fremdes Umsonst; aber gerade dadurch kommt die Sprache an die Grenze des Sagbaren und sinkt in eine neue Tiefe des Namenlosen. Die Dinge des Daseins gewinnen neuen Raum um sich, weil sie nicht mehr Stimmungshaft überwältigt werden, sondern sich in einer Fremdheit zeigen, die der Fremdheit des eigenen Innern entspricht. Mensch und Ding gehören beide zur namenlosen Fremdheit eines unüberschaubaren Lebens, in dem sie sich vorfinden. Und so bleibt dem Gedicht nur die Aufgabe, Mensch und Ding so zu nennen, daß dieses Namenlose nicht verdeckt wird, sondern gegenwärtig bleibt. Je mehr die Alltagssprache den Anschein erregt, als ob wir mit den Begriffen über die Dinge verfugten, um so mehr muß das lyrische Wort zu jenem anfänglichen Sagen zurückkehren, wo das Wort dem Namenlosen begegnet. In dem Gedicht »Fortschritt« von 1900 aus dem Buch der Bilder weiß sich der Dichter mit dem Dasein in einem neuen Einverständnis, weil er das Namenlose vorausgibt: »Immer verwandter werden mir die Dinge / und alle Bilder immer angeschauter. / Dem Namenlosen 5
R. M. Rilke, Gesammelte Werke, 6 Bde., Leipzig 1927, Bd. i, S. 321. 38l
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fühl ich mich vertrauter: / mit meinen Sinnen, wie mit Vögeln, reiche / ich in die windigen Himmel aus der Eiche ...« Es ist das Leben selbst, das namenlos vertraut wird; die Dinge zeigen sich, ohne etwas über sich auszusagen. Und dieses schweigende Sich-Zeigen der Dinge, das zu unserem eigenen Dasein gehört, gilt es ins Gedicht zu holen. Das Vertrautwerden der Menschen mit dem Namenlosen in sich und den Dingen erscheint als die Aufgabe, die das Gefühl zu leisten hat und der der Dichter die Sprache gibt. Es ist das Thema, das Rilke seit dem Stunden-Buch und den Neuen Gedichten nicht wieder losgelassen hat. Es genügt ihm weder der lyrische Stimmungston noch die unmittelbare Erlebnisaussprache, weil er erst einen Boden gewinnen muß, von dem aus das Gefühl zu sich zurückkehren kann. Im antwortlosen Nachfragen begegnet er dem Namenlosen eines sich zeigenden Lebens, in das sich das Gefühl ausgibt. Er führt damit auf die Grundsituation des Lyrikers zurück, der die innere Selbsterfahrung des Menschen nicht als etwas Bekanntes voraussetzen kann, sondern durch sein Wort erst wieder vernehmbar macht. So vermag sein Beispiel die Situation der modernen Lyrik in besonderem Maße zu erhellen und auf die Voraussetzungen der ihr zugehörigen Sageweisen hinzuführen. Wir sahen schon, wie bei Hölderlin die Unmittelbarkeit der Gefühlsaussprache an ihre eigene Grenze kam, sofern das fühlende Ich nach dem Grund fragt, aus dem es lebt, und nach dem Höheren verlangt, das ihm ein rühmendes, dankendes Wort ermöglicht. Bei Rilke zeigt sich, daß dieses Höhere antwortlos bleibt und nur in der Gebärde des Nachfragens noch begegnet. Die damit sich ankündigende Angefochtenheit des Ichs ist nur immer bewußter geworden und hat in wachsendem Maß dem Lyriker die Selbstverständlichkeit und Unbekümmertheit des SichÄußerns genommen. Die krisenhaften Erscheinungen in der modernen Lyrik wären also ein Zeichen dafür, daß die frühere Selbstgewißheit der Ich-Aussprache mehr oder minder verlorengegangen ist, ohne daß sich ein neuer Boden zeigte, von dem aus sie wieder sinnvoll würde. Der experimentierende Charakter so vieler Verse wäre daraus wohl verständlich. Die Sprache begnügt sich mit überraschenden Versetzungen der Worthorizonte, mit Überschneidungen der Vorstellungen und Begriffe, mit einem Spiel der Linien und Figuren, ja mit dem kapriziösen Einfall, dem neuen Dessin. Das Gedicht stellt sich her, indem es sich zugleich verleugnet. Besonders entschieden und bewußt ist diese Situation von Gottfried Benn (1886—1956) zu nutzen gesucht worden. Bei ihm ist die Verloren382
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heit und Fragwürdigkeit des Ichs zum entscheidenden Thema geworden. Gerade weil der Sprechende sich selbst nicht findet und kennt, jedenfalls in allen entscheidenden Hinsichten vergeblich nach sich selbst fragt, findet er seine Aufgabe vor allem darin, sich im Umgang mit der Sprache wenigstens dieser Erfahrung der Verlorenheit zu vergewissern. In dem Maße, wie die Worte dem Menschen den Zugang zur Welt und zu sich selbst zu verstellen drohen, gilt es sie beweglich zu halten und zwischen ihnen hindurch in einen freien Raum zu dringen, über die durch die Sprache nahegelegten Fixierungen von Ich und Welt hinauszugelangen und dadurch die eigene Angefochtenheit zu bestehen. Wenn man fragt, wie bei Benn das Ich sich selbst begegnet, obgleich es gerade nicht über sich selbst verfugt, wird nicht nur sein eigenes Dichten verständlicher, sondern auch die Not erkennbarer, in der sich heute das Gedicht befindet. Ich und Welt fordern sich gegenseitig und heben sich gegenseitig auf, wenn eins von beiden zerfallt oder übermächtig wird. Dem Zerfall des Personseins entspricht der Zerfall der Welt in eine unbegriffene Tatsächlichkeit. Davon spricht Benn gelegentlich sehr direkt und ausdrücklich: in den Statischen Gedichten (1948) mit den Versen »Verlorenes Ich« und in Fragmente (1951) in den gleichnamigen Zeilen. Man mag zögern, auf diese Wortfiguren die Bezeichnung Vers oder Gedicht anzuwenden, da sie nur sehr bedingt einen vollen Sprachleib, eine klanglich-rhythmische Bewegung besitzen und mehr wie Merksprüche, wie Gedankenextrakte anmuten, die nur insoweit zum Vers gelangen, als sie auf ein Seiner-selbst-inne-Werden des Menschen verweisen, auch wenn sie es zugleich in Frage stellen. Das Ich ist zersprengt von Stratosphären, und die Welt begegnet nur noch als Flucht, ist zerdacht: »die Mythe log«; das Ich weiß sich nicht mehr umschlossen von einer gedeuteten Welt, wie sie der Glaube vergangener Epochen zur Verfügung hielt; so kennt sich das Ich nur noch, sofern es verloren ist. Es bleiben nur Fragmente, wie es die so benannten Verse sagen, weil weder Religion noch Wissenschaft auf solche Beunruhigung zu antworten wissen. Man mag darin zunächst nur Meinungen sehen, wie sie einer pessimistischen Kulturkritik oder nihilistischen Haltung entsprechen; aber in welchem Sinne haben sie etwas mit dem lyrischen Gedicht zu tun? Wird hier die lyrische Form nicht in dem Maße zerschlagen, wie sie sich dem Gedankenexperiment überläßt und dem Aphorismus nähert? Müssen wir diese als Verse gedruckten Sprachgebilde auch als Verse anerkennen?
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Moderne Lyrik Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären, Opfer des Ion -: Gamma-Strahlen-Lamm -, Teilchen und Feld -: Unendlichkeitschimären auf deinem grauen Stein von Notre-Dame. Die Tage gehn dir ohne Nacht und Morgen, die Jahre halten ohne Schnee und Frucht bedrohend das Unendliche verborgen -, die Welt als Flucht/'
Wir wagen solchen Zeilen gegenüber nicht ohne weiteres von ihrem Sinn zu sprechen, und ebenso schwer mag es sein, eine Gefühls- oder Erlebnissituation zu fixieren. Eher können wir feststellen, daß hier etwas mit der Sprache geschieht, was ihrem vertrauten Mitteilungscharakter widerspricht: die grammatischen Beziehungen sind nicht leicht durchsichtig, die Worte scheinen wie isolierte Blöcke nebeneinanderzustehen, das Verlangen nach Anschauung und bildhafter Vorstellung wird mißachtet, nur einzelne Wortbrocken springen vor, und im übrigen sieht man sich aufgefordert, die Wortkombinationen zu beachten und in ihren Beziehungen zu verfolgen: gibt es mehr als eine Stratosphäre, kann die lonentheorie das Ich zum Opfer des Ion machen, was ist Gamma-Strahlen-Lamm? Oder ist das »Opferlamm« der biblischen Überlieferung durch Ionen und Gammastrahlen »zersprengt« und dadurch erst die Wortkombination möglich geworden? Und wie geht es von da zu den Chimären von Notre-Dame; warum entspricht das verlorene Ich den »Unendlichkeitschimären«? Sind seine Erwartungen solche Chimären gewesen? Und was sind Tage ohne Nacht und Morgen oder Jahre ohne Schnee und Frucht, also Winter und Herbst? Offenbar rein zahlenmäßige Zeiträume, die das Unendliche und also Ewige verbergen. So bleibt die Welt als Flucht nur Folge von Zahlen und Teilchen, versachlicht, aber leer und darum nicht mehr Welt, in der sich ein Ich finden kann. Wir geraten über diesen Worten ins Spekulieren, aber vielleicht auch in eine Betroffenheit; gibt es in dieser Kombinatorik noch etwas anderes als den interessanten Gag, der das, was unser Bewußtsein sonst verschiedenen Sphären zuweist, nun auf den gleichen Boden stellt? Besteht das Dichten darin, daß die Worte »faszinierend montiert« werden; kann das Gedicht der Vorstellung noch Klang und Gestalt geben oder begnügt es sich damit, uns so etwas wie ein Begriffs- und Ratespiel vorzulegen? Gottfried Benn, Gesammelte Werke, 4 Bde., hrsg. von D. Wellershoff, Wiesbaden 19581961, Bd. 3, 2. Aufl., 1963, S. 215.
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Und was besagt unter diesen Umständen die Vers- und Strophenforrn? Gewiß, die Reimordnung des Vierzeilers wird festgehalten, wobei neben überraschenden auch alltägliche Reime begegnen: Sphären — Chimären; Lamm - Notre-Dame sind so interessant wie Kaidaunen - Katalaunen; aber Morgen — borgen oder Frucht und Flucht haben für sich genommen nichts Besonderes und werden erst durch die sonstige Sprachbehandlung überraschend. Sobald man nach dem Versmaß fragt, begegnet eine ausgesprochene Lässigkeit; die erste Strophe läßt vermuten, daß es sich um einen funftaktigen Vers handelt, meist alternierend, doch gelegentlich mit freierer Versfüllung; aber die zweite Strophe schließt mit einem Zweitakter, die dritte und vierte mit einem Viertakter; in der fünften Strophe haben wir nach drei Viertaktern einen Zweitakter usw. Also ein irgendwie geartetes strengeres Maß kennt dieser Vers nicht mehr; man nimmt sich alle Freiheit und verzichtet in anderen Gebilden auch auf den Reim. Diese Verleugnung des Versmaßes erschwert aber zugleich die Sprechbarkeit; das Gedicht lebt nicht im Hersagen, sondern im Nachlesen. So sagt Benn: »... Daß ich persönlich das moderne Gedicht nicht für vortragsfähig halte, weder im Interesse des Gedichts noch im Interesse des Hörers. Das Gedicht geht gelesen eher ein.«7 Der Aufnehmende soll sehen, wie lang es ist, wie die Strophen gebaut sind. Aber was sagt es über das Gedicht, wenn es nicht mehr gehört, sondern gesehen sein will? Verzichtet es dann nicht auf einen wesentlichen Teil der Sprache, daß sie laut werden will? Und ist nicht mit dem Lautwerden ihre Bildkraft eng verbunden? Wird sie nicht zum gedachten Begriff, wenn sie sich auf das Druckbild beschränkt? Begriffliche Kombinatorik und Montage können gewiß einen eigenen Reiz besitzen; aber man muß begreifen, wie sehr sich dadurch die Sprache in die Enge getrieben sieht. Sie scheint sich selbst in Frage zu stellen, sofern sie Ich und Welt nicht mehr in Eins zu setzen weiß. Sie lebt nur noch in Fragmenten, halben Lauten, geborgten Worten, die sie ineinander zu spiegeln sucht, und droht damit umzuschlagen in eine mehr oder minder unfreiwillige Komik: in der Direktheit der Begriffe geht die Anschaulichkeit der Vorstellung und die Bildnähe verloren, der Mensch sucht nur noch in den täglich gebrauchten Worten seine Identität zu begreifen. Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik: das ist der Mensch von heute, das Innere ein Vakuum, 7
Ebd., Bd. i, 1959, S. 529. 385
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die Kontinuität der Persönlichkeit wird gewahrt von den Anzügen, die bei gutem Stoff zehn Jahre halten. Der Rest Fragmente, halbe Laute, Melodienansätze aus Nachbarhäusern, Negerspirituals oder Ave Marias.8 Und doch bleibt nun bei Benn ein eigentümliches Pathos der Sprache bestehen. Je weniger das Ich über sich verfügt, je weniger es die Welt als Welt begreift, um so wichtiger wird dies Medium der Worte, in dem sich seit je Mensch und Ding gezeigt und zugeordnet haben. So muß es gelingen, im Umgang mit ihnen die Verlorenheit des Ich und die Flüchtigkeit der Welt hinter sich zu lassen und sie so zu stellen, daß sie im Bezuglosen die Spur des menschlichen Daseins sichtbar machen; es kann ihnen gelingen, im Leeren einen Raum zu schaffen oder doch durch alle Verdinglichungen hindurch die eigene Unmittelbarkeit zu erreichen. So steigert sich Benns Vers zum Pathos des Rühmens nur noch da, wo es um die Würde des Gedichts selbst geht. Es finden sich Überschriften wie: »Verse«, »Gedichte«, »Bilder«, »Die Form«, »Satzbau«. Hier scheinen altvertraute lyrische Gebärden wiederzukehren und die Sätze ihre übersehbare Gestalt zu behalten, ja feierlich würdevolle Klänge und Metaphern möglich zu sein: Wenn je die Gottheit, tief und unerkenntlich in einem Wesen auferstand und sprach, so sind es Verse, da unendlich in ihnen sich die Qual des Herzens brach . . . oder:
Es gibt nur ein Begegnen: im Gedichte die Dinge mystisch bannen durch das Wort.9
Freilich wird man sich dessen bewußt bleiben müssen, daß auch dieses Pathos die Verlorenheit von Ich und Welt zur Voraussetzung nimmt und dem Flüchtigsten, am schwersten Greifbaren, dem Wort, dem Vers gilt und dadurch in der Hinwendung zur Gottheit einen parodistischen Unterton nicht ganz verleugnet. In dem Vortrag über »Probleme der Lyrik« heißt es: »Das Bewußtsein wächst in die Worte hinein, das Bewußtsein transzendiert in die Worte . . . Wir werden uns damit abfinden müssen, daß Worte " Ebd., Bd. 3, S. 246. Ebd., S. 194 u. 196.
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eine latente Existenz besitzen, die auf entsprechend Eingestellte als Zauber wirkt... Dies scheint mir das letzte Mysterium zu sein, vor dem unser immer waches, durchanalysiertes ... Bewußtsein seine Grenze fühlt.« 10 So scheint sich im Wechselbezug von Verlorenheit des Ich und sprachlicher Selbstbehauptung noch einmal eine Möglichkeit der Lyrik anzubieten, die freilich alle Unschuld verloren hat und auch die lyrische Form nur widerwillig anerkennt. Das Figurenspiel der Worte enthüllt im überraschenden Montieren der auseinanderliegenden Vorstellungen ein Faszinosum, das sich noch einmal als Mysterium verstehen möchte: Wachheit, Skepsis und Nähe zur BegrifFssprache führen doch an ein Inkommensurables heran, an das, was zwischen den Worten als ein Überraschendes aufleuchtet. Dabei ist in unserem Zusammenhang wichtig, daß die lyrische Sprache in dem Maße zur Geltung kommt, wie das Ich nach sich selber fragt, wie es über sich verfügen möchte und ein verschwiegenes Inneres laut werden soll. Zugleich aber ist deutlich, daß damit nichts selbstverständlich Gegebenes gemeint sein kann, sondern nur ein immer von neuem Fragwürdiges, das sich erst dichtend herstellt und bezeugt. Und zugleich wird zu bedenken sein, warum und mit welchen Möglichkeiten die Sprache zur lyrischen Sageweise drängt und sich nicht als Mitteilung oder Gedankengehalt erschöpft. Wie ist diese Montagetechnik zu verstehen; kann auch sie noch Hinweis auf die Leistung der Lyrik und besonders der Sprache im Gedicht sein? Sie hat offenbar die Möglichkeit, der Verfestigung der Worte zum Begriff entgegenzuwirken und die scheinbar getrennten Wortsphären in ihrem Auf-einander-Bezogensein fühlbar zu machen. Aber das wird nur gelingen, wenn sie mit jener notvollen Entschiedenheit geleistet wird, wie das bei Benn der Fall ist; die Verlorenheit des Ichs, dem die Welt nicht mehr zur Welt wird, erfährt sich im Durchblick durch die Worte, mit denen wir die Dinge zu bezeichnen gewohnt sind. Insofern erinnern solche Gedichte wohl an das Figurenspiel der abstrakten Malerei. Diese Montagetechnik der Worte begegnet nun freilich in vielen Gedichten heute, offener oder versteckter, selbstgenügsamer oder im Verein mit gewohnteren Sageweisen. Man mag darin so etwas wie eine Moderichtung finden; aber es mag auch ein Hinweis daraufsein, daß uns beim Lesen des Gedichts weniger die Frage nach seinem Inhalt, den Gefühlen und Stimmungen beschäftigt, als was es mit der Sprache zu leisten vermag. Die Gefühls- und Erlebnisnuancen der Gedichte mögen uns unbe10
Ebd., Bd. i, S. 510 u. 513. 387
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rührt lassen und fern liegen; aber wenn man darauf achtet, was hier der Sprache zugemutet wird, wie sie in Gang kommt, ob ihr eine eigene Wendung glückt, gewinnen diese Versuche ein entschiedenes Interesse. Wenn wir in den Versen nicht Gefühle suchen, sondern den Umgang mit der Sprache, wird auch das modisch-beiläufige Produkt aufschlußreich. Es kann sich auch in ihm etwas von der freien Heiterkeit bezeugen, die noch dem ernsthaftesten Kunstwerk eigen ist. Gerade die Montagetechnik verführt freilich nur zu leicht zum bloßen Spiel und Experiment und schlägt dann um ins Burleske und Komische. Das mögen einige zufällig herausgegriffene Beispiele zeigen, wie sie gelegentlich bei der Lektüre begegneten: die verschiedensten Gebiete der Technik werden in die Vorstellungswelt und Wortwahl hineingeholt und mehr oder minder glücklich in die gefuhlsnahe Sprache der naturgebundenen Dinge hineingeschoben. Die Sprache der Flieger oder Autofahrer etwa wird der gewohnten Naturlyrik einmontiert: da heißt es bei Karl Schwedhelm (geb. 1915): »Steigender Tag« Sonne saugt schon den Tauben den Aufwind aus dem Gefieder, Lerchen, die leichteren, schrauben ins Licht die Spirale der Lieder.
Also offenbar Worte aus der Fliegersprache, die dann im weiteren Gang des Gedichts noch ins Metaphorische einer erahnten Beziehung umgesetzt werden: Führt einst die Kurve der Reise spät unsre Schatten zusammen?"
Heinz Piontek (geb. 1925), dessen Gedichtsammlung Die Furt 1952 erschien, scheint in den Strophen »Den Winter zu Ende zu schreiben« eher an Worte des Autofahrers zu denken und sie ins Unwirkliche umzusetzen. Die »Windeisscheiben« erinnern an Windschutzscheiben und die »Schneehaut« an die Regenhaut: Gesprungene Windeisscheiben spiegeln mich nicht. Zart läßt der Tagmond sich treiben Mir zerlöst sich die Sicht. Begnüg ich mich mit dem Nächsten: Schneehaut, benebeltes Gras Vgl. Karl Schwedhelm, Fährte der Fische. Gedichte, Stuttgart 1955. 388
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hör ich im allerschwächsten Elsternlaut, was ich vergaß.12
Je mehr man bei diesen Worten an den Autofahrer denkt, um so spielender und humoristischer werden sie. Die Gefahr, die Montage zu überanstrengen, bleibt ebenso groß, wenn nicht nur Worte einmontiert werden, sondern technische Gegenstände wie die Verkehrsampel oder die verrostete Kriegslokomotive zum lyrischen Sinnbild werden sollen: es bleibt beim witzigen Einfall oder es droht der Umschlag in die Sentimentalität.13 Es wird in manchen dieser Versuche nicht faßbar, worin die Notwendigkeit besteht, so zu montieren; es scheint nur die seit dem Naturalismus geläufige Erwartung dahinter zu stehen, daß die Technik genauso metaphorisch verwendbar sei, wie die alte Bilderwelt unseres Daseins. Aber gerade darin scheint sich diese Montagetechnik zu täuschen; auch wenn die »Zeichen« »aller lebendigen Dinge« zum technischen Zeichen in Gegensatz gestellt werden, werden sie damit noch nicht gegenwärtig. Besonders aufschlußreich sind in dieser Hinsicht wohl die Strophen von Hans Egon Holthusen (geb. 1913) aus seinem Gedichtband Labyrinthische Jahre (1952). In dem Gedicht »Die Drogistin« z. B. wird die Geschäftssprache der Drogerie ins Menschliche hineinmontiert, um die Frage nach dem Eigentlichen in uns aufbrechen zu lassen. »Wer sind wir denn?« heißt es im leisen Nachklang von Rilkes Fragen: »Wen vermögen wir denn zu brauchen?« »Wer wagte darum schon zu sein?« (i. und 2. Elegie.) Und so wird dann das Menschliche den mythischen Gestalten der griechischen Tragödie, einem Ödipus, einem Dionysos zugeordnet und modern und antik ineinandergeschoben. Aber es fragt sich, ob damit nicht die Alltagssprache in ihrer Bildkraft überanstrengt ist und wieder nur der Einfall bleibt und keine echte Sprachgebärde entsteht. Es ist Montage des Sprachmaterials verschiedener, uns berührender Lebensgebiete: Geschäft, Trieb, Mythos begegnen in einer zweifellos einfallsreichen und auch präzisen Weise; aber blicken wir wirklich zwischen den Worten hindurch in ein Offenes? Nur soweit es dem Gedicht gelingt, durch die Montage aus der Bilderwelt der Sprache in ein Freieres hinauszutreten, rechtfertigt sich diese Technik; sonst wird sie zum humorvollen Spiel und als solches ehrlicher. 12
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Vgl. Heinz Piontek, Die Rauchfahne. Gedichte, 2. Aufl., Esslingen 1956, S. 58, mit dem Titel »Schreiber im Februar«. So bei Walter Bauer (geb. 1904), und Gottfried Kölwel (1889-1958), »Die alte Lokomotive«. 389
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Siegfried von Vegesack (geb. 1888) z.B. setzt die Kinowelt in ein freies Montagespiel um, das nur Spiel sein will und gerade dadurch eine freie Heiterkeit erreicht: »Das Warenhaus für Träume.« Die Welt des Warenhauses und der Traumfabrik werden so ineinandergeschoben, daß die Unwirklichkeit dieser Bilder nur die geschäftsmäßige Verwendung der Phantasiekräfte humorvoll umspielt. Damit zeigt sich nun aber doch, daß die moderne Lyrik gewiß nicht allein von der Montagetechnik leben kann; ja daß diese Technik im Grunde eine enge Verwandtschaft mit der lyrischen Technik des Barock und Rokoko hat, die ja auch die Kombinatorik der Worte, Vorstellungen und Einfalle liebte und die Bildkraft der Sprache beiseite ließ. Das Bannen der Lebensbilder im Wort, das Wachrufen der das Innere erfüllenden Bilderwelt scheint dementsprechend eine andere, für die heutige Lyrik wesentliche Haltung zu sein. Auch hier verfügt das Innere des Ichs nicht über sich, kennt sich nicht im eigentlichen Sinn; aber es erfährt sich im Fluten der Bilder und greift in ihrem Nennen nach dem zwischen ihnen stehenden Unaussprechbaren. Das große Beispiel für diese imaginative Kraft des Verses ist Georg Trakl; auch bei ihm ist nichts mehr von der alten Stimmungsfülle des Naturgedichts wahrzunehmen; ebensowenig kehrt er zu einer dinglichen Beschreibung im Sinn der frühen Aufklärung zurück. Aber er ruft das Inbild wach, das in uns lebt, das von unserer Vertrautheit mit den Dingen, den Menschen, den Zeiten zeugt, von unserem Innesein und das doch auf alle weiterdrängenden Fragen nach Sinn und Ziel schweigt. Die Teilhabe am Dasein bezeugt sich, sofern mit den Inbildern ihr Schweigen aufgerufen wird. Die Sammlung Sebastian im Traum von 1914 steht so am Anfang der modernen Lyrik wie die damaligen Bilder von August Macke und Franz Marc an dem der Malerei. Als Beispiel mögen die Bilder aus den Gedichten »Unterwegs« oder »Landschaft« oder »Die Sonne« dienen. Hier wird mit den Worten die Bilderwelt wachgerufen, die zu unserem Dasein gehört; es sind nur Hindeutungen, ohne daß eine Beschreibung versucht würde, ohne daß durch Vergleiche ein Bezug zum menschlichen Inneren hergestellt würde: aber es begegnet im bildnahen Wort das Namenlose, das Schweigen, das sprachlose Vorkommen, die Stille: »Unsäglich ist das alles.« Und die gelben Blumen des Herbstes
Neigen sich sprachlos über das blaue Antlitz des Teichs.
Reglos ragt am bläulichen Weiher Das Rohr, verstummt am Abend die Drossel.
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Langsam reift die Traube, das Korn. Wenn sich stille der Tag neigt, Ist ein Gutes und Böses bereitet.
Dabei ist es merkwürdig, wie diese Verse meist auf jedes erkennbare Maß verzichten, wie weder Reim noch Metrum versucht werden und doch lautere Gebilde entstehen. Im Wachrufen der Bilder, in ihrer Folge waltet ein geheimer Rhythmus, als wolle er das Schweigen vernehmbar machen. Die Zeilen sind nicht zufällig in Strophen abgesetzt; sondern jede Strophe birgt in sich die gleiche Bewegung, besitzt das gleiche Gewicht; es wird ein inneres Maß fühlbar, das nicht mehr auf erkennbare Zeichen angewiesen ist und nur das Gleichmaß der Atemzüge zu besitzen scheint, in der Folge der Bilder den Pulsschlag des Lebendigen spüren läßt. Das Gedicht »Die Sonne« besteht aus vier dreizeiligen Strophen, jede birgt einen eigenen Bildbereich in sich: die Sonne, der Weiher, das Reifen, die Nacht; dabei wird das sichtbare Bild immer mehr zu einem inneren Bild und dadurch eine vorwärtsdrängende Bewegung spürbar. So kann die letzte Zeile wie die erste die Sonne nennen und ihr doch eine andere geheimnisreichere Bedeutung geben. Auch der Nacht bleibt eine Sonne zugehörig, als wollte sie in uns weiterleuchten, als Inbild und Zeichen, daß sie unseren irdischen Tagen die Gestalt gibt. In ihrem schweigenden Sich-Zeigen wird das Dasein stille und uns das Sprachlose vertraut. Die imaginative Kraft der Worte lebt aus dem Schweigen der Bilder, die uns unser Dasein heimisch machen; die Verse bannen die Stille des Unsäglichen, des Sprachlosen, des Verstummens. Ähnlich wie die Montagetechnik wird man auch dies Wachrufen einer Bilderwelt der Imagination häufiger in der modernen Lyrik finden, wobei dann wieder die Frage auftaucht, wie die Sprache gehandhabt wird und in welchem Sinn ihre Bildkraft zur Geltung kommt. Dabei mögen sich Überschneidungen mit anderen Möglichkeiten ergeben: die Bilderwelt wird menschlich aktiviert oder stimmungshaft erfühlt oder zum Gleichnis des menschlichen Verhaltens gemacht oder wieder mit anderen Sprachschichten zusammenmontiert. Solche Bildkraft lebt etwa in Versen von Georg Britting (geb. 1891): »Nach dem Hochwasser.«14 Hier scheint die verwilderte Flußlandschaft fast zum Gleichnis menschlicher Schicksalslandschaft zu werden und eine unausgesprochene Parallele zwischen naturhaftem und menschlichem Geschehen erst das Hervorrufen der Bil14
Georg Britting, Gesamtausgabe in Einzelhandel!, 8 Bde., München 1957-1967, Bd. i: Gedichte 1919-1939, 1957, S. 149. 391
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der zu rechtfertigen; so bleibt die Bilderwelt vordergründiger und näher bei der Beschreibung als bei Trakl. In anderen Gedichten kommt die imaginative Kraft noch weniger zur Entfaltung, weil die bewußte Reflexion ihr eine ausdrückliche Bedeutung geben will. In einem Gedicht von Karl Krolow (geb. 1915), »Tulpen«, wird das wachgerufene Bild ausdrücklich als »Magische Figur« bezeichnet und damit eine Ohnmacht des Wortes deutlich: wir ruhen nicht im Bild, sondern werden aufgerufen, ihm Sinn und Bedeutung zu geben, und verlieren es dadurch wieder: »Kelch, oh, schattentief, ... Traumlaut, der mich rief ... Magische Figur.« Hier wird die Aussage rhetorische Wendung und dadurch ungenau. Aber trotzdem bezeugen auch solche Verse das Verlangen, in die Bildschicht des Wortes zurückzukehren. Krolow hat einen Gedichtband Die Zeichen der Welt 1952 veröffentlicht, der auf eigene Weise das namenlose Sich-Zeigen der Dinge ins Wort holt, indem er den zeichenhaften Verweisungscharakter der Sprache verselbständigt und die begegnenden Erscheinungen in eine »Algebra« der Worte zurücknimmt. So heißt es in der »Ode 1950«: »Formel der Früchte: Wer nennt sie? ... Ich suche mit Worten inzwischen / Die Flüchtigen aufzuhalten: mit einer Algebra, zart erdacht / Aus atmenden Silben.« Das Gedicht sieht sich auf eine Sprache verwiesen, die als Bezugssystem in die Nähe der mathematischen Formel gerät und nur ein Gradnetz, ein »Gitter« zur Verfügung stellt, das es dann doch ermöglichen soll, die »Zeichen der Welt«, »des Daseins Schrift« zu lesen, so daß der Vers zum »klingenden Gitter« wird: »Ich lasse die summenden Drähte, das klingende Gitter / Der Worte zurück auf dem Grunde des Seins.«'5 Uns kam es darauf an, einige typische Sageweisen des modernen Gedichts anzudeuten: bei George die Verfremdung der Worte durch die Distanz von Natur und Kunst; bei Rilke die Haltung des antwortlosen Nachfragens, die im Fragen ausdauert; bei Benn die Montagetechnik der verschiedenen Sprachbereichen zugehörigen Worte; bei Trakl die Imaginationskraft der Sprache im Raum des Unsäglichen. Sie alle ermöglichen lyrische Sageweisen, die von dem der Lyrik traditionell zugewiesenen Gefühls- und Erlebnisausdruck aus schwer zu fassen sind und die wir mit bedenken müssen, wenn wir uns über Leistung und Möglichkeiten des Gedichts verständigen wollen. Wir kommen sonst in die Gefahr, unsere Besinnung zu einseitig an einem historischen Befund zu orientieren, den wir im Grunde nicht mehr als für uns bindend anerkenSiehe jetzt Karl Krolow, Gesammelte Gedichte, Frankfurt a. M. 1965, S. 5if. 392
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nen, weil unsere Praxis schon ganz andere Wege geht. Zugleich wird es dann leichter sein, die paradoxen Auskünfte, die Benn in seinem Vortrag über Probleme der Lyrik gibt, mit den sonst üblichen Antworten in ein Verhältnis zu bringen. Er sagt: »Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich, und alle Sphinxe und Bilder von Sais mischen sich in die Antwort ein.« Er beruft sich auf das von Valery mitgeteilte Wort Mallarmes: »Ein Gedicht entsteht nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten« und sagt: »Die Lyriker sind keine Träumer; die anderen dürfen träumen; diese sind Verwerter von Träumen, auch von Träumen müssen sie sich auf Worte bringen lassen.« Und gleich am Anfang gibt er seine These: »Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten - ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrig bleibt, wenn dann noch etwas übrig bleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht.« Wir müssen also versuchen, unsere Erwartungen von der Lyrik derart zu bestimmen, daß wir die uns begegnende Gedicht-Wirklichkeit trotz der verschiedenen Verfahrensweisen der Lyriker nicht überspringen oder verdecken, sondern uns ihnen öffnen können. [...] Der Hinweis auf die Stimmung bleibt wichtig, sofern es die Lyrik nicht mit gegenständlicher Wirklichkeit, mit Ereignissen, Menschenschicksalen und Handlungskonflikten, sondern mit dem bewegten Inneren des Menschen zu tun hat, das als Seele, Herz, Gefühl, Empfindung oder Stimmung bezeichnet werden kann und in einem eigenen Bezug zum Dasein steht. Aber wenn man allein die Stimmung als den entscheidenden Wesenszug dieses inneren Daseins bezeichnet, so hat man damit schon eine besondere Auslegung eines vieldeutigeren Zusammenhangs vorgenommen, die nur für eine bestimmte Lyrikgesinnung gilt. Es muß uns darauf ankommen, die Wesensbestimmung des Lyrischen so weit zu fassen, daß das immer neu ansetzende Ringen um seine Verwirklichung im lyrischen Gedicht als notwendig und sinnvoll erscheint und sich ein Verständnis ergibt für die mannigfachen Stilformen des lyrischen Sprechens, für die wechselnden Sageweisen der Gedichtarten. Erst dann kann uns greifbar werden, inwiefern im geglückten Gedicht sich ein Geistig-Bedeutsames ereignet, das das Selbstverständnis des Menschen erschließt. [...] Als wesenhaft Inneres scheint sich die Seele jedem Zugriff zu entziehen und dem Verdacht der Unwirklichkeit ausgesetzt zu sein; sofern sich aber der Mensch in einer besonderen Gestimmtheit erfährt, wird er im Wechsel der Stimmungen dieses seines inneren Daseins gewiß und kann sich dadurch angeregt sehen, dieses so erfahrene Innere sprachlich laut werden zu lassen. Die Stimmung ist also ein bedeutsamer Weg der inne393
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ren Selbsterfahrung des Menschen und konnte insofern auch tragende Kraft des lyrischen Sprechens werden. Aber zugleich ist damit gesagt, daß das Selbstbewußtsein sich nicht allein auf die Stimmungshabe angewiesen sieht, sondern auch in anderer Weise zu sich selbst kommen kann, am entschiedensten dadurch, daß es in seiner eigenen Fragwürdigkeit einem tieferen Grund seines Seins begegnet oder doch diesem seinem eigenen Grunde nachfragt. [...] Wenn Paul Gerhardt singt: Befiehl du deine Wege Und was dein Herze kränkt Der allertreusten Pflege Des, der den Himmel lenkt,
dann wollen solche Verse nicht einfach eine Stimmung der Zuversicht kundtun, sondern in eine Dimension jenseits des beunruhigten Herzens vorstoßen; sie sprechen aus der bewegenden Erfahrung, daß das Herz mit seinen immer wechselnden Stimmungen seinen Grund erst im Glauben erfährt und daß die Seele sich nicht von sich aus, sondern nur von Gott her begreifen kann: Bist du doch nicht Regente, Der alles fuhren soll: Gott sitzt im Regimente Und führet alles wohl.
Diese Verse sprechen nicht Stimmungshaft und sind doch ganz lyrisch, sofern sie eine innere Selbsterfahrung im Lautwerden bekenntnishaft auslegen. So läßt sich sagen, daß das im Gefühl sich bezeugende Ich des Menschen in der Lyrik laut werden will, daß damit aber noch nicht umgrenzt ist, wie diese Selbsterfahrung möglich wird und zur Verfügung steht. Die Ichaussprache in der Stimmungshabe ist nur ein bestimmter, geschichtlich bedeutsam gewordener Weg, der aber nicht die Vielfalt der Erscheinungsformen des Lyrischen erschöpft. Die alleinige Orientierung an der Stimmung droht die dem menschlichen Innern eigentümliche Fragwürdigkeit und Unsicherheit ebenso zu verdecken, wie die der Seele mögliche Gewißheit im Glauben. Sofern sie sich vor die Frage nach ihrem eigenen Grund gebracht sieht, kann sie nicht im Wechsel der Stimmungen verharren, sondern muß hindurchgreifen nach dem sie Übersteigenden und Ermöglichenden. Erst dadurch gewinnt das lyrische Sprechen eine eigene Geschichtlichkeit, sieht es sich dem Unsagbaren ausgesetzt, 394
Moderne Lyrik
um sich doch im Sagbaren zu behaupten. [...] Es wiederholt nicht die immer gleiche Aufgabe, eine Stimmung laut werden zu lassen oder ein Erlebnis auszudrücken, sondern macht darstellend greifbar, was es mit der Erfahrung der Seele, der Innerlichkeit des Menschen auf sich hat und in welcher Weise sie sich als Erlebnis, als Stimmungshabe, als Glaube, als Verlorenheit, aber auch im Spiel oder Einfall kundtun kann. Insofern kann man die Lyrik als die »enthusiastisch-aufgeregte« Gattung bezeichnen, entsprechend der Goetheschen Formulierung. Aber es genügt nicht, sich Stimmungen oder Gefühlen zu überlassen, sondern es kommt darauf an, den tätigen Umgang mit der Sprache in seinen wechselnden Erscheinungsformen zu beachten. Denn die Selbsterfahrung des Menschen gewinnt in der Lyrik nur so weit Klarheit über sich selbst, als sie eine eigene Sageweise entwickelt. In der lyrischen Vergegenwärtigung der Gefühlswelt geht es nicht um theoretische oder empirische Erkenntnisse, sondern um die Sageweisen, in denen sich das verschwiegene Innere seiner selbst und seines Daseinsgrundes vergewissern kann. Die Art des Sprechens ist selbst schon die entscheidende Art der Auslegung, da im einzelnen Vers eine bestimmte Art des Weltverhaltens mitschwingt und greifbar werden kann. [...] So könnte man sagen, daß der Lyriker nur darum bemüht ist, die Sprache in eine seelisch bedeutsame Bewegung zu versetzen, ihr eine Sangesweise abzugewinnen, die auf ein Inneres zurückweist. Hier herrscht das gebundene Wort, weil es durch sein Maß fühlbar macht, wie die Sprache von innen her zu schwingen beginnt. Nur darum hat es guten Sinn, daß man in früheren Epochen vom Dichter erwartete, daß er nicht nur überkommene Weisen benutzt, sondern eigene zu erfinden weiß. Man darf das nicht meistersingerlich als Erfindung eines metrischen Formschemas mißverstehen, sondern muß darin die Erwartung ausgesprochen finden, daß der Dichter in der Sprache eine Gebärdung, eine Tonlage ausarbeitet und sie in einen vom Innern her bewegten Gang versetzt. Wo solche in ein wenn auch noch so inkommensurables Maß gebundene Sprache begegnet, stehen wir im Bannkreis des Lyrischen. Wenn der Mensch sich an die Grenze des Verstummens, des Unsagbaren gebracht sieht, sucht er zugleich zu erproben, was sich mit der Sprache und in ihr tun läßt. So beginnt die Lyrik damit, daß wir den amorphen Redefluß des Alltags unter ein Gesetz des Versmaßes stellen, daß wir im Wechsel der Redeinhalte die Wiederkehr der Metren und Reime beachten und dadurch dem Sprechen eine bestimmte Gangart, eine Sageweise aufnötigen. Das tätige Umgehen mit der Sprache steigert sich 395
Moderne Lyrik
zur Herausarbeitung von Redefiguren, die ins Ohr fallen und als gemessene Bewegungen eine eigene rhythmische Bedeutung gewinnen, je mehr sie mit dem Rhythmus des Atems oder des Pulsschlags zusammenwirken und dadurch ein menschliches Maß bezeugen. Der Sprachfluß entsteht durch ein Widerspiel von Rhythmus und Metrum; die Satzbewegung kann sich innerhalb eines regelmäßig wiederkehrenden Reimklangs vollziehen, so daß sinnlich faßbar wird, was sich mit der Sprache tun und wie sich in ihr arbeiten läßt. Das Metrum scheint ein starres Schema anzubieten, das aber auf ständig wechselnde Weise gefüllt wird, sofern ja in diesem Metrum ein lebendiger Satzrhythmus zur Wirkung kommt. Es begegnen sich im Vers zwei Bewegungsarten, das metrische Maß und der dynamische Rhythmus des Satzes, des Sprechenden. Am einfachsten Vers schon läßt sich das verdeutlichen, etwa an Goethes »Erinnerung«: Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da.
Es ist ein regelmäßiger Vierzeiler mit einem vierhebig alternierenden Vers in der Reimstellung a b, a b und dem Wechsel von weiblichem und männlichem Versschluß; aber die Satzbewegung bringt in dieses Maß einen sehr lebendigen Wechsel, durch einfachste Mittel; wohl fallen Versund Satzschluß zusammen und doch hat jede Verspause ein anderes Gewicht und damit auch die Sprachbewegung eine wechselnde Dynamik: auf die Frage folgt die durch die Anrede pausierte Antwort, während die Mahnung der Schlußzeilen durch die Begründung einen ganz anderen Tonfall erhält. Indem sich metrische Form und Satzrhythmus gegenseitig steigern und fühlbar machen, entsteht der eigentümliche Zauber und das besondere Leben solcher Gebilde. Dabei ergeben sich aus dem Zusammenwirken beider Bewegungsarten, der Metren und Rhythmen, sehr wechselnde Möglichkeiten, sofern nicht nur gleichlaufende, sondern auch gegenläufige Formen angestrebt werden können. Hölderlins Odenmaße unterscheiden sich von der liedhaften Reimstrophe durch eine viel stärkere Herausarbeitung der Satzdynamik, eine nachdrücklichere Gegenbewegung innerhalb der metrischen Form. Der Satzbau gliedert sich kühner und erhält durch Neben- und Unterordnungen, durch Inversionen und Anakoluthe eine fühlbarere Spannung, die sich dann doch dem Odenmaß einfugt. Der asklepiadeische 396
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Vers bestimmt z.B. das Gedicht »Die Liebe«, aber in wie wechselnder Form, wenn man auf das Verhältnis von Strophenmaß und Satzbewegung achtet; ständig kann der Satz über das Zeilenende hinausgreifen, ja mehrere Strophen umfassen und dadurch eine sich steigernde, vorwärtsdrängende Dynamik bezeugen: Wenn ihr Freunde vergeßt, wenn ihr die Euern all, O ihr Dankbaren, sie, euere Dichter schmäht, Gott vergeh es, doch ehret Nur die Seele der Liebenden.
Im Unterschied dazu gewinnt die zweite Strophe eine eigene Gedrungenheit, sofern auf je zwei Zeilen ein Satz kommt; dagegen werden die dritte bis fünfte Strophe in die Bewegung eines einzigen Satzes hineingerissen. Hier wird spürbar, wie die Sprachfiguren des Verses dem unendlich flüssigen Element der Rede eine lebendige Gestalt geben und das vergängliche Wort eine eigene Dauer erhält. Im Widerspiel von Metrum und Satzrhythmus stellt sich die Sprache unter ein Gesetz, das sich doch nur durch ständige Variationen behauptet; sie entfaltet sich innerhalb eines frei gewählten Gesetzes. Die Lyrik kommt schon dadurch in eine gewisse Nachbarschaft zu Tanz und Musik: wie im Tanz die menschliche Bewegung sich unter ein Gesetz stellt, wie in der Musik sich die Töne in eine eigene Ordnung fugen, so wird im Gedicht das so rasch entgleitende Wort in ein Figurenspiel genötigt. Dabei bleibt aber das Spiel nicht bloßes Spiel, weil das Arbeiten in der Sprache zugleich bezeugt, wie der Mensch an der Grenze des Unsagbaren doch dem Verstummen zu entgehen weiß. Sofern das Verschwiegenste die Innerlichkeit des Gefühls ist, steht das Figurenspiel der Verse in einem eigentümlichen Bezug zum Bezeugen dieses Innern: es wird Gebärde des Unsagbaren. So gilt nun in der Lyrik überhaupt nicht der Begriff, sondern die Gebärde. Der Dichter beschränkt sich nicht auf die rhythmisch-metrische Formung der Sprache, sondern kann alle Sprachgestalten zur Gebärde ausarbeiten. Solch Arbeiten in der Sprache bemächtigt sich vor allem der Bildgehalte der Rede. Die menschliche Sprachfähigkeit steht in einem besonders engen Bezug zum Imaginationsleben und bildet ihre Begriffe durchweg im Hinblick auf die Bilderwelt der Einbildungskraft; so wird es für die Lyrik wesentlich, daß ihre Sprache auf die Unmittelbarkeit des Vorstellungslebens zurückführt und der Bildgehalt der Worte wirksam bleibt; die Metaphorik zeugt davon, daß die Sprachfähigkeit an die Ausarbeitung der Bildvorstellungen gebunden bleibt und das Unsag397
Moderne Lyrik
bare durch den Vergleich doch noch sagbar macht. Aber auch Vorgänge und selbst Betrachtungen oder Gedanken können diesen gebärdenhaften Charakter annehmen und zu erkennen geben, was sich mit der Sprache tun läßt. Das Ungreifbare wird faßlich, sofern der Verweisungszusammenhang der Sprache als solcher bedeutsam wird. Während in einer sachlich begriffenen Welt die Seele kaum erweisbar scheint, ist in der Lyrik die Sprache so an ihre Grenzen gebracht, daß sie die Versachlichung selbst in Frage stellt und das Innere laut werden läßt. Damit ist aber zugleich gesagt, warum die Lyrik aus der gewohnten Mitteilungsrede herausfuhrt und dem Sprachehaben des Menschen die äußersten Möglichkeiten abgewinnt. Die Sprache gibt sich hier als Bedingung des Menschseins zu erkennen. Der Ursprung der Lyrik weist nicht auf praktische Bedürfnisse zurück, als entstünde sie zur Heraushebung eines Arbeitsrhythmus oder aus mnemotechnischen Gründen; vielmehr fuhrt sie an die Grenze des Sagbaren und lebt aus dem tätigen Umgehen mit der Sprache; sie erprobt unsere Sprachfähigkeit. Ihre Sprachfiguren deuten auf ein Verschwiegenes, das sie in wechselnden Sageweisen zu erkennen geben: die Aneignung des Gedichts geschieht deshalb erst im Hersagen, im Einschwingen in die Sprachbewegung; es genügt nicht die inhaltliche Kenntnisnahme, sondern nur die Erprobung im Lautwerden; es ist eine tätige Mitarbeit nötig, die die Gebärde als Gebärde vollzieht. Erst so wird der Zusammenhang von Sprache, Seele und Geist erfahrbar. Das menschliche Innere ist reich genug, um die vielfältigsten Gangarten der Sprache zu ermöglichen; denn immer stehen alle Kräfte des Gefühls in engem Zusammenhang sowohl mit der dunklen Macht der sinnlichen Empfindung wie auch mit dem hellen Licht des Geistes; das schlichte, naive Wort gewinnt hier ebenso ein Recht wie das durch Anfechtungen und Zweifel hindurchgegangene; das unbeschwerte Spiel kann die Sprache so gut bewegen wie der Tiefsinn des Glaubens oder die Ernüchterung der Glaubensferne; gesellschaftliche Grazie so gut wie das Mitschwingen in einer Gemeinschaft erzeugen besondere Sprachbewegungen; überall, wo der Mensch sich in seinem Innern beteiligt weiß, kann das lyrische Wort erklingen. Wesenhaft wird es immer dort, wo es den Menschen vor sich selbst bringt und auf den Grund seines inneren Seins zurückweist, und das heißt, wo die Sageweise eine ihr eigene Unendlichkeit des Lebendigen bezeugt.
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Moderne Lyrik Ergänzungen Die Gedanken und Beobachtungen dieses 1953 zuerst erschienenen Aufsatzes wurden in einigen späterhin veröffentlichten Arbeiten wieder aufgegriffen und weitergeführt. Ich nenne: 1. »Klang und Bild in der Stimmungslyrik der Romantik«, in: Gegenwart im Geiste. Festschrift für Richard Benz, hrsg. von W. Bulst und A. v. Schneider, Hamburg 1954, S. 103-125. Jetzt in dem Buch des Verfassers: Formensprache. Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpretation, Hamburg 1966, S. 425 — 452, unter dem Titel: »Formen der Stimmungslyrik«. 2. »Der Strukturwandel der modernen Lyrik in Rilkes Neuen Gedichten«, in: Wirkendes Wort 12, 1962, S. 336-354. 3. »Deutsche Lyrik im 19. Jahrhundert«, in: Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart, hrsg. von H. Steifen, Göttingen 1963, S. 165-186. 4. »Der hymnische Stil in der deutschen Lyrik des 18. Jahrhunderts«, Einleitung zu der von mir herausgegebenen Anthologie Hymnische Dichtung im Umkreis Hölderlins, Tübingen 1965 (Schriften der Hölderlingesellschaft 4), S. 3-23. 5. »Gottfried Benn und die Sprache des Expressionismus«, in: Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten, hrsg. von H. Steffen, Göttingen 1965, S. 63-87. 6. Interpretation von Christine Busta: »In der Morgendämmerung«, in: Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser, hrsg. u. eingel. von Hilde Domin, Frankfurt a. M. 1966, S. 116-119.
Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge und autobiographische Texte
Tradition und Moderne im Widerstreit: Friedrich Gundolf und die Literaturwissenschaft*
I. Die lockende Stimme Der Aufforderung, über die Bedeutung Gundolfs für meinen Weg als Literaturwissenschaftler zu sprechen, komme ich im Sinne einer Zeugenaussage um so lieber nach, als ich zu den wenigen gehöre, die die damalige Zeit hier in Heidelberg erlebten und über sie noch aus persönlicher Erinnerung berichten können. Ich war als damals Neunzehnjähriger aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen und suchte mich nach 1918 als Hamburger zunächst an der dortigen neu gegründeten Universität zu orientieren, etwas tastend zwischen neuerer Geschichte und deutscher Philologie. Eines Tages kamen mir die Gundolfschen Bücher in die Hand, das Goethe-Buch und das über Shakespeare und der deutsche Geist. Sie begleiteten ein mit Leidenschaft ergriffenes Goethe-Studium, als könnten sie die metaphysische Unruhe beschwichtigen, die mich nach mancherlei Kriegserfahrungen bedrängte. So sagte ich mir: Du mußt nach Heidelberg gehen und dort bei Gundolf hören. Ich wußte von Stefan George noch kaum etwas; aber als ich dann im Sommer 1920 hierher kam und das Kolleg über »Die Begründer der romantischen Schule« mit persönlichster Anteilnahme besuchen konnte, meinte ich, jedes Wort Gundolfs gewissermaßen festhalten zu müssen, so wie es eine ihm zugetane Öffentlichkeit damals tat. Auch das Georgesche Gedicht als die tragende Grundlage dieses geistigen Lebens wurde in mir wirksam, um so mehr als in der Weißschen Buchhandlung die Bücher von Stefan George und dem George-Kreis zum Auslagebestand gehörten. Die Gedichtbände Georges wurden zum Begleiter im Freundeskreis und auf den Wanderungen im Land; das dichterische Wort als das laut gesprochene Wort wirkte als eine das Dichtungsverständnis belebende Erfah* In: Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, hrsg. von HansJoachim Zimmermann, Heidelberg 1985 (Supplemente zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 1984,4), S. 77-94. 403
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches
rung. Die Vorlesung über die Romantiker führte mich zur Lektüre der eindrucksvollen Gundolfschen Ausgabe der Romantiker-Briefe1 und zur Beschäftigung mit Friedrich Schlegels Jugendschriften wie mit Schleiermachers Reden Über die Religion. Dabei fiel mir ein gewisser Widerstreit auf zwischen der so persönlichen Aufgeschlossenheit Gundolfs für die Welt der Romantiker und seinen Urteilen über sie, die wie eine nachträgliche Zurückweisung ihrer geistigen Voraussetzungen erscheinen konnten. Es war ein Widerspruch, der mir zu schaffen machte, den ich aber auch als fruchtbaren Anstoß empfand, weil solche Urteile mit dem normsetzenden Anspruch der Georgeschen Dichtung zusammenzuhängen schienen, mit einer Norm, die mir nicht ohne weiteres verständlich oder zugänglich war. Wenn ich versuche, im Rückblick auf meine damaligen Erfahrungen einige Erläuterungen zu Gundolfs Stellung in der Literaturwissenschaft zu geben, so kann es sich dabei nur bedingt um eine methodisch-kritische Auseinandersetzung handeln. Ich möchte zeigen, welche Folgerungen sich für meine eigene Arbeit aus der Begegnung mit seinem Werk ergaben; wie seine Grundposition für meine Bemühungen um das dichterische Wort fruchtbar blieb, aber die durch ihn angeregten Fragestellungen mich auf andere Wege oder in eine neue Richtung führten, sowohl im Hinblick auf die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des literarischen Lebens wie als Frage nach den Wandlungen der dichterischen Formensprache. Nach dem Heidelberger Studienjahr beschäftigten mich Themen, die mir durch Gundolfs Arbeiten nahegekommen waren. Ich begann gewissermaßen eine Diskussion mit seinen Urteilen, wie die über Schillers Behandlung der dramatischen Charaktere oder über den romantischen Witz bei Friedrich Schlegel, und kam so zu ersten eigenen Untersuchungen. Meine Dissertation, das Schiller-Buch, das ich 1925 veröffentlichen konnte,2 hatte ich Gundolf geschickt; ich erhielt von ihm ein freundlich zustimmendes oder doch ermunterndes Zeichen, das ich als eine Bestätigung meines Versuchs verstand, unterschiedliche Arbeitsimpulse zu verbinden. In Hamburg war mir Ernst Cassirer durch seine Philosophie der symbolischen Formen wichtig geworden, als eine Praktizierung des Kantischen Denkens im Bereich der Kulturwissenschaften. Neben Cassirers Überlegungen über Sprache und Mythos wirkten die DilRomantiker-Briefe, hrsg. von Friedrich Gundelfinger, Jena 1907. Paul Böckmann, Schillers Gcisteshaltung ah Bedingung seines dramatischen Schaffens, Dortmund 1925 (Hamburgische Texte und Untersuchungen zur deutschen Philologie II, 3). 404
Friedrich Gundolf
theyschen Bände über die Auffassung und Analyse des Menschen und seine Bemühungen um eine Grundlegung der Geschichtswissenschaften als Geisteswissenschaften. Entscheidend blieb für meine Versuche ein Dichtungsverständnis, wie es das Goethe-Buch vermittelte und die Vorlesung voraussetzte. Bei Gundolf griff die Literaturwissenschaft nach der ihr zugehörigen Sache, ohne auf Vor- oder Nebenfragen auszuweichen. Sie stellte die Texte selbst zur Erörterung und suchte die geistige Auseinandersetzung mit ihnen. In der Konfrontation mit der Überlieferung erschloß sich eine vielgestaltige, in sich gegliederte und beziehungsreiche Welt menschlichen Daseins, die zum Mitvollzug nötigte und auf nachwachsende Generationen wirken konnte, weil sie im dichterischen Wort Gestalt geworden war und alle Gemüts- und Vorstellungskräfte beschäftigte, als ein Bedeutungsgefüge, das die gedanklichen Auseinandersetzungen in den Lebensvollzug zurücknahm. Damit bahnten sich Zugänge zu Goethes Werk an, die durch die viel gescholtene Goethe-Philologie eher verschüttet wurden. Gundolfs Goethe-Buch gewann gerade dadurch eigenes Gewicht, daß es über den alten Biographismus hinaus auf die humanisierende Kraft der im Werk sich erfüllenden Dichtergestalt zurückwies, auf eine Gestalt, die durch ihre Herrschaft über das geistige Wort dem Anspruch der humanistischen Tradition gerecht wurde und einem neuzeitlichen Dichten Rang und Größe gab. In der Einleitung zu seinem Goethe-Buch hat Gundolf die Aufgabe gekennzeichnet, die er sich als Interpret des dichterischen Werkes stellte. Er möchte »in Wissen verwandeln, was uns ... als stummgestaltetes Leben ergreift«. Dem Dichter Goethe gegenüber bestehe die Aufgabe darin, »seine in Sprachform gegossene Gestalt als Denkform zu erfassen«. Oder wie er auch sagt: »der Literarhistoriker hat als SprachbegrifF zu deuten, was Goethe als Sprachgebild gibt.«3 Diese Aussagen stellen Gestalt und Wissen, Sprachform und Denkform, Gebilde und Deutung einander gegenüber und lassen offen, wie sie zu vermitteln sind; ob Wissen, Denken und Deuten im Zugriff des intuitiven Verstehens das »Gebilde«, die »Gestalt« in den Begriff übersetzen könne, oder ob es eine eigene Aufgabe bleibt, die jeweils wirksame Sprachform in ihrer Eigenart zu erfassen. Die Sprachgestalt selber will beachtet und verstanden sein als zugehörig zu dem individuellen Verfahren des dichterischen Geistes und als formbildende Kraft, die in ihren Sinnbezügen einzugrenzen ist als Friedrich Gundolf, Goethe, 5. Aufl., Berlin 1918, S. 6f. 405
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches
methodische Sicherung einer Deutung, die auf die Textgestalt und ihre Sageweise bezogen bleibt. Es ist damit die Problematik angedeutet, die mit Gundolfs Interpretation der Dichtergestalt als Werkgestalt verbunden ist. Der »Gestalt«-BegrifF bleibt eigentümlich zweideutig: einerseits verweist er als Werkgestalt auf die in sich geschlossene Einheit des dichterischen Textes, auf eine ihm zugehörige Struktur von Thematik und Gestaltungsweise; andererseits kann er von der Wesensgestalt des Dichters zeugen, von der Umsetzung seiner Lebenswirklichkeit in eine normgebende »Gestalt«. Die Frage nach dem Funktionsgefuge der Dichtung verwandelt sich dann in die Frage nach der Wesenssubstanz des jeweiligen Dichters. Die Dichtungsinterpretation zeigt ein entsprechendes Doppelgesicht: sie gilt entweder der jeweiligen Sprachleistung und ihrer erschließenden Kraft oder wird zum Hilfsmittel einer sublimeren Biographik heroischer Gestalten.
II. Die Romantiker-Portraits In der Darstellung der »Romantiker« - wie sie im Kolleg vorgetragen und dann als Buchpublikation in zwei Bänden 1930/31 zugänglich wurde4 - beeindruckt nicht nur die sorgfältige, textnahe Analyse, sondern zugleich eine den Hörer oder Leser herausfordernde Prägnanz der Stellungnahme und wertender Abgrenzungen, als ließe sich ein entschiedenes Einverständnis über Rang und Leistung des einzelnen Schriftstellers voraussetzen. Dabei handelt es sich dann nicht mehr um Fragen des dichterischen Gelingens im Sinn eines ästhetischen Urteils, als vielmehr um existenzielle Entscheidungen über Wege und Abwege menschlicher Bildung. Die Beurteilung droht dann umzuschlagen in eine Verurteilung, die nach Recht und Begründung der hier wirksamen Maßstäbe fragen läßt. Das tritt in den Abhandlungen über Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck ebenso in Erscheinung wie in der über Friedrich Schleiermacher. Zwei Schriften Friedrich Schlegels hebt Gundolf als die wichtigsten Zeugnisse seiner romantischen Lehr- und Meisterjahre heraus: die Geschichte der Poesie der Griechen und Römer von 1798 und das »Gespräch über die Poesie«, im Athenäum 1800 erschienen.5 Dabei fällt auf, daß er 4
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Ders., Romantiker, Berlin-Wilmersdorf 1930, und ders., Romantiker. Neue Folge, BerlinWilmersdorf 1931. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgakc, hrsg. von Ernst Hehler, Paderborn u.a. I958ff., Bd. i: Studien des klassischen Altertums, hrsg. und eingel. von E. Behler, Paderborn 1979; Bd. 2: 406
Friedrich Gundolf
die Abhandlung »Über das Studium der Griechischen Poesie« von 1797 nur am Rande erwähnt, obgleich sie mit ihrer Frage nach der Stituation der »modernen« Poesie den Themenkreis kennzeichnet, der der Zuwendung zur griechischen Poesie erst das besondere Gepräge gibt und sie rechtfertigt. Das zunächst geplante Werk Schlegels über Die Griechen und Kömer begann mit diesem Studiumsaufsatz: »nur nach einer nicht ganz unvollständigen Charakteristik der moderen Poesie« sei es möglich, »das Verhältnis der antiken Poesie zur modernen und den Zweck des Studiums der klassischen Poesie überhaupt und für unser Zeitalter insbesondere zu bestimmen«.6 Gundolf dagegen rühmt einseitig Schlegels Werk als »die geistig höchste und sinnlich feinste griechische Literaturgeschichte der behandelten Zeit«7 und findet in ihr wie auch im »Gespräch über die Poesie«: »die gesamte Methode und Masse des hochromantischen Geistes in Friedrich Schlegels Fassung«.8 Er betont nachdrücklich: »Erst aus den Griechen konnte ... dies ästhetische Wunschbild entstehen: darum waren und blieben die Griechen der Ausgangs- und Mittelpunkt von Friedrich Schlegels Gedanken auch in seiner romantischen Blütezeit.«9 Damit rücken nun freilich die Gesichtspunkte aus dem Blickfeld, die der Studiumsaufsatz umgrenzte, als er den Gegensatz zwischen der modernen und der antiken Poesie als den zwischen dem Interessanten und dem Objektiven, einer künstlichen und einer natürlichen Bildung erläuterte. Für Friedrich Schlegels Einsichten wie dann auch für seine Wirkung war entscheidend, daß er nach der besonderen Situation der »Moderne« fragte und im Hinblick auf sie ein vom Klassizismus sich distanzierendes Verhältnis zur Antike gewann. Er verstand die griechische Kunst als eine in sich abgeschlossene Bildungswelt und brachte sie in ein durchreflektiertes Verhältnis zur Moderne. Die alte Lehre der Naturnachahmung im Sinne der tradierten Schönheitslehre habe in dem Maße ihre Geltung verloren, wie die heutigen Regeln der Kunst nicht mehr dem Schönheitsideal folgen. Im Hinblick auf Shakespeare sagt Schlegel: »Das Schöne ... ist so wenig das herrschende Prinzip der modernen Poesie, daß viele
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Charakteristiken und Kritiken I (1796—1801), hrsg. und eingel. von Hans Eichner, Paderborn 1967. Ebd., Bd. i, S. 207. Vgl. Friedrich Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie, hrsg. und eingel. von Faul Hankamer, Bad Godesberg 1947, S. 203. Gundolf, Romantiker (Anm. 4), S. 29. Ebd., S. 74. Ebd., S. 24.
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ihrer trefflichsten Werke ganz offenbar Darstellungen des Häßlichen sind.«10 Diese Moderne verwandelt das Schöne wie das Häßliche in den charakteristischen Ausdruck einer Empfindung des von einer widerspruchsvollen Natur beanspruchten Menschen. Die »häßlichen Zusätze« in Shakespeares Dramen »sind nur Mittel eines anderen Zwecks; sie dienen dem charakteristischen oder philosophischen Interesse«.11 »Aus dieser Herrschaft des Manirierten, Charakteristischen und Individuellen erklärt sich von selbst die durchgängige Richtung der Poesie, ja der ganzen ästhetischen Bildung der Modernen aufs Interessante.«12 So fragt Schlegel sehr grundsätzlich, wie sich die moderne Poesie von der antiken unterscheidet, aber auch ob und in welchem Sinn trotz dieser Unterschiede die Nachahmung der Alten ihr Recht behält. Unversehens ist die Analyse der Moderne wichtiger geworden als die Rechtfertigung des Alten. Das griechische Vorbild kann nur noch auf indirekte Weise wirksam werden, nicht durch einzelne Werke und Normen, sondern durch den lebendigen »Geist des Ganzen«, durch die reine »Griechheit«, als Hinweis auf »die sittliche Fülle, die freie Gesetzmäßigkeit, die liberale Humanität, ... welche mehr oder weniger über die ganze Masse zerstreut sind«.13 Die Analyse der »Moderne« behält für Schlegel eine vorrangige Bedeutung als Erläuterung ihres andersartigen Bildungszustands. Der durch die Bewußtseinskritik und die Naturerkenntnis veränderte Erfahrungsraum einer »künstlichen« Bildung bleibt einer Subjektivität zugeordnet, die den individuellen Empfindungen des Dichters im dichterischen Werk eine eigene Stilqualität zugesteht. Durch diese Besinnung auf die Eigenart der Moderne kündigt sich eine neue Einstellung zur nachantiken Literatur an, die nicht einfach am antiken Vorbild gemessen werden kann. Die Frage nach dem »Ursprung, Zusammenhang und Grund so vieler seltsamen Eigenheiten der modernen Poesie« nötigt zu einer Neubesinnung auf die Voraussetzungen ihrer Entstehung. Es gelte — wie es nun heißt —, »aus dem Geist ihrer bisherigen Geschichte« den »Sinn ihres jetzigen Strebens« aufzufinden.' 4 Damit ist angedeutet, daß die Frage nach der Moderne nicht nur der Besinnung auf die Griechen Nachdruck gibt, sondern die freie Zuwendung zu der nun als »romantisch« bezeichneten Literatur ermöglicht. Erst diese Doppelgesichtigkeit gibt der Hin10
Kritische F.-Schlegel-Ausgabe (Anm. 5), Bd. i, S. 219. Ebd., S. 25of. 12 Ebd., S. 252. '·' Ebd., S. 346f. 14 Ebd., S. 224. 11
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wendung zu den Griechen ihre Bedeutung zurück, als ein Korrektiv für den modernen Dichter. Da Gundolf auf Schlegels Erläuterungen zur Situation der Moderne nicht eingeht und dessen Hinweise auf eine neue Bewußtseinslage der Subjektivität nur benutzt, um sie als Wirkungen des Fichteanismus beiseite zu schieben, bleibt ihm nur übrig, die Bemühungen um das Eigenrecht der Moderne entweder zu verurteilen oder zu mißdeuten. Er nennt es das »Schicksal der Romantik, daß sie mit schon Gebildetem beginne, ohne Urgrund unter den Füßen, und Welt nur durch Denk-Mittel empfange«. 15 Die Ablehnung in der Sache greift auf die Einschätzung der menschlich-persönlichen Qualitäten der Beteiligten über, als wäre Friedrich Schlegel ein »hemmungsloser Genießer des Geistes« gewesen.16 So fehlt auch die Bereitschaft, auf die Schlegelsche Begründung einer romantischen Formenwelt einzugehen, auf die Bedeutung der Ironie, des Witzes, der Allegorie und Arabeske, als würden sie alle nur der »Selbstherrlichkeit des puren Menschengeistes« entsprechen.17 Diese widersprüchliche Einstellung zu Friedrich Schlegel begegnet schon in Gundolfs Einleitung zu seiner Ausgabe der Romantiker-Briefe von 1907. Er wird schon dort als ein »faszinierender und verderblicher Mensch«' 8 gezeichnet, so daß die Freunde ihren Widerspruch anmelden und Karl Wolfskehl die Anerkennung der »substantiellen Einzelexistenz«, die »nur in sich begreifbar ist«, auch für das Friedrich-Schlegel-Verständnis fordert. Er mahnt: »Also freuen wir uns an ihm und fragen wir nicht nach gut oder bös in welchem Sinne immer.«19 Dem entspricht die Reaktion von Hanna Wolfskehl, wenn sie die Briefauswahl rühmt; hier sei »die Luft des Geistes, von der allein mir zu leben der Mühe wert erscheint. ... Am faszinierendsten von allen ist mir Friedrich Schlegel«.20 Auch aus späterer Zeit gibt es eine Äußerung, die ein Befremden über Gundolfs urteilendes Verfahren erkennen läßt. Im Februar 1920, also vor Beginn des Semesters mit der Romantiker-Vorlesung, hat er gesagt, »daß er sich besonders den Romantikern verwandt fühle, dieser Mischung von Lyrism, Spleen und Hochgeist«. Edith Landmann fragte daraufhin: »Und 15
Gundolf, Romantiker (Anm. 4), S. 55. Ebd., S. i5f. 17 Ebd., S. 56. '" Gundolf, Romantiker-Briefe (Anm. l), S. XII. '" Karl und Hanna Wolfskehl, Briefwechsel mit Friedrich Gundolf, 1899-1931, hrsg. von Karlhans Kluncker, Bd. 2: ipoj-ipjj, Amsterdam 1977, S. 49. 20 Ebd., S. 57f. ln
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Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches darum machen Sie die so schlecht?« »Ja«, sagte er, »man lobt nicht, was man hat, im Gegenteil ... Alle anderen haben die Romantik, die Zersetzung im Leibe.«21 Die Formel über die Romantik als »Zersetzung« mag andeuten, daß den Urteilen eine generelle Problematik zu Grunde liegt, als wenn die Zersetzung überall da beginne, wo der Unmittelbarkeit des Lebendigen die Reflexion entgegenwirkt. Die Bewußtseinskritik kann aber nur demjenigen als »Zersetzung« verdächtig werden, der einer eigenen Lebensunmittelbarkeit sich gewiß zu sein meint, ohne ihre Entlarvung furchten zu müssen. Das Verständnis Friedrich Schlegels wird sich deshalb außer an seiner Rückverweisung auf die Moderne als dem »Interessanten« auch an der Rechtfertigung seiner Position durch die Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes orientieren müssen. Seine Bedeutung als »Begründer der romantischen Schule« ist ohne seinen Rückgriff auf die »kopernikanische Wendung« von den »Gegenständen zur Erkenntnisart von Gegenständen« im Sinne Kants kaum verständlich zu machen.22 Für Kant ist die Kritik der reinen Vernunft ein »Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst«.23 Eben deshalb kann seine methodische Frage nach der Erkenntnisart von Gegenständen zur Herausforderung auch für das Verständnis poetologischer Probleme werden, als Frage nach der »Verfahrensweise des poetischen Geistes«, wie sie Hölderlin sich stellte.24 Wie sehr Gundolf auf die Erörterung dieser Problematik verzichtet hat, zeigt sich nicht nur in der Einschätzung Schlegels, sondern allgemein der romantischen Schule und besonders deutlich in der SchleiermacherInterpretation. Die damalige Rückbeziehung auf Fichte ist immer zugleich als Hinweis auf Kants transzendental-philosophischen Ansatz zu verstehen, als Frage nach der Möglichkeit einer auf sich selbst reflektierenden Poesie, die der Produktivität des »Witzes« als der Spontaneität des Geistes vertraut und statt der Naturwahrheit den Beziehungsreichtum der Arabesken und Grotesken sucht. So hat Schlegel den Blick für die 21
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Stefan George, Friedrich Gundolf, Briefwechsel, hrsg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann, München und Düsseldorf 1962, S. 337. Vgl. Edith Landmann, Gespräche mit Stefan George, München 1963, S. 96f. Immanuel Kants Werke, hrsg. von Ernst Cassirer, 10 Bde., Berlin 1912-1923, Bd. 3: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Albert Görland, Berlin 1913, S. VII, 49. Ebd., Kants »Vorrede zur zweiten Auflage«, S. 2l. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hrsg. von Friedrich Beißner, 8 Bde., Bd. 4,1: Der Tod des Empedokles. Aufsätze, Stuttgart 1961, »Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes«, S. 241(1"., 248. 410
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Erscheinungsweisen des Humors, aber auch der Allegorie eröffnet, in entsprechender Weise wie Schiller dem sentimentalischen Dichter die Pathosformen zuerkannte. Der Dichtungskanon konnte sich erweitern, weil die der Moderne zugehörige Spannung zwischen subjektiver Empfindung und erforschbarer Wirklichkeit zu eigenen Darstellungsmitteln nötigte. Gundolf hat zwar Schlegels Bemühungen um die Fichtesche Philosophie erwähnt, aber je weniger er auf deren Voraussetzung in der transzendentalen Fragestellung Kants einging, um so befremdlicher und skurriler mußte ihm die Wirkung auf Schlegels Poetik erscheinen. Den Rückgang auf die Subjektivität als Bedingung des Weltverhältnisses bezeichnet er in ihren Folgen als »romantische Terminologie-Wut«.25 Die Intentionen Schlegels erstarren bei ihm zu einem Begriffsspiel von Schlagwörtern aus Fichte und Spinoza, wenn er sagt: »Aus dem Ich Fichtes sind die Akte, aus der Substanz Spinozas die Bilder und Räume der Phantasie abzuleiten ... Fichte hat die Einheit, Spinoza die Allheit des Geistes am extremsten formuliert ... aus Fichte ließ sich die grenzenlose Subjektivität, aus Spinoza die unermeßbare Objektivität der romantischen Poesie begründen.«26 In solchen Verkürzungen der Argumentation entschwindet die eigentliche Frage Friedrich Schlegels, wie in der Reflexionspoesie eines der Selbsttäuschung ausgesetzten Bewußtseins sich ein Weltgefüge als Vorstellungszusammenhang behaupten kann, eben mit den Mitteln der Ironie und des Humors, als Allegorie oder Arabeske, die das Verlangen nach einer »neuen Mythologie« befriedigen würden. Dabei bliebe zu bedenken, daß es im Rückgriff auf Fichte und Spinoza für Schlegel nicht um metaphysische Spekulationen ging, sondern um die Rückbeziehung des vorgegebenen Daseins auf die zugeordneten Bewußtseinsvorgänge, die in der Selbstgewißheit des Personseins gegründet sind. Fichtes Rechtfertigung der Subjektivität wird als methodisches Prinzip für die poetologischen Erörterungen fruchtbar, weil es das Dichtungsverständnis von den dargestellten Gegenständen auf die Darstellungsweise von Gegenständen zurückbezieht. Ernst Cassirer sagt zur Begründung der Wissenschaftslehre Fichtes: »Das Ich sowohl wie das Nicht-Ich können hier nicht als metaphysische Substanzen, deren eine die andere aus sich hervorbringt, verstanden werden, da sie vielmehr die zusammengehörigen Ausdrücke für eine einheitliche methodische Forderung bilden.«27 25 26
Gundolf, Romantiker (Anm. 4), S. 59. Ebd., S. 60. 411
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches
Auch in seiner Schleiermacher-Interpretation verzichtet Gundolf darauf, die Reden über die Religion mit der neuzeitlichen Bewußtseinskritik in Zusammenhang zu bringen. Er erläutert den freundschaftlichen Austausch Schleiermachers mit Schlegel. Der Sinn für Individualität und »gesellige Bildung« belebte beide, und das »Anschauen des Universums« bestimmte ihre religiösen Vorstellungen. Aber wieder verkümmern die philosophischen Voraussetzungen zu starren Schematismen. Gundolf findet im Denken Kants nur lebensfremde Begrifflichkeit und formalistische Systematik, ohne die kopernikanische Wendung vom Gegenstand zur Erkenntnisart von Gegenständen mitzuvollziehen. Er reflektiert nicht auf die Bedeutung der transzendentalen Subjektivität als Bedingung möglicher Erkenntnis und verwechselt sie mit den beliebigen Vorstellungen und Wünschen eines subjektiven Ich. Den aus Kant abgeleiteten Fichteanismus versteht er als »eine überschwengliche Vergottung des Ich«; denn Fichte habe »die ganze Welt ver-icht«: »Das Ding an sich ... enthüllte er dem entzückten Geschlecht hemmungsloser Ichlinge als eben das Ich selbst.«28 Weil Gundolf Schleiermachers Rückbeziehung der religiösen Probleme auf die ihre Erfahrung ermöglichende Subjektivität nicht mitvollzieht, kann er ihm vorwerfen, »daß er nicht von Gott, sondern von der Religion, nicht vom religiösen Gegenstand, sondern vom religiösen Zustand spricht«.29 Er bezeichnet es als »Grundschwäche seiner ganzen Religionslehre«, daß er »die Religion in ein bloßes Erlebnis setzt, in das Subjekt, ohne ein Gesetz des Erlebens zu kennen«.30 Es entsprach aber der Konsequenz der Bewußtseinskritik, die Berechtigung der Rede von einem religiösen »Gegenstand« nur insoweit anzuerkennen, als sie durch die hier mögliche Erkenntnisart von Gegenständen begründet wurde; auch der theologische Gegenstand konnte die ihm eigene Wahrheit nur im Rückgang auf die Subjektivität rechtfertigen. Schleiermacher hat nicht Religion und Bildung verwechselt, wie Gundolf sagt, sondern den Gegensatz zwischen OfFenbarungsglauben und Bewußtseinskritik ausgetragen und den Grenzsaum zwischen dogmatischer Orthodoxie und aufklärerischem Atheismus kenntlich gemacht. So hat er die philosophischdichterischen Antworten der romantischen Generation für ein erneuertes
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Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme, Berlin 1920, S. 129. 28 Gundolf, Romantiker (Anm. 4), S. 1631". 2y Ebd., S. 173. •10 Ebd., S. 189. 412
Friedrich Gundolf Religionsverständnis fruchtbar gemacht und dazu beigetragen, die Traditionen des Protestantismus in verwandelter Gestalt wirksam zu erhalten. Weil Gundolf weder die besondere Situation der »Moderne« noch ihre Rückbeziehung auf die transzendentale Subjektivität als Grundlage ihres dichterischen Verfahrens ins Spiel brachte, fehlte ihm die Möglichkeit, den Verwandlungen der Stil- und Darstellungsmöglichkeiten der von ihm behandelten Dichter gerecht zu werden. Trotz aller Intensität seiner Formulierungskunst bleibt es bei widersprüchlich zwiespältigen Beurteilungen sowohl der »Romantiker« im engeren Sinn wie auch der Vertreter einer nachfolgenden Generation. Zwischen Verstehensbereitschaft und sachlicher Einschätzung klafft deshalb nur zu oft ein schwer überbrückbarer Gegensatz. Zum Abschluß seiner Charakteristik von Ludwig Tieck als einem »schwachen Poeten« sagt er, daß man ihn nicht nur »als den Verfasser seiner einzelnen Bücher« beurteilen dürfe. Er rühmt ihn nun doch: »Über dem Ganzen seines Werkes, in keiner Einzelheit völlig verfangen, doch in jeder fühlbar, liegt ein unbeschreiblicher Schimmer von geistiger Helle, Weite und Anmut, ein Duft von Bildung und Poesie, ... der Zauber einer durchaus empfänglichen und verschwenderischen, vielleicht etwas gewichtslosen Seele.«3' Diesem Lob steht eine Vielzahl von abweisenden Urteilen gegenüber. Gundolf spricht von Tiecks »Not des Spielertums«, der »Ironie des Impotenten«, von dem »empfindsamen nervösen Städter« und seinem »unsauberen Gemeng von Altertümelei und Zeitgeist-gefasel«.32 Solche Kennzeichnungen dienen nicht der Eingrenzung der für Tieck wesentlichen Möglichkeiten, sondern benutzen einen ihm fremden Maßstab, als wenn er die echte Kompositionskunst vernachlässigt habe, jene Kraft des Ordnens und Gliederns, die - wie es generalisierend heißt — »Goethes, Dantes, Shakespeares Anschaulichkeit« bewirkt.33 Der »Mangel an solchem Ordnungstrieb« verrate den »Zerfall schöpferischen Vermögens« und sei »Romantiker-Krankheit.« Diese Vorwürfe verdecken den Wert der individuellen Leistung und die Möglichkeiten einer musikalischen Komposition mit ihren vielfältig verschlungenen Melodien. Tiecks Dichten folgte einem ihm eigenen Maßstab. Er hat die Subjektivität der Stimmungslagen als Grundthema festgehalten und dichterisch abgewandelt, im Widerstreit der Subjektivität mit den Mächten des Zufalls und im Wechsel der seelischen Zustände zwischen 31
Gundolf, Romantiker. Neue Folge (Anm. 4), S. 138. Ebd., S. 68, 72, 79. » Ebd., S. 2of. 32
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Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches Erwartung, Verlorenheit und Sehnsucht. Die ihm zugehörige Poetisierung und Ironisierung der Lebensbezüge wird zur gestaltenden Kraft einer »romantischen Poesie«, die in der Aneignung und Umwandlung überlieferter Vorstellungsweisen und Motive sich zu behaupten weiß. Man kann von Tieck nicht erwarten, daß er sich einer ihm fremden Norm fugte, als müsse auch seine Kunst als eine »gestaltenschaffende, Gott-verkörpernde Weltkraft« verstanden werden.34 Gundolfs mangelnde Bereitschaft, sich auf die durch Kant und Fichte in Gang gesetzten Bewußtseinsvorgänge einzulassen, führte in seiner Romantikdeutung zu jener Widersprüchlichkeit der Urteile, in denen Zustimmung und Ablehnung sich so unvermittelt begegnen. Die durch Friedrich Schlegel gerechtfertigte Bedeutung der Reflexionspoesie als dichterischer Weg der Moderne zur Humanisierung wird verkannt. Zu dieser Poesie der Moderne gehören ebenso die lyrischen Klänge des Stimmungslebens wie die subjektiven Brechungsformen des Witzes, der Ironie und des Humors; aber auch die Freiheiten von den traditionellen Gattungsnormen. Sie gibt den subjektiven Integrationsformen den Vorrang vor den Regeln der Poetik, um von der Selbsterfahrung des Menschen in einer durch Natur- und Geschichtsforschung verwandelten Vorstellungswelt zeugen zu können. Sie entwickelt Darstellungsweisen, die der Freiheit des Menschen zu sich selbst in der Auseinandersetzung mit den überkommenen Ordnungen von Kirche und Staat entsprechen. Die subjektivierende Integration einer widerstreitenden Wirklichkeit nötigt zu Kontrastfiguren in Parodie und Satire, in Provokation und Dialektik. Noch vor dem Gegenbild ihrer Verlorenheit fragt die Subjektivität nach der Wahrheit des Menschseins als dem Thema der modernen Poesie. Dabei bleibt festzuhalten, daß erst diese Besinnung auf die besondere Situation der Moderne den ihr seit damals zugehörigen Namen, den der »Romantik«, rechtfertigt, der nicht im Sinn vager Phantasie- und Stimmungsbilder eines populären Wortgebrauchs gewählt wurde, sondern auf den Zusammenhang mit der nachantiken Bildungswelt verweist. August Wilhelm Schlegel sprach es in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur deutlich aus, die er 1808 in Wien hielt und 1809 veröffentlichte. Es gelte, »die Alten nach Gebühr zu ehren, und dennoch die davon gänzlich abweichende Eigenthümlichkeit der Neueren anzuerkennen, ... Die welche dieß annahmen, haben für den eigenthümlichen Geist der modernen Kunst, im Gegensatz mit der antiken oder classi34
Ebd., S. 47·
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sehen den Namen >romantisch< erfunden«. 35 Diese Angabe über Sinn und Bedeutung des Namens macht deutlich, daß die damaligen Erörterungen auf ihre Weise die Diskussion weiterführten, die mit der Querelle des Anäens et des Modernes durch Charles Perrault in der Academic Franfaise 1687 eingeleitet wurde. Damals war es der Cartesianismus, der die zeitlose Mustergültigkeit der Alten in Frage stellte, wie es nun bei Friedrich Schlegel die Bewußtseinskritik Kants wurde. In diesem übergreifenden Zusammenhang wird auch verständlich, daß fast gleichzeitig mit dem Studiumsaufsatz Friedrich Schlegels die Abhandlung Schillers »Über naive und sentimentalische Dichtung« 1795/96 entstanden ist. In beiden Werken geht es um die Frage nach Aufgaben und Möglichkeiten der gegenwärtigen Literatur.36
III. Normsetzung und Sprachsetzung Gewiß würde man Gundolfs Leistung verkennen, wenn man seinen Romantiker-Po r traits nur die aufweisbaren Grenzen der Interpretation vorwerfen wollte, statt sie in den ihm wesentlichen Zusammenhängen zu sehen. Man könnte meinen, daß er seine Urteile mit voller Absicht und bisweilen auch gegen besseres Wissen so zugespitzt hat, als käme es ihm darauf an, die klassischen Normen im Widerspruch zur romantischen Position an dieser selbst zu erproben.37 Die Gegensätze zwischen den Verfahrensweisen der Romantiker und den von Gundolf benutzten Maßstäben zeugen von einem Widerstreit, der den Portraits eine eigene Faszination gibt, als ginge es um die Erprobung einer Alternative, in der sich 35
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August Wilhelm von Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, 2 Bde., Kritische Ausgabe eingel. von Giovanni Vittorio Amoretti, Bonn und Leipzig 1923, Bd. i, S. 7fZum Problem der Moderne vgl. Hans Robert Jauss, »Schlegels und Schillers Replik auf die >Querelle des Anciens et des Modernes««, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 1970 (edition suhrkamp 418), S. 67-106. Dafür ist eine Äußerung Gundolfs über seine Stellung zu Friedrich Schlegel aufschlußreich, im Brief an Karl Wolfskehl vom 18.4.1907: »Es versteht sich ja ganz von selbst, daß ein Wesen von solcher Fülle und solcher beständiger Erregtheit ... die tiefsten Blicke habe. Aber das sind Versprechungen und keine Erfüllungen, und wenn ein solcher uns diese schuldig bleibt, so trifft ihn der fluch zehnmal stärker, als einen dem weniger gegeben war. Zugegeben, daß ich, ob befugt oder nicht, diesen fluch forciert und zugespitzt einseitig ausgesprochen habe, das kann bei der modisch gewordenen Verhimmelung ... nichts schaden, den bedeutenden Eindruck habe ich nicht verwischt.« (K. und H. Wolfskehl, Briefwechsel (Anm. 19), Bd. 2, S. 46). 415
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches eine von George bestimmte Dogmatik bewähren soll. Die Urteile ergeben sich aus einer beabsichtigten Stilisierung und fuhren auf die hier wesentlichen Voraussetzungen zurück, nicht nur auf die Wirkung Stefan Georges, sondern auch auf die durch Nietzsche geweckten Bemühungen um eine »monumentalische« Historic, die sich gegen die »antiquarische« und »kritische« Historic zur Wehr setzt, entsprechend dem Satz Nietzsches: »Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten.«38 Gewiß ist es nicht einfach, dem Vorbild »George« als einer solchen höchsten Kraft der Gegenwart einen normsetzenden Maßstab zu entnehmen und doch der Vielfalt des literarischen Lebens gerecht zu werden. Stefan George hat sein Werk für sich sprechen lassen und es durchweg abgelehnt, sich auf literarästhetische oder kulturpolitische Erörterungen einzulassen. Er blieb schweigsam auch in seinen Briefen und schrieb an Gundolf als den ihm ergebenen Jünger: »reden Sie mir ... von Ihren planen und werken so oft es Sie treibt, erwarten Sie dabei von mir wenig antwortzeilen ohne entmutigt zu sein, meine äusserungen sind beinah ausschließlich bewegung und gebild.«39 Damit ist gesagt, daß für George die Einheit von Dichter und Werk kaum eine Reflexion auf Sinn und Eigenart des »Gebildes« zuläßt, als müsse jede Reflexion auf die dem Dichter zugehörige Subjektivität in die Irre führen und nicht in das Sinngefüge seines Menschseins. Gundolf betont denn auch, wie fern und fremd für George die geistigen Welten geblieben sind, die die Subjektivierung des Weltverständnisses vorangetrieben und der deutschen Literatur freien Raum geschaffen haben. Er sagt: »Wie die Reformation und die Romantik, so fehlt in Georges Schaffen auch die deutsche Philosophie, die beider Kind ist. Die idealistischen Systeme und Methoden ... entbilden die Welt.«40 Statt dessen spricht er von Georges »heidnischem Blutskatholizismus« und dem ihm eigenen »antiken Blutserbe.«4' So wird verständlich, daß die Romantiker-Deutungen die Verbindung mit der Transzendentalphilosophie verleugnen und statt dessen die Einbeziehung der antiken Traditionen hervorheben. Gundolf selber war bemüht, das ihn verpflichtende Vorbild als normgebende Gestalt genauer zu kennzeichnen. Dafür ist sein Vortrag von 3
" Friedrich Nietzsche, Nietzsches Werke, Leipzig [1919] (Kröners Klassiker Ausgabe), Bd. 2: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historic für das Leben, S. 143, 184. 39 George, Gundolf, Briefwechsel (Anm. 21), S. 39. 40 Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 49. 41 Ebd., S. 48 u. 52. 416
Friedrich Gundolf
1913 über »Stefan George in unserer Zeit« aufschlußreich.42 Er hebt zwei Hauptmomente heraus und bezeichnet George als einen »natur-unmittelbaren« Menschen, der nicht vom Zeitgeist, sondern von den »schöpferischen Kräften der Erde« abhängt und ein »überzeitliches Menschentum« vertritt, im Gegensatz zu denen, »die mit Bewußtsein modern oder unmodern sind«. Vor allem aber gilt er ihm als Dichter, der durch seine Sprache eine Erneuerung der Lebenskräfte ermöglichte. Die naturhafte Lebensunmittelbarkeit, die mit Urgründen des Daseins vertraut ist, werde als bestimmender Gehalt erst wirksam durch die schöpferische Kraft des dichterischen Wortes, das als Einheit von Wort und Wesen von der möglichen Größe des Menschen zeugt. George zeichne sich dadurch aus, daß er »noch die Sprachwerdung kosmischer Wesenheiten unmittelbar erfährt.« Die Erneuerung der Sprachfähigkeit erscheint deshalb als seine eigentliche Leistung: »Daß Sprache die Essenz des Menschtums ist, eine kosmische Grundkraft: eben das hat George unserer Zeit wieder vergegenwärtigt.« Seine erste Aufgabe war es, wieder eine Dichtersprache zu erschaffen, im Sinn des von ihm vertretenen Dichteramtes, der »Bewahrung der in der Sprache beschlossenen kosmischen Kräfte.« So heißt es zusammenfassend: »Wer nicht weiß was Dichten als Sprachgestaltung überhaupt ist, muß auch Georges Charakter mißdeuten.« Seine Dichtung ist »Sprachgestaltung gehobnen Menschentums, ... Bändigung des Chaos durch das seelenhaltige Wort ...« Die Zuordnung der Sprachkraft des Dichters zum kosmischen All gilt als die durch George vermittelte Erfahrung. Da Gundolf der romantischen Generation solche Naturunmittelbarkeit nicht zuerkennen konnte und ihre Reflexionshaltung als Signum der Moderne nicht in ihren Voraussetzungen und Folgen aufsuchte, blieb ihm die Subjektivierung der romantischen Poesie ein bekämpfenswerter Gegenpol zur Georgeschen Dichtungswelt. Damit wich er der Frage aus, ob und wie denn der Mensch sich seines Zusammenhangs mit dem kosmischen Geschehen vergewissern kann, ohne durch den Rückgang auf die Selbsterfahrung zur Bewußtseinskritik genötigt zu sein. Die Frage nach der Sprachleistung der Dichter wird eigentümlich verengt, so daß die der romantischen Generation gemäßen Möglichkeiten nicht zur Geltung kommen können. Die Aufmerksamkeit Gundolfs gilt primär dem im Werk sich bezeugenden Wesen des Dichters als Verkörperung kosmischer Kräfte und nur 4
~ Friedrich Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, 3. Aufl., Heidelberg 1918. Als Vortrag 1913 in Göttingen gehalten; auch abgedruckt in: ders., Dichter und Helden, Heidelberg 1921, S. 59-78. 417
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches
sekundär der Sprachgestalt des Werkes als ihrer Erscheinungsweise. An die Stelle der sprachlichen und poetologischen Befunde, die eine methodische Untersuchung und Deskription des Textes ermöglichen, tritt die Schau als intuitive Vergegenwärtigung einer Wesenseinheit, die durch charakterisierende Begriffe verdeutlicht wird. Es entsteht eine Kunst der Biographik, die auf die Einheit von Geist und Leben zielt, nicht im Sinn der Psychologie, sondern einer Portraitkunst des deutenden Physiognomen, die der Formulierungsfreude des Interpreten freien Raum läßt. Gundolf hat auf diese Weise seinen Darstellungen Glanz und Würde gegeben, ohne ein eigentliches Geschichtsverständnis als Grundlage des Dichtungsverständnisses anzustreben. Die Art, wie er im Zeichen Stefan Georges sich auf ein »überzeitliches Menschentum« beruft und eine Naturunmittelbarkeit der Dichter voraussetzt, entspricht seinem Versuch, einen neuen Klassizismus auf vitalistisch-lebensphilosophischer Grundlage zu rechtfertigen, der sich an den Heroen der Überlieferung von Homer über Dante und Shakespeare bis zu Goethe hin orientiert. Die Vielfalt des literarischen Lebens mit seinem geschichtlich bestimmten Stilwandel geht darüber verloren. Damit stellt sich die Frage, ob und wie die Erneuerung der Sprachfähigkeit als entscheidender Maßstab Gundolfs festgehalten werden kann, um ihn für Verständnis und Aneignung nichtklassischer Dichtungen fruchtbar zu machen. Die Hinwendung zur Werkgestalt als einer Sprachgestalt läßt nach den jeweils wirksam gewordenen dichterischen Verfahrensweisen fragen, durch die sich der Mensch auf sich selbst zurückgeführt sieht. Es genügt nicht, nach bewegenden Erlebnissen, Gedanken oder Ideen im Sinn einer problemorientierten Geistesgeschichte zu fragen, da es darauf ankommt, wie die jeweiligen Themen sich einer Werkgestalt zuordnen, in der das Vorstellungsleben sich seiner sprachlichen Möglichkeiten vergewissert und darstellbare Gestalt gewinnt. In dem Bemühen um die Dichtung Stefan Georges und unter dem Eindruck des Gundolfschen Beispiels der Romantiker-Interpretation konnte die Frage der Sprachleistung und der Werkgestalt als methodischer Ansatz wirksam werden, um in der literarischen Überlieferung dem Wandel der Formensprache nachzugehen. In welcher Weise die Sprache »kosmische Kräfte« zu bewahren vermag, wird offenbleiben müssen; aber die These, »daß Sprache die Essenz des Menschtums« ist und die »Sprachkraft als Zeugungskraft der Seele« wirksam wird, ist als eine methodische Maxime festzuhalten, die generelle Geltung beanspruchen kann, auf wie veränderte Weise auch immer. Entscheidend bleibt, daß die Dichtung Stefan 418
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Georges eine Spracherfahrung vermittelte, die im Gegensatz zu allen naturalistischen Annäherungen an die Alltagssprache steht und dem Dichtungsverständnis eine Dimension des geistig verpflichtenden Wortes eröffnet hat, die der Sprache als ordnende und richtende Kraft ein tätiges Handeln zuerkennt. Das Stefan George zugehörige dichterische Verfahren kann dann freilich nur als ein Sonderfall der geschichtlich sich entfaltenden Vielfalt der Möglichkeiten des sprachlich-dichterischen Handelns verstanden werden.
IV. Ein Leitwort Die Frage nach der Dichtung als einer Sprachgestaltung von bewegender Kraft stellte sich mir in jenem Heidelberger Studienjahr nicht nur von George und Gundolf aus, sondern unreflektierter und unmittelbarer noch durch Hölderlins Werk, das Norbert von Hellingrath neu erschlossen hatte und das die empfänglichen Gemüter bewegte. Die so starke Wirkung des Hyperion-Romans auf mich hing mit der Nachkriegssituation zusammen, in der eine Identifikation mit der Haltung des Erzählers möglich schien. Im Rückblick auf die kriegerischen Ereignisse des griechischen Freiheitskampfes und das Scheitern der jugendlichen Erwartungen fragt Hyperion nach den Grundlagen und Aufgaben eines männlichen Wirkens, um in der Rückwendung zur allumfassenden Natur eine sichere Gewißheit zu finden. Er hatte erfahren, daß im Kriege die Gewalttat triumphiert und die ordnenden Kräfte unwirksam werden, die Verwirklichung der eigenen Hoffnungen nicht gelingen kann. Die ihm gestellten Aufgaben begreift er im Sinne einer Erneuerung des Bildungswillens. Die überkommenen kirchlichen und politischen Antworten konnten nicht genügen und so gilt es, die Natur als zugeordnete Macht zu verehren und dem Verlangen nach Freundschaft und Liebe als treibenden Kräften Raum zu verschaffen. Im Rückblick auf das griechische Altertum mochte sich ein beispielhaftes Menschentum zeigen, das im Zeichen des »hen kai pan« die Wege der Erneuerung weisen konnte. Die Verheißungsworte Diotimas am Ende des zweiten Buches des Romans deuten auf ein sinnvoll-nötiges Tun: die Menschen wären »doch noch bildsam«; »Du wirst Erzieher unsers Volks«.43 Damit war ein Bildungs43
Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, 6 Bde., begonnen durch Norbert v. Hellingrath, München, Leipzig u. Berlin 1913-1923, Bd. 2, besorgt durch Friedrich Seebass, Berlin 1923, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, S. 1981". 419
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches räum umgrenzt, in dem die humanisierende Kraft des dichterischen Wortes zur Entfaltung kommen konnte. Gundolfs Interpretation von Hölderlins »Archipelagus«, diese festlich hochgestimmte Antrittsvorlesung von 1911, steigerte gewiß das Verlangen, sich Hölderlins Dichtung zu öffnen; aber die vorgetragene Deutung befremdete auch, als richte sie sich gar zu eindeutig auf den »Sänger Griechenlands«44 und zu wenig auf die Bezeugung eines Naturglaubens, der sich durch das griechische Spiegelbild seine eigene Sprache schafft. Der Schritt vom Werk zu dem ihm zugehörigen seelischen Gehalt schien zu unvermittelt auf die These hinzufuhren, daß für Hölderlin Hellas »eine eingeborene Form seines Geistes« war, daß ihm eine »dionysischhellenische Innenwelt« zugehörte. Schon in der Einleitung zu den Romantiker-Briefen sprach Gundolf davon, daß Hölderlin »aus einem unterirdischen Hellas in eine spiritualisierte Zeit kam« und »Dionysos sein Gott« war.45 Er galt ihm als der »entrückte Seher«, der den »Gottesrausch« kennt.46 Das waren Charakterisierungen, die über den Text des Gedichteten hinausgreifen und die Frage offenlassen, wie sie durch Hölderlins Bildungsweg und die Entwicklung des ihm eigenen dichterischen Verfahrens sich bestätigen lassen. Der Wechselbezug zwischen dem rufenden, fragenden, trauernden Dichter und der in griechischer Landschaft und Geschichte allgegenwärtigen Natur bestimmt die Struktur des Gedichts, den Tonfall und Rhythmus der Verse und die Kraft der Bilder. Damit stellt sich die entscheidende Frage, wie der hymnische Ton des feiernden Anrufs, des Nennens und Dankens sich durchsetzt. Zu dieser hymnischen Sprache gehört eine eigene Form des mythischen Vorstellens und Sprechens, das den Götter-Namen in die Verse aufnimmt, wie am Schluß des »Archipelagus«-Gedichts es die Worte sagen: »— Aber du ... o Meergott! / Töne mir in die Seele noch oft.«47 Diese Rückbeziehung auf griechische Mythen macht Hölderlin nicht zu einem »entrückten Seher«, sondern zeugt von seiner freien Verfugung über eine mythische Vorstellungsweise. Er verzichtet auf die der griechischen Mythologie zugehörigen Namen und ihre Göttergeschichten, auf ihre Erzählbarkeit und bleibt an die Sprachsituation gebunden, die den Menschen in seinem Weltverhältnis auf die Ich-Du-Beziehung verweist. Das Ich vergewissert sich der ihm zugehörigen Verbundenheit mit allem Lebendigen auch 44 45 4n 47
Friedrich Gundolf, Hölderlins Archipelagus, 2. Aufl., Heidelberg 1916, S. 6. Gundolf, Romantiker-Briefe (Anm. i), S. II. Gundolf, Romantiker. Neue Folge (Anm. 4), S. 43, 168. Hölderlin, Sämtliche Werke (Anm. 43), Bd. 4, 1916, »Der Archipelagus«, S. 42O
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dann noch in der Du-Anrede, wenn das Namenlos-Schweigende antwortlos bleibt. Das rühmende, dankende Wort wagt den Anruf mit den Götternamen, um sich den das Dasein bestimmenden Natur- und Seelenmächten zuzuordnen. Dieses dichterische Verfahren Hölderlins bestätigt die These Ernst Cassirers, wie er sie 1925 in dem Vortrag »Sprache und Mythos« als einen »Beitrag zum Problem der Götternamen« vorgetragen hat.48 Er sagt dort, daß die Lyrik den »Zusammenhang mit dem Mythos noch in ihren höchsten und reinsten Erzeugnissen aufrechterhält«, daß damit aber zugleich die mythische Gegenständlichkeit »allen dinghaften Zwang von sich abgestreift« hat. Nur in diesem Sinn verweist er auf die großen Lyriker wie Hölderlin, in denen das mythische Schauen sich noch einmal in voller Intensität entfaltet. Wie er sagt: »Der Geist lebt und waltet im Wort der Sprache wie im mythischen Bilde, ohne von beiden beherrscht zu werden.« Damit hat Cassirer methodische Voraussetzungen angedeutet, von denen aus die Frage nach Hölderlins mythischem Verfahren zu beantworten ist, ohne daß sie auf eine historisch verdinglichte Götterwelt zurückbezogen werden müßte. Es ist seine Leistung, daß er in seiner Philosophie der symbolischen Formen dem Beobachtungsfeld der Kulturwissenschaften einen methodischen Rückhalt bot und als solche symbolische Formen sowohl die Sprache wie das mythische Denken erörterte, im Sinn einer Formenlehre des Geistes. Wenn er selber auch den Schritt zur Formenlehre des dichtenden Geistes als einer Rückbesinnung auf die Poetik nicht getan hat, so ließ sich doch von seinen Voraussetzungen aus nach einer Formgeschichte der Dichtung fragen, die auf normsetzende Postulate verzichten kann, um die strukturbildenden Prinzipien der bestimmenden Integrationsweisen aufzusuchen. Seine Besinnung auf die Formen des mythischen Denkens gab den Anstoß zu der Themenstellung meines Buches Hölderlin und seine Götter. Es wollte nicht nach isolierbaren Glaubensinhalten fragen, sondern den Mitvollzug des lyrischen und hymnischen Sprechens ermöglichen und damit eine Antwort auf Gundolfs Deutung versuchen. Als hilfreich erwies sich dabei vor allem die wachsende Vertrautheit mit dem vierten Band der von Norbert von Hellingrath besorgten historisch-kritischen Ausgabe der Werke Hölderlins. Nicht nur die hier zum 48
Ernst Cassirer, Sprache und Mythos: Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, Leipzig 1925 (Studien der Bibliothek Warburg 6); Neudruck in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956, S. 71-158. 421
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches
ersten Mal aus den Handschriften edierten großen Elegien und Hymnen erschlossen ein neues Sprach- und Dichtungsverständnis. Fruchtbar wurde vor allern der Anhang des Bandes mit den Hinweisen auf die Textüberlieferung und ihren vielfältigen Lesarten, die zum genauen Lesen nötigen und ein mehr wachstümliches als gedankliches Entfalten der Versgestalt erkennen lassen, als vollende sich das Gedicht erst im Erproben der zugehörigen Varianten. Der formende Wille durchdringt die wie versuchsweise angesetzten Entwürfe. Die dem Text zugehörigen Kühnheiten oder auch Dunkelheiten der Wortfolgen erschließen sich im Bildungsprozeß eines Sinngefüges. Hellingrath hatte in seiner Dissertation von 1911, Pindarübertragungen von Hölderlin, die Voraussetzungen sich erarbeitet, um dem dichterischen Verfahren einer Lyrik gerecht zu werden, die vom liedhaften Sprechen sich so weit entfernt und durch die Kühnheit der Vers- und Satzbindung dem geistbestimmten Wort des hymnischen Sprechens gerecht zu werden vermag.49 Er griff auf die Unterscheidung der hellenistischen Rhetorik zwischen »harter und glatter Fügung« zurück, um die sprachliche Form der Hölderlinschen Verse zu erläutern, die »so einfach war und so weit entfernt vom Herkömmlichen, daß nur wenige sie verstanden«. Er verfolgte den Weg des Gedichteten von der »conception« als einer »inneren Form« über die Entwurfstufen zur vollständigen Gestalt und machte dadurch die lyrischen Qualitäten der Lesarten deutlich, »das nur durch einige Übung und gewöhnung zu erfühlende rhythmische prinzip«.50 Die Anregung, sich mit Hölderlins späten Gedichten, wie sie durch Hellingrath zugänglich wurden, zu befassen, ging von einem älteren Studenten, Emil Henk (1893-1969), aus, der mit Gundolf in Verbindung stand, seitdem er sich im Oktober 1914 als ein junger Wandervogel an ihn gewandt hatte. Später gehörte er zum Kreisauer Kreis der deutschen Widerstandsbewegung, als Freund führender Sozialisten wie Haubach, Mierendorff und Reichwein.51 Er war es, der uns 1920 bewußt machte, 49
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Norbert v. Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe, Jena 1911. - Wieder abgedruckt in: ders., Hölderlin-Vermächtnis. Forschungen und Vorträge, eingel. von Ludwig v. Pigenot, München 1936, S. 15-93, 2. Aufl. München 1944, S. 19-95, bes. S. 1-7. Ebd., S. 36f. Den Brief von Emil Henk erwähnt Gundolf ohne Namensnennung in seinem Brief an George vom n. Oktober 1914 (George, Gundolf, Briefwechsel (Anm. 21), S. 271). Vgl. dazu den Brief Gundolfs an Emil Henk vom 6. V. 1915 (Friedrich Gundolf, Briefe. Neue Folge, hrsg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock, Amsterdam 1965, S. I48f, mit erläuternden Hinweisen). Zu meiner Zeit, Sommer 1920, war Henk bei der Vorbereitung der Asta-Wahlen eine treibende Kraft unter den Studenten der »Freien Hochschul422
Friedrich Gundolf
daß der Geburtstag Hölderlins sich zum 150. Mal jährte, als er uns als eine kleine Gruppe von Initianten versammelte, um uns Hölderlin-Verse zu lesen, die wie magische Zeichen auf ein noch unbekanntes Land verwiesen. Seine Art des Umgangs mit dem dichterischen Wort und seine nur andeutenden Hinweise lockten zu genauerem Eindringen. Er hatte in der Monatszeitschrift der Jugendbewegung, Freideutsche Jugend, das Aprilheft »Dem Gedächtnis Hölderlins« widmen können und dort unter dem Namen Emil Henko einen Aufsatz »Der junge Hölderlin« veröffentlicht, als Hinführung zu einer kleinen Auswahl »HölderlinTexte«, die sich jedem leichten Verständnis entzogen.52 Es waren die erst durch Hellingraths vierten Band bekannt gewordenen Verse: »Wie wenn am Feiertage ...« und »Reif sind, in Feuer getaucht ...«, dazu zwei Pindarfragmente mit Hölderlins orakelhaft deutenden Worten, also Texte in einer vom Erlebnisgedicht weit abführenden Sprache, die für die damalige Hölderlin-Renaissance zu Merkzeichen wurden. Das in diese Folge eingefügte Bruchstück, das Hellingrath unter dem Titel »Neue Welt« in die Reihe der Entwürfe aufgenommen hatte, besitzt eine bewegende Spannung: es markierte in wenigen Worten die Verlorenheit an die Zeitsituation wie die hoffende Erwartung. Dem Urteil: »- es lahmt Fluch die Glieder der Menschen, und die erfreuenden Gaben der Erde sind, wie Spreu« - steht die Frage entgegen: »aber, wo ist er? ... daß er beschwöre den lebendigen Geist.«53 Hier fand sich das Wort, das in späteren Jahren über dem Eingang des neuen Universitätsgebäudes in Heidelberg angebracht wurde und es »Dem lebendigen Geist« widmet. Hellingrath hatte den Entwurf im Februar 1915 in seinen Münchner Vortrag über
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gruppe«, die sich der »Arbeitsgemeinschaft deutscher Studenten« mit ihrem betont »völkischen« Programm entgegenstellte. Späterhin war er als Fabrikant (mit einer Firma pharmazeutischer Präparate) tätig. Erst nach dem Einmarsch der Amerikaner erfuhr ich, wie sehr er an der Organisation des Widerstandes beteiligt war. In der Zeitschrift Die Wandlung erschienen im Juni 1946 vier Gedichte von ihm aus der Zeit seiner Haft von 1934-1936 mit der Klage »Wegelos ist bald/ Aller Menschen Schritt«; er war wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt worden. Er veröffentlichte eine Schrift Die Tragödie des 20. Juli 1944. Ein Beitrag zur politischen Vorgeschichte, Heidelberg 1946, mit Erläuterungen über die Widerstandsgruppe, die sich im »Kreisauer Kreis« zusammenschloß. Wie aus dem Briefwechsel mit Karl Jaspers (Karl Jaspers, K. H. Bauer, Briefwechsel 1945-1968, hrsg. und erl. von Renato de Rosa, Berlin und Heidelberg 1983) hervorgeht, hat er durch seine Initiative 1945 zur Wiedereröffnung der Heidelberger Universität helfen können, so daß ihm 1965 die Ehrenbürgerwürde der Universität verliehen wurde. Freideutschejugend. Monatszeitschrift für das junge Deutschland 6, April 1920, H. 4. In der Hellingrathschen Ausgabe (Anm. 43), Bd. 4, S. 245, als Bruchstück Nr. 11 heißt der Text: 423
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches »Hölderlin und die Deutschen« aufgenommen und als einen Hinweis auf die Grundhaltung des Dichters verstanden, als er sagte: »ahnend, hoffend, rühmend, nur Verkünder, nicht ... Bringer der Erfüllung, so steht Hölderlin unbekannt verborgen in seinem Volke.«54 Es ist ein Leitwort, dessen vielsagende Bedeutung mit dem Hölderlin-Verständnis eng verbunden ist. Aber das Fragment, zu dem es gehört, ist in den neueren Hölderlin-Ausgaben nicht mehr zu finden und weithin unbeachtet geblieben. Es hat sich inzwischen ergeben, daß der Text nicht als Gedichtentwurf zu gelten hat, sondern nach der handschriftlichen Überlieferung zur dritten Empedokles-Pussung gehören könnte, als Entwurf für einen nicht ausgeführten Schlußchor des ersten Aktes.55 Der Text wäre also mit der Empedoklesgestalt und ihrer Dramatik zu verbinden und als Hinweis auf eine Vereinigung von Geist und Leben im Prozeß des Werdens und Vergehens zu verstehen. Die Worte, die auf Gundolfs Vorschlag über dem Eingang der Ruperto-Carola mahnend stehen, zeugen zugleich von dem Werk Hölderlins und dessen Erschließung durch Hellingrath, als ein Vermächtnis im Widerstreit von Tradition und Moderne. Damals wie heute gelten sie als ein Ruf zur Wahrheit des Menschseins.
Neue Welt
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und es hängt, ein ehern Gewölbe der Himmel über uns, es lahmt Fluch die Glieder der Menschen, und die erfreuenden Gaaben der Erde sind, wie Spreu, es spottet unser, mit ihren Geschenken die Mutter und alles ist Schein O wann, wann schon öffnet sich die Fluth über die Dürre Aber wo ist er? dass er beschwöre den lebendigen Geist [.] Norbert von Hellingrath, Hölderlin, Zwei Vortrage, München 1921, S. 35f. - Wieder abgedruckt in: ders., Hölderlin-Vermächtnis (Anm. 49), S. 123-188, bes. S. 139. Friedrich Beißner in der von ihm herausgegebenen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe bringt den Text mit geringen Varianten in der dritten Fassung von Der Tod des Empedokles als »Schlußchor des ersten Aktes« als »Entwurf« (Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (Anm. 24), Bd. 4,1, S. 141). Nach der handschriftlichen Überlieferung im sog. Stuttgarter Foliobuch auf S. 73 ist die Verbindung mit den Empedokles-Texten gesichert und die von Beißner angenommene Kombination mit den Entwurfsnotizen zur Fortsetzung der dritten Fassung (S. 167) möglich. In den Lesarten zu den Stellen Bd. 4/2, S. 694 und 713 wird die Kombination verdeutlicht, aber auch betont, daß die Überschrift »Schlußchor des ersten Aktes« in der Hs. nicht belegt ist. Für einen sachlichen Hinweis bin ich Frau M. Kohler vom Hölderlin-Archiv der Stuttgarter Landesbibliothek dankbar. 424
Mein Weg zur Germanistik Als Antrittsworte in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vorgetragen in der Sitzung vom 17. März 1945
Es würde ernste Bedenken erregen müssen, wenn die geisteswissenschaftlichen Fächer sich nicht mehr an den Willen zur Sachlichkeit und objektiven Wahrheitsfindung gebunden sehen sollten und damit zum Ausdrucksphänomen eines persönlich oder weltanschaulich gebundenen Meinens herabsänken. Denn sofern sie die Lebensvorgänge innerhalb des menschlichen Kulturbereichs zu erforschen haben, sehen sie sich vor einer Aufgabe, der nur sachlichste Hingabe dienen kann. Zugleich allerdings scheint die Erforschung dieses menschlichen Kulturbereichs stärker als es in der exakten Naturforschung der Fall ist von dem Wechsel der Fragestellungen abzuhängen; das, was den einzelnen Generationen als wissenswert erscheint, steht hier offenbar in Zusammenhang mit dem gesamten Lebensgefühl und der besonderen Erfahrungswelt einer bestimmten Epoche des jeweils eigenen Volkes, so daß diese Erlebnissituation sich aller geisteswissenschaftlichen Erkenntnis stärker einprägt als es einem an den Naturwissenschaften orientierten Erkenntnisideal lieb sein mag. Jede Rückbesinnung auf die eigene Wissenschaftsentwicklung sieht sich deshalb in diese doppelte Blickrichtung gedrängt: es genügt nicht, von den Begegnungen mit bestimmten Lehrern und wissenschaftlichen Methoden zu berichten, da die tieferen Antriebe der eigenen Wissenschaftsarbeit offenbar aus allgemeineren Erfahrungen und Beunruhigungen herstammen. Für meinen eigenen Weg in die Wissenschaft hinein wurde es jedenfalls bestimmend, daß ich als junger Mensch von der Schulbank aus zum Kriegsdienst einberufen wurde und mich damit manchen Erfahrungen * Typoskript (10 S.; mit eigenhändigem Vermerk: »Zu den Akten der Akademie«), Archiv der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Durchschlag im Nachlaß Böckmann, Deutsches Literaturarchiv Marbach); unter dem Text die maschinenschriftliche Notiz: »Nach den Tagen des Schanzkommandos in Bussang niedergeschrieben am . XI. 1944.« Wir danken der Heidelberger Akademie für eine Kopie des Typoskripts in ihrem Archiv. Die Antrittsrede wurde 1959 in gekürzter Form veröffentlicht in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Jahreshefte 1943/55, Heidelberg 1959, S. 17-22. 425
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches ausgesetzt sah, die sich von den in der Schule tradierten Bildungsgehalten aus nicht ohne weiteres bewältigen lassen wollten. Die im Kriege fühlbarer als sonst hervorbrechenden Dämonien des menschlichen Lebens schienen alle Geborgenheit in Frage zu stellen; die Anonymität des Massendaseins wie die Selbstsucht eines unbeherrschten Trieblebens wurde offenbar durch die technischen Formen des modernen Krieges befördert, die selbst wieder in schwer durchschaubarem Widerstreit zu den männlichen Tugenden der Tapferkeit und Pflichterfüllung lagen. Das jugendliche Verlangen nach Reinheit und Ungebrochenheit der eigenen Kräfte schien im Strudel eines allgemeineren Geschicks sein Recht zu verlieren; die Niederlage mußte das Gefühl der Richtungslosigkeit des öffentlichen Daseins nur steigern. In dieser Erlebnisstituation gewann die früh geweckte Liebe zur Geschichte und zur dichterischen Überlieferung für mich bestimmende Bedeutung. Als ich nach der Entlassung aus dem Lazarett, wohin mich eine Verwundung gebracht hatte, mit dem Studium beginnen konnte, stand es für mich fest, daß ich deutsche Sprache, Dichtung, Philosophie und Geschichte studieren müsse. Ein früher gehegter Plan, Medizin zu studieren, der bis zur Fernimmatrikulation in Kiel geführt hatte, versank vor der tieferen Beunruhigung durch die Zeiterfahrungen; das Studium sollte eine Begegnung und Auseinandersetzung mit den bleibenden Gehalten der deutschen Überlieferung ermöglichen und auf die metaphysische Fragebereitschaft im eigenen Innern antworten. So begann ich denn im Januar 1919 in meiner Vaterstadt Hamburg als einer der ersten Hörer der philosophischen Fakultät der in der Form von Universitätskursen eben begründeten neuen Hochschule mein Studium. Die alte Hansestadt strebte damals mit der ihr eigenen Energie aus den im Krieg ihr angelegten Fesseln heraus und suchte vor allem — wie nur natürlich — die Weltweite ihrer Handelsbeziehungen wieder zu beleben. Und zugleich suchte sie allen innerpolitischen Wirren zum Trotz ihre im 19. Jahrhundert öfter bewährte Weltaufgeschlossenheit und Großzügigkeit von neuem zu beweisen: da mochte es die rechte Stunde sein, um das bestehende Kolonialinstitut zur Universität auszubauen und die Wissenschaft aufzurufen, sich in Handel und Wandel der Weltstadt zu behaupten. Ohne die strengeren Bindungen einer eigentlichen Universitätstradition begann ein vielfältiges und gegensatzreiches geistiges Leben, das uns Studenten rasch in den Bann zog. Ich persönlich sah mich von den verschiedensten Seiten zur eindringenden Beschäftigung mit dem deutschen Idealismus als der eigentlichen Grundlage unseres Bildungs-
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Antrittsrede in der Heidelberger Akademie
lebens aufgerufen und geriet zunächst in den Bannkreis von Max Lenz, dessen Staatsdenken ganz am Machtgedanken orientiert war, der uns immer wieder auf Ranke und Bismarck verwies und zugleich im Sinne Humboldts von der Selbstverantwortlichkeit der Wissenschaft durchdrungen war. In einem erregenden und belebenden Gegensatz zu fast jedem seiner Worte stand die Gemeinschaftsethik des der Marburger Schule verbundenen Neukantianers Albert Görland. So sehr sich beide Männer als Gegner betrachten mochten und in ihren Lehren auch ausschlössen, wir als Hörer erlebten in dieser Gegensätzlichkeit die eigentlich fruchtbare Situation des Geistes, der sich in seiner eigenen Dialektik lebendig erhält. Und zugleich sahen wir uns zu einem eindringenden Studium Kants wie Rankes aufgerufen und fanden darin einen bleibenden Gewinn. Die eigenen Erwartungen drängten freilich noch in eine andere Richtung: die seelisch-innerliche Beunruhigung über die tragenden Gehalte einer in sich unsicher gewordenen Zeit fand im Bereich der politischen Geschichte ebenso wenig Klärung und Antwort wie durch eine philosophisch-normative Deduktion. Dem gegenüber schien die Kunst in ihren Sinnbildern und Gestalten unmittelbarer von den menschlich-bewegenden Kräften zu zeugen und in aller geschichtlichen Gebundenheit die überzeitlichen Gehalte des heimischen Lebens sichtbar machen zu können. So mußte ihre Erforschung und Deutung verheißungsvoll erscheinen, wenn auch die Formen des philologisch-sprachgeschichtlichen Unterrichts zunächst befremdend wirken mochten und die motiv- und stoffgeschichtlichen Erläuterungen zu den Dichtungen mit dem ihnen eigenen Bedeutungsgehalt nicht ohne weiteres zu vereinen waren. In einer leidenschaftlich ergriffenen und durch Monate hindurch verfolgten Lektüre der Goetheschen Werke suchte deshalb diese Erwartung der Dichtung gegenüber sich zunächst zu befriedigen. Im Zusammenhang mit diesen Bemühungen um die das seelische Leben erhellende Kraft der Dichtung entschloß ich mich dann in meinem vierten Semester, nach Heidelberg zu gehen. Der Norddeutsche sah sich rasch genug in den Bannkreis dieser so fühlbar von einem musischen genius loci beherrschten Stadt gezogen; die viel besungene Landschaft entfaltete ihren Zauber und lockte zu weiten Wanderungen an Fluß und Hügel; der Austausch mit Freunden und Gefährten ließ dem Dichterwort freien Raum und lenkte den Blick vornehmlich auf das Werk Stefan Georges, der damals wie ein heimlicher König über manche Kreise der Jugend zu gebieten vermochte. Der 150. Geburtstag Hölderlins fand zwar noch kaum öffentliche Würdigung, wurde uns aber doch zum An427
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches
laß, die Hellingrathsche Ausgabe seines Werkes als ein uns besonders nah berührendes Vermächtnis hinzunehmen und uns seinen Versen anzuvertrauen, als seien sie fur die Not jener Tage gesprochen. So bestätigte dieses Heidelberger Studienjahr vor allem das in die Dichtung gesetzte Vertrauen, daß sie den inneren Erfahrungen Gestalt zu geben wisse und dadurch als formende und erfüllende Kraft im Leben wirksam zu werden vermöchte, daß sie neben dem Werk des Staatsmanns oder des Denkers ihren eigenen Auftrag zu erfüllen habe. Sofern diese Überzeugungen in Gundolfs Wirken sich wissenschaftlich zu bewähren suchten, stand er im Mittelpunkt der allgemeinen Anteilnahme: seine Vorlesungen und Bücher schienen die literaturwissenschaftliche Arbeit viel unmittelbarer an den eigentlichen Gehalt der Dichtung heranzuführen, als es der älteren Betrachtungsweise möglich war; zugleich weckte seine zeit- und volklose Heroenverehrung und Gestaltenschau einen inneren Widerstand, der bei mir in einer lang andauernden Auseinandersetzung mit seiner Romantikauffassung zur Klarheit zu kommen suchte. So wurde letztlich für die eigene wissenschaftliche Entwicklung doch die methodische Schulung in den philologisch-historischen Fachdisziplinen wichtiger als die individuelle Charakterisierungskunst Gundolfs; die die inneren Vorgänge verfolgende Kulturgeschichtsschreibungjakob Burckhardts belebte mich so nachhaltig wie bald auch die geistesgeschichtliche Fragestellung Wilhelm Diltheys; dessen Wort von der Dichtung als Lebensdeutung umgrenzte den Anspruch, dem die eigene literarhistorische Arbeit immer mehr nachzukommen suchte. Nach meiner Rückkehr nach Hamburg mußte es sich für mich darum handeln, einen eigenen Arbeitsansatz zu gewinnen. In Robert Petsch fand ich den Lehrer, der meinen Neigungen Raum gab und zugleich seine eigene anregende und leitende Kraft immer von neuem bewährte, sodaß mich bald ein menschlich-vertrauensvolles Band an ihn knüpfte, das mich auch heute noch in einer dankbar bewahrten Freundschaft beglückt. Durch ihn wurde die methodische Strenge der Schererschule in lebendiger Weise an mich herangetragen, vor allem aber das Verlangen rege gehalten, die Dichtung als Dichtung zum Gegenstand der Forschung zu machen und nicht auf Nebenfragen abzugleiten, seien sie biographischer, quellenkritischer oder auch allgemein geschichtlicher Art. Seine persönlich unmittelbare Art des Interpretierens wußte immer wieder den Blick dafür zu schärfen, daß alle Dichtung nicht aus ihren Entstehungsbedingungen oder Gedankeninhalten als solchen lebt, sondern aus der dichterischen Gestaltungskraft selbst, sofern diese eine eigene Art des 428
Antrittsrede in der Heidelberger Akademie
Weltergreifens und der Weltdeutung in sich schließt. Er begann von dieser Überzeugung aus die Fragen der Poetik von neuem anzugreifen und eine phänomenologisch beschreibende Lehre von dem Wesen und den Formen der Dichtung anzubahnen. Ich selber fand in seinem Schillerseminar die Möglichkeit, die mich bewegenden Fragen durchzuverfolgen: es ging mir darum, an der dichterisch wirkungskräftigsten und doch so oft befehdeten Gestalt des deutschen Idealismus bis zu dem Punkt vorzudringen, wo der Zusammenhang zwischen den besonderen und bestimmenden geistigen Erfahrungen und der eigentümlichen und geschichtlich einmaligen dichterischen Gestaltungsweise erkennbar und einsichtig würde. Es kam mir also auf die Art des Weltergreifens an, die in Schillers Dramen wirksam ist und nicht nur in der Themenwahl, sondern ebenso im Wirklichkeitsverhältnis, in der Charaktergestaltung und Handlungsfuhrung zur Geltung kommt: es ging mit gegenüber einer an Einzelheiten haftenden Kritik oder einer distanzlosen Verherrlichung um die innere Struktureinheit des Schillerschen Werkes selbst und damit um dessen Stilgesetz. Der innere Wechselbezug zwischen dem ideellen Grunderlebnis Schillers einerseits und der idealischen Form seiner klassischen Dramen andererseits wurde mir zunächst von der in den dramatischen Fragmenten verfolgbaren SchafFensweise aus greifbar und rührte mich weiter zur Interpretation der die Dramen bestimmenden Gestaltungsform. So suchte ich gleichzeitig auf die für Schiller bestimmenden Grunderfahrungen zurückzuführen und seine Dichtung als eine diesen Erfahrungen zugeordnete Gestaltungsweise zu erläutern. In solchem Sinn nannte ich meine 1923 angenommene und 1925 veröffentlichte Dissertation: Schillers Geisteshaltung ah Bedingung seines dramatischen Schaffens. Sie war für mich ein erster Versuch, in der allgemeinen jenen Jahren der Inflation eigenen Unsicherheit und Experimentierlust zu bestimmenden Gehalten der deutschen Überlieferung zurückzufinden und die dem heimischen Leben zugehörigen Gestaltungskräfte sichtbar zu machen. Mit der Promotion fand meine Studienzeit zunächst ihren Abschluß. Ich hatte gleichzeitig mit der Doktorprüfung das Staatsexamen abgelegt und stand nun als Studienreferendar und nach einem weiteren Jahr als Studienassessor im Hamburgischen Schuldienst. Die neuen Aufgaben erweiterten das Blickfeld und machten die dem pädagogischen Wirken eigene Lebendigkeit und Schwierigkeit bewußt. Der Umgang mit jungen Menschen, die Nötigung, die Bildungsgehalte so zu vermitteln, daß sie zum lebendigen Besitz wurden und sich gegenüber den Anforderungen des Tages behaupteten, die Bedeutungslosigkeit der wissenschaftli429
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches
chen Fachgrenzen für die eigentliche Erziehungsarbeit und die Rückbesinnung auf die entscheidenden Elementarkenntnisse, all das wirkte befruchtend und menschlich bereichernd auf das eigene Denken zurück. Die Einsicht, daß alle geisteswissenschaftliche Forschung in die Bildungsarbeit von Mensch zu Mensch zurückwirken muß, fand hier ihre Bestätigung. Das Hamburgische Schulwesen hatte seit den Tagen Lichtwarks und der Kunsterziehungsbewegung seinen Ehrgeiz darein gesetzt, nicht nur fachlich-unterrichtsmäßig auf der Höhe zu sein, sondern auch der eigentlichen Erziehungssituation der Schule gerecht zu werden. Da ich als Referendar einer deutschen Oberschule zugewiesen wurde, die sich im besonderen unter den Namen Lichtwarks gestellt hatte, sah ich mich in ein Lehrerkollegium eingefügt, das mit einer Fülle sehr ausgeprägter Individualitäten sich um eine lebendige Form der höheren Schule bemühte und mit besonderer Experimentierfreude die Möglichkeiten von Erziehung und Unterricht erprobte. So gewann ich hier eine reiche Anschauung von der im Einzelfall oft genug problematischen und gefährdeten modernen Bildungssituation, besonders in der Großstadt. Doch die Fragen, die mich während meiner Studentenjahre erfüllt hatten, beschäftigten mich weiter und führten mich bald zur wissenschaftlichen Arbeit zurück. Durch das bereitwillige Entgegenkommen der Hamburgischen Schulverwaltung wurde es mir möglich, mich für den Winter 1924/1925 vom Schuldienst beurlauben zu lassen; und durch die großzügige Unterstützung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft konnte ich nach einem weiteren Jahr des Schuldienstes vom Frühjahr 1926 ab für zwei Jahre mich meiner wissenschaftlichen Ausbildung von neuem überlassen. Diese 2% Jahre eines von äußeren Zumutungen ungestörten geistigen Arbeitens, die ich als junger Doktor ohne Examenszwang und Abschlußsorgen nur meiner eigenen Entwicklung und den mir wesentlichen Fragestellungen widmen konnte, möchte ich auf meinem Bildungsweg am wenigsten missen. Damals fand die eigene Ungeduld die Muße, ohne die auch die Früchte des Geistes nicht reifen können. Als Studienort wählte ich mir Göttingen, vor allem um mit der dort wirksamen Diltheytradition in Austausch zu kommen. Ich überließ mich gern der strengen Sachlichkeit der dortigen, dem Außenstehenden vielleicht etwas nüchtern erscheinenden Wissenschaftsgesinnung, die seit dem 18. Jahrhundert schon den philologisch-historischen Disziplinen eine besondere Pflege zukommen ließ und sie in einen so fruchtbaren Wetteifer mit den exakten Naturwissenschaften brachte. Die Ordnungskraft des erkennenden Geistes schien die verschiedenartigsten Disziplinen 430
Antrittsrede in der Heidelberger Akademie
auf das gleiche Ziel zu richten, so daß ich mich bald in den regen Austausch einer jüngeren Generation von Wissenschaftlern mit hineingezogen sah. Meine eigene Arbeit galt dem Werk Hölderlins, das mich seit dem ersten Kennenlernen nicht mehr losgelassen hatte und das ich nun in seinen bestimmenden Möglichkeiten zu ergründen suchte. Anders als in der Schillerarbeit konnte es nicht genügen, die besondere Stilform aus der Struktureinheit des Werkes zu entwickeln; vielmehr mußte es sich darum handeln, den geistigen Bereich sichtbar zu machen, dem alle Aussagen Hölderlins galten und dessen Bedeutung offenbar erst einer durch die Erschütterung des Weltkrieges hindurchgegangenen Generation ganz fühlbar wurde. Sofern Hölderlins Dichten in der Anrede an die Götter und in der Nachfrage nach ihnen sein Ziel fand, ging es um Sinn und Möglichkeiten des Dankens und Feierns im modernen Lebensverständnis selbst und damit um die Voraussetzungen des mythisch-hymnischen Sprechens in einer den Göttern entfremdeten Zeit. Als Untersuchungsweg bot sich die entwicklungsgeschichtliche Darstellung an: es galt Hölderlins dichterischen Entwicklungsweg als eine notwendige Entfaltung einsichtig zu machen, um dadurch jenen Raum einzugrenzen, der nach seiner Auseinandersetzung mit protestantischer Theologie und idealistischer Philosophie, aber auch nach dem wetteifernden Bemühen um Klopstocks und Schillers Dichtung, sein eigenes Schaffen bestimmte. Nur durch eine genaue Interpretation der einzelnen Dichtungen und der ihnen wesentlichen Gehalte konnte es gelingen, das in ihnen sich ereignende Weltverhältnis zum Verständnis zu bringen und in seiner weiterwirkenden Kraft zu rechtfertigen. So mußte sich die Untersuchung zu einer Gesamtdarstellung des Hölderlinschen Werks auswachsen und doch die Frage nach Hölderlins Verhältnis zu den Göttern als entscheidend festhalten. In der Durchführung dieser Aufgabe sah ich mich ermutigt und gefördert durch das Vorbild Rudolf Ungers, mit dem ich in Göttingen in einen mich belebenden und befruchtenden Austausch kam. Unger hatte Diltheys Wort von der Dichtung als Lebensdeutung am entschiedensten für die literarhistorische Forschung fruchtbar zu machen gewußt und zugleich auf die dem positivistischen Philologismus gesetzten Grenzen hingewiesen. Er richtete sich in seiner Arbeit auf die in der Dichtung zur Darstellung kommenden Lebensprobleme wie Liebe und Tod und bahnte eine problemgeschichtliche Untersuchungsrichtung an, die weniger Ideenzusammenhänge und gedankliche Beziehungen verfolgte, als 431
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches vielmehr den in der Dichtung unmittelbar gestalteten und mehr unreflektiert sich bezeugenden Wandlungen und Zusammenhängen des Lebensgefühls nachging. So zeichnete ihn eine besondere Aufgeschlossenheit für die seelisch unmittelbare Wirkung der Lebenserfahrungen aus, wie er denn auch als einer der ersten den irrationalistischen Strömungen in der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts nachgegangen war und in seinem Hamannbuch ein Musterbeispiel geistesgeschichtlicher Interpretation gegeben hatte. Mir blieb freilich die Einsicht bestimmend, daß alle seelisch-wirksamen und doch noch unreflektierten Lebenserfahrungen erst durch die Gestaltungskraft des Dichters oder allgemeiner der Kunst vernehmbar und deutbar würden und daß deshalb auch die problemgeschichtliche Dichtungsbetrachtung erst zum Ziele komme, wenn sie die jeweilige Gestaltungsweise als eine notwendig zugehörige Darstellungs- und Sprachform einsichtig mache. So schien mir die Problemgeschichte nach einer Geschichte der Formensprache oder der Gestaltungskräfte als ihrem eigentlichen Gegenstück oder auch ihrer Begründung zu verlangen. Aber immer wieder belebte mich der Austausch mit Ungers Betrachtungsweise, weil sie von dem Wirklichkeitsgehalt aller seelisch-geistigen Vorgänge durchdrungen war und in der Frage nach der Bedeutung der Dichtung auf die konkreten Existenzprobleme hinführte. Als das Forschungsstipendium der Notgemeinschaft ablief und damit auch die selbstgenugsame Studienzeit ihr Ende fand, galt es, das Gelernte und Erarbeitete lehrend zu bewähren. Bevor noch die Frage einer Habilitation in Göttingen sich stellen konnte, bot sich die Gelegenheit, nach Hamburg zurückzukehren und dort eine Stelle als Lehrassistent am Literaturwissenschaftlichen Seminar von Robert Petsch zu übernehmen. In jenen Jahren erfolgte in Hamburg die Ausbildung der Volksschullehrer an der Universität und zwar so, daß sie neben der pädagogisch-psychologischen Ausbildung ein wissenschaftliches Wahlfach studieren mußten, als welches Deutsche Sprache und Literatur bevorzugt war. So hatte ich mich der Betreuung dieser Studenten vor allem zu widmen und kam dadurch seit Frühjahr 1928 zunächst mit Seminarkursen rasch in die Lehrtätigkeit hinein; die Studienberatung, die Mitwirkung an den Abschlußprüfungen, der Ausbau des Seminars brachten mannigfache Aufgaben. Mit einem ersten Teil meiner Hölderlinstudien, die ich als Hölderlins Jugendentwicklung einreichte, erhielt ich im Februar 1930 die venia legendi für deutsche Literaturgeschichte und allgemeine Literaturwissenschaft. In meinen nun auszuarbeitenden Vorlesungen mußte es mir darauf ankom-
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Antrittsrede in der Heidelberger Akademie men, einmal meine Interpretation des Hölderlinschen Werkes, besonders der späten Lyrik, zu Ende zu fuhren und zum ändern von den mir wichtig gewordenen methodischen Gesichtspunkten aus der Vielfalt der literaturgeschichtlichen Erscheinungen und besonders den Gestaltungsmöglichkeiten der verschiedenen Epochen gerecht zu werden. Mein Hölderlin-Buch konnte 1935 mit dem Titel Hölderlin und seine Götter erscheinen. Meine weiteren literarhistorischen Arbeiten bewegten sich in doppelter Richtung: sofern meine Hölderlinstudien über das Persönlichkeitsideal der Klassik hinauswiesen auf ein im mythischen Nennen und Feiern sich erfüllendes Menschentum, mußte ich versuchen, diese neu gewonnenen Einsichten zu den in Klassik und Romantik sonst wirksamen Kräften in Beziehung zu setzen, um ein Bild der deutschen Literaturentwicklung zu gewinnen, in dem Hölderlin seinen zugeordneten und notwendigen Platz einnehmen kann. Meine Studien über Kleist, über die romantische Poesie Brentanos, über die Welt der Sage bei den Brüdern Grimm suchten dazu ebenso beizutragen wie meine späteren Arbeiten über »Hellas und Germanien« und »Hölderlins mythische Welt«. Daneben bewegte mich ein zweiter, vom ersten freilich nicht unabhängiger Fragenkreis: sofern es schon in meiner Schillerarbeit um den inneren Strukturzusammenhang zwischen einer bestimmten Gestaltungsweise und der sich in ihr enthüllenden Welterfahrung ging und sofern auch die Hölderlininterpretation auf die konkrete Sageform des hymnischen Sprechens bezogen blieb, mußte ich versuchen, ganz allgemein die literaturgeschichtlichen Epochen auf die ihnen jeweils eigenen Gestaltungskräfte hin zu befragen, um aus der Aussage- und Darstellungsform heraus nicht nur die den Epochen wesentlichen Gehalte zu erschließen, sondern allererst die ihnen eigenen Möglichkeiten der Dichtung zu bestimmen. Jenseits einer normativen Ästhetik galt es also, die Geschichtlichkeit des dichterischen Formwillens sichtbar zu machen und dadurch die Vielfalt der künstlerischen Gestaltungskräfte zur Anerkennung zu bringen: in solchem Sinn sucht meine Abhandlung über die »innere Form in Schillers Jugenddramen« die eigenen Möglichkeiten des pathetischen Sturm- und Drangstils zu erläutern und gegenüber dem klassischen Symbolstil in seinem Eigenrecht sicherzustellen, wie andererseits Voraussetzungen dieses Symbolstils in dem Aufsatz über »Lessings Begründung der klassischen Symbolform« erörtert werden. Vor allem die Abhandlung über das »Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung« sucht aus den Schranken der traditionellen, allein der klassischen Dichtung entnommenen Maßstäbe her-
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Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches auszufuhren und eine in ihrer Bedeutung gewiß begrenzte, aber lange Zeit wirksame Formkraft aus ihren geschichtlichen Voraussetzungen heraus zu verdeutlichen. In entsprechendem Sinn geht die Arbeit über dichterische Gestaltungskräfte in Grimmeishausens Simplizissimus auf dessen Zusammenhänge mit älteren deutschen Erzählformen des Schwanks, der Satire und Allegorie ein. Jenseits ihres besonderen Themas wollen auch die Abhandlungen über »Deutsches Schicksal in der elsässischen Literaturentwicklung der Neuzeit« und über den »gemeinen Mann in den Flugschriften der Reformationszeit« auf Zusammenhänge hinfuhren, in denen der satirisch-drastische Stil des Spätmittelalters wie der didaktisch-parabolische des 16. Jahrhunderts gesehen sein wollen. Von dieser vor allem auch in den Vorlesungen verfolgten Untersuchungsrichtung aus hoffe ich zu einer umfassenden Darstellung der dichterischen Formkräfte in den Epochen der deutschen Literaturgeschichte zu kommen, die die literarästhetischen Erörterungen auf eine möglichst konkrete geschichtliche Grundlage stellen soll und zugleich den übergreifenden Zusammenhang wie die innere Vielfalt der deutschen Dichtungsgeschichte sichtbar machen muß. Sofern es in dieser Frage nach den Gestaltungskräften immer zugleich um die Fragen des Weltverhaltens und seelischen Erfahrens geht, scheint mir eine solche Arbeitsweise die verschwiegeneren Bereiche der deutschen Geschichte erhellen zu können und ein Vorverständnis für mancherlei andere Bereiche der Kulturund Geistesgeschichte mit zu eröffnen. Denn auch sie müssen bei ihren Feststellungen die jeweiligen Gestaltungsweisen als zugehörig zu der geschichtlich sich wandelnden Formensprache des kulturellen Lebens berücksichtigen. So darf ich der Hoffnung Ausdruck geben, daß meine Fragestellungen sich den Bemühungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften einzugliedern vermögen, wie ich zugleich bekennen darf, daß ich mit besonderer Freude die Möglichkeiten ergreifen werde, die sie einem über das Einzelfach hinausweisenden wissenschaftlich-persönlichen Austausch eröffnet, indem sie der Sachlichkeit der Forschung dient. Als ich im Herbst 1937 den Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Heidelberg übernahm und damit an den Ort zurückkehrte, der in meiner Entwicklung so viel bedeutete, schloß sich für mich ein Lebensring. Wenn Sie mich jetzt in die Institution hineingewählt haben, die der Selbstverantwortlichkeit der Wissenschaft ihr Dasein verdankt, so glaube ich darin ein Zeichen dafür sehen zu dürfen, daß das, was mich in krisenreichen Jugendjahren erfüllte und auf den Weg
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Antrittsrede in der Heidelberger Akademie
brachte, seine wissenschaftlich-überpersönlichen Ergebnisse gezeitigt hat, auf die es letztlich doch allein ankommt und die zu erreichen man als junger Mensch kaum zu hoffen wagt.
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Erläuterungen zum Methodenwandel in der Hölderlinforschung*
Bevor Herr Gaier sein Referat »Über die Möglichkeit, Hölderlin zu verstehen« hält, würde ich gern, wenn Sie gestatten, den Wandel in der Hölderlinforschung aus meinem persönlichsten Blickwinkel heraus zu erläutern suchen. Nicht so, als wenn ich hier einen Bericht über den Gang der Hölderlinforschung geben könnte oder wollte; aber ich möchte mit einigen Stichworten herausheben, was mir auf meinem eigenen Weg wichtig geworden ist und aufweiche Weise mir die Bemühungen um ein Hölderlin-Verständnis zu einem bestimmenden Gehalt und Impuls meiner eigenen Arbeit werden konnten. Es geht mir nicht um biographische Reminiszenzen; vielmehr möchte ich auf einen Erkenntnisprozeß hindeuten, auf den auch die heutige Hölderlin-Interpretation bezogen bleiben sollte. Ich sehe mich um ein halbes Jahrhundert zurückgeführt, zum Sommer 1920, als ich nach Heidelberg gegangen war, um bei Gundolf zu hören; als Norddeutscher sah ich mich in einen neuen Lebenskreis versetzt, zu dem sehr rasch auch Hölderlins Dichtung gehörte. Die erste Begegnung mit seinen Texten lenkte mich bald auch auf Gundolfs Habilitationsvortrag von 1911 über den »Archipelagus« wie zur Beschäftigung mit dem 1917 zuerst erschienenen 4. Band der Hellingrathschen Ausgabe. Ich erinnere mich einer Gedenkstunde einer studentischen Gruppe, die an den 150. Geburtstag Hölderlins erinnern wollte, zu einer Zeit, als die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn noch gering war. Ein mit dem entscheidenden 4. Band vertrauter Mann sprach etwas orakelnd über das rhythmische Gesetz der Hymnen und suchte damit zugleich eine Grundlage zur Aneignung der Dichtung Stefan Georges zu geben. Der Aufsatz von Robert Boehringer über »Das Hersagen von Gedichten« im Jahrbuch für die geistige Bewegung von 1912 erschien als Rechtfertigung, die Gedichte im lauten Lesen sich anzueignen; die lyrische Form der Gedichte Stefan Georges eröffnete einen der Sprache Hölderlins zugehörigen Horizont, * In: Hölderlin-Jahrbuch 17, 1971/72 (1973), S. 129-131. 430
Methodenwandel in der Hölderlinforschung
der im üblichen Stimmungsgedicht nicht erkennbar war. Das Gedicht als sprachliche Setzung begegnete in Georges Versen als neue Wirklichkeit. Das Bild des Menschen, der als schöne Natur durch Sprache erst seine Gestalt gewinnt, wurde zur Aufforderung, einer Erneuerung humanistischer Traditionen zu vertrauen. Für mich änderte sich dann das Bild, als ich nach Hamburg zurückkehrte und nachhaltig bei Ernst Cassirer arbeitete, der damals seine Philosophie der symbolischen Formen im Kolleg vertrug, von den Grundvoraussetzungen aus, die er in seinem Buch Vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff formuliert hatte; er wußte Sprache und Mythos als symbolische Formen zu erläutern, die der wissenschaftlichen Erkenntnis vorund zugeordnet sind, sofern sie als Verweisungsgefüge eines Weltverhältnisses eine eigene erschließende Kraft besitzen. Damit war eine grundsätzliche Möglichkeit gegeben, die mythische Vorstellungsweise Hölderlins ernst zu nehmen, ohne einer mythologischen Welterklärung zu verfallen, ohne die mythische Vorstellungsweise zum ästhetischen Spiel oder zur lehrhaften Allegorie zu entleeren, aber auch ohne die mythisierende Sprachwelt der Dichtung zum Numinosen hin zu verallgemeinern, sei es unter christlichen oder heidnischen Vorzeichen wie bei Guardini oder Walter F. Otto. Statt dessen ergab sich von Cassirer aus die Möglichkeit, die mythische Vorstellungsweise und die ihr zugeordnete sprachliche Verhaltungsweise als eine besondere Art des Weltbezugs zu erläutern, zu der das Anrufen an ein antwortloses Du, das feiernde Nennen und rühmende Danken gehört, als ein dichterisches Verhalten zu dem dem Menschen zugeordneten Dasein. Damit ergab sich aber zugleich die Frage nach der konkreten Bewußtseinssituation des 18. Jahrhunderts, in der eine solche Vereinigung von christlichen und antiken Mythen in einer neuen Dimension möglich wurde. Der Abschied von der orthodoxen Theologie erschien als Voraussetzung des Hölderlinschen Sprechens; seine Worte von Kant als dem »Moses der Nation«, von Schillers Don Carlos als der »Zauberwolke«, in der die Jugend sich barg, seine nachfragende Rückwendung zu Griechenland, zu Plato, Sophokles und Pindar ordneten sich der besonderen Situation des 18. Jahrhunderts zu, wie er sie im Tübinger Stift erfuhr. Für mich ergab sich von da aus eine besondere Beschäftigung mit Dilthey als demjenigen, der den geschichtlichen Horizont zu klären suchte, in dem diese Wendung vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff sich vollzog. Seine Abhandlung über »Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert«, sein Verständnis der Dichtung 437
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches als Welt- und Lebensdeutung, das ihn in dem Band Das Erlebnis und die Dichtung zur Interpretation Hölderlins führte, all das wurde für ein vertieftes Verständnis Hölderlins fruchtbar. Die Art, wie Dilthey Hölderlin interpretierte, war wesentlich bestimmt durch die Rückbeziehung seines Dichtens auf die allgemeine Bewußtseinslage der Goethezeit, auf die Problemstellungen, die Dilthey in der Jugendgeschichte Hegels wie in seinem Leben Schleiermachers entwickelte. Er blieb deshalb auf eine erlebnisgebundene Dichtungswelt gerichtet, ohne der mythischen Vorstellungsweise Hölderlins nachzugehen; so orientierte er sich stärker an den Tübinger Hymnen, während er die für unser Hölderlinbild so wesentlich gewordene späte Lyrik völlig außer acht ließ und auch lassen mußte, da sie ja im Grunde noch gar nicht zugänglich war. Von Ernst Cassirer erschien indessen 1921 in dem Band Idee und Gestalt der Hölderlin-Essay, der die Frage nach dem Verhältnis Hölderlins zu Schelling und Hegel stellt und die Vermittlerrolle betont, die ihm in diesem Freundschaftsbündnis zufiel. In den Jahren 1924—1928 war ich dann in Göttingen um die Anbahnung eines eigenen Forschungsweges bemüht, in Austausch mit Rudolf Unger und Karl Victor. Das Anrufen der Götter als das dichterisch befremdliche Phänomen, aber auch als das wissenschaftlich zu erhellende Problem war es, das mir zum Orientierungspunkt wurde. Die mythische Formensprache und ihre Voraussetzungen im 18. Jahrhundert ließen sich nur im Rückgang auf den Bildungsweg Hölderlins erläutern; die ihr gegebenen dichterischen Möglichkeiten verlangten nach einer Dichtungsinterpretation, die auf die Verfahrensweise in dem einzelnen Gedicht eingeht. Ich wurde in diesem Vorgehen bestärkt durch Hermann Fränkel, den Altphilologen, der bei einem geselligen Zusammensein, bei dem ich Hölderlin-Gedichte vorlas, ausrief, »wie Pindarisch ist das«. Auch erste Gespräche mit Victor, der in engem Zusammenhang mit Julius Petersen und insofern mit der Wissenschaftsorganisation der damaligen Zeit stand, führten zu der Frage, ob nach der Hellingrathschen Ausgabe noch eine neue kritische Ausgabe möglich und nötig sei; die neuen technischen Mittel, daß man die ganzen Handschriften photokopieren und als Herausgeber gewissermaßen ständig gegenwärtig haben könne, ermöglichten eine Intensivierung der Editionstätigkeit, so daß dann Fränkel und Victor Beißners Bemühungen unterstützten und gewissermaßen als Ahnherren der Beißnerschen Ausgabe mit angesehen werden können. — Begegnungen mit Wilhelm Böhm führten zu einer Auseinandersetzung mit dessen These, wieweit Hölderlin als systemati-
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Methodenwandel in der Hölderlinforschung
scher Philosoph und Verfasser des Systemprogramms gelten könne; eine These, die die mythische Formensprache im Grunde außer acht ließ und die Sprachverwandlung des Bewußtseins nicht in die Erörterung einbezog. Ähnliche Erfahrungen, die noch stärker die Verschiebung der Fragestellung und des Blickwinkels erkennen ließen, ergaben sich im Gespräch mit Zinkernagel. In einer Unterhaltung über den HyperionRoman machte er die Bemerkung, daß im Grunde genommen im Hyperion doch nichts anderes vorhanden sei als schon im Werther. Als ich ihm entgegnete, es sei doch ein grundlegender Unterschied zwischen beiden Werken, sofern der Hypenon-Roman aus dem Rückblick erzähle und am Anfang schon alles geschehen sei, nicht aber aus der Augenblicklichkeit des Erlebens wie im Werther, guckte er mich groß an und sagte, das habe er nie beachtet. Damals begann die Wirkung Heideggers, sofern sie eine Erweiterung der transzendentalen Fragestellung, wie ich sie von Cassirer her kennengelernt hatte, brachte. Heidegger hatte damals, im Dezember 1923, noch vor Erscheinen von Sein und Zeit, einen Vortrag in der Hamburger KantGesellschaft über »Aufgaben und Wege der phänomenologischen Forschung« gehalten, in dem er sich mit der transzendentalen Fragestellung im besonderen von Husserl her auseinandersetzte. Das wirkte damals schon stark als ein befreiender Impuls, sofern damit die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Existenz — den Existenzialien — und nicht nur nach den Möglichkeiten der Erkenntnis gestellt war. Mit dieser Blickwendung Heideggers - wie sie dann in Sein und Zeit 1926 zur Geltung kam — schien mir eine Ortsbestimmung Hölderlins möglich zu werden, sofern Heideggers Ansatz eine Bestimmung der Grenzsituation im »Nicht-Denken des Unbekannten« ermöglichte. Hölderlin selber spricht von diesem »Nicht-Denken des Unbekannten« im Hinblick auf den Anspruch der Aufklärung auf eine »freigeisterische Kühnheit« des Bewußtseins und verlangt nach einer »höheren Aufklärung«. 1 Im Wechsel von Entbergen und Verbergen der Wahrheit als dem Unverborgenen, das sich zugleich wieder entzieht, gewinnt Dichtung ihren Ort. Dichtung als »das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit«, um die Heideggersche Formulierung aufzugreifen,2 wird bei Hölderlin zum Andenken an das Un1
Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hrsg. von Friedrich Beißner, 8 Bde., Bd. 4,1: Der Tod des Empedokles. Aufsätze, Stuttgart 1961, »Grund zum Empedokles«, S. 158, sowie »Über Religion«, S. 277. ~ Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, »Der Ursprung des Kunstwerks«, 8.64.
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Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches
bekannte und zur Heimkunft in das sich entbergende Dasein. Dieser Weg von Gundolf, George über Dilthey und Cassirer zu Heidegger hat den Horizont bestimmt, in dem Kluckhohn seine Wirksamkeit in und für die Hölderlin-Gesellschaft entfaltete und Beißners kritische Edition zur öffentlichen Wirksamkeit kommen konnte. Unabhängig davon, ob oder wieweit der Einzelne die der Hölderlinrenaissance eigenen Voraussetzungen teilte oder nicht, gehören zu diesem neuen In-den-Blick-Treten des Hölderlinschen Werkes, meine ich, die Schritte, die von der Georgeschen Dichtung über eine Erweiterung des transzendentalphilosophischen Ansatzes zu einer existentialphilosophischen Analyse führen; es sind die Voraussetzungen, von denen aus das dichterische Wort neu gehört werden konnte. Dichtung als Sprachgestalt, als Verweisungsgefüge an der Grenze des Wißbaren, im Verzicht auf metaphysische Antworten, rechtfertigt das erinnernde Andenken an die Daseinsbezüge. Ich denke, daß dieser Horizont im Bewußtseins bleiben sollte, und daß man nicht so tun kann, als wenn die Hölderlin-Forschung in den Jahren seit 1910 etwa nur der Vorbereitung nationalsozialistischer Phantasien und Schreckgespenster gedient habe. Ich meine, daß die Arbeit, die wir hier in diesen Tagen geleistet haben, im Grunde auch in diesem Horizont noch zu stehen vermag, und daß insofern der Methodenwandel in der Hölderlin-Forschung sich seines Zusammenhangs mit diesem Vorgang der Renaissance eines Dichtwerkes bewußt bleiben kann.
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Über die Leistung der Dichtung im Zeichen der Bewußtseinskritik Dankesworte zum 5. n. 1984 Dem Institut für Deutsche Sprache und Literatur und allen beteiligten Kollegen möchte ich meinen sehr herzlichen Dank für diese festliche Stunde aussprechen. Sie ist mir Zeugnis einer Gemeinsamkeit des wissenschaftlichen Fragens und Arbeitens, wie sie die gehörten Vorträge eindrucksvoll bestätigen. Aber sie ist auch Zeugnis des Kommens und Gehens der Generationen und für mich eine Stunde des Abschieds, die dazu auffordert, sich auf den eigenen Weg und seine Ziele zu besinnen. Ausgangspunkt meiner Arbeit war das Vertrauen in die Menschen bildende Kraft der Dichtung. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, in einer Zeit, als die Normen der staatlichen und kirchlichen Institutionen nicht mehr selbstverständliche Voraussetzung der persönlichen Lebensführung sein konnten, öffnete sich mir jene Welt der dichterischen Gestalten und Überlieferungen als eine Art Zuflucht, in der Maße und Möglichkeiten des Menschseins kenntlich wurden und die Sprache eine eigene Intensität gewann. Dies Reich der Literatur, das im deutschen Sprachbereich erst seit dem 18. Jahrhundert zu voller Entfaltung gekommen ist und im abendländischen Humanismus von seinem Reichtum und seiner Vielgestaltigkeit zeugt, erwies sich als eine hilfreich nährende Kraft des Geistes. Wie arm wäre mein Leben ohne die Stimmen der Dichter, ohne den Umgang mit den Texten, in denen sich menschliches Dasein in seiner Erlebnisfülle, seiner notvollen Betroffenheit, seiner reflektierenden Bewußtheit auf so vielfältige Weise äußert! Aber diese Hinwendung zur Dichtung sah sich gleichzeitig herausgefordert von der Bewußtseinskritik als dem Grundzug des neuzeitlichen Denkens. Der Umbruch, der sich in der Philosophie des 18. Jahrhunderts vollzogen hatte, ließ nicht nur in neuer Weise nach dem Rechtsanspruch der staatlichen und kirchlichen Normen fragen, sondern ermöglichte ein vertieftes Verständnis der ästhetischen Phänomene und damit auch der * Unveröffentlichtes Typoskript (7 S.), Nachlaß Böckmann, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 441
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches Dichtung. Dem Dogmatismus des Faktischen stellte sich die Skepsis entgegen, die nach den Voraussetzungen und Rechtfertigungen der Aussagen verlangt. Das kritische Denken, das nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis fragt, sieht sich auf die Denkformen der Subjektivität von Raum und Zeit, Kausalität und Finalität verwiesen, die zur Versachlichung aller Lebensbeziehungen helfen und die Naturforschung bestimmen. Wo bleibt da der Raum der Dichtung? Das Gewußte und Erkannte tritt jeweils in Gegensatz zum nur Gefühlten oder Vorgestellten und entwertet Phantasie und Leidenschaften. Es ist die Grundsituation der modernen bewußtseinskritischen Literatur. Das Gedichtete muß sich als zugehörig zum Lebensverständnis erweisen, obgleich es als sachlich-inhaltliche Aussage widerlegbar oder unerweisbar bleibt. Die Literatur muß eingestehen, daß sie ihre Aussagen nicht als Sachaussagen machen kann, sondern immer nur als Aussagen in einem Vorstellungsgefüge, das auf den jeweils Sprechenden zurückweist, auf die fiktiven Figuren oder den sich darstellenden Autor oder den zögernden Leser, der sich in das vorgeblich Faktische einstimmt oder es in seiner Bedingtheit ironisch, witzig, humoristisch oder satirisch-parodistisch und provokativ versteht. Die dichterische Leistung besteht dann darin, daß sie einen Weg der Subjektivierung des Weltverhaltens eröffnet, der sich gegenüber der Versachlichung der Lebensinhalte behauptet und den Blick auf das Menschsein des Menschen zurücklenkt. Die eigentlichen Inhalte der Dichtung sind nicht ihre Stoffe, sondern die Verfahrensweisen, die das Umgehen mit den Stoffen vorführen und uns dadurch sehend machen für das Menschliche des Menschen. Darin liegt ihre humanisierende Kraft beschlossen. Es ist damit auf Voraussetzungen meines literaturwissenschaftlichen Arbeitens hingedeutet, auf die Art der Beobachtungsrichtung wie der Textanalysen. Kant sprach von einer kopernikanischen Wendung, als er zwischen den Gegenständen und der Erkenntnisart von Gegenständen unterschied, um ihre Dogmatisierung abzuwehren. Entsprechend sollte das Dichtungsverständnis zwischen den dargestellten Inhalten und der Darstellungsweise von Inhalten unterscheiden. Die Dichtung kann sich nicht auf eine eigene Art der Welterkenntnis berufen, sondern nur die der Subjektivität eigenen Vorstellungsweisen zu möglichen Inhalten vorführen. Die um das Verständnis der Dichtung bemühte Interpretation fragt deshalb nach den dichterischen Wegen der Subjektivierung. Schon in meiner Dissertation vor nun gut 60 Jahren suchte ich diese Blickwendung zu vollziehen. Durch Schillers Dramenfragmente wurde
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Dichtung im Zeichen der Bewußtseinskritik
ich auf eine ihm eigentümliche Arbeitsweise aufmerksam: wie er eine dramatische Fabel entwickelt, Figurenkonstellationen markiert, sinnenfällige Situationen angibt und den historischen Stoff durch entsprechende Motive, Namen und Begriffe verlebendigt. Dabei wird deutlich, daß es ihm nicht eigentlich um die Charaktere in ihrer besonderen Individualität oder um die dramatischen Vorgänge als solche zu tun ist, daß vielmehr ein geistiger Impuls organisierend wirkt und seinen Werken Gehalt und Gestalt gibt. Ich sprach deshalb von Schillers Geisteshaltung als Bedingung seines dramatischen Schaffens und wollte damit andeuten, daß weder die Normen der Dramentradition noch die Ereignisse der Biographie den Dichtungen ihre Bedeutung geben, sondern jene geistige Spontaneität des subjektiven Bewußtseins, das eine Dramatik erfährt, die dem Dualismus von Ich und Welt entspricht und die in der Idee der Selbstbestimmung des Menschen angelegte Gefährdung aufdeckt. Es ist ein Gehalt, der durch die ihm eigene Darstellungsweise erfahrbar wird. Mir wurde damals bewußt, daß die Dichtung als Werkgestalt auf ein solches Wechselverhältnis von subjektiver Spontaneität und zugehöriger Erfahrungswirklichkeit angewiesen ist; alle mitteilbaren Sachverhalte sind auf diese Wechselbeziehung verwiesen und deshalb mehr als nur Tatbestände einer objektivierbaren Gegenständlichkeit. Sie gehören zu einer fiktiven Welt, in der jede Aussage zugleich auf die in ihr sich bezeugende Subjektivität bezogen bleibt. Die Motive, Vorgänge, Figuren, Erörterungen und Überzeugungen ordnen sich in einen Darstellungszusammenhang ein, der als ein in sich beschlossenes Sinngefüge aufgefaßt sein will. Die sachhaltigen Aussagen über alltägliche, historische, mythologische oder phantastische Vorgänge begegnen immer zugleich als Elemente einer dichterischen Komposition. Sie werden sprechend für den übergreifenden Bezug der dichterischen Aussage, durch die sich die Subjektivierung des Weltverhältnisses zu erkennen gibt. Sie gehören schon selber zu einer Formensprache des dichterischen Bewußtseins, die auf vielfältig wechselnde Weise der Dichtung das Gepräge, ihren Stil, gibt. Wir stehen damit vor Fragen der Poetik, die aus dem Bereich der überkommenen Vorstellungen von der Poetik als einem Regelkanon herausfuhren; die alten Gattungslehren haben ihren normativen Charakter verloren, ebenso wie die Regeln der Metrik und Verslehre wie die der Stilistik, ohne daß sie darum wertlos geworden wären. Denn auch sie können wirksam bleiben, sofern sie selber als Formelemente einem individuellen Stilwillen dienstbar werden und sich neu bewähren als ein Gegenhalt gegen eine stets drohende Willkür der freigesetzten Subjekti443
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches
vität, die sich im Wetteifer mit der Tradition als ein eigenes Formgesetz zu erkennen gibt. Diese der neuzeitlichen Reflexionsstufe zugehörige Rechtfertigung der dichterischen Vorstellungswelt gerät freilich nur zu leicht in Widerstreit mit dem Verlangen der Leser, das Gedichtete einer konkret faßbaren und sachlich vertrauten Wirklichkeit zuzuordnen. Goethe hat im Rückblick auf die Entstehung seines Werther betont, daß »der größte Teil des Publikums mehr durch den Stoff als durch die Behandlung angeregt wird« und daß die »Teilnahme an seinen Stücken meistens stoffartig« war. Er selber habe durch sein Werk eine innere Befreiung von den Fakten der Wetzlarer Jahre erfahren, und so wehrt er sich gegen einen »didaktischen Zweck« seines Buches; er sagt mit Nachdruck: »Die wahre Darstellung ... hat keinen Zweck. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge und dadurch erleuchtet und belehrt sie.« Er spricht von einem »Antagonism« zwischen dem Dichter und der Menge der Leser: »Der Dichter verwandelt das Leben in ein Bild. Die Menge will das Bild wieder zu Stoff erniedrigen.« Er weiß also um ihren »Wirklichkeits-Wunsch« und mahnt sie mit dem bedenkenswerten Vers: Und wer mich nicht verstehen kann, Der lerne besser lesen . . .
Als »Einleitung in die Propyläen« des Kunstverständnisses sagt er: »Das schlechteste Bild kann zur Empfindung und zur Einbildungskraft sprechen, indem es sie in Bewegung setzt, los und frei macht, und sich selbst überläßt; das beste Kunstwerk spricht auch zur Empfindung, aber eine höhere Sprache, die man freilich verstehen muß.« Diese »höhere Sprache«, wie sie dem Kunstwerk eigen ist und eine wache Aufgeschlossenheit fordert, greift über die Wortsprache als Mitteilungsrede hinaus, indem sie die mitteilbaren Einzelinhalte einem Verweisungszusammenhang des »geistigen Wortes« zuordnet, das den »innern Sinn« beschäftigt, wie es Goethe den Shakespeareschen Dramen nachrühmt. Diese Leistung der Kunst, die ihre Wirkung bestimmt und eine eigene Verständnisbemühung voraussetzt, läßt sich nicht durch einen zeitlosen Regelkanon begrenzen, sondern erneuert sich jeweils auf individuelle Weise. Sie rechtfertigt eine wissenschaftliche Fragestellung, die nach den Verfahrensweisen der Dichter fragt und sich an eine genaue Textbeobachtung gebunden sieht, um die Vorstellungs- und Kompositionsweise zu bestimmen und die jeweilige Spachfähigkeit und Sprachleistung ein444
Dichtung im Zeichen der Bewußtseinskritik
zugrenzen. So wird eine fbrmgeschichtliche Betrachtung nötig, die nach den Integrationsformen fragt und zugleich als eine Art Kontrollinstanz gelten kann; sie nötigt dazu, die Einzelaussagen und isolierbaren Gedankengehalte auf den Darstellungszusammenhang zu beziehen und zurückzufragen, wie sie in der Struktur des Werkes eine Funktion gewinnen. Sie bildet eine Gegeninstanz zu dem Bemühen, die dichterischen Aussagen in eine philosophisch-begriffliche Weltanschauung zu übersetzen. Der den Dichtungen zugehörige geistes- und bildungsgeschichtliche Horizont will nicht als ein in sich schlüssiges Weltbild verstanden werden. Der tätige Geist des Dichters erweist sich vielmehr dichterisch handelnd als derjenige, der im Andrang des Lebensgeschehens gestaltend seine Sprachfähigkeit erprobt, um sich in seiner Menschlichkeit zu behaupten. Je spürbarer die Veränderungen der geschichtlichen Dimensionen werden und die Distanz zum Bildungsleben früherer Epochen wächst, um so weniger kann die Identifikation mit den inhaltlichen Themen und Gestalten der überlieferten Werke gelingen. Um so wichtiger ist es, daß die in früheren Epochen entwickelten Verfahrensweisen gegenwärtig bleiben, die trotz veränderter Themen und Lebenssituationen als weiter wirkende Sprachmöglichkeiten eine eigene Konstanz besitzen. Diese Hinweise mögen erläutern, in welchem Sinn ich eine formgeschichtliche Betrachtungsweise entwickelte, die die Subjektivierung der Formensprache als neuzeitlichen Vorgang zu bestimmen sucht und nach der »Verfahrungsweise des poetischen Geistes« fragt, von der Hölderlin in seinen theoretischen Studien ausging. In meinen Arbeiten über Hölderlin ging ich von dem Frageansatz aus, wie bei ihm die hymnische Sprache, das feiernde, rühmende Wort im Anruf der Lebensmächte sich erneuert, sein Weg erscheint als eine kontinuierliche Entwicklung aus christlich-kirchlicher Gebundenheit zu freier Aneignung griechischer Vorbilder; seine philosophische Besonnenheit gibt dem Dichterwort eine eigene Kühnheit. Die Frage nach seiner Verfahrungsweise des hymnischen Sprechens führt auf seine Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Naturverhältnis zurück und damit auf die Bewußtseinswandlungen, die der Formensprache ihre geschichtliche Bedeutung geben. Hier hilft kein Ausweichen auf psychologische oder soziologische Befunde, da das Werk als sprachlich mitvollziehbare Gestalt von einer Sprachleistung zeugt, die ihre eigene Dauer besitzt. Die bei Hölderlin erkennbare Geschichtlichkeit der Formensprache lenkte meinen Blick auf jene Epochen zurück, in denen die personenbe445
Wissenschaftsgeschichte und Autobiographisches
zogene Subjektivität sich den vorgegebenen Ordnungen des gesellschaftlichen und religiösen Lebens noch stärker zugeordnet wußte und die Integrationsformen epochal gebunden erscheinen. Ich verfolgte in der Reformationszeit die Auseinandersetzungen um die Erneuerung des Glaubens in den literarischen Formen der strafenden Satire, der schwankhaften Drastik und eines parabelhaft-didaktischen Sprechens. Eine veränderte Formenwelt bildete sich im 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit den Bemühungen der Humanisten, die lateinsprachigen Traditionen in die heimische Sprache umzusetzen, als Voraussetzung jener Barockrethorik, die der Literatur einen neuen Bildungswert gab und zur Ablösung von der kirchlichen Erbauungsliteratur führte. Die wachsende Subjektivierung der dichterischen Formensprache kam im 18. Jahrhundert im ständigen Wechselbezug mit den aufklärerischen Denkformen zu freier Entfaltung. Sie hat bis in unsere Tage ihre humanisierende Kraft zu bewahren gesucht und dabei oft genug auch ihre Ohnmacht gegenüber den Weltmächten und ihrer Menschenverachtung erfahren müssen, sie begegnete den drei »Gewaltigen« aus Faust H, den Raufebold, Habebald und Haltefest und deren Bündnis mit Eilebeute. Dabei sind die Folgen der Technisierung einer Massenbevölkerung vielleicht weniger traditionssprengend als das ständig wachsende Mißverhältnis zwischen wissenschaftlicher Reflexion und dichterischer Imagination, das die Verlorenheit der Subjektivität steigert. Nur der Anspruch bleibt bestehen, daß das auf sich selbst verwiesene Bewußtsein im dichterischen Wort zu sich selbst zu finden vermag. Es bleibt mir, Ihnen für alle Freundlichkeit zu danken, die Sie mir heute erwiesen haben. Dieses Danken schließt alle ein, die mich auf dem langen Weg menschlich-freundschaftlich unterstützt und geistig gefordert haben. Damit gilt dieser Dank zugleich der Institution, ohne die meine Arbeit nicht möglich gewesen wäre, also der Universität und den germanistischen Seminaren, in denen ich seit 1930 zuerst in Hamburg, dann seit 1937 in Heidelberg und seit 1957 in Köln wirken konnte. Dort fand ich die Schüler, die fragend, aufnehmend und widersprechend dazu halfen, daß ich meinen Weg weiter zu gehen vermochte, auch wenn er manchen Zeitströmungen entgegen stehen mußte.
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Bibliographie und Dokumentation (bearbeitet von Birte Giesler)
Verzeichnis der Schriften von Paul Böckmann
Das folgende Publikationsverzeichnis erfaßt alle Veröffentlichungen Böckmanns zur Germanistik bzw. Literaturwissenschaft. Verzeichnet sind seine selbständigen Publikationen, von ihm herausgegebene Editionen, seine Beiträge in Sammelwerken und Zeitschriften und - soweit rekonstruierbar - die von ihm verfaßten Zeitungsartikel. Im folgenden sind die Titel in chronologischer Reihenfolge nach dem Erscheinungsjahr angeordnet und numeriert; Vorabdrucke wie auch spätere Neuveröffentlichungen werden nicht gesondert verzeichnet, sondern zusammen mit der ersten Publikation aufgeführt. Verschiedene Fassungen einer Arbeit oder Übersetzungen in fremde Sprachen stehen unter der gleichen Nummer und sind mit Buchstaben gekennzeichnet. Die Angaben zu den Wiederveröffentlichungen und Überarbeitungen wurden über Autopsie überprüft bzw. ermittelt.
Siglen und Abkürzungen AfdA Akzente
DL DU DVjs Euphorien Coethejb GRM Höldcrlinjb JbFDtHochst Lücke Ruperto-Carola Schillerjb Sammlung
Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Akzente. Zeitschrift für Dichtung. Deutsche Literaturzeitung. Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Goethe-Jahrbuch. Germanisch-romanische Monatsschrift. Hölderlin-Jahrbuch. Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt/Main. Die Lücke. Zeitschrift für Kulturpolitik und Kunst. Ruperto-Carola. Mitteilungen der Vereinigung der Freunde der Studentenschaft der Universität Heidelberg e. V. Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung.
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Bibliographie und Dokumentation StG Wandlung WW ZfdB ZfD
Studium Generale. Die Wandlung. Eine Monatsschrift. Wirkendes Wort. Deutsches Sprachschaffen in Lehre und Leben. Zeitschrift für deutsche Bildung. Zeitschrift für Deutschkunde.
1925 1
Schillers Geisteshaltung als Bedingung seines dramatischen Schaffens, Dortmund 1925 (Hamburgische Texte und Untersuchungen zur deutschen Philologie II, 3); unveränderter reprographischer Nachdruck: Darmstadt 1967.
1926 2
[Rez.:] »Karl Holl, Schiller und die Komödie, Leipzig 1925«, in: DL 47, 1926, H. 24, Sp. 1142-1144.
1927 3
3a 3b
4
»Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Ein Beitrag zum Gehalt und zur Form seiner Dichtung wie seines Lebens«, in: Euphorien 28, 1927, S. 218-253. [Überarbeitet und gekürzt wieder] in: Formensprache [= Nr. 116], S. 363384, Anm. S. 549-550. [Wiederabdruck der gekürzten Fassung] in: Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen, mit einem Nachw. hrsg. von Helmut Sembdner, Berlin 1967, S. 32-53. [Literaturbericht:] »Aus der neueren Literaturwissenschaft. Oskar Walzel, Das Wortkunstwerk. Leipzig 1926. Julius Petersen, Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik, Leipzig 1926, Herbert Cysarz, Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft, Halle 1926«, in: ZfdB 3, 1927, S. 38-42.
1928 5 6
7
»Der Formanspruch in der Dichtung Stefan Georges«, in: ZfdB 4, 1928, S. 308-320. [Literaturbericht:] »Zur Ästhetik und Geistesgeschichte. Hermann Pongs, Das Bild in der Dichtung, Bd. i, Marburg 1927. Johannes Volkelt, System der Ästhetik, 3 Bde., München 1927. Helmut Groos, Der deutsche Idealismus und das Christentum, München 1927. Edgar Zilsel, Die Entstehung des Geniebegriffes, Tübingen 1926«, in: ZfdB 4, 1928, S. 51-53. [Rez.:] »Walter A. Berendsohn, Selma Lagerlöf, München 1927«, in: ZfdB 4, 1928, S. 616-617.
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Schriften
1929 8
9 93
u
12 13 14
[Rez.:] »Max Kommereil, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock-Herder-Goethe-Schiller-Jean Paul-Hölderlin, Berlin 1928«, in: AfdA 48, 1929, S. 189-195. »Stilprobleme in Schillers Dramen«, in: JbFDtHochst 1929, S. 3-20. [Geringfügig überarbeitet wieder] in: Formensprache [= Nr. 116], S. 215228, Anm. S. 531. [Rez.:] »Bielschowsky-Linden, Goethe, 2 Bde., München 1928«, in: Die neueren Sprachen. Zeitschrift für den Unterricht im Englischen, Französischen, Italienischen und Spanischen 37, 1929, S. 666—668. [Rez.:] »Der deutsche Staat 1814-1914. Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 4, Regensburg 1928«, in: ZfdB s, 1929, S. 439-441. [Rez.:] »Eva Fiesel, Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik, Tübingen 1927«, in: ZfdB 5, 1929, S. 53. [Rez.:] »Fritz Strich, Dichtung und Zivilisation, München 1928«, in: ZfdB S, 1929, S. 53. [Rez.:] »Gerhard Fricke, Der religiöse Sinn der Klassik Schillers, München 1927«, in: ZfdB 5, 1929, S. 630-631.
1930 15 16
[Rez.:] »Rudolf Unger, Gesammelte Studien, Bd. i u. 2, Berlin 1929«, in: AfdA 49, 1930, S. 141-144. [Rez.:] »Wilhelm Böhm, Hölderlin, Bd. i, Halle 1928«, in: AfdA 49, 1930, S. 38-47.
1931 17 18
i8a
[Rez.:] »Wilhelm Böhm, Hölderlin, Bd. 2, Halle 1930«, in: AfdA 50, 1931, S. 191-196. »Von den Aufgaben einer geisteswissenschaftlichen Literaturbetrachtung«, in: DVjs 9, 1931, S. 448-471 (= öffentliche Antrittsvorlesung an der Universität Hamburg am 14. Mai 1930). [Geringfügig (hauptsächlich sprachlich) überarbeitet wieder] in: Formensprache [= Nr. 116], S. 461-478, Anm. S. 554-555.
1932 19
[Literaturbericht:] »Die neue Hölderlinliteratur«, in: ZfdB 8, 1932, S. 268274.
1933 20
»Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung«, in: JbFDtHochst 1932-1933, S. 52-130. 451
Bibliographie und Dokumentation 2oa
2ob
200
21
[Zum Teil stark überarbeitet und mit Zwischenüberschriften versehen als gleichnamiges Kapitel wieder] in: Formgeschichte der deutschen Dichtung [= Nr. 50], 8.471-552. [Daraus u. d. T.:] »Das Formprinzip des Witzes bei Lessing«, in: Gotthold Ephraim Lessing, hrsg. von Gerhard und Sibylle Bauer, Darmstadt 1968 (Wege der Forschung 211), S. 176-195. [Wiederabdruck des Abschnitts] »Das Formprinzip des Witzes bei Lessing« [vgl. Nr. 2ob] in: Gotthold Ephraim Lessings »Minna von Barnhelm«. Dokumente zur Rezeptions- und Interpretationsgeschichte, hrsg. von Horst Steinmetz, Königstein/Ts 1979, S. 83-89. [Literaturbericht:] »Ein Jahrzehnt Romantikforschung«, in: ZfdB 9, 1933, S-47-53·
1934 22 223
22b
23
»Die innere Form in Schillers Jugenddramen«, in: Dichtung und Volkstum (Neue Folge des Euphorien) 35, 1934, S. 439-480. [Geringfügig (hauptsächlich sprachlich) überarbeitet und mit Zwischenüberschriften versehen wieder] in: Formensprache [= Nr. 116], S. 229-267, Anm. S. 531-533. [Wiederabdruck der überarbeiteten Fassung] in: Schiller. Zur Theorie und Praxis der Dramen, hrsg. von Klaus L. Berghahn und Reinhold Grimm, Darmstadt 1972 (Wege der Forschung 323), S. 1-54. [Rez.:] »Wakher Linden, Aufgaben einer nationalen Literaturwissenschaft, München 1933«, in: ZfdB 10, 1934, S. 105-107.
1935 24 25 26
»Die Welt der Sage bei den Brüdern Grimm«, in: CRM 23, 1935, S. 81104. Hölderlin und seine Götter, München 1935. »Die romantische Poesie Brentanos und ihre Grundlagen bei Friedrich Schlegel und Tieck. Ein Beitrag zur Entwicklung der Formensprache der deutschen Romantik«, in: JbFDtHochst 1934-1935, S. 56-176.
1936 27
28
[Rez.:] »Clemens Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung Heinrich von Kleists, Frankfurt/Main 1936«, in: AfdA 55, 1936, S. 192-198. »Lessings Begründung der klassischen Symbolform«, in: Z/D 51, 1936, S. 413-428. 452
Schriften 283
[Wieder] in: Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen, hrsg. von Heinz Otto Burger, Darmstadt 1972 (Wege der Forschung 110), S. 228250.
1937 29
[Rez.:] »Barbara Schiagenhaft, Wielands Agathon als Spiegelung aufklärerischer Vernunft- und Gefühlsproblematik, Erlangen 1935«, in: DL 58, 1937, H. 5, Sp. 188-191.
1938 30
[Literaturbericht:] »Die Romantiker in der neueren Forschung. Ein Literaturbericht«, in: ZfdB 14, 1938, S. 236-241.
1940 31 32
33
»Zu Karl Immermanns 100. Todestag«, in: Deutscher Wissenschaftlicher Dienst i, 1940, H. 8, S. i-2. [Rez.:] »Hans August Vowinckel, Schiller der Dichter der Geschichte. Eine Auslegung des Wallenstein, Berlin 1938«, in: DL 61, 1940, H. 41/42, Sp. 954-959»Karl Immermann. Ein Gedenkblatt zu seinem 100. Todestag«, in: Oberhessische Zeitung, Nr. 200, 26.8.1940.
1941 34
35
»Deutsches Schicksal in der elsässischen Literaturentwicklung der Neuzeit«, in: Deutsches Schicksal im Elsaß. Vorträge Heidelberger Professoren, hrsg. von Friedrich Panzer, Heidelberg 1941, S. 85-115. »Hellas und Germanien. Entstehung und Bedeutung einer griechischdeutschen Lebenseinheit«, in: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung 5, Stuttgart 1941, S. 341-404.
1942 36 363
37 373
»Klopstock: Die Frühlingsfeier«, in: Gedicht und Gedanke, hrsg. von Heinz Otto Burger, Halle 1942, S. 89-101. [Geringfügig sprachlich überarbeitet und ohne den Gedichttext wieder u. d. T.:] »Die Sprache des Erhabenen in Klopstocks Frühlingsfeier«, in: Formensprache [= Nr. 116], S. 98-105, Anm. S. 523. »Dichterische Gestaltungskräfte in Grimmeishausens Simplizissimus«, in: ZfdB 18, 1942, S. 226-244. [Geringfügig sprachlich überarbeitet und mit Zwischenüberschriften versehen als Teilkapitel:] »Die Abwendung vom Elegentiaideal in Grimmelshausens Simplizissimus«, in: Formgeschichte [= Nr. 50], S. 448-470. 453
Bibliographie und Dokumentation 37b
[Wieder u. d. T.] »Die Abwendung vom Elegantiaideal in Grimmelshausens Simplizissimus«, in: Der Simplicissimusdichter und sein Werk, hrsg. von Günther Weydt, Darmstadt 1969 (Wege der Forschung 153), S. 206233.
1943 38
39
39a
»Zu Hölderlins 100. Todestag am 7. Juni 1943«, in: Forschungen und Fortschritte. Nachrichtenblatt der deutschen Wissenschaft und Technik 19, 1943, Nr. 15/16, S. 167-168. »Hölderlins mythische Welt«, in: Hölderlin. Gedenkschriß zu seinem 100. Todestag 7. Juni 1943, im Auftrag der Stadt und der Universität Tübingen hrsg. von Paul Kluckhohn, Tübingen 1943, S. 11-49; 2 - Aufl. 1944 Qahresgaben der Hölderlin-Gesellschaft i). [Überarbeitet und um einen geringen Teil gekürzt wieder] in: Formensprache [= Nr. 116], S. 283-315, Anm. S. 535-536.
1944 40 4oa 41
42
43
433 43b
43C 44
»Der gemeine Mann in den Flugschriften der Reformation«, in: DVjs 22, 1944, S. 186-230. [Wieder] in: Formensprache [— Nr. 116], S. 11-44, Anm. S. 517-521. Hölderlin. Drei Reden, Stuttgart [1944] (Die Bunten Hefte für unsere Soldaten. Sonder reihe Heft 2). [= Nr. 42, 43, 44.] »Heimat und Vaterland in der Dichtung Hölderlins«, in: Hölderlin. Drei Reden [= Nr. 41], S. 5-26 (= Vortrag bei der von der Stadt und der Universität Heidelberg veranstalteten Gedenkfeier am 6.6.1943, in leicht abgewandelter Form am 10.6.1943 in Metz, am 28.6.1943 in Ludwigshafen). »Hölderlins Naturglaube«, in: Hölderlin. Drei Reden [- Nr. 41], S. 27-49 (= Vortrag bei der Gründung der Hölderlin-Gesellschaft am 7.6.1943 in Tübingen). [Überarbeitet gleichzeitig] in: Iduna. Jahrbuch der Hölderlin-Gesellschaf t i, 1944, S. 35-50. [Erneut geringfügig überarbeitet] in: Hölderlin. Beiträge zu seinem Verständnis in unserm Jahrhundert, hrsg. von Alfred Kelletat, Tübingen 1961 (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft 3), S. 248-262. [Erneut geringfügig sprachlich überarbeitet] in: Formensprache [= Nr. 116], S. 316-329, Anm. S. 536. »Unser Weg zu Hölderlin«, in: Hölderlin. Drei Reden [= Nr. 41], S. 50-64 (= Einleitung einer Hölderlin-Vorlesung an der Universität Heidelberg im Sommersemester 1943). 454
Schriften
1947 45
[Rez.:] »Fragen an die deutsche Geschichte. Ein Bericht über das Buch von Alan John Percivale Taylor, The course of German History (since 1815)«, in: Wa 2, 1947, H. 4, S. 341-360.
1948 46 47 48
»Was bedeutet >romantisch