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German Pages 397 [401] Year 2009
frank wittchow
Ars Romana wittchow
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frank wittchow, Studium der Fächer Latein, Griechisch und Geschichte in Marburg und Freiburg im Breisgau. 1995 Erstes Staatsexamen, Latein und Geschichte. 1995–1998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Klassische Philologie. 1999 Promotion zu Ammianus Marcellinus. 1999– 2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB »Kulturen des Performativen« (Berlin), seit 2001 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Klassische Philologie (Johannes Christes, Ulrich Schmitzer), seit 2007 Privatdozent. Habilitation 2007. Zahlreiche Veröffentlichungen zur antiken Literatur und Geschichte.
Ars Romana
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ie Vorstellung, dass fides der Maßstab politischer Ethik zu sein habe, wird von vielen römischen Autoren transportiert. Der Historiker Livius bezeichnet daher die List als die am »wenigsten römische Kunst«, ars minime Romana. Doch die Kultur der Römer, die sich an so vielen Werten zu orientieren scheint, hat möglicherweise gerade deswegen einen gesteigerten Bedarf an listigen Handlungsoptionen entwickelt. Der List eignet das Potential, Regeln zu unterlaufen, ohne sie preiszugeben, und genau dadurch ist sie für die Römer so wertvoll. Besonders die jungen Männer haben in Rom die Lizenz, listig zu handeln und können mit dieser Lizenz den römischen Staat aus mancher politischen Verlegenheit befreien. In der vorliegenden Studie wird das Motiv der List vor allem in der augusteischen Literatur untersucht: der Geschichtsschreibung, der Liebeselegie und dem Epos. Virtus und dolus: Der alte Dualismus, erscheint so in immer neuen Varianten und wird zum Teil in überraschender Weise aktualisiert: im Krieg, in der Liebe und schließlich sogar im Rahmen eines kosmischen Weltverständnisses.
List und Improvisation in der augusteischen Literatur
Universitätsverlag
isbn 978-3-8253-5476-3
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Heidelberg
bi bli oth ek d er k lassisch en altertu m swissen s cha f t en Herausgegeben von
hubert p et ersm ann † Fortgeführt von
j ürg en paul schwin dt Neue Folge · 2. Reihe · Band 122
frank wittchow
Ars Romana List und Improvisation in der augusteischen Literatur
Universitätsverlag
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für die vorliegende Arbeit erhielt der Autor den Heidelberger Förderpreis für klassisch-philologische Theoriebildung des Jahres 2007
umschlagbild Kairos-Relief, Turin, Museo di Antichità.
isb n 978-3-8253-5476-3 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2oo9 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck : Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag-hd.de
für Valérie
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die ich im Winter 2006 an der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht habe. Der Untertitel beschreibt die Rangfolge der in ihr abgehandelten Themen: Die List ist der zentrale Untersuchungsgegenstand. Von Improvisation wird deshalb gesprochen, weil List im Commonsense-Gebrauch regelmäßig mit Täuschung assoziiert wird. Ihrem Wesen nach ist sie aber ebenso oft geistesgegenwärtige Nutzung sich bietender Möglichkeiten, die freilich bei denen, die hier das Nachsehen haben, gern in die Nähe des Betrugs gerückt wird. Weiteres wird hier über die Improvisation nicht gesagt, einem potentiell wichtigen Untersuchungsfeld, das mir aber fast zu groß scheint, um es allein zu bestellen. Des Weiteren geht es mir zunächst um die augusteische Literatur. Da ich Literatur aber aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive betrachte und Literatur Teil der Kultur einer Epoche ist, hielt ich es für sinnvoll, diesen Ansatz im Titel kundzutun. Es wäre jedoch, namentlich für die Rezeption der Kapitel zu Livius, falsch, die dargestellten literarischen Imaginationen als historische Rekonstruktionen zu betrachten. Es ist folgerichtig, sich vorzustellen, dass historische politische Handlungsspielräume und Debatten in diesem annalistischen Text aufgefangen sind, indessen scheint es mir fast unmöglich, dazu valide Aussagen zu treffen, die meinen Text nicht sofort allfälliger Kritik von Historikern auslieferten. Als Ausreißer aus diesem Zeitrahmen könnte das Komödienkapitel angesehen werden. Doch kann ein Leser, der eine Monographie zur römischen List in die Hand nimmt, erwarten, dass nicht ausgerechnet über die Komödienintrige geschwiegen wird. Ohnehin habe ich mich bemüht, möglichst viel von der republikanischen Literatur mit einzubeziehen, wann immer es sich machen ließ. Ferner bezieht sich bekanntlich gerade die römische Liebeselegie sehr stark auf die Figurenkonstellationen der Nea, der elegische Diskurs wiederum durchzieht auch die nicht-elegische Literatur der augusteischen Epoche. Auf diese Weise scheint mir die Hereinnahme des Themas gerechtfertigt. Vorableser des Buches haben mir empfohlen, im Titel kenntlich zu machen, dass Lizenzen der römischen Jugend und Fragen des rite de passage einen Schwerpunkt der Arbeit bilden. Nun ist diese Aufgabe dem Vorwort anvertraut, denn der Titel gefiel mir, wie er war. Die Veröffentlichung einer solchen Arbeit ist willkommener Anlass, denen zu danken, die sie begleitet haben. An erster Stelle nenne ich die Gutachter Ulrich Schmitzer, Johannes Christes und Markus Asper. Es ist heute unüblich geworden, sich selbst als „Schüler“ zu bezeichnen, dennoch hoffe ich, dass meine Arbeit durch ihre Schwerpunkte auf den Themen „Jugend“ und „Literatur der augusteischen Zeit“ nebst dem kul-
turwissenschaftlichen Ansatz den Einfluss meiner akademischen Lehrer Johannes Christes, Ulrich Schmitzer und Werner Röcke erkennen lässt. Die Habilitation war, zumindest in meiner Perspektive, krönender Abschluss meiner Assistentenzeit am Institut für Klassische Philologie der Humboldt-Universität. Ich danke den Kollegen für das inspirierende Miteinander, besonders meiner lieben Kollegin Diana Bormann. Die Arbeit wurde 2007 mit dem Heidelberger Förderpreis für KlassischPhilologische Theoriebildung ausgezeichnet. Ich möchte mich auch noch einmal herzlich bei den Gutachtern Renate Lachmann, Walter Haug (†), Jürgen Paul Schwindt und dem Verleger des Heidelberger Universitätsverlags Winter, Andreas Barth, bedanken. Besonders die engagierte Lektorierung durch Herrn Schwindt und die editorische Betreuung durch Herrn Barth waren für mich von unschätzbarem Wert. Diesen danke ich auch für die Drucklegung und Aufnahme meines Buches in die Reihe „Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften“ als Teil des Förderpreises. In den letzten Wochen und Monaten hat mich besonders meine Frau Valérie Sinn-Wittchow bei der Korrektur und Durchsicht unterstützt. Für ihre Kraft und Geduld spreche ich ihr meinen tiefsten Dank aus. Berlin, im August 2009
Frank Wittchow
Inhaltsverzeichnis
1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.2.1 1.4.2.2 1.4.2.3 1.4.2.4 1.5
Einleitung Die List im Rahmen der Forschung zu den römischen Werten Definitionen der List Die Performativität der List Römische Listfeindlichkeit als Gattungsphänomen Die Kommunikationsbedingungen in der römischen Republik Die literarische Tradition Gaius Acilius, Cicero, Claudius Quadrigarius, Valerius Antias Caesar und Hirtius Sallust Tacitus Methodik und Gliederung
11 11 19 25 37 37 47 47 52 56 59 65
I
Die List im Krieg
73
2 2.1
Eine kleine Geschichte der List Romulus Exkurs: Rechtfertigungsstrategien für römische Listen Numa Pompilius Tullus Hostilius und Ancus Marcius Exkurs: Dolus malus und das römische Recht Die etruskischen Könige Tarquinius Superbus Das Ende des Königtums Das erste Jahr der Republik Das zweite Jahr der Republik
75 76 82 85 88 90 98 100 110 111 115
Die List und die Erfordernisse einer neuen Außenpolitik Der livianische Bericht und die historische Entwicklung Caudium Eine Vorgeschichte im Ersten Samnitenkrieg Die Katastrophe von Caudium (Zweiter Samnitenkrieg) Caudium und die Mancinusaffäre Bewegliches Recht Augusteisches Recht Exkurs: Die fraus legis Das Vorbild Hannibal Propaganda und Literatur Schlagwörter Erfahrungen und Argumentationen Résumé
123 123 134 134 137 138 143 147 149 153 153 156 165 177
2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4
II
Die List in der Liebe
181
4 4.1 4.2 4.3
Die Griechisch-Römische Komödie Die Freude am Bösen Väter und Söhne, List und Verantwortung Exkurs: Die Römische Jugend Muliebre consilium: Die List der Frauen
183 183 193 198 224
5 5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6 5.4
Quis fallere possit amantem? Die elegische List Die List bei Vergil Aeneas als amator perfidus Auf der Suche nach der verlorenen List: Die Liebeselegiker Elegie und Komödie Tibull und Ovid Tibull 1, 6 als mimicum adulterium Elegie und rites de passage Die Antwort Ovids Die wiedergefundene List Zwischenergebnis
233 233 238 249 249 252 254 261 274 283 285
III
Die List und der Kosmos
287
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.8.1 6.8.2 6.8.3 6.8.4 6.8.5 6.9 6.10 6.11 6.12
Die List und die Stimme: Metamorphosen Fatum und Metamorphose Metis und Metamorphose Metamorphosen der List Das elegische Weltbild der Metamorphosen List und Ordnung Natürlicher Wandel – menschliche Ordnung Natur und Perversion (Vorüberlegung) Tereus und Procne: Intrigen gegen die Stimme Die Hochzeit (Tereus und Procne) Die Bemächtigung der Philomela (Tereus und Philomela) Die Aufdeckung der Untat (Philomela und Procne) Der Racheplan (Procne und Philomela) Die Rachekatastrophe (Procne, Philomela, Tereus) Die geordnete Natur: Stimme als Mittlerin von List und Gewalt Gewalt und Ordnung, List und Wandel Hercules: Der offensive Herrscher Aeneas: Der Gründer auf der Flucht
289 289 297 303 313 319 321 323 327 328 332 344 347 349 350 354 355 366
7.
Literaturverzeichnis
371
Einleitung
11
1 Einleitung 1.1 Die List im Rahmen der Forschung zu den römischen Werten „Man diskutiert nicht über Werte, sondern über Präferenzen.“1 Mit diesem Satz charakterisiert Niklas Luhmann den Umstand, dass gesellschaftliche Kommunikation in der Regel nicht den steinigen Weg einer Problematisierung von Handlungsmaximen geht, um Handeln zu ermöglichen, sondern Werte unreflektiert aufruft, um Interessen mitzuteilen und auszuhandeln. Gerade die römische Gesellschaft, die Werte nicht diskursiv entwickelt, sondern exemplarisch „verargumentiert“,2 ist das beste Beispiel für die Richtigkeit dieser These. Dennoch hat besonders in der deutschen Altphilologie die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung der römischen Werte Tradition. Peter Lebrecht Schmidt hat in einer jüngeren Veröffentlichung auch auf die problematischen politischen Implikationen einer solchen Werteforschung, die in den 30er Jahren (!) ihren ersten Höhepunkt erlebte und auf einen ideologisch verbrämten „Geist des Römertums“ rekurrierte, hingewiesen, ebenso auf problematische Kontinuitäten, die sich aus dem Wirken nazistisch belasteter Altphilologen nach dem Krieg auf diesem Forschungsgebiet ergaben.3 Der Wiederbelebung der Fragestellung durch das altphilologische Teilprojekt des Dresdner Sonderforschungsbereichs „Institutionalität und Geschichtlichkeit“4 wird man diesen Vorwurf natürlich 1 Niklas Luhmann (2001a), Was ist Kommunikation?, in: Oliver Jahraus (Hg.), Niklas Luhmann. Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001, S. 94 – 110, 105f. (Zitat S. 105). 2 Frank Bücher, Verargumentierte Geschichte. Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik, Stuttgart 2006. 3 Peter Lebrecht Schmidt, Zwischen Werttheorie, Begriffsgeschichte und Römertum. Zur Politisierung eines wissenschaftlichen Paradigmas, in: Andreas Haltenhoff/ Andreas Heil/ Fritz-Heiner Mutschler (Hgg.), Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft, München – Leipzig 2005, S. 3 – 21, bes. S. 5 und 16. Dazu auch mit demselben Tenor Stefan Rebenich, Römische Wertbegriffe: Wissenschaftliche Anmerkungen aus althistorischer Sicht, in: Haltenhoff/ Heil/ Mutschler (2005) S. 23 – 46, bes. S. 32 – 42. Eine ausführliche Bibliographie zu römischen Werten haben die Dresdner Altphilologen ins Netz gestellt: http://www.tu-dresden.de/sulifkp/Werte.htm (zuletzt besucht am 5. 8. 2008). 4 SFB 537, Teilprojekt A 1 „Der römische mos maiorum von den Anfängen bis in die augusteische Zeit. Literarische Kommunikation und Werteordnung“ (Ltg. Fritz-Heiner Mutschler). Das Projekt ist bereits mit drei Sammelbänden zu römischen Werten hervorgetreten, neben dem genannten Band Haltenhoff/ Heil/ Mutschler (2005) noch Maximilian Braun/ Andreas Haltenhoff/ Fritz-Heiner Mutschler (Hgg.), Moribus antiquis res stat Romana. Römische Werte und Römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr., München – Leipzig 2000 und Andreas Haltenhoff/ Andreas Heil/ Fritz-Heiner Mutschler (Hgg.), O tempora,
12
Einleitung
nicht machen; es bleibt aber insgesamt dabei, dass Arbeiten über römische Werte eher eine Sache deutscher Philologinnen und Philologen sind als die der Kolleginnen und Kollegen an anderen Wissenschaftsstandorten. Die Römer haben kein Wertesystem. Sie argumentieren zwar häufig mit exempla zu uirtus, fides, fortitudo usw., aber diese Begriffe sind von ihnen weder ontologisch bestimmt worden, noch befinden sie sich in einer auch nur entfernt als systemisch beschreibbaren Ordnung.5 Die römische Literatur, aus der wir den mos maiorum (als Summe solcher exemplarischen Werte) rekonstruieren könnten,6 ist selbst ein Krisensymptom des römischen Staates, der sich im Zuge der Expansionskriege zuerst nach außen rechtfertigen (Fabius Pictor), dann aber auch den Zusammenhalt nach innen festigen sollte (die zensorische Geschichtsschreibung eines Cato oder Calpurnius Piso ist dafür nur ein mögliches Beispiel).7 Der mos maiorum hat zu dieser Zeit einen affektiven Appellcharakter.8 Es ist daher die Frage, ob sich wirklich viel über die römische Kultur lernen lässt, wenn solche Werte als ein Denksystem behandelt werden. Betrachtet man sie dagegen als eine Form der konsensualistischen Kommunikation, so wendet sich die Untersuchung von einer systemisch-ontologischen einer kulturell-performativen Fragestellung zu. Dann wird danach zu fragen sein, bei welchen Gelegenheiten
o mores! Römische Werte und römische Literatur in den letzten Jahrzehnten der Republik, München – Leipzig 2003. 5 Andreas Haltenhoff, Römische Werte in neuer Sicht? Konzeptionelle Perspektiven innerhalb und außerhalb der Fachgrenzen, in: Haltenhoff/ Heil/ Mutschler (2005), S. 81 – 105, 86: „Werte wie pietas oder fides sind keine abstrakten Entitäten am Ideenhimmel, von denen menschliches Handeln auf irgendeine Weise ‚abgeleitet‘ werden müsste; ihr Ort ist das soziale Handeln selbst“. 6 Uwe Walter, Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom, Frankfurt am Main 2004, S. 216 7 Damit ist die römische Historiographie nicht als „Seitenzweig des geschichtlichen Gedächtnisses“ stigmatisiert, wie Walter (2004) S. 212 entsprechende Thesen Hölschers kritisiert (Tonio Hölscher, Die Alten vor Augen. Politische Denkmäler und öffentliches Gedächtnis im republikanischen Rom, in: Gert Melville [Hg.], Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln – Weimar 2001, S. 183 – 211, 188). Es geht vielmehr darum, dass die Entstehung einer kontinuierlichen narrativen Geschichtsschreibung, durch die ein Nacheinander der Leistungen der Familien konstituiert wird, auf fundamentale Wandlungen in der Führungsschicht des römischen Staates hinweist (vgl. Ulrich Gotter, Die Vergangenheit als Kampfplatz der Gegenwart. Catos [konter]revolutionäre Konstruktion des republikanischen Erinnerungsraums, in: Ulrich Eigler/ Ulrich Gotter/ Nino Luraghi/ Uwe Walter [Hgg.], Formen römischer Geschichtsschreibung von den Anfängen bis Livius. Gattungen – Autoren – Kontexte, Darmstadt 2003, S. 115 – 134, 122 bereits für die fulvischen fasti) und in Krisenzeiten Orientierung schafft (vgl. Walter [2004] S. 247f.). 8 Egon Flaig, Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom, Göttingen 2003, S. 84; Jochen Bleicken, Lex Publica. Recht und Gesetz in der Römischen Republik, Berlin 1975, S. 373 – 396.
Einleitung
13
Werte argumentativ eingebracht oder auch nur einfach unterstellt werden,9 welche Gruppen mit ihnen identifiziert werden – und auch: wem sie abgesprochen werden. Dieser letzte Aspekt verweist darauf, dass Werte, gerade wenn sie nicht definitorisch gefüllt werden, ohne ihre Negation, also ohne negative Gegenbegriffe, weder denkbar noch kulturell wirksam sein können. Es existiert in Rom keine fides ohne perfidia. Die vorliegende Untersuchung widmet sich prima vista einem solchen negativen Gegenbegriff der fides, nämlich der römischen List. Wie aber bereits aus dem Titel der Arbeit hervorgeht, ist das, was wir im Deutschen als „List“ bezeichnen, durchaus kein a priori negativer Begriff, er ist eben nicht identisch mit perfidia, er ist auch nicht allein durch dolus zu übersetzen, das ursprünglich eine vox media gewesen sein könnte, aber oft eine negative Konnotation erhält, sondern kann mit solch neutralen oder gar positiv besetzten Ausdrücken wie ars, consilium oder sollertia bezeichnet sein. Tatsächlich hat sich die bisherige Forschung zur römischen List – ein nicht eben häufig beackertes Feld – hauptsächlich mit dieser Frage, also dem lateinischen Wortfeld für den Sinnbezirk der List und dabei wiederum hauptsächlich mit der moralischen Gewichtung der einzelnen termini, auseinandergesetzt. Everett Wheeler etwa hat in der Absicht, eine philologische Vorarbeit für ein weiter gestecktes Projekt über die Geschichte der antiken Kriegslist zu leisten,10 das griechische und lateinische Wortfeld gesichtet und besonders im römischen Bereich die These avanciert, dass die Römer, anders als sie sich angeblich selbst beschreiben, keineswegs Kriegslisten abgelehnt hätten und dass sich dies auch in ihrem Wortgebrauch niederschlage.11 Erst in der literarischen Imagination der späten Republik und besonders der augusteischen Zeit (Livius ist einer seiner Kronzeugen für diese unterstellte „Ideologisierung“) hätten die Römer die List perhorresziert, dagegen lasse sich für einen großen Teil des Wortfeldes nachweisen, dass es ursprünglich und auch später immer wieder neutral oder gar positiv verwendet werde. Eine Spezialdiskussion entzündet sich in diesem Zusammenhang nicht erst 9
Johannes Keller, Über die Bedeutung von Werten in der römischen Republik, in: Haltenhoff/ Heil/ Mutschler (2005), S. 175 – 208, 207: „Das Wertegefüge der römischen Republik entsprach und entspricht den dominanteren Interessenlagen in der römischen Gesellschaft; aber umgekehrt beeinflusste es sie auch. Dass die Werte überhaupt immer wieder ins Feld geführt wurden, verdeutlicht die grundsätzliche Akzeptanz dieses Systems, auch und gerade, weil die Bezugnahme im Vagen bleiben konnte.“ Wie schon gesagt, gibt es kein „System,“ aber die Nachordnung der Werte hinter die Interessen ist richtig beobachtet, etwas einseitig dagegen Egon Flaig, Keine Performanz ohne Norm, keine Normen ohne Wert. Das Problem zwingender Gesten in der römischen Politik, in: Haltenhoff/ Heil/ Mutschler (2005), S. 209 – 221, 209: „Die Orientierung in einer Kultur hängt letztlich an den Werten“. 10 Everett L. Wheeler, Stratagem and the Vocabulary of Military Trickery, Leiden – New York – Kopenhagen – Köln 1988 (Mnemosyne Suppl. 108), S. IX: „the focus of this study is stratagem (as defined above) and not trickery in general“. 11 Wheeler (1988) passim, bes. S. 51f.
14
Einleitung
bei Wheeler, sondern auch in der römischen Rechtsgeschichte immer wieder an dem Begriff dolus. Dieser firmiert im römischen Recht nur als dolus malus (dazu ausführlich in den Untersuchungen zu Livius) und bereits in der Antike wurde bemerkt, dass dies einen Gegenbegriff des dolus bonus wahrscheinlich mache (und zugleich den neutralen Ton von allein stehendem dolus). Abgesehen davon, dass diese Argumentation keinesfalls zwingend ist – die Rechtssprache neigt zu Präzisierungen und meint außerdem mit dolus malus keineswegs in erster Linie die List als eine Form der Täuschung oder des gewitzten Unterlaufens von Handlungserwartungen (zu definitorischen Fragen s.u.), sondern die „böse, rechtswidrige Absicht“12 (Arglist) –, so ist auch schon der Kontext der Untersuchung Wheelers, nämlich die Kriegslist, eine Vorwegnahme des Ergebnisses. Auf Kriegslisten hat in der Tat wohl kaum ein Volk je verzichten wollen und es ist leicht möglich, den Römern einen offenen Gebrauch mit militärischen Strategemen nachzuweisen, ohne dass damit die grundsätzliche Frage der Bewertung der List in römischen Quellen repräsentativ beantwortet wäre. Und auch der Umstand, dass ein Autor wie Livius sogar die Kriegslist an einigen Stellen seines Werkes scheinbar generalisierend negativ bewertet, macht seinen Zugriff weder zu Ideologie noch beschreibt er den Gesamtbefund in Ab Urbe Condita. Dolus, ars, consilium, fraus, (dis)simulatio usw. sind je verschiedene Akzentuierungen der List und problematisieren den Umstand, dass Handlungserwartungen enttäuscht werden, je anders oder versuchen solche Problematisierungen sogar zu umgehen oder zu vertuschen. Es ist das Wesen der List selbst, dass sie Prinzipien unterläuft, Erwartungen enttäuscht und Zwänge umgeht. Wenn wie hier die List ins Zentrum einer literaturwissenschaftlichen Arbeit über die augusteische Literatur gestellt wird, ist von vornherein klar, dass ein solches Handlungskonzept nicht reiner Gegensatz zu bestimmten Werten, etwa der fides, ist, sondern dass damit die Elastizität dieser Begriffe zur Debatte steht. Die List ist ein Dazwischen in der kulturellen Ordnung und genau deshalb besonders relevant, um sich einer Kultur zu nähern. Anders ausgedrückt: Die List hat zwar das Potential Werte in Frage zu stellen und deshalb auch Wertediskussionen (die aber in der Regel Präferenzdiskussionen bleiben, s.o.) auszulösen, aber sie ist kein wirkliches Gegenüber zu positiv aufgefassten Werten. Mit Wortfeldanalysen – es kommen noch Arbeiten von Voigt, Brotherton, Carcaterra, ter Beek und Abbot hinzu13 – ist der List nicht beizukommen, so 12
Helmut Coing, Die clausula doli im klassischen Recht, in: Hermann Niedermeyer/ Werner Flume (Hgg.), FS Fritz Schulz, Bd. 1, Weimar 1951, S. 97 – 123, 114. 13 Moritz Voigt, Über den Bedeutungswechsel gewisser die Zurechnung und den öconomischen Erfolg einer That bezeichnender technischer lateinischer Ausdrücke, in: Abhandl. D. K. S. Gesellsch. D. Wissensch. XVI, Leipzig 1874, S. 1 – 160. Blanche Brotherton, The Vocabulary of Intrigue in Roman Comedy, New York – London 1978 (ND von Menasha 1926). Antonio Carcaterra, Dolus Bonus/Dolus Malus. Esegesi di D. 4.3.1.2 – 3, Neapel 1970, besonders S. 32 – 57 und 124 – 159. Leon ter Beek, Dolus. Een semantisch-juridische studie,
Einleitung
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wertvoll die vorliegenden Studien für diese Untersuchung auch waren. Methodisch reicher ist die letztgenannte Arbeit, die als amerikanische Microfilmdissertation in Deutschland bisher nicht rezipiert wurde.14 Von den fünf Hauptkapiteln (Wortfeldanalyse dolus von Naevius bis Tacitus, dolus malus in den Rechtsformeln des Aquilius Gallus, dolus in Ciceros Moralphilosophie, dolus bonus bei Vergil und schließlich ein Kapitel über die List bei Tacitus) ist die Studie zu dem einzigen ausführlicher behandelten augusteischen Autor, Vergil, in einer überarbeiteten Form als Aufsatz erschienen.15 Abbot vertritt in seiner Arbeit die These, dass die Römer bis zur späten Republik den dolus von der Intention her definiert hätten, dann aber von einer solchen Gesinnungsethik hin zu einer Verantwortungsethik umgeschwenkt seien und mit der Reform des Aquilius Gallus den dolus vom verursachten Schaden her begriffen hätten.16 Diese Perspektive auf das Opfer der List macht er neben dem Recht auch bei Cicero, Vergil und Tacitus geltend. Die Ursache für diese letztlich ja negative Sicht der List sieht Abbot in den Bürgerkriegsunruhen, die Rom heimgesucht haben.17 Dies sind zwar sehr zentrale Gedanken für die Einordnung der Listproblematik in Rom, dennoch greift auch dieser Ansatz in mancherlei Hinsicht zu kurz: Zum einen ist dolus zwar im römischen Recht, aber eben nicht in der römischen Literatur der wichtigste Ausdruck, um listiges Handeln zu bezeichnen. Zum anderen nimmt sich Abbot vor, das Spannungsfeld von literarischem und juristischem Gebrauch von dolus integrativ auszuloten und beide Gebrauchsformen in ihrer Durchdringung zu untersuchen (S. 1f.). Dabei ist Abbots Deutung der List in der Aeneis im Großen und Ganzen zuzustimmen, wenn es darum geht, dass diese immer gegen den Verursacher ausschlägt; aber schon das Konzept der Liebeselegie, bei der Listen ebenfalls immer zum Scheitern verurteilt sind und aus der Perspektive des Getäuschten wahrgenommen werden (eine Ausnahme ist Ovid) lässt sich aus einem Vergleich mit dem juristischen dolus malus nicht mehr erklären und wird von Abbot auch nicht eigens behandelt. Auch Abbots Deutung von Ciceros moralphilosophischer Nijmegen 1999 (zwei durchgängig paginierte Bände), besonders Bd. 1, S. 5 – 316. James C. Abbot Jr., Roman Deceit: Dolus in Latin Literature and Roman Society, (Microfilm-Diss. UMI Microform 9730478) Chapel Hill 1997. Hinzu kommt noch eine kurze Analyse des terminus ‚coniuratio‘ bei Victoria Emma Pagán, Conspiracy Narratives in Roman History, Austin 2004 und eine Wortfeldanalyse zu fallax bei Ugo Zuccarelli, L’ agg. „fallax“ e il topos del „seruus fallax“, in: Pol Defosse (Hg.), Hommages à Carl Deroux, Bd. 1, Brüssel 2002, S. 539 – 543. 14 Ich habe mich bei der Arbeit Abbots um eine besonders hohe Dichte an Belegen bemüht, um das Defizit ihrer schlechten Verfügbarkeit ein wenig auszugleichen. 15 James C. Abbot, The Aeneid and the Concept of dolus bonus, in: Vergilius 46 (2000), S. 59 – 82. 16 Abbot (1997) S. 6, 81. Abbot meint die Terminologie von Max Weber (ich zitiere eine gängige deutsche Ausgabe), Politik als Beruf. Nachwort von Ralf Dahrendorf, Stuttgart 1992, S. 70. 17 Abbot (1997) S. 125 – 126, 202 und passim.
16
Einleitung
Konzeptionalisierung in De officiis ist sicher korrekt, aber es handelt sich doch oft um gerade die Stellen, in denen der Redner die Einführung der actio de dolo und der exceptio doli des Aquilius Gallus explizit diskutiert und die den Rechtshistorikern als Hauptquelle für die Stoßrichtung von dessen Reform dienen; insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich mit diesen Zitaten eine solche Konzeption auch bei Cicero belegen lässt. Es sind überhaupt Bedenken anzumelden, ob die Frage des Perspektivwechsels vom Listigen zum Geprellten wirklich als Erklärung für die vielgestaltige und gar nicht eindeutige Sicht der List durch die Römer ist. Die Auswahl der Autoren ist nicht repräsentativ und nimmt das Ergebnis in gewisser Weise vorweg.18 Insgesamt fügt sich diese Arbeit im Vergleich zu Wheelers Studie wieder mehr in die klassische Sichtweise ein, nach der die Römer als Volk der fides die List perhorresziert haben, auch wenn sie sie anders motiviert (über fides wird bei Abbot vielleicht sogar zu wenig gesprochen). Das ändert aber nichts daran, dass Abbot in seinen Studien dennoch zu sehr wichtigen Aussagen und Beobachtungen über das römische Verständnis der List kommt und dass seine Wortfeldanalyse des dolus weit über diesen einen terminus19 hinausgreift und zu grundsätzlicheren Fragestellungen kommt. Insgesamt ist seine Herangehensweise, Literatur mit nichtliterarischen Diskursen und Praktiken zu konfrontieren, einer rein begriffsphilologischen Arbeit überlegen. Neben diesen Monographien existiert noch eine Reihe von Spezialuntersuchungen zur fraus Punica und zum dolus malus im Recht, die jeweils an gegebener Stelle diskutiert werden. Es ist wohl gerade die definitorische und moralische Uneindeutigkeit gewesen, welche die List als Forschungsgebiet für Rom nicht hat zentral werden lassen. Im Sammelband zur Freiburger Ringvorlesung über die List (1995/1996), die der Sinologe Harro von Senger initiiert hat,20 gibt es bezeichnenderweise einen Beitrag zur List bei den Griechen,21 aber keinen zur römischen List. Auch sonst sind bisher die meisten Untersuchungen zu diesem Thema gräzistischer Provenienz, allen voran die meisterhafte Studie 18
Cicero ist als Philosoph immer ethischer als etwa als Rhetoriker; dessen Listgebrauch beschreibt eindringlich Wilfried Stroh, Taxis und Taktik. Die advokatische Gerichtskunst in Ciceros Gerichtsreden, Stuttgart 1975. Tacitus’ Imagination einer verborgenen und damit listigen Herrschaft („Suspicious Society“ bei Abbot [1997] S. 8) kommt letztlich auch nicht überraschend, außerdem übersieht Abbot, dass sich Tacitus gar nicht so sicher ist, ob List nicht gerade in der Außenpolitik die bessere Taktik sein könnte, dazu Christopher Pelling, Tacitus and Germanicus, in: T. J. Luce/ A. J. Woodman (Hgg.), Tacitus and the Tacitean Tradition, Princeton 1993, S. 59 – 85, 80f. 19 Auch in den Einzelanalysen z.B. zu Tacitus vgl. Abbot (1997) S. 166 mit Anm. 13, wo er das gesamte Wortfeld der List bei Tacitus präsentiert. 20 Harro von Senger (Hg.), Die List, Frankfurt am Main 1999. 21 Renate Zoepffel, Die List bei den Griechen, in: von Senger (1999), S. 111 – 133. Eine gewisse Berücksichtigung erfährt Valerius Maximus im Beitrag von Peter Walter, List in ungewohntem Gewande: „vafrities“, in: von Senger (1999), S. 176 – 195. Hier außerdem einige Reflexe zum Wort uafer im klassischen Latein.
Einleitung
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von Detienne und Vernant,22 die besonders in den Kapiteln zu Ovid Beachtung finden wird, aber auch eine Monographie zum Schelm (trickster) bei Herodot23 und über das Konzept der Täuschung in der athenischen Polis.24 Stand für die Römer das listige Wesen des Odysseus im Besonderen und der Griechen im Allgemeinen außer Frage,25 so scheinen auch für die moderne Forschung die Abenteuer des listigen Ithakers, der Opferbetrug des Prometheus, die erotischen Listen der Venus einen Dualismus von Griechenland und Rom zu befördern. Griechische Götter können ohne Fesseln der Moral handeln und ihre Mythen zeigen einen vergleichsweise vorurteilsfreien Gebrauch der List. Die Römer kannten solches Götterhandeln nicht (und nach manchen modernen Definitionen haben sie deshalb gar keine Mythen). Romulus selbst, so erzählt es Dionys von Halikarnass, soll die anstößigen Göttererzählungen aus der römischen Religion verbannt haben.26 Auch heute noch wird ernsthaft mit volkskundlichen Studien argumentiert, die das angeblich listige Wesen der modernen Griechen belegen.27 Dabei legen Studien zur Lüge – sie sind übrigens gerade, was die übergreifende theoretische Literatur angeht, viel häufiger als solche zur List28 – nahe, dass jede Kultur 22
Marcel Detienne/ Jean-Pierre Vernant, Les ruses de l’intelligence. La mètis des Grecs, o. O. (Flammarion) 1974. 23 Andrea Bencsik, Schelmentum und Macht. Studien zum Typ des sophos aner bei Herodot, Bonn (Diss.) 1994. 24 Jon Hesk, Deception and Democracy in Classical Athens, Cambridge 2000. 25 Bereits in einem Fragment aus Ennius’ Medea (253 – 261 Warmington; 103 Jocelyn) ändert der römische Dichter das Original des Euripides (Med. 1 – 8) entsprechend ab. Medea klagt dort über die List der Argiver, davon hatte Euripides nicht gesprochen. Argiui in ea delecti uiri/ uecti petebant pellem inauratam arietis/ Colchis, imperio regis Peliae, per dolum. Anthony J. Boyle, An Introduction to Roman Tragedy, London – New York 2006, S. 72 bezieht dies auf die „decades of collapsing Rome-Greece treaties“ und erkennt (wie bereits H. D. Jocelyn, The Tragedies of Ennius. The Fragments edited with an Introduction and Commentary by. H. D. Jocelyn, Cambridge 1967, S. 355) die Opposition der List zum römischen uirtus-Ideal. 26 Fritz Graf (1993b), Der Mythos bei den Römern. Forschungs- und Problemgeschichte, in: Fritz Graf (Hg.), Mythen in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms, Stuttgart – Leipzig 1993 (Colloquium Rauricum Bd. 3), S. 25 – 43, 31. 27 John Arundel Barnes, A Pack of Lies. Towards a Sociology of Lying, Cambridge 1994 (ND 2003), S. 72 – 75; dazu Abbot (1987) S. 17 mit Anm. 32. 28 Sissela Bok, Lying. Moral Choice in Public and Private Life. With a New Preface by the Author, New York – Toronto 1999; Barnes (2003); Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, München 21993; Louise H. Pratt, Lying and Poetry from Homer to Pindar: Falsehood and Deception in Archaic Greek Poetics, Ann Arbor 1993; Christopher Gill/ T. Peter Wiseman (Hgg.), Lies and Fiction in the Ancient World, Exeter 1993 (für den römischen Bereich noch am interessantesten: T. Peter Wiseman, Lying Historians. Seven Types of Mendacity, in: Gill/ Wiseman [1993], S. 112 – 146); Peter Walcot, Odysseus and the Art of Lying, in: Anc. Soc. 8 (1977), S. 1 – 19; Oliver Hochadel/ Ursula Kocher (Hgg.), Lügen und Betrügen. Das Falsche in der Geschichte von der Antike bis zur Moderne, Köln – Weimar – Wien 2000; Robert Hettlage (Hg.), Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, Konstanz 2003; Mathias Mayer (Hg.), Kulturen der
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andere Lizenzen für Lügen (und wir dürfen wohl ergänzen: für Listen) erteilt und dass die Unterstellung eines lügnerischen Wesens bei einem anderen Volk eher daher rührt, dass im interkulturellen Kontakt das Wahrheitsgebot, das Grundlage jeder Kommunikation sein muss,29 auf Feldern enttäuscht wurde, die für die eine Kultur zentral, für andere aber nebensächlich erscheinen. „[I]l dolus non era in genere e di per sé, in Roma e in Grecia, considerato come azione riprovevole.“30 Die römische Listfeindlichkeit gibt es zu bestimmten Zeiten (beginnend mit den großen Kriegen gegen Pyrrhus und die Karthager) und in bestimmten Bereichen, nämlich in politicis; und da Geschichtsschreibung und historische Epik in der römischen Literatur eine privilegierte Stellung einnehmen (und auch Lyrik und Elegie der „klassischen“ Zeit in besonderer Weise politisiert sind), kann der Eindruck entstehen, die Römer könnten mit der List gar nichts anfangen. Ebenso aber sind Homer, Hesiod und Herodot zwar zentrale Autoren für das griechische Selbstverständnis – Autoren, für die die kulturelle Produktivität der List nicht zur Debatte steht31 –, für den politischen Diskurs des demokratischen Athen während des fünften Jahrhunderts aber stellt Hesk fast die gleichen moralischen Grundsätze fest, wie wir sie seit der hohen Republik in Rom ausmachen können: Die List wird dem Gegner unterstellt, für die eigenen Militärs sind Täuschungen – von der Ideologie her – selbst im Krieg tabuisiert und werden nur den adoleszenten Männern während einer Initiationsphase gestattet.32 Diese Grundformation ist offenbar in der Koine ein besonders taugliches Modell und in ihrer Logik („wir sind ehrlich, listig die anderen“) nicht eigentlich überraschend. Immerhin hat Beck der römischen Selbststilisierung als Volk der fides mit einiger Vehemenz widersprochen. Auch ist sein Thema nicht die List, sondern die Lüge. Aber Beck unternimmt nicht im Entferntesten den Versuch, die verschiedenen Typen, Motivationen und Funktionsweisen der Lüge zu kategorisieren,33 und bleibt letztlich selbst in einem moralisierenden Diskurs Lüge, Köln – Weimar – Wien 2003, darin: Jan-Wilhelm Beck (2003a), Kulturen der Lüge – im antiken Rom?, S. 167 – 197. Ders. (2003b), Die Lüge im antiken Rom, in: Rolf Kussl (Hg.), Spurensuche, München 2003 (Dialog Schule und Wissenschaft. Klassische Sprachen und Literaturen XXXVII), S. 49 – 84. 29 Beides, das grundsätzliche Gebot der Wahrhaftigkeit als Grundlage der Kommunikation und die kulturell verschiedenen Lizenzen behandelt Bok (1999) S. 30f. (principle of veracity), S. 57 – 72 (white lies). 30 Carcaterra (1970) S. 216. 31 Das gilt auch für Hesiod, auch wenn die Werke und Tage einen generell listfeindlichen Rahmen entwerfen (Betonung der dike gegenüber dem betrügerischen Bruder Perses, monotheistisches Zeusbild); der Opferbetrug in Mekone wird in seiner Produktivität für den Menschen verstanden. 32 Hesk (2000) S. 86ff. und passim. 33 Sogar die römischen Gründungsmythen firmieren bei ihm als Lüge (Beck [2003a] S. 174; [2003b] S. 54), aus der naiven Überzeugung heraus, dass sie nicht wahr sind. Die
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stecken, wenn er eher entlarvt als analysiert: „Machen wir uns also nichts vor: Die Römer haben gelogen!“34 Damit stößt Beck aber nur in extremer Weise an ein Hindernis, das der Analyse der Lüge, besonders aber auch der List oft im Wege steht und das Harro von Senger besonders eindringlich benannt hat: die Listfeindlichkeit der Interpreten. 1.2 Definitionen der List „Gleichsam ein ethischer Vorhang versperrt demgegenüber dem westlichen Menschen den ungehinderten Blick direkt auf das Listphänomen. Ihn plagt in erster Linie immer und stets die Frage, ob denn nun die List etwas Gutes oder Schlechtes sei. So gerät er auf einen Holzweg, auf dem er sich nicht mehr mit dem Listphänomen, sondern mit den moralischen Emotionen befaßt, die dieses Phänomen, das er von der Sache her im Grunde gar nicht kennt, bei ihm hervorruft.“35 Wenn aber ein Begriff so stark von Werten und Emotionen geprägt ist, dass eine vorurteilsfreie Untersuchung erschwert wird, kann dies zwei Konsequenzen haben: 1. Es könnte eine Definition des Gesuchten erwünscht sein, die eine gewisse Unabhängigkeit von den emotional geprägten termini erreicht, ohne den Kontakt zu dem gesuchten Gegenstand zu verlieren (wertfreie Definition). 2. Diese Definition sollte in einem eigenen Begriff zusammengefasst werden (wertfreie Benennung). Freilich muss man sich fragen, ob diese Definition dem Wesen der List wirklich gerecht wird. Der Sinologe von Senger vertritt letztlich einen Dualismus von westlicher und östlicher Kultur und meint, die Chinesen gingen mit der List viel unbefangener um als die Europäer und Amerikaner. Es wurde aber eingangs schon darauf hingewiesen, dass wir es vermutlich (Verf. ist kein Experte für chinesische Kultur) eher mit anders gelagerten Lizenzen zu tun haben. So bietet von Senger ein Beispiel aus der chinesischen Außenpolitik, bei dem der chinesische Ministerpräsident Li Peng mit einer überraschenden Antwort die westliche Anmahnung der Menschenrechte umgangen habe. Der damalige deutsche Umweltminister Klaus Töpfer habe dies als zynisch empfunden, während man es doch in Kenntnis der chinesischen Strategenkultur als listig hätte erkennen und, nach von Sengers AnTrennung von Fiktion und Lüge verschwindet dabei fast ganz, vgl. immerhin (2003a) S. 168 und (2003b) S. 51. 34 Beck (2003b) S. 54. 35 Harro von Senger (1999b), Die List im chinesischen und im abendländischen Denken: Zur allgemeinen Einführung, in: von Senger (1999), S. 9 – 49, 28. Vgl. auch Harro von Senger, Die Kunst der List. Strategeme durchschauen und anwenden, München 32002, S. 9.
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sicht, wohl auch würdigen können. Es mag sein, dass Töpfer die chinesischen Strategeme nicht verinnerlicht hatte. Aber auch die westliche Politik ist reich an Listen und Lügen, die in unserer Kultur zum Teil durchaus akzeptiert sind. So können aufmerksame Zeitungsleser die komplizierten politischen Verlautbarungen von Gipfeltreffen und geheimen Kabinettskonferenzen durchaus bis zu einem gewissen Grade decodieren, ohne zu erwarten, dass die Politiker wirklich wahrheitsgemäß den Inhalt dieser Gespräche wiedergeben. Von Senger selbst zögert nicht, dafür reichlich Beispiele zu bringen.36 Aber es ist doch so, wie ebenfalls oben schon mit Bezug auf Bok ausgeführt wurde, dass die List, wie auch die Lüge, immer nur auf der Grundlage eines grundsätzlichen Wahrheitsgebots kenntlich und wirksam wird. Kommunikation geht immer davon aus, dass in der Regel wahre Botschaften übermittelt werden. Sogar die Teufel müssen untereinander die Wahrheit sagen, wie Samuel Johnson es einmal sinngemäß formuliert hat, weil sie sonst keine erfolgreiche Kommunikation aufrechterhalten könnten.37 Damit stellt die List wie die Lüge immer eine Herausforderung an die Kommunikation dar und kann nicht wertfrei gesehen werden. Die List, die immerhin oft die Buchstaben einer Abmachung einhält, ihren Sinn aber unterläuft, stellt sogar mehr als die Lüge eine Dynamisierung der Kommunikationsroutine dar, die immer wieder auf ihre Grundlage, nämlich Wahrhaftigkeit, verweist. Die List ist ohne die Dimension der Verlässlichkeit nicht zu verstehen. Die List verflüchtigt sich als kulturelles Phänomen, sobald sie allein als eine bestimmte Form von Handlung verstanden wird, mit der Gelegenheiten ‚ausgemünzt‘, Wirklichkeiten vorgegeben oder verborgen, Informationen beschafft und ganz allgemein Probleme unkonventionell gelöst werden. Man kann das auch daran sehen, dass fast alle einschlägigen Veröffentlichungen Harro von Sengers den terminus List im Titel führen, weil es dieser ist, und nicht der neutrale Begriff des Strategems, der das Phänomen zum Leben erweckt. Man könnte dies selbst als eine List bezeichnen, mit der das Strategem im trojanischen Pferd der List auftritt, denn der Begriff der List ist gerade wegen seiner moralischen Ambiguität deutlich faszinierender als der des Strategems.38 Dennoch ist es sicherlich kein Fehler, sich mit Harro von Senger, der den emotional aufgeladenen terminus ‚List‘ durch das neutralere ‚Strategem‘ ersetzen möchte, um eine möglichst präzise Definition der List zu bemühen. Von Senger nähert sich seinem Gegenstand von zwei Richtungen: zum ei36
von Senger (1999b) S. 44f. (Li Peng – Töpfer. Die Beispiele aus westlicher List finden sich passim, z.B. S. 35). 37 Bok (1999) S. 18f. Ich habe das Originalzitat nicht eingesehen, Bok S. 293 nennt als Quelle: S. Johnson, The Adventurer 50 (28. April 1753), in: Selected Essays from the Rambler, Adventurer and the Idler, ed. W. Bate, New Haven – London 1968 (ohne Seite). 38 Franz Buggle, Denn sie wissen nicht, was sie tun: Listig – ein konstituierendes Merkmal des Psychischen? in: von Senger (1999), S. 446 – 458, 448f.
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nen von den 36 Strategemen aus dem ca. 500 Jahre alten chinesischen Traktat Sanshiliu Ji,39 zum anderen von der durch ihn in eigenwilliger Weise modifizierten Definition aus dem Duden. Die 36 Strategeme beschreiben in sentenzenhaft-metaphorischer (z.B. Nr. 10: „Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen“40) Weise Handlungsmuster, die das Phänomen der List kasuistisch, aber nicht mit dem Anspruch systematisch-erschöpfender Behandlung einkreisen. Das kann man auch daraus ersehen, dass es in China noch andere Strategemkataloge gegeben hat, die deutlich über die Zahl 36 hinausgehen.41 Es ist immerhin ein Zeichen westlichen kategorialen Denkens, wenn Harro von Senger diese Strategeme in (erst sieben und dann) drei Gruppen einteilt, um so zu einer Typologie der List zu kommen:42 Er unterscheidet daher Täuschungsstrategeme (Vertuschung oder Vortäuschung), Präsenzstrategeme (bei denen ein günstiger Moment ausgenutzt wird: Flucht und Improvisation) und Mischstrategeme, die auf einer Verknüpfung oder Verkettung mehrerer gleich- oder verschiedenartiger Strategeme beruhen. Wir können aus diesem Vorgehen ein Ergebnis und eine Hypothese gewinnen. Das Ergebnis lautet: Täuschung und Betrug sind potentieller, aber nicht fester Bestandteil der List.43 Die Hypothese: Die verschiedenen Kategorien der List aus der Feder von Sengers und der Umstand, dass die Chinesen selbst beliebig große Kataloge erstellen (und damit immer mehr Aspekte integrieren), könnten darauf hinweisen, dass sich keine wirklich befriedigende Definition der List zuwege bringen lässt. Der Duden bietet für das deutsche Wort „List“ folgende Erklärung: „Mittel, mit dessen Hilfe man (andere täuschend) etw. zu erreichen sucht, was man auf normalem Wege nicht erreichen könnte.“44 Von Senger hat sich mit dieser Definition nicht zufrieden gegeben und deshalb eine briefliche Erläuterung beim Leiter der Dudenredaktion eingeholt, nach der „das Wort ‚List‘ auch ohne die Bedeutungskomponente ‚Täuschung‘ gebraucht werden kann.“45 Dies führt zu einer zweiten, weiter gefassten Listdefinition, die näher an dem ist, was der Sinologe als Strategem bezeichnet: „Mittel, mit dessen Hilfe man etwas zu erreichen sucht, was man auf normalem Wege nicht
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von Senger (1999b) S. 22f. von Senger (1999b) S. 31. 41 von Senger (1999b) S. 32. 42 von Senger (1999b) S. 33 – 35. 43 von Senger (1999b) S. 34 und (2002) S. 13 – 16. 44 von Senger (1999b) S. 10 benutzt Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden, Band 5, Mannheim 1994, S. 2137. Die Definition hat sich im zehnbändigen Duden von 1999 nicht geändert (Verf. verwendete die darauf basierende CD-Rom, Mannheim 2000). 45 von Senger (1999b) S. 10. 40
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erreichen könnte.“46 Diese Definition ist allerdings wieder so allgemein, dass sie eigentlich alles abdeckt, was der Mensch durch Erfindungsgabe erreicht. Bevor wir sie verwerfen, sollten wir uns aber bewusst machen, dass hier in der Tat eine Verbindung von List und Erfindungsreichtum aufscheint, die etwas über das Wesen der List aussagt. (s.u. die Ausführungen zur griechischen Metis). Dennoch erweitert von Senger seine Definition: „Jedes Strategem umfaßt folgende vier Komponenten: Es ist ein (1) bewußt, (2) mit Schläue eingesetztes (3) Mittel, und zwar ein (4) außergewöhnliches, mit dessen Hilfe von einem Ausgangspunkt aus ein Ziel erreicht werden soll.“47 Aber auch diese Definition verweist auf weitere terminologische Schwierigkeiten: Schläue und Außergewöhnlichkeit sind wiederum erklärungsbedürftig. Von Senger muss selbst einräumen, dass Außergewöhnlichkeit ein relativer Begriff ist, der von den jeweiligen Kontexten abhängt48 (so erläutert ist dieser Aspekt freilich unverzichtbar, s.u.). Schläue wiederum umfasst nach der von ihm erneut bemühten Dudendefinition „die Fähigkeit, seine Absichten mit geeigneten Mitteln, die anderen verborgen sind oder auf die sie nicht kommen, zu erreichen.“49 Damit scheint die Täuschung fast schon wieder in die Definition hineingeraten zu sein, doch von Senger präzisiert richtig, dass es hier eigentlich um ein „Wachheits- und Kenntnisstandsgefälle“50 geht. Der Listige muss keine Täuschung inszenieren, sondern unterläuft Erwartungen seines Gegenübers. Das eigentliche Problem dieses Vorgehens hat der Linguist Herbert Pilch sehr scharfsinnig benannt: „Das Wörterbuch ist keine Enzyklopädie!“51 Der Duden gibt Auskunft über einen bestimmten Sprachgebrauch, aber er definiert keine Begriffsfelder, für die er keine weiteren erklärungsbedürftigen termini verwenden dürfte.52 Dieser Hinweis braucht nicht dazu zu führen, das Kind mit dem Bade auszuschütten und die Ergebnisse, die von Senger bei seinem Umweg über den Duden gewonnen hat, beiseite zu schieben. Ich möchte daher, bevor ich die generellen Probleme einer Definition näher beleuchte, eine eigene Definition der List geben, deren Inhalt ebenfalls im Folgenden erläutert wird. Die List ist eine Handlung, die unter Ausnutzung verborgener Umstände die Handlungserwartung eines Anderen, die auf der Konventionalität menschlichen Handelns
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von Senger (1999b) S. 10. von Senger (1999b) S. 11. 48 von Senger (1999b) S. 12. 49 von Senger (1999b) S. 11. 50 von Senger (1999b) S. 12. 51 Herbert Pilch, Listige Rede. Was man sagt und doch nicht sagt, in: von Senger (1999), S. 345 – 385, hier: S. 366. 52 Pilch (1999) S. 350. 47
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beruht, enttäuscht, um im Rahmen eines Interessenkonfliktes einen Vorteil zu erlangen. Diese Definition ist gewiss nicht ganz einfach formuliert, aber sie hat m. E. doch den Vorteil, dass sie alle Erscheinungsformen der List abdeckt (Improvisation, Täuschung, Ausnutzen von Gegebenheiten) und außerdem keine inhaltlich zu wenig determinierten Begriffe verwendet. Auch sie ist beeinflusst von einem deutschen Wörterbuch, aber nicht dem Duden oder dem Grimm, sondern von Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart aus dem Jahre 1793. Er definiert List „[i]n engerer und jetzt gewöhnlicher Bedeutung [als] die Fertigkeit, sich dem andern verborgener Umstände zur Erreichung seiner Absicht vorteilhaft zu bedienen.“53 Die Stärke dieser Definition ist der Verzicht auf den Begriff der Ungewöhnlichkeit, eine Schwäche mag man darin erkennen, dass diese Definition List nicht als einer Handlung, sondern als einer Fertigkeit beschreibt, was wohl damit zusammenhängt, dass Ende des 18. Jahrhunderts der alte Gebrauch von List als Wissen und Kunst noch näher lag. Ansonsten ist die Definition der von Sengers doch in weiten Teilen überlegen, denn sie definiert die List nicht als ein Mittel, irgendein Ziel zu erreichen, sondern situiert sie fest im Wettbewerb zweier gegenläufiger Interessen. Besonders der Ausdruck der Verborgenheit der Umstände, derer sich der Listige bedient, drückt das „Wachheits- und Kenntnisstandsgefälle“54 universal aus: Es wird offen gelassen, ob diese Verborgenheit künstlich hergestellt wird (Täuschung), ausgenutzt wird (Überraschung) oder einfach dadurch zustande kommt, dass der Eine eine bestimmte Gelegenheit nicht sieht, die der Andere auszunutzen in der Lage ist („Ausmünzung“).55 Es war aufgrund des geänderten Sprachgebrauchs daher eigentlich nur nötig, die Definition von einer Kompetenz auf eine Performanz umzuschreiben. 56 Dabei wurde noch zusätzlich der Gedanke der Konventionalität sozialen, politischen oder militärischen Handelns betont, um ein Gegengewicht zur Konnotation der Täuschung zu schaffen, die im Ausdruck „verborgene Umstände“ enthalten ist. List ist 53
Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Leipzig 1793 (Digitale Bibliothek Nr. 40), s.v. Die List, Sp. 2079f., Nr. 2. (Sp. 2079). 54 von Senger (1999b) S. 12. 55 Die „Verborgenheit“ kann sogar im Offensichtlichen liegen. In der Geschichte Der entwendete Brief von Edgar Allan Poe wird ein Brief dadurch versteckt, dass man ihn offen herumliegen lässt. 56 Man könnte dies sogar unterlassen, wenn man akzeptiert, dass bei einer Fertigkeit bzw. Kompetenz sowohl an Anwendung als auch an Besitz eines Wissens gedacht ist. Das Grimmsche Wörterbuch unterscheidet zwischen dem „hinterhältige[n] rechnen zu gunsten eines eigenen vortheils“ und der „bethätigung dieser eigenschaft“ (Band 6, Lieferung 6, s.v. List, bearb. von M. Heyne 1880). Mir scheint es aber notwendig zu sein, in der Definition eindeutiger auf die Handlungskomponente zu verweisen.
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nicht einfach Täuschung, sondern sie ist ein Mittel, bei dem die Kontingenz der Wirklichkeit gegen die Konventionalität der Kommunikation ausgespielt wird. Zuallererst wird eine Handlungserwartung vorsätzlich durchkreuzt (das ist es, was von Senger ja ganz richtig mit der Außergewöhnlichkeit der List einfangen wollte. Beim Ulenspiegel-Beispiel wird sich dieser Aspekt unten in drastischer Deutlichkeit zeigen). Listen treten außerdem immer da auf, wo zwei Personen oder Parteien gegensätzliche Ziele haben. Eine Aushandlung innerhalb konventioneller Kommunikation erscheint der einen Partei fruchtlos, weil sie absehen kann, dass sie hier unterlegen sein oder es allenfalls auf eine Aporie hinauslaufen wird. Mit der Kontingenz der Wirklichkeit ist zunächst einmal nichts anderes gemeint, als dass Götter, Menschen, Tiere, die Natur sich anders verhalten, als menschliche Beschreibungsmodelle es erwarten lassen. Auch eine wissenschaftliche Theorie, sogar im Bereich der angeblich so zuverlässigen Naturwissenschaften, kommt nur durch Reduzierung der komplexen Wirklichkeit zu wahren Aussagen. Insofern hinkt Wahrheit der Wirklichkeit immer hinterher.57 Die Täuschung ist daher nur eine besonders dreiste Form, Wirklichkeit gegen Wahrheit auszuspielen. Penelope verspricht den Freiern, einen von ihnen als Gatten zu wählen, wenn sie ihre Webarbeit vollendet habe. Nachts aber löst sie das Gewebe immer wieder auf, um die Freier hinzuhalten. Sie ist in Wirklichkeit keine brave Witwe, die sich an ihre Zusagen hält, sondern die listige Frau des listigen Odysseus. Viel öfter aber reden wir vom listigen Handeln, wenn es um das schnelle, improvisatorische Erfassen von Möglichkeiten geht, die andere gar nicht auf der Rechnung hatten. Das wird merkwürdigerweise bei der Definition der List oft vergessen, während es im Sprachgebrauch ganz offensichtlich dazugehört. So erzählt Sueton von Julius Caesar die bekannte Episode (Iul. 59): Ne religione quidem ulla a quoquam incepto absterritus umquam uel retardatus est. cum immolanti aufugisset hostia, profectionem aduersus Scipionem et Iubam non distulit. prolapsus etiam in egressu nauis uerso ad melius omine: ,teneo te‘, inquit, ,Africa‘. ad eludendas autem uaticinationes, quibus felix et inuictum in ea prouincia fataliter Scipionum nomen ferebatur, despectissimum quendam ex Corneliorum genere, cui ad opprobrium uitae Saluitoni cognomen erat, in castris secum habuit. Als Caesar in Afrika landet und das Schiff verlassen will, strauchelt er und fällt auf den Boden. Dies ist, wie Sueton, der den Vorfall als Beispiel für Caesars Rücksichtslosigkeit im Umgang mit religiösen Bedenken erzählt, 57
von Senger (1999b) S. 33 spricht im gleichen Sinne von der „aus unstrategemischer Sicht widerborstigen Wirklichkeit“. Vgl. auch Sybille Krämer/ Marco Stahlhut, Das „Performative“ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie, in: Paragrana 10,1 (2001), S. 35 – 64, 43.
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deutlich macht, eigentlich ein schlechtes Omen für die afrikanischen Unternehmungen des Juliers. Aber Caesar deutet das Vorkommnis blitzschnell um. Dies ist keine Täuschung, kein Betrug, ja es ist sogar in gewisser Weise ein Verhalten innerhalb der Normen römischer Religionsausübung, nach denen der Feldherr und Magistrat nicht einfach Empfänger metaphysischer Zeichen, sondern durch seine Körpergesten Mitgestalter in der übermenschlichen Sphäre der Natur ist.58 Dennoch kann Sueton nicht anders, als die geistesgegenwärtige Improvisation des Feldherren als das zu benennen was sie ist: eine List (eludere59). Aus diesem Grund ist in den Titel dieser Arbeit die Improvisation aufgenommen worden, nicht, weil hier jede technische Improvisationsleistung der Römer untersucht werden soll, sondern weil der deutsche Begriff List, sofern er definitorisch gelesen wird, sonst reduktionistisch verstanden werden könnte. Schläue, Geistesgegenwart und Geschwindigkeit. Doch es kommt noch ein weiteres Element hinzu. Es ist ja nicht einfach so, dass die List den Betrug und die Improvisation subsumiert; sie unterscheidet sich gerade von Ersterem durch eine inszenatorische Raffinesse, die vielleicht das Opfer einer List nicht immer zu erkennen mag, die aber gerade für die literarische Imagination eine nicht unwesentliche Rolle spielt: das Ausspielen – eludere – der List hat eine performative Seite. Wir treffen damit den Kern der List, verlassen aber die Reichweite einer Definition. 1.3 Die Performativität der List Es sollte deutlich werden, dass eine Untersuchung zur List in Rom nicht nur den unterschiedlichen Gebrauch des Begriffes bei den Römern und dem modernen Menschen der westlichen Welt (oder auch des alten China) zu berücksichtigen hat, sondern auch den Umstand, dass die Qualifizierung einer Handlungssequenz als List selbst, gemäß einer an unserem Verständnis orientierten Definition, letztlich an den Handlungskontexten hängt. Ich nenne dies die performative Dimension der List. Der Begriff des Performativen ist in letzter Zeit arg strapaziert worden und es ist abzusehen, dass er in nächster Zeit als Modebegriff verstanden und auch abgelehnt werden wird. Es ist daher geboten, ihn in seriöser Weise einzuführen und eine klare Vorstellung von dem zu vermitteln, was er bezeichnet.
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Dieser Aspekt wird im Kapitel zu Ovid in Anlehnung an das Buch von Anthony Corbeill, Nature Embodied. Gesture in Ancient Rome, Princeton – Oxford 2004 noch eingehender untersucht. 59 Wheeler (1988) S. 80f.:„ludificari (to make sport of, frustrate by tricks, deceive) and its cognates.“ (Zitat S. 80).
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Mit dem Performativen wird kulturelles Handeln als Handeln beschrieben. Es modifiziert so die nach dem linguistic turn erworbene Grundannahme, dass Kultur als Text zu beschreiben sei. Richtiger ist, dass semantische Systeme Teil einer Kultur sind, so wie die Produktion von Texten (geschriebenen wie gesprochenen) eine Form kulturellen Handelns ist. Es ist generell möglich, die semantischen Aspekte von Kultur auf Nicht-Textliches anzuwenden, indem man Bedeutungen von Riten, Artefakten und sogar Alltagspraktiken postuliert und ihre Beziehung zueinander analysiert. Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass es sich bei dem Paradigma von Kultur als Text um eine metonymische (synekdochische) Beschreibung handelt, in der das Ganze zwar von einem Teil verstanden wird, aber nicht mit ihm gleichzusetzen ist.60 Performativität ist ein von Performanz abgeleiteter Begriff. Performanz bezeichnet „die in eine face-to-face-Kommunikation eingebettete Aktion an sich.“61 Solche Handlungen zeichnen sich durch eine gewisse Flüchtigkeit, Kontingenz und semantische Unbestimmtheit aus. Sie beziehen sich zwar auf etablierte Bedeutungen, sind aber zugleich abhängig von kontingenten Kontexten wie dem Wetter, der Stimmung und Tagesform der Kommunikationsteilnehmer und dem räumlichen setting. Man kann dies an einem der List verwandten Phänomen deutlich machen:62 Der Erfolg eines Witzes, den man einem Anderen erzählt, hängt nur zu einem Teil am Skript der Pointe, genauso wichtig ist die Fähigkeit des Witzerzählers, die Geschichte gut zu vermitteln, die Stimmung, in der sich der Zuhörer befindet und die aktuelle Umgebung.63 Zwei an sich gutgelaunte Menschen können darauf verzichten, sich über einen Witz lautstark zu amüsieren, wenn sie sich gerade in einer Kirche aufhalten. Andererseits kann gerade die Atmosphäre der Kirche dazu beitragen, dass ein Witz besonders zündet, weil die solemne Atmosphäre den Wunsch nach Entlastung erzeugt. Diese Aspekte, die zum Gelingen oder Scheitern einer Äußerung beitragen, lassen sich nicht mit einer ontologischen Definition des Witzes in den Griff kriegen. 60
Denis Feeney, Interpreting Sacrificial Ritual in Roman Poetry: Disciplines and their Models, in: Alessandro Barchiesi/ Jörg Rüpke/ Susan Stephens (Hgg.), Rituals in Ink. A Conference on Religion and Literary Production in Ancient Rome held at Stanford University in February 2002, Stuttgart 2004, S. 1 – 21, 18f. Vgl. auch Peter Burke, Was ist Kulturgeschichte? Aus dem Englischen von Michael Bischoff, Bonn 2005, S. 133 – 142. 61 Hans-Jürgen Bachorski/ Werner Röcke/ Hans-Rudolf Velten/ Frank Wittchow, Performativität und Lachkultur in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Paragrana 10, 1 (2001), S. 157 – 190, 162. 62 Pilch (1999) S. 360f. Alexander Schwarz, Reineke Fuchs, Till Eulenspiegel und das Problem der List in Deutschland, in: von Senger (1999), S. 304 – 320, 304f. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 90. Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Ungekürzter Text nach der Erstauflage (1832 – 34), Frankfurt am Main – Berlin – Wien 1980, S. 178. 63 Helga Kotthoff, Spaß Verstehen, Tübingen 1998, Hans-Jürgen Bachorski, Poggios Facetien und das Problem der Performativität des toten Witzes, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 2 (2001), S. 318 – 335.
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Performativität wiederum bezeichnet als Eigenschaftssubstantiv zu Performanz den vermittelten Bezug von kulturellen Äußerungen auf Performanz. Damit ist konkret gemeint, dass man, besonders, wenn man Texte untersucht, keinen direkten Zugang zu kulturellen Performanzen (wie Ritualen, Festen, Reden, Gesprächen usw.) haben, sehr wohl aber Beziehungen thematisieren kann, die erzählte Ereignisse mit den Besonderheiten der face-toface-Kommunikation unterhalten. Um auch hierfür ein Beispiel zu geben: Ein römisches exemplum betont das Generalisierbare (sonst wäre es nicht exemplarisch) von ursprünglich einmaligen und situationsgebundenen Handlungen. Dennoch lassen auch die exempla zum Teil einen Reflex auf die ursprüngliche Situation zu, wenn etwa die Reaktionen des Publikums auf eine besonders asketische oder strenge Handlung mitberichtet werden. Besonders gut erhalten haben sich solche Reaktionen etwa auf das – rein von der Logik der res publica betrachtet tadellose – Verhalten des Manlius Torquatus, der seinen Sohn mit dem Tode bestraft hatte. Dessen triumphale Rückkehr nach dem Sieg über die Campaner und Latiner, wird situativ durch den Boykott der römischen Jugend getrübt (Val. Max. 9, 3, 4): Talis irae motus aut singulorum aut paucorum aduersus populum uniuersum: multitudinis erga principes ac duces eius modi. Manlio Torquato amplissimam et gloriosissimam ex Latinis et Campanis uictoriam in urbem referenti, cum seniores omnes laetitia ouantes occurrerent, iuniorum nemo obuiam processit, quod filium adulescentem fortissime aduersus imperium suum proeliatum securi percusserat. miserti sunt aequalis nimis aspere puniti: nec factum eorum defendo, sed irae uim indico, quae unius ciuitatis et aetates et adfectus diuidere ualuit. Valerius Maximus stellt dieses exemplum in den Kontext des negativ konnotierten Affekts des Zorns. Der Zorn über die Handlungsweise des Torquatus führt bei der iuuentus Roms zu einem Verhalten, das den politischen Konsens des Gemeinwesens in Frage stellt. Darin zeigt sich das Scheitern des politischen aduentus-Rituals. Es zeigt aber auch, dass schon das Bestrafungsexemplum, das Torquatus in den Bestand zitierfähiger exempla eingebracht hat, Handlungsalternativen zulässt. Wird es vordergründig zitiert, um die Strenge der patria potestas und die Unbedingtheit militärischer Disziplin zu exemplifizieren, so belegt es doch auch das mögliche Scheitern dieser Handlung, insofern sie auch dermaßen hätte perhorresziert werden können, dass der Spielraum der patria potestas in Zukunft beschränkt worden wäre.64 64
Von einem aduentus spricht man eigentlich erst für die Kaiser der Spätantike, aber der Bericht des Livius macht m. E. – denken wir an die ordnungsgemäße Begrüßung des geschlagenen Konsuls Varro nach Cannae (Liv. 22, 61, 13 – 15) – deutlich, dass die Begrüßung eines heimkehrenden Feldherren Ritualcharakter auch schon zu Zeiten der Republik hatte. Es wäre bei einem solch wichtigen öffentlichen Ereignis auch ungewöhnlich, wenn es anders wäre. Zur Problematik der Manlierexempel vgl. Flaig (2003) S. 78f.
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Das exemplum lässt also eine Möglichkeit des situativen Scheiterns noch erkennen. Performativität wird sehr häufig im Zusammenhang mit Scheitern thematisiert; die theoretische Grundlage dazu hat John L. Austin in seiner Sprechakttheorie geschaffen.65 Er hat darauf hingewiesen, dass die Bedeutung einer Aussage eigentlich von ihrer illokutionären und perlokutionären Dimension abhängig ist, die den konstativen Inhalt überhaupt erst verwirklicht. Eine Beleidigung hängt nicht an der Formulierung, die gewählt, sondern an den Umständen, unter denen sie geäußert wird (illokutionärer Akt), und der Bereitschaft des Angesprochenen, sich beleidigen zu lassen (perlokutionärer Akt). Aber auch, wenn eine Aussage nicht die beabsichtigte Wirkung (Perlokution) erreicht, also scheitert, zeitigt sie Wirkungen und schafft Fakten, wie man an dem Beispiel des Torquatus deutlich sehen kann. Der Verweis auf die ira, einen Affekt, betont hier das Kontingente des politischen Rituals, auf das gerade im Bereich der römischen Politik in jüngster Zeit Egon Flaig vermehrt hingewiesen hat. Diesen Bereich des Situativen der Kommunikation mit in die Überlegungen einzubeziehen, bedeutet, sich mit der Frage des Performativen auseinander zu setzen. Das Performative steht nicht im Gegensatz zum Semantischen.66 Aus dem Blickwinkel der Performativität betrachtet stellt sich aber das Semantische nicht als ein fester Bestandteil eines Bedeutungsgewebes (eines Textes) dar, dessen Aktualisierungen mehr oder minder irrelevante Variationen einer der Gesellschaft konstant zur Verfügung stehenden Bedeutung sind, sondern gerade die Variation wird in den Blickpunkt des Interesses gerückt. Dieser Aspekt einer Kultur, die nicht Text ist, sondern Bedeutungen immer situativ erzeugt, wird bei der Untersuchung der List in den Metamorphosen eine Rolle spielen. Ein Theoretiker dieser Vorstellung von Kultur war der französische Philosoph Michel de Certeau. De Certeau geht durchaus von soziologischen Modellen aus, nach denen bestimmte Institutionen geregelte Kommunikationsformen hervorbringen, betrachtet aber diese Kommunikationsmuster lediglich als grobe Raster, innerhalb derer sich kreative Aneignungen von Produkten, Institutionen, Artefakten und Texten abspielen. Auch in der Semiologie Umberto Ecos ist diese Grundüberzeugung, nach der jeder Leser seinen eigenen Text produziert, schon lange etabliert. Jedoch ist gerade Eco ein Beispiel dafür, dass diese Überzeugung nicht zu einer Ablösung von Kultur als Text geführt hat. In der Terminologie de Certeaus spielt die List oder auch der Coup eine zentrale Rolle. Im Bereich des modernen Marktes etwa bestreitet de Certeau durchaus nicht, dass Konsumenten ein bestimmtes regelhaftes Verhalten an den Tag legen, mit denen sie großflächig manipulierbar erscheinen. Dennoch ist er der Auffassung, dass der konkrete 65
John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How To Do Things With Words), Stuttgart 1988. 66 Bachorski/ Röcke/ Velten/ Wittchow (2001) S. 165 und passim. 2
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Gebrauch eines Produktes durchaus von dem abweicht, was eine Marktbeobachtung ermittelt. Ein schönes, von ihm leider nicht ausgeführtes Beispiel67 ist etwa das Kochrezept: Es stellt einerseits die Wiederholbarkeit eines Essens in beliebig vielen Haushalten zu beliebig vielen Anlässen sicher, andererseits gibt es kaum jemanden, der ein Rezept nicht absichtlich (aufgrund von Geschmacksvorlieben) oder unabsichtlich (weil bei bestimmten Zutaten improvisiert werden muss oder weil bestimmte Handgriffe nicht stereotyp wiederholt werden können68) abändert. Die Essgewohnheiten einer Nation oder Gruppe würden daher anhand einer Umfrage der Lieblingsgerichte schlicht und ergreifend ungenügend erfasst. Strategie, Taktik, List und Finte sind die zentralen Begriffe in de Certeaus „Kunst des Handelns.“ In Auseinandersetzung mit dem deterministischen Machtkonzept Foucaults beharrt de Certeau auf der Existenz von „vielgestaltigen, resistenten, listigen und hartnäckigen – Vorgehensweisen (…), die der Disziplin entkommen, ohne jedoch ihren Einflußbereich zu verlassen, und die zu einer Theorie der Alltagspraktiken (…) führen müßten.“69 De Certeau leugnet also nicht, dass eine Gesellschaft Dispositive hervorbringt, die das Verhalten der Individuen steuern, er fragt aber danach, welche Bewegungsräume indeterminiert bleiben. Um es an dem berühmten Beispiel von Foucaults Überwachen und Strafen deutlich zu machen:70 Setzen wir als gegeben, dass das Überwachungssystem des 18./19. Jahrhunderts mit seinen Prüfungen (in der Schule) und seinen Kontrollen in den Gefängnissen in der Tat zu einer Disziplinierung der Gesellschaft geführt hat, so ist doch nicht zu leugnen, dass die Individuen oft sehr kreativ mit den ihnen zugewiesenen Spielräumen umgehen. Der Delinquent mag seine Zelle nicht verlassen dürfen, dennoch gelingt es ihm, Nachrichten oder verbotene Güter zu schmuggeln. Aus der Sicht des Disziplinierungsapparates mag diese Friktion unerheblich sein, für das Individuum macht es seine Lebensqualität aus. Das Schmuggeln ist eine Form der List, die nicht an den Stäben der Gefängnistür rüttelt, sondern deren Durchlässigkeit nutzt. Eine Haupteigenschaft der List ist daher, dass sie ein Prinzip unterläuft, ohne es preisgeben zu müssen: 71 Es ist vielleicht in diesem Zusammenhang nicht ohne hermeneutischen Wert, diese Aspekte der List auch an einem Beispiel der deutschen Literatur 67
de Certeau (1988) S. 24ff. spricht nur allgemein vom Kochen. Gunter Gebauer/ Christoph Wulf, Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998, S. 14. 69 de Certeau (1988) S. 187, Hervorhebung F.W. 70 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 101992. 71 So beschreiben auch Detienne/ Vernant (1974) S. 19 die Rolle der List (Metis) z.B. bei einem Wettkampf, in dem eigentlich Stärke eine Rolle spielt, als das Unterlaufen dieses Kräftemessens seitens des Schwächeren, als ein unerwartetes Nutzen des regulären Procedere. 68
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deutlich zu machen. Der Römer hat eine Vielzahl von termini, hinter denen sich die List verbirgt. Dolus etwa mag die erste Übersetzung sein, die in den Sinn kommt, aber dolus ist keineswegs ein besonders privilegierter Begriff für diesen Sinnbezirk. Die umfangreichen Wortfeldanalysen von Wheeler, Brotherton und Abbot (der freilich auf dolus und consilium fokussiert) machen dies deutlich. Dagegen ist die deutsche List durchaus die prominenteste Vokabel, um das Unterlaufen von Kommunikationsroutinen zur Sicherung von Partikularinteressen auszudrücken. Fragen wir also nach der List der Römer, suchen wir auch, zumindest am Anfang der Untersuchung, nach Äquivalenten für unser Listverständnis. In der 25. Histori [sic] des Ulenspiegel-Druckes von 151572 steht, wie Till Eulenspiegel vom Herzog von Lüneburg aus seinem Land verwiesen wird. Wenn er es wieder betrete, so solt man ihn fahen und dann hencke. Natürlich hält sich der Schelm73 nicht daran und wird eines Tages vom Herzog und seinem Gefolge aufgegriffen. Bevor man ihn fasst, steigt Eulenspiegel von seinem Pferd, schlitzt ihm den Bauch auf und stellt sich in dessen Eingeweide. Da reit der Fürst zu ihm und sprach: ‚Bist du da? Was thust du in dem Aß hie? Weist du nit, daz ich dir verbotten hon mein Land, und wann ich dich darin fünd, so wöl ich dich an ein Baum hencken lon?’ Da sprach er: ‚O gnädigster Herr und Fürst. Ich hoff, Ihr wellent mir des Leibes begnaden. Ich hab doch nit so ubel gethon, daz doch Henckens wert ist.‘ Der Hertzog sprach zu ihm: ‚Kum her zu mir und sag mir doch dein Unschuld. Und was meinst du doch darmit, das du also in der Pferdßhut stast.‘ Ulenspiegel der kam herfür und antwurt: ‚Gnädiger und hochgeborner Fürst! Ich besorg mich Euwer Ungnad und förcht mich gantz ubel. So hon ich all mein Lebtag gehört, das ein jetlicher sol Frid haben in seinen vier Pfälen.‘ Da ward der Hertzog lachen und sprach: ‚Wilt du nun auch mer uß meinem Land bleiben?‘ Ulenspiegel sprach: ‚Gnädiger Her, wie Euwer fürstlich Gnad wil.‘ Der Hertzog reit von ihm und sprach: ‚Bleib als du bist.‘ Abgesehen davon, dass man an diesem Beispiel sehr gut ermessen kann, inwiefern die List ein „außergewöhnliches Mittel“ darstellt, und wie dem Herzog der Sinn dieser Installation trotz ihrer aggressiven „Offensichtlichkeit“ verborgen ist, wird hier zugleich der situative Charakter der List deutlich: Eulenspiegel stellt zu keinem Zeitpunkt die Entscheidungsgewalt 72
Wolfgang Lindow (Hg.), Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515, Stuttgart 1978. 73 Zum Begriff des Schelms = trickster vgl. Bencsik (1994); Zoepffel (1999) S. 120f.; Pratt (1993); Frank Wittchow (2005c), Der Dichter auf der Suche nach seiner Rolle. Zur persona in den Jamben des Horaz, in: A & A 51 (2005), S. 69 – 82; Peter von Matt, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München – Wien 2006, S. 277 – 287.
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des Herzogs in Frage. Er kann sich bis zuletzt nicht sicher sein, ob dieser die eigenwillige Interpretation der alten Rechtsauffassung, nach der Hausfrieden innerhalb der vier Begrenzungspfähle herrschen soll,74 gegen sein eigenes Gebot, das Eulenspiegel aus Lüneburg ausgewiesen hat, ausspielen wird. Der Erfolg ist zunächst ein situativer: Eulenspiegel wird nicht hingerichtet. Das wird in dem Moment deutlich, als der Herzog in Lachen ausbricht. Es ist ja kein Zufall, dass listig und lustig gern als zwei Seiten derselben Medaille aufgefasst werden.75 Das Lachen des Herzogs offenbart, dass der Erfolg der List, fast sogar die Qualifizierung der List als List, von einer situativen und als solcher unwägbaren Reaktion abhängt. Wenn der Herzog sich nicht hätte amüsieren lassen, wäre die ganze Inszenierung hinfällig geworden. In der Geschichte vom Herzog und Ulenspiegel sind wichtige Elemente von Listgeschichten erhalten:76 das Lachen, das Unterlaufen bestimmter Aussageabsichten und die schnell gemachte Beute. Auffälligerweise ist es aber der Herzog, der lacht, obwohl streng genommen er der Geschädigte ist. Gleichzeitig ist er es, der durch sein Wegreiten die Beute ermöglicht.77 In vielen Listgeschichten ist es so, dass Dritte über den Geschädigten lachen, ja dass die Komik der Erzählung ganz dem Leser anvertraut wird und im Text selbst nur der Listenreiche und der Ausgetrickste auftreten. Ferner muss sich normalerweise der Listige rasch mit seiner Beute davon machen, denn er kann in der Regel nicht darauf hoffen, dass der Geschädigte nicht irgendwann eine Gegenlist ersinnt, mit der er den Erfolg des Angreifers wieder zunichte macht.78 Letztlich ist es der Herzog, dem die Schnelligkeit seines eigenen Abgangs die Begnadigung ermöglicht, denn er vermeidet so eine Diskussion, die das Grundsätzliche behandeln würde. Nicht jede List ist davon abhängig, ob sich das Gegenüber des Listigen auf dessen Argumentation einlässt. Viele Listen erzeugen beim Gegenüber Handlungsaporien, indem sie bestimmte Äußerungen oder Übereinkünfte, die getroffen wurden, wörtlich nehmen oder in Kontexte stellen, die der Andere nicht beabsichtigt hatte (Eulen und Meerkatzen). Dennoch ist auch der Erfolg dieser Listen 74
Lindow (1978) S. 74 Anm. 8. Schwarz (1999) S. 304. 76 Nota bene: von Listgeschichten. Das Lachen etwa wird man wohl kaum in eine Listdefiniti on bringen wollen, weil es grausame und böse Listen gibt. Und doch ist das Lachen des Listigen fast immer zu vernehmen… 77 Es würde zu weit führen, den Ursachen dieser Konstellation in der histori vom Ulenspiegel weiter nachzuspüren. Sicherlich aber haben wir hier einen Reflex auf die besonderen Machtverhältnisse in der frühen Neuzeit. Es wird zugleich ein besonderes Verhältnis zwischen dem letztlich gutmütigen Herzog und dem Schalksnarren inszeniert. 78 Darauf kann man auch in der histori einen Reflex erfassen, denn obwohl der Herzog bereits weggeritten ist, verraten auch die Bewegungen Eulenspiegels Eile und Flucht, s. das Ende der Geschichte im Folgenden: „Ulenspiegel sprang eilens uß dem Pferd (…) unnd lieff also zu Fuß darvon.“ 75
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prekär, weil der Listige nicht ausschließen kann, dass seinem Gegner nicht doch noch eine Gegenlist einfällt. Die List darf aber das Grundsätzliche, das Prinzip gerade nicht thematisieren, denn dafür ist sie zu ephemer. Es bleibt in der vorliegenden Histori aber nicht beim situativen Erfolg des Schalksnarren. Eulenspiegel erhält nicht nur sein Leben, sondern auch Bleiberecht. Eulenspiegel erreicht durch seine List – die ihn aber immerhin ein Pferd gekostet hat – nicht weniger als die Rücknahme des gegen ihn erlassenen Verbotes und nicht nur den Erlass der Strafe für den Übertritt. Dieser Punkt ist deshalb so auffällig, weil Listen oft nur kurzfristige Erfolge erzielen, die der Listige rasch in Sicherheit bringen muss. Die Chinesen haben dies mit dem 36. Strategem bezeichnet: „Weglaufen ist das Beste.“79 So wäre die Geschichte durchaus nicht weniger witzig gewesen, wenn Eulenspiegel nur die Aufhebung der Todesstrafe erzielt hätte. Dass dies sein eigentliches Ziel gewesen ist, äußert er selbst nicht ohne Erleichterung am Schluss der Episode: Und Ulenspiegel sprang eilens uß dem Pferd und sprach zu seinem todten Pferd: ‚Danck hab, mein liebes Pferd, du hast mir darvongeholffen und mir mein Leben behalten. Und hast mir darzu wider ein genädigen Herren gemacht. Lig nur hie. Es ist besser, das dich die Rapen fressen, dann das sie mich hätten gessen‘, unnd lieff also zu Fuß darvon. Dass das Pferd ihm auch seinen Herren gnädig gestimmt hat, ist in Eulenspiegels Augen eine erfreuliche Draufgabe (darzu) zum eigentlichen Erfolg der Inszenierung. Man braucht nur einen Blick auf die 26. Historie [sic] zu werfen, die denselben Vorgang in einer (insgesamt bekannteren Variante) präsentiert, um zu sehen, dass der Erfolg der List prekär ist. Hier provoziert Ulenspiegel absichtlich den Herzog und fängt ihn auf seinem Weg nach Celle ab. Der Schalk sitzt in einem Karren Erde und argumentiert, dass er sich auf seinem eigenen Land und nicht dem des Herzogs befinde. Der Fürst akzeptiert das nur mürrisch und droht ihm den Tod bei der nächsten Begegnung an.80
79 von Senger (1999b) S. 32. Dort wörtlich: „[Rechtzeitiges] Weglaufen ist [bei sich abzeichnender völliger Aussichtslosigkeit] das beste [der 36 Strategeme].“ Es kommt mir nicht zu, die Auslegung eines chinesischen Textes durch einen Sinologen anzuzweifeln. Jedoch könnte diese Interpretation dazu führen, dass man jedes Weglaufen vor Gefahr als Strategem qualifiziert. Ich fasse dieses Strategem für meine Untersuchung aber so auf, dass hiermit eher ein Aspekt listigen Handelns beschrieben wird, eben der Umstand, dass die Beute der List rasch in Sicherheit gebracht werden muss. Man braucht sich nur die mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Schwankbücher anzusehen, um zu erkennen, dass der Listige zusehen muss, dass er den Schauplatz seiner List rasch verlässt. 80 Vgl. zu den verschiedenen Fassungen Werner Röcke, Inszenierungen des Lachens in Literatur und Kultur des Mittelalters, in: Paragrana 7, 1 (1998), S. 73 – 93, 79f.
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Sind also schon die Elemente Schläue und Unnormalität durch ihre Kontextgebundenheit (Was ist schlau? Was gilt als normal?) problematische Bestandteile der Listdefinition, so scheint auch das Moment des kurzfristigen Erfolges kein fester Bestandteil der List zu sein. Dazu lassen sich zwei Bemerkungen machen: 1. Die kurze Frist des Erfolges ist eine Möglichkeit, die ephemere Natur des listigen Sieges zu inszenieren. Mit kurzer Frist bzw. Reichweite des Erfolges ist nichts anderes gemeint, als dass Listen Prinzipien zunächst einmal nicht in Frage stellen, sondern bestenfalls Ausnahmen erwirken: Am Verhältnis Herzog – Ulenspiegel ändert sich im Grundsätzlichen gar nichts. Ulenspiegel hat dem Herzog keine Befugnisse abgetrotzt; die Privilegien, die er erzielt hat, sind jederzeit reversibel. Nicht anders verhält es sich bei Listgeschichten, in denen der Listige mit einem gestohlenen Gegenstand verschwindet oder die Zeche prellt: Zwar kann er das Gestohlene durch Flucht behalten, aber er hat nicht wirklich seinen Status geändert. Wenn die Beute aufgezehrt ist, kehrt der Schalk auf die Straße zurück. Man kann dies sehr gut deutlich machen an der Unterscheidung von Taktik und Strategie. Abgesehen davon, dass die beiden Begriffe im deutschen Sprachgebrauch häufig synonym verwendet werden, bedeuten sie enger gefasst je Verschiedenes. Im Bereich des Militärischen, aus dem die Begriffe ja stammen, definiert Carl von Clausewitz „Taktik [als] die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht, die Strategie [als] die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges.“81 Eine Strategie setzt also eine langfristige Planung des Feldzuges voraus, bei der man sich klar macht, was man eigentlich mit dem Krieg erreichen möchte, und danach seinen gesamten Feldzug plant, während es bei der Taktik um das Agieren und Reagieren in einer Gefechtssituation geht. Es ist deutlich, dass das Moment des Improvisierens auf der Ebene der Taktik liegt und dass die Strategie auch taktische Misserfolge auffangen kann. Strategisches Handeln setzt aber die Verfügungsgewalt über Truppen, Nachschub und Raum voraus, während taktisches Handeln auch ohne strategische Ressourcen zu einem momentanen Erfolg führen kann. Auch eine strategisch schlecht geführte Armee kann durch die Verwegenheit Einzelner einen Tageserfolg erzielen, sie kann aber nur in seltenen Fällen ihre strategische Unterlegenheit auf Dauer wettmachen. Eine ähnliche Gebrauchsweise der Begriffe findet sich im Bereich der Ökonomie bei de Certeau: „Als ‚Strategie‘ bezeichne ich eine Berechnung von Kräfteverhältnissen, die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt (ein Eigentümer, ein Unternehmen, eine Stadt, eine wissenschaftliche Institution) von einer ‚Umge81
Clausewitz (1834) S. 84. Kursive im Original.
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bung‘ abgelöst werden kann. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes umschrieben werden kann und der somit als Basis für die Organisierung seiner Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt (Konkurrenten, Gegner, ein Klientel, Forschungs-‚Ziel‘, oder ‚-Gegenstand‘) dienen kann. (…) Als ‚Taktik‘ bezeichne ich demgegenüber ein Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie dringt teilweise in ihn ein, ohne ihn vollständig erfassen zu können und ohne ihn auf Distanz halten zu können. Sie verfügt über keine Basis, wo sie ihre Gewinne kapitalisieren, ihre Expansionen vorbereiten und sich ihre Unabhängigkeit gegenüber den Umständen bewahren kann. Das ‚Eigene‘ ist ein Sieg des Ortes über die Zeit. Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig, sie ist immer darauf aus, ihren Vorteil ‚im Fluge zu erfassen‘. Was sie gewinnt, bewahrt sie nicht. Sie muß andauernd mit den Ereignissen spielen, um ‚günstige Gelegenheiten‘ daraus zu machen. Der Schwache muß unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind.“82 Auch das Handeln Eulenspiegels offenbart sich vor diesem Hintergrund als taktisch: Den Raum (Lüneburg) beherrscht der Herzog, Eulenspiegel agiert in diesem Raum und kann nur nach Maßgabe der dort geltenden Regeln eben diese Regeln unterlaufen. Gerade der Umstand, dass Ulenspiegel trotz des Landverweises wieder nach Lüneburg gekommen ist, zeigt, wie abhängig sein Handeln von Räumen ist, die ihm nicht gehören.83 Grundsätzlich lassen sich diese Elemente auch an der römisch-griechischen Komödie exemplifizieren – abgesehen davon, dass wir hier vielleicht keine solch knappe Episode finden würden, die alles Wesentliche in wenigen Sätzen vereint wie die Ulenspiegel-histori. Aber auch die Sklaven der Nea müssen den Erfolg, den sie für ihren adulescens durch List erringen, rasch ausnutzen; oft ist eine Flucht vonnöten wie etwa die von Jüngling, Sklave und Hetäre im Miles gloriosus (ite cito, iam ego adsequar uos84). Allerdings mündet die List in der Komödie auch oft in die Wiederherstellung einer richtigen Ordnung: Die Hetäre wird als Bürgerliche erkannt, der senex blamiert sich und erkennt die Rechte seines Sohnes an. Dieser konstruktive Aspekt der List tritt immer wieder zutage.
82
de Certeau (1988) S. 23 [Die Hervorhebung in Sperrschrift statt Kursive im Original]. Vgl. auch S. 85 – 93, dort auch zu Clausewitz. 83 „Ulenspiegels Lebensform ist die Reise.“ (Werner Röcke, Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Mittelalter, München 1987, S. 216). 84 Plaut. Mil. 1353 (der Sklave Palaestrio zu Philocomasium und Pleusicles).
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2. Innovation: Dennoch ist auch ein Listtypus sehr weit verbreitet, der neue Tatsachen schafft, die eine längere Verweildauer haben. Das Unterlaufen von herrschaftlichen Strategien birgt das Potential, Herrschaft als solche in Frage zu stellen. Hier liegt ein Grund für das Misstrauen der Römer gegen die List (s.u.). Besonders im juristischen Feld sind solche veralltäglichten Listen einerseits als professionelle Kniffe der Prozessparteien, andererseits als wirkliche Rechtspraktiken bekannt. Im Bereich des römischen Rechts fallen eine ganze Reihe von Rechtspraktiken unter eine solche Kategorie, ein Beispiel wäre die emancipatio eines Haussohnes, die durch dreimaligen „Verkauf“ mit anschließender Reemanzipierung ins Werk gesetzt wird. Hier wurde ganz offenbar ein Ausweg aus der an sich uneingeschränkten patria potestas gefunden, der durch bestimmte Analogiebildungen aus anderen Rechtspraktiken ermöglicht wurde. Auch im Vertragsrecht der Römer finden sich solche Konstruktionen.85 Die List kann grundsätzlich auch kulturstiftend sein. Viele Kulturen kennen trickster-Gestalten, die durch ihr Handeln kulturell produktiv sind. Tatsächlich sind sie in Griechenland verbreiteter als in Rom. Ich möchte auf die Arbeit von Detienne und Vernant an dieser Stelle noch nicht eingehen,86 dennoch kann auch hier schon gesagt werden, dass die produktive Seite der List im griechischen Denken fest verankert ist. Detienne und Vernant haben sich in ihren gemeinsamen Untersuchungen besonders der Metis zugewandt, die zwei Konnotationen in sich aufnimmt, die der Römer eher (wenn auch nicht konsequent) getrennt sieht: List als Täuschung (dolus) und List als Kunstfertigkeit und Improvisationskunst (ars). Im Ringen mit archaischen Mächten, die als Agenten der Unordnung erscheinen, treten Götter oder Heroen auf, die diesen Mächten mit List begegnen, dann aber Ordnung stiften. Zeus beendet den circulus vitiosus, nach dem ein Göttergeschlecht das nächste vermittels Anschlägen zu beseitigen trachtet, indem er nach der Beseitigung des Kronos die Metis heiratet und dann im Ganzen verschluckt. Er hat so die listige Intelligenz einerseits monopolisiert, ihr aber andererseits die Existenz gesichert. In dem Moment, wo der Gottvater selbst der Listigste von allen ist, kann List nicht mehr im kosmologischen Sinne subversiv sein, gleichzeitig handeln die olympischen Mächte (einige von ihnen) selbst listig und kunstfertig. Odysseus wiederum, der Liebling der zeusentsprossenen Athena, verkörpert seinerseits beide Ausprägungen der List: das kurzfristige Übervorteilen eines Gegners und das kulturstiftende Besiegen archaischer Mächte (aber nicht das Erzeugen kultureller Fertigkeiten und Werkzeuge). Dieser letztgenannte Aspekt findet sich weniger bei Detienne und Vernant als vielmehr bei Horckheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung 85
Fritz Raber, Emancipatio, in: Der Kleine Pauly 2 (1979), Sp. 255f. Theo Mayer-Maly, Römisches Recht, Wien – New York 1999, S. 117. 86 Detienne/ Vernant (1974). Das Ganze wird ausführlich in der Untersuchung zu den Metamorphosen entwickelt.
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(1947). Auch wenn die dortige Interpretation der Odyssee keine historisierende ist, sondern Odysseus eher metaphorisch als ein Vorläufer des bürgerlichen homo oeconomicus aufgefasst wird, so ist doch die Beobachtung richtig, dass „das Recht der mythischen Figuren [sc. denen Odysseus ausgesetzt ist] als das des Stärkeren (…) bloß von der Unerfüllbarkeit ihrer Satzung [lebt]. Geschieht dieser Genüge, so ist es um die Mythen bis zur fernsten Nachfolge geschehen.“87 Odysseus fährt an den Sirenen vorbei und kann ihren Gesang hören, hat aber dessen Wirkung unterlaufen. In diesem Moment verlieren die Sirenen letztlich ihre Existenzberechtigung. Noch deutlicher wird dies im Ödipusmythos, in dem sich die Sphinx in den Tod stürzt, nachdem ihr Rätsel entschlüsselt ist. Auch die Römer kennen die kulturstiftende Kraft der List. Die römischen Könige greifen immer wieder zu Listen (s. die Untersuchungen zu Livius), um ihre institutionellen Neuerungen durchzusetzen. Das hängt in gewisser Weise mit dem vorstaatlichen Charakter der Königszeit zusammen, jedenfalls bei den ersten drei Königen: Wenn ihre Listen zwar Handlungserwartungen, aber keine Normen unterlaufen (weil es ja noch keine gibt), dann bleibt die List unwidersprochen und ihr Ergebnis schafft Fakten, keine kurzfristigen Coups. Alle bisher genannten Aspekte drückt Phaedrus in einer seiner Fabeln (de ueritate et mendacio) aus – sofern diese Geschichte, die nur in der Appendix Perottina (App. 5)88 überliefert ist, nicht einen humanistischen Zusatz darstellt:89 Olim Prometheus saeculi figulus noui cura subtili Veritatem fecerat, ut iura posset inter homines reddere. subito accersitus nuntio magni Iouis commendat officinam fallaci Dolo, in disciplinam nuper quem receperat. hic studio accensus, facie simulacrum pari, una statura, simile et membris omnibus, dum tempus habuit, callida finxit manu. quod prope iam totum mire cum positum foret, lutum ad faciendos illi defecit pedes. 87
Max Horckheimer/ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1993, S. 67. Einfügungen in Klammern F.W. 88 Dazu auch Abbot (1997) S. 27f. 89 Für Niklas Holzberg (2001b), Die antike Fabel, Darmstadt 22001, S. 3 und 43 steht die Echtheit offenbar gar nicht mehr zur Debatte, ebenso wohl für Michael von Albrecht (1994a), Geschichte der Römischen Literatur, 2 Bde., München 21994, S. 797: „Der originale Phaedrus wird von Niccolò Perotti († 1480) benützt.“ Kritischer, vielleicht zu Recht (auch die vorliegende Fabel würde m. E. sehr gut in einen humanistischen Denkkontext passen und könnte deshalb auch von Perottus selbst stammen): Otto Schönberger in: Phaedrus. Liber Fabularum. Fabelbuch. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1975 (ND 2003), S. 224.
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redit magister; quo festinanter Dolus metu turbatus in suo sedit loco. mirans Prometheus tantam similitudinem, propriae uideri uoluit artis gloriam. igitur fornaci pariter duo signa intulit; quibus percoctis atque infuso spiritu, modesto gressu sancta incessit Veritas; at trunca species haesit in uestigio. tunc falsa imago atque operis furtiui labor Mendacium appellatum est; quod negantibus pedes habere facile et ipse assentio. Die List wird hier in die Nähe der kulturstiftenden Gestalt des tricksters Prometheus gestellt. Wie jeder klassische trickster schafft Prometheus zugleich Konstruktives und Destruktives.90 Seine Absicht ist konstruktiv: Er will die Wahrheit schaffen, um den Menschen Gesetze zu stiften. Er hat aber, ungeschickt, wie der trickster manchmal ist, sich einen schlechten Gesellen ins Haus geholt, die List, und lässt sich von dessen Geschöpf so blenden, dass er es sich zu Eigen machen will. Doch die List schafft die Lüge – Nähe und doch Verschiedenheit von List und Lüge drücken sich hierin sinnfällig aus. Die Lüge sieht der Wahrheit zum Verwechseln ähnlich, aber sie hat keine Füße – im Deutschen würde man sagen: Lügen haben kurze Beine. Das heißt: Sie tragen nicht weit. Das Fußlahme der Lüge scheint dem hier entwickelten Gedanken der Schnelligkeit der List zunächst zu widersprechen, aber in Wirklichkeit ist der gleiche Gedanke hier nur in einer moralisierenden Form präsentiert: Weil die Lüge entlarvt werden kann, hält sie nicht lange vor. Deshalb soll man es nach Phaedrus’ Ansicht lieber mit der Wahrheit halten. Die Listigen in der Literatur und in der Wirklichkeit freilich ziehen die andere Konsequenz: Weil die Täuschung bald auffliegt, muss man sehen, dass man das Weite sucht. 1.4 Römische Listfeindlichkeit als Gattungsphänomen 1.4.1 Die Kommunikationsbedingungen in der römischen Republik Wie man am Beispiel des Odysseus und auch der juristischen Praxis gesehen hat, sind Listen zwar darauf angelegt, momentane Vorteile zu erlangen, sie können aber doch dazu führen, dass neue Realitäten geschaffen werden. 90 Karl Kerényi, The Trickster in Relation to Greek Mythology, in: Paul Radin, The Trickster. A Study in American Indian Mythology. With commentaries by K. Kerényi and C. G. Jung, New York 1956, S. 171 – 191; vgl. auch Wittchow (2005c); von Matt (2006) S. 277 – 287.
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Anders ausgedrückt: Da die List kontingente Wirklichkeit gegen kommunikative Wahrheit ausspielt, kann sie letztere in Frage stellen. Es kommt darauf an, wie gelassen eine Gesellschaft mit dieser Infragestellung umgeht, ob sie die List als einen situativen Sonderfall begreift oder als Herausforderung ihrer Übereinkünfte. Den Römern wird oft Letzteres unterstellt. Das Wort dolus etwa, das durchaus nicht das einzige ist, mit dem listenreiches Handeln von den Römern belegt wird, wird zwar in antiken Definitionen durchaus als vox media bezeichnet,91 also als im moralischen Sinne sowohl negativ als auch positiv konnotierbar, taucht aber häufig negativ konnotiert auf.92 Es wird auch bei der Diskussion um dolus als vox media zu oft übersehen, dass die Einordnung des dolus als vox media eine reine Behauptung späterer kaiserzeitlicher Autoren ist, während die frühesten Belege mindestens im Bereich des Rechtes immer schon vom dolus malus sprechen.93 Ob dies wirk91
Gell. 12, 9, 1. Wheeler (1988) 93 – 110; Andreas Wacke, Circumscribere, gerechter Preis und Arten der List (Dolus bonus und dolus malus, dolus causam dans und dolus incidens unter Berücksichtigung der §§ 138 Abs. II und 123 BGB, in: ZRG 94 (1977), S. 184 – 246, 221ff. Das kann man an den häufigen Verbindungen mit eindeutig negativ konnotierten Worten sehen, z.B. Caes. B.G. 4, 13, 1: per dolum atque insidias. Gegen die Versuche, dolus als vox media anzusehen, äußern sich Alfred Ernout/ Antoine Meillet/ Jacques André, Dictionnaire Étymologique de la Langue Latine. Histoire des Mots, Paris 41994, S. 182: „Toutefois, il n’y a pas d’exemple de bonus dolus et l’adjonction de malus à dolus peut provenir du même souci de précision qui fait écrire quod sine malo pequlatuu fiat dans la Lex de XX Quaest.“ Carcaterra (1970) dagegen kann in einer langen Beweisführung viele Belege für einen positiven Gebrauch von dolus vorbringen (S. 115 – 214). Vielleicht sind hier wirklich die Grenzen einer Wortfeldanalyse erreicht: dolus mag, rein linguistisch-semantisch betrachtet, eine vox media sein, aber weil Kommunikation auf dem Wahrheitsprinzip (Bok) beruht, ist eine wirklich wertfreie Anwendung des terminus höchst unwahrscheinlich. Umgekehrt: List mag immer angefeindet worden sein, aber es hat sicher auch von Anfang an immer eine „Freude an der List“ gegeben und die Einsicht in ihre Notwendigkeit. Carcaterra ist insgesamt daher nicht Recht zu geben, wenn er meint, dass dolus zwar vox media sei, aber in der Regel sogar positiv aufgefasst wurde „come, del resto, quasi tutti i termini latini indicanti l’astuzia e l’inganno“ (S. 123f., Zitat S. 123). Es ist nicht nötig, das Kind mit dem Bade auszuschütten, nur um das Richtige, nämlich eine römische Listkompetenz, zu beweisen. Auch ter Beek (1999) S. 7 sieht dolus als ursprüngliche vox media an, das aber zumindest nach dem Zeugnis des Festus in der Kaiserzeit nur noch negativ konnotiert war. In seinem Résumé (Bd. 2 S. 1207) jedoch mach ter Beek deutlich, dass zumindest in den frühesten juristischen Zeugnissen dolus immer schon „Arglist“ bedeutet hat. Damit geht dem terminus zu diesem Zeitpunkt zwar der eigentlich listige Charakter ab (Arglist ist nicht List, sondern rechtswidrige Absicht, s.o.) aber es zeigt sich sofort die negative Konnotation. Es ist vielleicht einfach wichtig, zwischen juristischem und literarischem Gebrauch zu unterscheiden. Vgl. ter Beek (1999) S. 1208f. Legt man die Studie von ter Beek zugrunde, scheint es m. E. nahe zu liegen, die positiven dolus-Konnotationen als literarische Anleihen aus der griechischen Literatur anzusehen, also von griech. dolos abzuleiten, während die negative Konnotation der Arglist der ursprüngliche römische Beitrag zum Bedeutungsumfang von dolus ist. 93 Voigt (1874) S. 91 zu oskisch perum dolom mallom = sine dolo malo. 92
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lich heißen muss, dass dieser negative Gebrauch einen positiven voraussetzt (dolus bonus), ist reine Spekulation. Schon Moritz Voigt setzt, die These von der ursprünglichen vox media generell bestätigend, eine negative Konnotation von dolus bereits ab der Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. an.94 M. E. weist dies ganz eindeutig darauf hin, dass die Römer sehr früh eine negative Auffassung des dolus entwickelt haben und positive Konnotationen erst in Auseinandersetzung mit griechischen Epen und Dramen wieder in die römische Sprache zurückgefunden haben. Damit ist nicht gesagt, dass die Römer keinen positiven Gebrauch der List kannten – im Gegenteil. Aber verantwortlich für die römische Auffassung von List sind in jedem Falle politisch-kulturelle und im engeren Sinne literaturgeschichtliche95 Determinanten. Diese sollen im Folgenden beleuchtet werden. Die Diskussion um die Zwecke und Funktionen der frühen römischen Literatur, namentlich der Geschichtsschreibung, hat in jüngster Zeit entscheidende Impulse erhalten, seit sie nicht mehr vorwiegend als eine quellenkundliche betrieben, sondern in den Kontext anderer Memorialpraktiken (Denkmäler und Rituale) gestellt und auch die Frage nach der Genese des mos maiorum und die Einbettung der römischen Kultur in die hellenistische Welt neu behandelt wird.96 Die alte These, nach der die Römer nur deshalb so spät damit begonnen hatten, eine eigene Literatur zu produzieren, weil sie dazu vor der Niederringung des punischen Hauptgegners nicht gekommen sind,97 bedurfte der Modifizierung, ebenso die Vorstellung, die Römer hätten mangels eigener literarischer Tradition mehr schlecht als recht griechische Vorbilder nachgeahmt.98 Man erkannte und betonte, dass Geschichtsschreibung eigentlich nur einen Sonderfall historischen Diskurses ausmacht, auf den viele Kulturen leicht verzichten können.99 Wenn man daher fragt, warum die Römer gegen Ende des 3. Jahrhunderts meinten, darauf nicht mehr verzichten zu können, muss man nach den sozialen und politischen Bedingungen fragen, unter denen die Verständigung über Ge94
Voigt (1874) S. 92 und 95. Damit ist konkret gemeint: Es liegt auch an der Gattung, in der nach Belegen für die römische List gesucht wird. 96 Ein Überblick bei: Andreas Heil, Literarische Kommunikation in der späten römischen Republik. Versuch einer Topographie, in: Haltenhoff/ Heil/ Mutschler (2003), S. 5 – 50. 97 So etwa noch von Albrecht (1994a) S. 43: „Es vergeht ein halbes Jahrtausend der Kämpfe, in dem man von Büchern kaum zu träumen wagt, bis sich das Bedürfnis regt, dem griechischen ein kunstmäßiges lateinisches Schrifttum an die Seite zu stellen“. 98 Ulrich Gotter/ Nino Luraghi/ Uwe Walter, Einleitung, in: Eigler/ Gotter/ Luraghi/ Walter (2003), S. 9 – 38, 12. Vgl. Gregor Vogt-Spira/ Bettina Rommel (Hgg.), Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999. 99 Hölscher (2001), S. 183 – 211, 184. Andreas Felmy, Die Römische Republik im Geschichtsbild der Spätantike. Zum Umgang lateinischer Autoren des 4. und 5. Jahrhunderts n. Chr. mit den exempla maiorum, Berlin (Diss.) 2001, S. 9. Gotter/ Luraghi/ Walter (2003) S. 9. Pate für diese Auffassung natürlich Jan Assmann. 95
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schichte vor und nach dieser Zeit stand. Erst in dieser Perspektive lässt sich auch der Rezeptionsprozess griechischer Vorbilder richtig begreifen, der dann nicht mehr als ein passiver,100 sondern als ein aktiver aufgefasst wird.101 Das Geheimnis des Erfolgs der römischen Herrschaft, sowohl innen- als auch außenpolitisch, lag darin, dass „die römische Aristokratie eine Normengemeinschaft war“,102 die einzigartige Modi ausgebildet hatte, um diese Normen zu transportieren. Ein großer Teil der Modi und Medien des Vergangenheitsbezuges war der Konstituierung und Stabilisierung dieser Normengemeinschaft unterworfen. Es gab in diesem Zusammenhang keinen Bedarf für eine kontinuierliche Geschichtserzählung, geschweige denn ein schöngeistiges Interesse an ihr. Geschichte war ein Inselreich von Vergangenheitsbezügen,103 die ihre Bedeutung eher durch Verräumlichung als durch Verzeitlichung erhielten. Es gab keine klare Zeitachse, auf der die memorierten Ereignisse in ein narratives Nacheinander gebracht wurden. Hauptmedien der gemeinschaftlichen Vergangenheitsbezüge (wir sprechen hier nicht von den möglichen Quellen der Geschichtsschreibung wie Senatsakten, tabula apud pontifices, annales maximi oder libri lintei u.ä., deren Existenz, Form und Verbreitung umstritten ist) waren als Gedächtnisorte Monumente und Reste, als politische Rituale pompa funebris und pompa triumphalis, als mündliche Überlieferung die exempla im politischen Schlagabtausch der Senatoren.104 Es sind Räume, die den Bezug zur Vergangenheit herstellen. Eine mit Triumphalinsignien geschmückte domus hielt die Erinnerung an eine gens und ihre Helden wach, die Spolien an einem Tempel die Erinnerung an eine Schlacht, ebenso wie Gemälde und Halbreliefs, später erinnerten die Denkmäler an Triumphatoren und Konsuln; die pompa funebris eröffnete zwar das Nacheinander der Amtsträger einer gens, aber kein zeitliches Kontinuum der gesamten Ahnen.105 Archaische Siedlungsreste erinnerten, ohne dass sie explizite Denkmäler waren, an bestimmte Gründungsmythen und Traditionen, die noch nicht auf eine kohärent gefasste Frühzeit verwiesen.106 Funktional gesehen unterschieden sich auch die 100
So bei von Albrecht (1994a) S. 11. In diese Richtung immerhin schon Ludwig Bieler, Geschichte der römischen Literatur, Berlin – New York 41980, S. 8. 102 Flaig (2003) S. 74. Braun/ Haltenhoff/ Mutschler (2000) S. 7 (Vorwort). 103 Hölscher (2001) S. 199: „isolierte Gedächtnis-Inseln“. 104 Vgl. dazu Hölscher (2001) und Flaig (2003). 105 Flaig (2003) S. 55, 59. 106 Die verschiedenen Formen von Gedächtnisorten unterscheidet Hölscher (2001). Ferner orientiert er sich am Modell der oral history (200f.), nach dem eine mythische Frühgeschichte, die weitgehend auf politischem Konsens beruhte und eine Zeitgeschichte in der Topographie Roms präsent waren. Beide Vergangenheiten werden verbunden durch das floating gap einer kaum bekannten Zwischenzeit. Fabius Pictor bringt Geschichte daher nur so zu Papier, wie sie „in den öffentlichen Denkmälern der Stadt Rom“ bereits vorlag (201). Dennoch ist bemerkt worden, dass das Modell der oral history für Rom, das fast seit seiner Gründungsphase über Schriftlichkeit verfügte, etwas problematisch ist (Gotter/
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exempla von dieser verräumlichten Geschichte nicht: Sie bildeten analog zu den übrigen memorialen Praktiken „unbestrittene und verbindliche Fixpunkte“ mit denen man argumentierte, um den politischen Konsens auch im Konfliktfall sicherzustellen.107 Sämtliche römischen Modi des Vergangenheitsbezugs waren darauf abgestellt, Normen und Werte eindringlich zu machen. Aus diesem Grunde spielte zeitliche Kohärenz hier keine Rolle. Den ideellen Charakter dieser Vergangenheit kann man auch daran ermessen, dass unter den Statuen, die bereits um 300 auf dem Forum standen, auch die Griechen Pythagoras und Alkibiades waren, durch welche die Tugenden sapientia und fortitudo versinnbildlicht wurden, ohne dass ein Bezug auf die römische Vergangenheit erkennbar war.108 Dass diese Bedingungen für die frühen römischen Geschichtsschreiber eine Herausforderung darstellten, wenn es darum ging, narrative Kohärenz herzustellen, ist keine neue Erkenntnis. Es geht hier aber besonders um einen Gesichtspunkt, der für die Frage nach der römischen Listfeindlichkeit einige Bedeutung hat. Er betrifft die reduktionistische Tendenz eines Sprechens über Geschichte, die ihren Ursprung dem Umstand verdankt, dass Sprechen über vergangene Geschichte und Sprechen über zeitgenössische Politik in der römischen Republik zum Teil konvergieren. Die Frage nach der Genese des mos maiorum ist Gegenstand zahlreicher Auseinandersetzungen. Zu einem politischen Leitbegriff dürfte er erst nach dem Ende der Ständekämpfe geworden sein, als die patrizischen gentes zunächst ein Standesethos für sich behaupteten, das in der Folgezeit aber auch von den plebejischen nobiles angenommen wurde.109 Luraghi/ Walter [2003] S. 22 – 24; vgl. auch Flaig [2003] S. 73.). Ferner muss man sich klar machen, dass auch die römische Frühgeschichte nicht einfach selbstverständlicher Memorialbesitz war; in den Fragmenten der frühen römischen Historikern zeigt sich auch hier ein Ringen um Kohärenz angesichts konkurrierender Mythen (vgl. Jörg Rüpke, Räume literarischer Kommunikation in der Formierungsphase römischer Literatur, in: Braun/ Haltenhoff/ Mutschler [2000], S. 31 – 52, 47). Daher „stellte allein die Auffassung der römischen Geschichte als geschlossene Größe, die gedanklich erst noch zu konstituieren war, für Rom eine bahnbrechende Innovation dar.“ Hans Beck/ Uwe Walter (Beck/ Walter I [2005]), Die Frühen Römischen Historiker I. Von Fabius Pictor bis Cn. Gellius, Darmstadt 2005, S. 17. 107 Flaig (2003) S. 76f. 108 Hölscher (2001) S. 193. 109 Wolfgang Blösel, Die Geschichte des Begriffes mos maiorum von den Anfängen bis zu Cicero, in: Bernhard Linke/ Michael Stemmler, Mos maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik, Stuttgart 2000 (Historia Einzelschriften 141), S. 25 – 97, 52. Flaig (2003) S. 84 geht davon aus, dass „die römische Aristokratie von Anfang an, und schon bevor sie die Republik installierte, über ein [sic] mos maiorum [verfügte], das für die gesamte Gruppe verbindlich war.“ Es mag sein, dass keine Gesellschaft ohne Normen funktioniert. Ob dieses “Normensystem“ (ebenda) wirklich wie der spätere mos maiorum funktionierte, bleibt aber m. E. Spekulation und lässt sich nicht mit einem soziologischen a priori entscheiden. Jürgen von Ungern-
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Ein wichtiger Aspekt des mos maiorum aber liegt darin, dass er Werte nicht abstrakt oder ideell vermittelte, sondern kasuistisch. Werte werden in Rom zunächst situativ aufgefasst, ein bestimmtes Handeln in einer bestimmten Situation wird mit pietas, fortitudo, clementia usw. identifiziert. Um sich aber dennoch über diese Werte verständigen zu können, müssen die konkreten Handlungen für alle verstehbar und erwartbar bleiben. Genau das wird über exempla gesichert, „die durch Ausschaltung von Alternativen zur Stetigkeit traditionell verbindlicher Verhaltensformen beitrugen.“110 Auch Egon Flaig hat diesen reduktionistischen Charakter der exempla betont. Nur ein bestimmter Fundus vorbildlicher oder zu meidender Handlungen hat Einlass in die Senatsdebatten gefunden. Es handelte sich um kanonisierte exempla, deren Inhalt (Handlungsebene) und Primärbewertung (moralische Ebene) nicht diskutabel waren. Die Frage war allein, welches exemplum für die vorliegende Debatte das schlagende war (wobei andere Faktoren wie die auctoritas des Redenden natürlich nicht außer Acht gelassen werden dürfen). Auf diese Weise beförderte das exemplum auch und gerade innerhalb einer Konfliktsituation den politischen Grundkonsens der Führungsschicht. Diese Kommunikation ist ein vielleicht einmaliger Sonderfall in der gesamten Menschheitsgeschichte und er ist umso bemerkenswerter, als er in einer Adelsgesellschaft entstanden ist. Mit Niklas Luhman ausgedrückt:111 Eine solche Kommunikation ist unwahrscheinlich, und zwar – damit begeben wir uns in die Paradoxie des Luhmannschen Denkens –, weil sie wirklich Kommunikation ist. Denn Luhmann stellt Kommunikation generell als unwahrscheinlich dar, um, von der Warte eines Systemtheoretikers, ihre Funktionsweise nicht a priori anzunehmen, sondern vorurteilsfrei darstellen zu können. Kommunikation muss drei Hindernisse überwinden: 1. Die Information muss die relevanten Personen erreichen. 2. Die Information muss verstanden werden. 3. Das Verstandene muss akzeptiert werden und zu anschlussfähigem Handeln führen.112 Sternberg, The End of the Conflict of the Orders, in: Kurt A. Raaflaub, Social Struggles in Archaic Rome. New Perspectives on the Conflict of Orders, Berkeley 1986, S. 353 – 377 nimmt ein spätes Ende der Ständekämpfe an, die in seinen Augen in letzter Konsequenz erst mit der Errichtung des Prinzipats beigelegt waren. Dies lässt darauf schließen, dass der mos maiorum keineswegs eine feste Größe war, sondern sich den jeweiligen politischen Veränderungen immer wieder angepasst hat, und hierüber besteht wohl auch Einigkeit, vgl. Flaig a. a. O. und Maurizio Bettini, mos, mores und mos amiorum: die Erfindung der „Sittlichkeit“ in der römischen Kultur, in: Braun/ Haltenhoff/ Mutschler (2000), S. 303 – 352, z.B. S. 332 und 338. 110 Andreas Haltenhoff, Wertbegriff und Wertebegriffe, in: Braun/ Haltenhoff/ Mutschler (2000), S. 15 – 29, 24f. Anm. 30. 111 Niklas Luhmann (2001b), Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: Jahraus (2001a), S. 76 – 93. 112 Luhmann (2001b) S. 78f.
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Zu 1.: Es muss überhaupt eine Kommunikation mehrere Personen erreichen, damit sie stattfinden kann. Wer einen Brief schreibt, kann sich nicht sicher sein, dass der andere ihn auch liest. Dieser Aspekt verweist auf das Problem der Medialität jeder Kommunikation. Zu 2.: Verstehen setzt voraus, dass eine Unterscheidung von Information und Mitteilung gemacht wird.113 In der Austinschen Terminologie: Es geht nicht nur um den konstativen Inhalt der Aussage, sondern auch um die perlokutionäre Dimension. Es muss in der Kommunikation unterschieden werden, was ausgesagt wird und warum es ausgesagt wird. Dabei geht es nicht um die Unterscheidung von Sender und Empfänger, sondern um die grundsätzliche Unterscheidbarkeit dieser beiden Dimensionen des Sprechaktes auf der Ebene der Kommunikation.114 Es ist dabei nicht notwendig, dass der eine Partner den gleichen Informationsgehalt und die gleiche Aussageabsicht unterstellt wie der andere. Ein solches „Missverstehen“ – das im Luhmanschen Sinne keines ist – setzt Kommunikation nicht außer Kraft, weil Verstehen nicht bedeutet: dasselbe verstehen, sondern nur: zwischen Inhalt und Mitteilung zu unterscheiden verstehen.115 Dennoch ist die Unwahrscheinlichkeit einer parallelen Selektion von zwei Kommunikationspartnern so groß, dass hier ein Frustrationspotential steckt, das Kommunikation uninteressant machen und zu ihrem Abbruch führen kann.116 Zu 3.: Doch selbst wenn verstanden wird, was der eine dem/den anderen mitteilen will, ist unsicher, ob auch akzeptiert wird, was verstanden wurde. Der eine Kommunikationspartner kann sich weigern, das Gespräch zu führen, z.B. wenn ihm ‚die ganze Richtung nicht passt‘. Er kann das Verstandene schlicht ignorieren und, in der Luhmannschen Terminologie, sich wei113
Luhmann (2001a) S. 97. Dieser Vorbehalt ist deshalb wichtig, weil Kommunizieren eigentlich bedeutet, dass zwei Systeme miteinander verbunden werden. Zwei Bewusstseine von Menschen können aber nicht miteinander verbunden werden. Was man beobachten kann ist allein, dass zwei Kommunikationspartner zwischen Information und Mitteilung selegieren und diesen Selektionsprozess gegeneinander wiederholen, vgl. dazu die folgende Anmerkung. 115 Luhmann (2001a) S. 98. Oliver Jahraus (2001b), Nachwort, in: Jahraus (2001a), S. 299 – 333, 307: „Das Verstehen darf nicht ‚mißverstanden‘ werden, etwa im Sinne der Hermeneutik, als Zugriff auf das, was ein anderes Bewußtsein wirklich meint. Verstehen ist lediglich eine Differenzierung zwischen Information und Mitteilung.“ Da das Bewusstsein des Menschen ein geschlossenes System ist, gibt es keinen Austausch zwischen zwei Bewusstseinen, folglich: „Menschen können nicht kommunizieren.“ Niklas Luhmann (2001c), Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, in: Jahraus (2001a), S. 111 – 136, 122. Vgl. auch Luhmann (2001a) S. 95: „Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“ 116 Luhmann (2001b) S. 79. Die List selbst ist übrigens ein schönes Beispiel für die Richtigkeit dieser Sichtweise. Sie unterläuft die Trennung von Mitteilung und Information, indem ein Listiger Informationen gibt, die der andere in ihrer Mitteilungsdimension falsch erfassen soll. Dennoch „funktioniert“ die Kommunikation, bis der Listige das Weite sucht. 114
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gern, „anschlussfähiges“ Verhalten zu produzieren.117 Wer den Raum verlässt, kommuniziert nicht.118 Diese scheinbar abstrakte Theorie erklärt doch sehr gut die Besonderheiten der Kommunikation in Rom vor der Ausdifferenzierung einer Literatur (nota bene: nicht der Schriftlichkeit!). Das exemplum stellt in der mündlichen Form ein Kommunikationsmedium dar, das diese Hindernisse der Kommunikation in effektiver Weise überwindet: Es findet in der face-to-face-Kommunikation statt, das Problem der Erreichbarkeit stellt sich gar nicht. Sowohl die konstative als auch die perlokutionäre Dimension seines Sinnes sind gesichert. Es ist für alle Beteiligten klar, was der Inhalt des exemplum ist, ebenso ist deutlich, was mit ihm erreicht werden soll (ohne dass alle das Gleiche mit ihm erreichen wollen, s.o.). Das Problem des Verstehens wird minimiert. Und schließlich: Alle Beteiligten akzeptieren die Botschaft des exemplum. Wenn man sich auf die Selektion des exemplum geeinigt hat, gibt es weniger Friktionen in der Auswahl anschlussfähigen Verhaltens. Indem man sich an vorbildlichen exempla orientiert, selegiert man selbst vorbildliches Verhalten analog zu den exempla und stellt so eine reduktionistische Selektion von Kommunikation sicher, die immer wieder anschlussfähiges Verhalten produziert. Exempla erzeugen exempla. In gewisser Weise sind die exempla der mittleren Republik das, was Luhmann als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium beschreibt.119 Solche Medien sind in seinen Augen nicht Verbreitungsmedien (Zeitungen, Fernsehen), sondern müssen funktional bestimmt werden: Ein Medium ist das, was die Hindernisse für Kommunikation überwindet.120 Dabei kommt erschwerend hinzu, dass in der Regel immer nur ein Hindernis genommen, die anderen damit aber zugleich vergrößert werden. Benutzt man Schrift, um Entfernungen zu überwinden, verliert man die Kontrolle über die Akzeptanz der Botschaft. Bildet man (philosophische, religiöse, rechtliche) Sonderdiskurse aus, um Verstehen sicherzustellen, sieht es nicht anders aus: Je stärker über die Prämissen einer Botschaft reflektiert wird, desto größer die Gefahr, dass diese Prämissen nicht geteilt werden.121 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind Formen der Kommunikation, 117
Luhmann (2001b) S. 79; ders. (2001d) S. 39 („Anschlussselektivität“); ders. (2001a) S. 98 („anschlussfähig“). 118 Dies ist durchaus gegen die Vorstellung gesagt, dass auch Ignorieren eine Botschaft beinhalte. Das ist zwar nicht ganz falsch. Aber die Kommunikation endet dennoch: Wenn z.B. eine Person sich bei einer anderen, vormals vertrauten, nicht mehr meldet, signalisiert sie damit Desinteresse. Aber man wird wohl kaum nach einem Jahr ohne jeglichen Kontakt davon sprechen können, dass die beiden immer noch kommunizieren. 119 Niklas Luhmann (2001d), Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: Jahraus (2001a), S. 31 – 75. 120 Luhmann (2001b) S. 81. 121 Luhmann (2001b) S. 80.
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die eine Präselektion möglicher Selektionen vornehmen. Eigentlich bilden sich diese Medien nach Luhmann erst durch eine etablierte Schriftlichkeit heraus. In Rom haben wir zunächst aber nur eine Produktions- und keine Verbreitungsschriftlichkeit.122 Insofern sind römische exempla ein ungewöhnliches Kommunikationsmedium, das sich in einer traditionalen face-to-face-Kommunikation befindet, die eigentlich keine symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien braucht und doch ein Ensemble von Einzelfällen bereithält, die eine Präselektion von Kommunikationspotentialen sicherstellen. Die Entstehung der Historiographie in Rom bedeutet vor diesem Hintergrund also auch eine Verlustgeschichte. Es ist in der Forschung bereits erkannt worden, dass die Geschichtsschreibung in Rom auf die Krise der Führungsschicht nach den punischen Kriegen antwortet. Diese Krise hat eine vertikale und eine horizontale Dimension. Die vertikale Dimension bezeichnet die Kommunikation zwischen plebs und Nobilität,123 die horizontale die innerhalb der Führungsschicht. Die Geschichtsschreibung bewegt sich auf der Horizontalen, d.h. sie behandelt das Selbstverständnis der Führungsschicht. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob Fabius Pictor auf griechische Autoren antwortete und im griechischen Raum wirken wollte oder sein intendiertes Publikum die römische Oberschicht war:124 Seine narrativierte Geschichte setzte einen Kommunikationsprozess in Gang, der rasch eine innenpolitische Relevanz entwickelte, ja von vornherein innenpolitisch relevant war. Es ist aber aus dem Gesagten klar, dass Schriftlichkeit, also die Überführung von Vergangenheitsbezügen in eine kontinuierliche Geschichtserzählung, zwar eine Reaktion auf Störungen der adligen Kommunikation darstellt,125 dass aber Schriftlichkeit nicht nur ein Heilmittel gegen den zerbrochenen Konsens innerhalb der Führungsschicht darstellt, sondern den Verlust auch mit befördert. Nach einer These von Jörg Rüpke kannten die Römer als Bücher zunächst überhaupt nur griechische Texte. Indem die ersten Historiker in Rom auf Griechisch schrieben, dokumentierten sie, dass ihre Schriften Bücher waren, die als Literatur funktionieren soll122 Unterscheidung von Produktionsschriftlichkeit und auf Verbreitung zielende Schriftlichkeit bei Rüpke (2000) S. 39. Zum Problem der Schrift Luhmann (2001d) S. 37. 123 Rüpke (2000) S. 48: „Der deutlich gewachsene Abstand zwischen der Führungsschicht der Nobilität und der breiten Masse erhöht den Kommunikationsbedarf.“ 124 Rüpke (2000) S. 37: „Angesichts einer (…) attraktiven hellenistischen Kultur war eine eigene Ortsbestimmung unausweichlich." Rüpke betont stärker als andere Autoren die Bedeutung des Dramas, mit dem die römische Literatur eigentlich einsetzt, ebenda S. 36, 40 – 42 und ders., Römische Geschichtsschreibung. Zur Geschichte des geschichtlichen Bewußtseins und seiner Verschriftlichungsformen in der Antike. Mit einem Kapitel über die römischen Konsularfasten von Fabio Mora, Potsdam (Universitätsverlag) 1997, S. 15, zum Griechischen ebenda S. 81. Griechen als Publikum des Fabius vermutet z.B. Wilhelm Kierdorf, Römische Geschichtsschreibung der republikanischen Zeit, Heidelberg 2003, S. 15. 125 Rüpke (2000) S. 49.
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ten.126 Schriftlichkeit diente nicht mehr allein der Unterstützung von Verwaltungsakten, sondern bekam einen Eigenwert. In diesem Moment aber ist der Erfolg der Kommunikation nicht mehr in der Weise sichergestellt wie bei der face-to-face-Kommunikation. Das hat zwei Konsequenzen: a) Die Historiker orientieren sich an der Logik der exempla, einem erprobten, symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium, um die Erfolge der face-to-face-Kommunikation in die schriftliche Kommunikation zu überführen. b) Dieses Bemühen kann nicht ohne Abrieb funktionieren: Schriftlich niedergelegte, narrativ erweiterte Erzählungen werden, ob der Autor es will oder nicht, semantisch weniger gut beherrschbar. Das bringt die Orientierung an komplexeren narrativen Strukturen a priori mit sich.127 Vieles, was ursprünglich einen Sitz im Leben der politischen Kommunikation des Senats gehabt hat, mag später zur literarischen Topik geworden sein. Aber auch diese Topik ist nicht reiner Index der Literarität der Texte, sondern verweist auf ein kulturelles Selbstverständnis der römischen Herrschaftsschicht, das in der Geschichtsschreibung konserviert wurde. Die frühe römische Geschichtsschreibung nährt sich inhaltlich – auch mangels anderer Quellen – sehr stark von den performativen und monumentalen Modi von Vergangenheitsbezügen, die eine unmittelbare kommunikative Funktion erfüllten. Diese Vergangenheitsbezüge waren so gestaltet, dass sie über Reduktion unmittelbar politisch handhabbar waren und ein Gruppenethos sicherstellten. Solche Vergangenheitsbezüge schließen listiges Verhalten, das generalisierbare Normen unterläuft und in Extremfällen sogar in Frage stellt, tendenziell aus. Dies ist die eigentliche Ursache der römischen Listfeindlichkeit. Sie ist primär in den ursprünglichen Kommunikationsregeln begründet, denen Vergangenheitsbezüge unterworfen waren, sekundär in der literarischen Tradition, die sich daraus ergab. Dabei können Traditionen Werte einerseits präsent halten,128 andererseits überdauern 126
Rüpke (2000) S. 48. Diese Konsequenzen muss man sich nicht theoretisch herleiten, sondern sie sind beobachtbar. Das exemplum selbst wird an der Schwelle von der frühen römischen Geschichtsschreibung zur so genannten späteren Annalistik rhetorisiert. In Dieter Timpes Augen überführen die sullanischen Autoren die gentilizischen exempla weiter ins Anekdotische und stellen so eine allgemeinere Verwendbarkeit sicher: Dieter Timpe, Erwägungen zur jüngeren Annalistik, in: A&A 25 (1979), S. 97 – 119, 114. Richtig auch die Bemerkung von Albrechts (1994a) S. 33: „Hinzu kommt eine innere Dialektik zwischen tradierten und neuen Werten in den literarischen Zeugnissen selbst. Diese meist unaufgelöste, aber eminent produktive Spannung scheint eine Konstante in der römischen Literatur zu sein. (…) Schon bei den frühesten römischen Autoren herrscht ein gewisser Antagonismus zwischen altrömischen Wertvorstellungen und fortschrittlichen hellenistischen Ideen, so bei Plautus, Ennius und den Tragikern.“ Die Rede von der Fortschrittlichkeit erscheint problematisch, die Spannung aber zwischen traditionellen Werten und neuen Bedeutungszusammenhängen ist richtig gezeichnet. 128 Hölscher (2001) S. 185. 127
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literarische Traditionen (ebenso wie andere Traditionen) auch konkrete Gebrauchszusammenhänge und Bedeutungen. 1.4.2 Die literarische Tradition Im Folgenden werden diese theoretischen Auslassungen zum historiographischen Gattungszwang, der normwidriges Handeln im Allgemeinen und Listen im Besonderen zu zensieren geneigt ist, an einigen Beispielen aus der römischen Geschichtsschreibung belegt. Dabei soll freilich nicht gesagt werden, dass die römischen Historiker Listen gleichsam zwanghaft nur negativ darstellen konnten und schon gar nicht soll behauptet werden, dass die Römer keine Listen brauchten oder kannten. Da menschliche Wirklichkeitsbeschreibungen immer hinter der Kontingenz der Wirklichkeit zurückbleiben,129 ist jede Gesellschaft und jedes Individuum dazu gezwungen, Listen zuzulassen, sonst würde ihr Normsystem die Bewältigung von Sonderfällen unmöglich machen.130 Es ist hier zunächst nur beantwortet worden, warum die Römer tendenziell Listen in ihrer historiograpischen Überlieferung entweder unterdrücken oder perhorreszieren. Es ist aber insgesamt gerade Aufgabe und Unternehmen der vorliegenden Untersuchung, diesen Tendenzen andere Motive gegenüberzustellen und so zu Differenzierungen in diesem nur groben Gesamtbild zu kommen. Und die Texte sind wie so oft vielgestaltiger als die Theorien. 1.4.2.1 Gaius Acilius, Cicero, Claudius Quadrigarius, Valerius Antias Der Status der List in der frühen römischen Geschichtsschreibung lässt sich, trotz der fragmentarischen Überlieferung, doch in Umrissen recht gut bestimmen. Cicero überliefert, dass der Historiker Gaius Acilius (sein Werk wurde um 141 v. Chr. auf Griechisch veröffentlicht131) eine Episode aus dem Zweiten Punischen Krieg geboten hat (Cic. off. 3, 113 – 115, vgl. FRH 5 F 5). Cicero selbst folgt in seiner Fassung Polybios.132 Sed, ut laudandus Regulus in conseruando iure iurando, sic decem illi, quos post Cannensem pugnam iuratos ad senatum misit Hannibal, se in castra 129
Hannelore Bublitz, Diskurs, Bielefeld 2003, S. 45f. und passim. „Damit ist aber Manipulation, und das heißt Liststrategie, die zunächst Individuen ‚Vorteile‘ verschafft, der kommunikative Normalfall.“ Hugo Steger, List – ein kommunikativer Hochseilakt zwischen Natur und Kultur, in: von Senger (1999), S. 321 – 344, 339. Stegers Untersuchungsfeld ist hier die Evolutionsforschung. 131 Beck/ Walter I (2005) S. 233. 132 Beck/ Walter I (2005) S. 237. 130
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redituros ea, quorum erant potiti Poeni, nisi de redimendis captiuis impetrauissent, si non redierunt, uituperandi. De quibus non omnes uno modo. Nam Polybius, bonus auctor imprimis, ex decem nobilissimis, qui tum erant missi, nouem reuertisse dicit re a senatu non impetrata, unum ex decem, qui paulo post quam erat egressus e castris redisset, quasi aliquid esset oblitus, Romae remansisse. Reditu enim in castra liberatum se esse iure iurando interpretabatur, non recte. Fraus enim distringit, non dissoluit ius iurandum. Fuit igitur stulta calliditas, peruerse imitata prudentiam. Itaque decreuit senatus, ut ille ueterator et callidus uinctus ad Hannibalem duceretur. Sed illud maximum. Octo hominum milia tenebat Hannibal, non quos in acie cepisset, aut qui periculo mortis diffugissent, sed qui relicti in castris fuissent a Paulo et a Uarrone consulibus. Eos senatus non censuit redimendos, cum id parua pecunia fieri posset, ut esset insitum militibus nostris aut uincere aut emori. Qua quidem re audita fractum animum Hannibalis scribit idem, quod senatus populusque rebus afflictis tam excelso animo fuisset. Sic honestatis comparatione ea, quae uidentur utilia, uincuntur. [Acilius autem, qui Graece scripsit historiam, plures ait fuisse, qui in castra reuertissent eadem fraude, ut iure iurando liberarentur eosque a censoribus omnibus ignominiis notatos.] Sit iam huius loci finis. Die Geschichte bei Acilius lässt sich aus der Cicerostelle leicht entschlüsseln, besonders, da es noch mehrere Parallelüberlieferungen gibt (off. 1, 40; Liv. 22, 61, 9f.). Was die Gesandten bei Acilius gemeinschaftlich versuchen, ist eigentlich eine klassische List, bei der der Wortsinn gegen das Gemeinte ausgespielt wird (in von Sengers Terminologie: ein Ausmünzungsstrategem). In der Terminologie Ciceros, der in seiner Moralphilosophie Sinngeltung gegen Wortlautgeltung favorisiert133 (s. dazu den Exkurs zur fraus legis in den Untersuchungen zu Livius), wird diese List aber eindeutig als fraus denunziert. Dabei ist Ciceros Beurteilung zunächst nebensächlich. Viel bedeutsamer ist die Handlungsebene: die Reaktion der Censoren. Sie dulden nicht, dass das Gesagte gegen das Gemeinte ausgespielt wird. Die zehn Römer haben sich nicht an die Kommunikationsprinzipien der römischen Politik gehalten. Diese folgte den oben dargestellten Regeln: Sie setzte darauf, dass sich in der Verhandlung des Politischen immer wieder ein Grundkonsens aktualisierte, der kein semantisches Rauschen zuließ, geschweige denn damit kalkulierte. Sobald die Römer in die Hauptstadt zu133
Cic. off. 3, 17, 68: sed aliter leges aliter philosophi tollunt astutias; leges quatenus manu tenere possunt, philosophi, quatenus ratione et intellegentia. Dazu Okko Behrends, Die fraus legis. Zum Gegensatz von Wortlaut- und Sinngeltung in der römischen Gesetzesinterpretation, Göttingen 1982, S. 38 und 54. Abbot (1997) S. 86 und 120 – 124. Für Abbot ist (S. 120) „hand or fist (manus) […] an apt image for the law. It stands above all for the coercive power of the law.“ Das Recht behandelt nur, was es auch durchsetzen kann. Behrends (S. 54) dagegen geht es eher um die Unterscheidung von dem direkt mit den Händen zu greifenden Sinn, also der Wortlautgeltung, die Cicero hier dem Recht unterstellt, und der Sinnauslegung.
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rückgekehrt sind, holen sie diese Kommunikationsbedingungen wieder ein. Gelten muss die Bedeutung, mit der beide Seiten rechnen (denn auch die Gesandten haben ja gewusst, wie sie verstanden wurden). Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich unter den wenigen erhaltenen Fragmenten der frühen Historiker mehrere finden lassen, die das Verhältnis von dolus und fides behandeln, denn genau hier setzte die Problematik einer durch Schriftlichkeit auf Dauer gestellten politischen Ethik ein. Genau wie die Gesandten fern von Rom der Gruppenkontrolle des Senates entkommen sind, um dann wieder von ihr eingeholt zu werden, so neigt auch der historiographische Text zu einer Polysemantik. Bei den sullanischen Autoren Valerius Antias und Claudius Quadrigarius lässt sich dies noch besser fassen, denn es erscheint möglich, ihre verschiedenen Ponderierungen ein und derselben Listgeschichte zu rekonstruieren (Gell. 3, 8):134 Cum Pyrrus rex in terra Italia esset et unam atque alteram pugnas prospere pugnasset satisque agerent Romani et pleraque Italia ad regem desciuisset, tum Ambraciensis quispiam Timochares, regis Pyrri amicus, ad C. Fabricium consulem furtim uenit ac praemium petiuit et, si de praemio conueniret, promisit regem uenenis necare idque facile esse factu dixit, quoniam filii sui pocula in conuiuio regi ministrarent. Eam rem Fabricius ad senatum scripsit. Senatus ad regem legatos misit mandauitque, ut de Timochare nihil proderent, sed monerent, uti rex circumspectius ageret atque a proximorum insidiis salutem tutaretur. Hoc ita, uti diximus, in Valeri Antiatis historia scriptum est. Quadrigarius autem in libro tertio non Timocharem, sed Niciam adisse ad consulem scripsit neque legatos a senatu missos, sed a consulibus, et populo Romano laudes atque gratias scripsisse captiuosque omnes, quos tum habuit, uestiuisse et reddidisse. Consules tum fuerunt C. Fabricius et Q. Aemilius. Litteras, quas ad regem Pyrrum super ea causa miserunt, Claudius Quadrigarius scripsit fuisse hoc exemplo: ‚Consules Romani salutem dicunt Pyrro regi. Nos pro tuis iniuriis continuis animo tenus commoti inimiciter tecum bellare studemus. Sed communis exempli et fidei ergo uisum, ut te saluum uelimus, ut esset, quem armis uincere possimus. Ad nos uenit Nicias familiaris tuus, qui sibi praemium a nobis peteret, si te clam interfecisset. Id nos negauimus uelle, neue ob eam rem quicquam commodi expectaret, et simul uisum est, ut te certiorem faceremus, ne quid eiusmodi, si accidisset, nostro consilio ciuitates putarent factum, et quod nobis non placet pretio aut praemio aut dolis pugnare. Tu nisi caues, iacebis.‘ Die Geschichte um den Consul C. Fabricius, der es trotz schwieriger militärischer Lage ausschlägt, auf das Angebot eines Verräters einzugehen, den 134
Text folgt der Edition von Marshall (Oxford).
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König Pyrrhus mit Gift aus dem Wege zu räumen, ist eines der hervorragenden Beispiele altrömischer uirtus und drückt, bezeichnenderweise wie die Geschichte von den Gesandten im punischen Krieg, das Selbstverständnis der Römer auch deshalb besonders klar aus, weil es sich im Rahmen der Außenpolitik abspielt. Dadurch werden die Werte, um die es geht, im Kontrast mit dem Außen deutlicher konturiert und zugleich universalisiert, sie gelten nicht nur innerhalb der Stadt Rom, sondern werden nach außen hin verteidigt und propagiert.135 Die Grundbotschaft der Episode ist in beiden Fassungen auf den ersten Blick verständlich: Römer kämpfen offen mit ihrem Gegner und greifen unter keinen Umständen auf Anschlag (insidiae) oder List (dolus136) zurück. Die beiden letztgenannten Begriffe fallen in unserem Text, ebenso wird die Absicht der Consuln, ein exemplum zu stiften, von diesen selbst bekundet. Auch den Wert, um den es geht, muss man sich nicht ex negativo erschließen, obwohl das leicht möglich wäre. Mit fides ist das Handlungsprinzip klar benannt. Als exemplum funktioniert dieser Text hervorragend. Dennoch kann man ihn sowohl auf der Ebene der Überlieferung als auch, eng damit verbunden, auf der Ebene seiner inhaltlichen Relevanz problematisieren. Die Noctes Atticae liefern keine eigenständige historische Erzählung, sondern eine vergleichende Zusammenfassung von zwei Historikerberichten aus den Historiae des Valerius Antias und den Annales des Claudius Quadrigarius.137 Aus dem Werk des Quadrigarius stammt der Brief der beiden Consuln des Jahres 278, der am Schluss von Gellius’ Darstellung wiedergegeben wird.138 Interessanter sind die Unterschiede bei den beiden Historikern. Im ersten Bericht wird der Consul allein von dem Angebot überrascht und gibt die Angelegenheit an den Senat weiter, der nun kollektiv eine Entscheidung 135
Zur Genese der außenpolitischen fides vgl. die folgenden Kapitel zu Livius. Abbot (1997) 30 weist darauf hin, dass der Text an dieser Stelle das magistratische consilium (pos.) gegen dolus (neg.) ausspielt. 137 Die Titel der annalistischen Werke sind nicht sicher zu rekonstruieren. Das Werk des Quadrigarius wird „von späteren Exzerptoren fast einmütig ‚Annales‘ genannt“ (Kierdorf [2003] S. 48), das des Valeius Antias bisweilen als historiae, bisweilen als annales bezeichnet (Beck/ Walter II [2005] S. 169 mit Anm. 8). Die Unterscheidung von annales als Gesamtgeschichte und historiae als Zeitgeschichte ist erst augusteisch (Beck/ Walter I [2005] S. 44f. mit Anm. 69). 138 Ob der Brief als authentisch zu gelten hat, ist umstritten. Die Historiker des 1. Jahrhunderts v. Chr. haben möglicherweise mangelnde persönliche auctoritas (sie waren, anders als die Mehrzahl der Historiker des 3. und 2. Jahrhunderts, keine Senatoren) durch die Präsentation von Dokumenten auszugleichen gesucht (Timpe [1979] S. 103f.). Es ist möglich, dass sie zu diesem Zweck einfach offiziell wirkende Quellen erfanden. Immerhin scheint Valerius Antias den Brief nicht zu kennen. Ein authentisches Zitat aus Claudius Quadrigarius aber ist er zweifellos. Vgl. zu dieser Problematik auch Hans Beck/ Uwe Walter (Beck/ Walter II [2005]), Die Frühen Römischen Historiker II. Von Coelius Antipater bis Pomponius Atticus, Darmstadt 2005, S. 136 ad loc. Mir scheint, die Römer hätten besser auf Griechisch an Pyrrhus geschrieben. 136
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fällt. Eine Autonomie der Entscheidung wie bei dem Anti-Regulus aus dem hannibalischen Krieg, die dann in Rom wieder desavouiert würde, wird so vermieden. Der Senat schickt Gesandte direkt an den König, achtet aber darauf, dass die Identität des potentiellen Attentäters geheim bleibt, sodass letztlich nur eine allgemeine Warnung ausgesprochen wird. Bei Quadrigarius dagegen werden beide Consuln aktiv,139 sie sprechen sich nicht mit dem Senat ab und klären ihren Gegner genau über die ihm drohende Gefahr auf. Sie enthüllen die Identität des Höflings und geben so dem König Gelegenheit, seine Sicherheit wiederherzustellen. Es erscheinen hier alternative Optionen, um römische fides in der Außenpolitik wahr zu machen: Im einen Falle distanzieren sich die Senatoren von jeglicher Kollaboration mit einem Meuchelmörder, ändern aber nichts an der Situation, dass der König sich offenbar in einem Schlangennest bewegt. Möglicherweise erweitern sie auch ihr Verständnis von fides auf den Attentäter, der sich immerhin während eines Krieges den Römern anvertraut hat. Dagegen wünschen die Consuln bei Claudius Quadrigarius einen Gegner, den sie im Felde besiegen können und stellen nach ihren Möglichkeiten dessen persönliche Integrität sicher. Die beiden verschiedenen Fassungen der Geschichte verweisen auf ein tieferes Problem der Geschichte um Fabricius: Warum eigentlich verzichten die Römer auf eine List, um sich eines Gegners zu entledigen, der das gesamte Gemeinwesen bedroht? Es reicht nicht, auf einen heroischen Ehrencodex zu verweisen, nach dem ein Volk lieber untergeht, als seine Werte preiszugeben. Die Frage muss vielmehr lauten, wie die Römer dazu kamen, ihr fides-Konzept derart zu strapazieren. Bei Livius, dessen Originalfassung des Fabricius-exemplum mit den Büchern 11 – 20 verloren gegangen ist, fassen wir diese radikale Aufassung der fides erst wieder im Zweiten Punischen Krieg, wo sie gehörig unter Druck gerät und nicht mehr ohne Abstriche aufrechterhalten werden kann (vgl. dazu Kapitel 3). Ein zweites Problem betrifft die Interpretation des Ehrencodex. Der Senat bei Valerius Antias interpretiert (außenpolitische) fides offenbar anders als der Consul Fabricius und gegebenenfalls sein Amtskollege Aemilius. Listen lösen implizit oder explizit Wertediskussionen aus. Sie enthüllen schlagartig aber auch die Labilität von Werten. Die Beispiele belegen zum einen die oben genannten politischen Kommunikationsbedingungen, in denen die List dysfunktional ist, sie belegen ferner, dass durch die Narrativierung der Geschichte List thematisierbar wird, und sie belegen schließlich, dass diese Thematisierung zu einer Varianz der Dar139
Bei Valerius Antias scheint nur der eine Consul Fabricius erwähnt zu werden, dessen Handeln dafür stark auf das Kollektiv bezogen wird, weil letztlich der Senat entscheidet. Bei Quadrigarius werden beide Consuln zu Trägern der exemplarischen Handlung. Livius perioch. 13 dagegen scheint zwar die Fassung von Quadrigarius zu bevorzugen, spricht aber das exemplum allein dem Fabricius zu; vgl. Erich Koestermann, Cornelius Tacitus, Annalen. Band I. Buch 1 – 3. Erläutert und mit einer Einleitung versehen, Heidelberg 1963, S. 414. Weitere Fassungen der Geschichte bei Beck/ Walter II (2005) S. 136.
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stellung führt, die Verhalten uneindeutig macht (Antias – Quadrigarius). Dieser Veruneindeutigung kann man mit moralisierenden Urteilen beizukommen versuchen (so bei der Gesandtenepisode aus dem Punischen Krieg mit Ciceros Qualifizierung der Handlung als fraus). Die widersprüchlichen Tendenzen ermöglichen gleichzeitig eine Perhorreszierung wie auch Verfügbarmachung von List als politischer Praxis, die sich in dieser Janusköpfigkeit auch in der Erzählung niederschlägt. 1.4.2.2 Caesar und Hirtius Die Journale, die Julius Caesar und Hirtius über den gallischen Krieg verfasst haben, werfen vielfältige Probleme bezüglich ihrer Einordnung in die Historiographie auf, Probleme, die mit der Gattung commentarius verbunden sind. Es ist nicht der Ort, sich hier eingehend mit diesen Fragen auseinander zu setzen. Es scheint aber doch offensichtlich zu sein, dass Caesar und Hirtius im Bellum Gallicum immer wieder Anleihen bei der annalistischen Geschichtsschreibung machen, sowohl was die narrative Ausgestaltung einzelner Episoden angeht als auch hinsichtlich bestimmter Topoi (etwa die Kulturtheorie in B.G. 1, 1). Der commentarius dient aber, ganz egal, ob man ihn eher als Memoirenliteratur oder als Amtsbuch versteht, insgesamt kurzfristigeren Zielen der politischen Rechtfertigung. Gerade weil hier ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Gattungstopik und tagespolitischen Anforderungen besteht, erscheint es im Rahmen unserer Thematik wichtig, auch einen Blick in diese Schriften zu tun. Im achten Buch des B.G. schildert Hirtius eine für die Römer unter moralischen Gesichtspunkten nicht ganz einfache Episode.140 Nach einer Niederlage gegen Julius Caesar ergeben sich die Bellovacer gefolgt von ihren verbündeten Stämmen. Eine Ausnahme macht der Atrebate Commius (8, 23):141 obsides dant, imperata faciunt, excepto Commio, quem timor prohibebat cuiusquam fidei suam committere salutem. nam superiore anno Titus Labienus Caesare in Gallia citeriore ius dicente, cum Commium comperisset sollicitare ciuitates et coniurationem contra Caesarem facere, infidelitatem eius sine ulla perfidia iudicauit comprimi posse. quem quia non arbitrabatur uocatum in castra uenturum, ne temptando cautiorem faceret, Gaium Volusenum Quadratum misit, qui eum per simulationem conloquii curaret interficiendum. ad eam rem delectos idoneos ei tradidit centuriones. cum in conloquium uentum esset et, ut conuenerat, manum Commii Volusenus arri140 Vgl. Kathryn Welch, Caesar and his officers in the Gallic War commentaries, in: Welch/ Powell (1998), S. 85 – 110, 88. 141 Text folgt der Edition von Hering (Teubner).
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puisset, centurio uel[ut] insueta re permotus uel celeriter a familiaribus prohibitus Commii conficere hominem non potuit. grauiter tamen primo ictu gladio caput percussit. cum utrimque gladii destricti essent, non tam pugnandi quam diffugiendi fuit utrorumque consilium: nostrorum, quod mortifero uulnere Commium credebant adfectum, Gallorum, quod insidiis cognitis plura, quam uidebant, extimescebant. quo facto statuisse Commius dicebatur numquam in conspectum cuiusquam Romani uenire. Die Römer sind hier mit äußerster Verschlagenheit und Brutalität vorgegangen. Der Anschlag wird von Hirtius einerseits mit der typischen caesarianischen Distanziertheit berichtet, andererseits in einer Detailliertheit, derer sich Caesar bei Einzelschicksalen eher selten bedient. Es lassen sich daher indirekt einige Bewertungen des Geschehens ermitteln. Hirtius erwägt, dass der Centurio zu aufgeregt gewesen sein könnte, um den Anschlag durchzuführen. Für ihn war es eine ungewohnte, ja neue Sache, in dieser Weise gegen einen Feind zu kämpfen. Commius selbst traut aufgrund dieses Vorfalles den Römern überhaupt nicht mehr. Tatsächlich hat die Angelegenheit auch noch ein Nachspiel. Commius bietet sich seit jener Zeit immer wieder als Anführer für kleinere Aufstände im ansonsten völlig befriedeten Gallien an (8, 47). Marc Anton, damals Caesars Legat, sendet denselben C. Volusenus Quadratus, um Commius dingfest zu machen (8, 48). Volusenus seinerseits hegt inzwischen einen tiefen Hass auf Commius. Bei einem Reitergefecht gelingt es Commius nun, den Volusenus schwer zu verletzen, nicht zuletzt, weil er die Seinen an die perfidia erinnern konnte, die er erlitten habe und die nicht ungesühnt bleiben dürfe. Danach sind die beiden Kontrahenten quitt und Commius nimmt Verhandlungen mit Marc Anton auf, dem er Geiseln und Gehorsam anbietet, unter der Bedingung, er müsse nicht in die Nähe eines Römers kommen. Marcus Antonius sieht, dass die Angst des Commius berechtigt ist, und geht auf das Angebot ein. Die Römer stellen in der Regel Verlässlichkeit auch im Kontakt mit Kriegsgegnern her – jedenfalls ist das die Logik, die uns die römischen Quellen vermitteln wollen. Um diese fides zu brechen, benötigen sie die Rechtfertigung eines vorherigen Aktes von perfidia durch den Feind. Auch Hirtius spricht von der infidelitas des Commius, die eine simulatio der Römer rechtfertige – und damit eine römische perfidia ausschließe.142 Selbst bei einer scheinbar gerechtfertigten List bleiben aber ungute Gefühle zurück. Die 142
B.G. 8, 23, 3 heißt wörtlich übersetzt: „Denn im vorausgegangenen Jahr meinte Titus Labienus – Caesar sprach zu dieser Zeit im diesseitigen Gallien Recht –, nachdem er erfahren hatte, dass Commius die Gemeinden aufwiegele und eine Verschwörung gegen Caesar mache, dass dessen (gemeint: die des Commius) Untreue ohne Treulosigkeit in Zaum gehalten werden könne.“ Die infidelitas des Commius schließt nach Ansicht des Labienus eine perfidia der Römer a priori aus, was immer diese auch als Antwort auf die coniuratio unternehmen.
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Kosten eines listigen Verhaltens belegt die Hirtiusgeschichte: Ein vertrauensvolles Verhältnis lässt sich nicht mehr herstellen. Schon im Fabriciusexemplum des Claudius Quadrigarius machen sich die Konsuln darüber Sorgen, welche Wirkung ein Anschlag auf Pyrrus bei anderen Gemeinden haben könnte.143 Caesar selbst hat diese Form der List auch nicht in den von ihm verfassten Büchern de bello Gallico verwendet – bei Tacitus kommt sie öfter vor (s.u.). Gregor Maurach nennt freilich das dritte Buch des B.G. das „Buch der Listen“.144 Caesar erzählt dort, wie die Römer selbst Opfer von Listen werden und sich zum Teil mit Klugheit aus dieser Situation wieder befreien können. Caesars Listen, sofern er oder seine Legaten sie anstrengen, bleiben ganz im Bereich der militärischen List, er wendet keine Anschläge an.145 Tatsächlich arbeitet Caesar aber auch mit dem klassischen römischen Dualismus von dolus und uirtus. Wheeler spricht in solchen Zusammenhängen vom Achilles- und Odysseus-Ethos, wobei Ersteres das offene Austragen in einem direkten Zweikampf oder einer pugna iusta beschreibt, Letzteres das listige Agieren mit Strategemen.146 Der Legat Sabinus, der später zusammen mit Cotta während des gallischen Aufstandes untergehen wird, gewinnt eine brenzlige Schlacht mit List (B.G. 3, 18f.), indem er durch einen bezahlten Überläufer den Feinden einredet, die römische Truppenmoral stehe kurz vor dem Zusammenbruch, und sie so zum unvorsichtigen Angriff reizt. Der andere Protagonist des dritten Buches, P. Crassus – ein jugendlicher Held, den Caesar vielleicht mit Rücksicht auf dessen Vater, den Triumvirn, so gestaltet hat147 –, geht mit entschlossener Stärke und Schnelligkeit vor und erzielt trotz gallischer Hinterhalte (3, 20, 4 und 3, 24, 5) deutliche Siege (3, 27, 1). Bis hier erscheinen dolus und uirtus beinahe als zwei gleichwertige Möglichkeiten, militärisch zu agieren.148 143
Gell. 3, 8, 8: ne quid eiusmodi, si accidisset, nostro consilio ciuitates putarent factum. Gregor Maurach, Caesar der Geschichtsschreiber. Kommentar für Schule und Studium, Münster 2003, S. 74ff. 145 Jörg Rüpke, Wer las Caesars bella als commentarii?, in: Gymnasium 99 (1992), S. 201 – 226, 209 betont den didaktischen Aspekt der Magistratskommentarien, in denen auch Verwaltungs- und Militärkompetenz weitergegeben wird. Ein Beispiel ist für ihn die Kriegslist. 146 Wheeler (1988) S. XIV und passim. 147 Welch (1998) S. 92. 148 Freilich betont Caesar auch bei den Unternehmungen des Sabinus die Kraft und Entschlossenheit der kämpfenden Soldaten (B.G. 3, 19, 3): factum est opportunitate loci, hostium inscientia ac defatigatione, uirtute militum et superiorum pugnarum exercitatione, ut ne unum quidem nostrorum impetum ferrent ac statim terga uerterent. Programmatisch kann man auch Caesars Feststellung zu Beginn des dritten Buches (3, 14, 8) verstehen, dass die römischen Soldaten die Veneter an uirtus übertreffen, obwohl diese durch ihre Marinetechnik an sich bessere Ausgangsbedingungen im anstehenden Konflikt haben. Immerhin kann man auch die letzte Aktion des jungen Crassus im Kampf gegen Vocaten und Tarusaten durchaus als listhaltig bezeichnen, wenn er die Reiterei in weitem Bogen am Lager der Feinde vorbeiführt, um, von diesen unbeachtet, an einer schwachen Stelle in die Befesti144
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Während des gallischen Aufstandes 54 v. Chr. (5. Buch B.G.) sind nun Cotta und Sabinus beide für ein gemeinsames Winterlager verantwortlich. Als Ambiorix die Römer zu überreden sucht, sich sicherheitshalber mit einem anderen Lager zu vereinigen, glaubt Sabinus der List des Ambiorix, während Cotta für entschlossene Verteidigung plädiert (und damit die Befehle Caesars ausgeführt hätte).149 Sabinus ertrotzt sich aber die Durchsetzung seines Vorschlages durch listige Spaltung der concordia im Heer150 und ist damit für den katastrophalen Untergang der anvertrauten Truppen verantwortlich. Nimmt man die Darstellung von Crassus bzw. Cotta und Sabinus in Buch 3 und 5 zusammen, ergibt sich eine Charakterisierung des schlechten Legaten als listig (auch wenn er damit zunächst Erfolge erzielt hat) und die des guten als Mannes der uirtus. Sollte Caesar die Bücher des B.G. einzeln im Jahresrhythmus veröffentlicht haben, so ist zumindest denkbar – auch wenn spätere Redaktionen insgesamt wahrscheinlich sind –, dass Caesar ursprünglich List und uirtus als zwei Möglichkeiten, Siege zu erfechten, dargestellt hat, dann aber, als Sabinus ihn enttäuscht hat, den klassisch-republikanischen Dualismus von List und Kraft, dolus und uirtus bemüht.151 Allerdings stiehlt sich hier noch ein dritter Begriff dazwischen. Die uirtus Cottas besteht mehr noch als in seiner Tapferkeit in seinem Willen, auch gegen eigene Überzeugung das Prinzip der Einigkeit nicht aufzugeben. Als er Sabinus nicht überzeugen kann, schließt er sich dessen Strategie an. Caesar lässt keinen Zweifel daran, dass er dieses „Richtige im Falschen“ billigt. Denn disciplina ist z.B. nach Ciceros Auffassung, so wie er sie in Tusc. 1, 2 äußert, sogar noch entscheidender für die militärischen Erfolge der Römer als uirtus. Es ist daher wohl kein Zufall, dass dieser Aspekt auch bei Caesar in den römischen Listdiskurs hineingerät: Disciplina ist das antipartikula-
gungen des Gegners einzufallen (3, 26). List und Offensive ergänzen sich allenthalben in Buch 3 des B.G. 149 Welch (1998) S. 95. Welch sieht hier auch Übereinstimmungen zur Darstellung der Niederlage von Cannae bei Livius. 150 Er trägt seine Bedenken über die Sicherheit des Lagers absichtlich so laut vor, dass große Teile der einfachen Soldaten sie hören können und Druck ausüben (5, 30). Sabinus verstößt so gegen den Codex einer geschlossenen militärischen Spitze. Seine List ist partikularistisch. 151 T. Peter Wiseman, The Publication of De Bello Gallico, in: Kathryn Welch/ Anton Powell (Hgg.), Julius Caesar as Artful Reporter: The War Commentaries as Political Instruments, London – Swansea, 1998, S. 1 – 9. Zur Problematik der beiden Charakteristika des Sabinus vgl. Welch (1998) S. 93f. (auch im Hinblick auf die Veröffentlichung). Die Art und Weise der Veröffentlichung wird wohl nie endgültig zu klären sein. Von Albrecht (1994a) S. 329 geht z.B. von der Abfassung des ganzen Werkes um 52/51 aus. Helga Gesche, Caesar, Darmstadt 1976, S. 83 resümierte in ihrem Forschungsüberblick bereits 1976, dass „die Möglichkeit einer ‚Lösung‘ der anstehenden Probleme [gemeint die Wahrhaftigkeit und die Datierung des Bellum Gallicum, F.W.] fraglich“ sei.
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ristische Prinzip schlechthin und damit nach römischer Auffassung ebenso als Gegenbegriff zu dolus prädestiniert wie uirtus. 1.4.2.3 Sallust Mit Sallust ist ein endgültiger Umbruch in der senatorischen Geschichtsschreibung markiert. Die Senatoren zielen mit ihren historiographischen Texten nicht mehr darauf ab, Politik zu beeinflussen, wie wir es bei den zensorischen Autoren Cato und Piso annehmen dürfen, oder ihre eigene politische Rolle zu rechtfertigen, wie es in den Kommentarien und Autobiographien geschehen ist. Zwar spricht Sallust in der Einleitung zu seinem Catilina und Iugurtha viel von den politischen Irrgängen seiner Jugend und einer späten Läuterung, aber dies dient wohl kaum noch der sozialen oder politischen Rechtfertigung. Man muss es vielmehr als eine Strategie begreifen, eine gemeinsame Basis zwischen Autor und Leser zu schaffen. Wie Sallust wurden viele Senatoren in den späten Tagen der Republik aus einem aktiven politischen Leben geworfen. Es ist attraktiv für diesen Leserkreis, die gescheiterten Opportunismen und Kompromisse als Jugendsünden abzutun und so eine moralische Integrität zurückzugewinnen, die es ermöglicht, die politischen Ereignisse, in denen der Senat nun nicht mehr Akteur, sondern Getriebener ist, wie von außen zu zensieren. Damit fungiert der Moralismus der senatorischen Geschichtsschreibung eher als Gruppendiskurs152 denn als echte Handlungsempfehlung, auch wenn die Autoren bisweilen noch behaupten, exempla zu stiften, nach denen man sich im Leben orientieren könne.153 Sallust und ganz besonders Tacitus lassen deshalb immer wieder 152
„Dieses Wissen stellt eine besondere Ideologieform dar. Es dient nicht der Aufrechterhaltung der Herrschaft; es verschleiert nicht die Herrschaftsverhältnisse, und es wird nicht weitergereicht an die Beherrschten, damit diese es sich zu eigen machten. (…) Das in ihm geformte Wissen ist ableitbar aus einer bestimmten Objektivierung der sozialen Praxis der herrschenden Klasse. Es homogenisiert diese, dient also der Selbstsituierung einer extrem schmalen Gruppe, die als Träger der Herrschaft von sich glaubt, Garant der Ordnung schlechthin zu sein, freilich nicht durch ihr bloßes Vorhandensein, sondern einzig durch ständige Anstrengung; daher die unablässigen Appelle der historiographischen Texte an die Leistungsbereitschaft dieser Aristokratie, an die Bewahrung ihrer Standeskultur und v. a. an ihre ethische Homogenität.“ Egon Flaig, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich, Frankfurt – New York 1992, S. 29. Es ist dabei aber wichtig sich vor Augen zu führen, dass die Senatsaristokratie ihre Aufgaben als Führungselite zwar auch in der Kaiserzeit hatte, aber eben nicht mehr Entscheidungen über die Leitlinien der Politik treffen konnte. Dieser Appell an die Leistungsbereitschaft ist immer auch ein Verlustdiskurs. 153 Sallust in Iug. 4, dazu Stephan Schmal, Sallust, Darmstadt 2001, S. 124. Wenn man sich dieses Kapitel im Iugurtha genau ansieht, stellt man fest, dass Sallust zwar bekräftigt, dass die memoria zu großen Taten auffordert, aber sein Beispiel sind die bedeutenden Männer der Punischen Kriege, die durch den Anblick der Wachsmasken zur uirtus angestachelt wurden. Sallust selbst scheidet, wie er an der gleichen Stelle kundtut, eben aus
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den Gegensatz zwischen idealisierten republikanischen Werten und den Anforderungen einer von den großen Einzelnen bestimmten Realpolitik hervortreten. Moral erscheint dabei aber nicht mehr als Heilmittel gegen einen von inneren Kämpfen zerrütteten Staat, sondern dient nur noch dazu, endgültige Verluste zu bilanzieren. List, Betrug und Verschwörung sind für Sallust Krisensymptome des Staates. In seiner römischen Archäologie macht Sallust dolus zur direkten Folge bereits der ersten Dekadenzstufe des römischen Gemeinwesens, d.h. dolus ist seinerseits das erste Symptom politischen Verfalls. Verursacht wird es durch den Ersatz von Ruhmstreben (gloria) durch Ehrgeiz (ambitio) [Cat. 11, 1f.]: Sed primo magis ambitio quam auaritia animos hominum exercebat, quod tamen uitium propius uirtutem erat. Nam gloriam, honorem, imperium bonus et ignauos aeque sibi exoptant; sed ille uera uia nititur, huic quia bonae artes desunt, dolis atque fallaciis contendit. Zuvor hatte Sallust auaritia als Hauptübel bezeichnet, das nach dem Wegfall der großen Gegner (besonders Carthago), die Rom bisher in Schach gehalten hatten, alle Tugenden untergräbt. Die ambitio ist dagegen durch ihre Nähe zum adligen Ruhmestreben weniger verheerend. Nun sind gloria und ambitio zwar auf der moralischen Ebene zu unterscheiden, inhaltlichkonzeptionell aber kaum. Sallust möchte darauf hinaus, dass gloria ein Streben nach Ruhm ist, das seine Erfüllung innerhalb der res publica sucht, also dem Gemeinwohl verpflichtet ist, während ambitio partikularistisch ist (genau darin gleicht sie der List154). Nur mit lauteren Mitteln (uera uia) erworbeder aktiven Politik aus. Er wirbt hier eher für seine literarische Betätigung als für gelebte uirtus. Livius, der gar kein senatorischer Autor ist, äußert sich (praef. 10) ähnlich: hoc illud est praecipue in cognitione rerum salubre ac frugiferum, omnis te exempli documenta in inlustri posita monumento intueri; inde tibi tuaeque rei publicae quod imitere capias, inde foedum inceptu foedum exitu quod vites. Livius und Sallust bemühen Erinnerungsmodi der face-to face-Gesellschaft der Republik (Wachsmasken bzw. Denkmäler). Tacitus (ann. 3, 65) äußert sich hier vorsichtiger und denkt eher an den guten oder schlechten Ruf bei der Nachwelt, der durch die Geschichtsschreibung erzeugt werden kann. Ob er wirklich meint, dass die Lektüre seines Geschichtswerkes auf das Handeln der Leser durchschlägt, ist offen gelassen: exequi sententias haud institui nisi insignis per honestum aut notabili dedecore, quod praecipuum munus annalium reor ne uirtutes sileantur utque prauis dictis factisque ex posteritate et infamia metus sit. 154 „Dolus is, finally, antisocial, in two senses: first, it enables an individual (…) to prevail against many foes, and thus, in asserting this potential, dolus calls into question at least one rationale for social cohesion. Second, dolus, even when directed against an enemy, is dangerously unpredictable, capable on another day of being turned against ,friends‘.“ Abbot (1997) S. 18f. Wie wir sehen können, stecken aber gerade hier auch die positiven Elemente der List und die Römer haben sich diese nicht entgehen lassen, gerade wenn es darum ging, allein gegen übermächtige Feinde zu kämpfen. Dies wird im Kapitel zu Livius deutlich werden.
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ner Ruhm ist gloria.155 Die List ist daher für Sallust ein Ausweis des falschen Weges zum Erfolg und als solcher erscheint er auch immer bei ihm – mit einer Ausnahme. Dort schildert er, wie Cicero sich gegen die Angriffe des Catilina zur Wehr zu setzen weiß (Cat. 26, 1f.): Neque interea quietus erat, sed omnibus modis insidias parabat Ciceroni. Neque illi tamen ad cavendum dolus aut astutiae deerant. Für Abbot ist diese Stelle ein Beleg dafür, dass dolus insgesamt eben ein moralisch nicht eindeutig negativer Begriff bei den Römern sei.156 Für die Römer insgesamt mag das zutreffen, aber Sallust hat ihn m. E. doch hinreichend negativ semantisiert. Natürlich ist die Gegenlist des Cicero hier moralisch positiver zu bewerten als der Anschlag des Catilina.157 Aber könnte Sallust nicht in gleicher Weise wie später Tacitus (s.u.) deutlich machen, dass Listen einerseits Verfallssymptome der römischen Gesellschaft, andererseits als solche eben ubiquitär und auch für die boni nicht mehr verzichtbar sind? Sallust hätte einen solchen Sieg der List über die uirtus in gewisser Weise in seiner Anthropologie vorbereitet (Cat. 1, 2 – 4): Sed nostra omnis uis in animo et corpore sita est: animi imperio, corporis seruitio magis utimur; alterum nobis cum dis, alterum cum beluis commune est. Quo mihi rectius [esse] uidetur ingeni quam uirium opibus gloriam quaerere et, quoniam uita ipsa, qua fruimur, breuis est, memoriam nostri quam maxume longam efficere. Nam diuitiarum et formae gloria fluxa atque fragilis est, uirtus clara aeternaque habetur. Die Leistungen des Geistes sind für Sallust der reinen Körperkraft überlegen; consilium und ingenium der uis corporis vorzuziehen. Virtus soll ganz auf der Ebene des Geistes angesiedelt sein, wie der Schlusssatz des Gedankens deutlich macht. Und natürlich betrachten viele römische Autoren geistige Fähigkeiten als uirtutes.158 155
Vgl. Sallust Cat. 7, 6 über das Ethos der früheren Jugend: Sed gloriae maxumum certamen inter ipsos erat: se quisque hostem ferire, murum ascendere, conspici, dum tale facinus faceret, properabat. (…) Laudis auidi, pecuniae liberales erant, gloriam ingentem, diuitias ho nestas uolebant. Abbot (1997) S. 17f. selbst glaubt, dass das Streben nach gloria ein Schlüssel zum Verständnis des „force-cunnig topos in Latin literature“ sei (ebenda S. 17) und verweist besonders auf Sallust. Aber gerade Sallust hat seine liebe Not, diesen Topos konzeptionell zu begründen, und in gewisser Weise bricht er ihm sogar zusammen, wie das Folgende lehrt. 156 Abbot (1997) S. 35 mit Anm. 84 und S. 170 mit Anm. 22. 157 Bereits Cat. 28, 2 wird dolus auch für den Anschlag auf Cicero verwendet! 158 Cicero bringt es auf den Punkt, wenn er deutlich macht, dass die Philosophie „alle guten Gestimmtheiten des Geistes“ als uirtutes bezeichnet, dieser Begriff aber eigentlich vom Manne abgeleitet ist und zunächst die Tapferkeit als Schmerz- und Todesverachtung meint. Damit macht Cicero deutlich, dass es ein römisches Verständnis von uirtus gibt, das diese eigentlich in den Bereich der körperlichen Abhärtung stellt (Tusc. 2, 43): Atqui uide ne, cum omnes rectae animi adfectiones uirtutes appellentur, non sit hoc proprium
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Aber der Historiker gerät damit doch in den klassischen Dualismus von dolus und uirtus, bei dem dolus durch sapientia, consilium usw. ersetzt werden kann, uirtus dagegen durch die rohe unbedachte Gewalt, eben uis corporis.159 Die Natur dieses Dualismus uirtus vs. dolus beschreibt uirtus eher als ein Körperkonzept, dolus eher als eines des Geistes. Indem Sallust selbst den Dualismus vom Körper zugunsten des Geistes verschiebt, liegt er paradoxerweise auf der gleichen Ebene wie Catilina, der vermittels List über die in Sallusts Wertekosmos „vertierten“, d.h. der Lust ausgelieferten Körper der anderen iuuenes herrscht. Der geistig generierten List ist nicht mehr mit der körperlich generierten uirtus beizukommen: List verlangt Gegenlist. Das würde das Verhalten Ciceros in Sallusts Monographie erklären. 1.4.2.4 Tacitus Tacitus berichtet für das Jahr 19. n. Chr. von einem Ereignis, das an das alte Fabriciusexempel aus der klassischen republikanischen Annalistik anknüpft (ann. 2, 88): Der Chattenfürst Adgandestrius bietet dem Kaiser brieflich an, den Sieger der Varusschlacht, Arminius, mit Gift zu beseitigen, erhält aber von Tiberius als Antwort, dass das römische Volk nicht mit Betrug und Heimlichkeit, sondern nur offen gegen seine Feinde vorgehe. Reperio apud scriptores senatoresque eorundem temporum Adgandestrii principis Chattorum lectas in senatu litteras, quibus mortem Arminii promittebat si patrandae neci uenenum mitteretur, responsumque esse non fraude neque occultis, sed palam et armatum populum Romanum hostis suos ulcisci. qua gloria aequabat se Tiberius priscis imperatoribus qui uenenum in Pyrrum regem uetuerant prodiderantque. ceterum Arminius abscedentibus Romanis et pulso Maroboduo regnum adfectans libertatem popularium aduersam habuit, petitusque armis cum uaria fortuna certaret, dolo propinquorum cecidit: liberator haud dubie Germaniae et qui non primordia populi Romani, sicut alii reges ducesque, sed florentissimum imperium lacessierit, proeliis ambiguus, bello non uictus. septem et triginta annos uitae, duodecim potentiae expleuit, caniturque adhuc barbaras apud gentis, Graecorum annalibus ignotus, qui sua tantum mirantur, Romanis haud perinde celebris, dum uetera extollimus recentium incuriosi.
nomen omnium, sed ab ea quae una ceteris excellebat, omnes nominatae sint. Appellata est enim ex uiro uirtus; uiri autem propria maxime est fortitudo, cuius munera duo sunt maxima, mortis dolorisque contemptio. Vtendum est igitur his, si uirtutis compotes, uel potius si uiri uolumus esse, quoniam a uiris uirtus nomen est mutuata. Quaeres fortasse quo modo, et recte; talem enim medicinam philosophia profitetur. 159 ter Beek (1999) S. 11 (und ff.), S. 231 – 243.
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Auffällig an der Darstellung ist bereits ihre Einleitung: Tacitus führt den Bericht ein wenig distanziert ein, er geht nicht auf eigenes Quellenstudium zurück, sondern auf andere senatorische Geschichtsschreibung.160 Ebenso ist die Position der Nachricht in den Annales ein wenig ungewöhnlich: Am Ende eines Annalenbuches berichtet Tacitus gern von Ereignissen, die zwar in dem von ihm selbst gerade beschriebenen Zeitraum ein gewisse Bedeutung erzielt haben, die aber keinen direkten Ort in der Logik seiner Erzählung finden. Tatsächlich ist durch die Stellung der Episode am Schluss des Buches nicht klar erkennbar, wann eigentlich dieses Ereignis stattgefunden hat – eine chronologische Uneindeutigkeit, die vermeidbar gewesen wäre, denn Tacitus berichtet ann. 2, 45f. über Arminius’ Kampf gegen den Suebenkönig Marbod und dort hätte der Leser auch schon gern erfahren, wie es eigentlich mit Arminius weiterging. Jedoch haben diese scheinbar vom Hauptbericht gelösten Ereignisse oft einen verborgenen Zusammenhang mit dem zuvor Geschilderten. Der Abschnitt dient sowohl als Epilog auf das zweite Annalenbuch als auch als elogium für Arminius selbst. Tacitus stilisiert den Gegner und seinen Kampf gegen Rom auf dem Niveau der republikanischen Überlieferung.161 Gerade der Hinweis auf die senatorische Annalistik, aus der Tacitus den Bericht entnommen haben will, legt diesen metaliterarischen Zug des Berichts offen. Zugleich wird hier mit den Begriffen fraus, occulta und dolus ein Bezug nicht nur zum republikanischen Fabriciusexemplum hergestellt, sondern eine Thematik aufgegriffen, die im zweiten Annalenbuch zentral war: das Verhältnis von uis (bzw. uirtus) und dolus als Mittel der Außenpolitik: Da ist zum einen das Problem der parthischen und armenischen Thronstreitigkeiten (ann. 2, 1 – 4; 55f.; 58; 68), in dem Rom eine Schiedsrichterfunktion zum Teil beansprucht, zum Teil aufgedrängt bekommt; der germanische Feldzug des Germanicus (2, 5 – 26) der im militärischen Bereich einigermaßen glückt, logistisch aber ein Desaster darstellt und von Tiberius beendet wird; die genannten Auseinandersetzungen zwischen Sueben und Cheruskern (2, 44 – 46; 62f.), die der jüngere Drusus bereinigen soll, und
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Koestermann (1963) S. 413. Gerade der Schlusssatz leistet dies ganz deutlich. Die Griechen werden dafür gerügt, dass sie sich nur für ihre Geschichte interessieren, die Römer, weil sie nur die Vergangenheit betrachten. Ein bedeutender Gegner wie Arminius werde daher nicht wahrgenommen. Ein Römer soll, das ergibt sich ex negativo, sowohl seine Gegner ehren, wenn sie es verdienen, als auch heroisches Verhalten in der Gegenwart wahrnehmen. Tacitus inszeniert damit ein Schreiben, das dem der republikanischen Autoren ebenbürtig sein soll, denn die Kritik, Feinde nicht wahrzunehmen, weil man sich nur für die Vergangenheit interessiere, ist in Tacitus Augen ein Übel der zeitgenössischen Historiographie (sonst müsste er auch die Römer dafür kritisieren, dass sie sich nur für sua interessieren). Und in der Tat werden Feinde ja bei Livius, Caesar und, wenn wir an Pyrrhus denken, in der republikanischen Annalistik positiv oder zumindest respektvoll dargestellt.
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schließlich ein dynastischer Streit in Thrakien, den der Kaiser selbst entscheidet (2, 64 – 67). Die Politik der Römer in Armenien erscheint bei Tacitus nicht erst unter der Regierung des Tiberius als chaotisch und opportunistisch. Den Beginn der Beziehungen zwischen Rom und Armenien charakterisiert – nicht im absoluten chronologischen Sinne, sondern in der taciteischen Erzählung (ann. 2, 3) – eine römische List. Sie gleicht der, die Hirtius in B.G. 8, 23 geschildert hat und hat auch die gleichen Folgen: unheilbares Misstrauen bei den Gegnern. Marc Anton hatte einst den armenischen König Artavasdes unter der Vorspiegelung von Freundschaft angelockt, dann aber in Fesseln legen und töten lassen. Der Sohn des Königs wird daraufhin ein unversöhnlicher Feind der Römer, bis er selbst durch einen Anschlag (per dolum) seiner Familie zugrunde geht. Germanicus und Drusus wird im Jahre 19 eine ouatio zugestanden (ann. 2, 64): dem Germanicus, weil er in Armenien erfolgreich einen neuen König installiert hatte, dem Drusus, weil es ihm gelungen war, den Markomannenkönig Marbod zu entmachten. Tiberius sei besonders erfreut gewesen, weil dieser Frieden durch bedachtes Agieren und nicht durch Waffengewalt herbeigeführt worden sei (ann. 2, 64): laetiore Tiberio quia pacem sapientia firmauerat quam si bellum per acies confecisset. Das Vorgehen des Drusus wird von Tacitus in eigentümlicher Weise beschrieben (ann. 2, 62): haud leue decus Drusus quaesiuit inliciens Germanos ad discordias utque fracto iam Maroboduo usque in exitium insisteretur. Drusus erregt Zwietracht bei den Germanen, um den ohnehin (nach einer Niederlage, die ihm Arminius beigebracht hatte) angeschlagenen Marbod endgültig zu entwaffnen. Dieses Handeln bringt dem Drusus nicht wenig Ansehen ein. Marbod sieht sich schließlich gezwungen, die Römer selbst um Asyl zu bitten, das er bis zu seinem Lebensende in Ravenna verbringt (ann. 2, 63). Nicht anders ergeht es später Marbods Widersacher Catualda, dessen sich Drusus bedient hatte162 (ann. 2, 63). Es ist überraschend, mit welcher Selbstverständlichkeit Drusus die Zwietracht in Illyrien ausnutzt, um römische Außenpolitik zu verwirklichen. Sein Verhalten entspricht in etwa dem des Sextus Tarquinius bei der „Einnahme“ von Gabii, das er im Dienste seines Vaters innenpolitisch zerrüttet. Es könnte durchaus dem jeweiligen Zeitgeist geschuldet sein, dass der Augusteer Livius die beiden Tarquinii als verschlagen und böse darstellt, während der tiberianische Autor Valerius Maximus (7, 4, 2) das Verhalten des Sextus als Akt kindlicher pietas erscheinen lässt.163
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Ich stütze mich hier auf die Kommentierung des Tacitus selbst (Drusus […] incliens Germanos ad discordias). Tatsächlich kann man ann. 2, 62 nicht erkennen, wie das Eingreifen des Drusus konkret ausgesehen haben soll. 163 Dazu ausführlich im folgenden Kapitel, siehe zu Valerius Maximus besonders Anm. 85.
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Auch wenn die Freude des Tiberius ganz allgemein dem unblutigen Auslöschen zweier Krisenherde gilt, ist es doch offenbar eher das verschlagene Verhalten seines Sohnes Drusus als das gradlinige des Germanicus,164 an dem Tiberius seine Freude hat und das ihn zu einer politischen aemulatio anstachelt (ann. 2, 64): igitur Rhescuporim quoque, Thraeciae regem, astu adgreditur. Eine kritische Haltung des Tacitus kann man aus der Formulierung mit astus freilich nicht ablesen.165 Tiberius schickt einen Centurio, der Rhescuporis und seinen Neffen Cotys, die um die Herrschaft in Thrakien streiten, zu einem Friedensgespräch auffordert. Rhescuporis nutzt das Gespräch, um Cotys bei einem Gastmahl in Ketten legen zu lassen. Dieses Verhalten wird von Tacitus klar als dolus qualifiziert.166 Rhescuporis beschuldigt in einem Brief an Tiberius seinerseits den Cotys, ihm einen Hinterhalt gelegt zu haben (insidiae, insidiator). Tiberius antwortet, wenn kein Betrug (fraus) stattgefunden habe, könne der Thraker auf seine Unschuld vertrauen (innocentiae fidere) und sich einer Untersuchung stellen. Ferner verlangt er die Auslieferung des Cotys. Diesen lässt Rhescuporis daraufhin töten (ann. 2, 66). Auch dieser Gewaltakt lässt den Kaiser nicht seine Methode ändern (nec tamen Caesar placitas semel artes mutauit). Er ernennt einen engen Freund des Königs, Pomponius Flaccus, zum Präfekten von Thrakien, weil dieser sich am besten für eine Täuschung eignet (eoque accomodatiorem ad fallendum). Flaccus schafft es durch große Versprechungen, Rhescuporis zu einem Treffen innerhalb römischer Befestigungen zu überreden, wo dieser natürlich sofort festgenommen und zum Prozess nach Rom überführt wird (ann. 2, 67). Thrakien wird an die Kinder des Rhescuporis und des Cotys aufgeteilt, Rhescuporis selbst später auf der Flucht oder unter diesem Vorwand umgebracht (fugam temptans an ficto crimine interficitur). Es folgt (ann. 2, 68) noch die Schilderung des gescheiterten Fluchtversuches des Vonones, der dabei ebenfalls umkommt. Weder das Verhalten des Drusus noch das des Tiberius kann man wohl als palam qualifizieren. Dennoch würden sie vielleicht auch nach Maßgabe republikanischer oder frühaugusteischer Idealisierungen noch einige Rechtfertigung finden. Schon die beiden oben behandelten Fassungen der Pyrrhusepisode verrieten zwei generell akzeptierte Handlungsmuster: Die rückhaltlose Aufklärung des Gegners bei Quadrigarius und ein eher vorsichtiges Distanzieren bei Valerius Antias, das alle Optionen offenhält, sich die Zwietracht am Hof des Pyrrhus zunutze zu machen. Dem entspricht in etwa das Verhalten des Drusus, gerade in der Schilderung des Tacitus, an der eigent164
Germanicus gibt ann. 2, 56 den Armeniern einfach den König, den sich diese selbst gewünscht haben, und ordnet die Verhältnisse im Einklang damit. 165 Man kann astus nicht von vornherein negativ bewerten, vgl. Tac. hist. 2, 98. Anhänger des Vespasian entgehen den Häschern des Vitellius fide amicorum aut suomet astu occultati. 166 Dolus ist bei Tacitus immer ein böswilliger, ja todbringender Anschlag (Abbot [1977] S. 171).
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lich nicht klar wird, was Drusus anderes getan hat als abzuwarten. Das Taktieren des Tiberius mit Rhescuporis wiederum ist eine Reaktion auf ein arglistiges Verhalten des Thrakers selbst. In einem solchen Fall ist List durchaus vertretbar, wie Tacitus an anderer Stelle betont (ann. 11, 19).167 Es gibt hier aber insgesamt eine spürbare Kluft zwischen den von Tiberius gegenüber Adgandestrius formulierten Grundsätzen und der Praxis. Besonders das Strategem „Den Tiger vom Berg in die Ebene locken“168 ist für die römische Außenpolitik gut belegt. Auch des falschen Agrippa wird Tiberius auf diese Weise habhaft (2, 40). Den König Archelaos lockt der Kaiser ebenso unter falschen Vorspiegelungen nach Rom, um ihm dann den Prozess zu machen (2, 42). Alle diese Vorfälle werden im zweiten Buch der Annalen geschildert. Abbot, der sich in einem ganzen Kapitel mit Tacitus auseinander setzt, ist nicht entgangen, dass die Außenpolitik des Tiberius, die dieser auch seinen Prinzen abverlangt, sich eher auf „sapientia, consilium and astus rather than vis“ stützt und also eine Diskrepanz zu dem hohen Ideal, das Tiberius gegenüber Adgandestrius zu erkennen gibt, besteht, die man nur als Ironie beschreiben kann.169 Die Ironie liegt m. E. ganz besonders in der Position der Adgandestrius-Episode. Tacitus gestaltet sie formal genau so, wie Quadrigarius und Valerius Antias ihr Fabriciusexemplum gestaltet haben, und schließt obendrein mit einer Kritik an der zeitgenössischen Historie, die nicht in der Lage ist, große Gegner zu würdigen – so wie es vermutlich die klassische Annalistik mit einem Pyrrhus getan hat. Tacitus setzt als Epilog zu seiner eigenen Darstellung in Buch 2 den Entwurf einer klassisch annalistischen Sichtweise auf römisches Handeln und römische fides. Zugleich macht er deutlich, dass es mit dieser Form von Geschichtsschreibung vorbei ist, obwohl er selbst in der Lage wäre, sie durchzuführen. Dies bekräftigt im Hinblick auf die Imagination listigen Verhaltens die Existenz eines Gattungszwangs, dessen Geschichte hier ja nachgezeichnet wird; gleichzeitig belegt es Tacitus’ ironische Emanzipation von diesem Gattungszwang.170 167
Freilich bemerken Koestermann und Abbot zu Recht, dass auch Arminius eigentlich ein transfuga und uiolator fidei ist wie der Kanninefate Gannascus, gegen den Tacitus eine List ausdrücklich rechtfertigt. Koestermann (1963) S. 414. Abbot (1997) S. 164. 168 von Senger (2002) S. 63; in Frage käme auch Strategem Nr. 18 (ebenda S. 65): „Will man eine Räuberbande unschädlich machen, muss man deren Anführer fangen“ und natürlich Nr. 10 (ebenda S. 60): „Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen“. 169 Abbot (1987) S. 164f., Zitat S. 165. 170 Man kann auch darüber spekulieren, inwieweit hier eine politische oder eine literarische Rezeption stattgefunden hat: Der Brief mit dem Angebot des Giftanschlags kann, wenn er historisch ist, für Tiberius eine so eindeutige Erinnerung an das exemplum des Fabricius beinhaltet haben, dass er, auch wenn es seinem Politikstil vielleicht entgegengekommen wäre, einfach nicht zustimmen konnte. Ebenso ist es möglich, dass bereits die senatorischen Historiker, die Tacitus hier ausdrücklich als Quellen nennt, den Zusammenhang literarisch so inszeniert haben.
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Tacitus selbst zeichnet, wie Abbot richtig ausgeführt hat, eine Gesellschaft des Misstrauens, in der durch den Umstand, dass die (jeweils) Mächtigen ihre Absichten vor den (jeweils) Untergebenen, die Untergebenen ihr Ansichten vor den Mächtigen verhehlen, immer mit der List des Anderen gerechnet werden muss: „Indeed, it is fair to say that the Tacitean portrait of Rom is of a society gone amuck with suspicion of hidden intentions and the danger they represent.“171 Dieser Beschreibung wird wohl jeder leicht zustimmen, der Tacitus gelesen hat.172 Das Resultat ist eine Paralyse klassischer Dualismen: Wenn Intentionen verborgen sind, kann man am Ende kaum noch unterscheiden, ob eine zufällige Verkettung von Ereignissen oder ein wirklicher Anschlag hinter einem Aufstand, Mord o.ä. steckt. Daher bricht bei Tacitus die Unterscheidung von fors und dolus immer wieder zusammen, wenn er sich bemüht, Ursachen politischer Ereignisse zu benennen.173 Noch auffälliger angesichts des klassischen Dualismus von uis und dolus erscheint eine Formulierung, die Tacitus ann. 2, 17 verwendet. Dort wird die Flucht der Cheruskerfürsten Arminius und Inguiomerus geschildert. Arminius kann sich schwer verletzt retten, indem er sich das Gesicht mit seinem eigenen Blut unkenntlich macht. Es gebe, so Tacitus, auch die Kunde, nach der er von Chaukern, die im römischen Heer Dienst taten, erkannt und durchgelassen worden sei. 171
Abbot (1997) S. 176. Gerade wegen dieser Offensichtlichkeit (Ronald Syme, Tacitus, Oxford 1958, S. 398; dazu Abbot [1997] S. 162) stößt der Ansatz Abbots hier auch an seine Grenzen. Es erscheint etwas willkürlich, den Gebrauch von dolus in ein Geflecht von Rechts- und Philosophiediskursen zu stellen und besonders die Perspektive (Listiger vs. Geprellter – Abbot [z.B. a. a. O. S. 4] ist hier stark von Bok [1999] S. 20 – 30 beeinflusst) als Erklärungsschlüssel zu verwenden: Der Umstand, dass Tacitus’ Darstellung die Position des Getäuschten avanciert, ergibt sich eben aus dieser Soziologie der Macht und muss nicht anders erklärt werden – abgesehen davon, dass die Privilegierung von dolus gegenüber anderen termini aus dem Sinnbezirk der List hier besonders willkürlich erscheint, zeigt doch Abbot (1997) S. 171 selbst, dass Tacitus ein äußerst breites Vokabular für die List zur Verfügung hat: „Clearly, with dolus, Tacitus means to indicate much more than mere cunning, or adroit verbal trickery, or misleading appearance, or pretense, for which he has an ample supply of words.“ Es ist doch wohl eher umgekehrt, dass dolus bei Tacitus ein engerer Begriff aus dem Sinnbezirk der List ist, dieser sich aber als viel umfassender erweist als dolus. Kulturell folgenreicher für Tacitus’ Darstellung erscheint eher die Codierung des Geschehens am Hof als Theaterstück, sodass „das Handeln des Herrschers (…) immer mehr theatralischen Paradigmen“ folgt. Es existiert ein „Zwang zur dissimulatio“ (Zitate aus: Ulrich Schmitzer, Der Tod auf offener Szene. Tacitus über Nero und die Ermordung des Britannicus, in: Hermes 133 [2005], S. 337 – 357, 339). Anders ausgedrückt: Bei Tacitus sehen wir Theaterintrigen, die mit einem Begriff wie dolus gar nicht in den Griff zu bekommen sind. Über Theatralität bei Tacitus ließe sich noch einiges sagen, aber dies ist dazu nicht der Ort, weitere Literatur bei Schmitzer a. a. O. 173 Abbot (1997) S. 174 – 187. Tac. hist. 2, 42. Abbot S. 178 und 186 versucht von dieser Überlegung ausgehend, eine Unterscheidung anzustrengen zwischen dem Historiker Tacitus, der auf der Suche nach den Ursachen historischen Geschehens scheitert und dem Moralisten Tacitus, der sehr wohl zwischen Zufall und List unterscheide. 172
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Dann fährt der Bericht fort: uirtus seu fraus eadem Inguiomero effugium dedit: „Die gleiche Verwegenheit (das wäre das tapfere Durchbrechen des Cheruskerfürsten) oder der gleiche Betrug (das wäre ein chaukischer Verrat) gaben dem Inguiomerus Gelegenheit zur Flucht.“ Fraus und uirtus gibt es zwar noch, aber sie noch auseinander zu dividieren fällt immer schwerer. In diesem Zusammenhang scheint der Ansatz von Christopher Pelling erwägenswert, dass Tacitus zwar ein Ethos alter republikanischer uirtus als Folie zu diesem listigen Handeln verwendet (etwa in der Gestalt des glänzend theatralischen, aber auch im Ergebnis erfolglosen Germanicus),174 aber doch alles in allem erkennen lässt, dass die Politik des Tiberius die zeitgemäßere ist. Immerhin hat bereits Livius eine Aufweichung der strikten uirtus-Politik aus den Erfordernissen des gewachsenen Reiches heraus als vernünftig dargestellt (s. folg. Kapitel). Bei der Ablehnung der List in der Außenpolitik handelt es sich vor allem um einen idealisierten und ex post unterstellten Ehrencodex aus der frühen und mittleren Republik. Tacitus beschreibt die moralische Unzulänglichkeit der Kaiser, indem er sie an diesem Ideal misst, dessen konkrete politische Dimension für ihn obsolet ist, das aber in der Literatur und als kulturelles Bezugsfeld weiter lebt. Tiberius kann sich in seinem Handeln an Fabricius orientieren, wenn es ihm nützlich erscheint, er kann es aber auch unterlassen. Er muss dann in Kauf nehmen, dass seine imago in bestimmten Kreisen leidet, seine politischen Handlungsmöglichkeiten sind aber letztlich nicht davon betroffen. Gerade die ironische Darstellung des Tacitus, der das letzte bedeutende annalistische Werk der römischen Literaturgeschichte vorgelegt hat, belegt die kulturelle Kraft einer exempla-Topik, die eigentlich einmal aus den Bedürfnissen der Republik heraus entstanden war. 1.5 Methodik und Gliederung Die vorliegende Arbeit bedient sich zum Teil der Methoden und Grundannahmen der Kulturwissenschaft,175 aber es ist die (augusteische) Literatur, die den eigentlichen Gegenstand dieser Arbeit bildet. Es werden literarische Imaginationen und Konzepte, Geschichten und Maximen untersucht. Lite174
Pelling (1993). M. E. folgt Abbot (1997) S. 187 – 200 trotz einiger subtiler Argumentationen in seinem Germanicus-Unterkapitel den Thesen Pellings. Abbot bezeichnet aber den Germanicus als eine Art alter ego des Historikers Tacitus, dem nur dessen ironische Schläue abgehe (S. 189). Plausibler ist, dass Tiberius das alter ego des Tacitus darstellt – ohne dessen Brillanz: undurchschaubar, den Senat ob seiner Schwäche verspottend und gallig. 175 Gemeint ist die im Folgenden ausgeführte Vorstellung von der Teilhabe der Texte an den „materiellen und gedachten Ordnungen“ (Hartmut Böhme, Kulturwissenschaft, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2 [2000], S. 356 – 359, 357) der augusteischen Kultur.
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ratur folgt eigenen Regeln, sie bildet ein eigenes kulturelles Handlungs- und Bedeutungsfeld. Das heißt zum Beispiel, dass sie für die pragmatische Seite ihrer Aussagen nicht in gleicher Weise einzustehen hat wie in Gesetz, ein Befehl oder eine Bauanleitung. Diese Sonderheit darf aber nicht so verstanden werden, als könne Literatur sich unabhängig von den übrigen Praktiken und Diskursen entwickeln und als könne sie folglich wie eine autonome Einheit behandelt werden. Dies wird hier nicht gesagt, um noch einmal gegen die Möglichkeit von immanenten Interpretationen zu polemisieren, an die wohl ohnehin niemand mehr glaubt. Es geht eher darum, die Reichweite der hier getroffenen Aussagen über die römische Kultur in toto vernünftig zu begrenzen. Anders ausgedrückt, es geht um die Frage, wie repräsentativ die textlichen Repräsentationen sind, um einen Ausdruck aus dem New Historicism zu verwenden.176 Praktiken in Texten und Praktiken im politischen Alltag können sich gegenseitig durchdringen, wie wir etwa am Beispiel des Tiberius sehen konnten. Bei einer Gelegenheit tritt der Kaiser in eine aemulatio mit Fabricius ein, bei einer anderen geht er den Weg politischer Ränke. Aber vergessen wir nicht: So stellt Tacitus das Problem dar. Ob Tiberius sich überhaupt um den uirtus-dolus Dualismus geschert hat und ob der Vorfall mit Adgandestrius überhaupt stattgefunden hat, dazu wagt der Literaturwissenschaftler keine Stellungnahme. Aber dass Tacitus so wie alle anderen Schriftsteller durch ihre Imaginationen, Reflexionen und Bewertungen an der politischen Kultur teilhaben, dass sie Maßstäbe für Handeln entwickeln, die Teil der kaiserzeitlichen Kultur sind, das muss gerade für Rom nachdrücklich betont werden. Thomas Habinek hat in einer viel beachteten Monographie die gesamte römische Literatur aus den politischen Bedürfnissen des Senatsadels hergeleitet.177 Ich möchte auf die mögliche Kritik an diesem monokausalen Ansatz nicht weiter eingehen. Richtig aber ist: In Rom hat es bis in die Kaiserzeit keine Literatur gegeben, die ihre Rechtfertigung nicht zu einem gewissen Umfang aus ihrer sozialen oder politischen Relevanz bezogen hat. Sogar die so genannte „neoterische“ Literatur ist in ihrer demonstrativen Abkehr vom Politischen politisch und soll es auch sein.178 176
Jörg O. Fichte, New Historicism, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2 (2000), S. 712 – 714, 712. 177 Thomas N. Habinek, The Politics of Latin Literature. Writing, Identity, and Empire in Ancient Rome, Princeton – Oxford 1998. 178 Niklas Holzberg, Catull. Der Dichter und sein erotisches Werk, München 2002, S. 110 hält es für denkbar, dass die obszönen „Angriffe“ des Catull auf Caesar ein literarisches Spiel darstellen, dessen Lizenzen der Julier anerkannt hat (anders aber ebenda S. 176). Ob das Zusammentreffen, während dessen Catull dem Prokonsul 54 v. Chr. Abbitte geleistet haben soll (Suet. Iul. 73. Matthias Gelzer, Caesar. Der Politiker und Staatsmann, Wiesbaden 1983, S. 122), wirklich historisch ist, bleibt dahingestellt. Ob nun literarisches Spiel oder politischer Ernst: Die politische Dimension selbst dieser postalexandrinischen Literatur, die in die Gesellschaft hineinspricht und dort auch gehört wird, ist doch unbestreitbar. Überhaupt ist ja das Paradigma Alexandrias, das für Roms Dichter so prägend wurde,
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Schöngeistige Literatur, l’art pour l’art, ist nicht nur in vormodernen Gesellschaften ein Sonderfall.179 In diesem Sinne ist die vorliegende Arbeit auch dem New Historicism verpflichtet. Jedoch wird das Besondere der Literatur gerade nicht marginalisiert und eher von der variierenden Teilhabe des Textes an kulturellen Handlungen gesprochen180 als von der Verhandlung gesellschaftlicher Diskurse. Detienne und Vernant konnten ihre Untersuchung zur griechischen Metis, auch wenn dieser Begriff für sie zentral wurde, weder auf eine Wortfeldanalyse noch auf bestimmte Gattungen beschränken. In einem dynamischen Prozess gingen sie gleichzeitig von Begriffen181 und Handlungstypen aus, die sie vorsichtig einander zuordneten, bis sie Analogien und Übereinstimmungen feststellten, die es erlaubten, ein eigenes Konzept von Handeln bei den gerade nicht Beispiel einer verkünstelten Buchliteratur, sondern diente auch konkreten Interessen der Ptolemäer; vgl. Markus Asper, Kallimachos. Werke. Griechisch und Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Markus Asper, Darmstadt 2004, S. 11. 179 Auch weltabgewandte schöngeistige Literatur lässt sich natürlich kulturwissenschaftlich und sogar politisch lesen. Worauf hier besonders hingewiesen werden soll, ist der Umstand, dass gerade in Rom Literatur lange Zeit keinen Sonderstatus genossen hat, dass man Äußerungen nicht deshalb einen Freiraum zugestanden hat, weil sie schriftlich niedergelegt und sprachlich ästhetisiert waren. Wenn Cato Geschichte in den Origines deutete, dann war das ein Medienwechsel, von dem sich der für den Zensor bestimmte Vorteile versprach (Dauer des Gesagten usw.). Aber ein Senator und ein Zensor hat in dieser Zeit immer schon seine politischen Ziele mit exempla aus der Geschichte vertreten dürfen. Sander M. Goldberg, Ennius after the Banquet, in: Arethusa 39 (2005), S. 427 – 447, 427; ders., Constructing Literature in the Roman Republic: Poetry and its Reception, Cambridge 2005 benennt als Beginn der römischen Literatur den Aufenthalt des griechischen Philologen Crates von Mallos um 160 v. Chr. in Rom. Von diesem sollen die Römer gelernt haben, Literatur als ein eigenes Untersuchungsfeld und, so möchte ich hinzufügen, damit als einen kulturellen Sonderdiskurs zu begreifen. Aber wenn wir uns die Politisierungen der augusteischen Literatur ansehen – keiner dieser Texte kommt ohne explizite oder implizite Stellungnahme zum Prinzipat aus –, dann ist klar, dass die römische Literatur sich diesen performativen Charakter, also den Anspruch, in die Gesellschaft hineinzusprechen, mehr bewahrt hat als etwa die Buddenbrooks. Und das ist in Kenntnis des gesellschaftlichen Skandals gesagt, den dieses Buch in Lübeck ausgelöst hat. Dennis Feeney hat in seiner Rezension zu Goldbergs Buch mit Recht (Bryn Mawr Classical Review 2006.08.45) darauf hingewiesen, dass dieser wie ein „modern Horace“ Lesen über „performance“ stelle. Die römische Literatur ist nicht wie die moderne über das Lesen zu definieren. 180 Und zwar ganz genau in dem Sinne, in dem Jörg Rüpke, Acta aut agenda. Relations of Script and Performance, in: Barchiesi/ Rüpke/ Stephens (2004), S. 23 – 43, 40 das Verhältnis von Literatur und Ritual beschreibt: „Rituals and literature (…) are equally legitimate subjects for the history of religions of Rome. It is a matter of different forms of communication, but forms that do not exist as an evolutionary replacement, nor as forms to be differentiated as compulsory or freely selected. (…) Communication about ritual – that is in historical matters, scriptural communication about ritual – is an inseparable part of ritual.” Vgl. dazu auch oben die Auslassungen zum Begriff des Performativen und dem linguistic turn und speziell zu Feeney (2004). 181 Detienne/ Vernant (1974) S. 8f.
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Griechen zu isolieren, das nicht analytisch und philosophisch, sondern handlungsorientiert und mythisch zugleich war und mit dem, was den Autoren als ruse bekannt war, am besten beschreibbar schien. Aus dem bisher Gesagten sollte deutlich werden, dass sich eine Untersuchung zur List in Rom nicht auf die einschlägigen Begriffe dolus, fraus usw. beschränken kann, sondern zugleich Handlungen und Kontexte vergleichen muss, um Listvorstellungen innerhalb der römischen Kultur und nicht allein eine römische Ideologie beschreiben zu können. Nun ist es aber so, dass zur römischen List, wie oben gesagt wurde, schon genügend Wortfeldanalysen vorliegen, auf die sich diese Untersuchung stützen kann. Gleichzeitig belegen diese Arbeiten – indirekt auch die von Abbot, indem sie die wirklich konzeptionellen Fragestellungen in der Emanzipation von der engeren Wortfeldanalyse erzielt –, dass dem Erkenntniswert einer Konzentration auf die Begriffe doch enge Grenzen gesetzt sind. Die Wortfelduntersuchungen zeigen zwar einen Begriff zum Teil in seiner historischen Entwicklung, aber sie zeigen nicht, wie in einer geschlossenen Epoche die List als Handlungspotential literarisch imaginiert wird. Aus diesem Grund fokussiert die vorliegende Untersuchung auf die augusteische Epoche. Das geschieht auch deshalb, weil gerade hier bisweilen von einer augusteischen Ideologie gesprochen wird, die die Römer als Volk der fides idealisiert und die List folgerichtig perhorresziert. Diese Sichtweise verkennt aber, dass gerade dann die List eine besondere Herausforderung an die Literatur ist. Wie oben ausgeführt, muss es sie geben, weil sich die Wirklichkeit mit ihren Unwägbarkeiten niemals einer Norm beugt. Abgesehen davon treten die Unterschiede in den verschiedenen Gattungen synchron schärfer hervor. Denn es ist eben nicht so, dass die römische Geschichtsschreibung für den Umgang des Römers mit der List repräsentativ ist. Die Komödie ist es eigentlich, die für die Evolution der römischen Literatur während der Republik eine katalytische Wirkung hatte. Beinahe jeder republikanische Autor nichtsenatorischer Provenienz der ersten zwei bis drei Generationen (also von Livius Andronicus bis Terenz) hat Komödien verfasst; durch die Öffentlichkeit der Feste war dies eine zentrale Möglichkeit, sich als Autor auszuweisen. Die Komödie ist aber durch die Intrige strukturiert und hat vor allem als Vorlage für die Konzeption der römischen Elegie einige Bedeutung. Deshalb wird diese Gattung als einzige republikanische hier näher betrachtet. Der Fokus dieser Untersuchung liegt ansonsten auf der augusteischen Literatur. Allerdings wird es gerade in der Komödie nicht einfach um verschiedene Arten gehen, wie sich der seruus callidus oder der Jüngling etwas einfallen lassen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Intrige hat als literarisches Motiv gerade in jüngster Zeit durch die Monographie des Germanisten Peter von Matt einige Aufmerksamkeit gefunden182 (der sie freilich auch 182
von Matt (2006). Er geht S. 277 – 287 auch auf den trickster ein, ebenso setzt er sich mit Kants radikaler Abweisung der Lüge auseinander (S. 253 – 260). Damit weitet sich
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nicht auf die Komödie reduziert). Auch wenn diese Arbeit einen faszinierenden Überblick über das Intrigenmotiv in der Literaturgeschichte gibt, ist es doch so, dass die kulturellen Besonderheiten der List in den jeweiligen Nationalliteraturen über die Suche nach dem Motiv, ausgehend von einer mehr oder minder festen Phänomenologie, etwas in den Hintergrund treten. Deshalb geht gerade der Fragenkomplex über die List in der Liebe (Kapitel 4 und 5) weniger auf die konkreten Strategeme ein (das würde auf eine Katalogisierung der Ars amatoria hinauslaufen), sondern fragt nach der Listkompetenz als einem kulturellen Symbol, das eingeordnet wird in andere kulturelle Praktiken, die zur antiken Jugendkultur gehören. Auch die Moralisierung des Listthemas verhindert, dass die Inszenierungsformen der List in Rom gewürdigt und verstanden werden. Abbot avanciert die Perspektive des Getäuschten und wählt das Recht als Bezugssystem, das den dolus natürlich als Delikt behandelt, folglich erscheint die List bei ihm als etwas negativ Konnotiertes. Wheeler dagegen bemüht sich zu zeigen, dass die Kriegslist vom Beginn ihrer Geschichte eine Handlungsoption der Römer war, daher sieht er sie eher positiv oder neutral. Hier aber trifft der grundsätzliche Vorwurf von Sengers: Was ist eigentlich gewonnen, wenn man die List vorwiegend aus moralischer Perspektive betrachtet? Gewiss ist die Frage als solche nicht irrelevant, wurde doch oben, dies wiederum gegen von Senger, deutlich gemacht, dass die List immer auch Wertediskussionen freisetzt. Solche Wertediskussionen werden auch in dieser Arbeit immer wieder thematisiert werden. Doch verdeckt eine solche Fragestellung, wenn sie zum exklusiven Schlüssel der Listthematik wird, die Produktivität und Vielgestaltigkeit der List; vor allem ermöglicht sie keine vorurteilsfreie Untersuchung listigen Handelns als eines literarischen Motivs in kultureller Perspektive, das verschiedenen Geschlechtern, Altersgruppen oder Situationen zugeordnet wird. Genau das aber ist die Absicht dieser Studie. Dabei wird das Motiv auch in der Abhängigkeit der verschiedenen Gattungen erarbeitet. Ein Beispiel für die mögliche Dynamik des Motivs ist etwa der in der bisherigen Listliteratur (mit Recht) immer wieder bemühte Dualismus von uirtus und dolus. List und Tapferkeit/Tugend bilden als Begriffspaar eine feste Denkfigur sowohl der Griechen als auch der Römer. Dabei muss darauf geachtet werden, ob dieser Dualismus eigentlich als Gegensatz oder als gleichwertige Alternative gefasst wird.183 Die Relevanz dieser Beobachtung sein Blick eigentlich von der Intrige zu verschiedenen Spielarten von List und Lüge (beide termini sogar als 39. Kapitelüberschrift), ohne dass dies konzeptionell noch einmal thematisiert würde. Mir scheint, dass sich von Matt für den Begriff der „Intrige“ besonders wegen der damit nötigen inszenatorischen Requisiten entschieden hat. Namentlich die Verkleidung scheint für von Matt ein zentrales Element der Intrige zu sein (S. 46 – 92, 99 – 107). 183 Darauf weist Abbot (1997) S. 14ff. hin, m. E. ohne diesen Gedanken selbst intensiv weiter zu verfolgen.
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konnte hier für die Paare Crassus/Cotta – Sabinus deutlich gemacht werden. Im dritten Buch des B.G. erscheinen „mutiges“ (verstanden als: „offen kriegerisches“) und listiges Verhalten mehr oder minder als gleichwertige Alternativen, im fünften Buch sind es eher Gegensätze. Doch geht dieser Dualismus noch tiefer: Es ist nicht nur so, dass dolus und uirtus jeweils durch andere Begriffe desselben Wortfeldes ersetzt werden können, vielmehr werden bisweilen auch Begriffe in diesen Dualismus implantiert, die man dort nicht unbedingt oder doch nicht sofort vermuten würde (disciplina!). Z.B. hat der Dualismus imperator – orator etwas damit zu tun, nämlich wenn die listige Rhetorik gegen den tapferen Soldaten gestellt wird.184 Die vorliegende Untersuchung unterscheidet auch nach Altersgruppen und Geschlecht, um die Handlungsoptionen der List ganzheitlich zu beschreiben. Dabei wird die Wortfeldanalyse zwar nicht außer Acht bleiben und namentlich für Livius sehr sorgfältig durchgeführt, dennoch ist es programmatisch zu verstehen, dass sie in die Fußnoten „verbannt“ wurde.185 Die römische List soll ihr volles Recht als Motiv und weltanschauliches Konzept in der Literatur erhalten. Die Untersuchung ist daher in drei Teile gegliedert: 1. Die List im Krieg, 2. Die List in der Liebe, 3. Die List und der Kosmos. Der erste Teil ist ausdrücklich nicht den (ohnehin nachaugusteischen) Strategembüchern gewidmet, sondern hinterfragt die These des Livius, der im ersten Buch die List als eine ars minime Romana bezeichnet. Livius war eigentlich der erste Autor einer Kulturgeschichte (durch seine Fokussierung auf artes, die Rom groß gemacht haben, und seine Technik der Reinszenierung kultureller und politischer Rituale und Gesten), auch wenn er immer wieder Kriegsgeschichte schreibt. Die Logik der Ereignisse und die normativen Aussagen treten dabei bisweilen auseinander. Im Ergebnis zeigt sich, dass Livius die List als eine Praxis des jungen römischen Staates billigt. Je stärker Rom außenpolitische Verpflichtungen unternimmt, desto bedeutender wird fides als handlungssteuerndes Element, das durch einen ethischnormativen Diskurs List perhorresziert. Durch die Bedrohungsszenarien der Punischen Kriege aber lässt sich diese Position nicht rigide aufrechterhalten 184
Dazu mehr im Kapitel 6.11. Eine beliebte Fragestellung zur List ist die nach der List im Recht. Dazu wurde oben schon einiges gesagt. Insgesamt können die Elemente der Rechtsdiskussion um dolus und fraus, die für eine literaturwissenschaftliche Arbeit relevant sind und nicht in die Untiefen einer juristischen oder rechtgeschichtlichen Spezialuntersuchung (die ihre eigenen Experten hat), hineinführen, in wenigen Strichen dargestellt werden. Dies erfolgt im Kapitel zu Livius an geeigneter Stelle. Da das Recht sowohl auf soziopolitische und kulturelle Anforderungen und Umstände reagiert als auch in diese hineinwirkt, darf es weder ignoriert, noch muss es im Kontext der kulturellen Determinanten privilegiert werden. 185
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und die List erlebt ein Comeback als außenpolitische Handlungsoption, die aber aufgrund der nicht aufgegebenen fides-Maxime jetzt immer einen moralisierenden Diskurs auslöst. Nota bene: Das ist die Geschichte Roms, wie sie Livius erzählt. Es gibt durchaus Historiker (z.B. Brizzi), die eine ähnliche Entwicklung für historisch authentisch halten. Es ist aber nicht Ziel meiner Interpretation von Ab Urbe Condita in den Kapiteln 2 und 3 dazu Argumente zu liefern. Ebenso ist die „Kleine Geschichte der List“ eine Analyse livianischer Kulturanthropologie und keine Forschung zur römischen Frühgeschichte. Im zweiten Abschnitt wird ein Aspekt näher beleuchtet, der bereits bei Livius vereinzelt angeklungen ist: Mag die List auch mit der grauitas des römischen senex unvereinbar sein, so ist sie doch ein klassisches Signum der Jugend, das diesen nicht nur als Lizenz, sondern regelrecht als Initiationsaufgabe von den Alten abverlangt wird. Die Liebeselegie wird in diesem Kapitel verstanden und gelesen als ein Medium, das die List als Teil der rites de passage problematisiert. Die Liebeselegie schafft eine Art Äquivalent zu Passageriten. Auch hier geht es nicht darum, Literatur als Repräsentation von Ritualität zu verstehen, sondern den Texten selbst rituelles Potential zu unterstellen. Der Abschnitt berücksichtigt die Liebeselegie als zentrale augusteische Gattung; die erotische Intrige der republikanischen Komödie wird mit dieser Perspektivierung aufgenommen. Es sollte durch die Diskussion namentlich der Thesen des Sinologen von Senger deutlich geworden sein, dass die List auch eine Form des In-der-Welt Handelns und damit Seins ist, die eine bestimmte Weltsicht voraussetzt. Dieser Aspekt wird anhand der Metamorphosen exemplifiziert. In den beiden letzten Abschnitten sind jeweils auch größere Kapitel zu Vergil eingeflochten. Verf. hat sich an anderer Stelle mit den Epoden des Horaz befasst, deshalb wird diese Untersuchung, die für die Formation des tricksters von einiger Bedeutung ist, hier nur resümiert, aber doch auch in den Kontext der anderen Autoren im Kapitel über die Liebeselegie eingeordnet. Das Wechselverhältnis von List der Erwachsenen und der Jugendlichen, das Horaz in seinen Oden thematisiert, wird ebenfalls dort behandelt. Gestalten wie Odysseus sind in der römischen Literatur rar. Da Mythen und Legenden immer auch Aussagen treffen über das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, die condicio humana des handelnden homo faber in einer seinen Bemühungen oft widerständigen Welt, wird im letzten Themenkomplex das Problemfeld List in einer grundsätzlicheren Weise untersucht. Die List ist als ein Handeln, das Regeln unterläuft, um Partikularinteressen durchzusetzen, das Paradigma autonomen Handelns schlechthin. Ausgehend von der Hypothese, dass ein fatalistisches Weltbild autonomes Handeln eher ausschließt, ein kontingenter Kosmos es herausfordert, werden die beiden augusteischen Epen, die Aeneis und die Metamorphosen auf diese
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grundsätzliche Weltsicht hin befragt. Die Verwandlung der Schiffe wird nicht als kallimacheisches Spolienelement der Aeneis verstanden, sondern als zentrale Stellungnahme des Vergil zum Verhältnis fatum und Metamorphose. Dabei konkurrieren im Text zwei Auffassungen des Ereignisses: Jupiters (prorömische) Aussage, die Metamorphose der Schiffe sei fatumskonform, obwohl sie die Gesetzmäßigkeit, das kein Ding und kein Geschöpf ewig leben dürfen, unterläuft (indem sie die Schiffe in unsterbliche Göttinnen verwandelt), und die des Turnus, der die Verwandlung analog zu einer List perhorresziert. Umgekehrt wird für die Metamorphosen gefragt, wie eigentlich Handeln im ovidischen Weltbild als List bewertet werden kann, wenn die ständig mutierende Welt keine festen Regeln erzeugt, die Gültigkeit beanspruchen können. Anders ausgedrückt: Wie kann Ovid listige Normbrüche als Verbrechen darstellen (wie er es zweifellos tut), wenn „seine“ Natur keine festen Normen spendet? Was unterscheidet eine gute von einer schlechten List? In diesem Zusammenhang erscheint, anders als es in der Ovid-Forschung im Moment Trend ist, nicht der Blick als zentrales Medium, mit dem der Mensch die Natur ordnet, sondern seine Stimme. Nicht die Natur schafft Ordnung, sondern die menschliche Stimme gibt Gesetze, Regeln usw. Diese Stimme verschafft sich aber nur durch den sprachlichen Vollzug, also in actu, Respekt. Sie erzeugt keinen verbindlichen Text, im Gegenteil, Stimme kann gegen Text ausgespielt werden. Dieses Ausspielen der Stimme als „Sprache im Vollzug“ ist bei Ovid lizensierte List. Negativ bewertet werden dagegen Listen, die sich gegen die Stimme selbst richten, paradigmatisch gemacht an der Thereus-Procne-Geschichte, deren zentrale Intrige Philomela die Stimme raubt. Mit dieser Diskussion der Bedeutung der Stimme für die Kultur unter dem Blickwinkel der Wortlist nimmt die Studie an der aktuellen Diskussion um die Performanz der Stimme teil.
I Die List im Krieg
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2 Eine kleine Geschichte der List Es ist tatsächlich Livius, der das berühmte Wort von der List als einer ars minime Romana geprägt hat. Dies scheint den bisweilen erhobenen Vorwurf, Livius sei in seiner Darstellung der Römer idealistisch bis hin zur Ideologisierung, zu bestätigen. Livius ist ohnehin lange Zeit falsch beurteilt worden. Er galt als fleißiger Kompilator der republikanischen Annalistik und nicht als wirklich origineller Kopf. Obwohl sich durchaus bedeutende Philologen (z.B. Luce, Burck, Ogilvie, Walsh) um die Erzählkunst des Mannes aus Padua bemühten, wurde erst in und seit den neunziger Jahren durch eine Reihe von wichtigen Monographien (Jaeger, Feldherr, Chaplin) eine Wende erzielt.1 Jetzt kann als erkannt gelten, dass Livius zwar nicht auf der Ebene des historiographischen Materials selbst, aber eben durch dessen kunstvolle Rearrangierung eine wahrhaft augusteische Ästhetik geschaffen hat, deren suggestive Kraft ihresgleichen sucht. Freilich, schon Friedrich Klingner hatte dies mit Verve betont: „Seine Stimme ist die Stimme Roms geworden. Er hat die Sprache geformt, in der das Rom des Augustus sein Verhältnis zu der neu erschlossenen Vergangenheit ausgesprochen hat, und das ist nichts kleines.“2 Anstatt dieses Augusteische immer wieder historisch zu entlarven, sollte gerade der Literaturwissenschaftler sich darum bemühen, nachzuvollziehen, wie ein solch großes Corpus mit derart vielgestaltigen Episoden Roms Geschichte so teleologisch und holistisch bezwingen kann. Denn die livianischen Maximen und Normen stehen keineswegs einfach wie gemeißelt fest und pflügen Widerständiges einfach unter. So zeigt sich rasch, dass seine Aussage, Betrug und List seien dem römischen Handeln fremd, zwar vorzüglich in einen abstrakten normativen Diskurs passt, aber sich doch nicht ganz glatt in den Kontext des ersten Buches einfügt. Ein simpler Dualismus von Gegensätzen – hier die römische uirtus, dort die fremde fraus – funktioniert bereits in Kontexten nicht, in denen die Rollen von Tätern und Opfern klar verteilt zu sein scheinen. Tatsächlich erscheinen Listen – bis auf eine signifikante Ausnahme – im Zusammenhang mit allen römischen Königen. Livius erzählt daher die Frühzeit Roms wie eine kleine Kulturgeschichte nicht nur der uirtus sondern auch der List.
1
„The 1990s were good to Livy.“ Jane D. Chaplin, Rez. Andrew Feldherr, Spectacle and Society in Livy's History, in: The Classical Journal, 96. 1 (2000), S. 102 – 105, 102. 2 Friedrich Klingner, Livius. Zur Zweitausendjahrfeier, in: Friedrich Klingner, Römische Geisteswelt. Essays zur lateinischen Literatur. Mit einem Nachwort herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 1984 (ursprgl. [1943]), S. 458 – 482, 459f.
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2.1 Romulus Die livianische Fassung der Geschichte von Romulus und Remus trägt sehr deutliche Merkmale von Jungmänner- und Initiationsritualen.3 In den meisten vormodernen europäischen Gesellschaften organisieren sich die jungen Männer korporativ; ihr Handeln ist gekennzeichnet sowohl von besonderen Lizenzen, die den erwachsenen Männern wieder entzogen werden, als auch von bestimmten Tabus oder Einschränkungen, die sie von der Welt der Erwachsenen trennen. Im folgenden Kapitel über Komödie und Liebeselegie wird davon ausführlicher gehandelt; es ist aber schon jetzt wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Rolle der jungen Männer für die augusteische Literatur eine besonders zentrale ist, die von allen ihren bedeutenderen Autoren (Livius, Tibull, Properz, Ovid, Horaz, Vergil) eingehende Behandlung erfahren hat.4 Daher reicht es nicht aus, auf die griechischen Quellen der lateinischen Literatur zu verweisen und die Imaginationen der Ephebie und der rites de passage nur motivgeschichtlich aufzuschlüsseln. Vielmehr ist es so, dass literarische Imaginationen junger Männer (Romulus und Remus, Nisus und Euryalus u. v. a. m.) eine Form der gesellschaftlichen Verhandlung der römischen Initiation in der Umbruchszeit des augusteischen Zeitalters sind.5 Die anthropologische und religionsgeschichtliche Fragestellung bildet zwar einen wichtigen und hinlänglich bekannten6 Hintergrund für das Verständnis der Romulus-und-Remus-Geschichte; und die livianische Fassung lässt diesen Hintergrund erahnen, aber sie ist eben
3
Gerhard Binder, Die Aussetzung des Königskindes. Kyros und Romulus, Meisenheim am Glan 1964, S. 29 – 38. Andreas Alföldi, Die Struktur des voretruskischen Römerstaates, Heidelberg 1974, S. 107 – 150. Jan N. Bremmer, Romulus, Remus and the Foundation of Rome, in: Jan N. Bremmer/ Nicholas M. Horsfall (Hgg.), Roman Myth and Mythography, London 1987 (Bulletin Supplement 52), S. 25 – 48. Augusto Fraschetti, Die Welt der jungen Römer, in: Giovanni Levi/ Jean-Claude Schmitt (Hgg.), Geschichte der Jugend. Bd. I. Von der Antike bis zum Absolutismus, Frankfurt am Main 1996, S. 70 – 112. 4 Womit nicht gesagt wird, dass sie in den anderen Epochen der römischen Literatur keine Rolle gespielt hat. Jean-Pierre Néraudau, La jeunesse dans la littérature et les institutions de la Rome républicaine, Paris 1979 neigt dazu, die Rolle der iuuenes ganz allgemein als zentral für die römische Gesellschaft zu betrachten, ebenso Jean-Paul Morel, Sur quelques aspects de la jeunesse à Rome, in: André Balland (Hg.), L’Italie préromaine et la Rome républicaine. FS J. Heurgon Bd. 2, Paris u.a. 1976, S. 663 – 683. 5 Rüpke (2004) hat sich dafür ausgesprochen, Texte nicht als Quellen für Rituale zu betrachten, sondern als Teil von deren Sinnproduktion. Analog verstehen wir die augusteische Literatur nicht als Schürfboden, in dem Scherben verlorener Rituale stecken, die erst von ihrer Literarisierung gereinigt werden müssen, sondern fassen die literarische Imagination als Teil des kulturellen Prozesses auf. 6 Vgl. den Kommentar von Beck/ Walter zu Fabius Pictors Fassung des Mythos FRH 1 F 7a – f (S. 90) und zu der des Cato FRH 3 F 1, 20 (S. 170).
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nicht identisch damit und wird dadurch auch nur zum Teil erklärt.7 Es ist daher angemessener, den Hintergrund der rites de passage zunächst als eine Form der Codierung und Semantisierung der Ereignisse zu verstehen anstatt als Reste eines „ursprünglichen“ Mythos. Das bedeutet: Im ersten Buch schildert Livius die Geburt und das Aufwachsen des römischen Volkes und seines Staates. Diese Phase wird mit den Elementen liminaler Symbolik, d.h. den kulturellen Performanzen von Schwellenritualen beschrieben. Das reproduziert gewiss den Sinn des überlieferten Mythos, ist aber auch für seine zeitgenössischen Leser leicht zu entschlüsseln. Die Träger der frühen römischen Staatlichkeit sind nicht nur junge Männer, sie handeln auch als junge Männer; sie prägen die frühe Staatlichkeit mit ihrem Verhalten. Rom im Werden erscheint so als adoleszente Stadt. Die Lizenzen und Tabus, die dabei verhandelt werden, betreffen in besonderer Weise den Gebrauch von List und Gewalt.8 Romulus und Remus treten (nach ihrer Aussetzung durch den König Amulius, der Rettung im Säuglingsalter und der Aufzucht durch den Hirten Faustulus) zuerst als Führer jugendlicher Hirten auf, die sie vor räuberischen Angriffen in Schutz nehmen und mit denen sie „gemeinsam oft Scherz und Ernst unternehmen“: seria ac iocos celebrare. Dies beschreibt sehr genau das Ethos von Jungmännerriten, die einerseits oft „karnevaleske“ Elemente aufweisen, andererseits sich keineswegs auf jugendliche Vergnügungen beschränken (vgl. dazu ausführlich die Untersuchungen zu Liebeselegie und Komödie). Die jungen Männer um Romulus und Remus führen offenbar Angriffe auf andere Hirten aus, die aber von Livius als Angriffe auf Diebe beschrieben werden. Damit erhält das Treiben der iuuenes einerseits eine turbulente, ungeordnete, andererseits eine ordnungsstiftende Seite, die allerdings nicht für alle Beteiligten klar erkennbar ist. Die „Diebe“ stellen, verärgert von den Angriffen, ihrerseits der Gruppe von Romulus und Remus einen Hinterhalt und können Letzteren gefangen nehmen und dem König Amulius übergeben, der ihn wiederum seinem Bruder Numitor übergibt, da dessen Gebiet von den raids der Jungen am meisten betroffen war. Livius enthüllt so narrativ, was er durch die Zuschreibung (iuuenes hier, latrones da) verdeckt: dass die jungen Männer gar keine Räuber, sondern ansässige Hirten oder Klienten des Königs bzw. seines entrechteten Bruders angegriffen haben. Romulus, Remus und Numitor beschließen dann aber gemeinsam, den König Amulius zu stürzen und den Numitor wieder als König einzusetzen.9 7
Fruchtbarer scheint ein solcher Ansatz eben für die römische Komödie und die Liebeselegie zu sein, wobei auch hier die literarischen Verhandlungen und nicht eine anthropologische Archäologie im Zentrum stehen werden. 8 Fraschetti (1996) S. 92. Ken Dowden, The Uses of Greek Mythology, London – New York 1992, S. 117. Abbot (2000) S. 70. 9 Der Bericht des Livius ist an dieser Stelle (1, 5, 6f.) merkwürdig unbestimmt; die Anagnorisis von Großvater und Enkeln und die gemeinsame Verschwörung wird eher
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Da Romulus zu wenig Anhänger hat, um einen offenen Kampf mit dem König zu wagen, weist er seine getreuen Hirten an, auf verschiedenen Wegen in die Stadt zu gelangen (Liv. 1, 5, 7).10 Dieser Vorgang wird von Livius als List bezeichnet: undique regi dolus nectitur (1, 5, 6).11 Der Historiker begründet ihren Einsatz mit der Unterlegenheit der Hirten gegen die militärischen Kräfte des Königs (1, 5, 7): nec enim erat [sc. Romulus] ad uim apertam par. Auch Numitor besetzt die Burg mit einer List, indem er der Jugend Albas weismacht, es befänden sich Feinde in der Stadt.12 Amulius wird von den gemeinsamen Scharen des Romulus und Remus niedergemacht. Der Machtwechsel zu Numitor wird im Anschluss durch die Volksversammlung bestätigt. Es schließt sich die Gründung der Stadt Rom an, über die Romulus (nach dem Brudermord) herrscht. Die erste Maßnahme des neuen Königs bezieht sich auf die Befestigung des Palatium, danach thematisiert Livius die Opferpraxis des Romulus, der allen Göttern nach albanischem Brauch, dem Hercules aber nach griechischem opfert. An dieser Stelle (1, 7, 4 – 11) ist die Cacusepisode eingeflochten, in der der für Rom wichtigste griechische Kulturheros sich mit Gewalt gegen eine List zur Wehr setzt. Die Position der Geschichte ist von zentraler Bedeutung. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sie nicht allein als ein Aition für den Herculeskult in Rom und der Vermischung italischer und griechischer Kulte funktioniert, sondern die bisherigen Ereignisse um Romulus und Remus resümiert und zum Teil wiederholt. vorausgesetzt als erzählt. Damit vermeidet Livius eine coniuratio-Erzählung, in der Numitor und die jungen Leute in klassischer Manier als planende Verschwörer erscheinen könnten. 10 Vgl. das Ende des Tarquinius Priscus, wo ebenfalls Hirten die Herrschaft des Königs beenden (1, 40, 5: ex pastoribus duo ferocissimi delecti ad facinus). Die Handlung läuft parallel zur Vertreibung des Amulius (das klingt ein wenig an bei David Konstan, Narrative and Ideology in Livy: Book I, in: CA 5 [1986], S. 198 – 215, 208f.), zugleich moralisch spiegelbildlich: Es ist ein Mordanschlag und er ist motiviert durch den Adelsstolz der Ancussöhne, die es für skandalös halten, dass auch ein Sklave in Rom König sein könne (1, 40, 3: id domus suae dedecus fore, si Anci regis uirili stirpe salua non modo aduenis sed seruis etiam regnum Romae pateret). Damit ist die Geschäftsgrundlage Roms, das als ein Asyl für alle begann, in Frage gestellt. Aber wie bei Romulus und Remus sind es zwei um ihren Platz in der Gesellschaft geprellte Kinder, die einen König durch Hirten stürzen. Die Gründer aber sind entrechtete Schwache, die uis mit dolus herausfordern – sie kommen von außen! –, der innenpolitische Anschlag dagegen setzt wieder uis gegen ius. 11 Zur Bedeutung von dolus vgl. Kapitel 6 Anm. 25 und Detienne/ Vernant (1974) S. 66; Wheeler (1988) S. 30; Abbot (1997) S. 20 – 22 (zu ecl. 5, 60f., ecl. 6, 23 – 26, Liv. 1, 5, 7 und anderen Stellen, in denen dolus die Falle bezeichnet). Es gibt eine parallele Formulierung bei der Ermordung des Tarquinius Priscus (vgl. vorige Anm.): ob haec ipsi regi insidiae parantur. Insidiae erscheint hier deutlich negativer konnotiert als dolus, auch wenn freilich die Gabii-Episode, wie gezeigt, mit der negativen Wertung von dolus beginnt. Aber per se ist dolus moralisch unproblematischer als insidiae (Wheeler [1988] S. 30, 55, 103). 12 Dieser Vorgang wird nicht noch einmal gesondert als dolus qualifiziert.
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Auch der Konflikt zwischen Hercules und Cacus ist ein „Hirtenkrieg“.13 Hercules droht zuerst der List14 des Cacus zu unterliegen, der die Rinder rückwärts in eine Höhle getrieben hatte, sodass der Heros keinen Anlass sieht, die Spur zurückzuverfolgen. Doch als er durch das Muhen der Tiere den Dieb schließlich doch aufstöbert, erschlägt er ihn, der sich vergeblich bei den anderen Hirten um Hilfe bemüht (1, 7, 7: fidem pastorum nequiquam inuocans). Dennoch verklagen die Hirten den Täter bei Euander (1, 7, 9: Euander concursu pastorum trepidantium circa aduenam manifestae reum caedis excitus15). Der Konflikt zwischen dem bestohlenen Heros und den über den Totschlag aufgebrachten Hirten wird von Euander gelöst, der einerseits durch seine Bildung – er beherrscht als einziger die Schreibkunst –, andererseits durch seine Frömmigkeit (gegen seine Mutter Carmenta) Ansehen genießt. Die Rollen von Hercules und Romulus ähneln sich hier in vielen Punkten: Beide gehen gewaltsam gegen Diebe bzw. Räuber vor. In beiden Fällen wird eine auktoriale Zuschreibung, nach der Romulus/ Remus und Hercules sich gegen transgressives Verhalten wehren, durch den Gang der Erzählung teilweise wieder zurückgenommen. Remus (und damit auch Romulus) wird selbst als Angreifer verklagt, so wie auch Hercules von den Hirten als Mörder verklagt wird. Tatsächlich hat ja auch Hercules seine Herde durch Diebstahl von Geryon erhalten. Cacus wagt es sogar, obgleich prima vista der Täter, die fides der anderen Hirten anzurufen (1, 7, 7). Warum sollten sie dem wilden Dieb aus ihrer Gruppe16 zur Hilfe kommen? Livius sind diese Spannungen in seinem Text nicht einfach unterlaufen. Er macht damit deutlich, dass es zu diesem Zeitpunkt der historischen Entwicklung nicht leicht möglich ist, Opfer und Täter zu bestimmen, wenn kein Recht vorliegt, das gebrochen wurde, sondern nur die – mehr oder weniger – berechtigten Interessen von Gruppen (iuuenes, pastores, latrones) und Indivi-
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Alföldi (1974) S. 121. Walter Burkert, Structure and History in Greek Mythology and Ritual, Berkeley – Los Angeles – London 1979, S. 85. Cacus’ Diebstahl lässt sich, wie fast alle Listen der livianischen Königszeit, mit einem chinesischen Strategem beschreiben, hier Nr. 12 (von Senger [2002] S. 61): „Mit leichter Hand das Schaf wegführen“. Ich möchte diesen Punkt hier nicht weiter vertiefen, aber es wird daraus m. E. klar, dass die chinesischen Strategeme in ihrem Handlungskern keine chinesische Spezialität sind. Das Besondere der List einer Kultur tritt nur in ihren jeweiligen Kontexten zutage, den Bewertungen und historischen Zuordnungen, die spezielle Gesellschaften für spezifische Ereignisse vornehmen. Die „Listfeindlichkeit“, die von Senger für die westliche Welt konstatiert, ist erklärungs-, aber nicht überwindungsbedürftig. 15 Die Formulierung ist wiederum etwas vage. Gewiss kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Hirten dem Euander einfach nur aufgeregt von dem Vorfall erzählen. Aber das juristische Vokabular – Hercules ist ein reus manifestae caedis – und die anschließenden Handlungen des Euander legen doch nahe, dass es hier darum geht, dass die Hirten sich an Euander wie an einen Richter wenden. 16 Cacus ist ein pastor accola eius loci und er ist ferox uiribus (1, 7, 5). 14
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duen (Amulius – Numitor, Romulus – Remus, Hercules – Cacus) aufeinander treffen. List ist zu diesem Zeitpunkt nicht durch fides und uis nicht durch ius gebändigt. Ihre jeweilige Anwendung kann daher noch nicht, wie bei der Darstellung der Tarquinier (s.u.), Anlass geben, Handeln als gerecht oder ungerecht zu bewerten. List und Gewalt sind qualitativ kaum zu unterscheidende Grenzverletzungen (List erzeugt Gewalt und umgekehrt); es sind Transgressionen, die Sanktionen nach sich ziehen, aber keine Rechtsverstöße, die anders als durch eine spiegelbildliche Antwort (Auge um Auge, Zahn um Zahn, Talionsprinzip) beantwortet werden können. Ein Fortschritt ist hier nur die Vollendung der Reihe von Schlag und Gegenschlag durch Gewährung eines Opfers. Hercules entnimmt es der „geraubten Herde“, wobei Livius bewusst offen lässt, ob er damit auf den Diebstahl an Geryon oder den an Hercules anspielt. Die Kette von Diebstahl, List und Gewalt wird durch das Opfer beendet und stellt offenbar die Hirten zufrieden. Das erste Opfer auf italischem Boden und der daraus erwachsende Herculeskult erscheinen so als eine Kulturleistung,17 auf die Romulus nach seinem eigenen Totschlagsdelikt18 zurückkommt. Das Opfer ist zu diesem Zeitpunkt jedoch kein Ordnungselement, um einen Konflikt beizulegen, bevor es zu Vergeltungshandlungen gekommen ist. Romulus ergänzt daher seine Religionspolitik (die noch keine Religionsstiftung ist, sondern das unsystematische Abhalten von einzelnen Riten) durch die Stiftung eines Rechts,19 um den Zusammenhalt des Volkes sicherzustellen. Religion und Recht runden also die Gründungsleistung des Romulus ab. Dennoch wird sich zeigen, dass beide Stiftungen des ersten Königs für Livius hier nur den Charakter einer politischen Option haben, die erst von den folgenden Königen wirklich – und vor allem sukzessive – eingelöst werden kann.20 Das 17 Vgl. Matthew Fox, Roman Historical Myths. The Regal Period in Augustan Literature, Oxford 1996, S. 101 – 106. 18 Livius entlastet den Romulus zum Teil vom odium des Brudermords. Nach 1, 7, 1f. gab es eine gewaltsame Auseinandersetzung der jeweiligen Anhänger der beiden Brüder um die Deutung der empfangenen auguria, wobei Remus den Tod gefunden habe. Bekannter aber (uolgatior) sei die Geschichte (zurückhaltend als fama bezeichnet), nach der Romulus den Spott seines Bruders geahndet habe. Das Opfer des Romulus erklärt sich aus beiden Fassungen, denn es gab einen gewaltsamen Konflikt, ob nun der Brüder selbst oder ihrer Anhänger. Die wirklich entlastenden Fassungen jedoch, nach denen ein gewisser Celer den Remus getötet hat, bietet Livius nicht (vgl. Ogilvie [1965] S. 54; David S. Levene, Religion in Livy, Leiden – New York – Köln 1993, S. 130f.: „It thus seems hard to get any overall picture of what Livy is doing with Romulus – at one point he appears to be criticising him, but at another is avoiding criticism.“) 19 1, 8, 1: rebus diuinis rite perpetratis uocataque ad concilium multitudine quae coalescere in populi unius corpus nulla re praeterquam legibus poterat, iura dedit. Vgl. Levene (1993) S. 131. 20 Dies entspricht auch dem zyklischen Geschichtsdenken des Livius. Romulus trägt in sich alle Elemente der späteren römischen Politik: Kampf, Gründung, Krise (Romulus – Remus), Neugründung (Kult, Gesetze), Krise (Sabinerinnen), Doppelkönigtum; das wie-
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Opfer hat nur vorläufig eine Phase lizensierter jugendlicher Gewalt und List abgeschlossen, die sich beim Frauenraub fortsetzt. Allerdings ändert sich durch den Beginn der Staatlichkeit die Bewertung der List, die moralisch gegenüber der Gewalt ins Hintertreffen gerät. Die Römer beginnen eine Außenpolitik, mit der sie sich bemühen, langfristige Beziehungen zu ihren Nachbarn zu knüpfen. Diese Beziehungen kann sich Livius nicht anders vorstellen als auf fides gegründet. Religion und Recht, die Stiftungen des Romulus, sind dabei die Institutionen, die es den Römern ermöglichen, fides als Grundlage von Beziehungen aufzubauen. Das macht Livius besonders deutlich bei der Darstellung der Herrschaft des Numa (s.u.). Mit der Stiftung von Recht und Religion durch Romulus nimmt Rom als ciuitas Gestalt an. Recht und Religion haben aber nur den Charakter einer Option, um fides müssen die ersten Könige immer wieder ringen; sie wird jedoch seit Romulus moralisch problematisierbar – deshalb beginnt mit der Außenpolitik der Stadt auch die Diskussion um dolus und fides. Militärische Gewalt dagegen erscheint als Unterpfand der römischen Ebenbürtigkeit und Macht. Sie wird außenpolitisch zunächst nicht problematisiert.21 Die Leistung des Romulus ist, so wird sie in der Rückschau von Numa aus gesehen, zuallererst eine kriegerische, und sie zeigt sich deshalb auch darin, dass Rom so stark wird, dass es schließlich Kriege ohne ars führen kann (Veii). Konnte Romulus mit List seinen Großvater Numitor an die Macht bringen, so sichert er die Prosperität seiner eigenen Gründung ebenfalls mit einer List. Als es ihm nicht gelingt, Frauen für seine Bürger aus den benachbarten Völkern in die Stadt zu ziehen, greift er erneut zu diesem Mittel, das er einer direkten militärischen Konfrontation vorzieht.22 Nachdem die umliegenden Gemeinden die Heiratsgesandtschaften der Römer beleidigt hatten, schien die Angelegenheit, so schreibt Livius, auf Gewalt hinauszulaufen (1, 9, 6): Aegre id Romana pubes passa et haud dubie ad uim spectare res coepit. Romulus möchte eine geeignete Gelegenheit für einen gewaltsamen Übergriff schaffen, verbirgt daher seinen Ärger gegenüber den Nachbarvölkern und stiftet Spiele für Neptun, zu denen er sie einlädt. Cui
derholt sich innerhalb der Königsreihe bis zur Neugründung durch Brutus („Doppelkönigtum“: Consuln), Decemvirnkrise – Verginia usw. bis zum zweiten Romgründer Camillus. Vgl. Gary B. Miles, The Cycle of Roman History in Livy’s First Pentad, in: AJPh 107 (1986), S. 1 – 33; ders., Reconstructing Early Rome, Ithaca 1995, hier: S. 94. 21 Vgl. dazu die Aussage Levenes (1993) S. 131: Livius „is attempting to present Romulus as warrior king, whose vices are ones of violence and haste rather than deceit.“ Hier geht es weniger um Gewalt oder Täuschung als Fehler als vielmehr um die Charakteristik; in diesem Sinne scheint das Zitat aber passend. 22 Damit ist nicht gesagt, dass List ganz ohne Gewalt kalkuliert wird. List ist ein Mittel gegen Gewalt, aber keineswegs eines ohne Gewalt. Vgl. etwa die Tereus-und-ProcneGeschichte. Insgesamt kombiniert auch fast jede Kriegslist das Unterlaufen von Handlungsroutinen mit dem gezielten Einsatz von Gewalt.
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tempus locumque aptum ut daret Romulus aegritudinem animi dissimulans ludos ex industria parat Neptuno equestri sollemnes; Consualia uocat. 23 Der Raub der Sabinerinnen selbst wird von deren Eltern als glatte und gottlose Täuschung bezeichnet (1, 9, 13): incusantes uiolatum hospitii foedus deumque inuocantes cuius ad sollemne ludosque per fas ac fidem decepti uenissent. Romulus stimmt ihnen indirekt zu, wenn er den verstörten Sabinerinnen post festum verheißt, dass aus Unrecht oft Wohlwollen entstanden sei (1, 9, 15): saepe ex iniuria postmodum gratiam ortam.24 Bisher erschienen List und Gewalt als beinahe austauschbare Handlungsoptionen des Romulus (und Remus, solange dieser lebte). Mit dem Raub der Sabinerinnen eröffnet der Historiker den Wertediskurs um die List. Exkurs: Rechtfertigungsstrategien für römische Listen Eine häufige Rechtfertigung der List bei Livius liegt in der nachträglichen Bestätigung des Geschehens (so auch oben die Bestätigung der Wiedereinsetzung des Numitor durch die – recht eigentlich von den Ereignissen überrumpelte – Volksversammlung).25 Eine andere Rechtfertigung liegt in der herabsetzenden Weise, mit der der aufstrebende Staat der Römer von seinen Nachbarn behandelt wird, List wird also gerechtfertigt durch ein vorausgegangenes Unrecht. Cicero hat diesen Gedanken im Rahmen seiner iustitia-„Definition“26 bereits ausgesprochen und die Darstellungsprinzipien des Livius kann man als eine narrative Explikation ansehen (Cic. off. 1, 7, 20): Sed iustitiae primum munus est, ut ne cui quis noceat, nisi laccessitus iniuria, deinde ut communibus pro communibus utatur, priuatis ut suis. Eine dritte von Livius angestrengte Rechtfertigung liegt in der Darstellung einer Notlage, die sich häufig aus krasser militärischer Unterlegenheit ergibt und gerade in der Frühzeit eine besondere Rolle spielt (Ende des Exkurses).27
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Der Gott Consus ist bezeichnenderweise der Gott des Planens (deus consiliorum), vgl. Wheeler (1988) S. 54 und 56. Robert Maltby, A Lexicon of Ancient Latin Etymologies, Leeds 1991, s.v. Consualia und Consus. Diese Etymologie ist zwar falsch (Werner Eisenhut, Consus, in: Der Kleine Pauly 1 [1979], Sp. 1295), doch ergeben sich daraus und auch aus der Beziehung zum census vielgestaltige Anspielungen (aitiologisch: Die Geschichte endet ja auch mit der Einrichtung dreier ritterlicher tribus), gewürdigt von John D. Noonan, Livy 1.9.6: The Rape at the Consualia, in: CW 83 (1989 – 90), S. 493 – 501. 24 Robert D. Brown, Livy’s Sabine Women and the Ideal of Concordia, in: TAPhA 125 (1995), S. 291 – 319, 297. 25 Vgl. Heinz Haffter, Rom und römische Ideologie bei Livius, in: Gymnasium 71 (1964), S. 236 – 250, 247. 26 Zu einer wirklichen Definition kommt Cicero nicht, vielmehr beschreibt er die iustitia inhaltlich anhand der munera, die sie zu erfüllen hat (s. Zitat 1, 7, 20 im Folgenden). 27 Wird später den immer unterlegenen Gegnern Roms nicht zuerkannt.
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Von den drei Rechtfertigungsstrategien schließt Livius hier eine explizit aus: Rom ist den anderen Gemeinden im Krieg ebenbürtig (1, 9, 1): Iam res Romana adeo erat ualida, ut cuilibet finitimarum ciuitatium bello par esset. Gerade mit dieser Ebenbürtigkeit begründen die Römer ihre Ansprüche auf das conubium (1, 9, 4): satis scire, origini Romanae et deos adfuisse et non defuturam uirtutem. Später betont Livius, dass Romulus den Krieg gegen Veii ohne Kunstgriff, ganz durch die Kraft des erfahrenen Heeres gewonnen hatte (1, 15, 4): Ibi uiribus nulla arte adiutis, tantum ueterani robore exercitus rex Romanus uicit. Rom hatte es daher nicht nötig, das Gastrecht und ein dem Neptun heiliges Fest zu verletzen, um seine Interessen durchzusetzen, denn als militärisch ebenbürtige Gemeinde hätte es offen um sein Überleben kämpfen können. Livius lässt jedoch den Vorteil, den die Römer durch eine List gewonnen haben, durch eine Selbstüberlistung wieder verloren gehen. Tarpeia, die Tochter des Kommandeurs der römischen arx, lässt sich vom sabinischen König Tatius bestechen, die Feinde heimlich in die Burg zu lassen, und wird anschließend von diesen ermordet (1, 11, 6f.). Wie schon für den Brudermord des Romulus an Remus kennt Livius eine die Römer moralisch entlastende Version der Tarpeia-Geschichte, die er aber (wie jene) zu verwerfen geneigt ist. Der Historiker Calpurnius Piso konnte sich den Umstand, dass man das Grab der Tarpeia noch zu seinen Lebzeiten auf dem Capitol besichtigen konnte, nur daraus erklären, dass es sich um ein Ehrengrab handelte. Folglich könne Tarpeia nicht die Absicht gehabt haben, die arx wirklich an die Sabiner auszuliefern. Als sie mit ihnen übereingekommen war, als Belohung für ihren Verrat das zu erhalten, was die Feinde am linken Arm trügen, habe sie nicht, wie diese dachten, deren goldene Armreifen gemeint, sondern die Schilde (sodass die Sabiner plötzlich wehrlos dagestanden hätten). Gleichzeitig habe sie Romulus von ihrem Plan zu unterrichten versucht. Die Sabiner hätten den Betrugsversuch dadurch vereitelt, dass sie die Schilde auf die Römerin geworfen und sie damit getötet hätten. Tarpeia würde dadurch vom odium des Verrats befreit und eine missglückte List an die Stelle des Verrats gesetzt. Livius berichtet die verschiedenen Fassungen, schenkt aber ausgerechnet der die Römerin entlastenden pisonischen28 Variante am 28
FRH 7 F 7. Livius nennt Piso nicht namentlich, vgl. den Kommentar von Beck/ Walter I (2005) S. 291, die aber wohl eine Abhängigkeit des Livius von Piso für diese Variante voraussetzen. Dagmar Gutberlet, Die erste Dekade des Livius als Quelle zur gracchischen und sullanischen Zeit, Hildesheim – Zürich – New York 1985 ist noch skeptisch, was die Benutzung Pisos durch Livius angeht (S. 5f. Anm. 3, mit weiterführender Literatur); Ogilvie (1965) S. 75 vermutet Valerius Antias als Vermittler; vgl. jetzt aber Stephen P. Oakley, A Commentary on Livy. Books VI – X. Vol. I: Introduction and Book VI, Oxford – New York 1999 (ND von 1997), S. 13 – 20 (zu Piso S. 18). Gutberlets Auffassung der Quellenarbeit des Livius war 1985 bereits obsolet, die Argumente von T. James Luce (Livy. The Composition of His History, Princeton [New Jersey] 1977) hat sie
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wenigsten Glauben. Auffällig aber ist seine Bewertungsstrategie: Die Geschichte wird als eine List der Feinde eingeführt (1, 11, 5): Nouissimum ab Sabinis bellum ortum multoque id maximum fuit; nihil enim per iram aut cupiditatem actum est, nec ostenderunt bellum prius quam intulerunt. Consilio etiam additus dolus. Diese List wird von Romulus im Gebet an Jupiter in dem Moment als scelus bezeichnet, als seine Kampflinie bis hinter das Tor des Palatiums zurückgedrängt zu werden droht (1, 12, 4). Durch die beiden Listen, zunächst die der Römer an den Consualia, dann die der Sabiner bei der Bemächtigung der arx, ist eine Art moralische Waffengleichheit zwischen Römern und Sabinern hergestellt. Der Umstand, dass Tarpeia die offenbar erwachsene Tochter des Sp. Tarpeius war und damit nicht bereits ein mit einer Sabinerin gezeugtes Kind, betont diese Waffengleichheit noch. Es handelt sich nicht um den Verrat eines Sabinerkindes, sondern die Römer haben sich selbst geschadet, und damit in gewisser Weise ihre erste List beim Frauenraub ausgeglichen.29 Gleichzeitig begegnen sich beide Völker in täuschender Absicht.30 Die Auseinandersetzung zwischen Römern und Sabinern bietet hier letztlich ein Bild völliger Reziprozität.31 Ebenso kühl wie die Römer den Raub der Sabinerinnen, planen die Sabiner die Einnahme der Burg; die anschließende Kampfdarstellung findet in einer parallelen Topographie in der Ebene zwischen zwei Hügeln statt, in deren Mitte dann die Sabinerinnen eintreten.32 Das Eingreifen der Sabinerinnen in den Konflikt beendet das Patt mit dem Angebot eines Opfers.33 Es entspricht in seiner Logik übrigens einer der begekannt, aber nicht gewürdigt (s. ebenda). Eine Übersicht über die Varianten der TarpeiaSage bietet Barbara Kowalewski, Frauengestalten im Geschichtswerk des T. Livius, München – Leipzig 2002, S. 23 – 27. 29 Brown (1995) S. 304f. „I supect that Livy is hinting at a comparison between the Sabine bribery of Tarpeia and the Roman rape of the Sabines.” (S. 305). 30 Mary Jaeger, Livy’s Written Rome, Ann Arbor 1997, S. 36 betont in diesem Zusammenhang jedoch, dass Livius auch das Ziel der List der Tarpeia im Unklaren lasse; insgesamt betont sie aber sehr wohl die Logik eines „reciprocal theft“ (ebenda). Vgl. auch Abbot (1997) S. 31: „Tarpeia’s acceptance of the bribe was itself a ruse to disarm the Sabines.“ 31 Jaeger (1997) S. 35. 32 Jaeger (1997) S. 36 – 48; Patricia K. Joplin, Ritual Work on Human Flesh: Livy’s Lucretia and the Rape of the Body Politic, in: Helios 17, 1 (1990), S. 51 – 70, hier S. 56f. 33 Das legt jedenfalls eine Bemerkung Feldherrs (1998) S. 134 Anm. 65 nahe. Gemeint ist hier die Logik des Girardschen Opfers (La Violence et le sacré [1972]), nach dem das Opfer einerseits die Gruppe repräsentieren soll, andererseits nicht aus der Gruppe stammen darf, weil es dann Talionsprozesse in Gang setzt. Verheiratete Frauen eignen sich nicht als Opfer, eben weil sie doppelt in die Gesellschaft eingebunden sind, über die Ursprungsfamilie und über die Familie des Ehemannes. Zu dieser Problematik der verheirateten Lucretia vgl. Cristina G. Calhoon, Lucretia, Savior and Scapegoat: The Dynamics of Sacrifice in Livy 1. 57-59, in: Helios 24, 2 (1997), S. 151 – 169, 152. Genau diese Unmöglichkeit der Opferung verheirateter Frauen exemplifiziert die Sabinerinnengeschichte. Zu
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rühmtesten alttestamentarischen Listen, nämlich dem salomonischen Urteil.34 Das Opfer aber ist, wie bereits oben angemerkt, immer nur eine Lösung ex post; es moderiert den Interessenkonflikt nicht, sondern schafft einen Ausgleich nach einem vorausgegangenen Übergriff. Es zeigt sich nämlich, dass die List bei der Installation des Numitor, beim Diebstahl des Cacus und beim Raub der Sabinerinnen zwar als ein Mittel erstrebt wird, um Gewalt zu vermeiden, aber tatsächlich nur im ersten Falle, bei der Inthronisierung des Numitor, zum gewünschten Ergebnis führt. Sie erscheint hier als ein reines Kriegsstrategem. Eine Lösung für das Problem der iniuria, die fraus und uis im Sinne der Ausführungen Ciceros einander annähert, ist im Staate des Romulus nicht in Sicht. Gewalt und List werden als transgressive Handlungen diskursivierbar, d.h. sie werden als Problem kenntlich, aber das Problem ist noch nicht lösbar. Ferner zeichnet sich ab, dass die List gegenüber der Gewalt an Akzeptanz verliert, sobald es um außenpolitische Bündnisse geht. Gewalt begründet Macht und schafft vollendete Tatsachen, wie die geraubten Sabinerinnen den kämpfenden Männern eindrucksvoll vor Augen führen. Mit Gewalt lässt sich kalkulieren, mit der List nicht. Romulus’ Stiftungen von Recht und Kult haben ius ohne iustitia geschaffen, weil fides keine Akzeptanz hat. Ironischerweise beruht aber das remedium, das hier Abhilfe schaffen soll, ebenfalls auf einer List. 2.2 Numa Pompilius Joy Connolly weist darauf hin, dass in der ciceronischen Numadarstellung Rituale als Mittel konzipiert sind, Gewalt auszuschließen, und genau das gleiche Projekt verfolgt auch der livianische Numa.35 Die vornumanischen Rituale, die die bisherigen religiösen Erfahrungen der Römer bilden, konnten dies nicht eigentlich leisten. Das augurium von Romulus und Remus, mit dem sie die Herrschaft über die neu gegründete Stadt ermitteln wollen, hat keinen klaren Sieger ergeben.36 Das religiöse Ritual hat Gewalt produziert, Girard vgl. Walter Burkert, Anthropologie des religiösen Opfers, München 1984, S. 21. René Girard, Violence and the Sacred. Translated by Patrick Gregory, London – New York 2005, S. 13. 34 Claudio Soliva, Juristen – Christen – Listen, in: von Senger (1999), S. 263 – 280, 277. 35 Joy Connolly, Mapping the Boundary of the Known and Unknown, in: Barchiesi/ Rüpke/ Stephens (2004), S. 161 – 168, 163. Sie äußert sich hier auch zu Michel Serres, Rome, The Book of Foundations. Translated by Felicia McCarren, Stanford 1991. Serres wiederum ist gerade in der Thematik Gewalt und Opfer stark von Girard beeinflusst, vgl. Christina M. Kraus, Rez. Serres (1991), in: Bryn Mawr Classical Review 03.03.14 (1992). 36 Das ist kein Zufall, sondern dezidierte Aussageabsicht des Livius gewesen, denn er hat als Erster das Patt der Zeichen eingeführt. Bei Ennius (72 – 91 Skutsch, vgl. auch dessen Kommentar zur Stelle S. 222f.) hatte nur Romulus ein augurium empfangen. Dionysius
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anstatt den Interessenkonflikt zu lösen. Die Stiftung der Consualia ist ihrerseits durch eine List motiviert und endet in Gewalt. Eine Lösung des Problems verspricht erst die Einführung eines weiteren Ordnungsprinzips, des römischen Rechts. Das Projekt des Numa wird zu Beginn seiner Herrschaft folgerichtig zunächst nicht als ein religiöses, sondern als eines der rechtlichen und sittlichen Normgebung beschrieben (1, 19, 1): Qui regno ita potitus urbem nouam conditam ui et armis, iure eam legibusque ac moribus de integro condere parat. Numa muss allerdings erkennen, dass er die kriegerischen Römer nicht leicht an leges und mores gewöhnen kann. Ius funktioniert nicht ohne eine iustitia, die auf fides beruht. Daher ändert er sein politisches Programm und verlegt sich praktisch ganz auf die Stiftung einer Religion, die erst die Haltung schafft, auf deren Fundament später Normen entwickelt werden können.37 Der livianische Numa überbietet so kaum den kulturellen Stand, den schon Euander im Bereich des Palatin installiert hatte.38 Um sein Projekt glaubwürdiger zu gestalten, wendet er eine simulatio an: Er gibt vor, sich heimlich mit der Göttin Egeria zu treffen und von ihr direkt religiöse Lehren zu empfangen.39 Numa rechnet mit einem langfristigen hat zwar 1, 86f. die gleichen Zeichen wie Livius, beschuldigt aber den Romulus darüber hinaus einer Täuschung, bei Diodor macht Romulus einen entsprechenden Fehler. Nur bei Livius produziert das Ritual ohne jede Manipulation einen Gleichstand der Anrechte. Levene (1993) S. 130. 37 Numa schließt zwar foedera mit allen Nachbarstämmen, um so Frieden als Grundlage seines religiösen Programms herzustellen (1, 19, 2 – 4), aber gerade die Stiftung der gesetzlichen Grundlage, also das Fetialrecht, wird nicht mehr thematisiert. Stattdessen bemüht sich Numa darum, einen metus deorum an die Stelle des metus hostium (1, 19, 4) zu setzen, der die Römer bisher in Schach gehalten hat. Zu Gesetzen kommt es nicht mehr, wie die Formulierung in 1, 21, 1 nahe legt: Als Ergebnis der Bemühungen des Numa lernen die Römer pietas, fides und iusiurandum (Eidtreue) kennen, die an die Stelle der Gesetzesfurcht treten (ich folge hier mit Ogilvie [1965] S. 102 der Konjektur Nováks). Durch die Parallelität der Formulierung metus deorum und metus legum wird deutlich, dass Livius hier nicht sagen will, pietas und fides wirkten stärker als die Gesetze, sondern es gibt gar keine solchen Gesetze, vor denen metus herrscht, weil Numa sein Programm zugunsten der Vermittlung eines metus deorum geändert hat. Vgl. das Résumé bei Ogilvie (1965) S. 90: „The religious institutions are treated summarily. (…) He is therefore content to stress the moral purpose behind Numa’s reforms and to hint at the effect which the example of such a man can have (21.2).” 38 Freilich ist dieser kein Religionsstifter im eigentlichen Sinne. Aber das Verhältnis Euander – Hercules und Numa – Romulus ist doch nicht ganz unähnlich, Numa und Euander moderieren beide die kulturstiftende Gewalt eines Heroen, der später unter die Götter versetzt wird; auch die Rolle der göttlichen Frauen (Egeria und Carmenta) ist in beiden Geschichten parallel gesetzt. 39 Liv. 1, 19, 5: Qui cum descendere ad animos sine aliquo commento miraculi non posset, simulat sibi cum dea Egeria congressus nocturnos esse; eius se monitu quae acceptissima dis essent sacra instituere, sacerdotes suos cuique deorum praeficere. In der wissenschaftlichen Literatur firmiert diese Episode als klassisches Beispiel einer pia fraus (der Terminus nach Ov. Met. 9, 711, vgl. Wheeler [1988] S. 77 und 102), wie sie bereits Plato empfiehlt [rep. 414B], s. auch
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Effekt der situativ gebotenen List.40 Die List hat eine kulturstiftende Seite. Die fides, der Numa einen Tempel weiht,41 wird dolus als politische Option langfristig verdrängen. Auch Romulus’ politisches Handeln hatte eine ähnliche Logik, sie ging den Weg von der ars zur uis-als-uirtus, wie sich am Krieg gegen Veii gezeigt hat, den der König als ersten ohne ars bestehen konnte. Numas zentrale Maßnahme, mit der er den Römern einen metus deorum vermitteln möchte, beruht auf einer List, zielt aber ebenfalls auf ihr Ende. Dolus ist nicht per se der negative Gegenbegriff zu einer geordneten Herrschaft. Vis beschreibt dagegen einen Missbrauch der Macht (mit den Worten Ciceros: eine iniuria), der sich in körperlicher Gewalt (uis)42 und fraus ausdrücken kann. Gewalt und List sind aber nicht a priori Mittel, um Unrecht zuzufügen, sondern sie dienen ganz generell dazu, Absichten durchzusetzen, d.h. sie erscheinen als Machtmittel. Und auch als Machtmittel sind sie nicht a priori zu unterscheiden: Es bedarf für das Kriegswesen einer etablierten Kriegerethik, um dolus zu perhorreszieren und uis als uirtus zu glorifizieren. In der Jungmännerphase von Romulus und Remus erscheinen List und Gewalt daher als austauschbar. Erst Romulus’ entschlossene militärische Expansion des jungen Gemeinwesens schafft außenpolitisch einen Dualismus von uirtus und dolus, der zu Lasten der Akzeptanz des Letzteren zu gehen beginnt (eine Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist, s. im Folgenden). Innenpolitisch bedarf es einer etablierten Staatlichkeit, um soPolyb. 6, 56, 9; dazu Ogilvie (1965) S. 95; Robert Feger (Hg.), Titus Livius. Ab urbe condita Liber I. Römische Geschichte 1. Buch, Stuttgart 1995, S. 189 Anm. 93. 40 Numa ist auch in der sonstigen Überlieferung ein listiger König. Arnob. Adv. Nat. 5, 1 überliefert gleich mehrere Listen dieses Königs; seine Darstellung geht auf Valerius Antias zurück (FRH 15 F8). Während Arnobius die „Doppelzüngigkeit heidnischer Religion“ (Beck/Walter II [2005] S. 177) belegen will, kann man auch aus diesen Geschichten recht deutlich das konstruktive Element der List erkennen. Diese Listen sind nach griechischem Vorbild gestaltet, den Göttern Faunus und Marcius Picus wird dort aufgelauert wie dem Proteus durch Menelaos (Od. 4, 363ff.), das Gespräch zwischen Numa und Jupiter erinnert an den Opferbetrug von Mekone (Hes. Theog. 535ff.), denn auch hier erkennt Jupiter, dass er geprellt werden soll, akzeptiert aber das Ende der Menschenopfer. Livius kann solche Geschichten nicht erzählen, weil es eine Kommunikation zwischen Göttern und Menschen in seinem Geschichtswerk nicht geben kann, er ignorierte andernfalls die Gattungsgrenze zur Epik. Tatsächlich wird diese durch die List des Numa, so wie Livius sie schildert, auch ausgedrückt: Statt listig mit Göttern zu kommunizieren, macht Numa auf listige Weise vorstellig, er kommuniziere mit Göttern. Das Vorstelligmachen von Gesprächen mit Göttern verbindet übrigens die Gestalten des Numa und Scipio Africanus, beide üben so ihr imperium aus. Feldherr (1998) S. 67 – 71; Jason P. Davies, Rome’s Religious History. Livy, Tacitus and Ammianus on their Gods, Cambridge 2004, S. 129 Anm. 96. 41 Liv. 1, 21, 4: Et Fidei solemne instituit. Ogilvie (1965) S. 103: „The most important of the anachronisms foisted on Numa is the cult of Fides.“ 42 Der Gebrauch des lat. uis bringt es mit sich, dass wir uis doppelt verwenden müssen, als „gewaltsamen Übergriff“ und als „körperliche Gewalt“ (ohne neg. Konnotation).
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wohl die List als auch die Gewalt zu perhorreszieren. Hier erscheint aber die Gewalt als problematischer als die List, die für Numa in dieser Phase der römischen Entwicklung eine gänzlich unproblematische Handlungsoption darstellt.43 2.3 Tullus Hostilius und Ancus Marcius Das Problem von List und Gewalt und ihrer institutionellen Bändigung taucht erneut und in verschärfter Form unter der Herrschaft des Nachfolgers bei der Auseinandersetzung mit Alba Longa auf. Tullus Hostilius erscheint hier nicht nur als der wildeste,44 sondern auch als der manipulativste römische König. Damit ähnelt er durchaus dem Tarquinius Superbus (und nicht nur dem Romulus, mit dem er oft verglichen wird); der Unterschied liegt allein darin, dass Tarquinius auf eigene, dynastisch motivierte Rechnung agiert, während Tullus Hostilius das Gemeinwesen im Blick hat.45 Die manipulative Seite des Tullus wird letztlich durch das paradoxe Erbe des Numa begünstigt, weil dessen Politik eben nicht bis zu einer Installation des Rechts gelangt ist. Dies ist eine Besonderheit der livianischen Darstellung. Livius spart nämlich einen bestimmten Aspekt der Tätigkeit des Numa Pompilius bewusst aus: die Installation des Fetialrechts. Auf diesen Punkt hat besonders Robert J. Penella hingewiesen.46 Das führt zu eigentümlichen Brüchen im livianischen Bericht. Als die Auseinandersetzungen mit Alba beginnen, schicken beide Städte Gesandtschaften zueinander, um geplündertes Gut zurückzufordern. Der römische König Tullus Hostilius hält die Albaner mit ausgesuchter Gastfreundschaft hin und wartet die Rückkehr der eigenen Gesandten ab, deren Forderungen erwartungsgemäß von Alba Longa abschlägig behandelt wurden. Erst dann erteilt er seinerseits den gegnerischen Gesandten eine Abfuhr mit dem Hinweis, sie sollten doch einmal sehen, welche Stadt als erste den Kriegsgrund beigesteuert habe (nämlich die Albaner dadurch, dass sie zuerst die rerum repetitio der Römer zurückgewiesen haben). Diese Handlungssequenz, in der mit den Fristen für die Kriegs43
Feldherr (1998) S. 70: „Here Romulus’s conquests and Numa’s institutions parallel one another in their effects.“ 44 1, 22, 2: Hic non solum proximo regi dissimilis sed ferocior etiam quam Romulus fuit. Eckart Mensching, Tullus Hostilius, Alba Longa und Cluilius. Zu Livius I 22f. und anderen, in: Philologus 110 (1966), S. 102 – 118, 103: „Tullus Hostilius’ Charakteristik hat Livius sehr stark auf das eine Wort ferox abgestellt.“ 45 1, 22, 2: Cum aetas uiresque tum auita quoque gloria animum stimulabat. Senescere igitur ciuitatem otio ratus undique materiam excitandi belli quaerebat. Kraft und Ruhmesstreben treiben den König zwar an, aber er sucht den Anlass für sein Handeln im Zustand der ciuitas, der in seinen Augen verbesserungswürdig ist. 46 Robert J. Penella, War, Peace and the Ius Fetiale in Livy 1, in: CP 82 (1987), S. 233 – 237. Vgl. auch Haffter (1964) S. 245; Ogilvie (1965) S. 129.
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erklärung gespielt wird („a legalistic trick“47), setzt das Fetialrecht eigentlich voraus.48 Als dann der Krieg ausbricht, bietet der albanische Dictator Mettius Fufetius einen Stellvertreterkampf an, der bekanntlich von jeweils drei Brüdern ausgetragen wird, den römischen Horatiern und den sabinischen Curatiern.49 Über diesen Kampf wird ein Vertrag geschlossen, der von seiner Form her ebenfalls das Fetialrecht voraussetzt.50 Dennoch schreibt Livius seine Installation erst dem Nachfolger des Tullus Hostilius, also dem Ancus Marcius zu (1, 32, 5): Vt tamen, quoniam Numa in pace religiones instituisset, a se bellicae caerimoniae proderentur, nec gererentur solum sed etiam indicerentur bella aliquo ritu, ius ab antiqua gente Aequiculis quod nunc fetiales habent descripsit, quo res repetuntur.51 Das hat Konsequenzen für die Herrschaftsausübung des Tullus. Nicht nur bei der Anzettelung52 des Krieges mit Alba, auch bei der Durchführung des Konflikts muss er immer wieder auf Listen zurückgreifen, gleichzeitig wird das gesamte Geschehen von einem normativen Diskurs zu diesem Komplex begleitet. Mettius Fufetius spricht aus, dass beide Völker sich sowohl durch ihre Motivation, den Krieg zu führen, als auch durch ihre Verwandtschaft ähnlich sind. Ihre gemeinsamen Interessen verbieten es ihnen, sich durch Krieg zu schwächen und so der Übermacht der Etrusker als 47
Levene (1993) S. 139. Vgl. Ogilvie (1965) S. 105 – 107 zu 1, 22, 4 (res repetendas): „L. presupposes that the fetial procedure for declaring war has been instituted.“ (S. 107). Levene, der den Aufsatz von Penella kennt (S. 140 Anm. 58), problematisiert diesen Punkt nicht weiter. 49 Livius berichtet (1, 24, 1), eine Minderzahl seiner Quellen bezeichne die Curatier als das römische Aufgebot, aber: „none of the extant sources (…) made the Curiatii Roman though traces of that tradition can be detected (…). L. ignores the additional refinement that the Horatii and Curiatii were cousins (…).“ Ogilvie (1965) S. 109. 50 Wenig aussagekräftig: Luigi Labruna, Tito Livio e le istituzioni giuridiche e politiche dei Romani, Neapel 1984, S. 39 – 41. 51 „a se: sc. ab Anco Marcio, cf. 42.4. Numa is the founder of religious practices, Servius Tullius of constitutional institutions, Tullus Hostilius of international relations.“ Ogilvie (1965) S. 129. Das ist im Falle des Tullus doch etwas zu glatt formuliert, denn außenpolitische Beziehungen haben alle Könige unterhalten. Bei Tullus aber erscheinen Gewalt und List zum letzten Mal als gleichberechtigte Herrschaftsmittel, bis mit den Maßnahmen des Ancus die Institutionen des Königtums abgeschlossen werden und die List verschwindet (um dann depraviert wiederzukommen). Es ist daher auch kein Zufall, dass das Königtum des Tullus mit dessen Krankheit und religiösem Wahn endet (1, 31, 5 – 8): Er schlägt, wie Levene (1993) S. 139 deutlich gemacht hat, ins andere Extrem aus, weil diese Extreme (Krieg vs. religio) noch nicht befriedet sind. 52 Obwohl beide Völker raids in die Gebiete der Nachbarn unternommen hatten, lässt Livius keinen Zweifel daran, dass Tullus den Krieg vom Zaune gebrochen hat, wie seine Formulierung 1, 22, 2 deutlich macht. 48
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Beute anzubieten.53 Aus diesem Grund schlägt er den Zweikampf vor, der mit einem eigentlich fetialrechtlichen Vertrag besiegelt wird. Dieser Vertrag soll durch seinen Wortlaut genau das ausschließen, was bestimmend war für den Konflikt zwischen Sabinern und Römern: die betrügerische List (1, 24, 7f.): Vt illa palam prima postrema ex illis tabulis ceraue recitata sunt sine dolo malo, utique ea hic hodie rectissime intellecta sunt, illis legibus populus Romanus prior non deficiet. Si prior defexit publico consilio dolo malo, tum illo die, Iuppiter, populum Romanum sic ferito ut ego hunc porcum hic hodie feriam; tantoque magis ferito quanto magis potes pollesque. Exkurs: Dolus malus und das römische Recht Der Ausdruck dolus malus stammt aus dem römischen Recht und kommt auch in Ab Urbe Condita ausnahmslos in juristischen Formeln bzw. bei Aussagen vor, die sich auf ein juristisches Problem beziehen.54 In dem fetialrechtlichen Vertrag zwischen Albanern und Römern erscheint er zum ersten Male bei Livius, das Formular stellt jedoch einen Anachronismus, vielleicht aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, dar.55 Die juristische Spezialliteratur über dolus malus ist Legion; eine literaturwissenschaftliche Aneignung des Themas hat Abbot in seiner Dissertation unternommen.56 Die für uns relevanten Fragestellungen lassen sich aber rasch zusammenfassen. Dolus malus bezeichnet in den leges seit der Königszeit bis ins erste vorchristliche Jahrhundert57 hinein eigentlich weniger die List im Sinne einer Täu53 1, 23, 7 – 9: Ibi infit Albanus: Iniurias et non redditas res ex foedere quae repetitae sint, et ego regem nostrum Cluilium causam huiusce esse belli audisse uideor, nec te d ubito, Tulle, ead em prae te ferre; sed si uera potius quam dictu speciosa dicenda sunt, cupido imperii duos cognatos uicino sque populos ad arma stimulat. Neque, recte an perperam, interpretor. Fuerit ista eius deliberatio qui bellum suscepit: me Albani gerendo bello ducem creauere. Illud te, Tulle, monitum uelim: Etrusca res quanta circa nos teque maxime sit, quo propior, hoc magis scis. Multum illi terra, plurimum mari pollent. Memor esto, iam cum signum pugnae dabis, has duas acies spectaculo fore ut fessos confectosque simul uictorem ac uictum adgrediantur. 54 1, 24, 7; 1, 24, 8; 34, 35, 4; 38, 11, 2; 38, 11, 5; 42, 21, 5; 43, 15, 8. 55 Das Alter der bei Livius gebotenen Vertragsformel ist umstritten. Wenn die Kompetenz des foedus ferire wirklich erst im dritten Jahrhundert auf die Fetialen überging, handelt es sich um eine Rückprojektion eines fetialischen Formulars, die Livius bereits bei Valerius Antias vorgefunden haben könnte, vgl. Rüpke (1990) S. 100f., 115f.; Ogilvie (1965) S. 106. 56 Abbot (1997) chapters 2 (S. 38 – 85) und 3 (S. 86 – 126). Wobei man nicht vergessen sollte, dass Cic. off. 3, 14, 58 – 61 ohnehin eine Hauptquelle für die actio de dolo malo des Aquilius ist. Es ist klar, dass der rechtshistorische Hintergrund diesen Text dann auch wieder gut erläutert, so wie Abbot es tut. 57 Geoffrey MacCormack, Sciens Dolo Malo, in: Sodalitas Scritti A. Guerino III, Neapel 1984, S. 1445 – 1453, 1445: „The phrase sciens dolo malo is frequently found in leges from the royal period until the first century A.D. It is also found in the lex luci Spoletini, the
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schung als vielmehr den Vorsatz, geltendes Recht zu brechen („die böse, rechtswidrige Absicht“).58 Dass ein häufiger Kontext der Formel Fälle von Täuschung und Betrug waren, hängt eher mit praktischen Gründen zusammen; ein Vorsatz lässt sich am ehesten bei Täuschungsdelikten nachweisen.59 Die eigentlichen Schwierigkeiten mit dem Verständnis von dolus malus sowohl für die antiken Juristen wie auch für die modernen Rechtshistoriker beginnen mit dem Edikt des Prätors Aquilius Gallus aus dem Jahr 66 v. Chr., mit dem er ankündigt, Prozesse bei Delikten, die durch dolus malus begangen wurden, also die actio de dolo malo, zuzulassen.60 Hinzu trat vermutlich zeitgleich die exceptio doli, eine umfassende Klageeinrede sogar gegen Anklagen, die mit widriger Treue erhoben wurden oder auf Ansprüchen basieren, die dolo malo hergestellt worden sind.61 Da der bisherige Gebrauch von dolus malus nur die rechtswidrige Absicht bezeichnet hatte, war diese Ankündigung erklärungsbedürftig, hätte sie doch sonst nichts anderes bedeutet, als dass Aquilius bereit gewesen wäre, jeden Fall senatus consultum Siliananum and edict thereon and the edict of the curule aediles. The jurists do not use it in their commentaries preferring the phrase sciens prudensque. Basically it belongs to the phraseology employed in the drafting of statutes and was doubtless adopted from the one to the other almost in the manner of a ritual formula without much consideration as to its exact meaning.” 58 Coing (1951) S. 114 (Zitat). MacCormack (1984) S. 1453; Geoffrey MacCormack, ‚Dolus‘ in Republican Law, in: BIDR 88 (1985), S. 1 – 38. Zu Liv. 1, 24, 8 ebenda S. 6. Vgl. auch Massimo Brutti, La Problematica del Dolo Processuale nell’ Esperienza Romana, Mailand 1973, S. 1: „un proposito deliberato di nuocere ad altri”. Diese Absicht, anderen zu schaden, muss nicht unbedingt Teil des dolus malus sein. Dolus malus liegt vor, wenn es keine andere Rechtfertigung für einen bewussten Rechtsbruch gibt. Die Konnotation des Täuschens und Schadens ist nur eine von mehreren möglichen, Intentionalität bleibt aber trotz Ausnahmen die Regel: Geoffrey MacCormack, Dolus in the Law of the Early Classical Period (Labeo – Celsus), in: SDHI 52 (1986), S. 236 – 285, bes. 245f. u. S. 284f.; MacCormack (1984) S. 1453. 59 Geoffrey MacCormack, Juristic Use of the Term Dolus: Contract, in: ZRG 100 (1983), S. 520 – 532, 531. 60 Quae dolo malo facta esse dicentur, si de his rebus alio actio non erit et iusta causa esse videbitur, intra annum, cum primum experiundi potestas fuerit, iudicium dabo. (Ulp. 11 ad Ed. = D. 4.3.1.1). Abbot (1997) S. 38f. mit weiterführender Literatur. Theo Mayer-Maly, Actio, in: Der Kleine Pauly 1 (1979), Sp. 57 – 59. Ter Beek (1999) widmet praktisch den ganzen zweiten Band seiner Untersuchung diesem Problem. 61 MacCormack (1985) S. 15. Sebastian Martens, Durch Dritte verursachte Willensmängel, Tübingen 2007, S. 45 – 52; Herwig Stiegler, Exceptio, in: Der Kleine Pauly 2 (1979), Sp. 474 – 476. Leon ter Beek, Ciceros Bericht über die Einführung der Rechtsmittel gegen Arglist (Dolus malus) durch Aquilius Gallus, in: A. P. M. H. Lardinois u.a. (Hgg.), Land of Dreams. Greek and Latin Studies in Honour of A. H. M. Kessels, Leiden – Boston 2006, S. 327 – 338, 333 nimmt mit Ulrich von Lübtow, Die Ursprungsgeschichte der exceptio doli und der actio de dolo malo, in: Eranion Giorgios S. Maridakis I, Athen 1963, S. 183 – 201, 192 und 194 an, dass zuerst die exceptio eingeführt wurde. Vgl. allgemein zur Charakteristik der Formeln des Aquilius ter Beek (2006) S. 327: „Ein Rechtsmittel, mit dem man gegen die Arglist an sich vorgehen konnte“.
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zuzulassen, für den es bisher keine actio gab (vgl. Ulp. 11 ad Ed. = D. 4.3.1.1 [Anm. 60]: si de his rebus alio actio non erit) – eine Entwicklung, die übrigens trotz der Definitionsversuche nicht ganz einzudämmen war.62 Aquilius sah sich also gezwungen, seine Absichten zu erläutern (Cic. off. 3, 14, 60): cum ex eo quaereretur, quid esset dolus malus, respondebat: cum esset aliud simulatum, aliud actum. Diese Definition wirft drei Probleme auf: 1. Es ist nicht ganz klar, was mit aliud actum gemeint sein soll: „Wenn man anders handelt, als man zu handeln vorgibt“ oder „Wenn man anderes beabsichtigt, als man scheinbar tut?“ 2. Gibt es nur rechtswidrige Simulationen? 3. Entsprechen die überlieferten Fälle, bei denen die actio de dolo malo bzw. die exceptio doli zur Anwendung kam, dieser Definition? Es liegt angesichts der Fälle, die Cicero selbst im Zusammenhang mit der actio de dolo malo untersucht, weiterer Analysen überlieferter Rechtsfälle und nicht zuletzt dem bisherigen Vorkommen des terminus dolus malus als rechtswidrige Absicht nahe, die Definition des Aquilius so zu verstehen, dass es um Fälle geht, wo man das eine vortäuscht, das andere aber intendiert.63 Allerdings, und damit befinden wir uns bereits beim zweiten Punkt, deckt die Definition auch Täuschungen ab, die aus einer Notlage oder mit den besten Absichten inszeniert wurden. Auf diesen Punkt hat der augusteische Jurist Labeo bereits gegen Servius Sulpicius, der die Definition des Aquilius zunächst stützte, hingewiesen (Ulp. 11 ad Ed. = D. 4.3.1.2): Dolum malum Servius quidem ita definiit machinationem quandam alterius decipiendi causa, cum aliud simulatur et aliud agitur. Labeo autem posse et sine simulatione id agi, ut quis circumueniatur: posse et sine dolo malo aliud agi, aliud simulari, sicut faciunt, qui per eiusmodi dissimulationem deseruiant et tuentur uel sua uel aliena. In dem Moment, als Aquilius die Definition von dolus malus in das Zentrum der Diskussion rückte, kamen letztlich die gleichen Probleme in den Rechtsdiskurs, die durch die Definitionen und die Bewertungen von List im politischen, literarischen und literaturwissenschaftlichen Feld damals und heute aufgeworfen wurden und werden. Im Ergebnis, und damit wenden wir uns 62
MacCormack (1985) S. 19. Dietmar Schanbacher, ius und mos. Zum Verhältnis rechtlicher und sozialer Normen, in: Braun/ Haltenhoff/ Mutschler (2000), S. 353 – 371, hier: S. 360 und 371 sieht in dem der Diskussion gewöhnlich zugrunde liegenden Fall, dem arglistigen Hausverkauf bei Cic. off. 3, 60, ein Beispiel dafür, dass durch die actio ein Ausgleich zwischen mos und ius geschaffen wurde. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass mos gerade in der späten Republik nicht mehr konsensuell verhandelt wurde, dann macht das die actio eher noch problematischer. 63 Geoffrey MacCormack, Aliud simulatum, aliud actum, in: ZRG 104 (1987), S. 639 – 646, 641: „To take agere as ‘to do, act‘ yields a less satisfactory sense because it is difficult to locate a contrast between what is claimed to be the case an what is actually done.”
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dem dritten Punkt zu, entwickelte sich die actio de dolo malo zu einer Art subsidiärer Prozessformel, die häufig dann bemüht wurde, wenn andere Rechtsformeln nicht zur Verfügung standen.64 Bereits für die Zeit der Republik ist ein Fall überliefert, in dem die actio bei einem Täuschungs- bzw. Betrugsdelikt angewendet wurde, das nicht mit der Definition aliud agere aliud simulare zu beschreiben war.65 Dies setzt sich in der Kaiserzeit fort. Gleichzeitig gelang es nicht oder wurde gar nicht beabsichtigt, den Begriff dolus von moralischen Konnotationen freizuhalten. Durch die enge Beziehung zu Betrug und arglistiger Täuschung, die die actio trotz des Gesagten in der Praxis natürlich häufig hatte, war ein entsprechender Prozess ehrabschneidend und konnte nicht gegen jede Respektsperson angestrengt werden. Kinder etwa konnten nicht ihre Eltern mit dieser Formel vor Gericht ziehen.66 Der Gebrauch, den Livius hier beim ersten Auftreten von dolus malus in seinem Werk macht, ist ohne diesen Hintergrund nicht recht verständlich. Nimmt man den Vertragstext für sich, haben wir hier einen klassischen Beleg – und als solcher taucht er in der romanistischen Literatur auf – für dolus malus als rechtswidrige Absicht. Die Formel besagt nichts weiter, als dass derjenige von den Göttern bestraft wird, der absichtlich und ohne weiteren rechtfertigenden Grund gegen den Vertragsinhalt verstößt. Mit List hat das alles wenig zu tun. Doch der Kontext der Stelle erweitert die Konnotationen von dolus malus um die Inhalte, die der Begriff nach dem Edikt von 66 v. Chr erhalten hat (Ende des Exkurses). Deshalb zurück zu Livius: Ein und dieselbe Eidesformel bindet Römer und Albaner. Der anschließende Zweikampf wird letztlich durch eine List von dem überlebenden Horatier bestanden (1, 25). Obwohl seine beiden Brüder früh den Angriffen der Curatier zum Opfer fallen, kann er den Kampf für sich entscheiden, indem er, selbst unverletzt geblieben, zunächst seinen Gegnern davonläuft. Die Albaner aber sind im ersten Kampf verletzt worden und können nicht gleichzeitig die Verfolgung aufnehmen; der Römer nimmt seine Gegner einzeln in Empfang und besiegt sie. Die List kann man hier durchaus als ein aliud agere aliud simulare bezeichnen: Der Horatier täuscht eine Flucht vor, vereinzelt aber in Wirklichkeit den Gegner, d.h. er flieht den Kampf gerade nicht. Dennoch liegt kein dolus malus vor, denn die situative Improvisation, mit der eine scheinbar eindeutige Überlegenheit des Gegners durch ein Fluchtstrategem unterlaufen wird,67 zerstört nicht die 64
Andreas Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, in: RIDA 27 (1980), S. 349 – 386, hier S. 360 und 378. 65 MacCormack (1986) S. 237; ders. (1987) S. 644f. (zu Paul. 49 ad Ed. = D. 39.3.14 pr.). 66 Wacke (1980) S. 383 – 385. Von Lübtow (1963) S. 183 („infamierende Privatstrafklage“). 67 Auch im chinesischen Listkatalog gibt es dafür ein Strategem, von Senger (2002) S. 56: „Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten“. Dass bereits ein solches Enttäuschen der Erwartung des Gegners mit der List zusammenhängt, findet seine Bestätigung auch bei
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Logik der Abmachung, sondern bekräftigt sie, weil der eine den Kampf gegen die drei auch dann noch aufrechterhält, als er aussichtslos erscheint. Gleichzeitig koppelt das Geschehen die Kriegslist von der Vertragslist ab.68 Der geschlagene Albaner kann sich mit dieser Situation nicht abfinden. Anders aber als der Horatier, der sich innerhalb des Abkommens einfallsreich verhalten hat, kann Mettius nur durch dolus malus, durch einen Vertragsbruch, von dem er hofft, dass er nicht offenbar69 werde, eine Neuaufnahme des Konflikts zu seinen Gunsten erwarten. Livius (1, 27, 1) spricht davon, dass Mettius aufgrund des Scheiterns seiner recta consilia zu praua consilia gegriffen habe. Die Offenheit des Zweikampfes mit seinen taktischen Raffinessen steht in krassem Gegensatz zur Handlungsweise des albanischen Diktators. In der Schlacht mit den Fidenaten agieren Tullus Hostilius und Mettius Fufetius mit List und Gegenlist. So wie schon der Kampf zwischen Horatiern und Curatiern die Unterscheidung von angemessener taktischer Finte und böser List exemplifiziert hat, so wird hier nun wieder auf dem Felde der Täuschung agiert. Mettius Fufetius entschließt sich, mit seinen albanischen Hilfstruppen unerlaubt die römische Flanke zu entblößen und abzuwarten, welche Seite den Kampf für sich entscheidet. Die taktischen Bewegungen der Albaner werden absichtlich widersprüchlich gestaltet, um sie deutungsoffen zu halten. Doch Tullus lässt sich nicht täuschen. Er bittet die Götter durch Gelöbnisse um Beistand, erteilt dann mit lauter Stimme dem Boten einen Verweis, der ihn vom Abfall der Albaner unterrichtet hat, und behauptet, dass alles auf seinen Befehl hin geschehen sei. Das albanische Kontingent sei für einen Angriff im Rücken der Feinde abkommandiert worden. Seiner eigenen Reiterei befiehlt er, die Lanzen zu heben, um damit seinen Truppen die Sicht auf die deprimierend entblößte Flanke zu nehmen. Dass Tullus sein Kommando mit lauter Stimme erteilt hat, ist berechnendes Kalkül. Die Fidenaten hören ihn und sind ihrerseits durch das Verhalten des Albaners verunsichert, dem sie zutrauen, sie ihm Stich gelassen zu haben (1, 27, 9). Die Römer erfechten einen blutigen Sieg (1, 27, 11: non alia ante Romana pugna atrocior fuit). Mettius, der seine Albaner vom dem Kampf zuClausewitz (1834) S. 179: „Schon das allgemeine Bedürfnis zu überraschen, wovon wir im vorigen Kapitel gesprochen haben, weist darauf [auf die Bedeutung der List im Kriege, F.W.] hin; denn jedem Überraschen liegt ein wenn auch noch so geringer Grad von List zum Grunde.“ 68 Ein zentraler Punkt, denn auch wenn die Römer sich immer wieder auf fides im Krieg berufen haben, ist doch das militärische Strategem niemals (weder in der Realität noch bei Livius, s.u.) wirklich als Handlungsoption desavouiert worden. Das Fabriciusbeispiel, mit dem die Römer ihre fides im Krieg bekunden, betrifft ja bei genauem Hinsehen auch weniger das listige Verhalten im Felde als vielmehr den diplomatischen Kontakt und den Einsatz verdeckter Agenten. 69 Dieses Vorgehen fällt in den Bereich von simulatio und dissimulatio, der den Hauptpunkt der Listdefinition des Aquilius Gallus und der daran anschließenden juristischen Diskussion ausmacht.
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rückgehalten hat, gratuliert dem König, dieser aber erklärt in einer contio, dass die Albaner keineswegs auf seine Weisung gehandelt hätten, sondern sein Befehl eine List gewesen sei (1, 28, 5: nec imperium illud meum sed consilium et imperii simulatio fuit70). Tullus wirft Mettius vor, keine Treue (fides) halten zu können, und lässt ihn vierteilen, um seinen zerrissenen Sinn zu brandmarken (1, 28, 9 – 11). Die ganze Episode ist ein Lehrstück von List, Gegenlist und einer sich daran anschließenden Wertediskussion. Fides ist das Gegenstück zum Verhalten des Mettius. Gleichzeitig tritt die List hier in zwei Bewertungen auf. Das Verhalten des Mettius ist treulos, während das Verhalten des Tullus wie das des dritten Horatiers zwar mit Erwartungen des Gegners spielt, sich aber im rein Taktischen bewegt. Damit bildet Livius die juristische Diskussion um dolus malus exakt ab. Eine List ist dann dolus malus, wenn sie arglistig und ohne besondere Rechtfertigung eine Abmachung unterläuft. Der überraschende Sieg des einen Horatiers gegen die drei Curatier symbolisiert dabei das Prekäre der Übereinkunft, bei der eine weitreichende politische Entscheidung der fortuna von Einzelkämpfern überlassen wird.71 Die Enttäuschung einer der beiden Parteien ist durch diese Ausgangslage vorprogrammiert, weil es letztlich nicht zu einem Ausschöpfen der tatsächlichen Möglichkeiten kommt, die jede Partei grundsätzlich hätte, um ihre Interessen durchzusetzen.72 Dieses Nichtausnutzen der vorhandenen Ressourcen ist zugleich eines der Hauptprobleme der List im Kriege und deshalb scheint es kein Zufall zu sein, dass das Prekäre des Zweikampfes sich noch im Strategem des Horatiers spiegelt. Denn ist der Zweikampf bereits eine Form, Ressourcen nicht zur Anwendung zu bringen, so verhindert der Römer durch seinen Trick, dass die Albaner ihre Übermacht ausspielen können. Carl von Clausewitz hat der List in seinem großen Werk Vom Kriege ein kurzes und geistreiches Kapitel gewidmet (s. Kapitel 1 dieser Un70
Simulatio wiederum von Feger (1995) S. 91 mit „List“ übersetzt. Auch Wheeler (1988) S. 14 sieht simulatio hier im Rahmen des Listvokabulars, denkt aber aufgrund seiner Fragestellung vor allem an das militärische Strategem. Gleichzeitig erkennt er (ebenda mit Anm. 41) hier ein klassisches Beispiel für ein salubre mendacium, eine gerechtfertigte Lüge („white lie“). 71 Livius schreibt den Umstand, dass der eine Horatier unverletzt blieb, ausdrücklich dem Zufall zu (1, 25, 7): forte is integer fuit. 72 Die Unzufriedenheit des Volkes mit diesem Kampf ist auch genau die Motivation des Albaners, sich nicht an die Abmachung zu halten (1, 27, 1): Nec diu pax Albana mansit. Inuidia uolgi quod tribus militibus fortuna publica commissa fuerit, uanum ingenium dictatoris corrupit, et quoniam recta consilia haud bene euenerant, prauis reconciliare popularium animos coepit. Aus diesem Grund ist ein solcher Zweikampf als Ersatz einer kriegerischen Auseinandersetzung in der historischen Realität auch kaum denkbar, Rüpke (1990) S. 154. Vgl. dazu auch Frank Wittchow, Vater und Onkel. Julius Caesar und das Finale der Aeneis, in: Gymnasium 112 (2005), S. 45 – 69, 60 mit weiterführender Literatur. Zu Zweikämpfen bei Livius vgl. Jutta Fries, Der Zweikampf. Historische und literarische Aspekte seiner Darstellung bei T. Livius, Königstein Ts. 1985.
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tersuchung). Er macht darin einerseits die enge Verbindung der Kriegskunst (Strategie) zur Kriegslist (Strategem) deutlich, die in seinen Augen besonders in der Bedeutung des Überraschungsmomentes für den Krieg liegt. Andererseits hält er die Bedeutung besonders raffinierter Täuschungsmanöver – wie sie etwa in den antiken Kompendien eine so große Rolle spielen – für gering: „Aber so sehr man gewissermaßen das Bedürfnis fühlt, die Handelnden im Kriege an verschlagener Tätigkeit, Gewandheit und List sich einander überbieten zu sehen, so muß man doch gestehen, daß diese Eigenschaften sich in der Geschichte wenig zeigen (…). Die Strategie kennt keine andere Tätigkeit als die Anordnung der Gefechte mit den Maßregeln, die sich darauf beziehen. Sie kennt nicht, wie das übrige Leben, Handlungen, die in bloßen Worten, d.h. in Äußerungen, Erklärungen usw. bestehen. Diese, die nicht viel kosten, sind es aber vorzüglich, womit der Listige hinters Licht führt. Das, was es im Kriege Ähnliches gibt: Entwürfe und Befehle bloß zum Schein gegeben, falsche Nachrichten dem Feinde absichtlich hinterbracht usw., ist für das strategische Feld gewöhnlich von so schwacher Wirkung, daß es nur bei einzelnen, sich von selbst darbietenden Gelegenheiten gebraucht, also nicht als freie Tätigkeit, die von dem Handelnden ausgeht, betrachtet werden kann. Solche Handlungen aber, wie die Anordnung von Gefechten, soweit durchzuführen, daß sie dem Feinde einen Eindruck machen, erfordert schon einen beträchtlichen Aufwand von Zeit und Kräften, und zwar um so mehr, je größer der Gegenstand ist. Weil man diese gewöhnlich nicht daran geben will, darum sind die wenigsten der sogenannten Demonstrationen in der Strategie von der beabsichtigten Wirkung. In der Tat ist es gefährlich, bedeutende Kräfte auf längere Zeit zum bloßen Schein zu verwenden, weil immer die Gefahr bleibt, daß es umsonst geschieht und man diese Kräfte dann am entscheidenden Ort entbehrt. (…) Mit einem Wort: es fehlt den Steinen im strategischen Schachbrett die Beweglichkeit, welche das Element der List und Verschlagenheit ist. (…) Je schwächer aber die Kräfte werden, welche der strategischen Führung unterworfen sind, um so zugänglicher wird diese der List sein, so daß dem ganz Schwachen und Kleinen, für den keine Vorsicht, keine Weisheit mehr ausreicht, auf dem Punkt, wo ihn alle Kunst zu verlassen scheint, die List sich als letzte Hilfe desselben anbietet.“73
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Clausewitz (1834) S. 179f. Für von Senger (1999) S. 48 ein Beispiel dafür, wie westliches Denken die List unterschätzt; dies mag sein, dennoch gibt es eben auch Nachteile listigen Handelns und diese hat Clausewitz gut benannt.
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Die Kriegslist ist dem Wesen der Kriegskunst, die hauptsächlich auf Strategie beruht, fremd.74 Sie berücksichtigt nicht in ausreichender Weise die Ressourcen, die dem Feldherren zur Verfügung stehen, im schlimmsten Falle verschleißt sie sie. Dies bedeutet im Endeffekt genau das, was oben dargelegt wurde: Dadurch, dass die Kriegslist die eigentlichen Kräfteverhältnisse unterläuft, ist sie nicht nachhaltig. Der durch List gewonnene Sieg kann den Unterlegenen retten, er ändert aber nur in seltenen Fällen etwas am Kräftegleichgewicht der streitenden Parteien und kann den Konflikt daher nicht endgültig lösen. Das Entscheidende wird aber in der Reaktion auf das Ergebnis des Zweikampfes zur Darstellung gebracht. Mettius Fufetius bricht den Vertrag in „böser, rechtswidriger Absicht“ (alte Definition) und greift dabei zur schlauen, die wahren Absichten vertuschenden List (neue Definition seit Aquilius Gallus). Die List des römischen Königs dagegen ist durch die militärische Zwangslage gerechtfertigt und fällt, obwohl hier auch Vortäuschung (simulatio imperii) angewandt wird, eben nicht unter den Verdacht eines dolus malus, weil Tullus Hostilius hier genau das tut, was Labeo als Einwand gegen eine rein auf simulatio basierende dolus-malus-Definition gebracht hat (s.o.): tueri uel sua uel aliena. Fassen wir die Auseinandersetzung zwischen Rom und Alba Longa zusammen, so wird deutlich, dass beide Seiten mit der Erwartbarkeit von Handeln kalkulieren, aber mit den kontingenten Ergebnissen unzufrieden sind. Immer wieder durchkreuzen Listen die erzielten Einigungen, sodass schließlich nur die grausame Ausschaltung des einen Kontrahenten Frieden bringt. Dies hängt auch mit dem merkwürdigen Status des Fetialrechts zusammen. Der livianische Numa hatte den Römern ein Bewusstsein für gött74
Man kann dem entgegenhalten, dass die Strategie eine Erfindung der Neuzeit ist. Namentlich Tolstoi macht sich über diese preußische Erfindung in seinem großen Werk „Krieg und Frieden“ ausgiebig lustig (Leo Tolstoi, Krieg und Frieden. Gesamtausgabe in einem Band. Aus dem Russischen übertragen von Werner Bergengruen. Mit einem Nachwort von Heinrich Böll, München 62002, z.B. S. 843, 851, 1030). Es ist richtig, dass die Antike keine Theorie der Kriegsführung, sondern nur Strategemsammlungen kennt. Dennoch ist es m. E. wichtig, zwischen strategischer Kriegsführung, die Orte und Ressourcen berücksichtigt, und strategemischer Kriegsführung, also dem taktischen Agieren im Feld, zu unterscheiden. Auch antike Staaten mussten in diesem Sinne strategisch denken. Der Vorschlag des Mettius, sich wegen der Etrusker nicht in einem Krieg aufzureiben, ist eine strategische Argumentation. Es ist im Übrigen vielleicht auch kein Zufall, dass Tolstoi seine Kritik an der preußischen Strategie mit einem eigensinnigen Beharren auf der Macht des Zufalls und den chaotischen Effekten des Gefechts begründet. Zufall und List sind in der Tat die Antipoden der Strategie. So erscheinen sie ja auch im Kampf zwischen Horatiern und Curatiern, in dem der eine Horatier nur durch Zufall überlebt und dann mit List gewinnt. Die gesamte römische Militärentwicklung aber zielt sowohl in der Realität (scipionische Reform, marianische Reform) als auch in der livanischen Imagination auf eine zuverlässige Auslastung fester Ressourcen und eine Minimierung des Zufalls ab.
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liches Recht und Unrecht eingepflanzt, die fides als fundamentum iuris etabliert, aber keine Ausdifferenzierung und Kodifizierung dieses Rechts erreicht. Es sind immer noch Kult, Opfer und Ritual, die als Moderatoren von Partikularinteressen erscheinen, die ansonsten durch Gewalt und/oder List durchgesetzt werden. Erst das Recht verspricht – in Verbindung mit fides als fundamentum iuris – eine grundlegendere Abhilfe. Der Vertrag mit Alba versucht diese Lücke im Vorgriff zu füllen. Die Akzeptanz dieses Rechts ist aber noch nicht etabliert, es wird noch performativ gefüllt, durch verschiedene Handlungsangebote, die als positive oder negative Strategeme firmieren. Die mangelnde Akzeptanz für das Recht unter Tullus wird auch sehr deutlich an dem innenpolitischen Prozess, der sich an den Schaukampf zwischen Horatiern und Curatiern anschließt. Der siegreiche Horatier tötet auf dem Heimweg seine eigene Schwester im Zorn, weil diese mit einem der sabinischen Curatier verlobt war und nun offen um den Toten trauert, statt ihren Bruder zu bejubeln (1, 26, 2 – 4). Der Horatier wird vor Gericht gezogen und, nachdem der Vater unter Tränen für seinen Sohn eingetreten ist, vom Volk freigesprochen (1, 26, 5 – 14): admiratione magis uirtutis quam iure causae (1, 26, 12): Recht tritt in der Akzeptanz hinter eine uirtus zurück, die sich bei dem Horatier in nicht unbeträchtlichem Maße als dolus aktualisiert hatte.75 Die ordentliche Einrichtung des Fetialrechtes durch Ancus Martius erscheint so als die Folge einer Erfahrung mit seiner wilden Einrichtung durch den Vorgänger.76 Signifikanterweise kommt daher die Herrschaft des Ancus als einzige ohne Listgeschichten aus. Mit der Verrechtlichung der Beziehungen wird idealtypisch die List ausgeschlossen. 2.4 Die etruskischen Könige Wie die Cacusepisode in den Romulusmythos eingewoben wurde, um die Überführung von ungezügelter Gewalt in geregelte Opferhandlungen deutlich zu machen, so hat Livius auch im Bereich der List eine Episode zum Verhältnis List und Herrschaft an einer signifikanten Stelle eingesetzt. Unter der Herrschaft des Servius kommt es zu einem Versuch der Sabiner, Rom die Verheißung der Weltherrschaft noch einmal abzujagen (1, 45). Ein sabi75 Vgl. Detlev Liebs, Von den Richtern Roms. Berühmte Prozesse der Antike, München 2007, S. 18f. 76 Wir erinnern uns, dass Tullus der „wildeste“ (i.e. ungestümteste) der römischen Könige war. Zur Ambivalenz von ferocia vgl. Klaus Eckert, ferocia – Untersuchung eines ambivalenten Begriffs, in: AU 13, 5 (1970) S. 90 – 106; Robert J. Penella, Vires/Robur/Opes and Ferocia in Livy’s Account of Romulus and Tullus Hostilius, CQ 40 (1990), S. 207 – 213, 211. Auf Romulus wird das Attribut ferox nicht angewendet (ebenda S. 211), auch wenn der Vergleich ferocior etiam quam Romulus natürlich beinhaltet, dass Romulus ferox war (Mensching [1966] S. 103).
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nischer pater familias besitzt eine Kuh von solch eindrucksvollem Wuchs, dass die Seher verkündeten, wer diese Kuh der Diana opfere, werde für seinen Staat die Weltherrschaft erringen. Beim Versuch, die Kuh im römischen Dianaheiligtum zu opfern, wird der Besitzer der Kuh aber vom römischen Vorsteher des Tempels getäuscht. Dieser schickt den Besitzer fort, damit er sich vor dem Opfer rituell reinige. Während der sich, voll von religiöser Scheu, zum Tiber begibt, opfert der Priester rasch die Kuh und sichert so Rom seine Ansprüche. Eine solche List wird freilich von der römischen Auffassung von Religion gedeckt. Manipulationen des göttlichen Willens sind durchaus möglich, wenn sie bestimmte Regeln einhalten.77 So darf nicht gegen den – beispielsweise durch Prodigien bekundeten – Willen der Götter gehandelt werden, aber es darf alles getan werden, um genehme göttliche Willensäußerungen zu produzieren.78 Grundsätzlich sind sowohl patres familias als auch Magistrate zu einem blutigen Opfer berechtigt.79 Aber diese ubiquitäre Lizenz, Opfer durchzuführen, bezieht sich nicht auf die Reichweite des angestrengten Rituals: „sacrifices were offered by those who held authority in the community in question: the father of the family in a domestic context, the president (magister) in a college, the yearly magistrates or public priest in the city.“80 Livius bezeichnet das Unterfangen des sabinischen pater familias ausdrücklich als consilium priuatum, mit dem in einer Situation, als Roms Vorherrschaft unter den Latinern längst anerkannt war, plötzlich von sabinischer Seite wieder Unruhe geschürt wird.81 Der römische Priester reagiert zwar mit einer List auf das Ansinnen des Sabiners, dessen Besitz die Kuh ja schließlich ist; aber er stellt auch die Ordnung religiös-politischer Kompetenz wieder her, indem er ein in seiner Reichweite auf die res publica bezogenes Opfer nicht in den Händen eines Familienvaters lässt. Dynastisch-familiäres Handeln wird in dieser Episode einem staatlichen Handeln entgegengesetzt. Berechtigt ist die List, wenn sie für Letzteres eintritt. Genau das Gegenteil findet unter den etruskischen Königen statt. Die akzeptierte Herrscherlist endet mit Ancus. Es sind die etruskischen Könige, die dann zu nicht akzeptierten Listen greifen, und diese haben, wie in der scheinbar zusammenhangslos eingewobenen Episode von der Kuh der Diana, eine privatisierende Note;82 Tarquinius Priscus schickt die Ancus77
Vgl. Anthony Corbeill, Nature Embodied. Gesture in Ancient Rome, Princeton – Oxford 2004, S. 28. 78 John Scheid, An Introduction to Roman Religion, Edinburgh 2003, S. 149. 79 Jörg Rüpke, Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001, S. 208. 80 Scheid (2003) S. 79f. Hervorhebungen durch Sperrung F.W. 81 1, 45, 3: Ea erat confessio caput rerum Romam esse, de quo totiens armis certatum fuerat. Id quamquam omissum iam ex omnium cura Latinorum ob rem totiens infeliciter temptatam armis uidebatur, uni se ex Sabinis fors dare uisa est priuato consilio imperii reciperandi. 82 Der Einschnitt zwischen den ersten vier und letzten drei Königen wird verschieden beurteilt. Insgesamt werden die ersten sechs Könige von den Römern positiv für Roms Entwicklung gesehen (Uwe Walter, Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im
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söhne auf die Jagd, um sich in der Volksversammlung zum König wählen zu lassen,83 er wendet Listen gegen die Sabiner an, obwohl die römischen Truppen an Stärke zugelegt haben (1, 37, 1); Servius verschleiert durch eine Täuschung den gewaltsamen Tod des Tarquinius,84 und schließlich handelt Tarquinius Superbus rücksichtlos dynastisch. 2.5 Tarquinius Superbus Im ersten Buch Ab Urbe Condita erzählt Livius, wie der letzte römische König Tarquinius Superbus die Stadt Gabii, nachdem er sie zunächst erfolglos militärisch einzunehmen versucht hatte, über seinen Sohn Sextus republikanischen Rom, Frankfurt am Main 2004, S. 145). Für die Darstellung des Livius spricht von Albrecht (1994a) S. 680 mehr oder minder neutral von einem Wechsel vom Archaischen zum Modernen, der mit Tarquinius Priscus einsetze. Andrew Feldherr (1998) S. 187ff. betont die dynastische Politik besonders für Tarquinius Superbus. Im Rahmen seiner Argumentation wird aber deutlich, dass der Konflikt dynastische Politik vs. Wahlkönigtum mit Tarquinius Priscus und den Ancussöhnen beginnt. Der Umstand, dass die Ancussöhne ein dynastisches Anrecht auf das Königtum erheben, untermauert zudem Fox’ (1996) Ansicht (die zu selten geteilt wird), dass es Livius hier nicht um eine Auseinandersetzung Römisch vs. Etruskisch geht (S. 127). Fox gibt eine ausgewogene Analyse des politischen Niederganges unter den drei letzten Königen (bei Livius) und betont, dass auch bei diesen Herrschaftswissen erworben worden ist, das die Republik überdauerte (S. 121). Ogilvie (1965) S. 185 geht davon aus, dass es erst im Rahmen der Auseinandersetzungen um die sullanischen Reformen eine Aufwertung des Servius Tullius gegeben hat. Vorher habe man die Königszeit in drei Phasen gegliedert: Monarchie (ab Romulus) – Königtum (Tarquinius Priscus, Servius Tullius) – Tyrannei (Tarquinius Superbus), dabei müsse sich das Tyrannische auch schon bei Servius Tullius abgezeichnet haben, um das Mähliche der Entwicklung zu gewährleisten. Dieses Bild scheint mir zutreffend zu sein und sich bei Livius auch in Spuren erhalten zu haben, denn die gesamte Entwicklung wird ab Tarquinius Priscus und den Ancussöhnen problematisch, was sich in den beiden einander bedingenden Themenkomplexen Dynastie und List (als Herrschaftsmittel partikularistischer und damit auch dynastischer Interessenssicherung) niederschlägt. 83 In 1, 35, 2 wird dies nur narrativ geschildert, ohne Wertung; 1, 40, 2 wird der Vorgang von den Ancussöhnen aber als fraus bezeichnet. 84 1, 41: Servius übt die Herrschaft angeblich als Vertreter des verletzten Tarquinius aus und gibt vor, in dessen Sinne zu handeln (1, 41, 6: consulturum se regem esse simulat), obwohl der König nicht mehr ansprechbar ist. Dies alles auf Anstiften der Tanaquil (vgl. Feldherr [1998] S. 212 – 217). Diese Episode ist möglicherweise später von Livius im Hinblick auf die Herrschaftsübernahme des Tiberius mit Hilfe der Livia gestaltet worden (Richard A. Bauman, Tanaquil-Livia and the Death of Augustus, in: Historia 43 [1994], S. 177 – 188), was wiederum den dynastisch-monarchischen Charakter der Ereignisse betont. Zur gender-Problematik der im Hintergrund mit List agierenden Frauen des Kaiserhauses vgl. allgemein Thomas Späth, Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus. Zur Konstruktion der Geschlechter in der römischen Kaiserzeit, Frankfurt am Main – New York 1994; mit Bezug zu Darstellungen von politischen Verschwörungen bei römischen Historikern (z.B. die Tullia bei Livius): Pagán (2004).
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unter Roms Herrschaft bringt (1, 53f.). Der Sohn schmeichelt sich bei den Bewohnern der Stadt ein, indem er vorgibt, er sei vor seinem tyrannischen Vater geflohen. Er wird daraufhin zu den politischen Beratungen der Gabinier hinzugezogen und macht sich dort immer unentbehrlicher, bis er zum Oberbefehlshaber der Truppen bestimmt wird und den Krieg gegen Rom zunächst erfolgreich wieder aufnimmt. Heimlich aber steht er im Kontakt zu seinem Vater, dem er einen Boten sendet, um anzufragen, wie er seine Stellung nun für diesen nutzen könne. Tarquinius Superbus misstraut dem Boten und antwortet deshalb mit einer Geste. Er köpft im Garten seines Palastes mit einem Stecken Mohnköpfe und gibt seinem Sohn damit den Rat, die politischen Köpfe in Gabii auszuschalten. Sextus bringt die Führung von Gabii beim Volk in Misskredit und kann sie anschließend mit Gewalt aus dem Wege räumen. Die von inneren Unruhen erschütterte Stadt fällt daraufhin ohne Kampf an Rom. Der ganze Vorgang wird von Livius mit einer eindeutigen Wertung versehen. Einleitend schreibt er (1, 53, 4): Excepit deinde eum lentius spe bellum, quo Gabios, propinquam urbem, nequiquam ui adortus, cum obsidendi quoque urbem spes pulso a moenibus adempta esset, postremo minime arte Romana, fraude ac dolo, adgressus est. Die Bewertung des konkreten Vorganges und auch von List und Betrug schlechthin überrascht zunächst nicht.85 Tarquinius Superbus wird mit allen Eigenschaften des Tyrannen versehen86 (z.B. 1, 49, 3) und – im Gegensatz zu den bisherigen Königen – auch außenpolitisch scharf kritisiert. Bereits die Latiner hatte Tarquinius durch List und Betrug botmäßig gemacht, indem er 85
Sie wird aber nicht von allen römischen Autoren geteilt. Bei Valerius Maximus findet das Verhalten der Tarquinii Beifall, das er (7, 4, 2) unter die strategemata rechnet, von denen er sagt (7, 4 praef.): Illa uero pars calliditatis egregia et ab omni reprehensione procul remota cuius opera, quia appellatione Latina uix apte exprimi possunt, Graeca pronuntiatione strategemata dicantur (Wheeler [1988] S. 14 – 16). Die Tarquinius-Episode ist außerdem aus der Sicht des Sohnes Sextus geschildert, der es für unerträglich hält, dass Gabii nicht durch die kriegerischen Akte des Vaters bezwungen werden kann (7, 4, 2: indigne ferens quod patris uiribus expugnari Gabii nequirent). Dadurch wird die List hier sogar zu einem Akt kindlicher pietas ausgerechnet des Mannes, der später Lucretia schänden und damit die Akzeptanz des Königtums ganz verspielen wird. Es fällt schwer, dies zu erklären, wenn man nicht die narrative Umgruppierung selbst (also Fokalisierung auf den Sohn) als eine Rechtfertigungsstrategie ansehen will. Außerdem gelingt Valerius hier eine radikale Reduktion auf die Außenpolitik. Dabei fällt auf, dass dieser tiberianische Autor hier eine Art der Außenpolitik beschreibt (Zunutzemachen von inneren Streitigkeiten anderer Gemeinwesen, Entsenden der Söhne), die nach dem Zeugnis des Tacitus für Tiberius typisch war (s.o.)! 86 Robert Maxwell Ogilvie, A Commentary on Livy: Books 1 – 5, Oxford 1965, S. 195 und 197; J. Roger Dunkle, The Rhetorical Tyrant in Roman History: Sallust, Livy and Tacitus, in: CW 65 (1971), S. 12 – 20, 16.
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ein Exempel an dem Ariciner Turnus Herdonius statuierte, der seiner Machtpolitik offen widersprochen hatte. Turnus wird von Livius zunächst als aggressiver Querulant beschrieben (1, 50, 7: seditiosus facinorosusque homo hisque artibus opes domi nactus). Damit ist der Thersites-Typus zitiert; während aber Odysseus in der Ilias den Kritiker „mit verbaler und physischer Gewalt“,87 also ganz offen, zur Raison bringt, traut sich Tarquinius nicht, pro imperio (1, 51, 2), d.h. aufgrund seiner mangelnden Vollmachten gegen die Latiner, den Turnus direkt zu töten. Stattdessen plant er eine bösartige Intrige, die auf einem crimen falsum beruht (1, 51, 2). Er versteckt in dessen Haus Schwerter und bezichtigt ihn vor den übrigen Latinern, einen Putsch zu planen. Als man daraufhin eine Untersuchung vornimmt, kommen die Waffen in Turnus’ Haus zum Vorschein, was dann zu seiner Hinrichtung führt (1, 50f.). Tarquinius verfolgt dabei nicht nur das Ziel, den lästigen Kritiker loszuwerden, sondern versucht, die Latiner so einzuschüchtern, wie die Römer bereits von ihrem eigenen König eingeschüchtert sind (1, 51, 1: ut eundem terrorem quo ciuium animos domi oppresserat Latinis iniceret). Beide Ziele werden erreicht. Livius nutzt eine ganze Reihe sprachlicher und narrativer Mittel, um die Handlungen des Königs als List zu kennzeichnen und zu kritisieren: In einem Satz fängt er die Absicht des Königs ein, sich des Turnus zu entledigen, in einem weiteren seinen Entschluss, sich dabei einer Intrige zu bedienen (1, 51, 1f.): Quam rem Tarquinius aliquanto quam uidebatur aegrius ferens confestim Turno necem machinatur, ut eundem terrorem quo ciuium animos domi oppresserat Latinis iniceret. Et quia pro imperio palam interfici non poterat, oblato falso crimine insontem oppressit. Bereits in diesem kurzen Abschnitt wird deutlich, dass eine eindeutige Qualifizierung von Handeln als fraus und dolus keineswegs die einzige, geschweige denn eine eindeutige Möglichkeit darstellt, ein Handeln als List zu qualifizieren. Listhandlungen werden von Livius zwar oft auch als solche benannt – am offensichtlichsten durch das Wort dolus, bisweilen aber auch durch ars, simulatio, consilium oder fraus (s. Wortfeldanalyse in 3.3.2). Das negierte palam, mit dem der Dualismus von offenem und verdecktem Handeln ausgedrückt ist (statt einfachem clam oder ex occulto88), ist mindestens ebenso zentral wie der Umstand, dass das crimen erfunden und das Opfer unschuldig ist. Nicht selten ergibt sich der Listcharakter aber aus der Inszenierungsform oder dem Intertext. Livius hatte ja bereits durch den plot seiner Intrige in 87
René Nünlist, Thersites, in: DNP 12,1 (2002), Sp. 433. 1, 51, 2: (…) ut in deuersorium eius uim magnam gladiorum inferri clam sineret. 1, 37, 1: ex occulto etiam additur dolus. 88
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negativer Weise das Handeln des Odysseus zitiert: Denn Tarquinius verhält sich hier eben nicht palam gegen seinen Gegner wie Odysseus gegen Thersites, sondern versteckt in dessen Unterkunft Beweismittel, wie es Odysseus gemacht hatte, um Palamedes auszuschalten.89 Besondere intertextuelle Valenz entfaltet in diesem Zusammenhang das Verbum machinari. Es bedeutet zunächst einmal nichts anderes als „sich etwas ausdenken, etwas vor- oder zubereiten“, wird aber bereits in der Komödie (in Ableitung von griech. mechane) häufig in Kontexten der Intrige verwendet.90 Livius benutzt es im überlieferten Text nur dieses eine Mal.91 Durch die Herkunft des Wortes aus dem Griechischen und sein Fortleben in der Komödienintrige verweist es zunächst einmal ganz allgemein auf die Bühne.92 Andrew Feldherr hat für die Darstellung der Tarquinier, namentlich des Tarquinius Superbus, bei Livius generell einen besonderen Darstellungsmodus ausgemacht, der das Handeln der Könige im Stil einer Tragödie codiert.93 Das 89
In 1, 49, 9 bemerkt Livius, dass Tarquinius seine Herrschaft in Rom dadurch gefestigt habe, dass er sich mit den Latinern eng verbunden habe, namentlich mit dem Tuskulaner Octauius Mamilius, der seine Herkunft auf Odysseus und Circe zurückführte. Damit ist das Ulixes-Motiv mit der Latinerpolitik gleich eingangs verbunden; und zwar mit dem Motiv des listigen Odysseus, denn Circe und Odysseus beziehen sich auf die metamorphotisch-strategemische Seite des Mythos (dazu vgl. dazu im letzten Kapitel die Metamorphosen). Die Mamilii haben sich aber tatsächlich auf Odysseus und Circe zurückgeführt, ebenso galt Tusculum als Gründung des Telegonus, des Sohnes der beiden, vgl. Ogilvie (1965) S. 199. Ogilvie selbst sieht (S. 202f.), gerade was das Verstecken der Waffen angeht, einen Bezug zur catilinarischen Verschwörung; allerdings wird diese „stirring episode“ nur kurz mit einem Satz von Cicero in dessen dritter catilinarischer Rede angesprochen (3, 8). 90 ThLL s.v. machinor; Brotherton (1978) S. 38. Ter Beek (1999) S. 79 – 87, bes. S. 80: „,kunstig vervaardigen‘, vandaar ,listig verzinnen, beramen‘.“ Vgl. auch Carcaterra (1970) S. 36 zu machina als Apparat oder Falle. 91 Machina kommt bei ihm regelmäßig für Kriegsmaschinen vor (1, 43, 4; 6, 9, 2; 25, 11, 18; 26, 26, 3; 27, 15, 6; 27, 25, 11; 27, 28, 17; 28, 6, 3; 29, 35, 8; 30, 4, 10; 30, 8, 1; 30, 10, 3; 31, 23, 7; 32, 16, 10; 33, 17, 3; 35, 51, 9; 36, 10, 7; 37, 5, 6; 38, 28, 10; [39, 13, 13: von geheimen Vorrichtungen; 39, 50, 3: ein Kran?]; 44, 9, 2), machinamenta (milit. 24, 34, 7), machinatio (milit. 24, 19, 8; 25, 11, 10; 27, 15, 5; 34, 34, 4; 37, 5, 5); zweimal gibt es den machinator und zwar 24, 34, 1 für Archimedes (= Konstrukteur) und 1, 28, 6 über Mettius Fufetius (vgl. Packard [1968]). 92 Dabei muss man nicht an die Komödie allein denken. Seneca kennt machinari (Phaedr. 1220f.): crudus et leti artifex/ exitia machinatus insolita effera. Livius selbst inszeniert den Putsch des Tarquinius in einer eigentümlichen Vermischung von Komödien- und Tragödienplot. Tarquinius Superbus beschimpft den Servius Tullius als einen Sklaven, der sich lange genug eine (sc. saturnalische) licentia gegenüber seinen Herren herausgenommen habe (1, 48, 2). Damit vergleicht er den Servius mit einem Komödiensklaven, während Tarquinius Superbus selbst eine Tragödie ins Werk setzt (s. die folgende Anmerkung), wenn man an den blutigen Ausgang denkt. 93 „The murder of Servius Tullius through which Tarquin gains the throne is a ‚tragic crime‘ (tragicum scelus), one of only two times that the word ‚tragic‘ is used by Livy.“
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Besondere dieser Regierungen sieht er mit Recht im dynastischen Partikularismus des Königs, der nicht für die res publica, sondern seine domus handelt (Liv. 1, 49, 7: Hic enim regum primus traditum a prioribus morem de omnibus senatum consulendi soluit; domesticis consiliis rem publicam administrauit). Dabei erscheint die regia als „a tragic stage set, through which characters enter and exit.“94 Schon das Palamedes-Motiv ist ein klassisches Sujet der Tragödie. Die List des Königs ist dynastisch und damit partikularistisch. Sie ist nicht auf das Ganze des Staates bezogen, sondern zielt im Gegenteil auf Spaltung der concordia ab (1, 51, 2):95 Per aduersae factionis quosdam Aricinos seruum Turni auro corrupit, ut in deuersorium eius uim magnam gladiorum inferri clam sineret. Ein weiterer intertextueller Verweis, der durch machinari hergestellt wird, bezieht sich auf den albanischen Dictator Mettius Fufetius und damit zugleich auf den römischen König Tullus Hostilius.96 Die Albaner hatten Andrew Feldherr, Spectacle and Society in Livy’s History, Berkeley – Los Angeles – London 1998, S. 188 mit Anm. 85 zu 1, 46, 3 und 24, 24, 2, wo es sich auf einen Schauspieler bezieht. Die Tragödie wird von Livius in seinem Exkurs über das Theater als ein Niedergangssymptom des Staates beschrieben; und zwar nicht auf Grund eines demokratischen Elements, das in der modernen Forschung hier oft ausgemacht wird, sondern wegen eines unterstellten ungesunden Luxus, der in den Augen des Historikers kaum zu einem regnum passt – geschweige denn zur römischen res publica. Feldherr (ebenda) S. 178 – 187, hier besonders S. 187. Liv. 7, 2, 13: Inter aliarum parua principia rerum ludorum quoque prima origo ponenda uisa est, ut appareret, quam ab sano initio res in hanc uix opulentis regnis tolerabilem insaniam uenerit. Generell zum tragischen Charakter vgl. Ogilvie (1965) S. 196: „For him [i.e. Livius] the history of the Tarquins is a tragedy with a moral, the triumph of pudicitia over superbia.“ Und später ebenda: „His presentation is dramatic.“ (Es folgen weitere Argumente für die tragische Gestaltung – gemeint wirklich im Bezug auf die Bühnengattung. Ogilvie resümiert: „With a profound interest in psychology he is writing tragedy not copying it.“). Jane E. Phillips, Livy and the Beginning of a New Society, in: CB 55 (1979), S. 87 – 92, 90 mit Anm. 5 (S. 92); Erich Burck, Die Erzählkunst des T. Livius, Berlin 21964, S. 176ff.; B. L. Ullman, History and Tragedy, in: TAPhA 73 (1942), S. 25 – 53; Patrick G. Walsh, Livy: His Historical Aims and Methods, Cambridge 1961, S. 25f., 41, 177f. 94 Feldherr (1998) S. 191. Ogilvie (1965) S. 196: „For his audience the story of Tarquin had a contemporary message. Superbia had characterized too many of the actions of the dynasts of their generation.“ 95 Vgl. auch Feldherr (1998) S. 192: „The bribery and the enticements that secure Tarquin’s position prior to his coup (1. 47. 7) can be read as the extension of this ‚tragic‘ influence outward, again through a series of secret meetings, so that the other ‚fathers of families‘ (Patres gentium) become the servants of Tullia’s ambition. Thus the actions that Livy described as tragic generate a hidden network of intrigues that sucessively draw more and more people away from their duty to the state, until the res publica itself is subsumed under their influence.“ 96 Vgl. Ogilvie (1965) S. 196: „Tarquin is distinguished by his superbia in all his actions just as Tullus Hostilius was by his feriocitas and it is noteworthy that L. allocates the same space for the former at the end of the book that he does to the latter in the centre (22-31: 49-60).“ Ogilvie vergisst m. E., dass der Vergleich viel eher über terror und ferocitas als
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unter der Regie des Mettius die Römer im Krieg gegen Fidenae betrogen und im Stich gelassen (ausführlich dazu unten); daraufhin lässt Tullus den Mettius als huius machinator belli hinrichten. Machinator wird nur noch einmal im überlieferten Text des Livius von Archimedes (24, 34, 1) verwendet und beschreibt hier, eher bewundernd, den genialen Konstrukteur von Kriegsmaschinen. Für den Leser des ersten Buches ergibt sich neben den genannten Bezugnahmen auf die Tragödie und die Gestalt des Odysseus aber wohl nur der Bezug zu Mettius Fufetius. Mettius agiert zwar, anders als Tarquinius, nicht im Sinne seiner familia, sondern der Albaner; er begeht aber dennoch Bündnisbruch und handelt damit ebenfalls partikularistisch. Gleichzeitig wird der Terror des Tarquinius (1, 51, 1) mit der ferocia des Tullus Hostilius (1, 22, 2) kontrastiert. Die Herrschaft des Tarquinius gründet sich, wie Livius bemerkt, auf kein anderes Recht als auf pure Gewalt (1, 49, 3): neque enim ad ius regni quicquam praeter uim habebat, ut qui neque populi iussu neque auctoribus patribus regnaret. Dagegen wird von der Wahl des Tullus ausdrücklich gesagt (1, 22, 1): regem populus iussit, patres auctores facti.97 Tarquinius herrscht innenpolitisch mit uis und agiert außenpolitisch mit dolus. Insgesamt wird sich zwar zeigen, dass bei Livius (wie auch bei Vergil, s. folgendes Kapitel) uis, als uirtus betrachtet, die richtige Verhaltensweise im Krieg für den Römer darstellt. Wenn Tarquinius jetzt zur List greift, um den Kampf zu umgehen, dann entspricht sein Verhalten nicht römischer uirtus. Es ist aber im Gegenzug nicht so, dass die innenpolitische uis, die Tarquinius anwendet und die in der ciuitas terror erzeugt, eine akzeptierte List ersetzt. Der innenpolitische Gegenbegriff zu uis, den Livius nennt, ist ius (und er meint damit letztlich auch iustitia98). Vis und dolus erscheinen zwar als Dualismus, aber sie unterscheiden nicht einfach griechische List und römische Tugend, sondern trennen hier die Innen- von der Außenpolitik. Das zeigt sich auch sehr deutlich in der Herrschaft der Decemvirn, die Livius selbst – namentlich in der Verginia-Episode – mit der des Tarquinius allein über superbia gestaltet wird. Zur Bedeutung von Angst als Mittel der sozialen Kontrolle und Terror vgl. Phillips (1979) S. 91. 97 Die Formulierung bei der Wahl des Ancus ist ähnlich, aber nicht gleich (1, 32, 1): Ancum Marcium regem populus creauit; patres fuere auctores. Bei Tullus Hostilius und Tarquinius betont Livius das Geheiß des Volkes als (vorhandene bzw. fehlende) Grundlage der Legitimität (iussu/iussit). Insgesamt insinuiert der livianische Bericht, dass seit Numa ein geordnetes Verfahren zur Wahl vorliegt (1, 17, 9 – 11: Vorschlag des Senats, Wahl durch das Volk), das bereits mit Tarquinius Priscus wieder durchbrochen wird (1, 35, 1 – 6): Tarquinius Priscus stützt sich besonders auf die plebs – vom Senat wird bei diesem Wahlvorgang nichts gesagt, Servius Tullius war wiederum der erste König, der nur vom Senat bestellt wurde (1, 41, 6). Tarquinius Superbus hatte weder Senat noch Volk auf seiner Seite. 98 So sagt Livius programmatisch zum Ende des Tullus (1, 48, 8): Ser. Tullius regnauit annos quattuor et quadraginta ita ut bono etiam moderatoque succedenti regi difficilis aemulatio esset; ceterum id quoque ad gloriam accessit quod cum illo simul iusta ac legitima regna occiderunt.
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vergleicht.99 Die Decemvirn waren in einer ersten Amtsperiode als erfolgreiche Legislatoren der ersten zehn Tafeln des späteren Zwölftafelrechts aufgetreten. Es kommt dann aber in der Gemeinde der irrationale Wunsch auf, noch weitere zwei Tafeln mit Gesetzen zu erstellen und wieder ein Zehnmännerkollegium einzusetzen. Die zweite Amtsperiode gleicht der ersten nicht; an ihrem Ende weigern sich die Decemvirn, von der Macht zurückzutreten, die sie bereits gewaltsam ausüben. Der Regierungsauftrag war die Schaffung von iustitia qua ius, die Depravation des Rechts ist uis. Recht und Gewalt, ius und uis, sind die innenpolitischen Pole, über die Livius seine Erzählung organisiert,100 nicht dolus und uis, obwohl sich auch diese Herrschaft durch klandestine Entscheidungsfindung ausgezeichnet hatte, die sich fern von den Augen der Öffentlichkeit in Privathäusern abspielte (3, 36, 8): iudicia domi conflabant, pronuntiabant in foro. Dennoch ist diese Heimlichtuerei der Zehnmänner von Livius fast paradox dargestellt. Die Ambitionen des Appius bei der Wiederwahl des Kollegiums haben seine Kollegen durch einen Verfahrenstrick zu behindern gesucht, indem sie den Appius mit der Durchführung der Wahl betrauten, davon ausgehend, dass der Vorsitzende sich nicht selbst zur Wahl stellen kann. Abschätzig bezeichnet Livius dies als Winkelzug (3, 35, 8: Ars haec erat, ne semet ipse creare posset), der von Appius vielmehr als günstige Gelegenheit erkannt wird, die Wahl zu seinen Gunsten zu manipulieren (3, 35, 8): Ille enimuero, quod bene uertat, habiturum se comitia professus, impedimentum pro occasione arripuit. Es ist das Wesen des Listigen, eine Gelegenheit zu erkennen (de Certeau). Livius hält sich aber nicht damit auf, dieses Spiel von List und Gegenlist als schändlich zu brandmarken, wie er es etwa mit der Intrige des Tarquinius gegen Turnus Herdonius oder dem Vorgehen gegen Gabii getan hat. Kniff und Gelegenheit, ars und occasio, sind zwar Bestandteile einer Sprache der List, aber Livius macht doch deutlich, dass dies hier nur Spielchen sind, die den Kern des politischen Problems nicht berühren. Als Appius und die von ihm lancierten Kandidaten die Wahl gewonnen haben, planen sie verdeckt ihr Terrorregime (3, 36, 1f.): Ille finis Appio alienae personae ferendae fuit. Suo iam inde uiuere ingenio coepit nouosque collegas, iam priusquam inirent magistratum, in suos mores formare. Cottidie coibant remotis arbitris; inde impotentibus instructi consiliis, quae secreto ab aliis coquebant, iam haud dissimulando superbiam, rari aditus, 99 3, 44, 1: Sequitur aliud in urbe nefas, ab libidine ortum, haud minus foedo euentu quam quod per stuprum caedemque Lucretiae urbe regnoque Tarquinios expulerat. Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, Göttingen 2002, S. 107 und passim. Ogilvie (1965) S. 477. Sandra Joshel, The Body Female and the Body Politic: Livy’s Lucretia and Verginia, in: Amy Richlin (Hg.), Pornography and Representation in Greece and Rome, Oxford 1992, S. 112 – 130. 100 Das ist auch zentral in der Studie von Fögen (2002) S. 99ff. Zur merkwürdigen Forderung von zwei weiteren Tafeln ebenda S. 97f.
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conloquentibus difficiles, ad idus Maias rem perduxere. Idus tum Maiae sollemnes ineundis magistratibus erant. Bereits diese Vorbereitungen werden von Livius als ein Ende der Verstellung bezeichnet (finis […] alienae personae ferendae), obwohl sich die Heimlichkeiten zunächst noch verstärken (remotis arbitris […] secreto). Dann aber treten die Decemvirn jeder mit zwölf Liktoren an die Öffentlichkeit, während in der ersten, glücklichen Amtsperiode immer nur ein ausführender Magistrat die fasces innegehabt hatte. Diese Maßnahme signalisiert den Bürgern deutlich, dass der Staat ab jetzt der Terrorherrschaft von zehn Königen ausgeliefert ist (3, 36, 3 – 5): Initio igitur magistratus primum honoris diem denuntiatione ingentis terroris insignem fecere. Nam cum ita priores decemuiri seruassent ut unus fasces haberet et hoc insigne regium in orbem, suam cuiusque uicem, per omnes iret, subito omnes cum duodenis fascibus prodiere. (…) Decem regum species erat. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Gewalt und dem Rechtsmissbrauch, oder präziser ausgedrückt: Der Rechtsmissbrauch wird als Gewalt auch da codiert, wo er eigentlich dolus ist. Der Stadt Rom stößt durch die Herrschaft der decemuiri insgesamt Ähnliches zu wie der Stadt Gabii durch die extern angezettelte Intrige der Tarquinier. Volk und Senat entfremden sich voneinander, die zerrüttete concordia macht Rom zum hilflosen Ziel der Sabiner und Aequer. Die militärische uirtus liegt danieder; sie wird wiederum nicht durch List, sondern durch totale Initiativlosigkeit ersetzt.101 Das militärische Desaster, das das Ende der Zehnmänner einläutet, wird von zwei Untaten begleitet (3, 43, 1: duo nefanda facinora), die beide den Charakter der politischen Intrige tragen, von Livius aber wiederum im Spannungsfeld von ius und uis abgehandelt werden. Die Decemvirn schicken einen politischen Gegner als Späher ins Sabinerland und geben seinen Soldaten den Befehl, ihn während dieser Mission zu töten; dieser aber wehrt sich mannhaft und kann einige der Attentäter töten. Später kann man an der Lage der Toten erkennen, dass ein Anschlag und nicht ein gegnerischer Hinterhalt vorgelegen hat (3, 43). Sicherlich könnte diese Episode ein klassisches Beispiel dafür sein, wie uirtus die List besiegt, und das mag auch in der Absicht des Historikers gelegen haben. Doch Li101
3, 42, 3f.: Fusi et ab Sabinis ad Eretum et in Algido ab Aequis exercitus erant. Ab Ereto per silentium noctis profugi propius urbem, inter Fidenas Crustumeriamque, loco edito castra communierant; persecutis hostibus nusquam se aequo certamini committentes, natura loci ac uallo, non uirtute aut armis tutabantur. Diese Abwesenheit von uirtus kennzeichnet auch die römischen Männer bei der Belagerung von Ardea, bevor die Vergewaltigung der Lucretia die politische libertas vorbereitet, dazu Calhoon (1997) S. 153.
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vius vermeidet es in auffälliger Weise, das Verhalten der Zehnmänner explizit in dieser Weise zu beschreiben. Stattdessen wird ausgerechnet das Opfer der Intrige als jemand dargestellt, der die Tyrannen sermonibus occultis bei den Soldaten politisch in Misskredit gebracht hat (3, 43, 2). Die andere Untat ist die bekannte Verginia-Geschichte, in der Appius einen Klienten beauftragt, der Tochter des Verginius den Status der Freigeborenen abzusprechen und sie stattdessen als Sklavin aus eigenem Besitz mittels manus iniectio zu beanspruchen (3, 44, 1 – 5). Doch der Versuch wird durch eine Volksmenge zunichte gemacht, die auf das Geschrei der Amme des Mädchens hin herbeigelaufen kommt. „Schon war das Mädchen“, wie Livius berichtet, „vor Gewalt geschützt“, hingegen versichert der Klient des Appius, man müsse niemanden vor ihm schützen, denn er beabsichtige, seine Sache nicht mit Gewalt, sondern mit dem Recht zu verfechten (3, 44, 8): Iam a ui tuta erat, cum adsertor nihil opus esse multitudine concitata ait, se iure grassari, non ui. Es ist dagegen wiederum eine List des Opfers, die dem Treiben des Appius während der abschließenden Verhandlung des Rechtsstreits ein Ende setzt, wenn Verginius den Decemvirn in einer Trugrede um Verzeihung bittet und einen Vorwand erfindet, um seine Tochter noch einmal allein sprechen zu können, woraufhin er sie tötet und Appius anklagt.102 Gewalt und List sind keine strikten Gegensätze, sie haben gemeinsam, dass beide in der Lage sind, einem anderen gegen seinen Willen ein Handeln aufzuerlegen103 (Cic. off. 1, 13, 41): Meminerimus autem etiam aduerusus infimos iustitiam esse seruandam. Est autem infima condicio et fortuna servorum (…). cum autem duobus modis, id est aut ui aut fraude, fiat iniuria, fraus quasi uulpeculae, uis leonis videtur. Utrumque homine alienissimum, sed fraus odio digna maiore. Totius autem iniustitiae nulla capitalior quam eorum, qui tum, cum maxime fallunt, id agunt, ut uiri boni esse uideantur. De iustitia satis dictum. Cicero betont hier, dass sowohl die List als auch die Gewalt iniuria erzeugen können.104 Als Moderator der Interessen erscheint stattdessen die iustitia. Sie
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Zwar wird auch diese Rede nicht als List oder eben als Trugrede bezeichnet, man darf aber nicht vergessen, dass das Verhalten des Verginius hier das des listigen Brutus abbildet, der sich gegenüber den Tarquinii ja auch als besonders gefügig und einfältig gegeben hat. Es gibt also einen entsprechenden Kontext bei Livius selbst. Auch ist die Trugrede als oratio recta in besonderer Weise im Text ausgezeichnet. Während das Listige im Verhalten der Decemvirn marginalisiert wird, steht die List der Opfer im Zentrum, wenn sie erst einmal dazu in der Lage sind. 103 Bok (1999) S. 18. 104 Wheeler (1988) S. 65; Abbot (1997) S. 12 – 20 mit Anm. 21 auf S. 14.
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wird bei Cicero nicht von ius abgeleitet,105 sondern (ähnlich wie beim livianischen Numa, s.o.) auf eine moralische Haltung gegründet (off. 1, 7, 23): fundamentum autem est iustitiae fides, id est dictorum conuentorumque constantia et ueritas. Die Gewalt gehört in der Regel dem, der die Macht hat, dem Stärkeren, die List dagegen ist das Gegenmittel des Schwächeren. Doch auch der Mächtige bedient sich der List und zettelt Intrigen an. Das ist gerade da der Fall, wo uis von ius moderiert wird und nicht offen und willkürlich ausgeübt werden kann. Die Kodifikation des Rechts, das die Zehnmänner vornehmen, macht den Text zum Gegenstand rabulistischer Deutung, wie Marie Theres Fögen deutlich gemacht hat.106 Dennoch ist festzuhalten, dass Livius selbst diesen Aspekt (zumindest hier) eher nachrangig akzentuiert. Seine Darstellung von List und Gewalt in der Innenpolitik folgt eher der Logik der coniuratio:107 Heimlichkeit und Listen werden von Umstürzlern angezettelt, um die Macht im Staat zu erlangen; liegt aber die Macht erst in den Händen dieser Umstürzler, bleibt ihr Handeln zwar partikularistisch und klandestin – durchaus zwei zentrale Eigenschaften der List108 –, aber diese Attribute sind dann Eigenschaften von uis; das Gewaltförmige der Herrschaft steht im Vordergrund, denn sonst wäre es keine Herrschaft.109 Terror, nicht List, wird zum zentralen Machtmittel. Die List der Opfer ist nur ein passageres Phänomen, das sofort verschwindet, wenn die Freiheit, i.e. die Herrschaft des Senats (re-)installiert ist. Die List dient Partikularinteressen und kann anscheinend nicht mehr von der res publica vergemeinschaftet werden, obwohl sie einst maßgebliches Werkzeug zu Roms Gründung und Aufstieg war; sie ist ihr in dieser Sichtweise we-
105 Vgl. Cic. off. 1, 10, 33: summum ius summa iniuria. Dies könnte er wohl kaum sagen, wenn er iustitia rein juristisch auffasste. „A paradox of the law is that it can both aid and hinder such chicanery. ,Summum ius summa iniuria‘ declared the Roman proverb.” Abbot (1997) S. 58. Es geht auch bei Livius letztlich um das Verhältnis dreier Begriffe (uis – ius – iustitia). Es ist dennoch angemessen, hier einen livianischen Dualismus von uis und ius zu erkennen, denn Livius beschäftigt sich in dieser Episode mit einer vom Recht geschaffenen iustitia, nähert also ius und iustitia einander an. 106 Fögen (2002) S. 83f. Vgl. auch das Kapitel zu Ovid. 107 Die Stereotypen von coniuratio-Erzählungen in der römischen Literatur analysiert Victoria Emma Pagán, Conspiracy Narratives in Roman History, Austin 2004, speziell für den livianischen Tarquinius Superbus ebenda S. 62f. 108 Abbot (1997) S. 18f. Allerdings sind Geheimnistuerei und List nicht identisch, vgl. Sissela Bok, Secrets. On the Ethics of Concealment and Revelation, New York – Toronto 1989, S. xv (über den Unterschied von Lüge und Geheimnis, den wir hier auf List und Geheimnis übertragen können; jedoch ohne die moralischen Konnotationen, die Bok als Autorin einer Ethik des Geheimnisses bisweilen gebraucht, so z.B. S. 106: „When linked, secrecy and political power are dangerous in the extreme.“). 109 „,Secrecy, being an instrument of conspiracy,‘ wrote Jeremy Bentham, ,ought never to be the system of a regular government.‘“ Bok (1989) S. 171.
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sensfremd.110 Der dolus als unrömische Kunst wird mit der negativen Odysseus-Imago, die auch Vergil in der Aeneis in der Gestalt des Sinon zitiert, als eine fremde Kunst des fremden Königs markiert. Sie bedarf der Verkleidung und Inszenierungen der Bühne. Träger von Macht haben aber in Rom auf der Bühne nichts zu suchen, wie gerade Augustus durch seine Gesetzgebung wieder neu in Erinnerung brachte.111 Die Erzählungen von Tarquinius Superbus und den decemuiri bahnen eine idealtypische Begründung der Listfeindlichkeit jenes Volkes der fides an, als das Livius die Römer angeblich so gern und so einsinnig beschreibt.112 Er wird dies aber nicht über die gesamte Darstellung hin durchhalten. Und wir sind nicht gezwungen zu glauben, dass das überhaupt seine Absicht war. 2.6 Das Ende des Königtums Die privatisierende Politik der Tarquinier fordert von Brutus eine ungewöhnliche Antwort. Brutus ist selbst ein Tarquinier (der Neffe des Königs) und beherrscht die List wie diese.113 Eingeschüchtert durch die Ermordung des eigenen Bruders verbirgt er aber sowohl seine Klugheit als auch sein Vermögen, um nicht das Interesse des Königs an seiner Person zu wecken. Brutus stellt sich daher dumm, um den Nachstellungen des Königs zu entgehen. Als ein portentum den König erschreckt, schickt dieser seine Söhne Arruns und Titus nach Delphi114 und gibt ihnen den jungen Brutus als Begleiter mit. Der überlistet zweimal die Söhne des Königs. Zuerst schenkt er dem delphischen Apollo einen goldenen Stab, den er in einem Kirschholzschaft versteckt. Als die Söhne das Orakel fragen, wer von ihnen nach Tarquinius König werde, antwortet es, dass der herrschen werde, der als erster seine Mutter küsse. Die beiden Söhne halten diese Auskunft vor dem daheim gebliebenen Sextus geheim, doch es ist Brutus, der das Orakel geistesgegenwärtig anders und, wie sich herausstellen soll, erfolgreicher deutet als diese. Auch er hält seine Deutung geheim, schützt einen unbeabsichtig-
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Abbot (2000) S. 79: „Because it erodes trust, dolus is antisocial, it divides one from another.“ 111 Feldherr (1998) S. 178 mit Anm. 62. Suet. Aug. 43, 3. 112 Erich Burck, Das Geschichtswerk des Titus Livius, Heidelberg 1992, S. 93, 95. 113 1, 56, 7: comes iis additus L. Iunius Brutus, Tarquinia, sorore regis, natus, iuuenis longe alius ingenio quam cuius simulationem induerat. Es könnte sich um eine Anspielung auf den jungen Claudius handeln, vgl. Ogilvie (1965) S. 217 und D. M. Last/ Richard Ogilvie, Claudius and Livy, in: Latomus 17 (1958), S. 476 – 487, 486. 114 Livius betont hier (1, 56, 4f.) wieder den privaten Charakter der Herrschaft des Tarquinius: Der König hält das Vorzeichen nicht für eines, das den etruskischen Wahrsagern obliegt, da diese nur prodigia publica analysieren. Er hält es aber für einen uisus domesticus, weswegen er sich lieber an Delphi wendet.
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ten Sturz vor und küsst so als Erster (Mutter) Erde.115 Allerdings geht die Listigkeit des Brutus auf Kosten der grauitas des Patriziers. Er macht sich durch sein Handeln verächtlich (1, 56, 7: statuit contemptuque tutus esse ubi in iure parum praesidii esset). Er ist eher eine unterhaltsame Witzfigur als ein Begleiter für die jungen Männer (1, 56, 9: ludibrium uerius quam comes). Der Bericht des Livius markiert daher die zur Schau getragene Dummheit des Republikgründers nur schwach, obwohl wir es hier funktional eigentlich mit einer klassischen klugen Narrenfigur zu tun haben.116 Diese Option des Überlebens des Klügeren im Gewand des listigen Narren erscheint so kurz gegen Ende des ersten Buches, um dann vollständig überwunden zu werden. In dem Moment, als sich Brutus am Totenbett der Lucretia als das zu erkennen gibt, was er ist – sehr zum Erstaunen der Umstehenden –, verwandelt er sich in den kompromisslosen und strengen Republikaner und beendet, nachdem Ancus die akzeptierte Herrscherlist zu einem Ende gebracht hat, die Option einer akzeptierten Untertanenlist, weil es keine Untertanen mehr gibt. Die listige Adoleszenz der Stadt Rom hat ebenfalls ihr Ende gefunden im Wandel des listigen iuuenis zum verantwortlich handelnden Mann, der weiß, was für Rom ziemlich ist und was nicht (1, 59, 4): Brutus castigator lacrimarum atque inertium querellarum auctorque quod uiros, quod Romanos deceret, arma capiendi aduersus hostilia ausos.117 2.7 Das erste Jahr der Republik Die Geschichte der frühen Republik beginnt bei Livius mit einer Politik, die einen radikalen Bruch mit dem listigen Verhalten der Königszeit vollzieht. Das junge Gemeinwesen erscheint immun gegen listige Übergriffe von außen. Verbunden ist diese Immunität, ähnlich, wie es oben bereits bei der 115
Man beachte hier auch die Nähe von Rätsel und List, vgl. im sechsten Kapitel das Rätsel der Procne (Ov. met. 6, 655). 116 Von Valerius Maximus wird Brutus in seinem Kapitel der uafre dicta aut facta für seine Listigkeit besonders gewürdigt (7, 3, 2): Quo in genere acuminis in primis Iunius Brutus referendus est. Zum Gebrauch von uafer bei Valerius vgl. Walter (1999) S. 181 – 186. Vgl. auch Mary Ann Robbins, Livy’s Brutus, in: Studies in Philology 69, 1 (1972), S. 1 – 20, 2 Anm. 3 „the young ‚jester‘ of the Tarquins“; allgemein zum Hofnarren u.ä. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt – New York 2000, S. 108f. 117 Brutus hat seinen passage vom iuuenis zum Mann erfolgreich gemeistert. Im folgenden Kapitel zur Liebeselegie wird es darum gehen, dass die liminale Phase eine der unklaren Geschlechterrollen, der List und des närrischen Spiels sein kann, wie sie etwa auch in Horazens Epoden imaginiert wird. Brutus tritt hier erstmals als erwachsener Mann auf und führt jetzt die iuuenes an (1, 59, 5): ferocissimus quisque iuuenum cum armis uoluntarius adest, sequitur et cetera iuuentus (…) ceteri armati duce Br uto Romam profecti! Genau das gelingt den gescheiterten praeceptores amoris der Liebeselegie nie (bis auf Ovid). Gleichzeitig weiß Brutus jetzt, was männlich und was römisch ist, d.h. er hat seine Geschlechterrolle und seine politische Aufgabe gefunden. Daran arbeitet sich die Liebeselegie ab.
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Einsetzung des Fetialrechts gezeigt wurde, mit einer (sich aus dem Bisherigen folgerichtig ergebenden) optimistischen Einschätzung der Macht der Gesetze, die den Beginn der freien Republik garantiert (2, 1, 1): imperiaque legum potentiora quam hominum. Gleichzeitig ist die List aufgrund ihrer behaupteten Wesensfremdheit auch die größte Bedrohung für die Römer. Dies ist ein Thema, das noch einige Brisanz im livianischen Bericht entfalten wird. Simpel formuliert lautet es: Wann wird Rechtschaffenheit zu sträflicher Naivität? Die Römer, eben noch mit der Herrschaft des Tarquinius vertraut, werden gleich zu Beginn der libera res publica davon überrumpelt, dass dieser nicht durch Krieg, sondern durch List die Herrschaft zurückzuerobern wünscht (2, 3, 1): Cum haud cuiquam in dubio esset bellum ab Tarquiniis imminere, id quidem spe omnium serius fuit; ceterum, id quod non timebant, per dolum ac proditionem prope libertas amissa est. Diese allgemeine Arglosigkeit steht in eigentümlichem Kontrast zur Motivation einiger adulescentes, die sich zur Kollaboration mit den Tarquiniern bereit finden: Sie waren es noch gewohnt, privilegiert unter Königen zu leben (2, 3, 2: adsueti more regio uiuere118). Es ist wiederum das Gesetz, das sie ihrer Privilegien beraubt (2, 3, 4), so wie ihr Handeln gegen das Gesetz zugleich listiges Handeln ist (dolus ac proditio).119 Die aus der Königszeit stammende Gewohnheit der adulescentes (s. dazu folgendes Kapitel) ist hier eigentlich das Erwartbare. Sie dient Livius auch immer wieder als Begründung für Besonderheiten der frührepublikanischen 118
more regio: Damit ist offenbar zugleich gemeint: „unter der Königsherrschaft leben“ wie auch: „königlich leben“, denn es geht den adulescentes um Privilegien, die sie unter den Königen genossen hatten und deren Verlust sie jetzt beklagen. 119 Thomas Baier, Livius und das spätrepublikanische Rechtsdenken, in: Eigler/ Gotter/ Luraghi/ Walter [2003], S. 235 – 249) vermutet hinter der Episode 2, 3, 2 – 4 ein Aufgreifen der zeitgenössischen Diskussion um das Verhältnis von Recht und Billigkeit, wenn die intrigierenden adulescentes am Königtum loben, dass es dort jemandem gebe, von dem man je nach Bedarf ius oder iniuria erhalten könne (2, 3, 3: regem hominem esse, a quo impetres, ubi ius, ubi iniuria opus sit). Die adulescentes zeigten sich damit einerseits des Umstandes bewusst, dass das Recht durch seinen Formalismus pervertieren könne (etwa gemäß der ciceronischen Formel summum ius summa iniuria, off. 1. 33); anderseits beklage Livius eben die Überstrapazierung des aequitas-Gedankens angesichts einer pervertierten personalen Gerichtsbarkeit in der späten Republik und unter Augustus. Der Zeitbezug ist von Baier richtig hergestellt worden, allerdings halte ich ihn weniger für eine Kritik an der augusteischen Gerichtsbarkeit als vielmehr für eine Narrativierung der tatsächlich damals im Recht praktizierten Hinwendung von der Sinn- zur Wortauslegung der Gesetze, eben weil kein konsensuelles Prozessieren über eine allgemein empfundene Billigkeit mehr möglich war. Vgl. dazu unten die Ausführungen zur fraus legis nach Behrends (1982). Dieser Aspekt erklärt vielleicht auch Livius’ optimistische Darstellung des Rechts als Lösung gesellschaftlicher Probleme: Er erlebt es als nicht korrumpierbar – ohne freilich in Naivität zu verfallen, vgl. unten zu Caudium (3.2).
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Politik und ihrer Institutionen.120 Umso auffälliger ist es, wie scharf Livius gerade im Bereich der Listkompetenz für das Ganze der libera res publica den Wechsel von Königtum zu Republik markiert. Diese Geschichte lässt sich mit dem spätmittelalterlichen Lalebuch vergleichen:121 Während die Lalen (Schildbürger) von einer Gemeinde der besonnenen Ratgeber zu Narren werden (und diese Verwandlung irreversibel bleibt, obwohl sie als Verstellungslist begann), um sich selbst vor den Ansprüchen der vielen Ratsuchenden zu schützen, werden die Römer von Narren (exemplifiziert in Brutus) zu gesetzestreuen und rationalen ciues, die weder zur List noch zur Narretei zurückfinden und so angreifbar werden. Laleburg/Schilda wird zu einer isolierten Stadt, die keine politische Verantwortung mehr für andere übernehmen kann und schließlich von der Landkarte verschwindet; das livianische Rom dagegen begründet sein Selbstverständnis als Republik mit dem radikalen Verschwinden von List und Narretei. Zu den von den Royalisten verführten Jünglingen gehören auch die Söhne des Brutus (2, 3, 4), die dieser nach der Aufdeckung der Verschwörung in einer Geste beispielloser Entsagung für das Gemeinwesen hinrichten lässt (2, 5, 5 – 8). Tarquinius sieht daraufhin, dass der List jeder Weg abgeschnitten ist, und entscheidet sich für offenen Krieg (2, 6, 1: postquam dolo uiam obsaeptam uidit, bellum aperte moliendum ratus circumire supplex Etruriae urbes). Das Verhalten der Römer hat sich gegenüber der Königszeit in seinem Ethos und in seinen Spielräumen radikal gewandelt: Wurde bisher zur List gegriffen, wenn man für die offene Auseinandersetzung nicht stark genug war, verstellt jetzt das gradlinige und gesetzestreue Handeln der Römer sogar ihren Feinden den Weg zur List und zwingt sie in ein bellum iustum. In der Begrifflichkeit von Wheeler könnte man sagen, dass die Römer in der Königszeit ein Odysseus-Ethos gepflegt haben, das nun in ein AchillesEthos umschlägt. Allerdings würde ein solcher Dualismus die komplizierten und subtilen Wirkmechanismen der List bei den Römern verdecken, jedenfalls sofern sie Livius zur Darstellung bringt. Sein Dualismus bewegt sich tatsächlich eher zwischen typologischen Gegensätzen wie bei Numa und Romulus und umfasst ein ganzes Bündel sich überkreuzender Themenkomplexe: uis – ius (Romulus – Numa), uirtus – dolus (Romulus – Numa), dolus malus – dolus bonus (Tullus – Mettius), iuuenis – uir (Brutus), uir – femina 120
Vgl. 2, 1, 7: libertatis autem originem inde magis quia annuum imperium consulare factum est quam quod deminutum quicquam sit ex regia potestate numeres. Damit ist gemeint: Der Consulat hat königliche Vollmachten, weil das Volk daran gewöhnt war. Livius betont diesen Umstand sogar über das historisch Plausible hinaus, wenn er behauptet, dass omnia iura, omnia insignia der Könige an die Consuln gingen (2, 1, 8); dazu Ogilvie (1965) S. 235. 121 Stefan Ertz (Hg.), Das Lalebuch. Nach dem Druck von 1597. Mit den Abweichungen des Schiltbürgerbuchs von 1598 und zwölf Holzschnitten von 1680, Stuttgart 1982, S. 29: „demnach die einige Weyßheit allein vrsach were jres abwesens/ so wurde im gegentheil die Thorheit oder Narrey sie beschirmen“.
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(Tarquinius – Lucretia) usw. Weder war die List bei Livius bisher eine unproblematische Angelegenheit noch verschwindet sie ab jetzt ganz aus der römischen Politik. Zunächst aber ist es so, dass Rom sich wie ein frisch gegen die List geimpftes Kind mit der diesem Alter zugehörigen Naivität auf dem Felde der Täuschung bewegt. Ging es bei der Verschwörung der Brutussöhne um die Bewältigung des ethischen Erbes der Königszeit, findet unter dem Nachfolger des ersten Consuls eine äquivalente Bewältigung listigen Verhaltens unter republikanischen Vorzeichen statt. Marcus Horatius Pulvillus, der Nachfolger des gefallenen Brutus,122 hat durch Los das Recht erworben, den von den Königen begonnenen Jupitertempel123 auf dem Kapitol zu weihen. Die gens Valeria des unterlegenen Publicola versucht, ihm diese Ehre durch eine List wieder abzujagen (2, 8, 7 – 8): Id omnibus modis impedire conati, postquam alia frustra temptata erant, postem iam tenenti consuli foedum inter precationem deum nuntium incutiunt, mortuum eius filium esse, funestaque familia dedicare eum templum non posse. Non crediderit factum an tantum animo roboris fuerit, nec traditur certum nec interpretatio est facilis. Nihil aliud ad eum nuntium a proposito auersus quam ut cadauer efferri iuberet, tenens postem precationem peragit et dedicat templum. Die Handlungsweise des Horatius zeigt eine klare Entsprechung zu der seines Vorgängers: Es geht hier offenbar nicht darum, dass Horatius aus Ehrgeiz kein Interesse an der (falschen) Nachricht über seinen Sohn entwickelt. Diese Alternative wird jedenfalls von Livius nicht erwogen. Es geht um zwei andere Eigenschaften: Entweder hat Horatius die Lüge durchschaut („nicht geglaubt“) oder er hat Nervenstärke behalten. In jedem Falle handelt er immun bezüglich der gegen ihn angestrengten List. Er unterdrückt wie Brutus seinen Vatersinn und vereitelt so eine List, die als erste republikanische List der Innenpolitik gelten kann, nachdem die Verschwörung der adulescentes noch ein Nachtrag auf die Königszeit war.124 Es ist kein Zufall, 122 Bei der von Publicola organisierten Nachwahl für den gefallenen Brutus wird zunächst Spurius Lucretius gewählt, der aber nach wenigen Tagen stirbt; ihm erst folgt M. Horatius Pulvillus, doch hat ihn die Überlieferung bisweilen, wie Livius selbst bemerkt, zum direkten Nachfolger des Brutus gemacht (2, 8, 4f.). 123 Walter und Hölkeskamp weisen auf die Kontinuitäten und Brüche hin, die durch den Jupitertempel mit seiner Weihgeschichte und auch durch die Statuengruppe für die Könige und Iunius Brutus auf dem Capitol betont werden (Walter [2004] S. 144 – 146, 160f. mit Anm. 23; Karl-Joachim Hölkeskamp, Capitol, Comitium und Forum: Öffentliche Räume, sakrale Topographie und Erinnerungslandschaften, in: ders., Senatus Populusque Romanus. Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen, Wiesbaden 2004, S. 137 – 168, hier: S. 139f.). 124 Ogilvie (1965) S. 254 entgeht diese Parallele, wenn er das Verhalten des Horatius als ein „literal embellishment inspired by the manner in which Xenophon heard the news of
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dass der andere Consul eben der Valerius Publicola ist, dessen Politik einen ehrgeizig-populistischen Zug aufweist.125 Livius sieht hier den Keim einer innenpolitischen Problematik, der in gewisser Weise einen Wechsel von der List zur Arglist beinhaltet. Damit ist gemeint, dass im Verlaufe der Bücher 1 – 5, die im Rahmen der zyklischen Geschichtsschreibung des Livius eine Geschichte von Gründung, Niedergang und Neugründung der Stadt erzählen, etwa ab dem dritten Buch an die Stelle der kunstvollen List immer stärker der innenpolitische Vorwurf des Betrugs tritt. Verstärkt beginnen die Auseinandersetzungen zwischen Plebejern und Patrizieren und die verschiedenen Politikansätze werden immer dann, wenn sie der anderen Gruppe zum Nachteil gereichen, als fraus, mala ars oder proditio bezeichnet.126 In den ersten Jahren der Republik aber wird eine solche die concordia gefährdende Politik noch vom Senat selbst abgewendet, der angesichts der Gefahr durch Lars Porsenna das Volk so mit Vergünstigungen überhäuft, dass es nicht an eine Reinstallation des Königtums denkt. Obwohl der Senat hier nichts anderes tut als die späteren „Populisten“, unterscheidet Livius zwischen dem bene imperare der frühen Senatspolitik und den malae artes der späteren Ständekämpfe (2, 9, 8).127 2.8 Das zweite Jahr der Republik Für Livius gibt es eine direkte Verbindung von innenpolitischer concordia und außenpolitischer Stärke.128 Diese muss jener vorangehen. Hatte Horatius das innenpolitische Erbe des Brutus erfolgreich verteidigt, stand eine Bestätigung der außenpolitischen Integrität, die durch die Tat der Brutussöhne in Frage gestellt wurde, noch aus. Der erste Consul hatte durch his son Gryllus (Aelian, V.H. 3.3 with Perizonius’s note)“ beschreibt und den Sinn der Episode ganz aus der religiösen Frage ableitet, ob eine familia funesta einen Tempel weihen dürfe. 125 2, 8, 1: Latae deinde leges, non solum quae regni suspicione consulem absoluerent, sed quae adeo in contrarium uerterent ut popularem etiam facerent; inde cognomen factum Publicolae est. Dazu Ogilvie (1965) S. 253. 126 Vgl. 5, 11, 3: id fraude patriciorum, scelere ac proditione collegarum factum arguere. Das Wortfeld, das hier den Gebrauch von fraus (z.B. 3, 19, 1; 3, 24, 1; 27, 21, 2) variiert, macht deutlich, dass fraus bei Livius oft nicht einfach nur „Schaden“ heißt, sondern ein affektiv aufgeladener Begriff ist, der zugleich auch böse Absicht unterstellt. Vgl. auch 3, 16, 5: uana imago, 3, 19, 5: pessimis artibus. Der Beginn der innenpolitischen Streitigkeiten beginnt faktisch bereits ab dem Tode des Tarquinius (metus-hostilis-Theorie) in 2, 21; vgl. besonders 2, 21, 6; dazu Luce (1977) S. 26f.; Ogilvie (1965) S. 233. Das Wortfeld fraus aber erst wieder ab dem dritten Buch, dazu ausführlich Kapitel 3.3.2. Der Hiat könnte mit dem Umstand zusammenhängen, dass Livius die Frühzeit der Republik von der fraus-Problematik freihalten wollte. 127 Vgl. auch Fox (1996) S. 121. 128 Ogilvie (1965) S. 233 und 390; Oakley (1999) S. 442f.
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die Hinrichtung seiner eigenen Nachkommen der res publica im Allgemeinen und der iuuentus im Besonderen ein bitteres remedium verabreicht. Ob die Römer dies besser würden ertragen können als ihre uitia, hatten sie noch nicht endgültig bewiesen.129 Im zweiten Jahr der Republik eröffnet sich hierzu eine Gelegenheit, als Lars Porsenna gegen Rom zieht, um die etruskischen Könige zu reinstallieren (2, 9, 1 – 4). Die römische Antwort auf die ungeheure Bedrohung (2, 9, 5: non unquam alias ante tantus terror senatum inuasit) besteht in einer charakteristischen Synthese von offenem Wagemut und gerechtfertigter Kriegslist, die das Ergebnis der Erfahrungen von Königszeit und dem ersten Jahr der libera res publica darstellt. Livius beschreibt hier einen Listtypus, der dem römischen Ethos ganz entspricht und in den Samnitenkriegen einen weiteren exemplarischen Vertreter in dem Militätribun P. Decius finden wird (s.u.). Die erste spektakuläre Tat ist die Sicherung der Pfahlbrücke durch Horatius Cocles (2, 10). Angesichts der etruskischen Übermacht kann dieser letzte Zugang in die verbarrikadierte Stadt nur durch das selbstvergessene Eintreten eines Einzelnen sichergestellt werden. Cocles stiftet dadurch ein exemplum, das sofort Wirkung zeitigt, denn sein furchtloses Auftreten stellt ihm sogleich zwei weitere Vorkämpfer an die Seite, den Spurius Larcius und den Titus Herminius, die er allerdings später auffordert, sich in Sicherheit zu bringen (2, 10, 7). Der Wagemut des Cocles wird belohnt durch seine Rettung in den Fluten des Tiber, in die er sich stürzt, als alle anderen endlich in die Sicherheit der Stadt gelangt sind. Cocles beweist so die Tapferkeit der Römer angesichts der erdrückenden Übermacht. Erst dann schildert Livius eine klassische Kriegslist, mit der der Consul P. Valerius den Plünderungen der Etrusker ein Ende bereitet, indem er die praedatores in einen Hinterhalt lockt.130 Bezeichnenderweise sind an diesem Hinterhalt – wieder namentlich erwähnt – Spurius Larcius und Titus Herminius beteiligt. In ihnen findet die Synthese von List und Tapferkeit ihren offensichtlichen Ausdruck, während Cocles als Versinnbildlichung des einen Prinzips der fortitudo hier nicht teilnimmt. Die Hinrichtung der Brutussöhne, die Tat des Horatius Cocles und die Kriegslist der Consuln bilden gemein129
Livius glaubt prinzipiell an die Wirkung starker remedia, Luce (1977) S. 290 – 292. Die Maßnahme wird mit dem klassischen Listvokabular beschrieben (2, 11). Der licentia der Etrusker wird absichtlich (consilio) und nicht aus Furcht nachgegeben. Der Consul Valerius ist intentus in occasionem, d.h. er wartet auf eine günstige Gelegenheit, möglichst viele Plünderer zu töten. Er fordert die Seinen auf, Vieh aus der Stadt zu treiben, damit die Etrusker denken, treulose Sklaven flüchteten aus der belagerten Stadt. Auch ein Überläufer bestätigt diesen Eindruck: et sciere perfugae indicio. Valerius lässt den T. Herminius heimlich (occultum) am zweiten Meilenstein der uia Gabinia lauern, andere Einheiten warten an der porta Collina und an der porta Naeuia, Valerius selbst greift die Etrusker vom mons Caelius aus an. Herminius kommt dann ex insidiis und die anderen Einheiten kesseln die Feinde, die nun nicht mehr ad pugnam uiribus pares sind, ein. List und Gewalt sind hier in der für die Kriegslist klassischen Weise gepaart; die List dient dem effektiven Einbringen der militärischen Kräfte. Insgesamt sind die Römer den Etruskern aber eher unterlegen, weshalb sie zu diesen Taktiken greifen müssen.
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sam einen ersten republikanischen Erfahrungsschatz, der als exemplum an die iuuentus Roms weitergegeben wird. Diese drei Ereignisse erklären die eigentümliche Tat des C. Mucius (später Scaevola), die anders kontextualisiert deutlich problematischer ausfallen würde. Einen Anschlag auf den gegnerischen Anführer haben die Römer im Fabriciusexemplum bekanntlich rundheraus abgelehnt.131 C. Mucius versichert sich aber vor seinem Husarenstück, das ihn als Attentäter in das Lager des Porsenna führen soll, der Autorität des Senates. Dieser Aspekt der militärischen disciplina, die Heldentaten Einzelner nur durch Genehmigung der befugten Amtsträger (normalerweise das imperium der Consuln) gestattet, hat in der jüngeren Liviusforschung besonders für die Zweikämpfe der Torquati Beachtung gefunden.132 Während der jüngere Torquatus später gegen das exemplum des Älteren handelt und das imperium des Consuls vergisst, wofür er schließlich hingerichtet wird, handelt Mucius, anders als die Brutussöhne, nicht auf eigene Rechnung sondern bittet den Senat, ins gegnerische Lager eindringen zu dürfen. Ihn treibt dabei die Furcht, er könne als vermeintlicher Überläufer behandelt werden, falls ihn die römischen Wachen beim Verlassen der Stadt überraschen sollten (2, 12, 4). Die Formulierung des Livius bleibt im Weiteren merkwürdig unbestimmt. Ob die Senatoren wirklich einen Anschlag genehmigt haben, lässt er offen. Mucius kündigt den Senatoren nur an, er habe Größeres im Sinne als einen Raubzug oder eine Plünderung (2, 12, 5). Dieser Punkt spielt für die Bewertung der Episode eine nicht unwesentliche Rolle (s.u.). Das Attentat misslingt. Weit entfernt von Reue oder Niedergeschlagenheit bekräftigt der gefangene Römer vor Porsenna noch seine Tötungsabsicht und kündigt weitere Anschläge an (2, 12, 10f.: Hoc tibi iuuentus Romana indicimus bellum. Nullam aciem, nullum proelium timueris; uni tibi et cum singulis res erit). 131
So bei Giovanni Brizzi, I sistemi informativi dei Romani. Principi e realtà nell’ età delle conquiste oltremare (218 – 168 a. C.), Wiesbaden 1982, S. 21f., aber auch S. 11f.; Ogilvie (1965) S. 262. 132 Miles (1995) S. 70 – 74; Jane D. Chaplin, Livy’s Exemplary History, Oxford – New York 2000, S. 20 und 108f. Feldherr (1998) S. 82 – 111; Jean-Pierre Néraudau, L’exploit de Titus Manlius Torquatus (Tite-Live, VII, 9, 6 – 10). (Réflexion sur la „Iuventus“ archaïque chez TiteLive), in: André Balland (Hg.), L’Italie préromaine et la Rome républicaine. FS J. Heurgon Bd. 2, Paris u.a. 1976, S. 685 – 694. Feldherr betont, dass der Ungehorsam des jüngeren Torquatus (8, 7) nur vor dem Hintergrund der disziplinierten Duelle des älteren Torquatus (7, 10) und des Valerius Corvus (7, 26) zu verstehen sei (S. 99 und 105), d.h. auch hier geht es um einen Wissensstandard von richtigem Verhalten, der an die iuuentus weitergegeben wird. Corvus versteht das exemplum des Manlius, dessen Vorkampf vom Diktator gestattet wurde, und bittet den Consul um Erlaubnis, den Einzelkampf bestehen zu dürfen. Der jüngere Manlius versäumt genau dies und wird von seinem eigenen Vater bestraft. Auch Feldherr erinnert in diesem Zusammenhang an die Bedeutung der decischen deuotiones (Liv. 8, 9; 10, 28, 12 – 29, 5) als Paradigmen patriotischen Handelns (S. 92).
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Vor dem Hintergrund des bisher von Livius angestrengten Listdiskurses ist dies eine ganz außergewöhnliche, aber bei näherer Betrachtung doch folgerichtige Aussage. Das Ungewöhnliche zeigt sich zunächst in der scheinbar radikal herumgedrehten Logik der römischen Kriegerethik: Stolz empfinden die Römer (bei Livius) in der Regel über einen Sieg in der pugna iusta, d.h. durch acies und proelium. Dem erteilt Scaevola eine Absage. Gleichzeitig inszeniert er das Attentat als offenen Krieg, der wie ein bellum iustum angesagt wird – stellvertretend für die gesamte römische Jugend, die sich durch ihre Kühnheit von dem Makel der Verschwörung zugunsten der Tarquinier reinwäscht. In dem Moment, in dem die Durchführung der List eine Opferbereitschaft und Gefahr mit sich bringt, die dem Kampf in offener Schlacht mindestens ebenbürtig ist, kann der Römer ebenso offen mit ihr auftreten wie in einem bellum iustum. Durch das Geständnis des Mucius erhält die Heimlichkeit des Anschlages ein Achtergewicht, das diese fast in den Hintergrund treten lässt. Indem Mucius ferner seine rechte Hand ins Feuer legt und unter Schmerzen verliert, macht er deutlich, dass es den Römern nicht darum zu tun ist, einen Sieg ohne Einsatz von Ressourcen zu gewinnen. Genau dies drückt Porsenna in seiner Begnadigung des Feindes auch aus (2, 12, 14): ,Tu uero abi‘, inquit, ,in te magis quam in me hostilia ausus.‘ Die List erhält jetzt endgültig einen Ort in der Altersstruktur der Stadt: Sie stellt eine besondere Lizenz der iuuentus dar, die von dieser in der gesamten livianischen Darstellung immer wieder abgerufen wird (z.B. unten Decius, Scipio). Im gleichen Maß scheidet sie aus dem consilium der „erwachsenen“ Magistrate mehr und mehr aus (deshalb konnte der Senat das Attentat nicht explizit genehmigen, auch wenn er es toleriert). Einer vergleichbaren Logik folgt nach den Friedensverhandlungen mit Lars Porsenna und der Stellung von Geiseln an den Etrusker auch die Tat der Cloelia (2, 13, 6 – 11), die ebenfalls mit einer List beginnt (frustrata custodes) und aufgrund der Bewunderung des Porsenna für die Kühnheit der Jungfrau in offener Kommunikation (und der Rückgabe eines Teiles der männlichen Geiseln, nachdem die weiblichen durch Cloelias Mut bereits entkommen waren) endet.133 Die List verliert durch die Kühnheit der jungen Männer und Frauen, denen sie anvertraut ist, ihren klandestinen Charakter und ermöglicht eine unverstellte Kommunikation zwischen Rom und seinen Feinden. Kurz nach diesen Ereignissen stirbt der letzte römische König im Exil (2, 21, 5). Livius, vertraut mit dem sallustischen Gedanken, nach dem innenpolitische Zwietracht aus dem Gefühl militärischer Sicherheit entstehen kann,134 erzählt im Folgenden verstärkt von den Zwistigkeiten, die zwischen patres
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Diese Offenheit kennzeichnet von nun an den Kontakt mit Porsenna und führt schließlich zur Rückgabe auch der restlichen Geiseln (2, 15, 6). 134 Er spielt für Livius aber nicht die gleiche zentrale Rolle wie in den Monographien des Sallust, vgl. Luce (1997) S. 271f.
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und plebs entstehen.135 Der Listdiskurs verändert sich dadurch stark. Unter ästhetischem Aspekt kann man sagen, dass die List vorerst aus dem Bericht verschwindet: Es gibt keine raffiniert inszenierten Täuschungsmanöver mehr, wenn man von einigen unproblematischen Kriegslisten in den Kriegen mit den Nachbarn absieht. Das Vokabular (s.u. die Wortfeldanalysen) aber spielt weiterhin eine Rolle. In den Auseinandersetzungen um die Schuldknechtschaft und die daraus resultierenden Verweigerungen der plebs, ihren Führern zu folgen, zeihen sich die Parteien gegenseitig der perfidia und des Verrats (prodere) zur Durchsetzung von Partikularinteressen, später (noch nicht im zweiten Buch) auch der fraus (die dolus zwischenzeitlich verdrängt. Dolus erscheint in den ersten fünf Büchern eher als inszenatorische und kriegerische List, während fraus zunächst ein innenpolitisches Schlagwort ist, das den glatten Betrug bezeichnen soll). Die Bezeichnungen sind oft die gleichen, die Livius auch zur Qualifizierung von Listen verwendet. Sie sind aber hier durch das Problemfeld von discordia und seditio bestimmt. Bei der Darstellung der Oligarchie der Zehnmänner hat sich gezeigt, wie die List bei Livius dem Thema von uis und ius untergeordnet wird. Man könnte daher einwenden, dass es hierbei letztlich kaum noch um die List als eine prekäre Kunst des Handelns, als eine ars neben den artes des Feldherren und des Redners geht.136 Es geht immer weniger um die Manipulation von Wirklichkeit, stattdessen orchestriert das Begriffsfeld von Täuschung und Untreue einen erbitterten und offenen Konflikt der Ständekämpfe. Aber es bleibt doch festzuhalten, dass diese Verwendungsweise des für die bisherige Untersuchung einschlägigen Vokabulars ein Resultat oder doch eine wichtige Etappe der Listproblematik darstellt. Diese Problematik stellt sich in livianisch-römischer Sicht zunächst als Spannung zwischen Partikularinteressen des Staates gegenüber seinen Nachbarn dar und wirkt innenpolitisch durch Verlängerung dieser Spannung in die politischen Fraktionen des Gemeinwesen hinein (Königstreue – Republikaner). Sobald aber die außenpolitische Dimension wegfällt, bleibt von der List, die durch inszenatorische, wagemutige, punktuelle und manipulative Elemente gekennzeichnet ist und die angewandt wird, um Eigeninteressen durchzusetzen, fast nur dieser letzte Aspekt übrig und erscheint als auf Dauer gestellter utilitaristischer Partikularismus. Dies benennt Menenius Agrippa in seiner berühmten Rede an das Volk auf dem Palatin ganz deutlich (2, 32, 9): tempore quo (…) singulis membris suum cuique consilium, suus sermo fuerit. Der Aufstand der Körperglieder gegen den Magen kann nur stattfinden, wenn der Körper durch Partikularinteressen geprägt ist. Was bei der außenpolitischen List 135
Programmatisch direkt im Anschluss an die Nachricht vom Tode des Tarquinius (2, 21, 6): Eo nuntio erecti patres, erecta plebes; sed patribus nimis luxoriosa ea fuit laetitia; plebi, cui ad eam diem summa ope inseruitum erat, iniuriae a primoribus fieri coepere. 136 Vgl. Cicero Mur. 14, 30; dazu Kapitel 6.11.
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prekär ist – Eigeninteressen vs. publica fides – wird innenpolitisch durch die Stiftung des Zwölftafelrechts zumindest idealiter verunmöglicht. Die kleine Geschichte der List, die Livius im ersten (und zweiten) Buch seines Geschichtswerkes entfaltet hat, vollzog sich vor dem Auge des Lesers als eine konsequente und mähliche Entwicklung. Sie fügt sich damit in andere Motive ein, die Livius in ähnlicher Weise im ersten Buch behandelt hat (Entwicklung des Rechts, der Religion, der Topographie, der Werte, der militärischen Stärke, des Senates usw.). Hieran zeigt sich der eigentlich mythische Charakter dieser Frühgeschichte. Es ist von verschiedener Seite – Walter Burkert, Fritz Graf u.a. – bereits bemerkt worden, dass man in dem Moment von einem römischen Mythos sprechen kann, wenn man sich von dem griechischen Modell löst und stattdessen nach Funktionen mythischen Denkens fragt.137 Livius behandelt die frühe Geschichte Roms insofern mythologisch, als er bestimmte Aspekte menschlichen Verhaltens von ihrem schöpferischen Gehalt her versteht, ohne dass dieser schöpferische Gehalt a priori durch Bewertungen einer verrechtlichten Gesellschaft denunziert wird. Ein extremes Beispiel für den schöpferischen Gehalt von Gewalt etwa verbirgt sich im Motiv der Vergewaltigung, wie unter anderem James A. Arieti und Marie Theres Fögen erkannt haben.138 Die Vergewaltigung der Rhea Silvia ermöglicht überhaupt erst die Gründung Roms, der Raub der Sabinerinnen vollendet die Gründung,139 die Vergewaltigung der Lucretia begründet die Republik und die knapp abgewendete der Verginia beendet das Decemvirat. Damit ist nicht gesagt, dass Livius diese Untaten nicht als solche bewertet. Aber dennoch steht ihr schöpferisches Potenzial neben dem scelus, wie man besonders eindrucksvoll am Raub der Sabinerinnen erkennen kann. In diesem Sinne sind auch die Listhandlungen in Livius’ Darstellung zu verstehen. Die Wirkung der List ist schöpferisch, solange 137 Fritz Graf (Hg.), Mythen in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms (Colloquium Rauricum Bd. 3), Stuttgart – Leipzig 1993, S. 2 (Einleitung). Ders., Der Mythos bei den Römern. Forschungs- und Problemgeschichte, in: Graf (1993a), S. 25 – 43. Walter Burkert, Mythos – Begriff, Struktur, Funktionen, in: Graf (1993a), S. 9 – 24, 9. Kritisch und kreativ zugleich in dieser Diskussion: Mary Beard, Looking (harder) for Roman myth: Dumézil, declamation and the problems of definition, in: Graf (1993a), S. 44 – 64. 138 James A. Arieti, Rape and Livy’s View of Roman History, in: Susan Deacy/ Karen F. Pierce (Hgg.), Rape in Antiquity: Sexual Violence in the Greek and Roman Worlds, London 2002, S. 209 – 229; Fögen (2002) S. 21 – 124; siehe auch: Timothy J. Moore, Morality, History, ad Livy’s Wronged Women, in: Eranos 91 (1993), S. 38 – 46. Gerade die Literatur zu Lucretia ist inzwischen Legion, vgl. Calhoon (1997) passim und besonders S. 168. Joplin (1990). Für den juristischen Aspekt vgl. Diana C. Moses, Livy’s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law, in: Angeliki E. Laiou (Hg.), Consent and Coercion to Sex and Marriage in Ancient and Medieval Societies, Washington 1993, S. 39 – 81. 139 Julie Hemker, Rape and the Founding of Rome, in: Helios 12, 1 (1985), S. 41 – 47. Hemker S. 42 sieht den Aspekt der List zwar in Livius’ Bericht präsent, aber heruntergespielt.
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keine institutionalisierten Ordnungsmächte existieren. Denn eigentlich zielt die List auf einen einmaligen coup, den der Listige landen muss, um dann rasch das Weite zu suchen. Wenn es aber keine Institution gibt, die Betrug, Diebstahl, Gewalt usw. ahnden kann, dann wird der coup zum fait accompli, dann wird die einmalige List zur dauernden Tatsache. Sie schafft eine neue Realität. Als Prometheus den Zeus betrügt und ihm das Feuer stiehlt, sammelt der Gott das Feuer nicht wieder ein, sondern antwortet mit einem Gegenschlag. Hesiod ringt selbst erst mühsam um einen ordnungsstiftenden Zeus, er besitzt ihn nicht von Anfang an. Die Darstellung der römischen Frühzeit bei Livius zeigt ihren mythischen Charakter auch in ihrem Umgang mit der List, deren einmalige Tricks dauerhafte Ergebnisse zeitigen (Sabinerinnen, Numas Religionspolitik usw.), und sie wird politisch-historisch in der Perhorreszierung der List als Mittel der Politik und ihrer Kolonisierung als Lizenz der Jugend.
Die List und die Erfordernisse einer neuen Außenpolitik
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3 Die List und die Erfordernisse einer neuen Außenpolitik 3.1 Der livianische Bericht und die historische Entwicklung Eine Konsequenz aus dem romzentrierten Standpunkt der livianischen Geschichtsschreibung1 ist, dass die historischen Ereignisse nach rechtlichen und ethischen Standards beurteilt werden, die nicht nur für die Römer selbst, sondern auch für ihr jeweiliges Gegenüber als verbindlich gesetzt werden. Es ist anzunehmen, dass die Wurzeln für diese „interpretatio Romana“ bereits in der annalistischen Tradition liegen.2 Dieser Umstand ist allgemein bekannt. Er hat einige Auswirkungen auf die Behandlung von Interessenkonflikten und die Inszenierung der List als Mittel, Interessen durchzusetzen (bei Livius). Bekanntlich spielt für den antiken Historiker die fides der Römer eine besondere Rolle, um ihr Handeln entweder zu rechtfertigen
1
Erich Burck, Livius als augusteischer Historiker, in: Die Welt als Geschichte 6 (1935), S. 446 – 487, 457. Jaeger (1997) S. 6; vgl. auch von Albrecht (1994a) S. 677. 2 Karl-Ernst Petzold, Die Entstehung des römischen Weltreichs im Spiegel der Historiographie. Bemerkungen zum bellum iustum bei Livius, in: Eckard Lefèvre/ Eckart Olshausen (Hgg.), Livius. Werk und Rezeption. FS Burck, München 1983, S. 241 – 263, bes. S. 248 u. 255. Hermann Tränkle, Der Anfang des Römischen Freistaats in der Darstellung des Livius, in: Hermes 93 (1965), S. 311 – 337, 313. Im Prinzip ist dies das Kennzeichen jeder Geschichtsschreibung einer Siegermacht. Dass die moralische Seite aber in der römischen Geschichtsschreibung so stark hervortritt, hängt mit zwei Umständen zusammen (vgl. Uwe Walter, Die Botschaft des Mediums. Überlegungen zum Sinnpotential von Historiographie im Kontext der römischen Geschichtskultur zur Zeit der Republik, in: Melville [2001], S. 241 – 279, 262 [zu Fabius Pictor]: „Selbstvergewisserung nach innen und Selbstbehauptung nach außen“): 1. Die römische Geschichtsschreibung entsteht zum Teil aus Gründen der außenpolitischen Rechtfertigung in den Punischen Kriegen (Andreas Mehl, Römische Geschichtsschreibung. Grundlagen und Entwicklungen. Eine Einführung, Stuttgart u.a. 2001, S. 42. Wilhelm Kierdorf, Anfänge und Grundlage der römischen Geschichtsschreibung, in: Klio 84, 2 [2002], S. 400 – 413, 401f.). 2. Die innenpolitischen Standards, nach denen die Römer ihre Gegner und Bündner beurteilen, befinden sich vielleicht bereits in der Entstehungsphase der Historiographie, gewiss aber zur Zeit der jüngeren Annalistik selbst in einer Krise, die eine – auf lange Sicht unbrauchbare – moralistische Antwort der schreibenden Senatoren herausforderte. Vgl. Klaus Bringmann, Weltherrschaft und innere Krise Roms im Spiegel der Geschichtsschreibung des zweiten und ersten Jahrhunderts v. Chr., in: A & A 23 (1977), S. 28 – 49. Man bedenke auch, dass die eigentlich lateinische Historie in ihrem Beginn ein Werk des Zensors Cato ist, vgl. dazu z.B. Kierdorf (2003) S. 24. Diese insgesamt bekannte Entwicklung intensiver nachzuzeichnen, führt vom Thema ab. Das Ergebnis ist aber eine Geschichtsschreibung, die immer wieder mit dem Gegenüber moralisiert, wenn sie die Römer selbst meint.
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bzw. um es zu kritisieren, wenn ein Verstoß gegen die fides vorliegt.3 Gerade diese Ethisierung der Politik macht die Darstellung der List in seinem Werk ja so prekär, denn dolus, furtum usw. sind termini, die er leicht unter perfidia, dem Gegenbegriff der fides, subsumiert. Sicherlich ist diese Idealisierung der fides als Maxime römischer Politik ein augusteischer Zug in Livius’ Ab Urbe Condita, aber das Konzept muss doch auch historisch verstanden werden. Die tieferen Ursachen sind in der Kriegsgeschichte der Stadt Rom selbst zu suchen. Clausewitz hat den Krieg als einen „Akt der Gewalt“ definiert, „um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“4 Er betont den nichtmoralischen Charakter des kriegerischen Aktes selbst, der durch völkerrechtliche Konstruktionen in seiner Wucht kaum gemindert wird. Gleichzeitig ist der Krieg kein Selbstzweck, sondern stellt, dies ist der berühmtere Teil seiner Definition, eine „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ dar.5 Auch für das frühe Rom galt zunächst, dass der Krieg selbst keine besondere Rechtfertigung benötigte. Er war ein saisonales Geschehen, mit dem die Stadt, so wie es ihre Nachbarn auch taten, sich durch Raubzüge in die angrenzenden Gebiete zu bereichern suchte.6 Man kann diesen Umstand durchaus noch in der livianischen Darstellung erkennen, wenn man sich die Selbstverständlichkeit vor Augen führt, mit der der Historiker besonders in den ersten zehn Büchern das sich wiederholende Ritual der Kämpfe mit den Volskern oder Samniten darstellt, sodass er schließlich meint, sich dafür beim ermüdeten Leser rechtfertigen zu müssen (6, 12, 2). Insgesamt freilich fasst Livius auch diese ganz frühen Konflikte, wie sich besonders im Zusammenhang mit den fetialrechtlichen Erwägungen ergeben hat, nach rechtlichen und moralischen Gesichtspunkten der augusteischen Epoche. Der Zweikampf zwischen zwei Gemeinwesen wird ursprünglich nur innerhalb dieser Gemeinwesen gerechtfertigt; der Friede mit den eigenen Göttern muss hergestellt werden, diese Götter aber unterstützen dann ganz selbstverständlich die, die sie verehren, und treten nicht als übergeordnete 3
In diesem Sinne immer noch einschlägig: Marieluise Merten, Fides Romana bei Livius, Frankfurt am Main (Diss.) 1965. 4 Clausewitz (1834) S. 17. 5 Clausewitz (1834) S. 34. 6 Rüpke (1990) S. 22. Livius selbst verschleiert diesen Umstand freilich, indem er in der Regel von einer Provokation der Latiner, Volsker o.a. berichtet, durch welche diese Kriege ausgelöst wurden. Vgl. aber 2, 48, 5f. über die schwelenden Auseinandersetzungen mit Veji (479 v. Chr.): Ex eo tempore (einer Niederlage des Consuls Titus Verginius) neque pax neque bellum cum Veientibus fuit; res proxime formam latrocinii uenerat. „[D]as Ganze hatte eher die Form gegenseitiger Raubzüge angenommen.“ (Übers. Marion Giebel [1999] S. 147). Der Krieg mit Veji macht aus dem saisonalen Krieg dann eine militia perennis, vgl. Hubert Cancik, Militia perennis. Typologie und Theologie der Kriege Roms gegen Veji bei T. Livius, in: Heinrich von Stietencron/ Jörg Rüpke (Hgg.), Töten im Krieg, Freiburg i. Br. (1995) S. 197 – 211, 200.
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Schiedsrichter auf.7 In dem Moment aber, da Rom durch seinen Erfolg zu wachsendem Einfluss kommt, übernimmt es auch Aufgaben einer Ordnungsmacht. Rom hat sich für diese Aufgabe insofern als besonders tauglich erwiesen, als es seine wachsende Vorherrschaft mit großer Verlässlichkeit – fides – ausgefüllt hat. Vielleicht trat der Begriff der fides überhaupt erst hier in den außenpolitischen Diskurs ein,8 denn er setzt nach römischem Verständnis ein Machtgefälle voraus, wie etwa im Verhältnis Patron und Klient, aus dem es vermutlich in andere Bereiche extrapoliert wurde. Fides kann nur leisten, wer die Möglichkeiten, d.h. die Macht dazu hat. „Fides war also ein Konzept, das die Macht selbst und die durchaus konkrete Gewalt des Überlegenen, Übergeordneten über den Schwächeren, Untergeordneten bezeichnete.“9 In dieser Selbstbeschränkung ist sicherlich einer der Gründe zu suchen, warum das Bündnissystem der Römer so stabil war.10 Je weiter Rom wuchs, und dabei ist besonders an die Zeit nach dem Zweiten Punischen Krieg zu denken, verwandelte sich das ohnehin asymmetrisch konstruierte Bündnissystem in ein Imperium, in dem Rom von vornherein nicht als starker Bündner, sondern als Herrscher auftrat. Damit hat sich der Zweck des Krieges gewandelt: Fides erscheint weniger als Moderatorin verschiedener Interessen, sondern wird mehr und mehr zur Rechtfertigung von 7 Eine gewisse Einschränkung dieser Sicht entsteht allein durch den Umstand, dass in dieser Frühzeit die streitenden Gemeinden sich in der Regel an die gleichen Götter wenden, dennoch aber werden die Götter nicht als Vermittler ins Spiel gebracht. Dazu Rüpke (1990) S. 119f. Im Zuge der späteren Entwicklung zur „Supermacht” entwickelt sich dann die bellum-iustum-Lehre, die einerseits universalistisch und theologisch begründet (Stoizismus), andererseits nicht sanktionierbar ist (Rüpke [1990] S. 121 – 122). Vgl. die Position Scipios in seiner Rede an Hannibal vor Zama: Die Götter haben den Römern den Sieg geschenkt und damit bewiesen, dass ihre Sache gerecht ist (Ingrid Edlund, Before Zama. A Comparison between Polybios’ and Livy’s Descriptions of the Meeting between Hannibal and Scipio, in: Eranos 65 [1967], S. 146 – 168, hier: S. 156f.). Hier wird universeller (und insgesamt auch philosophischer) argumentiert. 8 Der früheste Beleg dafür ist der lokrische Stater aus Epizephyrioi, geprägt um 270 v. Chr., auf dem die Rhomaion pistis verherrlicht wird, vgl. Karl-Joachim Hölkeskamp, Fides – deditio in fidem – dextra data et accepta: Recht, Religion und Ritual. Eine antike politische Kultur und die moderne Begriffsgeschichte, in: Hölkeskamp (2004), S. 105 – 133, hier: S. 118f. 9 Hölkeskamp (2004b) S. 115ff. Zitat S. 116, vgl. auch S. 134: „Danach wird Macht eben nicht durch eine ihr gegenübertretende, autonome Moral ergänzt oder sogar erst komplettiert, auf diese Weise eingeschränkt und sekundär begrenzt – die Moral ist selbst von vornherein machtgeladen, ja machtgesättigt.” Vor diesem Hintergrund weist H. auch die Ansicht zurück, es handele sich bei der fides um Propaganda zur Machtverschleierung (112 u. passim). Vgl. auch Petzold (1983) S. 249 und 252. Zu Klientelverhältnis und fides Richard Heinze, Fides, in: Richard Heinze, Vom Geist des Römertums, Darmstadt 31960, S. 59 – 81, 69f. 10 „Ferner liefert auch der Erfolg der römischen Expansion und Roms Bereitwilligkeit, die damit verbundenen Gratifikationen zu erteilen, eine Erklärung seiner Stärke, sie beruhte auf dem Konsens sowohl innerhalb des römischen politischen Systems als auch mit dem italischen Bund zwischen dem späten vierten und dem frühen ersten Jahrhundert.“ Michael Crawford, Die römische Republik, Stuttgart 1984, S. 46.
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Die List und die Erfordernisse einer neuen Außenpolitik
Herrschaft.11 Tatsächlich sieht sich Rom genau in der Zeit der Punischen Kriege, als es in die hellenistische Welt eintritt, besonders genötigt, seine Herrschaft zu rechtfertigen.12 Außenpolitik wird zur Innenpolitik umgeschrieben, indem das innenpolitische Konzept der fides auf Außenbeziehungen übertragen wird. Der Zweck des Krieges erscheint somit nicht als Gebietsgewinn eines nicht arrondierten Staates oder Ausfechtung eines momentanen Konfliktes, sondern wird immer unter dem Gesichtspunkt dauerhafter Herrschaft geführt. Daraus resultiert überhaupt erst das Problem der fides bereits für den kriegerischen Akt selbst. Er muss immer schon auf die zukünftige Vorherrschaft Roms verweisen und wird daher ethisch kodiert, obwohl, wie oben bemerkt wurde, der kriegerische Akt selbst sich eigentlich nicht moralisch mindern lässt.13 Livius verschärft diese Problematik noch, weil er die fides anachronistisch als Grundlage der Außenpolitik auch schon der frühen Republik sieht (dies ist vermutlich bereits bei den früheren Historikern angelegt14). Camillus etwa belehrt einen Pädagogen aus Falerii, der ihm die Kinder der Führungsschicht ausliefern will, mit den Worten (5, 27, 6): sunt et belli sicut pacis iura; iusteque ea non minus quam fortiter didicimus gerere. Virtus und arma sind in seinen Augen die wirklichen artes Romanae (das Echo zur TarquiniusEpisode ist unüberhörbar).15 Livius versucht diesem Problem von niemals beschlossenen iura belli, die auch den Gegnern zugemutet werden, zunächst durch das von ihm häufig angewandte Motiv der symmetrischen Reziprozität beizukommen:16 Sabiner und Albaner sind den Römern zum Verwechseln ähnlich, sodass der außenpolitische Kampf letztlich eine Fortsetzung 11 Max Kaser, Ius gentium, Köln – Weimar – Wien 1993, S. 35f. Fides war zunächst nur die Bindung an das gegebene Wort, erst später wurde es ethisiert. 12 Levi Robert Lind, Concept, Action and Character: The Reasons for Rome’s Greatness, in: TAPhA 103 (1972), S. 235 – 283, 236. 13 Das Konzept der fides kommt freilich weniger mit dem Aspekt der kriegerischen Gewalt in Konflikt – ist es doch eine Qualität des Stärkeren –, sondern mit dem der Täuschung. Fides bedeutet nicht, dass man sich milde oder gerecht verhält, sondern meint Zuverlässigkeit in Wort und Tat. Wer sich der fides eines anderen ergibt, sei es als ein Klient einem Patron oder als Staat dem römischen Imperator, der rechnet zwar mit Milde, erlebt sie aber nicht immer, ohne dass davon die fides des Stärkeren tangiert würde. Sie wird aber sehr wohl tangiert, wenn der Stärkere das eine verheißt und das andere tut. Im Akt der Kriegsführung selbst fehlt der fides streng genommen die Basis, auf der sie wirken kann: Die Macht wird erkämpft, ist aber noch nicht durchgesetzt. Dennoch wird mit ihr im völkerrechtlichen Sinne argumentiert. 14 Die berühmte Rhodierrede, die Cato in sein Geschichtswerk eingebaut hat, handelt genau von dieser Problematik, nämlich inwiefern man Bündnern römische Verhaltensstandards zumuten dürfe: Gell. 6, 3, 50: Sint sane superbi. Quid id ad nos attinet? Idne irascimini si quis superbior est quam nos? FRH 3 F 5, 3. 15 Liv. 5, 27, 8: ego Romanis artibus, uirtute opere armis, sicut Veios uincam. Burck (1992) S. 95. 16 Jaeger (1997) S. 35f., 49f.
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des Bruderzwistes zwischen Romulus und Remus darstellt und als Innenpolitik imaginiert werden kann. Es gibt keine eindeutige Perspektivierung von „Wir“ und „Ihr“. Abbot hat, unter anderem mit Bezug auf die Philosophin Sissela Bok, auf die Bedeutung der Perspektive im Zusammenhang mit der Bewertung von List in der römischen Literatur hingewiesen. Ein Listgeschehen setzt immer einen Täter und einen Geprellten voraus und je nachdem, von wessen Position ausgehend die Erzählung organisiert ist, kommt es zu einer positiven oder negativen Wertung der List.17 Abbot macht außerdem im ersten vorchristlichen Jahrhundert einen generellen, sich auch im Recht ausdrückenden Perspektivwechsel der Römer weg von der Intention des Listigen hin zum Standpunkt des Geprellten aus.18 Der Bericht des Livius bezieht seine Spannungen im Bereich der Listproblematik allerdings gerade daraus, dass er die beiden Perspektiven oft geradezu aporetisch gegeneinander laufen lässt. Der von Livius beim Raub der Sabinerinnen verhandelte Listbegriff wird für die römische Seite zunächst in die Nähe des positiv besetzten consilium gerückt (über die Stiftung der Consualia, die nach einer falschen Etymologie, einem deus consiliorum gewidmet sind). Dagegen rücken die entrüsteten Sabiner das Geschehen durch ihre Beschreibung per fas ac fidem decepti eindeutig in den Bereich der fraus. Diese Deutung können sie durchsetzen, da Romulus selbst das Geschehen als iniuria bezeichnet. Der Konflikt zwischen den beiden Auffassungen – also der einen, die einen dolus malus nur dann zuerkennt, wenn die Absicht sich auch wirklich nachweisen lässt, und der anderen, die eine solche Absicht schon unterstellt, wenn eine entsprechende Schädigung dies nahe legt – steuert auch die Diskussion zwischen Lucretia und ihrem Gatten, wenn dieser und seine Freunde die geschändete Frau mit dem Hinweis trösten (1, 58, 9): mentem peccare non corpus, et unde consilium afuerit culpam abesse. Lucretia dagegen lässt in ihrem ganzen Handeln erkennen, dass sie der Schuldfrage nicht die böse Absicht zugrunde legt, sondern das Ergebnis, und das heißt in ihrem Falle, dass sie für das Ergebnis, ihre verlorene pudicitia, die Verantwortung übernimmt (1, 58, 10): Ego me etsi peccato absoluo, supplicio non libero. Die „böse rechtswidrige Absicht“19 spricht sie sich nicht zu, übernimmt aber 17
Abbot (1997) S. 5. Bok (1999) S. 28. Abbot (1997) S. 6f. und passim. 19 Coing (1951) S. 114, i.e. dolus malus. Lucretia nennt es eben nicht dolus malus, sondern peccatum, weil sie dolus malus nicht mehr aus der Absicht herleitet. Die wirkliche Intention wird nicht mehr juristisch als dolus malus gefasst, sondern eine fiktive Arglist unterstellt, wenn das Delikt eine Täuschung des Opfers produziert hat. Es muss dabei deutlich gesagt werden, dass Livius diese Auffassung als Extrem zur Darstellung bringt. M. E. hat der Historiker keine eindeutige Position in diesem juristischen Streit, aber er kennt ihn und bringt ihn anachronistisch in die Darstellung ein. 18
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dennoch die Verantwortung für den ihrem Mann zugefügten Verlust.20 Damit skizziert Livius wiederum beide Aspekte der rechtlichen Diskussion um dolus malus. Lucretia hat von Anfang an versucht, den Schaden möglichst klein zu halten. Als Tarquinius sie mit der Drohung erpresst, wenn sie sich nicht vergewaltigen lasse, werde er sie eben töten und ihr einen (ebenfalls getöteten) nackten Sklaven ins Bett legen, sodass es aussieht, als habe man sie bei einem Akt der Unzucht getötet, ist Lucretia ihrem Feind zu Willen. Ihre wirklichen Absichten und Wünsche treten hinter der Wirkung der Ereignisse, in diesem Falle also dem Schaden für ihren eigenen guten Ruf und dem ihres Gatten zurück. Livius bildet in den Positionen der Lucretia und ihres Mannes beide Rechtsauffassungen ab, ohne dass man eine eindeutige Position des Historikers ausmachen könnte.21 Der livianische Bericht vom Raub der Sabinerinnen gibt vielleicht einen Hinweis, wie die Ambiguität der Perspektive im Bereich des listigen Handelns zustande gekommen ist,22 geht es doch in dieser Erzählung um den Zusammenschluss zweier sich in ihrem Ethos ähnlichen Gemeinwesen zu einem politischen Körper; aus Herrschaft wird Interessengemeinschaft. Sobald die Sabinerinnen Römerinnen sind, kann Romulus nicht anders, als ihre Perspektive einzunehmen. Dasselbe muss für die Sabiner gelten. Es sind die Frauen, welche die Vermittlung der Perspektive herstellen, und diese wird bei Livius eindrucksvoll durch ein Agieren in der Mitte der beiden streitenden Parteien inszeniert.23 Historisch vollziehen die Römer diesen Perspektivwechsel aber erst während der Punischen Kriege, vielleicht auch schon während des Krieges mit Pyrrhus, jedenfalls im Rahmen ihres Ausgreifens in die hellenistische Koine. Er geschieht durch ein Umschreiben 20
Lucretias Selbstmord ist außerdem das Angebot eines Opfers für das zerrüttete Gemeinwesen: Vgl. Joplin (1990) S. 60f. Die juristische Problematik ist nur eine von mehreren, die der Logik der Lucretiageschichte zugrunde liegen. Fögen (2002) S. 36 – 55. 21 Sie ergibt sich nicht etwa aus dem Ergebnis, d.h. dem Selbstmord der Lucretia. Sie will sicherstellen, dass ihre Tat keine Zweifel in der Bewertung aufkommen lässt. Ihre Tat wirkt aber auch nur durch eine moralische Exzeptionalität. Lucretias Tod könnte kein Opfer für die res publica sein (s.o.), wenn die Matrone nicht mehr gäbe, als von ihr verlangt werden kann. 22 Abbot (1997) S. 202 hält den von ihm selbst beobachteten Perspektivwechsel – dessen Eindeutigkeit, wie das Lucretia-Exemplum zeigt, sich eben nicht in den literarischen Quellen belegen lässt – für ein Bürgerkriegsphänomen, hat allerdings selbst Schwierigkeiten, dies genauer zu motivieren („Why should civil war produce a change in the Roman ethic concerning dolus? It must be admitted […] that the causa lies in occulto […].“) Man möchte antworten, dass es gerade im Bürgerkrieg unmöglich ist, den Gegner als den Moralisch-Ganz-Anderen zu beschreiben, wie es die Römer im Umgang mit Carthagern und Griechen tun. Dennoch hängt die gesamte Perhorreszierung von dolus (Abbot [1997] S. 201) nicht nur mit den Entwicklungen des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zusammen, sondern mit dem Aufstieg der fides. Insofern ist die juristische Fokussierung nur ein Aspekt der Entwicklung. Ovids Listbegriff wird damit ohnehin nicht eingefangen. 23 Jaeger (1997) S. 48 – 50.
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der Außen- in die Innenpolitik. Ein solcher Perspektivwechsel ist dort politisch attraktiv, wo Rom stark ist und sein Sieg absehbar: Wenn der Gegner dann nach den Maßstäben von fides behandelt wird, stellt dies nicht nur eine Selbstbindung der Römer dar, sondern vielmehr eine Fixierung der politischen Kommunikation nach römischen Maßstäben. Man darf gegen den Feind keine List anwenden, dieser darf sich aber auch keine zuschulden kommen lassen. Je weniger absehbar aber ein römisches Obsiegen ist, desto weniger funktioniert diese „Romanisierung“ des Fremden. Damit wird aber auch die ethische Selbstbindung im Krieg prekär, d.h. zu kostspielig, weil Siege verschenkt werden, die durch eine Ökonomie des Taktierens, der heimlichen Bündnisse und der kriegerischen Finten hätten erreicht werden können. Und natürlich haben die Römer – gerade in den Punischen Kriegen – auf derlei Taktiken nicht verzichtet. Aber sie geraten damit doch in Konflikt mit dem eigenen Selbstverständnis,24 gerade weil die fides ein aus dem Patronatsverhältnis abgeleiteter Begriff ist.25 Die Relevanz der durch fides gestifteten sozialen Bindungen wird fragwürdig. Diese Entwicklung verschärft sich mit dem Prinzipat, weil durch die Genese der Monarchie aus dem Bürgerkrieg die innenpolitische Implikation, die der außenpolitischen fides immer schon eignete, noch schärfer hervortritt.26 Aus diesem Grund kann Livius auch in der Außenpolitik kein rechtes Vergnügen an der List finden, obwohl diese in der Praxis immer wieder angewandt wurde, sofern diese Handlungsalternative pragmatisch nahe lag. Wenn die eigene fides prekär wird, muss entweder ein Scheitern eingestanden oder der Gegner perhorresziert werden. Der Gedanke, dass Herrschaft sich im Krieg bereits erkennen lassen muss, findet sich bei Livius genau an dem Punkt der Entwicklung ausgesprochen, den auch Brizzi mit Recht als Wendepunkt der römischen Politik benannt 24
Fides ist keine reine Ideologie, sondern durchaus eine Selbstbindung, vgl. Erich S. Gruen, Greek Pistis and Roman fides, in: Athenaeum 60 (1982), S. 50 – 68, 59. Stephen P. Oakley, A Commentary on Livy. Books VI – X. Vol. II: Books VII – VIII, Oxford 1998, S. 287f. Anm. 5. 25 Ähnliches hat Pelling (1993) für Tacitus herausgearbeitet; die Verschlagenheit des Tiberius ist zum Teil auch in den Augen des Tacitus durch die List der Feinde gerechtfertigt: „Deception merits deception“ (S. 80 Anm. 53), d.h. die Gegner verändern auch die Römer in ihrem Ethos (S. 80f.). 26 Im Prinzip ist dies das Kennzeichen jeder Geschichtsschreibung einer Siegermacht. Dass die moralische Seite aber in der römischen Geschichtsschreibung so stark hervortritt, hängt mit dem Umstand zusammen, dass die Innenpolitik selbst, zu der die Außenpolitik umgeschrieben wird, in der Entstehungsphase der Historiographie von einer Desintegration der senatorischen Klasse gekennzeichnet ist, die eine – auf lange Sicht unbrauchbare – moralistische Antwort der schreibenden Senatoren herausforderte. Diese moralische Krise ist aus der Geschichtsschreibung bekanntlich nie verschwunden, weil die Standards der Republik immer die Bewertungsfolie auch der Kaiser bildeten (Tacitus).
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hat.27 Kurz vor Ausbruch des dritten Krieges gegen die Makedonen unter Perseus, mit dem Livius die neunte Pentade abschließt und damit die Eroberung des Ostens nach dem Zweiten Punischen Krieg,28 meint der Gesandte Q. Marcius Philippus, sich einer Hinhaltetaktik in den Verhandlungen gegen den König Perseus bedienen zu müssen, bis die Römer ihre Kriegsvorbereitungen abgeschlossen haben. Im Senat kommt es zu einer Debatte über diese listige Form des Umgangs mit den Feinden.29 Die älteren Senatoren billigen die neue Entwicklung der römischen Außenpolitik nicht, können sich aber nicht durchsetzen (42, 47, 4 – 9): Veteres et moris antiqui memores negabant se in ea legatione Romanas agnoscere artes. non per insidias et nocturna proelia, nec simulatam fugam improuisosque ad incautum hostem reditus, nec ut astu magis quam uera uirtute gloriarentur, bella maiores gessisse; indicere prius quam gerere solitos bella, denuntiare † etiam interdum † finire in quo dimicaturi essent. eadem fide indicatum Pyrrho regi medicum uitae eius insidiantem; eadem Faliscis uinctum traditum proditorem liberorum; † regis † haec Romana esse, non uersutiarum Punicarum neque calliditatis30 Graecae, apud fallere 27
Wheeler (1988) S. X hat Brizzis Thesen heftig angegriffen und ihm Naivität vorgeworfen, weil dieser die These vertrete, die Römer seien wirklich das Volk der fides gewesen, bis sie von den Puniern durch die Not des Zweiten Punischen Krieges gelernt hätten, wie man List handhabe. In der Tat lesen sich manche Passagen bei Brizzi in dieser Weise. Den Zusammenhang von fides als Propaganda und List als Fertigkeit nach der Erringung der Vormacht im Mittelmeerraum hat Brizzi aber richtig dargestellt. Defizient ist seine Analyse nur in der Beschreibung der fides vor dem Zweiten Punischen Krieg. Meine vorangegangenen Auslassungen sollten dieses Bild korrigieren: Die Römer waren nicht besser vor dem Zusammentreffen mit den Karthagern, sondern ihre Funktion in Italien war unproblematischer für die Grenzvölker. Anders ausgedrückt: Die Spannung zwischen fides-Propaganda und gelegentlich perfidem Handeln der Römer fiel nicht stark ins Gewicht in einer Zeit, als Rom noch keine umfassende Herrschaftspropaganda nötig hatte. 28 Dazu einschlägig immer noch Luce (1977), z.B. S. 4, 6 und 123 – 138, vgl. auch ebenda S. 264: „Beginning with Book 42 Livy marks out a second major phase in the decline. A new theme is introduced – the mistreatment of non-Romans, whether allies, friends, or enemies (…).” 29 Die Debatte hat einen Vorläufer in der Senatssitzung über die Gewährung eines Triumphes für den Consul Cn. Manlius Vulso (38, 44, 9 – 50, 3), dem vorgeworfen wird, seinen Sieg über die Kelten 189 v. Chr. nur dem Umstand zu verdanken, diesen Krieg überhaupt erst listig angezettelt zu haben – außerdem sei er schlecht geführt worden. Antiochus habe in diesem Zusammenhang ein Gespräch mit dem römischen Consul nur deshalb verweigert, weil er dessen insidiae gefürchtet habe. Ähnliches haben wir oben bei Hirtius gefunden. Karl Bayer, Römer kritisieren Römer. Zu Livius 38, 44, 9 – 50, 3, in: Karl Bayer, Das Angebot der Antike. Humanistische Aufsätze zum altsprachlichen Unterricht, München 1990, S. 181 – 184. 30 Dies (42, 47, 7) ist der einzige Beleg für uersutus bzw. uersutia im überlieferten Teil von Livius’ Werk. Da die Stelle insgesamt recht verderbt und das Wort als Substantiv im Lateinischen kaum belegt ist, mag man sein Vorkommen bei Livius generell in Zweifel
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hostem quam ui superare gloriosius fuerit. interdum in praesens tempus plus profici dolo quam uirtute; sed eius demum animum in perpetuum uinci, cui confessio expressa sit, se neque arte neque casu, sed conlatis comminus uiribus iusto ac pio esse bello superatum. haec seniores, quibus noua ac nimis placebat sapientia.31 Wheeler hält diese Stelle für einen Beleg römischer Propaganda, der keines weiteren Kommentars bedürfe.32 Mit dem Augenmerk auf die Rückprojektion einer scheinbar ungetrübten alten Moralität der Römer ist diese Herangehensweise vielleicht noch zu rechtfertigen. Doch entgehen Wheeler dabei einige analytische Aussagen zur List, die hinter der moralischen Codierung verborgen sind.33 Die alten Senatoren benennen die Problematik ziehen. Es ist zusammengespannt mit calliditas, ähnlich wie bei Cic. off. 1, 108 in primisque uersutum et callidum factum Solonis (Zitat ausführlich s.u.). Callidus/calliditas wird ebenfalls nur selten verwendet: Buch 1 – 8 kein Beleg; 9, 46, 1 callidus uir et facundus über Cn. Flauius, den scriba, der das ius ciuile veröffentlicht hat, positiv konnotiert (documentum […] libertatis fasst Livius eine Anekdote über ihn 9, 46, 8 zusammen); 10, 22, 7 callidos sollertesque iuris atque eloquentiae consultos, qualis Ap. Claudius esset, urbi ac foro praesides habendos praetoresque ad reddenda iura creandos esse: Klassischer Dualismus von sollertia der Rechtspflege und uirtus des militärisch geführten Consulsamtes; Buch 21 kein Beleg; 22, 22, 15 homini non ad cetera Punica ingenia callido „schlau“; 22, 26, 4 haud parum callide abschätzig über C. Terentius Varro; 22, 36, 8 verderbt statt calidos?; Buch 23 kein Beleg; 24, 18, 5 nimis callidi exsoluendi iuris iurandi interpretes: Über die List der von Hannibal freigelassenen Römer, die unter einem Vorwand noch einmal zurückkamen und so ihren Schwur erfüllt sahen, sie würden wieder zurückkommen (dazu s. Einleitung). Buch 25 – 37 kein Beleg; 38, 44, 1 callidam malitiam „verschlagene Böswilligkeit“ als innenpolitischer Vorwurf des Consuls M. Aemilius gegen M. Fulvius, durchaus mit dem Beigeschmack der Verfahrensmanipulation; 39 – 41 kein Beleg; 42, 47, 7 non uersutiarum Punicarum neque calliditatis Graecae in der Stellungnahme der Senatoren zur Politik des Marcius; 42, 47, 9 nimis callida (Konjektur); Buch 43 – 45 kein Beleg. Callidus wird, um die Befunde zusammenzufassen, bei Livius zwar nicht ausschließlich, aber doch hauptsächlich für juristische Klügelei verwendet. 31 Text von Briscoe. 32 Wheeler (1988) S. 24. 33 Abbot (1997) S. 15ff.: „We should not dismiss the grumbling of the senators about the ‚Roman way‘ (artes Romanae) as ‚propaganda‘ and as ‚hypocritical‘ [Abbot bezieht sich hier auf Wheeler (1988) S. 24, F.W.]. There is, in fact, a serious point made here. The veteres see the Roman preference for vis, vires and virtus, with which they associate fides as an important national trait, to be contrasted with Greek cunning and Punic guile. The characterizations need not be mere propaganda. A key to understanding the forcecunning topos in Latin literature is the concept of gloria.“ Und ebenda S. 18: „After all, dolus and gloria make an unlikely couple. Dolus loves the dark, gloria thrives in the light. Dolus twists and turns, gloria stands in plain view.“ Man sollte sich dennoch klar machen, dass die Senatoren selbst andeuten, dass man generell durchaus auch mit List gloria erwerben kann, wenn sie sagen, dass die Vorfahren sich eher der echten uirtus als der listigen Schläue gerühmt hätten. Die Frage muss lauten, warum die Römer gloria nur mit uirtus erwerben zu können glauben. Das aber verweist auf die Bedeutung und vor allem
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einer listigen Politik sehr genau: Sie kann zwar Erfolge für den Augenblick schaffen, ändert aber an den Ressourcen der Gegenseite wenig und gibt ihr nicht das Gefühl, wirklich besiegt zu sein.34 Diese Problematik haben wir bereits bei den Albanern kennen gelernt; sie hatte aber auch die Römer selbst schon eingeholt. Livius schildert sie im Zusammenhang mit der Katastrophe von Caudium. Dieser Vorgang belegt exemplarisch die Problematik einer listenreichen Politik nicht nur auf der Seite der Gegner, sondern auch bei den Römern selbst. List vermittelt Siege, keine Herrschaft. Die moralische Frage ist hier vergleichsweise eng mit der pragmatischen verknüpft. Auch Livius lässt sonst erkennen, was in der Kriegsführung ohnehin Realität war: Eine Kriegslist ist keine problematische Angelegenheit, wenn sie nicht das bellum iustum zu einem bellum iniustum verkehrt. Damit ist gesagt, dass die Kriegslist als ein taktisches Mittel unter mehreren erscheint, auf dessen Einsatz der Gegner letztlich gefasst sein muss (Scheinattacken, insidiae, Ausfälle, proditiones von Städten). Bleibt das Politische aus der Erwägung ausgeschlossen, fällt auch die Problematisierung der List weg: Daher erscheint die List in den großen taktischen Handbüchern der Antike (Vegetius, Frontin usw.) unter einer Vielzahl taktischer Manöver, die die ars des Feldherrn ausmachen. (Somit ist die Übersetzung der Strategemata mit „Kriegslisten“ beinahe irreführend, weil die List hier nur als eine taktische Variante erscheint).35 Schon in den exempla das Valerius Maximus, die ja als ArguKonzeptionalisierung der fides im Sinne Hölkeskamps und nicht so sehr auf das Adelsethos der römischen Oberschicht. 34 Vgl. Luce (1977) S. 265 – 266. Abbot (1997) S. 16. Die Mischung aus „propagandistischer“ Moralistik und technischer Analyse schlägt sich übrigens sehr deutlich in der Formulierung iusto ac pio bello nieder. Livius benutzt die Formulierung bellum iustum und vor allem pugna iusta nicht vorwiegend für das, was wir heute (und der Römer an anderer Stelle) als „gerechten Krieg“ bezeichnen, sondern er unterscheidet damit eine „richtige“ Schlacht von einem Hinterhalt, einer politischen Auseinandersetzung oder einem raid u.ä. (dieser Gesichtspunkt wird von Albert [1980] nicht behandelt): z.B. 1, 15, 1 (raids); 3, 11, 9 tribunos uelut iusto persequi bello; 28, 2, 3 acieque iusta; 22, 28, 13 iusta ac directa pugna; 29, 6, 2 latrociniis magis quam iusto bello in Bruttiis gerebantur res; ähnlich 35, 38, 12. Dennoch kennt er auch die moralische und religiöse Bedeutung von bellum iustum. (An nicht wenigen Stellen changiert die Bedeutung zwischen „richtigem Krieg“ und „gerechtem Krieg“, etwa 7, 30, 17. Die Campaner bitten die Römer um Hilfe. Diese seien ja ein Volk, das iusta bella nicht verweigere. Es reiche aber vermutlich schon, den Feind die römischen Auxiliartruppen sehen zu lassen. Das bellum iustum kann daher hier die gerechte Sache, aber eben auch der richtige Krieg sein, der sich möglicherweise erledigt, wenn sich die Samniten angesichts der römischen Einheiten zurückziehen.) Da dies aber in diesem besonderen Kontext und auch aus seinem weiteren Wortgebrauch nicht klar hervorgeht, präzisiert er bellum iustum zum bellum pium. Vgl. zu solchen Formulierungen und ihren Wurzeln im alten Sakralrecht Albert (1980) S. 13 mit Anm. 12 und 13. Wheeler (1988) S. 24 unterscheidet hier zwischen Odysseus- und Achilles-Ethos, eine richtige Kategorie, die aber dennoch oft zu kurz greift. 35 Das ist einer der Gründe, warum es in dieser Untersuchung kein besonderes Kapitel zur Kriegslist gibt, obwohl etwa Wheeler (1988) seine Studie genau dort ihren Ausgang
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mente und nicht als technische Handlungsanweisungen dienen, werden solche Strategeme (hier im Sinne von wirklichen Kriegslisten) nur mit wenig Raum bedacht.36 Daher überrascht es nicht, dass gerade die genannten, an sich unproblematischen Manöver (simulata fuga, improuisi reditus) an dieser Stelle (42, 47, 4 – 9) doch in den Sog einer moralisierenden Argumentation geraten, sobald sie Gegenstand einer politischen Diskussion werden. Man könnte gewiss im Sinne Wheelers darauf hinweisen, dass bereits die Grundlage, auf der die alten Senatoren argumentieren, durch Livius’ eigenen Bericht widerlegt wird. Die genannten Manöver, die die Alten angeblich nicht angewendet haben, erscheinen bei ihm als festes Repertoire der Kriegskunst seit den ersten Tagen Roms, und es gibt hier keine Unterbrechung in den überlieferten Büchern. Gleichwohl markiert Livius mit dieser Stelle das Ende einer Entwicklung und dies gilt es zu verstehen: Die alte Generation vertritt einen politischen Standpunkt, den sie nicht gegen die jüngere durchsetzen kann. Dieser tritt auf als eine strikte fides-Politik gegen eine vermeintlich neue Politik der List im Kriege. Wenn aber zuvor keine listfreie Politik und Kriegsführung geherrscht hat, wovon reden die Senatoren dann in Wirklichkeit? Tatsächlich wird hier nicht erstmals der Konflikt zwischen List und fides zugunsten der ersteren beigelegt, sondern der Konflikt zwischen List und fides hört auf, Konflikt zu sein. Dies ist das Ergebnis einer langen Entwicklung, in der der strikte Dualismus zwischen List und fides immer wieder zu Aporien geführt hat. Wir werden im Folgenden exemplarisch zwei solche Aporien beleuchten (Caudium und die Politik des Fabius Maximus), um dann die Lösung des Konfliktes durch Scipio Africanus zu beobachten. Es ist sein politisches Erbe, das die Senatoren in der Senatssitzung von 171 v. Chr. eigentlich verhandeln und das Rom nicht ausschlägt.37 Es ist kein Zu-
nehmen lässt. Gerade aber die Untersuchungen Wheelers haben hier ihr Defizit: In seinem Bemühen nachzuweisen, dass die Römer ursprünglich keine moralischen Bedenken hatten, List einzusetzen, und die Moralisierung nur ein nachträglicher ideologischer Überbau sei, verlegt er sich ausgerechnet auf das Gebiet der List, das den römischen Autoren naturgemäß am wenigsten Probleme macht. Das Problem der List erscheint nicht im gewaltsamen Akt des Krieges, innerhalb dessen eigentlich zu allen Zeiten fast alles erlaubt war, sondern in der politischen Kommunikation, sowohl der innerrömischen als auch der mit den Nachbarvölkern. 36 Sie gelten zwar als moralisch unbedenklich (7, 4 praef.: Illa uero pars calliditatis egregia et ab omni reprehensione procul remota, cuius opera, quia appellatione Latina uix apte exprimi possunt, Graeca pronuntiatione strategemata dicantur.), aber Valerius erzählt nur wenige Beispiele. Die positive Bewertung mag von der Politik des Tiberius beeinflusst sein (s.o.); vor allem aber hat gerade die Isolierung der Beispiele, die Herauslösung aus jedem politischen Kontext, moralisch entlastend gewirkt, ähnlich wie bei den Büchern der militärischen Fachschriftsteller. 37 Ich halte es an dieser Stelle erneut für geboten darauf hinzuweisen, dass hier über die Logik der livanischen Darstellung gesprochen wird. Ob historisch das Jahr 171 v.
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fall, dass die Alten gegen die List sprechen, die Jungen sie befürworten. Es wurde bereits deutlich, dass die List eine Lizenz der iuuentus darstellt. Der Konflikt von alten und jungen Senatoren wiederholt zugleich den Streit von Fabius und Scipio. 3.2 Caudium 3.2.1 Eine Vorgeschichte im Ersten Samnitenkrieg Die Samnitenkriege werden von Livius als der Beginn der großen Kriege Roms angesehen, an den sich die Kämpfe mit Pyrrhus und den Karthagern anschließen (7, 29, 1f.). Die Kriegsursache sieht der Historiker zwar nicht in einem direkten Konflikt zwischen Samniten und Römern, weist die Schuld aber letztlich den Samniten zu, die mit ihren ungerechtfertigten Angriffen auf die Sidiciner (7, 29, 4: iniusta arma) schließlich auch deren Bündner, die Campaner, zwingen, bei den Römern Schutz zu suchen. Diese lehnen es zunächst ab, mit den Campanern eine amicitia einzugehen, die auf Kosten der durch ein foedus begründeten amicitia und societas mit den Samniten gehen könnte (7, 31, 2). Daraufhin erklären die Campaner die voraussetzungslose Übergabe ihrer Stadt an die Römer. Nun sehen sich diese gezwungen, für die dediticii bei den Samniten einzustehen (7, 31, 7): Tum iam fides agi uisa deditos non prodi; nec facturum aequa Samnitium populum censebant (sc. patres), si agrum urbemque per deditionem factam populi Romani oppugnarent.38 Als die Gesandten der Römer aber von den Samniten äußerst unfreundlich (7, 31, 11: ferociter) abgefertigt werden, erklärt Rom feierlich durch die Fetialen den Krieg (7, 32, 1). Bereits kurz nach Ausbruch des Krieges sehen sich die Römer einer den späteren Ereignissen um Caudium durchaus vergleichbaren Situation gegenüber. Während der eine Consul, M. Valerius Coruus, erfolgreich gegen die Samniten kämpft (7, 33, 13 – 18), gerät der andere, A. Cornelius Cossus, in
Chr. einen politischen Wechsel in der Auffassung von fides in Rom gebracht hat, ist nicht Thema dieser Arbeit. 38 Das ist eine deutliche Parallele zum Ausbruch des Ersten Punischen Krieges (deditio der Mamertiner) und natürlich – hier haben wir wieder den livianischen Bericht – zum Ausbruch des Zweiten Punischen Krieges (Sagunt). Vgl. Oakley (1998) S. 288f. zum Verhalten der Römer beim Söldneraufstand gegen Karthago (erst beim zweiten Male akzeptieren die Römer das Angebot, Sardinien zu übernehmen).
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einem Tal in einen Hinterhalt (7, 34, 1f.).39 Die Römer rettet eine List. Der Militärtribun P. Decius (Mus) besetzt mit einer kleinen Schar von Verwegenen einen Hügel, der sich innerhalb des Tales erhebt, und deckt so den Rückzug des Gesamtheeres (7, 34, 3 – 11). Die taktische Bewegung erscheint hier zugleich als Ablenkungsmanöver. Decius hatte diese für ihn selbst gefährliche Taktik eigentlich angeboten, um vom Hügel aus den Feind in Schach zu halten, während die Legionen abziehen. Tatsächlich aber kommt es gar nicht zu Gefechten, weil die Samniten irritiert den scheinbar sinnlosen Ausfall des Decius beobachten und ihre Blicke erst wieder wenden, als die Legionen bereits in Sicherheit sind. Damit zitiert Livius vermutlich eine vergleichbare Episode aus den Origines des Cato, in der sich während des Ersten Punischen Krieges der Militärtribun Q. Caedicius für ein solches Manöver meldet und schließlich als einziger überlebt.40 Caedicius ging es von Anfang an nur um eine Ablenkung der Punier vom Hauptheer unter Opferung sämtlicher daran beteiligter Soldaten (hundert mehr als die Spartaner unter Leonidas verloren),41 während der livianische Decius eine Form von Entlastungsmanöver vorschlägt, das durchaus die Rettung der beteiligten Soldaten offen lässt.42 Die Unschlüssigkeit der Samniten hat letztlich das decische Strategem in eine List verwandelt. Dieselbe Unschlüssigkeit führt auch im Folgenden dazu, dass Decius wiederum seine ursprünglichen Absichten fallen lässt und Gelegenheiten erkennt und ergreift, um Listen anzuwenden. Denn die Samniten wissen einfach nicht, was sie mit dem Feind anstellen sollen, der sich, zum Greifen nahe, auf einem Hügel verschanzt hat (7, 34, 11):
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Auch die caudinische Katastrophe folgt übrigens auf eine für die Römer erfolgreiche Schlacht. 40 Wilhelm Soltau, Livius’ Geschichtswerk: Seine Komposition und seine Quellen. Ein Hilfsbuch für Geschichtsprofessoren und Liviuslehrer, Leipzig 1897, S. 122. Gualtiero Calboli, Die Episode des Tribunen Q. Caedicius: (Cato, Orig. Frg. 7 – 43 Peter), in: Maia 48 (1996), S. 1 – 32, 22. FRH 3, 4, 7a (= Gell. 3, 7, 1 – 19). Es ist Gellius, der den Namen des Militärtribunen überliefert, Cato „verzichtet“ ja bekanntlich auf die Nennung von Namen. Ich betrachte die Entlehnung der Episode als ein weiteres Indiz dafür, dass Livius den Samnitenkrieg, für den seine Quellenlage dünn gewesen sein dürfte, teilweise analog zur Darstellung der Punischen Kriege organisiert. 41 Anuschka Albertz, Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2006, S. 94. FRH 3, 4, 7a: censeo, inquit, si rem seruare uis, faciundum, ut quadringentos aliquos milites ad uerrucam illam (…) ire iubeas, eamque uti occupent, imperes horterisque; hostes profecto ubi id uiderint, fortissimus quisque et promptissimus ad occursandum et pugnandumque in eos praeuertentur unoque illo negotio sese alligabunt, atque illi omnes quadringenti procul dubio obtruncabuntur. tunc interea occupatis in ea caede hostibus tempus exercitus ex hoc loco educendi habebis. alia nisi haec salutis uia nulla est. 42 7, 34, 5f.: cum quibus (i.e. mit einer Schar von hastati) ubi euasero in summum, perge hinc omni liber metu, teque et exercitum serua; neque enim moueri hostis, subiectus nobis ad omnes ictus, sine sua pernicie poterit. nos deinde aut fortuna populi Romani aut nostra uirtus expediet.
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et nunc circumdare undique collem armatis uolunt, ut a consule Decium intercludant, nunc uiam patefacere, ut degressos in uallem adoriantur. Incertos quid agerent nox oppressit. Decius wiederum hatte eigentlich erneut den offenen Kampf beabsichtigt. Als er aber die Unentschlossenheit der Samniten bemerkt, entschließt er sich, zwischen den gegnerischen Posten einen Fluchtweg zu suchen. Er tarnt sich und seine Centurionen mit den Kleidern gewöhnlicher Soldaten, damit die Samniten die Nähe römischer Offiziere nicht bemerken, und kundschaftet die feindlichen Stellungen aus (7, 34, 15). Als nächstes ruft er seine Soldaten zusammen und fordert sie auf, ohne Lärm bei den schlafenden Samniten durchzubrechen (7, 35). Decius wendet bei der Instruierung seiner Männer eine Rhetorik an, die sich in eigentümlicher Weise sowohl des Listals auch des uirtus-Vokabulars bedient (7, 35, 3): uirtute cepistis locum, uirtute hinc oportet euadatis. Das geplante Husarenstück – eine Art römischer Dolonie43 – wird summarisch als uirtus bezeichnet. Dennoch beruht es zu großen Teilen auf Täuschung, mit der die Unaufmerksamkeit der Gegner ausgenutzt wird (z.B. 7, 35, 6: eludere). Der Feind habe am vergangenen Tag eine Möglichkeit, die römischen Legionen zu vernichten, durch Nachlässigkeit und Trägheit (per socordiam) nicht ausgenutzt (7, 35, 5). In etwa der gleichen Weise argumentiert später Spurius Postumius, wenn er die Ungültigkeit der sponsio rechtfertigt, mit der die Römer von den Samniten aus der Enge von Caudium entlassen wurden (9, 9, 14f., zum Gesamtproblem im Folgenden): nec fas fuit alium rerum exitum esse quam ut illi uelut somnio laetiore quam quod mentes eorum capere possent nequiquam eluderentur, et nostrum exercitum eadem quae impedierat fortuna expediret, uanam uictoriam uanior inritam faceret pax, sponsio interponeretur quae neminem praeter sponsorem obligaret. Die Samniten seien bei Caudium in einem allzu glücklichen Traum befangen gewesen. Decius wiederum besiegt die Feinde im Schlaf (7, 35, 6 – 11): Quem uidentem ac uigilantem sic eluseritis, sopitum oportet fallatis, immo necesse est; in eo enim loco res sunt nostrae, ut uobis ego magis necessitatis uestrae index quam consilii auctor sim. (…) Ergo una est salus erumpere hinc atque abire. (…) Signo secundae uigiliae conuenistis, quod tempus mortales somno altissimo premit; per corpora sopita uadetis uel silentio incautos fallentes uel sentientibus clamore subito pauorem iniecturi (…). 43
Die Parallele vorsichtig erwogen von Oakley (1998) S. 338.
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Die Täuschung der Schlafenden ist hier die Taktik der Wahl für Decius, zu der er sich angesichts der prekären Lage gezwungen sieht. Erst als beim Durchmarsch durch die gegnerischen Posten einer der römischen Soldaten unbeabsichtigt mit seinem Schild anstößt und so die Feinde weckt, müssen die Römer den zweiten Plan verwirklichen und die Schlaftrunkenen rasch überrumpeln (7, 36, 3: Decius, quoniam non fallerent, clamorem tollere iussis torpidos somno insuper pauore exanimat, quo praepediti nec arma impigre capere nec obsistere nec insequi poterant.). In dem entstehenden Chaos gelangen sie sicher zum römischen Hauptlager. Am folgenden Tag überredet Decius den Consul, die Gunst der Stunde zu nutzen (7, 36, 10: dum occasio in manibus esset) und den erschreckten Feind anzugreifen. Auf diese Weise können die Römer das samnitische Lager erobern. Auf der makroskopischen Handlungsebene weist die Decius-Episode zahlreiche Übereinstimmungen mit der Darstellung der caudinischen Katastrophe auf: Eingebettet in eine Diskussion um die größeren, ja religiösen Zusammenhänge der Kriegsschuldfrage beginnen kriegerische Auseinandersetzungen, die die Römer zunächst siegreich bestehen, bevor sie in einen Hinterhalt geraten. Aus diesem Hinterhalt hilft ihnen die List heraus; die Moral der Kämpfenden geht aus der Krise gestärkt hervor. Aber mikroskopisch verschieben sich im Zweiten Samnitenkrieg zunächst sämtliche Parameter, sodass aus dem Heldenstück und der List hier eine Blamage und Rabulistik dort wird. Auch wenn Livius einiges unternimmt, um diesen Eindruck etwas zu mildern, war er es doch selbst, der die Folie im Bericht über den Ersten Samnitenkrieg geschaffen hat. Livius erscheint durchaus als ein geeigneter Kandidat für eine eigene Two-Voices-Theorie.44 3.2.2 Die Katastrophe von Caudium (Zweiter Samnitenkrieg) Von der Schlappe, die die Römer 321 v. Chr. bei Caudium gegen die Samniten erlitten haben wollen, berichtet der Historiker im neunten Buch. Obwohl sich Livius’ Bericht seit der gallischen Katastrophe, also etwa ab dem sechsten Buch von Ab Urbe Condita, mählich in dokumentarisch (für ihn) fassbare Zeit bewegt,45 sind die Ereignisse um jene erste von drei historischen Niederlagen (Caudium, Cannae und die Varusschlacht) kaum noch zu rekonstruieren (dazu s.u.). Um der apulischen Stadt Luceria rechtzeitigen Entsatz zu bringen, muss das römische Heer, das unter den beiden Consuln T. Veturius Calvinus und Sp. 44
Vgl. Sigrid Albert, Bellum Iustum. Die Theorie des „gerechten Krieges“ und ihre praktische Bedeutung für die auswärtigen Auseinandersetzungen Roms in republikanischer Zeit, Kallmünz 1980, S. 35f. mit Anm. 134. 45 6, 1, 3: Clariora deinceps certioraque ab secunda origine uelut ab stirpibus laetius feraciusque renatae urbis gesta domi militiaeque exponentur.
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Postumius bei Calatia stand, durch samnitisches Gebiet ziehen (9, 2, 6). Dabei geraten sie in der Nähe der samnitischen Stadt Caudium auf ein freies Feld zwischen zwei Pässen, die sie unversehens vom Feind besetzt finden (9, 2, 9f.). Hin- und Rückweg sind ihnen abgeschnitten, ein Ausfall erscheint hoffnungslos. Um die Vernichtung des römischen Heeres zu verhindern, unterwerfen sich die Consuln mit ihrem Heer und verpflichten sich durch eine sponsio, unter Mitnahme der römischen Kolonien aus dem samnitischen Territorium abzuziehen und ein foedus aequum abzuschließen (9, 4, 3 – 5; 9, 5, 1 – 6). Sie weisen jedoch darauf hin, dass eine sponsio nur vorläufigen Charakter habe, und empfehlen, Gesandte nach Rom zu schicken (9, 5, 1). Der samnitische Imperator C. Pontius begnügt sich aber mit Geiseln, die er sich von den Römern stellen lässt. Das römische Heer wird unter das Joch geschickt und kann waffenlos abziehen (9, 5, 11 – 9, 6, 3). Zurück in Rom reut die Römer dieser für sie so ungünstige Vertrag. Erst nach der Wahl neuer Consuln kann im Senat über die Angelegenheit debattiert werden (9, 8, 1). In dieser Sitzung argumentiert Postumius, dass die Römer von den Samniten in einen militärischen Hinterhalt gelockt worden seien und es keinen wirklichen Kampf gegeben habe. Der Vertrag mit den Samniten binde nicht das ganze römische Volk, sondern nur die unmittelbar verantwortlichen Magistrate, die eine sponsio, also Bürgschaft geleistet hätten. Postumius bietet deshalb an, sich selbst den Samniten auszuliefern und so der sponsio gerecht zu werden (9, 8, 3 – 10; 9, 9). Die Fetialen liefern die ehemaligen Consuln und die übrigen Beamten und Offiziere, die die Bürgschaft geleistet haben, nackt und gefesselt bei den Samniten ab. Darüber hinaus erklärt sich Postumius nun (kraft der deditio) selbst zum samnitischen Bürger und schlägt den römischen Gesandten heftig gegen das Knie, um so einen samnitischen Übergriff gegen den Schutz der Gesandten zu inszenieren (9, 10, 6 – 10). Der samnitische Feldherr Pontius weist dieses Ansinnen empört zurück und verweigert die Annahme der Bürgen. Für die Tricks des Postumius hat er, verständlicherweise, nur Hohn übrig, gleichzeitig erscheint ihm dieses Vorgehen so durchsichtig, dass er sich eine weitere Diskussion erspart und umstandslos die Wiederaufnahme des Krieges erklärt (9, 11). 3.2.3 Caudium und die Mancinusaffäre Auf die Parallelen mit der decischen List wurde bereits hingewiesen. Tatsächlich gibt es noch mehr Intertexte, die Livius kunstvoll ineinander verwoben hat, um die Problematik von Caudium für seine zeitgenössischen Leser zu aktualisieren.46 46 Seine Darstellung ist die ausführlichste überhaupt und zugleich die früheste noch erhaltene historische Erzählung der Ereignisse; daneben existieren aber noch weitere
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Heinrich Nissen hat in einem viel zitierten Aufsatz bereits 1870 auf die Parallelen des livianischen Berichtes über die caudinische Katastrophe und der Mancinusaffäre aus den Jahren 137/136 hingewiesen. Die Übereinstimmungen haben Nissen zu dem Schluss geführt, dass die caudinische Erzählung nach dem jüngeren Ereignis gestaltet worden sei. Dabei fußt Livius seinerseits auf historischen Fiktionen der Annalistik, die mehr oder minder im Zusammenhang mit der Mancinusaffäre selbst entstanden, also politisch bedingt sind, um für die Abweisung der numantinischen Übereinkunft einen Präzedenzfall in der römischen Geschichte zu schaffen. Wieviel zu diesem Zweck hinzuerfunden wurde, ist nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Debatten, in ihrem Kern aber ist Nissens These zu Recht nicht mehr in Frage gestellt worden; sie erklärt eine Reihe von Besonderheiten im livianischen Bericht:47 Parallelberichte und einige Referenzen bei anderen Autoren, die durchaus nicht alle auf Livius, sondern auf die einschlägigen Annalisten (C. Quadrigarius, Valerius Antias) oder Dionys von Halikarnass zurückgehen. Vgl. Merten (1965) S. 68ff. Für die Kurzbiographien De viris illustribus und einige Parallelberichte bei Ampelius, Eutrop und in den Lukanscholien meint Joachim Fugmann, Königszeit und Frühe Republik in der Schrift „De viris illustribus urbis Romae“. Quellenkritisch-historische Untersuchungen II, 2: Frühe Republik (4./3. Jh.), Frankfurt am Main 2004, S. 127 – 148 nachweisen zu können, dass sie aus einer von Livius unabhängigen Quelle stammen. Besonders überzeugend ist dabei der Nachweis, dass der Autor von Vir. ill. die Namen sowohl eines der Consuln als auch des samnitischen Oberbefehlshabers falsch überliefert, damit aber einen Bindefehler zu den genannten anderen Autoren bietet. Problematisch dagegen ist seine Analyse der narrativen Einheiten, bei denen er bestimmte Abweichungen zwischen dem livianischen Bericht und dem von Vir. ill. zum Anlass nimmt, auf eine alternative Texttradition zu schließen. Diese Abweichungen wären aber durch die notwendigen Kürzungen, die der Autor der Kurzbiographien vornehmen musste, hinlänglich erklärt. Zu Livius als Quelle späterer Versionen vgl. Heinrich Nissen, Der Caudinische Friede, in: RhM N.F. 25 (1870), S. 1 – 65, hier: S. 44. 47 Die Volkstribunen verweigern bei Livius zunächst ihre eigene Auslieferung mit drei Argumenten (9, 8, 13 – 15): Das römische Volk werde durch die deditio Einzelner nicht von seiner religio gelöst. Um dies zu erreichen, müsste man das ganze Heer zurück in die caudinischen Pässe bringen und so den status quo wieder herstellen; ihre eigene Auslieferung sei nicht einsehbar, da sie doch das Heer durch die sponsio gerettet hätten und folglich keine Strafe verdienten, und zuletzt seien sie durch ihr Amt sakrosankt. Postumius ergreift daraufhin noch einmal das Wort (9, 9) und bezichtigt die Tribunen der Feigheit, weil das Fetialrecht eine solche restitutio in pristinum nicht vorsehe. Die Rede gelingt ihm so beeindruckend, dass die Tribunen ihren Protest zurückziehen (9, 10, 1). Dies scheint ein Reflex auf die Rolle des Tiberius Gracchus zu sein, der sich in der Nachbereitung der numantinischen Blamage erfolgreich gegen die deditio gewehrt hatte, gleichzeitig aber einen politischen Imageschaden zu verkraften hatte, der möglicherweise das Movens für seine späteren popularen Aktionen gebildet hat: Vell. 2, 2, 3. Nissen (1870) S. 54f. Ferner haben die Numantiner ihrerseits die restitutio in pristinum gefordert (Nissen [1870] S. 56), die damit im Übrigen nicht mehr als so absurd erscheint, wie sie Postumius hier darstellt (die Samniten fordern sie schließlich auch). Auch das Verschwinden des zweiten Consuls Veturius aus der caudinischen Erzählung, die Fokussierung also auf einen Helden, ent-
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Der Consul C. Hostilius Mancinus war nach mehreren erfolglosen Operationen gegen die Numantiner von diesen umzingelt worden und konnte seine Truppen nur durch Gewährung eines foedus aequum frei bekommen. „Eine Anzahl von Oberoffizieren, der Quaestor Tib. Gracchus an der Spitze, verbürgten sich außerdem als Sponsoren für die Aufrechterhaltung des Vertrags.“48 Das Heer wurde zwar nicht unter das Joch geschickt, musste aber Gepäck und Waffen übergeben. Mancinus wurde vom Senat nach Rom gerufen, wo die Verhandlungen über die Ereignisse ebenfalls bis zum nächsten Jahr (136) warten mussten, weil der Consul erst aus dem Amt zu scheiden hatte. Mancinus wird genötigt, selbst seine Auslieferung zu beantragen; die anderen sponsores, allen voran Tiberius Gracchus, können die Schuld erfolgreich auf den Consul allein schieben und entgehen der Auslieferung. Mancinus wird nackt und gefesselt vor Numantia ausgesetzt und kehrt, nachdem er einen Tag lang dort ausgehalten hat und nicht eingeholt wird, wieder nach Rom zurück. Dort entsteht ein politischer Streit, ob er durch die Dedition überhaupt noch Bürgerrecht genieße, der mit dem Argument, die Numantiner hätten den Ausgelieferten nicht angenommen, schließlich zugunsten des Mancinus entschieden wird.49 Die dediticii in Livius’ Bericht über die Ereignisse direkt nach Caudium können nach der Ablehnung der Auslieferung ohne weiteres in das römische Lager zurückkehren. Bei Mancinus war bereits dieser Schritt problematisch, weil der Bürgerstatus eines dediticius fragwürdig war; es musste erst ein augurium eingeholt werden, um ihn wieder in den römischen Verband aufzunehmen.50 Postumius aber begründet seinen Völkerrechtsbruch zugunsten der Römer, wie bereits erwähnt, gar damit, dass er sich selbst
spricht den numantinischen Vorfällen, bei denen nur ein Consul vor Ort und verantwortlich war (Nissen [1870] S. 55). 48 Nissen (1870) S. 51. 49 Nissen (1870) S. 52. Cic. de orat. 1, 40, 181. Die Mancinusaffäre wird in der Literatur des Öfteren behandelt, wobei letztlich alle Darstellungen dieser – wie auch der caudinischen – Katastrophe auf Nissen (1870) zurückgehen (zu Mancinus: S. 50 – 57, S. 50 werden die Hauptquellen genannt): K. J. Neumann, Foedus, in: RE 6, 2, Sp. 2818 – 2827; Fernand de Visscher, La Deditio internationale et l’affaire des Fourches Caudines, in: CRAI (1946), S. 82 – 95; Helmut Simon, Roms Kriege in Spanien, 154 – 133 v. Chr., Frankfurt am Main 1962; Alan E. Astin, Scipio Aemilianus, Oxford 1967, S. 130 – 133 und 150 – 152, 181; Michael Crawford, Foedus and sponsio, in: PBSR 41 (1973), S. 1 – 7; Rüpke (1990) S. 110f.; Nathan Rosenstein, Imperatores Victi. Military Defeat and Aristocratic Competition in the Middle and Late Republic, Berkeley – Los Angeles – Oxford 1990, S. 55 und 149; Mary Beard/ John North/ Simon Price, Religions of Rome. Vol. 1: A History, Cambridge 1998, S. 111f.; Gary Forsythe, Livy and Early Rome: A Study in Historical Method and Judgement, Stuttgart 1999, S. 71; Tim J. Cornell, The Beginnings of Rome. Italy and Rome from the Bronze Age to the Punic Wars (c. 1000 – 264 BC), London 1995, S. 353; Ogilvie (1965) S. 128. 50 Nissen (1870) S. 56.
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bereits als Samnite betrachtet.51 Dies hätte ihm die Rückkehr eigentlich noch schwerer machen müssen als dem Mancinus. Nur wenn man sich vorstellt, dass die caudinische Episode der numantinischen nachgebildet wurde, wenn also die Klärung der Rechtsfrage zugunsten des dediticius vorausgesetzt wird, wird dieser Widerspruch erklärlich (bleibt aber ein Widerspruch innerhalb der Logik der Erzählung52). Solche Befunde und der Umstand, dass der Krieg zwei Jahre ausgesetzt wurde, haben bei einigen modernen Autoren dazu geführt, die caudinische deditio ganz in den Bereich der Fiktion zu verweisen.53 Dieser Punkt lässt sich kaum abschließend klären.54 Hinzu kommen Probleme der Identität der beteiligten Personen und, wie häufig bei Berichten aus dieser Zeit, der Lokalisierung des Passes von Caudium.55 Es ist ebenso unklar, worin die Niederlage genau bestand.56 Bei Livius erscheint sie als ein jeden Kampf lähmender Hinterhalt, Cicero spricht von Kampfhandlungen.57 Durch ihre 51
Etwas lapidar Stephen P. Oakley, A Commentary on Livy. Books VI – X. Vol. III: Book IX, Oxford – New York 2005, S. 136: „Postumius does not seem to have allowed for the fact that the Samnites might not accept the surrender.“ 52 Entweder war Postumius samnitischer Bürger allein schon durch seinen Status als dediticius, dann hätte er nicht ins römische Lager zurückkehren können, oder er war es nicht, dann beruht sein Trick, den römischen Gesandten zu schädigen, auf einer falschen Voraussetzung. Diesen Widerspruch hebt Livius nicht auf. 53 Crawford (1973) S. 6f. Rüpke (1990) S. 111. 54 Plutarch Ti. Gracchus 7, 827 und App. Ib. 83 berichten übereinstimmend, dass die Auslieferung der Führung des caudinischen Heeres als Argumentationsgrundlage für die des Mancinus gedient hatte (Nissen [1870] S. 53; Wolfgang Liebeschuetz, The religious position of Livy’s History, in: JRS 57 (1967), S. 45 – 55, hier: S. 45 Anm. 9). Es könnte also durchaus bereits nach Caudium zu einer deditio gekommen sein. Die zweijährige Unterbrechung der Kriegshandlungen erklärt sich dabei entweder aus dem Umstand, dass man die Rückgabe der Geiseln (die nach der Räumung von Fregellae erfolgt sein dürfte) abgewartet hatte oder dass es religiöse Bedenken gab, den Krieg direkt zu beginnen. Auch Scipio greift Numantia erst nach einer Pause von zwei Jahren an, obwohl der Vertrag verworfen wurde. Cornell und Beard et al. halten es für möglich, dass die caudinische Katastrophe deshalb politisch und literarisch zu einem Vorläufer der Mancinusaffäre wurde, weil hier zum ersten Mal ein foedus durch den Senat kassiert worden ist. Tatsächlich ist diese Argumentation bereits bei Nissen entwickelt, auch wenn sie, vermittelt durch den RE-Artikel von Neumann, bisweilen verkürzt so wiedergegeben wird, als habe Nissen die Verwerfung des Vertrages mit dem Argument, dass der Friede zwei Jahre gehalten habe, in das Reich der Fiktion verwiesen. 55 Nicholas Horsfall, The Caudine Forks: Topography and Illusion, in: PBSR 50 (1982), S. 45 – 52. Das Problem wird auch erörtert von Nissen (1870) und Oakley (2005). 56 Eigentlich ist nur eines unstrittig: Die Römer gerieten im Verlaufe des Zweiten Samnitenkrieges im Pass von Caudium in eine derart ausweglose Situation, dass die Feldherren vor Ort mit den Samniten eine für Rom ungünstige Abmachung getroffen haben, die politisch als so demütigend empfunden wurde, dass der Vorgang im historischen Gedächtnis der Römer einen Platz neben den anderen großen Niederlagen (Galliersturm, Cannae usw.) fand, vgl. Nissen (1870) S. 58 und 63. 57 Cic. Cato 12, 41: cum C. Pontio Samnite, patre eius, a quo Caudino proelio Sp. Postumius T. Veturius consules superati sunt; off. 3, 30, 109 at uero T. Veturius et Sp. Postumius, cum iterum
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selbstverständliche Beiläufigkeit hat sein Zeugnis eine gewisse Glaubwürdigkeit. Es muss keine regelrechte Schlacht gewesen sein, aber es ist unwahrscheinlich, dass die Römer wirklich, wie bei Livius dargestellt, kampflos an ihrer Situation verzweifelten.58 Diese Form der Darstellung ist für Livius aus zwei Gründen wichtig: Zum einen schildert er auch sonst keinen samnitischen Sieg59 und kann so erreichen, dass die Römer letztlich militärisch ungeschlagen bleiben,60 zum anderen erliegen die Römer insidiae und werden damit der Möglichkeit einer iusta pugna beraubt. Schon allein der Umstand, dass die Römer der Stadt Luceria Entsatz bringen wollten, geht bei Livius auf eine List der Samniten zurück, die sehr genau vorbereitet wurde (9, 2, 1 – 5). Daraus leitet er eine moralische Rechtfertigung für den Bruch der sponsio ab.61 Die Natur der Abmachung ist unsicher: War es ein foedus, wie es Claudius Quadrigarius kennt, oder nur eine sponsio, worauf Livius beharrt?62 consules essent, quia cum male pugnatum apud Caudium esset, legionibus nostris sub iugum missis pacem cum Samnitibus fecerant, dediti sunt iis, iniussu enim populi senatusque fecerant, vgl. Nissen (1870) S. 21f.; Oakley (2005) S. 10 hält es für möglich, dass es überhaupt erst Livius’ Erfindung ist, dass bei Caudium gar nicht gekämpft wurde. 58 Nissen (1870) S. 58 geht von der Reihenfolge Hinterhalt – Kämpfe – Kapitulation aus. Er argumentiert hier zunächst mit der Kürze der ciceronischen Belegstellen (vgl. auch Gell. 17, 21, 36), denen er nur eingeschränkten Beweiswert zumisst. Wenn auch der livianische Bericht nur verstümmelt auf uns gekommen wäre, so argumentiert er, hätte man aus der Einleitung (9, 1, 1: sequitur hunc annum nobilis clade Romana Caudina pax), auch eine Schlacht erwartet, die dann aber nicht geschildert wurde (S. 22). Dagegen muss man immerhin sagen, dass clades gerade deshalb von Livius gewählt worden ist, weil es nicht eindeutig auf ein Kampfgeschehen hinweist, das ciceronische proelium aber sehr wohl. Richtig ist aber, dass ein proelium keine regelrechte Schlacht (pugna iusta) sein muss. 59 Nissen (1870) S. 2f. 60 Nissen (1870) S. 23 hält dies für eine Tendenz der gesamten römischen Überlieferung. Diese Folgerung geht aber aufgrund seiner eigenen Argumentation zu weit, nach der es für die Römer zunächst einmal ein Problem darstellt, dass die Consuln sich ergeben haben sollen, ohne auch nur einen Ausfall versucht zu haben (S. 21). Die Kampflosigkeit spielt zunächst einmal nur für Livius eine Rolle, der so betont, dass die Römer überhaupt keine Chance hatten, eine pugna iusta gegen die insidiae zu setzen. 61 Es ist wahrscheinlich, dass es sich in der Tat um ein foedus gehandelt hat. Bisweilen wird ein solches noch durch eine sponsio bekräftigt, sodass die Argumentation des Livius, allein der Umstand, dass es Bürgen und Geiseln gab, schließe aus, dass es sich um einen Vertrag gehandelt habe, hinfällig ist. Liv. 9, 5, 2f.: Itaque non, ut uolgo credunt Claudiusque etiam scribit, foedere pax Caudina sed per sponsionem facta est. Quid enim aut sponsoribus in foedere opus esset aut obsidibus, ubi precatione res transigitur, per quem populum fiat quo minus legibus dictis stetur, ut eum ita Iuppiter feriat quemadmodum a fetialibus porcus feriatur? Dazu Nissen (1870) S. 46 – 48; Crawford (1973) S. 3. 62 Liv. 9, 5, 2. FRH 14 F 18. Ebenso wenig kennen wir die Reaktion der römischen Politik: Die Quellen, allen voran wieder Livius, behaupten zwar eine Verwerfung des Vertrages durch den Senat, einiges spricht aber dafür, dass Rom den Krieg mehrere Jahre lang ausgesetzt hat, vgl. Cornell (1995) S. 353 mit Anm. 24.
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Allerdings verdeckt auch im livianischen Bericht diese juristische Argumentation das eigentliche Problem. Staatsrechtlich müsste auch ein im Felde geschlossenes foedus vom römischen Volk noch bestätigt werden. Caudium wäre der erste Fall, in dem der Senat einen im Felde paraphierten Vertrag kassiert hätte (es kommt ja gar nicht erst zu einer Vorlage an das Volk):63 Allein der Umstand, dass es sich um einen Präzedenzfall handelt, lässt die Samniten als die Geprellten dastehen, denn diese haben sich am bisherigen Usus der Römer orientiert. Ob der Vertrag wirklich verworfen wurde, lässt sich nicht mehr klären.64 In der Geschichte der römischen Könige war zu erleben, wie das Recht als remedium der List begonnen hatte. Die Tyrannis der Dezemvirn hatte diesen Anspruch innenpolitisch fragwürdig gemacht. Die caudinische Katastrophe treibt diese Problematisierung weiter: Wie kann ein Recht außenpolitisch fides herstellen, wenn es bereits innenpolitisch zu einem manipulierbaren Spezialdiskurs geworden ist? 3.2.4 Bewegliches Recht Der berühmte Bericht um die Katastrophe von Caudium steht, wie sich gezeigt hat, bei Livius in mehreren intra- und extratextuelle Beziehungen,65 die neben der Mancinusaffäre die Decius- und damit auch die Caediciusepisode umfassen. Das Verhalten des Decius, wie auch das des catonischen Caedicius, tragen außerdem Züge einer (auch wieder decischen) deuotio.66 63
Crawford (1973) S. 3. Dieser Aspekt ist für die vorliegende Untersuchung irrelevant, deshalb verweise ich auf die einschlägige Literatur, aufbereitet zuletzt bei Oakley (2005) S. 3 – 38, 648 – 651. Für erfunden halten die Ablehnung des Vertrages z.B.: Crawford (1973) – ihm scheinen auch die Sympathien Oakleys zu gehören, etwa S. 27; Forsythe (1999) S. 71. Für authentisch besonders Tim J. Cornell, The Conquest of Italy, in: Frank W. Walbank u.a. (Hgg.), The Cambridge Ancient History. Second Edition. Vol. VII, 2. The Rise of Rome to 220 B.C., Cambridge 1989 (ND 1994), S. 351 – 419, hier: S. 370 – 371 und Luigi Loreto, Per una Quellenforschung della pax Caudina, in: BIDR 92 – 93 (1989 – 1990b), S. 653 – 665. 65 Wobei die extratextuellen Bezüge eher durch die Überlieferungssituation bedingt sind. Tatsächlich wird, genau wie im Falle der Coruinus- und Torquatusepisoden, damit zu rechnen sein, dass Livius sowohl von Caedicius als auch von Mancinus berichtet hat. Damit sind dies ebenfalls werkimmanente Intertexte. Grundsätzlich spielen auch die Schlachten bei den Thermopylen (480 und 191 v. Chr. [letztere unter Beteiligung Catos]) eine Rolle, vgl. Beck/ Walter I (2005) S. 203 und Albertz (2006) S. 94. 66 Beck/ Walter I (2005) S. 203 zu FRH 3, 4, 7a mit Verweis auf Livius 8, 10, 11. Calboli (1996) S. 22. Cic. Div. 1, 51 macht den Zusammenhang explizit. Decius habe während des Samnitenkriegs geträumt, er werde, während er von Feinden umgeben sei, mit höchstem Ruhm untergehen: Et tum quidem incolumis exercitum obsidione liberauit, post triennium autem cum consul esset deuouit se et in aciem Latinorum inrupit armatus. Quo eius facto superati sunt et deleti Latini. Cuius mors ita gloriosa fuit, ut eandem concupisceret filius. Vgl. dazu auch Oakley (1998) S. 332f. 64
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Man darf als gegeben voraussetzen, dass sich Livius der Verbindung der beiden Episoden (Caudium und Numantia), die wohl auch seine Quellen allenthalben spürbar gemacht haben, bewusst war.67 Er selbst nutzt regelmäßig die semantischen Potentiale von Parallelhandlungen und könnte dies in bewährter Manier auch in Buch 5568 getan haben, als er selbst zur Darstellung der Mancinusaffäre ansetzt.69 Gleichzeitig ist aber klar, dass Livius’ Primärinteresse, ein Jahrhundert nach den Ereignissen, nicht mehr darin liegt, die konkreten Vorgänge von Numantia mit Caudium zu rechtfertigen.70 Sein Hauptaugenmerk liegt hier tatsächlich auf dem Problem zwischenstaatlicher fides und ist von der augusteischen Konzeption des Fetialrechts geprägt. In diesem Zusammenhang spielt die List eine entscheidende Rolle. Das Verhalten des Postumius während der Auslieferung lässt sich kaum aus den hier präsentierten Rekonstruktionen der Quellenforschung erklären. Wenn er sich zum samnitischen Bürger erklärt und damit einen samnitischen Übergriff auf die römischen Gesandten inszeniert, wird das Problem der gebrochenen sponsio von der staatsrechtlichen auf eine moralische Ebene gehoben, denn nun zeigt sich das Recht in seiner Manipulierbarkeit.71 Gerade die Erfahrung mit Mancinus und seinem nach der 67
Er selbst hat von dem Ereignis in den Büchern 55 und 56 berichtet, wie aus den periochae hervorgeht. Freilich erfährt man nichts über die argumentative Ausgestaltung. 68 Perioch. 55: C. Hostilio Mancino cos. sacrificante pulli ex cauea euolauerunt; conscendenti deinde in nauem, ut in Hispaniam proficisceretur, accidit uox: ‚Mane, Mancine‘. Quae auspicia tristia fuisse euentu probatum est. Victus enim a Numantinis et castris exutus, cum spes nulla seruandi exercitus esset, pacem cum his fecit ignominiosam, quam ratam esse senatus uetuit. XXXX milia Romanorum ab IIII milibus Numantinorum uicta erant. 69 Letztere Bezeichnung (Parallelhandlung) scheint mir unter literarischen Gesichtspunkten angemessener zu sein als die der ‚Doublette‘. Der Historiker bietet ein zyklisches Geschichtsbild, nach dem Rom immer wieder politische Läuterungen erlebt, die aus Katastrophen resultieren (Miles [1995] S. 94). Diese Läuterungen beenden einen moralischen Niedergang, der aus dem trügerischen Gefühl politisch-militärischer Macht herrührt und versetzen Rom in eine Art unbefleckten Urzustand zurück. Die Parallelepisoden sind ein notwendiges Stilmittel, um dieses zyklische Geschichtsbild narrativ einzulösen; der Historiker kann mit ihnen sowohl innerhalb eines Epochenabschnittes den Niedergang deutlich machen (etwa der zweite Sabinerinnenraub, bei dem die Römer diesmal Dirnen rauben [2, 18, 2]) als auch die Wiederkehr eines bestimmten Epochenabschnitts kennzeichnen. Nicht gemeint sind hier die echten Doubletten, bei denen Livius entgangen ist, dass er etwas bereits einmal erzählt hat (z.B. ouatio des Marcus Fuluius Nobilior, vgl. Luce [1977] S. 80). 70 Durch die ungewöhnliche Einlage etwa, mit der er das Verhalten der Tribunen bei den caudinischen Ereignissen geißelt, erscheint es eher wahrscheinlich, dass er die mit den numantinischen Vorkommnissen verbundene Problematik radikaler popularer Politik betonen möchte, durchzieht doch der innenpolitische Konflikt zwischen Plebejern und Patriziern, der den zwischen Popularen und Optimaten präfiguriert, sein gesamtes Werk, vgl. Gutberlet (1985) S. 14, 27. 71 Man könnte allenfalls behaupten, dass diese Episode in der Auseinandersetzung um das Bürgerrecht des Mancinus entstanden ist, um in dem damals schwer entscheidbaren Streit gegen den Exconsul zu argumentieren. Daneben existieren aber auch Nachrichten,
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deditio prekären Bürgerrecht denunziert das listige Verhalten des Postumius. Da Pontius die deditio nicht akzeptierte, war Postumius vor dem Hintergrund der Debatte von 136 v. Chr. zu keinem Zeitpunkt samnitischer Bürger. Aber auch ohne diesen Hintergrund kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass die Rabulistik des Exconsuls (Th. Mommsen: „Advokatenund Pfaffencasuistik“72) das Verhalten der Römer desavouiert. Die Samniten beklagen die Willkür, die die Römer sich bei der Anwendung ihres Fetialrechts zuschulden kommen lassen, in so eindrucksvoller Weise,73 dass Livius nach dem Abgang der römischen Delegation resümieren muss (9, 11, 13): Et illi quidem, forsitan et publica, sua certe liberata fide ab Caudio in castra Romana inuiolati redierunt.74 Das ist gerade deshalb so auffällig, weil Livius sich erst mit seiner Theorie von der sponsio so große Mühe gibt, die rechtliche Seite zugunsten der Römer zu entscheiden.75 So ergibt sich, dass Livius die Episode von Caudium als ein Patt von Rechtsnormen und Rechtsempfinden/ Billigkeit, von ius und aequitas inszeniert.76 Die Manipulierbarkeit des Rechts hat auf der Schwelle von später Republik und frühem Prinzipat eine grundsätzliche Relevanz, die Livius auch kenntlich macht. Das Vorspiel der decischen List versorgt die Ereignisse von Caudium ja zunächst mit einer unproblematischen Variante: Der junge (!) Militätribun agiert hier selbstlos und mutig; seine List orientiert sich an den sich ihm immer wieder bietenden occasiones, die nicht auszunützen ein Zeichen von Dummheit gewesen wäre. Durch die Codierung der List als deuotio ist das Husarenstück nicht allein den deuotiones der anderen Decier vergleichbar, sondern erscheint auch als ein Gegenstück zur Mission des (jungen) Scaevola, dessen an sich problematisches Verhalten – ein dass einer der ausgelieferten Legaten von Caudium später Dictator wurde; es ist, alles in allem, unwahrscheinlich, dass dieser Punkt wirklich erfolgreich in die Debatte hätte geworfen werden können. 72 Theodor Mommsen, Römische Geschichte. Erster Band bis zur Schlacht von Pydna, Frankfurt am Main 2006 (ND von 61874), S. 366. M. ist allerdings der Auffassung, dass die Römer insgesamt im Recht waren. 73 Liv. 9, 11, 7: Et semper aliquam fraudi speciem iuris imponitis. Vgl. Wheeler (1988) S. 63. 74 Merten (1965) S. 70; Bernardo Albanese, Foedus e Ius Iurandum; Pax per Sponsionem, in: Annali del Seminario Giuridico della Università di Palermo 46 (2000), S. 49 – 75, 63. 75 Oakley (2005) S. 17f. 76 Das beobachtet bereits Nissen (1870) S. 43: „Wir erkennen deutlich, wie ungenügend und fremdartig die ganze Auffassung dem Livius ist; er legt vom Standpunkt der allgemeinen Moral aus dem C. Pontius treffende Worte dagegen in den Mund (…). Allein in allem dem spricht sich eben nur das subjective Urtheil des Schriftstellers aus: an den Thatsachen wird Nichts geändert, die Samniten sind die verdienter Massen geprellten; Postumius der Retter des Staates, seine Hingabe der Devotion eines Decius vergleichbar.“ Ich glaube nicht, dass man die Meinung des Livius hier nur als einen persönlichen Kommentar begreifen darf, sondern sie führt in den Kern seiner Darstellungsabsicht bei dieser Episode, s. das Folgende. Vgl. auch Kapitel 2 Anm. 119 zu Baier (2003).
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verdeckter Mordanschlag – durch das große Risiko des Handlungsträgers gerechtfertigt erscheint. Decius erscheint so als der Idealtypus des römischen Listigen, dessen Verhalten im Ausnutzen einer occasio unter Einsatz des eigenen Lebens besteht. Es ist gewiss auch kein Zufall, dass Decius hier noch als iuuenis auftritt. Neben dieser idealtypischen Variante erscheint die caudinische Episode deutlich problematischer: Die Samniten befinden sich bereits am Anfang des Konflikts in der moralisch überlegenen Situation: Nach einer verlorenen Schlacht (322 v. Chr. gegen die Römer unter Cornelius Cossus Arvina) besinnen sie sich darauf, dass sie selbst das foedus mit den Römern gebrochen hatten (8, 39, 10 – 15) und schicken Gesandte nach Rom, um Genugtuung zu leisten (9, 1, 3: ad dedendas res). Als diese deditio vom Senat nicht vollständig angenommen wird (8, 39, 15: ceterarum rerum inrita fuit deditio), weiß C. Pontius die Götter jetzt auf der Seite der Samniten (9, 1, 4): satis scio, quibuscumque dis cordi fuit subigi nos ad necessitatem dedendi res quae ab nobis ex foedere repetitae fuerant, iis non fuisse cordi tam superbe ab Romanis foederis expiationem spretam. Die Römer setzen daher den Krieg in ungerechter Weise fort – sie fallen damit hinter das exemplum des Tullus Hostilius zurück (s.o.), der das Fetialrecht zwar manipulierte, aber doch genau darauf achtete, dass zuerst die Albaner die rerum repetitio ablehnten – und erhalten bei Caudium die Quittung. Der auffälligste Unterschied zur Deciusepisode aber ist die Verrechtlichung der Vorgänge. Hatte sich für Decius eine occasio ergeben, die nicht zuletzt durch eine Besonderheit des Geländes ermöglicht wurde (ein Hügel innerhalb des Kessels, in dem sich das Heer befand), ergibt sich für die Römer im Pass von Caudium keine solche occasio. Während Decius eine unglaubliche Beweglichkeit an den Tag legt, befindet sich das Heer des Postumius und Veturius in einer lähmenden Starre. Diese Starre der körperlichen Bewegung wird erst durch die Beweglichkeit des Rechts wieder aufgehoben. Und diese Beweglichkeit des Rechts, eines Rechts, das listig ist, wo die Handlungsträger es nicht mehr sein können, wird von Livius problematisiert. Es bilden dabei zwei zeitgenössische Rechtsentwicklungen den Hintergrund seiner Darstellung: die Konstruktion des Fetialrechts innerhalb der augusteischen Herrschaftsideologie und die im engeren Sinne juristische Diskussion um die fraus legis.
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3.2.5 Augusteisches Recht Erst unter Augustus wird das Fetialrecht als eine umfassende Ordnung religiös und juristisch gefasster zwischenstaatlicher Kommunikation konstruiert und auf die Frühzeit Roms rückprojiziert. So hat die Aufgabe der Fetialen ursprünglich nicht in der Erklärung von Krieg und Frieden bestanden, sondern nur in der rerum repetitio. Erst unter dem Einfluss hellenistischer Theorien empfand Rom die Notwendigkeit, den Feind von seinen Kriegsbeschlüssen zu unterrichten. Der viel diskutierte Speerwurfritus, den Octavian 32 v. Chr. gegen Marc Anton als Kriegserklärung aufwändig inszenierte, gehörte nicht zu den fetialen Kompetenzen. Auch die deditio noxae stellt eine späte Konstruktion (Mancinusaffäre) dar, die ursprünglich nicht an die Fetialen gebunden war.77 Die Konstruktion einer großzügigen – weil durch rechtliche Fixierung verlässlichen – Regelung außenpolitischer Konflikte hat ihren Ursprung also bereits im Aufstieg Roms zur Weltmacht und kulminiert in den ostentativen Verrechtlichungstendenzen der augusteischen Herrschaftsideologie. Ähnlich wie der eigentümliche Zuschnitt der kaiserlichen Kompetenzen (tribunicia potestas, imperium proconsulare) ist diese Konzeption janusköpfig: Zum einen stellt sie eine Selbstverpflichtung des princeps zu einer berechenbaren Kommunikation dar, zum anderen ist sie manipulativ zu handhaben.78 Ein Bewusstsein für diese Janusköpfigkeit der gesamten augusteischen Restauration der römischen „Republik“ unter monarchischen Vorzeichen ist in den meisten literarischen Quellen der frühen Kaiserzeit zu spüren und wird von Livius in seinem berühmten Ausspruch nec uitia nostra nec remedia pati possumus ja programmatisch gemacht. Dieser Umstand ist bekannt und muss hier nicht vertieft werden. Livius Darstellung der Ereignisse von Caudium problematisiert exemplarisch die Reichwerte von Rechtsprinzipien, die für gewohnheitsmäßige Sieger erstellt wurden. Dies kann er folgerichtig nur an einer Niederlage tun und als eine solche ist die caudinische Schlappe konzipiert.79 Es wird hier bewusst von Problematisierung und nicht von Kritik gesprochen. Livius hat zunächst eine ganze Reihe Rechtfertigungsstrategien in seinen Bericht einfließen lassen: Die Römer sind überhaupt nur aufgrund einer List durch samnitisches Gebiet gezogen (um Luceria Entsatz zu bringen) – die Samniten hatten Soldaten als Hirten verkleidet, die den römischen praedatores einredeten, die Stadt sei kurz davor, von den Samniten eingenommen zu werden (diese Darstellung wird zusätzlich von den Kriegsge77
Rüpke (1990) S. 97 – 117. Dietmar Kienast, Augustus. Prinzeps und Monarch, Darmstadt 31999, S. 107. 79 James P. Lipovsky, A Historiographical Study of Livy, Books VI – X, New York (Diss.) 1981, S. 142: „The main interest in Livy’ s account therefore, lies not in the defeat but in the process by which the defeat is annulled and reversed, with emphasis on the great victories to come.“
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fangenen bestätigt: 9, 2, 4).80 Die Römer weisen außerdem die Feinde auf den vorläufigen Charakter der sponsio hin (9, 5, 1 – 2), sodass, ähnlich wie bei der Deciusepisode, die Nachlässigkeit der Feinde es folgerichtig erscheinen lässt, die damit verbundenen Möglichkeiten auszunutzen (daher ja auch die parallelen Formulierungen 9, 9, 14f. und 7, 35, 6 – 12, s.o.). Ferner geben die demütigenden Bedingungen, unter denen die Römer abziehen müssen, für den anschließenden Bruch der Vereinbarung eine weitere Rechtfertigung ab, die noch dadurch unterstrichen wird, dass die Samniten von dem Vater des amtierenden Feldherren, dem greisen Herennius Pontius, vor den Gefahren ihres Vorgehens ausführlich gewarnt worden waren.81 Diese Rechtfertigungstendenzen, die alle auf die Prinzipien zurückzuführen sind, die für das erste Buch Ab Urbe Condita entwickelt wurden, kulminieren in der Rede des Postumius, der darauf hinweist, dass vor Caudium „nichts nach menschlichem Planen vonstatten gegangen“ sei (9, 9, 10): Nihil ad Caudium, patres conscripti, humanis consiliis gestum est; di immortales et uestris et hostium imperatoribus mentem ademerunt. Die gesamte caudinische Katastrophe erscheint so einerseits als eine von den Göttern inszenierte Strafmaßnahme an den Römern, die das in angemessener Form vorgetragene Friedensgesuch der Samniten abgeschlagen haben.82 Andererseits deutet Postumius diese Strafmaßnahme als eine eindeutig begrenzte: Die Römer haben eine Demütigung erhalten; durch die gleichzeitige Blendung der samnitischen Feldherren aber wird für ihn deutlich, dass eine Entscheidung über den gesamten Krieg zugunsten der Feinde Roms eben nicht von den Göttern intendiert war.83 Das Besondere an Livius’ Darstellung aber ist es, dass diese Rechtfertigungsstrategien keine Eindeutigkeit herstellen können.84 Die List ist, das wurde einleitend gesagt, eine Handlungsweise, die Prinzipien unterläuft, ohne sie zwangsläufig preisgeben zu müssen. In der Deciusepisode ist die 80
Oakley (2005) S. 16. Diese List nur noch in Vir. ill. 30, 2 dort etwas knapper (Fugmann [2004] S. 130f.). 81 9, 3, 4 – 13. Livius erzählt auch, dass die Samniten mit ihrem Erfolg gar nichts anzufangen gewusst hätten, und deshalb den Herennius Pontius um Rat fragten (9, 3, 4): Ne Samnitibus quidem consilium in tam laetis suppetebat rebus; itaque uniuersi Herennium Pontium, patrem imperatoris, per litteras consulendum censent. Damit erinnert Livius an die Ratlosigkeit der Samniten angesichts der Schnelligkeit des Decius. 82 Hier gibt es übrigens auch eine Parallele zur Mancinusaffäre. In der Senatsdebatte über den Vertrag des Mancinus wurde auch darüber diskutiert, inwieweit bereits die Ablehnung eines von Pompeius gestifteten Vertrages mit den Numantinern die Götter erzürnt und dadurch die Lage des Mancinus herbeigeführt habe, vgl. Astin (1967) S. 131f. 83 Dieser Sinn gibt sich besonders, wenn man den ersten Redebeitrag des Postumius hinzunimmt 9, 8, 8 – 10. Vgl. auch Heinz Bruckmann, Die Römischen Niederlagen im Geschichtswerk des Livius, in: Burck (1967), S. 298 – 309, 298. 84 Lipovsky (1981) S. 142f. Oakley (2005) S. 16.
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List völlig unproblematisch, weil durch die uirtus der Ausführenden die Handlungsmaximen der Römer zu keinem Zeitpunkt in Gefahr geraten. Die List des Postumius aber stellt eine fraus legis dar, eine Umgehung des Sinns und damit der leitenden Maxime des Rechts. Livius betont diesen Umstand durch die Rabulistik des römischen Exconsuls, der sich nicht damit begnügt, die Aufhebung der sponsio zu erwirken, sondern am Rande des vom – ohnehin anachronistisch konstruierten – Fetialrecht Abgedeckten agiert, wenn er zusätzlich mit dem verwirkten Bürgerrecht spielt, um Rom über die Rücknahme der sponsio hinaus noch Vorteile zu verschaffen. Exkurs: Die fraus legis Ebenso wie die dolus-malus-Debatte und das Fetialrecht ist die fraus-legisProblematik eine juristische Spezialfrage, die zuerst in der späten Republik, dann in der frühen Kaiserzeit eine Neubewertung erfahren hat. „Bekanntlich bezeichnet die fraus legis ein Verhalten, das dem Buchstaben des Gesetzes Respekt zollt, aber seinen über den Buchstaben hinausgehenden Sinn verletzt.“85 Eine fraus legis kann nur dann als Gesetzesverletzung aufgefasst werden, wenn in der juristischen Praxis Sinnauslegung vorherrscht (anders ausgedrückt: bei Sinnauslegung gibt es keine Umgehung, sondern immer schon Verletzung des Gesetzes oder gar kein Delikt). Okko Behrends nimmt mit guten Gründen an, dass eine solche Sinnauslegung das alte Römische Recht (gemeint: die ueteres der hohen Republik) beherrscht hat. Im Zuge der Krise der späten Republik setzte sich aber mit den Prokulianern eine Schule von Rechtsgelehrten durch, die sich für eine Auslegung des Rechts nach dem unmittelbar greifbaren Wortlaut stark machte.86 „In Rom war die Systementscheidung für Wortlautgeltung Teil des in der spätrepublikanischen Zeit zu beobachtenden rechtstheoretischen Grundlagenwechsels, mit dem an die Stelle einer prinzipiengeleiteten, auch bei der Gesetzesauslegung auf ein normatives Gesellschaftsmodell blickenden Sinnjurisprudenz eine technische Jurisprudenz trat, in deren Rechtsmodell Gesetze zu normativen, allein von der Grammatik disziplinierten Texten wurden.“87 Da die Kommunikation über Recht und Unrecht in der desintegrierten Gesellschaft der ausgehenden Republik gestört war, erblickte man darin den einzigen Ausweg aus der Krise des Rechtes. Gelten sollte allein der 85
Behrends (1982) S. 9. Einen Überblick über die Fragestellung, allerdings mit anderer Darstellung der Entwicklungslinie gibt Heinrich Honsell, In Fraudem Legis Agere, in: Dieter Medicus/ Hans Hermann Seiler (Hgg.), FS M. Kaser, München 1976, S. 111 – 126. Der folgende Exkurs stützt sich auf Behrends. 86 Während die Sabinianer sich in der Kaiserzeit nur zum Teil erfolgreich wieder für die Sinnauslegung einsetzten. 87 Behrends (1982) S. 3.
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Buchstabe des Gesetzes, eine Diskussion über ihren Sinn dagegen öffnete einer parteiischen Rechtssprechung Tür und Tor. Der Nachteil wiederum war, dass der Gesichtspunkt der fides der Vertragspartner dadurch abgewertet wurde: Ein listiges Umgehen des vom Gesetzgeber ursprünglich Intendierten aufgrund des greifbaren Sinnes des Gesetzestextes wurde so begünstigt. D.h. die fraus legis als vom Recht geduldete Gesetzesumgehung ist letztlich überhaupt erst ein Produkt der Wortlautgeltung.88 Diese Ausführungen zur fraus legis in der juristischen Fachsprache dürfen einerseits nicht dazu führen, den Gebrauch von fraus bei Livius umstandslos mit dieser Spezialdefinition zu identifizieren. Fraus ist ein von Livius sehr häufig gebrauchter Begriff, der jede Form von Täuschung, aber auch einfach den böswillig zugefügten Schaden bezeichnen kann89 (vgl. unten Wortfeldanalyse). Andererseits sind es genau diese Bedeutungen, die auch für das Vorkommen von fraus – jenseits der Spezialfrage der fraus legis – in Rechtstexten seit den Zwölf Tafeln bestimmend sind.90 Tatsächlich schreibt Livius, in der Sache ganz zutreffend, über die Rechtspflege der Frühzeit (3, 20, 5): Sed nondum haec quae nunc tenet saeculum neglegentia deum uenerat, nec interpretando sibi quisque ius iurandum et leges aptas faciebat, sed suos potius mores ad ea accommodabat. Wenn wir die Debatte um die fraus legis hier ins Spiel bringen, dann zum einen deshalb, weil eine Sensibilität des Historikers für diese Fragen sich ganz deutlich in seinem Gebrauch gerade der im Recht prominenten termini ‚fraus‘ und ‚dolus‘ erkennen lässt91 – im hier behandelten Kontext ist es C. Pontius, der den Zusammenhang von ius und fraus explizit herstellt.92 Zum anderen aber ist sie relevant, weil der rechtliche Paradigmenwechsel seine Wurzeln in den soziopolitischen Umbrüchen von Republik und früher Kaiserzeit hat; und diese sind es bekanntlich auch, die für 88
In den lateinischen Quellen taucht fraus legis sowohl für die Gesetzesverletzung als auch für die Gesetzesumgehung auf (vgl. Arndt Teichmann, Die Gesetzesumgehung, Göttingen 1962, S. 4). Dennoch ist in einer engen juristischen Definition nur die Gesetzesumgehung gemeint, wobei diese letztlich nur dann eine wirkliche Gesetzesumgehung sein kann, wenn in der Gesetzesauslegung Wortlautgeltung herrscht, andernfalls wird die Gesetzesumgehung letztlich zur Gesetzesverletzung, die geahndet werden muss (im modernen Recht herrscht Wortlautgeltung, d.h. Gesetzesumgehungen müssen durch den Gesetzgeber, nicht den Richter, verhindert werden (Behrends [1982] S. 1). Im Übrigen hat es auch in der späten Republik nicht an Möglichkeiten gefehlt, eine fraus legis dennoch juristisch zu fassen. Möglichkeiten hierzu erwuchsen aus dem ius praetorium (Behrends [1982], S. 55 und 99). Dennoch hat sich die grundsätzliche Auffassung geändert (ebenda und passim). 89 Das ist auch exakt der Bedeutungsumfang, den fraus seit der späten Republik erworben hat. Ursprünglich bezeichnet das Wort den „Nachteil“ später dann gleicht es sich dolus als „Hinterlist“ und „Betrug“ an (Voigt [1874] S. 91, 110f., 115, 117, 121 u.ö.). 90 Wheeler (1988) S. 58 – 65. 91 Dolus malus etwa wird von Livius nur in Rechtskontexten verwendet, dort aber häufig (s.o). 92 9, 11, 7: Et semper aliquam fraudi speciem iuris imponitis.
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die Konzeption der Frühzeit bei Livius verantwortlich sind. Es handelt sich also um ein grundsätzlicheres Problem, das in der frühen Kaiserzeit dann wiederum auf das Recht gewirkt hat. Die Diskussion um Sinn- und Wortlautauslegung, und davon abhängig die fraus-legis-Problematik, war in der späten Republik und der frühen Kaiserzeit ähnlich in Bewegung wie die römische Gesellschaft. Cicero kann, obwohl ein Verfechter der neuen Schule der Wortauslegung, bei Bedarf Argumente der Sinnauslegung zur Verteidigung eines Klienten ins Spiel bringen, weil diese natürlich nicht mit einem Schlage aus der Rechtspraxis verschwunden ist.93 In der frühen Kaiserzeit beschert die Rückbesinnung auf die echten oder vermeintlichen Wertvorstellungen der hohen Republik, in der eine konsensuelle Kommunikation unter dem Gesichtspunkt der fides imaginiert wird, auch dem Recht ein gewisses Wiederaufleben der Sinnauslegung (Sabinianer).94 (Ende des Exkurses). Es ist dieser Komplex von gesamtgesellschaftlicher Restauration und ihren Auswirkungen auf das Recht, die den Hintergrund der Caudiumepisode abgeben. Livius bildet den Stand der Debatte dabei ziemlich genau ab: Das sophistische Verhalten des Postumius wird von ihm nicht kritisiert, es findet sogar eine gewisse auktoriale Erweiterung im Beharren des Livius auf der anachronistischen Konstruktion der sponsio, die einen formalen Ausweg für die Römer darstellt. Dies erhält aber sein Achtergewicht in der sehr eindrucksvollen Antwort des samnitischen Anführers, dessen Argumenten sich kaum ein Leser wird entziehen können. Pontius stellt die Frage nach dem Verhältnis von ius und fides. Der Niedergang der fides als politisches Bindemittel hatte die fraus legis privilegisiert; Gesetzesumgehungen werden möglich, weil keine Einigkeit mehr über den Sinn einer Abmachung erzielt werden kann und nur noch der Wortlaut Geltung erhält. Eine Politik, die eine Restitution der fides beabsichtigt,95 und ein Historiker, der dafür Argumente aus der Geschichte präsentieren will,96 können sich mit diesem Stand aber nicht zufrieden geben. Folgerichtig bemüht sich Livius, das gesamte Repertoire der Rechtfertigungsstrategien für listiges Verhalten seitens der Römer in die Waagschale zu werfen, ebenso folgerichtig kann er aber die caudinische Zwickmühle, die nicht nur militärisch-taktischer, sondern auch 93
Behrends (1982) S. 38 – 52, s. bes. S. 42 Anm. 86. Behrends (1982) S. 16f. 95 Kienast (1999) S. 296, 306. 96 „Seine Nähe zu Augustus ist manchmal übertrieben worden.“ (von Albrecht [1994a] S. 679). Dennoch scheint gerade die Betonung römischer Werte in ihrer Rückprojektion auf die Vergangenheit ein wirklich augusteischer Zug seines Werkes zu sein, in dem sich das Projekt des Historikers mit dem des princeps trifft, ohne dass die zahlreichen Differenzierungen und Problematisierungen, die auch aus Livius einen vielstimmigen Autor machen wie etwa den Vergil, hier auch nur im Geringsten geleugnet werden. 94
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ethischer Natur ist, nicht auflösen. Daher sieht sich auch Livius außerstande, die Angelegenheit abschließend zu bewerten.97 Es ist bei der Analyse dieser Episode aus dem Zweiten Samnitischen Krieg deutlich geworden, wie Livius die Listproblematik einerseits konsequent aus den bereits im ersten Buch seiner Darstellung verwendeten Bausteinen fortentwickelt, wie sich andererseits Quellenlage und zeitgenössische Diskurse in diesem Thema verschränken. Das Problem von Rechtlichkeit und List ist von ihm paradigmatisch abgehandelt worden. Es hat sich seit dem Königtum des Tullus Hostilius, als es uns zum ersten Male begegnete, deutlich verkompliziert. Das Recht, das unter Ancus als so viel versprechender Moderator der Interessen aufgetreten war, hat sich selbst als Spielfeld der List erwiesen, als ein eigenes Feld der Kommunikation mit eigenen Fallstricken, das aber nicht mehr verlassen werden kann. Selbst kein remedium mehr gegen perfidia, wird es seinerseits zum Gegenstand moralischer Regulierung. Diese Regulierung nimmt der Historiker mit einiger Mühe selbst vor. In diesem Sinne ist sein Bericht nicht augusteischpropagandistisch, aber doch zeitbewusst: Er bedient sich an zeitgenössischen Rechtsdiskursen (augusteische Konstruktion des Fetialrechtes, sabinianisches Revirement), die im Rahmen der augusteischen Restaurationspolitik angestrengt wurden, freilich ohne deren Problematik unter den Tisch fallen zu lassen. Erstaunlicherweise ist die unproblematischste Figur in dem gesamten Komplex der listige Decius, der Schnelligkeit und Kühnheit vereint. Das Verhalten des Decius und des Postumius ist, wie so oft bei Livius, bipolar angelegt: Es sind zwei Listtypen, die das römische Heer aus einem Hinterhalt retten, der eine basiert auf uirtus, der andere auf ars, aber es ist wie schon bei Scaevola eben nicht so, dass das decische Strategem keine List wäre. Das Bipolare wird bei Livius meist einer Synthese zugeführt.98 Ob er dies bereits in der Lücke der Bücher 11 – 20 versucht hat, muss offen bleiben. Ihre endgültige Form erhält sie aber in der Darstellung des Zweiten Punischen Krieges.
97 Kritisch liest sich die Äußerung Rüpkes (1990) S. 118 gegen Livius’ Vorgehen: „Dieser [sc. Livius] will das bellum-iustum-Konzept als eine der Ursachen der Größe Roms herausstellen, auch indem er des Kontrastes halber Fälle anführt, in denen die Form um der Form willen und gegen den Geist der Form – wie er ihn versteht – verstoßend eingesetzt wird.“ Dort Verweis auf Albert (1980) S. 34 – 36. 98 Penella (1987) und (1990) S. 207 sieht in der Darstellung der ersten vier Könige die Logik von These, Antithese und Synthese, die mit Ancus erreicht wird. M. E. ist es ein Darstellungsprinzip, das Livius über sein ganzes Werk hin (soweit überliefert) immer wieder zur Anwendung bringt.
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3.3 Das Vorbild Hannibal 3.3.1 Propaganda und Literatur Die Darstellung des erbitterten Gegners der Römer im Zweiten Punischen Krieg wird bekanntlich dominiert von dem Schlagwort von der fraus („fides“) Punica. Eigentlich alle taktischen und politischen Maßnahmen des Feindes werden damit als hinterhältig denunziert, um dessen anfängliche militärische Überlegenheit durch eine moralische Unterlegenheit auszugleichen.99 Der Anatagonismus von punischer perfidia und römischer fides ist mit Ausnahme ausgerechnet der Aeneis fast für die gesamte römische Literatur bestimmend;100 es ist wahrscheinlich, dass er bereits in der zeitgenössischen Kriegspropaganda der Römer eine Rolle spielte (vgl. dazu auch im nächsten Kapitel zum Poenulus),101 zugleich wird aber deutlich, dass dieser Gedanke auch nachher noch seine Attraktivität behielt, und es liegt nahe, ihn nicht allein aus den Erfordernissen der Außendarstellung zu erklären.
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Patrick G. Walsh, Livy. His Historical Aims and Methods, Cambridge 1961, S. 104 – 105. Karl Christ, Zur Beurteilung Hannibals, in: Karl Christ (Hg.), Hannibal, Darmstadt 1974, S. 361 – 407 (ursprgl.: Historia 17 [1968] S. 461 – 495), hier: S. 373: „Insidiae und fraus sind [sc. bei Livius’ Hannibaldarstellung] irgendwie immer im Spiel.” Erich Burck, Einführung in die dritte Dekade des Livius, Heidelberg 21962, S. 81. Ders. (1992) S. 137. 100 Vgl. dazu Georges Devallet, Perfidia plus quam Punica: L’image des Carthaginois dans la littérature latine, de la fin de la république à l’époque des Flaviens, in: Lalies 16 (1996), S. 17 – 28 (zur Vergil: 21 – 24); Erich Burck, Fides in den „Punica“ des Silius Italicus, in: Munera philologica et historica Marciano Plezia oblata, Wróclaw 1988, S. 49 – 60, 51. 101 Für die Geschichtsschreibung und Epik des 2. Jhs. v. Chr. sieht Fritz-Heiner Mutschler, Norm und Erinnerung: Anmerkung zur sozialen Funktion von historischem Epos und Geschichtschreibung im 2. Jh. v. Chr., in: Braun/ Haltenhoff/ Mutschler (2000), S. 87 – 124, 93f. bereits eine Betonung der fides der Römer im Gegensatz zu ihren Gegnern. Genauer behandelt Gerhard H. Waldherr die Genese des Punischen Perfidiestereotyps (‚Punica fides‘ – Das Bild der Karthager in Rom, in: Gymnasium 107 (2000), S. 193 – 222. Ein speziell karthagerfeindliches Bild allerdings ist bei Fabius und Naevius noch nicht recht zu erkennen (209 – 211) und scheint sich erst mit Ennius und Cato Bahn zu brechen (211ff.). Die negativen Stereotypen (gierig, grausam, tückisch) sind aber bereits bei den griechischen Historikern des 5. und 4. Jhs. v. Chr. fassbar (207). Fabius hat wohl, anstelle die Karthager in toto zu verdammen, das odium des Krieges auf Hamilcar und Hannibal gelenkt, wie aus einer Kritik des Polybius (3.8) hervorgeht: Arthur J. Pomeroy, Hannibal at Nuceria, in: Historia 38 (1989), S. 162 – 176, 167 mit Anm. 17; Waldherr (2000) S. 209. Livius ist auch ein typisches Beispiel für einen (bereits republikanischen) Wortgebrauch, nach dem Poenus negativ konnotiert ist, Carthaginiensis dagegen neutral verwendet wird: George Fredric Franko, The Use of Poenus and Carthaginiensis in Early Latin Literature, in: CP 89 (1994), S. 153 – 158, 154.
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Der Verweis auf die Genese des Schlagworts von der fraus Punica aus der Kriegspropaganda102 kann daher nicht der abschließende Kommentar zu diesem Aspekt des livianischen Berichtes sein. Auch wenn fraus, dolus, perfidia eher Etikettierungen als Konzeptionalisierungen feindlicher Politik werden, liegt doch hinter diesen Schlagwörtern eine Neujustierung politischen Handelns, die Livius zwischen den Polen von ars und uirtus organisiert. Dass es sich wieder nicht um einen simplen Dualismus handelt, legt die bisherige Untersuchung nahe. Es bleibt noch, auf ein methodisches Problem hinzuweisen. Bei der Analyse der punischen Bücher des Livius droht eine gewisse Gefahr, moderne analytische Aussagen über das historische Rom mit solchen über die literarische Imagination des augusteischen Autors zu vermengen. Dieser Gefahr steht nicht allein der Literaturwissenschaftler gegenüber. So handelt es sich bei Brizzis Untersuchung um die Arbeit eines Historikers, die auf den ersten Blick das militärische Informationswesen der Römer (es geht um Äquivalente der modernen Geheimdiensttätigkeit) zum Thema hat. Möglicherweise mangels Materials weitet sich diese Arbeit aber aus zu der grundsätzlichen Fragestellung, wie die Römer ideologisch zu solchen Elementen der Kriegsführung standen, die auf oft verstohlenen oder geheimen Wegen ihr Ziel finden und eben nicht ihr Heil allein in der offenen Schlacht suchen. Er stellt die These auf, dass die Römer vor den Punischen Kriegen, namentlich dem Zweiten, eine Außenpolitik der fides verfolgt haben, in der sie stets den offenen Konflikt bevorzugten und erst durch die Erfahrungen mit Hannibal und dem hellenistischen Osten gezwungen waren, List mit List zu beantworten.103 Wheeler hat diese These angegriffen und ist der Auffassung, dass die Römer immer strategemisch Krieg geführt haben und die negativen Konnotationen des Listvokabulars bis auf wenige Ausnahmen Ergebnis späterer Propaganda waren.104 Wheelers Kritik ist jedoch problematisch, weil sie der literarischen Imagination ihren kulturellen Eigenwert abspricht, so als würden Texte nicht an der Sinnproduktion einer Gesellschaft teilnehmen oder wenn sie es tun, propagandistisch wirken, sobald ihre Semantik idealistischer ist als die rekonstruierte Realität des Handelns. Marie Theres Fögen hat in ihren 102
Genese in dem Sinne, dass sie dann verstärkt von den Römern übernommen wurden. Wie bereits Waldherr (2000) deutlich macht, stammen die Stereotypen bereits aus der griechischen Literatur, vgl. auch Luisa Prandi, La ‚fides punica‘ e il pregiudizio anticartaginese, in: CISA 6 (1979), S. 90 – 97, 93. 103 Brizzi (1982) S. 8 – 37, 56 – 77, 87, 269 – 273. Brizzi beruft sich z.T. auf Ogilvie (1965) S. 81 („conventional tricks from textbooks“), S. 117f. („historically baseless“), S. 205 („entirely imaginary“), S. 261 („belongs to the world of heroic tales“), S. 388 und 579f., der die Strategeme der frühen Bücher als literarische Erfindungen betrachtet; dazu Wheeler (1988) S. X mit Anm. 4. 104 Wheeler (1988) S. 52: „Brizzi’s views are naive. History must be distinguished from propaganda: Romans did indeed use stratagems long before Hannibal set foot in Italy.“
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„Römischen Rechtsgeschichten“ einer Methodik Berechtigung zuerkannt, die nicht auf eine quellenkritische Rekonstruktion eines ursprünglichen Rechts und seiner Funktionsweisen abzielt, sondern nach dem kulturellen Sinn der Erzählungen fragt, die die Römer selbst über den Ursprung des Rechts zirkulieren ließen.105 Ein ähnliches kulturwissenschaftliches Vorgehen propagiert auch Hölkeskamp in seiner Studie zur römischen fides und hat es erst in jüngster Zeit programmatisch wiederholt.106 Auf unsere Fragestellung angewendet heißt dies: Die Erzählung, die Livius von der List der Punier und der uirtus der Römer erzählt, sollte zunächst in ihrem kulturellen Sinn und ihrer Produktivität verstanden werden. Livius verbannt die List, auch wenn er sie als die „am wenigsten römische Kunst“ bezeichnet, nicht aus dem Handlungsspektrum der Römer;107 es war und ist daher danach zu fragen, wie das listige Handlungspotential ermöglicht, mit Bedeutung versehen und inszeniert wird. So mag es zutreffen, dass Brizzis Arbeit zunächst auf einer Analyse literarischer Quellen – besonders auch des Livius – beruht; eben dies macht sie aber für die vorliegende Untersuchung, bei der es um die literarische Imagination der List geht, besonders wertvoll.108 Gleichzeitig muss man die livianische Darstellung auch als ein Echo auf die tatsächlichen historischen Entwicklungen im Zeitalter der Punischen Kriege verstehen oder genauer: als ein Echo mehrerer Echos, die in seinen Quellen aufgefangen waren. Die Veränderungen der römischen Außenpolitik im dritten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert sind durchaus eine der Determinanten des livianischen Berichts; und um zu verstehen, was Livius mit fides meint, ist es durchaus sinnvoll, sich den politischen und literarischen Gebrauch des Wortes zu vergegenwärtigen (s.o.): Fides ist kein idealisierter Begriff der Propaganda, sondern beschreibt ein Machtverhältnis. Vor den Punischen Kriegen erwies sich dieser Begriff als tauglich, um die Außenpolitik mit Gegnern und Bündnern zu beschreiben und zu gestalten. Mit der hellenistischen Expansion änderten sich aber wichtige Bedingungen römischer Politik, sowohl innen- als auch außenpolitisch: die ökonomischen Grundlagen (Einkünfte der asiatischen Provinzen), die militärische Technik (Scipio bis Marius109), die kulturelle Kommunikation (Ende der face-to-face-
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Fögen (2002) S. 18f. Karl-Joachim Hölkeskamp, Rekonstruktionen einer Republik, München 2004 (HZ Beiheft 38), S. 107 – 114. 107 Abbot (2000) S. 64. 108 Ein Beispiel: Wheeler (1988) S. 52 weist Brizzis Gleichsetzung von fraus mit griech. strategema zurück, weil dies keine Basis in einem antiken Text habe. Ich verweise aber (s.u.!) auf den exzessiven Gebrauch von fraus bei Livius. Offenbar ist Livius der antike Text, den Brizzi im Auge hat. 109 Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst. Mit einer Einführung von Karl Christ, Berlin 2002 (Digitale Bibliothek 72 nach der 3. Auflage Berlin 1920 – 23; 1. Teil), S. 442ff. 106
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Gesellschaft).110 Letztlich führten diese Veränderungen zur Paralyse der Republik und es darf nicht überraschen, wenn die alte fides-Politik daher in vielen Texten moralisch romantisiert wird. Sie wird damit aber nicht zur Propaganda, sondern bleibt als Bezugspunkt politischen Handelns zitierfähig. Das ließ sich bei Livius von Anfang an beobachten: Die Tat des Horatius Cocles ist ein Paradebeispiel für gradliniges, opferbereites römisches Handeln. Ein listiges Manöver, wie das des Publius Valerius, kann aber ebenfalls gerechtfertigt sein. Römisches Handeln berücksichtigt in der Regel beide Aspekte, kombiniert sie also zu einer alltagsfähigen Ethik, ohne dass dadurch das moralische Ideal als nicht lebensfähig hingestellt würde.111 3.3.2 Schlagwörter Das Listvokabular erscheint bei Livius sehr häufig. Wie bei der fraus Punica werden die entsprechenden termini häufig schlagwortartig benutzt, um ein bestimmtes Verhalten negativ bzw. positiv zu kennzeichnen. Listgeschichten, wie wir sie im ersten Buch Ab Urbe Condita kennengelernt haben, sind damit keineswegs immer verbunden, sondern es handelt sich – bei negativ konnotierten bzw. kontextualisierten Begriffen112 – oft um eine reine Denunzierung des Gegners. Diese Reduktion der List auf ein bestimmtes Vokabular hatte sich auch in den innenpolitischen Konflikten (der livianischen Darstellung!) abgezeichnet; plebejische Politiker belegen damit die unliebsame Politik der Patrizier und umgekehrt. Die Schlagwörter (innen- und außenpolitisch) sind: fraus,113 proditio,114 furtum,115 insidiae,116 dolus,117 mendacium118 und astus,119 die meist – aber nicht 110
Bleicken (1975) S. 372. Genau dieser Aspekt hat sich etwa bei Tacitus gründlich geändert. Auch für seinen Text spielt die Folie republikanischer uirtus, fides und libertas eine Rolle als Gegenpol zu Unterwürfigkeit, Betrug und mentaler Sklaverei. Aber er spricht dem Ideal eine autonome Lebensfähigkeit ab; ostentative Zurschaustellung republikanischer Unabhängigkeit begleitet er mit einem Gefühl des Unbehanges auch dann, wenn die Träger dieser Handlungen bereit sind, sie mit dem Leben zu bezahlen. Tacitus hält ein solches Verhalten für nutzlos, weil es kein Zurück mehr gibt in die Republik, vgl. dazu Pelling (1993) S. 72 – 78. 112 Gerade hieran wird die geringe Reichweite von Wortfeldanalysen deutlich, die auf die moralische Konnotation engestellt sind. Livius kann jeden beliebigen Begriff in ein schlechtes Licht rücken; umgekehrt ist es freilich kaum möglich. 113 Bei David W. Packard, A Concordance to Livy, Vol. I – IV, Cambridge [Mass.] 1968 gibt es 156 Belege. 1, 11, 9 fraude: die Sabiner töten Tarpeia, von der sie sich getäuscht sehen; 1, 24, 5 sine fraude: „ohne Schaden“ aus der röm. Fetialformel, vgl. Voigt (1874) S. 112; 1, 40, 2 tutoris fraude: die Ancussöhne über den Betrug, der sie die Thronfolge gekostet hat; 1, 47, 9 ne non uenisse fraudi esset: „zum Schaden gereichen“ floskelhaft von der Angst der patres, den neuen König Tarquinius zu besuchen; 1, 53, 4 fraude ac dolo: über die
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Eroberung von Gabii mit List und Tücke; Buch 2 kein Beleg; 3, 15, 7 seruili fraude: Die Römer wissen nicht genau, warum die arx besetzt wurde, ob durch plebejische Besetzung oder Sklavenaufstand (fraus zwischen innenpolit. und außenpolit. Bed.); 3, 18, 6 fraus: Valerius verspricht, eine „Tücke“ der Tribunen im Gesetz aufzuzeigen; 3, 19, 1 deos manes fraude liberaret: Um die Manen des Consuls vom Betrug freizuhalten, soll in seinem Sinne und gemäß eines von ihm zu Lebzeiten gemachten Versprechens über ein Gesetz verhandelt werden; 3, 24, 1 clamant fraude fieri: Die Tribunen werfen den Senatoren fraus vor; 3, 25, 4 fraudis occultae: von der vermeintlichen Tücke in einem Gesetzesantrag; 3, 53, 4 ne cui fraudi esset: floskelhaft für Nachteil, aber wieder innenpolitisch verwendet; 3, 54, 5 ne cui fraudi esset: ebenfalls innenpolitisch für floskelhaft „Nachteil“; 3, 54, 14 ne cui fraudi esset: wie das Vorige; 3, 65, 3 fraude captum: Der Volkstribun L. Trebonius fühlt sich hintergangen; 4, 12, 7 fraudem (…) consulum: Die Volkstribune agitieren gegen die Consuln; 4, 44, 5 fraudem profecto in re esse: Die Volkstribunen bemängeln an der Wahl der Quästoren, es sei mit List vorgegangen worden (ebenda: plus artis […] quam fidei); 4, 50, 1 fraudatorem: Die Soldaten bezeichnen den Postumius als Betrüger; 5, 11, 3 id fraude patriciorum, scelere ac proditione collegarum factum: der Volkstribun Cn. Trebonius über Manipulationen der Patrizier bei den Tribunatswahlen; 5, 11, 7 communi fraude patriciorum: Volkstribunen hetzen gegen Volkstribunen, sie hätten mit den Patriziern gemeinsame Sache gemacht; 5, 12, 2 fraudis contra legem: über das böse Spiel mit einem Gesetz; 5, 41, 6: die Gallier vermuten einen Hinterhalt in der von den Römern geräumten Stadt; 5, 54, 1 fraude „Brandstiftung“ (Ludwig Fladerer [Hg.], Ab urbe condita Liber V. Römische Geschichte 5. Buch. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1993, S. 163); 6, 15, 13 nisi aliqua fraus subest: List, Tücke (Manlius über den Senat) – 6, 15 ist überhaupt ein Lehrstück über innenpolitische Agitation mit dem Listvokabular; 7, 16, 9 fraudem legi: Gesetzesumgehung; 7, 41, 2 und 3 iterum legionibus cautum sit ne fraudi secessio esset; ne cui militum fraudi secessio esset: Vergehen; 8, 14, 4 a publica fraude: außenpolit. Bündnisbetrug der Tusculaner; 8, 18, 1 seu humana fraude: Frauenverschwörung; 8, 18, 6 muliebri fraude: wie das Vorige; 8, 18, 9 fraude: Anschlag; 8, 27, 10 caeci fraude et ira nihil recusarunt und 8, 27, 11 dilucere deinde breui fraus coepit: List, Betrug neben dolus (8, 27, 8) verwendet; innenpolit. ausgeführt, außenpol. motiviert; 9, 2, 9 fraus hostilis: der Hinterhalt von Caudium; 9, 11, 7 et semper aliquam fraudi speciem iuris imponitis: über die Rabulistik der Römer; 9, 12, 7 fraus: (milit.) Betrug/List; 9, 14, 10 fraus: der Hinterhalt von Caudium; 9, 26, 11 si nulla obstetur fraude: Betrug (genannt i.d. innenpolitischen Agitation); 9, 31, 16 sed loca difficilia hosti quaesita ipsos tum sua fraude impediebant: von der Unübersichtlickeit der Landschaft selbst ausgesagt; 10, 13, 10 quibus per eosdem qui tulissent fraus fieret: innenpolitisch „Gesetzesmissbrauch, -umgehung”; 10, 34, 6 ne quam occultam in fraudem incautus rueret: milit. Hinterhalt; 21, 1, 5 fraude Romanorum: „Betrug“. Hamilcar über den Verlust Sardiniens; 21, 10, 6 Res ex foedere repetuntur; publica fraus absit: fetialrechtl. Betrug von Staats wegen; 21, 34, 1 Ibi non bello aperto sed suis artibus, fraude et insidiis, est prope circumuentus: Hannibal in den Alpen fast überrumpelt; 21, 35, 4 ducentium fraus: Betrug der Ortskundigen; 22, 1, 3 fraude: Hinterhältigkeit der Gallier (innenpolitisch!), gegen die sich Hannibal erwehren muss, die ihm aber auch nutzt; 22, 10, 5 ne fraus esto: Schaden, aus einer Formel zum uer sacrum, vgl. Voigt (1874) S. 112; 22, 17, 6 fraus: Kriegsstrategem; 22, 22, 17 in praeparatas sua fraude insidias ducit: Hinterhalt; 22, 23, 4 una fraude ac dolo Hannibalis: List; 22, 28, 6 fraus und 22, 28, 8 fraudem: über den Hinterhalt des Hannibal; 22, 34, 4 fraude bellum trahi: innenpolit. Querelen; 22, 43, 1 detecta fraude: über einen Hinterhalt Hannibals; 22, 48, 1 a Punica coeptum fraude: über ein punisches Kriegsstrategem; 23, 14, 3 capitalem fraudem: Kapitalverbrechen; 23, 25, 4: über einen gallischen Hinterhalt; 23, 35, 4 fraus: über die List der Campaner, sich Cumae zu bemächtigen (ebenda auch
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dolus genannt); 23, 35, 14 fraudi ... intentior: der kampanische medix tuticus plante einen Hinterhalt, geriet aber selbst in einen; 24, 3, 5 numquam insidiis ferarum, non fraude uiolati hominum: Diebstahl; 24, 31, 6 fraudem: List; 24, 37, 2 prodita per fraudem: Römische Garnisonen werden vom Feind abgeschüttelt; 24, 37, 5 fraudis: List, Hinterhalt; 24, 38, 2 fraudem: Umzingelung und Treubruch durch die Sizilier; 24, 38, 3 occulta in fraude: Hinterhalt, Verrat; 24, 38, 7 quisquam supersit cuius aut uis aut fraus timeri possit: Gewalt oder Hinterhältigkeit; 24, 38, 8 wie das Vorige; 24, 47, 2 ne quid ab tergo fraudis esset: Hinterhalt, Gefahr im Rücken der Truppen (von den Karthagern aus gesehen); 24, 47, 8 sine fraude: Betrug, Falle; 25, 3, 9 fraude auaritiaque: das betrügerische Wesen eines publicanus; 25, 3, 10 fraude: Betrug; 25, 3, 12 fraus: wie das Vorige; 25, 5, 1: Hunc fraus publicanorum, deinde fraudem audacia protegens exitum: Betrug; 25, 10, 2 cum fraude: Treubruch, hinterhältiger Aufstand; 25, 15, 11 fraudis intestinae: M. Atinius wird von den eigenen Leuten an den Feind verraten; 25, 16, 15 fraudem: Betrug, Hinterhältigkeit; 25, 24, 10 intestina fraus: polit. Intrige; 25, 29, 3 fraude: polit. Täuschung, treulose Politik (innenpolitisch); 26, 6, 11 fraudem: List (des Hannibal); 26, 6, 12 fraudem: wie das Vorige; 26, 17, 13 fraus: List (des Hasdrubal); 26, 12, 5 sine fraude: ohne Schaden und ohne Schuld; 26, 12, 16 fraude composita: List (über ein vorgetäuschtes Überlaufen einiger Numider zu den Römern zwecks Spionage); 26, 17, 6 sine fraude: ohne Einbuße; 26, 17, 13 und 26, 17, 15 Punicam fraudem: beide Male Fluchtstrategem (auch dolus genannt); 26, 27, 5 humana fraude: Brandstiftung; 26, 48, 11 fraude ac periurio: Betrug und Meineid; 27, 16, 14 laetus successu fraudis: List des Hannibal – cap. 27 gutes Beispiel für die ganze Breite des Listvokabulars (ars, dolus, insidiae parallel gebraucht); 27, 16, 15 cauendum a fraude hostili et ab insidiis: über die Punier; 27, 17, 14 nec fraudi (…) nec honori: weder Schaden noch Ehre bringen; 27, 21, 2 fraude eorum et cunctatione: Ein Volkstribun hetzt gegen den Senat; 27, 24, 8 fraude: Diebstahl als polit. Intrige; 27, 28, 3 fraudem: Täuschung; 27, 28, 6 fraudem: Täuschung; 27, 28, 13 fraude: Betrug, Täuschung; 27, 33, 9 tuta a fraude Punica: Hinterlist, Betrug; 27, 33, 11 in necopinatam fraudem: Hinterhalt; 28, 7, 1: fraude: Betrug, Hinterlist; 28, 19, 8 instructam fraudem: Hinterhalt, Falle; 28, 42, 7 fraus: Hinterlist des Syphax und der Numider; 28, 47, 8 fraude: Hinterhalt der Celtiberer; Buch 29: kein Beleg!; 30, 19, 9: floskelhaft „zum Schaden gereichen“; 30, 22, 6 Punica fraude electos: der Senat über die karthagischen Gesandten; 30, 25, 6 sine publica fraude: Betrug durch den karthag. Staat; 30, 31, 3 fraus: Scipio über die Fraus Punica; 31, 11, 13 in fraudem Carthagiensium: Betrug, Hinterlist; 31, 32, 4 sine fraude: ohne Hinterlist; 31, 36, 3 tutus a fraude insidiarum: Hinterhalt; 32, 32, 16 si fraude agatur: Betrug, Hinterlist, Anschlag; 32, 33, 16 eadem fraude: Treulosigkeit; 32, 36, 8 fraude regis: Hinterlist; 32, 40, 1 cum fraude: Verrat; 33, 20, 7 fraudiue: Schaden/Betrug; 33, 29, 3 deserta per fraudem: List; 33, 48, 11 fraude Romanorum: hinterhältiger Anschlag (Gerücht von carthagischer Seite); 34, 23, 8 insimulauit fraudis Romanos: Täuschung; 34, 32, 4 per fraudem: Hinterlist; 35, 7, 2 uia fraudis inita erat: Wirtschaftsbetrug; 35, 7, 4 per hanc fraudem Betrug; 35, 36, 5 fraude: Hinterlist; 35, 51, 8 sine fraude: ohne Schaden; 36, 12, 7 fraus: List/Betrug; 36, 31, 10 per fraudem: Betrug, Verrat; 37, 12, 8 fraude: Verrat; 37, 25, 12 fraus Aetolorum: Betrug; 37, 26, 5 occasionem fraude praeparata: List; 38, 9, 9 sine fraude: ohne Schaden; 38, 16, 4 Lysimachia fraude capta: Verrat; 38, 25, 7 colloquii fraudem: Hinterhalt, List; 38, 25, 8 fraudi: Hinterhalt, Völkerrechtsbruch; 38, 40, 8 regis fraude id factum: Hinterhalt auf Geheiss des Makedonenkönigs; 38, 45, 2 fraude consulis: betrügerisch habe der Consul den Antiochus zum Gespräch geladen, nur um diesen festzusetzen; 39, 14, 4 coniurationes coetusque nocturni fraudis occultae aut periculi: geheimer Anschlag (Senatoren über den Bacchanalienskandal); 39, 14, 6 ne fraudi ea res sit: Schaden, Nachteil; 39, 16, 2 a fraudibus: Tücke; 39, 16, 2 fraude: Täuschung, Betrug; 39, 16, 7 fraudibus humanis: menschliche
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Verbrechen; 39, 16, 13 fraude noxiorum: Umtriebe; 39, 18, 4 fraudibus aliis: Betrügereien; 39, 19, 6 neu quid (…) ob id fraudi ignominiaeque esset: zu Schaden und Schande gereichen; 40, 5, 5 incauti a fraude fraterna iuuenis: Anschlag, Nachstellung; 40, 5, 11 in fraude domestica: Nachstellung; 40, 20, 4 fraudis in fratrem: Anschlag, Nachstellung; 40, 22, 15 fraude: Hinterlist; 40, 27, 9 fraudem hostium: Völkerrechtsbruch; 40, 37, 4 fraudis quoque humanae: Mordanschlag (als Ursache von zwei Todesfällen in Rom erwogen); 40, 55, 3 fraude et insidiis: List und Anschlag; 40, 56, 6 scelestae fraudis: verbrecherische Intrige; 41, 8, 9 genera autem fraudis duo: Gesetzesumgehung; 41, 23, 8 ad fraudem suam: Schaden; 42, 5, 4 fraudis: Intrige; 42, 39, 6 nihil fraudis: Hinterlist, Anschlag; 43, 3, 6 a fraude Carthaginiensium: Vertragsbruch; 43, 10, 3 fraudem agendae rei: Übergriff bei Verhandlungen, Völkerrechtsbruch; 44, 15, 4 fraudem: Hinterlist, Vertragsbruch; 44, 24, 9 fraude et auaritia: Intrige und Gier; 45: kein Beleg. 114 Z.B. 5, 11, 3 id fraude patriciorum, scelere ac proditione collegarum factum: der Volkstribun über Manipulationen der Patrizier bei den Tribunatswahlen. Ansonsten ist es natürlich zunächst ein Begriff aus dem Kriege (gewissermaßen in beiden Bed. 6, 11, 6 und 8!): 26, 40, 14 in klarer Abgrenzung zur deditio. Bisweilen lässt Livius eine proditio fast als einen technisch-neutralen Begriff erscheinen: 29, 6, 11 lassen die Lokrer die Römer in eine der beiden arces ihrer Stadt und werden proditores arcis genannt, ohne dass hier ein Tadel aufschiene. 115 Z.B. 6, 16, 1 Camillus über die Umtriebe des Manlius Capitolinus: cum mittere ambages dictator iuberet et aut peragere uerum indicium cogeret aut fateri facinus insim ulati falso crimine senatus oblataeque uani furti inuidiae (…). 116 114 Belege bei Packard (1968). Insidiae ist natürlich hauptsächlich für militärische Hinterhalte reserviert (z.B. Liv. 21, 25, 9), wird aber auch (bei Livius sehr selten) für politische Anschläge (als innenpolitischer Kampfbegriff insidiari 3, 9, 7) oder Mord und Intrige (40, 8, 2; 40, 9, 1ff. und 40, 10, 1 insidiatorem) verwendet; dazu allgemein Wheeler (1988) S. 55. 117 35 Belege bei Packard (1968). Dolus gehört allerdings weniger in den Bereich des innenpolitischen Schlagabtausches. 1, 5, 7 dolus nectitur; 1, 11, 6 consilio etiam additus dolus; 1, 24, 7 sine dolo malo (Fetialrecht); 1, 24, 8 publico consilio dolo malo (Fetialrecht); 1, 37, 1 ex occulto etiam additur dolus; 1, 53, 4 fraude ac dolo; 2, 3, 1 per dolum ac proditionem; 2, 6, 1 dolo uiam obsaeptam uidit; Buch 3 bis 5 kein Beleg; 6, 24, 1 hostis dolo non metu pedem rettulit; Buch 7 kein Beleg; 8, 27, 8 deformis suapte natura res cum speciem iniuriae magis quam doli prae se ferret; Buch 9 kein Beleg; 10, 4, 10 dolo capi; Buch 21 kein Beleg; 22, 23, 4 fraude ac dolo Hannibalis; 23, 35, 2 dolum ad capiendos eos; 24, 1, 10 dolo Betrug und List; 24, 3, 8 per dolum capta; 24, 25, 4 regnum clam et dolo adfectare; 25, 22, 14 spe aut ui aut dolo arcis Tarentinae potiundae: List, Hinterlist (= fraus) – über Hannibal; 26, 17, 15 Claudius Punicam fraudem adgnoscens ut se dolo captum sensit: Fluchtstrategem, List; 27, 16, 14 si ne Fabius quidem dolo inuictus fuisset; 27, 28, 4 ne qui dolus necteretur a Poeno; 28, 3, 12 dolus: Hinterlist, böse Absicht; Buch 29 und 30 kein Beleg (!); 31, 24, 8 ui aperta propalam usurus quando parum dolus profuerat; 32, 30, 9 dolo: Treulosigkeit (als Gegenbegriff zu fides); 33, 1, 7 dolo: Verrat; 34, 35, 4 dolo malo: Arglist (aus der Friedensvertragsformel); 35, 35, 1 dolo: als Gegenbegriff zu uis; Buch 36 und 37 kein Beleg; 38, 11, 2 sine dolo malo (Fetialrecht); 38, 11, 5 sine dolo malo (Fetialrecht); 39, 8, 8 multa dolo, pleraque per uim audebantur; 40, 24, 2 dolo: Anschlag; Buch 41 kein Beleg; 42, 11, 8 non ui non dolo; 42, 21, 5 cuius dolo malo Arglist (jurist.); 42, 47, 8 interdum in praesens plus profici dolo quam uirtute; 43, 15, 8 sine dolo malo: ohne Arglist (jurist.); 44, 7, 4 aliquem subesse dolum; Buch 45 kein Beleg. Livius meidet den Plural.
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immer – negativ konnotiert sind, ferner ars, consilium,120 und sollertia.121 Hinzu kommen Verben wie (in)simulare122 oder dissimulare,123 ludificari/ludificatio124 und eludere,125 fallere126 und celare,127 Adjektive wie occultus128 118
Z.B. 2, 64, 6 salubri mendacio über die listige Behauptung des Consuls, der eine Flügel der Feinde breche zusammen, 6, 17, 3 über die „angeblichen“ Lügen des Manlius Capitolinus; 8, 40, 4 über die Familienchroniken. 119 Insgesamt selten (4 Belege bei Packard [1968]), negativ konnotiert (bei Livius nur im Ablativ: Wilhelm Weissenborn/ Hermann Johann Müller (Hgg.), Titi Livi Ab Urbe Condita Libri. Sechster Band. Erstes Heft. Buch XXVII und XXVIII, Dublin – Zürich 1968, S. 65). 27, 20, 9 astu magis quam uirtute; 28, 21, 10 bei einem Zweikampf, den Livius aber auch bezüglich der concordia im Inneren ausdeutet. Der ältere Streiter gewinnt aufgrund seiner Erfahrung über die stolidae uires des Jüngeren, ohne den genannten Kontext ließe sich astu hier auch neutral oder gar positiv als „Kompetenz“ oder „Fähigkeit“ bezeichnen, der Georges Bd. 2, Sp. 2812 übersetzt freilich mit „Finten“; 35, 14, 12: Punico astu Verschlagenheit des Hannibal, der den Scipio nicht zu den größten Feldherren zählt; 42, 47, 5 (Zitat im Haupttext): Es bezieht sich hier auf außenpolitisches Handeln, wird aber in den innenpolitischen Debatten verwendet. 120 Eine spezielle Wortfeldanalyse zu ars (136 Belege bei Packard [1968] und consilium (684 Belege bei Packard [1968]) ist für Livius nicht sinnvoll. Da beides Schlüsselbegriffe sind, mit denen der Historiker menschliches Handeln beschreibt – in seiner Intentionalität und in seiner Fertigkeit – , kommen die Begriffe tatsächlich bei ihm in der ganzen Bandbreite vor, die Wheeler und Abbot in ihren nicht auf Livius konzentrierten, aber diesen auch berücksichtigenden Analysen entwickelt haben. I.e. consilium kann der Plan oder das Strategem sein, aber auch das kluge Urteil, die Urteilsfähigkeit und Weitsicht des Magistrats (Wheeler [1988] S. 53 – 56; Abbot [1997 ] S. 29). Ars und consilium können beide natürlich auch negativ ausschlagen, z.B. das fallax consilium des Fabius Liv. 22, 16, 6 (nicht 15, 6 wie Wheeler a. a. O.) und das der Cumaner 23, 35, 4, dazu Wheeler S. 55f. mit Anm. 17, ebenda S. 57: „Ars (skill, artifice, fraud) […] requires little commentary.“ Es meint die Kunst in jeder Hinsicht (5, 27, 8 ego Romanis artibus, uirtute opere armis, sicut Veios uincam), Regierungskünste (5, 44, 2 hac arte: nach diesem Prinzip), Feldherrenkünste (8, 36, 4 ars bellica) und Tricks (22, 22, 9; 22, 24, 4 artibus Fabi: Feldherrenkunst und Tricks) jeder Provenienz. Es kann daher positiv wie auch negativ verwendet werden. 121 Acht Belege für sollers/sollertia bei Packard (1968): Buch 1 – 6 kein Beleg; 7, 14, 6 sollerti animo: über den Dictator C. Sulpicius, der eine oft kopierte Kriegslist ersinnt (ut arte aliqua terrorem hostibus incuteret); Buch 8 kein Beleg; 9, 17, 15 sollertius: findiger, schlauer, klüger (Alexanderexkurs, über die Ausübung der Kriegskünste); 10, 22, 7 callidos sollertesque iuris atque eloquentiae consultos qualis Ap. Claudius esset, urbi ac foro praesides habendos praetoresque ad reddenda iura creandos esse: klassischer Dualismus von sollertia der Rechtspflege und uirtus des militärisch geführten Consulamtes; Buch 21 kein Beleg; 22, 22, 6 sollerti magis quam fideli consilio: über einen Spanier, neg. Konnotation von sollers; 22, 23, 1 sollers cunctatio Fabi; 22, 28, 3 sollertiae Fabi; Buch 23 – 33 kein Beleg; 34, 61, 2 sollertia: listige Gewandtheit eines Tyriers neg. konnotiert; 35, 28, 1 Philopoemen praecipuae in ducendo agmine locisque capiendis sollertiae: kluge Kompetenz; Buch 36 – 45 kein Beleg. 122 Z.B. 1, 19, 5 über Numas Gespräche mit Egeria. 123 Z.B. 1, 9, 6 Romulus aegritudinem animi dissimulans ludos ex industria parat: Damit wird deutlich, dass Romulus die Consualia in listiger Absicht eingerichtet hat. 124 ludificatio hat fünf Belege bei Packard (1968): 6, 27, 6 als ludificationem plebis bezeichnen die Volkstribune die missglückte Besetzung der Censur in diesem Jahr; 7, 39, 4 der
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und fallax,129 Adverbien oder Adverbialen wie clam,130 de (ex) industria131 und in speciem (specie).132 Perfidus und perfidia, die übrigens auch in den „punischen Büchern“ des Livius weniger häufig verwendet werden, als man vielleicht erwarten würde, werden niemals innenpolitisch verwendet.133 Es Consul zieht durch eine List (ludificatio) Aufwiegler aus dem römischen Heer; 22, 18, 9 per ludificationem hostis: über die Strategie des Fabius; 26, 6, 16 als reine „Verspottung“, immerhin auch als Gegenbegriff zu uerum; 38, 14, 11 ludificatio ebenfalls als ein Verspotten und Narren, das über die Wahrheit wegtäuscht. Ludificari hat 8 Belege bei Packard (1968), z. B. 22, 39, 17 uide quemadmodum eum ludificati sint: wie die Consuln Hannibal genarrt haben; 23, 47, 5 inter se ludificantes Finten machen; 27, 46, 6 ludificatus hostem omnibus artibus belli erat; 44, 36, 9; 24, 34, 3 ist ambig, da es um die Kunst des Archimedes geht, der alle Belagerungsbemühungen durch seine Konstruktionen zunichte macht (ludificari), daher durchaus militärisch konnotiert. Das Verb wird auch politisch verwendet, letzteres 1, 50, 3; 39, 44, 8 innenpolitisch „zum Narren halten, betrügen“ und 41, 20, 3 munificentia inaequali sese aliosque ludificari. 125 35 Belege bei Packard (1968), z.B. 7, 35, 6 quem uidentem ac uigilantem sic eluseritis, sopitum oportet fallatis militärisch zum Narren halten, durch Finten in Schach halten; 21, 50, 2 die Taktik der Punier gegen die Römer wird als eludere bezeichnet und dies näher beschrieben als arte non ui rem gerere. 9, 11, 10 bezeichnen die Samniten (Pontius) die fetialrechtlichen Tricks der Römer als eludere numen. Innenpolitisch wird das Wort ebenfalls verwendet so z.B. 3, 10, 11 in der Agitation der Volkstribune. 126 46 Belege bei Packard (1968), z.B. 7, 35, 6. 127 Z.B. 8, 3, 3 omnia de industria celabantur. 128 Z.B. 8, 3, 2 über einen heimlich gegen Rom angezettelten Krieg. Occultus, occulte, occultare und occulere 121 Belege bei Packard (1968). 129 14 Belege bei Packard (1968), z.B. 6, 20, 4. 130 Z.B. 1, 51, 2. 131 de (ex) industria (33 Belege bei Packard [1968], 29-mal de industria, viermal ex industria) wird bei Livius so gut wie immer für ein Verhalten genommen, bei dem eine offene Handlung begangen wird, die eine verborgene deckt, also eigentlich ein klassisches aliud simulare aliud agere. Z.B. 1, 9, 6 (Romulus verbirgt seinen Ärger); 1, 56, 8 zur Verstellung des Brutus, dazu Robbins (1972) S. 3. 132 specie/per speciem (Auswahl): 1, 3, 11 per speciem honoris: Amulius macht seine Nichte Rhea Silvia zur Vestalin, scheinbar um sie zu ehren, in Wirklichkeit, um männliche Erben des Numitor zu verunmöglichen; 1, 27, 2 suis per speciem societatis proditionem reseruat: über den Verrat des Mettius; 1, 40, 5 specie rixae: Zwei Hirten täuschen einen Streit vor, um an Servius heranzukommen; 1, 41, 6 per speciem alienae fungendae uicis suas opes firmauit: Tarquinius festigt seine Macht unter dem Deckmantel der Statthalterschaft. 3, 9, 13 dilata in speciem actione; 4, 42, 4 in speciem modo; 6, 12, 9 in speciem causae: angeblicher Grund, die letzen drei Belege aus der innenpolitischen Agitation; 7, 15, 6 fallaci equitum specie: über ein Regiment aus Gefangenen und Kranken, das vom römischen Dictator C. Sulpicius als vermeintlich echter römischer Truppenteil im Wald aufgestellt wird und die feindlichen Gallier in die Flucht treibt – ein altes Strategem, das die Römer bis heute anwenden, wie Livius stolz vermerkt (7, 14, 6); 42, 26, 3 specie legatorum: illyrische Spitzel kommen als Gesandte getarnt nach Rom. Für die Formen von species hat Packard (1968) 190 Belege. Durch die Bedeutung der Sicht bei Livius (vgl. Feldherr [1998]) eine zentrale Vokabel, gerade durch das Auseinandertreten von Schein und Sein. 133 Bei Packard (1968) 19 Belege für perfidia, vier für perfidus. 1, 12, 8 perfidos hospites: Mettius Curtius über die Römer; 1, 28, 4 cum proditione ac perfidia sociorum: Tullus
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wird sogleich deutlich, dass nicht alle diese termini a priori eine List ausweisen müssen. Besonders die Begriffe ars und consilium erscheinen bei Livius und in der gesamten lateinischen Literatur in mannigfachen Gebrauchsformen; für Livius sind es vielleicht sogar die zentralsten Begriffe für sein Geschichtsprojekt (praef. 9): ad illa mihi pro se quisque acriter intendat animum, quae uita, qui mores fuerint, per quos uiros quibusque artibus domi militiaeque et partum et auctum imperium sit.
Hostilius über die Albaner; Buch 2 kein Beleg; 3, 2, 4 perfidia et periurio: Q. Fabius über die Aequer bzw. über den Verursacher des Krieges, den er in den Aequern ausmacht; 4, 32, 12 perfidos socios: die Römer über die Fidenaten; Buch 5 – 8 kein Beleg; 9, 3, 2 perfidum Samnitem: die bei Caudium eingeschlossenen Römer über die Samniten; Buch 10 kein Beleg; 21, 4, 9 perfidia plus quam Punica: Livius über Hannibal; 21, 52, 7 ob recentem Boiorum perfidiam: der Consul P. Cornelius Scipio über die Boier; Buch 22 – 24 kein Beleg (!); 25, 33, 2 perfidiae: Hasdrubal bedient sich der Treulosigkeit der Celtiberer; Buch 26 – 27 kein Beleg (!); 28, 19, 7 perfidiae: Scipio über die Treulosigkeit der Spanier, die er für größer hält als die der Karthager; 28, 32, 2 in perfidiam rebellantium regulorum inuectus: Scipio über die Ilergetenhäuptlinge Mandonius und Indibilis; 28, 44, 7 bene tutus a perfidia: Scipio baut auf Syphax und Massinissa als Schutz gegen die Treulosigkeit der Numider; Buch 29 kein Beleg; 30, 31, 3 praemia perfidiae: Scipio gegenüber Hannibal über die Karthager; 30, 32, 7 insita animis perfidia: Scipio über die Carthager (mit ironischem Kommentar des Livius 30, 32, 8, dass Scipio wiederum bei seiner Rede, mit der er die Römer gegen die Carthager anfeuert, das Geheimgespräch mit Hannibal in dem Sinne „fingiert“ habe, dass es seinen Interessen entspreche: conloquium (…) liberum fingenti qua uolt flectit); 30, 36, 9 Die Römer (Scipio) empfangen die punischen Gesandten nach Zama mit weniger Mitleid wegen deren erwiesener perfidia; 30, 37, 1 cum multa castigatione perfidiae ermöglicht Scipio den Frieden mit Carthago; 30, 42, 21 ein Senator misstraut der perfidiae Carthaginiensium; Buch 31 kein Beleg; 32, 19, 7 pro eius crudelitate perfidiaque: Die Achaeer misstrauen Philipps Treulosigkeit; 32, 32, 16 perfidiae praemium: Philipp über mögliche Übergriffe bei einem Gespräch mit den Römern; 32, 34, 12 perfidiam: außenpolitisch; Buch 33 – 34 kein Beleg; 35, 31, 13 ingrati ac perfidi: Quinctius über die Magneter; Buch 36 – 38 kein Beleg; 39, 13, 4 incusata perfidia Aebuti: Die Hetäre Hipsala beklagt die Treulosigkeit ihres Geliebten Aebutius, der die Bacchanaliengeheimnisse weitergegeben hat. Einziger nicht außenpolitischer Beleg, der sowohl erotischer Provenienz ist (meretrix – iuuenis) als auch im Rahmen einer schweren discordia im Staat geäußert wird. 40, 39, 9 perfidiam: der Proconsul Fuluius Flaccus über die Celtiberer; Buch 41 – 43 kein Beleg; 44, 26, 12 de perfidia et feritate Gallorum: König Perseus schwadroniert über die Gallier; Buch 45 kein Beleg. Am häufigsten führt Scipio Africanus perfidia als uitium der Feinde im Munde. 11 Belege in den punischen Büchern, davon beziehen sich sechs Belege auf Hannibal und die Karthager, der Rest auf Spanier, Boier, Ilergeten, Numider und Celtiberer. Diese insgesamt doch eher dünne Belegdichte mag auch damit zusammenhängen, dass perfidia zwar der natürliche Gegenbegriff zu fides ist; aber gerade die Konnotation „Strategem“ eher bei fraus gegeben ist, dazu: Gérard Freyburger, Fides. Étude sémantique et religieuse depuis les origines jusqu’à l’époque augustéenne, Paris 1986, S. 84 – 95.
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Anders als in dem berühmten Vers des Ennius erscheinen hier als Determinanten der römischen Geschichte Männer und Sitten nicht gleichberechtigt;134 der Schwerpunkt liegt nicht auf den um herausragende Persönlichkeiten gruppierten Ereignissen, sondern auf einer – wenn auch nicht mit der modernen Methodik verfolgten – Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Diese Besonderheit der livianischen Geschichtsschreibung ist gerade in den jüngeren Untersuchungen immer wieder thematisiert worden.135 Livius schließt zwar an die Tradition der republikanischen Annalistik an, schreibt aber unter ganz anderen Voraussetzungen: Die ersten Historiker waren bekanntlich Senatoren, die – aus verschiedenen Motiven – die Autorität der Führungsschicht, Geschichte zu vermitteln (bisher umgesetzt in Reden, pompa funebris/triumphalis, monumenta136), in einem neuen Medium verwirklichten. Narrativierung der Geschichte ermöglichte eine Herauslösung der memoria aus der gentilizischen Tradition in einen Gesamtkontext kontinuierlicher Handlungen verschiedener römischer Männer und stellte eine moralisch codierte und daher bewertbare Vergleichbarkeit von Leistungen her. Aus diesem Grund war die Gattung für mindestens zwei Censoren attraktiv.137 Die spätere Annalistik verselbstständigte die Gattung, soweit hier die Urteile angesichts der fragmentarischen Überlieferung über Leben und Werk der Autoren solche verbreiteten Urteile wirklich rechtfertigt, hin zu einer Literatur mit einem ästhetischen Eigenwert, der sich in einer gewissen Sensationslust aktualisierte und nicht unbedingt einer senatorischen Autorität bedurfte (Claudius Quadrigarius, Valerius Antias), obgleich sie die Regel blieb (Sallust). Livius profitiert von beiden Entwicklungen, jedoch beruht die Besonderheit seines Werkes nicht so sehr auf der Ästhetisierung von Geschichte, sondern auf der Mediatisierung von Autorität.138 Konnten die senatorischen Historiker aufgrund ihrer Autorität Geschichte darstellen und bewerten, leiht sich Livius die Autorität der Magistrate und der Monumente. Sein Geschichtswerk wird, wie Andrew Feldherr es dargelegt hat, selbst zu einem monumentum139 und spectaculum und zitiert damit die zentralen Vermittlungsmedien von Geschichte jenseits 134
Frg. 156 Skutsch: Moribus antiquis res stat Romana uirisque. Dazu Ruth Morello, Livy’s Alexander Digression (9, 17 – 19): Counterfactuals and Apologetics, in: JRS 92 (2002), S. 62 – 85, 69: Livius mache in seinem Alexanderexkurs deutlich, dass er das uir-unus-Konzept des Ennius so nicht teilt und eher Ciceros Ansicht ist (rep. 2, 2, 1): nostra autem res publica non unius esset ingenio sed multorum, nec una hominis uita sed aliquot constituta saeculis et aetatibus. 135 Feldherr (1998); Jaeger (1997); Forsythe (1999) sind dafür typische Arbeiten. 136 Hölscher (2001). 137 Kierdorf (2003) S. 24; Walter (2004) S. 249. 138 Timpe (1979) S. 105 vermutet dies bereits bei den Annalisten des 1. Jahrhunderts. 139 Feldherr (1998) S. 1 – 50; Jaeger (1997) S. 23; Walter (2004) S. 346. Vgl. auch István Borzsák, Spectaculum. Ein Motiv der „tragischen Geschichtsschreibung“ bei Livius und Tacitus, in: Acta Classica Debrecenensis 9 (1973), S. 57 – 67; Peter Steinmetz, Eine Darstellungsform des Livius, in: Gymnasium 79 (1972), S. 191 – 208, 208.
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der narrativen Historiographie. Livius spricht zwar formalnarratologisch als auktorialer Erzähler, nimmt sich aber selbst in der Regel aus dem Bericht heraus und schafft Wertungen und Orientierungen vor allem, indem er die Werte (uita, mores), Orte (domi militiaeque) und Handlungslogiken (artes) der Vergangenheit reinszeniert. Aus diesem Grund kommt den Begriffen ars und consilium bei Livius eine Schlüsselstellung zu.140 Es geht darum, auf welche Weise und mit welcher Absicht die Früheren gehandelt haben. Ars und consilium subsumieren dabei prima vista listiges Verhalten. Die ars des Feldherren etwa umfasst neben der sorgsamen Planung von Logistik und Strategie auch das taktische Element der List; ars unterscheidet sich hier von consilium eigentlich nur dadurch, dass jene eher die Handlung, dieses das Planen akzentuiert. Als Hannibals Macht schwindet, hält C. Claudius Nero die Zeit für gekommen, den Krieg nicht mehr mit ordinariis consiliis zu führen (27, 43, 6f.): audendum ac nouandum aliquid improuisum, inopinatum. Es geht nun darum, mit Hannibal gleichzuziehen und dies bedeutet, den Gegner listig zu überraschen. Es geht aber gerade bei Livius nicht nur um eine Subsumption, sondern um eine Dialektik. Das lässt sich aus dem oben bereits besprochenen Problem der fides extrapolieren. Fides ist (auch) für Livius ein zentrales semantisches Feld, um geschichtliches Handeln einzuordnen.141 Da römische Werte in der Regel kaum definitorisch oder gar metaphysisch gefüllt sind, sondern exemplarisch erläutert und an Taten großer Einzelner erlebt werden, braucht Livius immer auch das gegenteilige Handeln und damit auch den Gegenbegriff der perfidia und das damit verbundene Wortfeld. Livius belässt es aber nicht bei diesen Gegensätzen, sondern – dies ist der eigentlich dialektische
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Giebel (1999) S. 230; Morello (2002) S. 67. Dies wird, wenn es überhaupt eines Beweises bedarf, durch die Arbeit von Merten (1965) eindrucksvoll belegt, auch wenn diese noch mit Pöschl und Heinze (1960) eine stark moralistische Auffassung von fides vertritt (4f.). Viktor Pöschl, Die Römische Auffassung der Geschichte, in: Gymnasium 63 (1956), S. 190 – 206, 195f. Treffender vielleicht der von ihr abgelehnte Ansatz von Georg von Beseler, Fides, in: Atti del Congresso Internazionale di Diritto Romano 1933, Vol. 1 (1934/1935), S. 133 – 167, 148, der fides in seiner frühen Bedeutung ohne besondere moralische Konnotation lediglich als „Bindung“ versteht. Dazu Martin Josef Schermeier, Bona fides in Roman contract law, in: Reinhard Zimmermann/ Simon Whittaker (Hgg.), Good Faith in European Contract Law. The Common Core of European Private Law, Cambridge 2000, S. 63 – 92, 79 mit Anm. 97. In diesem Sinne auch schon Eduard Fraenkel, Zur Geschichte des Wortes Fides, in: RhM 71 (1916), S. 187 – 199, S. 187. Christian Strecker, Fides – Pistis – Glaube. Kontexte und Konturen einer Theologie der „Annahme” bei Paulus, in: Michael Bachmann (Hg.), Lutherische und neue Paulusperspektive: Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, Tübingen 2005, S. 223 – 250, hier: S. 232 – 238. Arnaldo Momigliano, On Pagans, Jews, and Christians, Middletown 1987, S. 74 – 79. Moderner zur fides bei Livius: Timothy J. Moore, Artistry and Ideology. Livy’s Vocabulary of virtue, Frankfurt am Main 1989, S. 35 – 50. 141
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Zug seines Denkens – bildet oft Synthesen aus den beiden Polen. Diese Denkfigur bestimmt die Konstellation Hannibal – Fabius – Scipio. 3.3.3 Erfahrungen und Argumentationen Im Zweiten Punischen Krieg können die Römer laut der Aussage des Livius auf ihre Erfahrungen aus dem ersten zurückgreifen (21, 1, 2): et haud ignotas belli artes inter sese sed expertas primo Punico conferebant bello. Es wäre für die vorliegende Untersuchung erhellend zu wissen, ob Livius den Ersten Punischen Krieg strukturell ähnlich gestaltet hat wie den überlieferten Zweiten. Dies entspräche durchaus seiner bereits erwähnten zyklischen Erzähllogik (die Samnitenkriege sind, wie sich hier gezeigt hat, ebenso parallel erzählt, was freilich auch an der Quellenlage liegen kann). Konkret geht es darum, wie viel die Römer von ihrem Feind bereits im ersten Krieg gelernt haben, um den damaligen Konflikt zu bestehen. Über Hannibals Vater Hasdrubal wird gesagt, er habe, so lange er mit dem militärischen Oberbefehl betraut war, mehr durch Planen als durch Gewalt gehandelt. Er erreichte seine Ziele durch politische Freundschaften, nicht durch Krieg (21, 2, 5): Is plura consilio quam ui gerens, hospitiis magis regulorum conciliandisque per amicitiam principum nouis gentibus quam bello aut armis rem Carthaginiensem auxit. Diese Politik entspricht etwa der, die Tacitus später für Tiberius festgestellt hat (s.o. Einleitung) und erscheint hier als typisch punisch. Dass sie auch für Livius den Ruch der Verschlagenheit trägt, wird durch den Umstand nahe gelegt, dass Hannibal seine Talente gerade unter Hasdrubal entfaltet hat, und diese werden eindeutig als perfidia plus quam Punica bezeichnet (21, 4, 9). Livius betont daher einerseits die römische Kenntnis der punischen Volten, andererseits den Umstand, dass der neue gegnerische Feldherr sie in einem Übermaß besessen hat, auf das, so darf man folgern, die Römer eben nicht vorbereitet waren. Es ist daher sowohl denkbar, dass Livius die Römer im Ersten Punischen Krieg nur eine passive Listkompetenz hat erwerben lassen, in der sie die Verschlagenheit des Gegners zwar erkennen, aber nicht selbst mit einer solchen antworten, oder dass sie auch im ersten Konflikt bereits einige der politischen und militärischen Techniken der Karthager sich haben zu eigen machen können, dieses Wissen aber irrelevant wird angesichts der Qualitäten des neuen Feindes. Grundsätzlich neige ich der ersten Variante zu, weil diese auch die Gestalt des Fabius am besten erklärt. Fabius kennt die Listen des Hannibal so gut, dass dieser es sich schließlich als besonderen Erfolg anrechnen würde, wenn er auch diesen Gegner einmal überlisten könnte. Gleichzeitig lernt Fabius nur mühsam und mit geringerem Erfolg als
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später Scipio, selbst Listen anzuwenden (s.u.). In jedem Fall aber muss man konstatieren, dass die Römer (in der livianischen Erzählung) in ihrer Gesamtheit beim Ausbruch des zweiten Krieges mit Karthago zunächst nicht viel von ihren Erfahrungen mit dem Feinde profitieren können. Allerdings scheint es immerhin so, als wäre die militärische Organisation der Römer auch in Wirklichkeit zu Beginn des Konfliktes noch veraltet gewesen. Weder verfügten sie über eine kontinuierliche Führung noch über ein professionalisiertes Veteranenheer, besonders aber vertrauten sie immer noch der Stoßkraft der Infanterie, während die Kavallerie sich längst als kriegsentscheidend herausgestellt hat (und schließlich auch vor Zama den römischen Sieg bringen wird).142 Auch das Ende der Manipeltaktik wird erst in diesem Krieg eingeläutet.143 Es sieht daher sowohl für den Leser des Livius als auch für den modernen Historiker so aus, als hätten sich die Römer auf dem militärisch-politischen Feld seit den Samnitenkriegen nicht weiter entwickelt, sodass auch die Untersuchung der List trotz der Lücke hier fast bruchlos fortfahren kann.144 Die Grundzüge des Punischen Krieges, Hannibals Alpenübergang, die notorischen anfänglichen Niederlagen der Römer (Ticinus, Trebia, Trasimenischer See, Cannae), das schwierige Durchsetzen der fabianischen Strategie, die wegen ihrer Zumutungen für die Bundesgenossen, deren Städte und Ernten dem Feind lange Zeit preisgegeben werden mussten, einige Risiken barg; die Zermürbung des Hannibal und der Umschwung zu einer offensiveren Kriegsführung unter Claudius Marcellus und Scipio sind hinlänglich bekannt und müssen hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Auf der makroskopischen Ereignisebene unterscheidet sich der livianische Bericht hier kaum von der bei Historikern regelmäßig bevorzugten Darstellung des Polybios. Daher weichen auch die modernen Geschichtsdarstellungen dieses Krieges hier letztlich wenig ab.145 Die gesamte Frage nach der Kriegsschuld (Sagunt), den Absichten Hannibals (Vernichtungskrieg oder Dekomposition des römischen Bündnissystems),146 142
Delbrück (1923) S. 352ff. Brizzi (1982) S. 38 – 40, bes. S. 39. Delbrück (1923) S. 279, 321. 144 Aber auch dies kann an der zyklischen Darstellungsweise des Livius liegen. Weitere Spekulationen über das Verlorene halte ich für unnötig. 145 „Nur im Vorübergehen sei angemerkt, dass es auch mit den sachlichen Irrtümern des Livius nicht so schlimm bestellt ist, wie es nach so viel Kritik dem Laien scheinen könnte.“ Friedrich Klingner, Livius. Zur Zweitausendjahrfeier, in: Friedrich Klingner, Römische Geisteswelt. Essays zur lateinischen Literatur. Mit einem Nachwort herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 1984, S. 458 – 482, 461. 146 Für Letzteres hat sich Karl Christ, Hannibal, Darmstadt 2003, S. 96 jüngst ausgesprochen. Er folgt damit Delbrück (1923) S. 354f., 385. J. F. Lazenby, Hannibal’s War. A military history of the Second Punic War, Warminster 1978, S. 29f. und 86; ebenso Nigel 143
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die Ursachen für das endliche römische Obsiegen (Stärke der römischen Verfassung [Polybios], Fehler Hannibals) werden nach wie vor konträr diskutiert (sodass die Deutungsangebote des Livius vielleicht methodisch nicht mehr tauglich, aber inhaltlich noch nicht desavouiert sind). Die Ereignisfolge darf daher wohl außer Acht gelassen werden und die Analyse vom Ende her beginnen. Für die vorliegende Untersuchung ist eine Episode besonders relevant, der nach moderner Ansicht (mit Recht) gerade keine Historizität zugebilligt wird. Es handelt sich um das Gespräch zwischen Scipio und Hannibal kurz vor der Schlacht von Zama (30, 30f.), in der die Karthager von den Römern durch eine Umfassungstaktik besiegt werden, wie sie Hannibal immer angewandt hatte.147 Hannibal, der die Aussichtlosigkeit der karthagischen Kriegsführung begriffen hat, bemüht sich hier, den Römer zu einem Friedensvertrag zu überreden und auf das Risiko der Entscheidungsschlacht zu verzichten. Scipio lehnt dies ab. Die Rede des Hannibal erscheint auf den ersten Blick klug und vernünftig. Er eröffnet mit einer captatio beneuolentiae, in der er dem Gegner schmeichelt. Er freue sich, gerade von Scipio den Frieden zu erbitten (30, 30, 3). Er kommt dann auf die Sinnlosigkeit des Krieges zu sprechen, dessen Aufwand durch kein Ergebnis zu rechtfertigen sei (30, 30, 6f.). Beide aber hätten sie die Autorität, einen Friedensschluss in ihren Gemeinden durchzusetzen, es komme einzig darauf an, den Willen dazu zu entwickeln (30, 30, 9f.): animo tantum nobis opus est non abhorrente a quietis consiliis. Quod ad me attinet, iam aetas senem in patriam reuertentem unde puer profectus sum, iam secundae, iam aduersae res ita erudierunt ut rationem sequi quam fortunam malim: tuam et adulescentiam et perpetuam felicitatem, ferociora utraque quam quietis opus est consiliis, metuo. Hannibal stellt seinen Friedenswillen als ein Ergebnis von Erfahrung dar. Sein Alter hat ihn die Wechselhaftigkeit des Glücks erleben lassen. Der Erfolg könne dazu verleiten, diese fortuna beherrschen zu wollen, während der Mensch doch nur über die eigene ratio gebiete. Der fortuna dürfe man gerade im Glück nicht vertrauen (30, 30, 18). Ein junger Mensch dagegen stehe der ratio feindlich gegenüber. Hannibal beginnt hier mit scheinbar allgemeinen Erwägungen zu Glück und Unglück, Alter und Jugend, spitzt diese Thematik im Folgenden aber immer deutlicher auf das Kriegsglück zu. Damit stellt er seine eigene Kriegsführung Bagnall, Rom und Karthago. Der Kampf ums Mittelmeer, Berlin 1995, S. 247. Seit Mommsen hat sich in der Beurteilung dieser Frage wenig getan. 147 Dazu jetzt, allerdings ohne nennenswerte neue Ergebnisse: Lorenz Rumpf, Scipio und Hannibal vor Zama. Beobachtungen zur Struktur historischer Urteile und Vergleiche bei Livius und Polybios, in: Hermes 134 (2006), S. 159 – 180. Vgl. auch Edlund (1967).
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als eine Art Hasardspiel dar, das er zwar mit großer Kühnheit und Tapferkeit gespielt hat, über dessen Erfolg er aber letztlich keine Kontrolle hatte (30, 30, 19): Melior tutiorque est certa pax quam sperata uictoria; haec in tua, illa in deorum manu est. Ne tot annorum felicitatem in unius horae dederis discrimen. Diese Argumentation ist in ihren Absichten sehr durchsichtig;148 dennoch umfasst sie auch ein Deutungsangebot der bisherigen Ereignisse, das durchaus zur übrigen Charakteristik des Hannibal bei Livius passt. Die gesamte Kriegspolitik des Hannibal erscheint bei Livius als eine, die den Augenblick beherrscht, längerfristige Entscheidungen aber meidet. Den locus classicus für diesen Aspekt stellt sein Verhalten nach der Schlacht von Cannae dar, in der er auf einen Marsch auf Rom verzichtet und sich von seinem eigenen Reiteroberst Maharbal vorhalten lassen muss, er verstehe es zu siegen, nicht aber, den Sieg zu nutzen (22, 51, 1 – 4). In der modernen Militärforschung wird die römische Deutung dieser Episode, die auf Catos Origines zurückgeht,149 oft zurückgewiesen. Hannibal habe nach kluger Abwägung seiner strategischen Ressourcen eine Belagerung der gut befestigten und verteidigten Stadt für unmöglich gehalten.150 Die Kritik des Offiziers sei die typische Aussage eines Haudegens ohne strategisches Wissen gewesen.151 Dies mag so sein. Dennoch scheint innerhalb des livianischen Berichtes152 genau das Gegenteil damit gemeint zu sein: Der Offizier spricht Hannibal ein strategisches Wissen153 ab und wirft ihm vor, nichts aus dem 148
Gerhard Stübler, Die Religiosität des Livius, Amsterdam 1964, S. 167. Den Eindruck menschlicher Reife des Hannibal, den Burck (Erich Burck, Einzelinterpretationen von Reden, in: Burck [1967], S. 430 – 463, 459, gewisse taktische Spielchen räumt er S. 460 ein) festgestellt hat, teile ich nicht, obwohl das genau der Eindruck ist, den Hannibal erzeugen will – aber nicht Livius! 149 FRH 3 F 4, 13 (Gell. 10, 24, 7 = Macr. Sat. 1, 4, 26) und 4, 14 (Gell. 2, 19, 9). 150 Mommsen (1874) S. 613; Martine Chassignet (Hg.), Caton, Les Orgines (Fragments). Texte établi, traduit et commenté, Paris 1986, S. 92; Delbrück (1923) S. 353 – 355; A. D. Fitton Brown, Nach Cannae, in: Christ (1974), S. 227 – 237 (ursprgl. After Cannae, in: Historia 8 (1959), S. 365 – 371), S. 228f. Christ (2003) S. 95. Fitton Brown selbst glaubt, dass Hannibal die Stadt sehr wohl hätte einnehmen können, aber sie nur schwächen wollte, um sie als Gegengewicht gegen den makedonischen Einfluss zu erhalten. Ähnlich Johannes Kromayer, Hannibal als Staatsmann, in: Christ (1974), S. 241 – 274 (ursprgl. HZ 103 [1909], S. 237 – 273), S. 267. 151 Delbrück (1923) S. 354. 152 Bei der catonischen Fassung kommt dies, zumindest in den Fragmenten, nicht so deutlich heraus. Cato selbst hat sich seiner celeritas im Kriege gerühmt (Chassignet [1986] S. 92), insofern könnte die Formulierung des Maharbal „sero est“ (FRH 3 F 4, 14) durchaus eine Kritik beinhalten, das hätte dann aber weniger etwas mit dem strategischen als dem taktischen Handeln des Hannibal zu tun, der nicht rasch genug reagiert. 153 Ich verwende den Begriff Strategie bewusst avant la lettre.
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augenblicklichen Erfolg machen zu können. Dass Livius genau dies gemeint hat, wird daraus deutlich, dass er den Hannibal seinen „Fehler“ später bereuen lässt (26, 7, 3; 30, 20, 7). Ferner wird Hannibal nach Cannae unterstellt, ihm sei der Erfolg zu groß erschienen, als dass er ihn ganz habe begreifen können. Als rationale Entscheidung erscheint sein Zögern, anders als das des Fabius, nicht. Hannibal fehlt also nach römischer Auffassung das strategische Geschick, um die aus den militärischen Siegen gewonnen Ressourcen erfolgreich einsetzen zu können. Auch in diesem Sinne wird Hannibal konsequent als ein Listiger gekennzeichnet, nicht nur, weil er – immer in der römischen Sicht – ständig Täuschungen und Betrug anwendet, sondern weil er, um auf die certeauschen Begriffe zurückzukommen, nicht den Raum, sondern nur die Zeit beherrscht. Er bewegt sich in Italien nicht als Herr des Landes, sondern immer wie ein Fremder, er stiehlt Ressourcen und versucht, mit ihnen zu entkommen. Er kann aber niemals wirklich Raum gewinnen, um sie nachhaltig anzulegen. Die fabianische Strategie dagegegen ist letztlich ein Sieg des Raumes über die Zeit. Denn Fabius Maximus spielt auf Zeit, er rechnet mit dem Ausbluten des Gegners in der Tiefe des Raums. Auf Zeit spielen kann man aber nur, wenn man den Raum beherrscht, mit der Zeit spielt, wer den Raum nicht hat. Der entscheidende Punkt in der livianischen Darstellung ist aber nun, dass weder die fabianische noch die hannibalische Strategie den Krieg zu einem erfolgreichen Ende führen können. Es ist diese Alternative zweier aporetischer Strategien, die der Argumentation des Hannibal zugrunde liegt. Scipio aber antwortet mit einer Synthese (30, 31, 1f. und 6): Non me fallebat, Hannibal, aduentus tui spe Carthaginienses et praesentem indutiarum fidem et spem pacis turbasse neque tu id sane dissimulas qui de condicionibus superioribus pacis omnia subtrahas praeter ea quae iam pridem in nostra potestate sunt. (…) Quod ad me attinet, et humanae infirmitatis memini et uim fortunae reputo et omnia quaecumque agimus subiecta esse mille casibus scio. Er zeigt sich der Widrigkeiten des Kriegsglückes bewusst, kommt aber zugleich auf die strategische Ausgangslage des Konfliktes zu sprechen.154 Die Wechselhaftigkeit der fortuna ist für Scipio weder Argument für ein militärisches Hasardspiel, noch schreckt sie ihn davon ab, Risiken einzugehen. Anders als Hannibal will er der Entscheidungsschlacht nicht aus dem Wege gehen, weil er die punische perfidia ein für allemal beenden will, um eine endgültige Entscheidung herbeizuführen (30, 31, 9: bellum parate, quoniam pacem pati non potuistis).
154 Stübler (1964) S. 168f. mit etwas anderer Stoßrichtung (stärker religiös argumentierend).
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Der zentrale Begriff für die negativ konnotierte List ist bei Livius fraus. Dieses Wort ist ubiquitär im ganzen Werk des Livius, mit zwei (drei) charakteristischen Ausnahmen, darunter Buch 29.155 In Buch 28 wird zum letzten Mal von fraus gesprochen, wenn Fabius in seinem Rededuell mit Scipio vor den Betrügereien der Numider und Celtiberer warnt, auf die Scipio setzt (28, 47, 7 und 8). Damit zeigt sich, dass das consilium des Fabius am Ende das eines ängstlichen Misstrauens ist. Scipios Politik aber setzt sich durch und fraus verschwindet für ein ganzes Buch aus dem Bericht. Im 30. Buch taucht es nur noch dreimal (ohne die Floskel in 30, 19, 9) auf (danach freilich wieder sehr häufig bei der Konfrontation mit den intriganten Makedonen): 1. als der Senat die fraus Punica der karthagischen Gesandten entlarvt (30, 22, 6), 2. als Hamilcar einen läppischen Angriff auf eine römische Quinquereme unternimmt und damit den Waffenstillstand betrügerisch gefährdet (30, 25, 6),156 3. in Scipios Entgegnung auf Hannibal, als der Römer deutlich macht, dass sich die fraus Punica nicht jetzt noch, vor Zama, in einem ängstlichen Frieden auszahlen dürfe (30, 31, 3): Ceterum ut tibi curae est sentire ciues tuos quanto per te onere leuentur, sic mihi laborandum est ne quae tum pepigerunt hodie subtracta ex condicionibus pacis praemia perfidiae habeant. Indigni quibus eadem pateat condicio, etiam ut prosit uobis fraus petitis. Es ist also Scipios Politik, die die fraus Punica an ein Ende führt. Dieses Ergebnis gilt für den ganzen Staat und ist nicht mehr, wie noch im Streit zwischen Fabius und Scipio, die Politik eines Einzelnen, wie Livius durch das zeitliche Arrangement der Ereignisse deutlich macht. Der oft so selbstherrliche Scipio157 lässt sich gleichsam narrativ von den patres autorisieren. Erst weist der Senat, dann der Feldherr die fraus zurück. Rom hat die Krise der punischen List bestanden. Anders als nach der Vertreibung der Könige sind die Römer diesmal aber nicht naiv geworden im Bereich der List. Scipio hat über dem taktischen Erfolg das strategische Ziel nie aus den Augen verloren. Die Imponderabilien der Gefechts waren ihm dabei kein zu hohes Risiko; darin unterscheidet er sich sowohl von Fabius als auch von Hannibal: Fabius hatte eine Strategie des Bewahrens von Ressourcen, ohne sie zu vermehren, Hannibal eine Taktik des Vermehrens, ohne zu bewahren, Scipios Strategie bedeutet Vermehren und das Vermehrte bewahren. Dies ist der eigentliche Unterschied 155 Fraus kommt auch im zweiten Buch, in dem die junge Republik in ihrer Arglosigkeit geschildert wird, nicht vor. Dass im verstümmelten 45. Buch kein Beleg zu finden ist, hat keine Aussagekraft. Das insgesamt seltenere Wort dolus ist ebenfalls in Buch 29 nicht enthalten. 156 Livius erwägt dort, ob Hamilcar aus eigenem Entschluss, d.h. sine publica fraude vorgehe, das bedeutet aber doch, dass es sich insgesamt um fraus handelt. 157 Brizzi (1982) S. 94 – 96.
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zu Hannibal. Brizzi hat in seiner Studie sehr stark betont, wie in Scipio die Römer bestimmte Strategeme von den Karthagern übernehmen und in ihre Politik einverleiben. Es ist Scipio, der intensiv und erfolgreich mit Täuschung und Inszenierung agiert.158 Dies ist das Ergebnis eines Lernprozesses, der wechselseitig stattgefunden hat und früh einsetzt. Wenn Scipios Politik eine Synthese darstellt, dann bildet sich diese Synthese aus zwei dialektischen Polen. Diese bilden im livianischen Bericht die Antagonisten Hannibal und Fabius. In ihm, und nicht in Scipio, erkennt Hannibal immer wieder sich selbst.159 Es ist eine typische Aporie langer, verbitterter Auseinandersetzungen, dass die Gegner sich in ihrem Verhalten immer ähnlicher werden und dabei auch moralische Vorteile, so sie überhaupt einer Partei zugesprochen werden können, in den Hintergrund treten. Während Hannibal sich auch einmal in der fabischen Strategie des sedendo et cunctando versucht (22, 24, 10), hatte Fabius frühzeitig seine Generallinie der Schlachtvermeidung mit ersten Versuchen verbunden, den Feind bei Casilinum einzuschließen. Hannibal muss erkennen, dass er durch seine eigenen Künste angefallen wird (22, 16, 5: nec Hannibalem fefellit, suis se artibus peti). Er antwortet mit einem listigen Fluchtstrategem (22, 16, 7: fallax consilium) und zeigt sich so zu diesem Zeitpunkt sowohl in der passiven als auch der aktiven Listkompetenz überlegen (d.h. er erkennt Listen frühzeitig und hält listige Antworten bereit).160 Ein typisches Beispiel für die Entwicklung der Römer im Allgemeinen und des Fabius im Besonderen ist das Schicksal der Stadt Tarent. Tarent fällt zunächst durch proditio an die Karthager. Livius gestaltet diese erste proditio in großer Breite; bereits im 158
Damit ist besonders sein Verhalten bei den Friedensverhandlungen mit Karthago gemeint, die Scipio nutzt, um Überraschungspläne vorzubereiten und Spione getarnt zu den Feinden zu schicken (30, 4); Brizzi (1982) S. 84 – 87. 159 Auch für Cicero (ähnlich Nepos, vgl. unten Anm. 163) bilden diese beiden Antagonisten ein Gespann (off. 1, 108: Callidum Hannibalem ex Poenorum, ex nostris ducibus Q. Maximum accepimus, facile celare, tacere, dissimulare, insidiari, praeripere hostium consilia. In quo genere Graeci Themistoclem et Pheraeum Iasonem ceteris anteponunt, in primisque uersutum et callidum factum Solonis, qui, quo et tutior eius uita esset et plus aliquanto rei publicae prodesset, furere se simulauit. Vgl. dazu auch Abbot [2000] S. 64). Cicero würdigt die listige Anlage im Menschen als eine unter vielen möglichen, dabei dürfe man nicht gegen seine Natur leben. Ebenso arbeitet auch Cicero hier mit einem strikten Dualismus von ueritatis cultores, die gleichzeitig simplices sind (1, 109), und eben dem listigen Politiker. Er stellt an dieser Stelle keine Synthese her, weil es ihm um die Naturanlagen des Charakters geht, und nicht so sehr um die Pragmatik der Politik, aber der Gedanke ist dem des Livius durchaus vorgebildet. Wheeler (1988) S. 68 Anm. 87 erwägt zögernd, ob es sich bei dem genannten Q. Maximus vielleicht auch um Q. Fabius Maximus Rullianus handeln könnte, der in den Samnitenkriegen durch Strategeme aufgefallen sei, aber das ist durch den Kontext ganz ausgeschlossen. 160 Es handelt sich um das berühmte Rinderstrategem, bei dem vom Abzug der Punier durch eine Herde Rinder abgelenkt wird, die nachts mit Fackeln an den Hörnern in Richtung der von den Römern besetzten Berge getrieben werden (22, 17, 7 – 18, 7).
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Jahre 214 kommen tarentinische iuuenes zu Hannibal, die zum Teil nach der Schlacht am Trasimenischen See, zum Teil nach Cannae von diesem freigelassen wurden (genau in der Absicht, die römischen Bündner für sich einzunehmen, wurden diese besser behandelt als die römischen Gefangenen) und bieten ihm an, die Stadt zu übergeben (24, 13, 1 – 7). Diesen ersten Versuch können die Römer noch durch rechtzeitige Installierung einer römischen Garnison vereiteln (24, 20, 9 – 16). Doch 212 v. Chr. wenden sich erneut tarentinische iuuenes an den Karthager.161 Die Einzelheiten dieses für die Karthager erfolgreichen Versuches schildert Livius mit großer Detailgenauigkeit. Dreißig junge Männer haben sich in Tarent zur Übergabe der Stadt verschworen, vertreten werden sie bei den Verhandlungen mit Hannibal von Nico und Philemenus. Die Gespräche finden in verstohlener Heimlichkeit statt, die Tarentiner lassen sich weitgehende Autonomie zusichern. Philemenus hat sich einen Ruf als eifriger Jäger erworben; indem er den Torwächtern regelmäßig etwas von seiner Beute abtritt, kann er nachts jederzeit die Tore passieren. Hannibal lagert drei Tagesreisen entfernt von Tarent und wartet auf seine Gelegenheit. Um sich nicht verdächtig zu machen, lässt er verbreiten, er sei erkrankt und verlege deshalb sein Lager nicht. Schließlich bringt er sein Heer in die unmittelbare Nähe Tarents, auch hier nicht ohne auf Verschleierungstaktiken sowohl gegenüber seinen eigenen Soldaten zu verzichten, die bis zuletzt ahnungslos sind, noch gegenüber den Feinden, bei denen nur der Eindruck einiger unbedeutender raids entsteht. Nico bringt Hannibal und einen Großteil seines Heeres von Osten in die Stadt, Philemenus einen weiteren Teil durch ein anderes Tor. Was sich von der überrumpelten römischen Garnison retten kann, zieht sich rechtzeitig auf die arx zurück und leistet hier einen Widerstand, der die Freude Hannibals über die Einnahme Tarents nachhaltig trübt (25, 8 – 11). 209 v. Chr. aber gewinnen die Römer Tarent unter der Führung des Fabius wiederum durch eine proditio zurück, die von Livius zwar nicht ganz so breit ausgemalt wird wie der vorherige Abfall zu den Karthagern, dafür aber die 161 Die Motivation ist hier eine andere: Im ersten Fall war es eine Form von Dankbarkeit, die freilich aus römischer Sicht Hannibal sich nur durch eine verschlagene Großzügigkeit erworben hat, vgl. 24, 20, 15 simulata lenitas (zum Verhalten des H. im ager Tarentinus, den er nicht verwüstet, um die Tarentiner weiter zu ermuntern). Im zweiten Fall aber kommt der Ärger einiger griechischer Gemeinden über eine vermeintliche atrocitas der Römer hinzu, mit der diese allerdings wiederum einen Fluchtversuch der tarentinischen und thurinischen Geiseln geahndet hatten (25, 7, 10 – 14; 25, 8, 1f.). Wiederum zeigt sich die Parallelisierungstechnik des Livius: Falsch verstandene lenitas des Hannibal auf der einen, falsch interpretierte atrocitas der Römer auf der anderen Seite lösen die zwei Versuche aus. Gleichzeitig macht Livius deutlich, dass, unabhängig davon, ob die Römer Recht haben, die größere Gefahr von zu großer römischer Strenge ausgeht, nicht so sehr von den Verlockungen des Feindes.
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romanhafte Ausgestaltung fast noch überbietet: Eine Liebesgeschichte eröffnet hier die Gelegenheit zur proditio, die ein bruttischer Garnisonpräfekt im Sinne der Römer vollzieht (27, 15, 9 – 12, 17f.). Zwei Details ein und desselben Problems spielen hier eine wichtige Rolle: Erstens fühlen sich die Römer mit diesem Sieg, der auf Verrat zurückgeht, nicht wohl. Bei dem Gemetzel, das die Römer nach der Einnahme Tarents veranstalten, kommen auch viele Bruttier zu Tode (27, 16, 6): Bruttii quoque multi passim interfecti seu per errorem seu uetere in eos insito odio seu ad proditionis famam ut ui potius atque armis captum Tarentum uideretur exstinguendam. Die Römer möchten die Stadt am liebsten nicht durch eine proditio zurückerhalten haben, weil diese Form des Erfolgs der punischen Verschlagenheit zu ähnlich ist. Zweitens kann Fabius aus diesem Grund mit der Einnahme Tarents nicht so viel Ruhm gewinnen wie Scipio durch seine spanischen Kampagnen (27, 20, 9): Romae fama Scipionis in dies crescere, Fabio Tarentum captum astu magis quam uirtute gloriae tamen esse, Fului senescere fama, Marcellus etiam aduerso rumore esse etc.162 Fabius’ Stern sinkt, je mehr er sich von der punischen Strategie abschaut.163 Hannibal selbst resümiert (27, 16, 10): Et Romani suum Hannibalem (…) habent.164 Erneut also nimmt der Karthager die Strategie des Fabius als eine wesensverwandte Handlungskompetenz wahr, er fasst sie gleichsam spiegelbildlich auf und erkennt in dem Römer ein direktes Gegenüber. Dies spornt ihn zu einer Überbietungshandlung an. Er versucht, ihn nach Metapont zu locken, indem er ihm durch vermeintliche Überläufer zunächst erfolgreich 162
Fabius steht hier ganz klar hinter Scipio, was den Erfolg in der öffentlichen Meinung angeht, denn Livius bietet eine absteigende Linie: Aufstieg des Scipio, Stagnation des Fabius, Verblassen des Fulvius, Abstieg des Marcellus. 163 Die listige Seite des Fabius mag Livius offenbar nicht. Dass die cunctatio des Fabiers selbst eher ars als uirtus ist und der Kritik unterlag, macht er vergessen, hat es aber nicht vergessen. Jedenfalls zitiert Livius für die Gestalt des listigen und schmierigen Abelux ausgerechnet den berühmten Vers des Ennius über Fabius (22, 22, 5): Eo uinculo Hispaniam uir unus sollerti magis quam fideli consilio exsoluit. Vgl. Ennius 363 Skutsch: Unus homo nobis cunctando restituit rem. Erhärtet wird dies dadurch, dass das bei Livius seltene Wort sollers gleich im Folgekapitel 22, 23, 1 wiederkehrt, auf die cunctatio des Fabius bezogen (sollers cunctatio Fabi). Ein wertfreies Verhältnis zur Listigkeit des Hannibal und zur Schläue des Fabius hat, m. E. als einziger Cornelius Nepos Hann. 5, 2, wo Fabius als imperator callidissimus bezeichnet wird, der dennoch von Hannibal mit dem Rinderstrategem genarrt wird. 164 Er fährt bezeichnenderweise fort: eadem qua ceperamus arte Tarentum amisimus.
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weismacht, diese Stadt sei bereit, sich ihm zu übergeben und die punische Garnison auszuliefern (27, 16, 12 – 16). Dabei betont Livius, dass Hannibal gerade darüber Freude empfunden habe, dass nicht einmal ein Fabius dolo inuictus bleibe. Doch hier ist es ein typisch römisches Verhalten, das die Katastrophe verhindert: Fabius holt vor dem Abmarsch aus Tarent Auspizien ein (27, 16, 15), die negativ ausfallen. Daraufhin werden die metapontischen Überläufer streng verhört und entdecken den Römern einen von Hannibal gelegten Hinterhalt. Fabius’ Stärke liegt in der Vermeidung der Schlacht und in der rituellen Ordnung des Magistrats. Nach der Niederlage von Cannae ist es seine größte Tat gewesen, die Ruhe in der Capitale wieder herzustellen (22, 55, 4 – 8); die moralische Wiederaufrichtung des Gemeinwesens fand wesentlich durch religiöse Zeremonien statt (22, 57).165 Fabius enttäuscht hier die Hoffnung des Hannibal, sein Gegner habe sich ihm selbst soweit angenähert, dass er in ein Hasardspiel von List und Gegenlist hineinzuziehen wäre, in dem sich der Punier unweigerlich als Sieger herausstellen würde. Fabius’ Listkompetenz bleibt aber passiv, sie bezieht sich zunächst auf das Erkennen von Listen und diese Erkenntnis erscheint vermittelt durch die religiöse Kompetenz des Magistrats. Das aktive Durchführen der List – eine Kompetenz, die auch andere römische Feldherren erwerben166 – bringt Fabius wenig politisches Kapital und vor allem führt es nicht zu einer Änderung der Generallinie seiner Politik. Diese Änderung wird durch Scipio vollzogen, der deshalb in der Regel als der eigentliche „römische Schüler“ des Hannibal firmiert.167 Scipio legt aber andere Akzente, die sowohl eine Abkehr von der Politik des Fabius als auch von der des Hannibal beinhaltet.168 Während der achtzigjährige Fabius seinen letzten großen Erfolg durch die Wiedergewinnung Tarents qua proditio erlebt, schlägt Scipio in Spanien erfolgreiche Schlachten, die ihm folgerichtig ein höheres politisches Kapital bescheren. Er betreibt daher, dass ihm zusätzlich zu seiner Provinz Sizilien der Krieg in Africa übertragen werde, um die Karthager im eigenen Land endgültig zu besiegen (28, 40, 1f.). Das Rededuell, das sich Fabius und Scipio an dieser Stelle liefern, ist bekannt und braucht nicht in allen Facetten wiedergegeben zu werden. Es geht hierbei um den Wechsel von Generationen und Politikstilen.
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Der Urheber dieser Maßnahmen wird von Livius nicht ausdrücklich genannt. 27, 41, 6f. C. Claudius Nero (6: ingenio ostis usus), Scipio ohnehin s. passim. 167 Vgl. Flor. epit. 1, 22, 5: Duce igitur Scipione in ipsam Africam tota mole conuersus imitari coepit [sc. populus Romanus] Hannibalem et Italiae suae clades in Africa vindicare. Dazu Giovanni Brizzi, Imitari coepit Annibalem (Flor. I, XXII, 55): apporti catoniani alla concezione storiographica di Floro?, in: Latomus 43 (1984), S. 424 – 431. 168 Delbrück (1923) S. 385f. beschreibt ebenfalls die Gemeinsamkeiten von Fabius und Hannibal. Beide hätte keine Niederwerfungs-, sondern eine Ermüdungsstrategie des Gegners verfolgt. Das ändert sich eben erst mit Scipio. 166
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Fabius betrachtet seine eigene Strategie als Grundlagenarbeit, die der nachfolgenden Generation die Möglichkeit eröffnen soll, den Feind zu besiegen (28, 40, 14): uincere ego prohibui Hannibalem ut a uobis quorum uigent nunc uires etiam uinci posset. Dabei stellt er sich ein scheinbar folgerichtiges Nacheinander der Handlungen vor: Erst soll Hannibal aus Italien vertrieben werden, dann könne man diesem den Krieg ins eigene Land tragen (28, 41, 9): Hoc et natura prius est, tua cum defenderis aliena ire oppugnatum. Pax ante in Italia quam bellum in Africa sit, et nobis prius decedat timor quam ultro aliis inferatur. Auch wenn die Auseinandersetzung über weite Strecken über gloria geführt wird, wobei Scipio dem Fabius vielleicht nicht ganz fälschlich unterstellt, er neide ihm einen möglichen Sieg über den größten Feind, den Rom je besessen hat, möchte Fabius selbst das zukünftige Vorgehen in seinem Sinne als ein reaktives gestaltet sehen; er unterwirft sich gleichsam dem ordo naturalis einer Geschichte, die Hannibal und nicht die Römer geschrieben haben. Der eigentliche Unterschied zwischen Fabius und Scipio – und auch Hannibal und Scipio – in strategischen Fragen liegt aber in der Durchsetzung des Sieges. Livius macht das besonders durch den Gebrauch des Wortes fortuna deutlich, der seinen Bericht von anderen Überlieferungen, namentlich der des Polybios, unterscheidet.169 Fabius hat von Anfang an einen Horror davor, das Geschehen der fortuna anzuvertrauen. Ein früher Konflikt mit seinem Reiteroberst Minucius (der den Antagonismus Fabius – Scipio präfiguriert) scheint ihm Recht zu geben, denn als dieser die Strategie des Dictators hintertreibt und seine Truppen in ein desaströses Gefecht mit den Karthagern führt, bringt ihm Fabius im letzten Moment Entsatz, kann sich aber nicht verkneifen, die Schlappe seines Rivalen zu kommentieren (22, 29, 1): Ita est, inquit, non celerius quam timui deprendit fortuna temeritatem!170 Hannibal dagegen hat seinen Erfolg immer wieder der fortuna anvertraut und dies in seiner großen Rede vor dem Reitergefecht am Ticinus gegenüber seinen Soldaten programmatisch gemacht (21, 43, 5): Et eadem fortuna, quae necessitatem pugnandi imposuit, praemia uobis ea uictoribus proponit, quibus ampliora homines ne ab dis quidem immortalibus optare solent.171 In seiner Ansprache an den Römer vor Zama will er, wie bereits zitiert, davon plötzlich nichts mehr wissen und neigt in seiner Argumentation der seines langjährigen Antago169
Stübler (1964) S. 109. Iiro Kajanto, Die Götter und das Fatum bei Livius, in: Burck (1967), S. 475 – 485, 481: „Im Livius habe ich 493 Belege für fortuna gezählt.“ 170 Stübler (1964) S. 108f. Vgl. auch Liv. 22, 12, 2 nullo loco, nisi quantum necessitas cogeret, fortunae se comissurus. 171 Stübler (1964) S. 96 – 98, 109f.
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nisten Fabius zu. Scipio dagegen beendet die reaktive Kriegspolitik und kann sich ein Ende des Konfliktes nur durch einen konsequenten Wechsel zu einer offensiven, und das heißt in diesem Zusammenhang selbstbestimmten Strategie vorstellen (28, 44, 8): id est uiri et ducis, non deesse fortunae praebenti se et oblata casu flectere ad consilium. Scipio verbindet strategisches und taktisches Denken und balanciert uirtus und fortuna, die Hannibal und Fabius in ein jeweils umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis gezwungen hatten, neu aus.172 Fabius verharrt im Bewahren, er wagt selbst angesichts eines römischen Vorteils nicht, von der Strategie des Haltens von Ressourcen abzurücken, und ist nicht bereit, die Unwägbarkeiten des Kriegsglückes zu ertragen.173 Auch hierbei ist er ein getreues Spiegelbild (nicht Abbild) des Hannibal, der ständig der sich bietenden occasio hinterherläuft, aber keine abschließende Entscheidung herbeizuführen wagt. Scipios Kriegspolitik baut auf Ressourcen, schätzt die eigenen Möglichkeiten und die der Feinde genau ein, lernt von Hannibal die Technik der Umfassungsschlacht, die List in der Verhandlung und die Strategie eines Krieges im fremden Land. Dies ist die Synthese der fabischen und der punischen Handlungsmaximen. Sie fordert den vergeblichen Widerstand beider Agenten dieser Politik heraus und führt Rom zum Sieg. Die 172
Stübler (1964) S. 141 – 149, bereits in der Analyse der scipionischen Rede vor der Einnahme Neukarthagos 26, 41: „Die virtus pop. Rom. bekommt hier beinahe religiöse Bedeutung, hält der fortuna pop. Rom. das Gleichgewicht.“ (S. 143). 173 Walsh (1967) S. 106. Liv. 22, 18, 9: prope precibus agens cum magistro equitum, ut plus consilio quam fortunae confidat; 22, 23, 2: quae ut Hannibalem non mediocri sollicitum cura habebat, tandem eum militiae magistrum delegisse Romanos cernentem, qui bellum ratione, non fortuna gereret; 22, 25, 14f.: si penes se summa imperii consiliique sit, propediem effecturum ut sciant homines bono imperatore haud magni fortunam momenti esse, mentem rationemque dominari, et in tempore et sine ignominia seruasse exercitum quam multa milia hostium occidisse maiorem gloriam esse; 22, 29, 1: Tum Fabius, primo clamore pauentium audito, dein conspecta procul turbata acie, ,ita est‘ inquit; ,non celerius quam timui deprendit fortuna temeritatem. Fabio aequatus imperio Hannibalem et uirtute et fortuna superiorem uidet. (…)‘. Alle Stellen stammen aus der politischen Auseinandersetzung, mit der Fabius zu Beginn des Kriegs seine Politik namentlich gegen seinen eigenen magister equitum durchsetzen musste. Er setzt zu diesem Zeitpunkt Logistik und Planung gegen das Kriegsglück des Hannibal im Vertrauen darauf, dass es sich einmal wird wenden müssen. Fabius misstraut dem Kriegsglück aber nicht nur in dieser besonderen Phase des Krieges, sondern schlechthin. Es ist Scipio, der die Fähigkeit, eine durch fortuna vermittelte occasio nutzen zu können, wieder in das römische Kriegswesen zurückbringt. Hans Rudolf Breitenbach, Der Alexanderexkurs bei Livius, in: MH 26 (1969), S. 146 – 157, 155: „(…) die (…) Fragestellung, ob Rom durch die fortuna oder die virtus groß geworden sei, gehört in den Zusammenhang der geistigen Auseinandersetzung zwischen Griechenland und Rom (…). Übrigens ist mit Recht gesagt worden, dass beide Fragestellungen durchaus nicht immer im Sinne der spitzen Alternative ‚Glück oder Tüchtigkeit‘ beantwortet worden sind, sondern in vernünftigem Ausgleich eines Sowohl-als-auch, wie bei Livius, der sowohl die felicitas wie auch die virtus, wenigstens der Römer, hervorhebt.“ Das Ergreifen des kairos ist ein typisches Merkmal des Listigen, wie bereits mehrfach betont wurde (vgl. oben zu Decius).
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schleichende Veränderung der römischen Politik, die auch aus Fabius einen listigen Feldherren gemacht hat, wird nun zu einer akzeptierten Handlungskompetenz, die die römische Politik bis auf weiteres, d.h. jedenfalls bis zum Ende des überlieferten livianischen Berichtes, begleitet.174 Moralisch stellt das für Livius eine Aporie dar, die sich in den oben zitierten Bedenken der alten Senatoren über die Politik des Marcius gegenüber König Perseus niederschlägt. Die Argumente dieser Senatoren verfangen für sich genommen auf den ersten Blick überhaupt nicht, denn sie behaupten, dass die frühen Römer sich keiner Kriegslisten bedient hätten, und zählen taktische Manöver auf, die uns gerade in dieser frühen Zeit bei Livius sehr häufig begegnet sind. Es ist aber der Kontext, der hier entscheidet: Marcius hatte den König mit Verhandlungen hingehalten. Die Listen des Marcius arbeiten, anders als die des Tribunen Decius, eben nicht allein mit Improvisation und taktischen Manövern im Felde, sondern mit glatter Täuschung bis hin zur Lüge. Das aber ist das Erbe Scipios, der genau das gleiche Verhalten in den Verhandlungen mit den Karthagern an den Tag gelegt hatte (30, 4, 1 – 12).175 3.4 Résumé List, Täuschung und Betrug spielen in Ab Urbe Condita eine zentrale Rolle. Sie begleiten Roms Geschichte wie die zahlreichen Kriege. Wenn es irgendeines Beweises bedürfte, dass listiges Handeln ubiquitär ist selbst da, wo es durch eine Ethik ausgeschlossen scheint, dann böte das Werk des augusteischen Historikes dafür das anschaulichste monumentum. Der Historiker kann seine in normativen Passagen zur Schau getragene Ablehnung der List angesichts der erdrückenden Menge von Ereignissen nicht aufrechterhalten. Tatsächlich erscheint es auch ausgeschlossen, dass diese expliziten Stellungnahmen – also Aussagen, nach denen die List die am wenigsten römische Kunst ist, oder gar das eigentümliche Verdikt der Senatoren über das Verhalten des Marcius (eine sprachlich ungewöhnliche
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Brizzi (1982) S. 176. Ich weise noch einmal darauf hin, dass ich Brizzis Thesen teile, soweit sie sich auf Livius beziehen lassen. In eine im engeren Sinne geschichtswissenschaftliche Debatte um den historischen Erwerb einer römischen Listkompetenz trete ich damit nicht ein. 175 Es wird natürlich wieder mit den bekannten Rechtfertigungsstrategien des Livius abgefedert, der auch das Verhalten der Karthager bei den letzten Verhandlungen als verschlagen darstellt. Das ändert aber nichts daran, dass eine neue Qualität in das Verhalten der Römer geraten ist, die, anders als bei Caudium, nicht aus einer Notlage heraus listig agieren, sondern die List einer starken und selbstbewussten Offensivpolitik an die Seite stellen. Genau darauf bezieht sich die Kritik der Senatoren.
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und textkritisch problematische Passage176) – wirklich die endgültige Position des Historikers abbilden. Zu ausgefeilt und konsequent erscheinen die narrativen Strategien, mit denen die List in immer neuen Dualismen erprobt und schließlich doch lizensiert wird. Die Unaufrichtigkeit, die dem verstohlenen Spiel der List eignet, mag der Autor gern Roms Feinden zuerkennen, aber er erträgt es auch nicht, dass die Römer naiv und feindlichen Strategemen ausgeliefert erscheinen. Livius erkennt außerdem die produktive Seite der List an. Dies hat sich besonders im mythischen Teil seines Berichts, also im ersten Buch, niedergeschlagen. Gerade die negativen Begriffe, fraus und perfidia, sind zwar deutlich als Krisensymptom gekennzeichnet (sie erscheinen etwa im zweiten Buch nach der Vertreibung der Könige oder im 29. Buch nach der Durchsetzung der scipionischen Strategie selten oder gar nicht, während sie in den innenpolitischen Kämpfen der Bücher 3 – 5 und in den übrigen Büchern zum Punischen Krieg häufig auftreten; s.o. die Wortfeldanalysen in den Anm.), gleichzeitig bedeutet Krise aber auch Veränderung. Deshalb gehört die List auch so oft den römischen iuuenes – diese Altersgruppe steht im Zentrum des nächsten Abschnitts. Die List ermöglicht und moderiert die historischen Metamorphosen der Stadt Rom; sie wird, am Ende des überlieferten Berichtes, mehr oder weniger widerstrebend in das politische Handlungsrepertoire der Führungsschicht aufgenommen. Diese Aufnahme vollzieht sich „dialektisch“, indem immer wieder Dualismen synthetisiert werden. Es ist sicher weniger ein philosophisches Credo als eine narrative Strategie. Denn eigentlich geht es Livius um die fides Romana als innenpolitisches und außenpolitisches Handlungskonzept.177 Dabei schildert er immer wieder die Herausforderungen dieses Konzeptes und so geraten die verschiedenen termini: perfidia, fraus, proditio usw. in seinen Bericht. Es wurde aber deutlich, dass die eindeutig negativ konnotierten termini nicht die einzigen und nicht einmal die bestimmenden seiner Darstellung sind. Das Potential der List, starre Normen unterlaufen und damit Normenkonflikte lösen zu können, wird immer wieder produktiv in die Erzählung eingebracht und hält sie nicht selten in Bewegung. Sicher erscheint die List in summa nicht als ein unproblematisches Handlungspotential, weil fides immer Verlässlichkeit von Handeln herstellen soll, listenreiches Handeln aber, selbst wenn es nicht mit der Täuschung operiert, Handlungserwartungen unterläuft und enttäuscht.178 Die Lösung aber, die Livius anbietet, liegt zum einen in den drei genannten Rechfertigungsstrategien: starke Unterlegenheit des Römers, 176 Wie aus der hier angestellten Wortfeldanalyse hervorgeht (s.o), verwendet Livius in dieser Passage ein buntes Listvokabular und zum Teil Begriffe, die im Text sonst nicht oder nur sehr selten auftauchen. 177 Von einer Handlungsmaxime mag ich nach dem Aufsatz von Hölkeskamp nicht mehr sprechen, weil dies die Entschlackung des Begriffs fides von allzu moralischen Interpretationen wieder zurücknehmen könnte. 178 Abbot (2000) S. 79.
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vorausgehendes Unrecht des Gegners, nachträgliche Rechtfertigung des listigen Mittels durch seine Zwecke, mit denen sich oft auch der unterlegene Gegner identifizieren kann; zum anderen eben im Konzept der Synthese, bei dem aus zwei moralisch extremen und dadurch pragmatisches Handelns verunmöglichenden Positionen eine vermittelnde gewonnen wird. Welche Veränderungen dieses Potential in den späteren Krisen der Republik erfahren hat, würden wir, wie so vieles, was Livius noch zu sagen hatte, gern wissen. Aber sein Bericht ist durch dieses immer wieder aufscheinende Verhältnis von List und Veränderung näher an der Epik eines Ovid, als es auf den ersten Blick erscheint. Umgekehrt ist auch Ovid in den Metamorphosen weniger listenfroh als gemeinhin angenommen. Die Veränderungen der Umwelt erscheinen immer auch als (Ent-)Täuschungen der Menschen und ihrer Erwartungen. Der Pessimismus von Historiker und Dichter, die vielleicht doch beide nicht an die Festigkeit einer politischen Ordnung glauben können, sind sich auch hier nahe. Bei diesen ganzen Beschreibungen und Analysen ist ein Aspekt bisher überhaupt nicht zur Sprache gekommen: die ästhetische Dimension der zahlreichen Listgeschichten. Werner Röcke (op. cit.) hat für die frühneuzeitlichen (und an Listen nicht armen) Schwankbücher programmatisch von einer „Freude am Bösen“ gesprochen und damit zum Ausdruck gebracht, dass der Leser des Schwankbuches eine gewisse Entlastung von moralischen und gesetzlichen Normen erfahre, die von den Protagonisten oft mit bemerkenswerter Rücksichtslosigkeit und Brutalität unterlaufen würden. Für Livius, der sich an dem Dualismus fides – perfidia abarbeitet, scheint dieses Erzählmotiv auszuscheiden. Dennoch sollte es vielleicht mit erwogen werden. Während Tacitus sich für sein Sujet entschuldigt, weil es im frühen Prinzipat nicht zu bedeutenden Kriegen gekommen sei,179 lässt Livius bisweilen die Befürchtung erkennen, die immer gleichen Kriegsberichte könnten den Leser ermüden.180 Gerade für die letzten überlieferten Bücher, die Kriege im Osten, kann man in der Tat von einer Absehbarkeit des Geschehens sprechen, die in deutlichem Kontrast zum Überlebenskampf des Zweiten Punischen Krieges steht. Hier gelingt eine Abwechslung (anders als in den frühen Büchern) weniger durch den Wechsel zur Innenpolitik – die konfuse181 Darstellung des Scipionenprozesses bildet hier eine von wenigen Ausnahmen – als vielmehr durch das Intrigenspiel an den Höfen von Makedonien und Syrien.182 Gerade durch den Umstand, dass diese Reiche zwar groß sind, aber letztlich immer bemeisterbar scheinen, müssen die Römer 179
Tac. ann. 4, 32. 6, 12, 2; 9, 17, 1. 181 Jaeger (1997) S. 132ff. 182 Regelrecht romanhaft oder auch im Stile einer Dramenintrige ist die ganze Darstellung um die Dynastie Philipps gestaltet, dessen Sohn Perseus den beliebten und tugendhaften Demetrius mit Intrigen umgarnt und schließlich tötet (39, 53 – 40, 24). 180
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selbst diese Intrigen weniger fürchten. Diente in der Darstellung des Zweiten Punischen Krieges die fraus Punica auch immer als Rechtfertigung für die schrecklichen Fehler der römischen Politik, fällt der Ton der Entrüstung in den Bücher 31 – 45 doch deutlich weniger scharf aus. Die Darstellung der Intrigen bleibt zwar moralisch codiert und rechtfertigt im oben genannten Sinne die nimis callida sapientia183 der jüngeren römischen Politiker, aber aus dem zur Schau getragenen Entsetzen des Erzählers ist doch eher ein abschätziges Kopfschütteln über die Verworfenheit des Ostens geworden. Dies alles ermöglicht eine Leserhaltung, die durchaus analog ist zur Rezeption der römischen Komödie. Das listenreiche Auftreten der Sklaven, die durch ihr Handeln zugunsten ihres adulescens die patria potestas der senes unterlaufen, wird nicht zuletzt durch das griechische setting ermöglicht und erlaubt eine Entlastung von römischem Normendenken, weil es letztlich nicht gegen dieses gerichtet wird. Für Livius können wir diese ästhetische Seite der Listerzählungen hier nur in Erinnerung rufen. Zentraler ist sie für andere römische Gattungen.
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42, 47, 9: haec seniores, quibus noua ac nimis callida minus placebat sapientia. Bei dieser Textvariante handelt es sich um eine recht beliebte Konjektur von Novák, es bleibt aber eine Konjektur. Ich habe mir erlaubt, sie hier zu zitieren, weil sie in jedem Falle den Tenor der Stelle (s.o.) gut zusammenfasst.
II Die List in der Liebe
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4 Die Griechisch-Römische Komödie 4.1 Die Freude am Bösen Es hat sich gezeigt, dass selbst Livius, dessen Projekt es war, die artes und mores und uiri darzustellen, mit denen Rom groß geworden ist (praef. 9), keine ideologisch verkürzte Darstellung der List als einer immer schon negativ bewerteten Handlung zur Darstellung bringt. Dennoch könnte man vor dem Hintergrund von Ab Urbe Condita auf den Gedanken kommen, dass die Römer zwar die Notwendigkeit eines listigen Handlungspotenzials erkannt haben, dass dessen Ertrag aber immer ängstlich mit einer moralischen Einbuße abgeglichen werden muss: Wie viel perfidia verträgt die römische fides? Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass zwar die römische Geschichtsschreibung moralisierend ist, aber nicht zwangsläufig die Römer selbst und schon gar nicht alle ihre literarischen Gattungen.1 Wie immer man die Realität der List in der römischen Außen- und Innenpolitik beurteilen mag, sie hat früh in die römische Literatur Einzug gehalten. Livius Andronicus bietet als erstes lateinisches Epos ausgerechnet eine Übertragung von Homers listigem Odysseus;2 das Drama, das derselbe Autor im „Epochenjahr“ 240 v. Chr. auf die Bühne bringt,3 markiert den Anfang der 1 Die römische Geschichtsschreibung wurzelt in zwei Motivationen: die positive Außendarstellung Roms in der hellenistischen Koine, besonders in den ersten, noch auf Griechisch verfassten Werken (Fabius Pictor, L. Cincius, dazu Kierdorf [2003] S. 15 und 19) und die zensorische Moralisierung nach innen (Cato, Piso, dazu Kierdorf [2003] S. 23 und 27). Beides zusammen ist für die Eigenheit der römischen moralischen Geschichtsschreibung verantwortlich und schlägt sich zum einen im Romzentrismus als Erbe der Außendarstellung nieder, zum anderen im Moralismus als Erbe der zensorischen Tendenz der ersten auf Latein abgefassten Werke. Insofern ist die römische Geschichtsschreibung immer eine Art politischer Sonderdiskurs geblieben (aber keine Propaganda!), der einerseits wichtige Funktionen in der römischen Kultur ausfüllte, andererseits eben nur einen Teilaspekt des römischen Denkens repräsentiert. 2 Wir wüssten gern, wie die Transformation des griechischen Werkes in ein lateinisches ausgesehen hat. Dass Odysseus grundsätzlich eine wichtige Gestalt in der frühen römischen Literatur war und dort wohl nicht nur negativ bewertet wurde wie später in Vergils Aeneis, zeigt Ulrich Schmitzer, Odysseus – ein griechischer Held im kaiserzeitlichen Rom, in: Andreas Luther (Hg.), Odyssee-Rezeptionen, Frankfurt am Main 2005, S. 33 – 53. 3 Dass es problematisch ist, dieses Jahr als Epochenjahr zu bezeichnen, ist inzwischen hinlänglich bekannt, vgl. dazu Werner Suerbaum, Der Beginn der römischen Literatur: 240 v. Chr.?, in: Werner Suerbaum (Hg.), Die Archaische Literatur. Von den Anfängen bis Sullas Tod, München 2002 (Handbuch der Altertumswissenschaft 8,1), S. 83 – 87. Aus den Quellen geht nicht hervor, was für ein Stück Livius Andronicus aufgeführt hat (Cic. Brut. 71 – 73; bei Cassiodor chron. II 128 M. steht, es sei sowohl eine Komödie als auch eine
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römischen Komödienkultur und damit den Einzug der Intrige in das römische Theater. Mag die Blüte der römischen Komödie auch vergleichsweise kurz gewesen sein, so war sie doch reich; vor allem aber ist die Palliata nicht zugunsten eines späteren (z.B. augusteischen) Moralismus abgetreten, sondern hat dem turbulenten Mimus und Pantomimus Platz gemacht. Die List ist auch in Rom ein weit verbreitetes literarisches Phänomen, sofern man nicht ausgerechnet im politischen Diskurs der moralisierenden Geschichtsschreibung danach fahndet. Die Palliata scheint zunächst, was den Einsatz von Listen angeht – konkret sprechen wir hier von Intrigen4 –, keine Tabus zu kennen. Söhne hintergehen ihre Väter und Sklaven ihre Herren, Hetären ihre Liebhaber und dies alles zum Vergnügen des Publikums. Es ist früh danach gefragt worden, wie diese Lizenz zur hier im engeren Sinne anarchischen Komik in Rom zustande kommt. Eine nahe liegende Antwort war der Verweis auf das griechische setting der Stücke, bei denen es sich im Falle der Palliata samt und sonders um Versionen von Stücken der Nea handelt.5 Dennoch, und auch dies war rasch deutlich, erklärt diese „attische“ Lizenz weder das Bedürfnis des römischen Publikums nach derlei Unterhaltung, noch ist damit die Frage der Aneignung der griechischen Vorlagen geklärt. Für unseren ZusammenTragödie gewesen, aber das ist eine späte Quelle, vorsichtig von Albrecht (1994a) S. 92 Anm. 2; selbstverständlich geht Jürgen Blänsdorf (Die Palliata: Einleitung und historischer Überblick, in: Suerbaum [2002], S. 170 – 182) von einer Komödienaufführung für das Jahr 240 aus (S. 170). Erich S. Gruen, Poetry and Politics: The Beginnings of Latin Literature, in: Erich S. Gruen, Studies in Greek Culture and Roman Policy, Berkeley u.a. 1996, S. 79 – 123 macht deutlich, dass 240 eben doch ein Epochenjahr war, weil der öffentliche Auftrag des Senats an Livius Andronicus eine folgenreiche Aufwertung der Literatur in Rom bedeutete (82ff.); zustimmend Gregor Maurach, Kleine Geschichte der antiken Komödie, Darmstadt 2005, S. 61. 4 Arnulf Dieterle, Die Strukturelemente der Intrige in der griechisch-römischen Komödie, Amsterdam 1980; Woldemar Görler, Doppelhandlung, Intrige und Anagnorismos bei Terenz, in: Poetica 5 (1972), S. 299 – 307; Woldemar Görler, Verkleidungsintrigen, in: Ekkehard Stärk/ Gregor Vogt-Spira, Dramatische Wäldchen. FS Eckard Lefèvre, Hildesheim – Zürich – New York 2000, S. 267 – 286. George Eckel Duckworth, The Nature of Roman Comedy. A Study in Popular Entertainment. Second Edition. With a Foreword and Bibliographical Appendix by Richard Hunter, London 1994 (Erstausgabe Princeton 1952) S. 168 betont aber auch, dass das Thema der absichtlichen Täuschung eine besondere Spezialität des Plautus ist, die er aus den italischen Farcen geholt hat. 5 Erich Segal, Roman Laughter: The Comedy of Plautus, Cambridge Mass. 1968 (ND 1970) S. 40. William S. Anderson, Barbarian Play: Plautus’ Roman Comedy, Toronto – Buffalo – London 1993, S. 135ff. hat Segal dafür kritisiert, dass dieser die catonische Politik mit ihrem Werterigorismus als repräsentativ für die römische offizielle Politik angesehen hat, gegen die Plautus dann seine Saturnalien setze. Aber Anderson ist m. E. nicht überzeugend, wenn er die These vertritt, dass die Römer in der Komödie auch über die vermeintlich verdorbenen und minderwertigen Griechen gelacht hätten (s. auch von Albrecht [1994] S. 184). Dafür ist die Palliata doch zu stark romanisiert und sind die abgehandelten Integrationsprobleme zu repräsentativ für die gesamte Koine (Blänsdorf [2002] S. 171).
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hang zentral sind aber bereits die bloßen Feststellungen, dass schon zu diesem frühen Zeitpunkt der römischen Literatur eine Lust an der List inszeniert wird, dass der lateinischen Sprache ein breites Listvokabular zur Verfügung gestellt wird6 und ferner, dass die Römer, oder doch zumindest Livius, eine Kontinuität der römischen vorliterarischen Lachkultur (fescennine Späße, Atellane) und der Komödie behaupteten7 (die Historizität des livianischen Ansatz unterliegt freilich der literaturwissenschaftlichen Kritik8). Die Palliata stellte zwar ein griechisches Importgut dar, das in einer militärischen Krisensituation – den Kriegen gegen Karthago – eine Blüte erlebte,9 sie stand aber innerhalb der republikanischen Lachkultur im Allgemeinen und der Bühnenkomödie im Besonderen nicht allein. Erich Segal hat mit seiner wichtigen Studie die Diskussion um den Status vor allem der plautinischen Komödie in eine sehr konstruktive Richtung gelenkt. Er deutete, durchaus beeinflusst von den in den 70er Jahren florierenden Studien zu Bachtin,10 das Geschehen auf der Bühne als eine Form des römischen Karnevals. Bei Plautus würden Hierarchien, die für die römische Gesellschaft zentral sind, auf den Kopf gestellt (eben das Verhältnis von Sklave und Herr, Vater und Sohn, Frau und Mann, Soldat und Zivilist) und somit für den Druck, der aus solchen Machtbeziehungen ja immer (auch) resultiert, für den begrenzten Zeitraum des komischen Geschehens auf der Bühne Entlastung geboten. Das Attische der Palliata ist nach dieser Auffassung gemäß der Logik der Saturnalien konstruiert, d.h. die Lizenz zur anarchischen Komik wird nicht einfach durch einen Verweis auf das griechische setting hergestellt, sondern das Griechische erscheint als ein „Roman holiday“, ist also unter römischen Vorzeichen als ein saturnalischer Frei6
Brotherton (1978). William Beare, The Roman Stage. A Short History of Latin Drama in the Time of the Republic, London 31968, S. 17. 8 Livius ignoriert die griechischen Einflüsse, vgl. Werner Suerbaum, Die Entwicklung der dramatischen Kultur (Liv. 7, 2), in: Suerbaum (2002), S. 51 – 57, 55. 9 Blänsdorf (2002) S. 179f. Habinek (1998) S. 39ff. 10 So spricht Segal (1968) S. 138 gerade für den Bereich der List von „Rabelaisian rosters of trickery“. Es ist nicht angezeigt, die gesamte Kritik an Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, Frankfurt am Main 1995 hier wiederzugeben. Insgesamt kann man sagen, dass der harsche Dualismus von ernster offizieller Kultur hier und freier Karnevalskultur da früh Gegenstand von Kritik wurde (Aaron J. Gurjewitsch, Mittelalterliche Volkskultur, München 21992, S. 260 – 268) und in gewisser Weise auch die Problematik des segalschen Buches bezeichnet. Der Karneval ist weder eine reine Umkehrung noch eine Aufhebung aller Hierarchien – übrigens zwei Sichtweisen des Karnevals, die nicht identisch sind, aber oft verwechselt werden –, dennoch bedienen sich karnevaleske Festlichkeiten oder Institutionen sowohl der Umkehrung als auch der Aufhebung von Strukturen, die eine Gesellschaft gliedern. Zentral für die Bachtinstudien in der Klassischen Philologie: Siegmar Döpp (Hg.), Karnevaleske Phänomene in antiken und nachantiken Kulturen und Literaturen, Trier 1993.
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raum konstruiert. Dieser Ansatz ist bis heute folgenreich geblieben – auch durch den Widerspruch, den er hervorgerufen hat. Es ist immer wieder darauf verwiesen worden, dass die Stücke des Plautus nicht in einer Logik der komischen Gegenwelt aufgehen.11 Als Beispiel kann David Konstans Interpretation der Aulularia dienen.12 Plautus konstruiert nach dieser Sichtweise den senex Euclio als einen Renegaten römischer ciuitas, der durch das ängstliche Verbergen seines Schatzes vor den Augen der Öffentlichkeit und damit der Weigerung, seiner Tochter eine Mitgift zu geben, das ius commercii et connubii des römischen Bürgers ausschlägt. Konstan vermutet auch plausibel eine Doublette in der Szenenfolge IV 1 – 6 und 8, in der Euclio seinen Schatz zunächst im Tempel der Bona Fides verbergen will, dann aber dieser nicht traut und sich stattdessen unter den Schutz des Gottes Silvanus begibt. Dramatisch ist dieses zweimalige Verstecken des Goldtopfes wertlos;13 jedoch inszeniert es die Abkehr des Euclio von der fides, also der Grundlage politisch-gesellschaftlicher Beziehungen in Rom, und das Verlassen der Stadtgrenze (zum Heiligtum des Silvanus). Ius connubii et commercii, fides und Stadtgrenze (pomerium) sind dabei in besonderer Weise römische Konzepte des Bürgerstatus und können als Beitrag des Plautus zur Konzeption der Aulularia gelten. Die Aulularia erzählt ihre Geschichte aber als eine Reintegration des Misanthropen in die Gesellschaft (der Schatz wird am Ende zur Mitgift), sodass die Komödie gerade in ihrer romanisierten Fassung gesellschaftliche Werte bekräftigt und nicht einfach in ihr Gegenteil verkehrt.14 Solche Differenzierungen sind wichtig, sollten jedoch nicht zu einer Abkehr von der Grundlage der Thesen Segals führen. Es ist generell ein Irrtum, wenn der Karneval oder analoge Phänomene auf die Logik der Umkehrung reduziert werden; bei aller Kritik an Bachtins idealisierenden Thesen muss doch festgehalten werden, dass er mit Recht den Karneval eher als eine groteske Integration von Gegensätzen konstruiert denn als eine reine Gegenwelt.15 Anders ausgedrückt: Grotesker und karnevalesker Humor zeichnen 11
Z.B. Anderson (1993a) S. 142 – 147. Siehe auch die Lit. im Folgenden (Gruen, Konstan). 12 David Konstan, Roman Comedy, Ithaca – London 1983, S. 33 – 46, vgl. auch ders., Aulularia: City State and Individual, in: Erich Segal (Hg.), Oxford Readings in Menander, Plautus and Terence, Oxford – New York 2001, S. 138 – 148. 13 Konstan (1983) S. 37. 14 Konstan (1983) S. 40f. 15 Wolfgang Rösler, Über Aischrologie im archaischen und klassischen Griechenland, in: Döpp (1993), S. 75 – 97 betont den Karneval als verkehrte Welt (S. 85f.). Wenden wir uns aber dem für Bachtins Theorie wichtigen Aspekt des Grotesken zu, so macht etwa Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln 2001, S. 235 – 421 deutlich, dass die Inversion („Verkehrung“) nur eine Form des Grotesken (neben Vermischung und Verzerrung) ist und m. E. gerade nicht die, an die Bachtin denkt. Bachtins Groteskes wird am besten durch die hyperbolische Verzerrung beschrieben. Vgl. Arbeitsgruppe Ri-
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sich oft dadurch aus, dass sie auch gesellschaftlich konstruktiv, gelegentlich sogar affirmativ sind.16 Wenn wir uns wiederum Konstans Interpretation der Aulularia zuwenden: Um zu verhindern, dass in seiner Abwesenheit jemand das Haus betritt, befiehlt der misstrauische Euclio seiner Dienerin, das Herdfeuer zu löschen und den Nachbarn sogar Wasser zu verweigern, sollten sie darum bitten.17 Nach Konstan wird hier in komischer Weise die ignis et aquae interdictio ausgesprochen. Die komische Umkehr freilich bezieht sich ganz auf dieses Motiv. Statt dass der Stadtstaat hier einen Bürger verbannt, verbannt der Bürger den Stadtstaat aus seinem Haus. Anwendung aber findet diese komische Umkehr in einem gesellschaftlich affirmativen Sinne; das Scheitern des Euclio und seine Rückkehr in die Gemeinschaft der ciues ist die Leistung dieser Komödie,18 die nicht einfach mit der Bestrafung der Feinde ausgelassener saturnalischer Lizenzen (der blocking characters19) endet. Trotz der gerade bei Plautus zahlreichen und zweifelsfrei nachweisbaren Bezüge zu römischen Institutionen im rechtlichen, politischen und religiösen Bereich hat es sich immer als problematisch erwiesen, ganzheitliche Interpretationen von Komödien vorzunehmen, die den Autor in der zeitgenössischen Politik situieren sollen.20 Dagegen erscheint es wichtiger sich tual, Differenz und Alterität im Ritual. Eine interdisziplinäre Fallstudie, in: Paragrana 13,1 (2004), S. 187 – 249. Vgl. Bachtin selbst (1995) S. 345. 16 Dies wird im Folgenden auch noch für die mittelalterlichen Jungmännerriten rekapituliert und bei den literarischen Inszenierungen der Liebeselegiker gezeigt. 17 Plaut. Aul. 91 – 94: quod quispiam ignem quaerat, exstingui uolo/ ne caussae quid sit quod te quisquam quaeritet./ nam si ignis uiuet, tu exstinguere extempulo./ tum aquam aufugisse dicito, si quis petet. Konstan (1983) S. 36. 18 Diese Rückkehr wird ganz eindeutig durch die argumenta und die Fragmente der verstümmelten Komödie belegt: Konstan (1983) S. 41 Anm. 10; vgl. z.B. argumentum I 13 – 15: per dolum mox Euclio/ cum perdidisset aulam, insperato inuenit/ laetusque natam conlocat Lyconidi. Herbert Rädle (Hg.), Plautus. Aulularia. Goldtopf-Komödie. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1978, S. 110 sieht dagegen nur einen Zerstörung des Euclio, die durch Lachen bekräftigt wird. 19 Northrop Frye, Anatomy of Criticism, Princeton 1957 (ND New York 1967), S. 166 – 169, vgl. bes. S. 166: „The tendency of the comic society to include rather than exclude is the reason for the traditional importance of the parasite, who has no business to be at the final festival but is nevertheless there.” 20 Erich S. Gruen, Plautus and the Public Stage, in: Segal (2001), S. 83 – 94, 84, 86f., 92. Zu Segal und dem Problem der anticatonischen Tendenz s.o. Anm. 5. Segal etwa sieht Plautus im Widerspruch zur Politik Catos, andere erkennen wiederum procatonische Elemente bei Plautus (Tenney Frank, Some Political Allusions in Plautus’ Trinummus, in: AJPh 53 [1932], S. 152 – 156; von Albrecht [1994] S. 159). Vgl. auch Richard L. Hunter, The New Comedy of Greece and Rome, Cambridge 1985 (ND 1989), S. 109 zu den Adelphoe des Terenz. Zu den sprachlichen Anspielungen auf Institutionen immer noch einschlägig: Eduard Fraenkel, Plautinisches im Plautus, Berlin 1922; Walter Hofmann (Hg.), Plautus, Komödien, Leipzig 1987, S. 418; Elisabeth Schuhmann, Ehescheidungen in den Komödien des Plautus, in: ZRG 93 (1976), S. 19 – 32; Emilio Costa, Il diritto privato romano nelle commedie di Plauto, Turin 1890; Otto Fredershausen, De iure Plautino et Terentiano, Göttingen 1906;
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klarzumachen, dass die griechische Nea in einer Zeit des Niedergangs des athenischen Stadtstaates entstanden ist und nach Rom genau dann importiert wurde, als sich auch dort die stadtstaatlichen Strukturen in einem krisenhaften Umbruch befanden – freilich nicht, um einen Niedergang einzuleiten, sondern um in ein Weltreich zu münden.21 Die Krisensymptome, um die es dabei geht, sind zum Teil bereits im Kapitel zu Livius angesprochen worden. Der Politikstil Roms hat sich nach dem Sieg über Hannibal gewandelt; durch den Sieg über Makedonien erreichten bisher ungesehene Reichtümer die Stadt am Tiber und es kündigten sich die Integrationsprobleme der verschiedenen sozialen Gruppen an, die schließlich auf lange Sicht zwar nicht die Vorherrschaft Roms gefährdeten, aber eben doch die republikanische Verfassung. Daher ist es geboten, diese umfassenderen Fragen nach der Integration und Exklusion der verschiedenen Träger sozialer, politischer und vor allem familiärer Positionen zu stellen und so die Transformation zu würdigen, die die griechische Nea auf dem Weg zur römischen Palliata erfahren hat. Es erscheint sinnvoll, auch um die Untersuchung zur fraus Punica aus den vorherigen Kapiteln zu komplettieren, noch einmal exemplarisch am Poenulus des Plautus zu zeigen, wie die römische Aktualisierung einer griechischen Vorlage aussieht. Das ermöglicht zudem einige allgemeine Aussagen zur List und ihren potentiellen Trägern in der römischen Komödie, bevor sich die Untersuchung verstärkt dem jüngeren Komödienautor Terenz zuwendet, dessen Konzeption jugendlicher Intrige hier als Vorbild für die List in der Liebeselegie ins Spiel gebracht wird. Mit dem Poenulus bringt Plautus kurz nach dem Zweiten Punischen Krieg einen Karthager22 (Hanno) als Namensträger des Stückes auf die Bühne. Die modernen Interpretationen des Hanno sind dabei in charakteristischer Weise disparat. Hanno wird im Prolog angekündigt als ein typisch verschlagener Punier (111 – 113): ita docte atque astu filias quaerit suas./ et is omnis linguas scit, sed dissimulat sciens/ se scire: Poenus plane est. quid uerbis opust? Seinen Auftritt aber hat der so Charakterisierte erst zu Beginn des fünften Aktes, in dem er sich selbst noch einmal neu einführt und nicht nur durch die rein zeitliche Entfernung zum Prolog, sondern auch durch seine – erst
Otto Fredershausen, Weitere Studien über das Recht bei Plautus und Terenz, in: Hermes 47 (1912), S. 199 – 249. 21 Konstan (1983) S. 21; Gruen (2001) S. 89. 22 Eine Hauptperson. Faktisch kommen noch mehr Karthager vor: „Im Poenulus treten insgesamt mindestens sieben gebürtige Karthager auf. Am typischsten geschildert ist sicherlich Hanno (…).“ Stefan Faller, Punisches im Poenulus, in: Thomas Baier (Hg.), Studien zu Plautus’ Poenulus, Tübingen 2004, S. 163 – 202, 165. Zur Datierung kurz nach dem zweiten punischen Krieg: Erich Woytek, Zur Datierung des Poenulus, in: Baier (2004), S. 113 – 137.
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punisch, dann lateinisch vorgetragenen23 – Worte die stereotype Beschreibung seiner Person zunächst vergessen macht: (950 – 953): deos deasque ueneror qui hanc urbem colunt ut quod de mea re huc ueni rite uenerim measque hic ut gnatas et mei fratris filium reperire me siritis, di uostram fidem! Respektvoll spricht der Karthager die Götter der Stadt Calydon an, in die er auf der langen Suche nach seinen Töchtern und dem Neffen gelangt ist. Er erscheint so als in tiefstem Einklang mit der römischen pietas stehend, die sich zugleich auf die religiösen und familiären Bindungen bezieht, und beruft sich auf die fides der Götter, die ebenfalls nur dem zuteil werden kann, der sie selbst respektiert. In der Folgeszene begegnet er dem Jüngling Agorastocles (seinem Neffen, wie beide noch nicht wissen) und dessen Sklaven 23
Der Status der punischen Verse im Poenulus ist umstritten. Die verschiedenen Argumente gewichtet sehr klug Faller (2004), kommt aber dann zu einer überraschenden These, nach der diese Verse – im Gegensatz zu den Punica im laufenden Text des fünften Aktes! – nur für Sondervorstellungen vor Kriegsveteranen und Diplomaten des Punischen Kriegs vorgesehen waren. Das ist nicht plausibel und fußt einzig auf der Vorstellung, dass eine Doublette – erst der punische Monolog, dann die lateinische Übersetzung – dramatisch ungenügend seien. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Zweisprachigkeit des Puniers eine entscheidende Bedeutung für seine Charakterisierung hat und das Punische, dessen Existenz im übrigen Akt ja nicht abzustreiten ist, ohnehin eine ungewöhnliche Maßnahme des Plautus ist, fällt dieses Argument in sich zusammen. Im selben Band wie Faller gehen Blume (S. 207) und Maurice (S. 279) ganz selbstverständlich von einem doppelten Monolog aus (Horst-Dieter Blume, Hanno und das Punische Personal im Poenulus, in: Baier [2004], S. 203 – 214 und Lisa Maurice, The Punic, the Crafty Slave and the Actor: Deception and Metatheatricality in the Poenulus, in: Baier [2004], S. 267 – 290). Eckard Lefèvre, Plautus’ Poenulus zwischen Nea und Stegreifspiel, in: Baier (2004), S. 9 – 59, 48 weist auf den komischen Effekt des unvermittelt dem Zuschauer präsentierten Punisch hin, geht also davon aus, dass es integraler Bestandteil des Stückes ist. Zur Frage, ob wiederum die Übersetzung ursprünglich mitgeliefert wurde, äußert er sich nicht, was besonders auffällig ist, da auch er die These von den Veteranen als Publikum stützt (S. 48ff.). Ich folge, wie sich zeigen wird, eher der Interpretation von Franko (George Fredric Franko, Incest and Ridicule in the Poenulus of Plautus, in: CQ 45 [1995], S. 250 – 252; ders., The Characterization of Hanno in Plautus’ Poenulus, in: AJPh 117 [1996], S. 425 – 452; ders., The Use of Poenus and Carthaginiensis in Early Latin Literature, in CP 89 [1994], S. 153 – 183), Maurice und Lefèvre (bes. S. 46 – 48), die in Hanno eben doch einen listigen Punier erkennen, als der Blumes und Fallers, die von Hanno ein eher positiv Bild zeichnen. Freilich, wenn der Auftrittsmonolog des Hanno gar nicht übersetzt worden wäre, fiele auch ein zentrales Element der positiven Charakterisierung Hannos weg, aber ich lehne dennoch mit Faller S. 185 die These Gratwicks (Adrian S. Gratwick, Hannos Punic Speech in the Poenulus of Plautus, in: Hermes 99 [1971], S. 25 – 45, 37) ab, nach der der Zuschauer allein aufgrund der Gestik des Schauspielers in etwa verstanden hat, worum es in dem punischen Monolog ging (überzeugt hat Gratwick immerhin von Albrecht [1994] S. 155).
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Milphio, der sich damit brüstet, er könne punisch dolmetschen (991: nullus me est hodie Poenus Poenior). Es wird allerdings rasch klar, dass Milphios Übersetzungsfähigkeit nur auf vagen Vermutungen beruht, die oft darauf hinauslaufen, dass er klanglich ähnliche lateinische Worte als Übersetzung für das angebotene Punisch wählt.24 Obwohl Hanno sich vorgenommen hatte, sein Gegenüber in der Landessprache anzusprechen – also für den römischen Zuhörer auf Latein, innerhalb des Griechischen settings natürlich gedacht als Griechisch – hält er das Spiel so lange aufrecht, bis Milphio das Handtuch wirft (1027f.): Ag: narra, quid est?/ quid ait? Mi: non hercle nunc quidem quicquam scio.25 Hanno beklagt sich daraufhin auf Latein über den missratenen Sklaven, der ihn, den Gast, (durch seine absurden Übersetzungen) lächerlich gemacht habe. Der bloßgestellte Milphio repliziert ebenfalls verärgert (1032 – 34): at hercle te hominem et sycophantam et subdolum,/ qui huc aduenisti nos captatum, migdilix,/ bisulci lingua quasi proserpens bestia.26 Agorastocles aber befiehlt seinem Sklaven, sich höflich zu verhalten; und es kommt im Anschluss zu einer ersten Anagnorisis, in der sich Onkel und Neffe erkennen. Milphio hat dann den Einfall, den Onkel in die geplante Intrige einzuspannen (1089f.): potin tu fieri subdolus?/ Ha: inimico possum, amicost insipientia. Milphio verschwindet nach dieser Szene aus dem Stück,27 denn Agorastocles und Hanno, die beiden Karthager, ergänzen sich für den Rest der Handlung in perfekter Weise und bedürfen keines seruus callidus mehr.28 Tatsächlich ist Agorastocles selbst ohnehin kein typischer iuuenis, denn er beherrscht, anders als das Rollenstereotyp vorsieht (s. aber dazu unten), das Intrigieren bereits aus Eigenem sehr gut.29 Hanno wiederum übernimmt voll und ganz die Rolle des seruus callidus.30 Damit wird, wie Lisa 24
1003 (Hanno): meharbocca (…), 1004 (Agastocles): quid ait? (Milphio): miseram esse praedicat buccam sibi. Diese Art von Komik ist übrigens von Otto Waalkes (Waalkes/ Gernhardt/ Knorr/ Eilert, Englisch für Fortgelaufene, in: Otto Waalkes, Der ostfriesische Götterbote, 2001 Rüssl Records [CD-Einspielung eines Programms von 1979]) auch angewandt worden: „Peter Paul and Mary are sitting in the kitchen. – Peter Paul und Maria sitzen im Kittchen.“ 25 Faller (2004) S. 195. Faller bietet ebenfalls moderne Rekonstruktionen des Punischen, d.h. Übersetzungen. Über die Plausibilität kann ich nichts sagen. 26 „Migdilix ist nicht befriedigend geklärt“, Faller (2004) S. 168 Anm. 26. 27 Agorastocles schickt ihn fort (1172 – 73). Vgl. Maurice (2004) S. 283. 28 Tatsächlich wird Milphio als seruus callidus regelrecht demontiert (Maurice [2004] S. 276): „These exspectations [i.e. die Publikumserwartung, in Milphio einen listigen Sklaven geboten zu bekommen, F.W.] are soon to be dashed, however; it quickly becomes clear, with the entry of Hanno, the Cartaginian, that Milphio’s calliditas is nothing more than empty mouthing.” 29 Die Interpretation von Maurice (2004) ist hier in allen Teilen überzeugend. Noch für einen typischen – und damit dem seruus callidus Milphio geistig unterlegenen, iuuenis hält Lefèvre (2004) S. 42 offenbar den Agorastocles, denn er zitiert zustimmend Lejays Urteil vom lächerlich verliebten Jüngling (Paul Lejay, Plaute, Paris 1925, S. 113). 30 Maurice (2004) S. 284.
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Maurice mit Recht festgestellt hat, das Stereotyp des listigen Puniers in Plautus’ Poenulus nicht unterlaufen, sondern im Gegenteil bekräftigt.31 Der listige Sklave freilich gewinnt die Gunst des Publikums nicht aufgrund seiner Ethik, sondern wegen seiner beweglichen Intriganz;32 diese Gunst überträgt Plautus kurz nach Kriegsende ausgerechnet auf einen Karthager. Wie ist dieser Umstand zu bewerten? Sowohl Livius (s. vorig. Kapitel) als auch Vergil (s. folg. Kapitel) inszenieren in der Rückschau eine Art Annäherung an die fides Punica, wenn auch mit gehörigen Kautelen; bei Livius lernen die Römer von den Karthagern ein strategemisches Denken, das innenpolitisch durchaus auch als verbotene List kritisiert wird; bei Vergil sind es die Trojaner selbst, die die Griechenlist erst nach Karthago importieren, um sich dann als Römer von ihr wieder zu emanzipieren.33 Nun sind dies späte Konstruktionen. Brizzi war, wie oben ausgeführt, davon ausgegangen, dass sich die Politik Roms tatsächlich nach den Punischen Kriegen in eine „punische“ Richtung bewegt hat, dass sie also pragmatischer und rücksichtloser wurde und darüber in der Tat ein innenpolitischer Streit entbrannte (Cato vs. Scipio). Wheeler hatte Brizzi wiederum mehr oder minder deutlich vorgeworfen, seinen Quellen – also auch dem Livius – aufgesessen zu sein. Es wäre daher wohl irreführend, den Poenulus direkt in einen solchen Diskurs um punische Politik einbetten zu wollen. Tatsächlich wollte Plautus zunächst einmal unterhalten; die gesellschaftliche Relevanz seines Humors entsteht nicht aus einer satirischen Haltung heraus, denn sein Lachen ist nicht invektiv oder in anderer Weise zielgerichtet.34 Gerade der Poenulus ist ein gutes Beispiel für das Wesen des plautinischen Gelächters: Der Gegner wird in seinen Stereotypen zitiert und in Beschlag genommen. Es handelt sich um eine komische Aneignung von Schlagworten. Vor diesem Hintergrund ist auch der Titel Poenulus zu verstehen. Plautus verändert in der Regel die Titel der Originale,35 das Diminutiv war im Original vermutlich nicht enthalten: Der „Kleine Punier“ ist entweder eine Verniedlichung der Gestalt des Hanno oder, wenn wir eine interessante Anregung Stefan Fallers auf31
Maurice (2004) S. 288. Maurice S. 279 und 286 rekapituliert auch die Thesen Frankos (1996), nach denen bestimmte Vorurteile über die punische Sexualität (Inzest, der Vater sucht nach seinen Töchtern in den Bordellen und fragt die Gunstgewerblerinnen erst nach dem Geschlechtsakt über ihre Herkunft aus [Prolog: 106 – 110]; in Szene V 5 [1306ff.] nimmt er in Kauf, dass man ihn für den Liebhaber seiner Tochter hält) in das Stück Eingang gefunden haben. 32 Maurice (2004) S. 288. 33 Dazu unten, vgl. bes. Devallet (1996). 34 „Ihr [i.e. der Satire, F.W.] hervorstechendes Merkmal ist die Negativität, mit der sie eine Wirklichkeit als Mangel, als Mißstand und Lüge, kenntlich macht.“ Jürgen Brummack, Satire, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 (2003), S. 355 – 360, 355. Plautus will keine Missstände anprangern. 35 Peter Riemer, Das Spiel im Spiel. Studien zum plautinischen Agon in ‚Trinumus‘ und ‚Rudens‘, Stuttgart – Leipzig 1996, S. 22f.
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greifen, bezeichnet den an seiner Rolle gescheiterten Milphio, der sich selbst als ‚punischer als ein Punier‘ preist; aber von dem Original in die Tasche gesteckt wird.36 Dabei könnte diese Konstellation von den Römern als doppelt komisch rezipiert worden sein: Entweder identifizieren sich die Römer mit den griechischen Protagonisten der Palliata – betrachten sie also, als wären es Römer –, dann wäre Milphio in seinem Bemühen, punische fides zu lernen, ähnlich gescheitert wie die Römer am Kriegsanfang gegen Hannibal. Ein ernstes politisches Thema aus den Kriegszeiten würde auf diese Weise komisch auf die Bühne gebracht. Oder die Römer identifizieren sich nicht mit den griechischen Protagonisten, dann würde auf der Bühne gezeigt, dass die Griechen, deren Verschlagenheit ja ebenfalls sprichwörtlich war, nichts sind gegen den ehemaligen Kriegsgegner und neuerlichen Handelspartner Karthago. Nota bene: Beides wären politische Kalauer, keine satirischen statements.37 Vor diesem Hintergrund erscheint es überhaupt nicht mehr sonderbar, dass Plautus einen Punier auf die Bühne bringt, wenn man das durch einen Witz erzeugte Lachen durchaus im Freudschen Sinne als Ergebnis einer emotionalen Aufwandsersparung begreift.38 Plautus hat ein emotionalisiertes Thema komisch gemacht und den listigen Karthager, der in der Propaganda der Kriegsjahre so erbittert behandelt wurde, in die Position des seruus callidus versetzt. In ähnlicher Weise behandelt Plautus auch den Dualismus uirtus – dolus (vgl. unten zur Aeneis) im Truculentus. Der bramarbasierende miles Stratophanes, dem die schlaue Hetäre ein Kind unterschieben wird, um ihn so seines Vermögens zu berauben, brüstet sich mit seiner kriegerischen uirtus und gibt ihr den klaren Vorzug vor der beredten Schläue (493): strenui nimio plus prosunt populo quam argute cati. Hier lebt der Witz von der komischen Umkehrung, denn der „tapfere“ Soldat wird im Folgenden der schlauen Hetäre unterliegen. Aber auch diese Pointe beinhaltet kein weitergehendes statement des Plautus, mit dem der römische Dualismus von Tapferkeit und List grundsätzlich in Frage gestellt oder neu beleuchtet würde, denn die uirtus des großsprecherischen Soldaten selbst ist ja fragwürdig. Die List wird also nicht endgültig gegen die Tugend/Tapferkeit ausgespielt. Die Intrigen, die Täuschungen, die Listen – all das folgt auf der plautinischen Bühne der Logik einer „Freude am Bösen“, wie sie Werner Röcke für die frühneuzeitlichen deutschen Schwankbücher postuliert hat.39 Dabei ist mit „böse“ hier nicht immer eine ethische Verkommenheit gemeint – oft sind die Anliegen der Protagonisten nur zu berechtigt; aber die ganze Problematik der Mittel, die 36
Faller (2004) S. 172 – 174. Vgl. Beare (1968) S. 36 (über Naevius und seine Zeit): „The purpose of comedy, at least for the Romans of that day, was to arouse laughter.“ Vgl. auch ebenda S. 111. 38 Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Der Humor, Frankfurt am Main 41998, S. 132. 39 Z.B. für den Aspekt der List bei Röcke (1987) S. 24.
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zu einem Zweck führen, eben der Verstellung, fällt hier zum Vergnügen des Zuschauers weg. Im Falle aber gerade des Truculentus, der wegen der besonderen Amoral fast aller Mitspieler aus den Komödien des Plautus heraussticht,40 handelt es sich sogar im engeren Sinne um eine Freude am Bösen, die ihre Lust gerade aus dem Betrug und seiner listigen Inszenierung als Intrige schöpft. Die sonst für das Thema so zentralen Dualismen von uirtus und dolus, von Feldherrenkunst und List, von Gewalt und List erscheint bei Plautus aufgehoben und eingeebnet in der Gestalt des triumphierenden Sklaven, der sich selbst als Feldherr inszeniert, dessen Intrigen von ihm als Äquivalente zur Gewalt angesehen werden.41 4.2 Väter und Söhne, List und Verantwortung Die List wird in der Komödie zur Intrige erweitert, d.h. sie umfasst mehrere Personen, wird mit enormem inszenatorischen Aufwand betrieben – was bei einer Bühnengattung nicht überrascht – und stützt sich maßgeblich auf simulatio und dissimulatio;42 anders ausgedrückt: Sie erzeugt eine zweite Wirklichkeitswahrnehmung beim Getäuschten.43 Das Vergnügen der Zuschauer an dieser Intrige entsteht in der Regel durch ihr überlegenes Wissen, mit dem sie zu Komplizen des Intriganten werden (wir erinnern uns: Die List lebt von einem Kenntnisstandsgefälle zugunsten des Listigen). Hinzu kommen Schadenfreude über den Geprellten und Identifikation mit den Liebenden; Freude über die Anagnorisis und den (oft) wiedergefundenen Bürgerstatus der begehrten Hetären. Dadurch, dass die List in gewisser Weise immer eine Aufwandsersparnis (Freud) ist – sie ist eine Abkürzung, mit der 40
„It is a comedy of the vice triumphant“: Elaine Fantham, Domina-tricks, or How to Construct a Good Whore from a Bad One, in: Stärk/ Vogt-Spira (2000), S. 287 – 299, 288. 41 Die Selbststilisierung des Sklaven als Feldherr und Soldat ist des Öfteren untersucht worden. William Thomas MacCary, Servus gloriosus. A study of military imagery in Plautus, Diss. Stanford Calif. [1969] 1974; Brotherton (1926) S. 5f. Brotherton S. 64 – 66 weist zudem darauf hin, dass die Sklaven ihre Listen oft mit militärischem Vokabular bezeichnen. Dadurch erscheint die List dann als echtes Äquivalent zur Gewalt und wird aufgewertet. MacCary legt nahe – mit den gehörigen Kautelen, die das lückenhafte Material der griechischen Originale nötig machen (S. 194) – , dass der Sklave als ‚Feldherr der Komödienintrige‘ eine plautinische Schöpfung ist, für die sich nichts Vergleichbares bei Menander oder Terenz findet (S. 201) – ohne dass er damit die Fundstellen für Militärmetaphern bei diesen Autoren abstreitet. David Wollners Studien (Die auf das Kriegwesen bezüglichen Stellen bei Plautus und Terentius, Landau 1892 und 1901) zielen eher auf das Motiv des Militärischen und des miles gloriosus generell ab, weniger auf die Selbststilisierung des Sklaven. Wollner geht von einer engen Umsetzung der griechischen Vorlagen durch Plautus und Terenz aus (z.B. 1901: S. 61). 42 von Matt (2006) S. 20. 43 Dieterle (1980) S. 5: „Vorspiegelung einer Scheinwelt“. Zur Intrige als Motor der Handlung („die Handlung vorantreibende[s] Element“) ebenda S. 7.
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ein Ziel realisiert wird, das sonst sehr viel schwerer zu gewinnen wäre; sie ignoriert, wie auch der scharfe Witz, moralische Tabus –, neigt sie in der Regel immer dazu, komisch zu werden; sie kann sogar die Tragödie der Komödie annähern, wie der Germanist Peter von Matt ganz richtig gesagt hat.44 Dies sind allgemeine Aussagen zur Intrige in der griechischen wie auch der römischen Komödie, ja zur Intrige überhaupt, die nicht weiter problematisiert werden müssen. List und Intrige sind jedoch nicht allein als Motoren der Handlung zu bewerten. Sie sind bei Plautus und Terenz verschiedenen Akteuren (seruus callidus, Hetäre) zugeordnet45 und sie erscheinen nicht nur als ein saturnalisches Element, d.h. nicht allein als eine Form der Bemächtigung, die der sozial oder familiär Schwache gegenüber dem Starken anstrengt, sondern geben sich besonders bei Terenz als eine Form der Bewährungsprobe für bestimmte Altersklassen und Geschlechter. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass das Thema grundsätzlich beherrschend für die Nea und damit die ganze Palliata war. Ein gutes Beispiel ist die Mostellaria des Plautus, in der der Sohn Philolaches mit dem Haus eine eindringliche Metapher für seine Erziehung wählt (91 – 156), ein Bild, das sich durch die „Diffamierung des Vaterhauses (in dem ein Totengeist umgehen soll)“46 im Stück fortsetzt. Das Besondere bei Terenz ist die Konsequenz des Themas in allen seinen Stücken, ebenso rückt ihn die Literarizität seiner Sprache, die ihm auf der Bühne möglicherweise geschadet hat, näher an die Sprachkunst der Augusteer als den älteren Plautus. Terenz ist nicht nur der jüngere, sondern auch der modernere Dichter.47 Im Folgenden geht es daher verstärkt um die List als Kompetenz, nicht so sehr um die Frage, wie diese Listen konkret aussehen – ein Aspekt, der bei Untersuchungen zur List allgemein zu kurz kommt, aber hier als zentral angesehen wird. Es hatte sich ja bereits bei der Aulularia, dem Poenulus und dem Truculentus gezeigt, wie durch die Konstellationen der Figuren zueinander eine gewisse gesellschaftliche Relevanz erzeugt wird, die den standardisierten Komödienplot überwindet. Wenn solche Fragen im Bereich der List gestellt werden, so kommen besonders die Verhältnisse Frauen und Männer und Väter 44
von Matt (2006) S. 37. Die Nähe von List und Witz betont bereits Clausewitz (1834) S. 178: „wie der Witz eine Taschenspielerei mit Ideen und Vorstellungen ist, so ist die List eine Taschenspielerei mit Handlungen.“ Vgl. auch Schwarz (1999) S. 304. Auch was Peter von Matt ansonsten über die Bauformen der Intrige gesagt hat, ist richtig und, das legt seine Studie nahe, sogar überzeitlich gültig. Es hat daher sicher keinen heuristischen Wert, die Struktur der Intrige innerhalb der Palliata hier im Einzelnen vorzuführen; außerdem existieren hierzu schon genügend Untersuchungen (Görler, Dieterle). 45 Blänsdorf (2002) S. 174. 46 von Albrecht (1994a) S. 152. 47 Siehe auch Néraudau (1979) S. 92: „Les quelques années qui séparent Térence de Plaute sont une charnière entre la Rome archaïque et la ville moderne, bientôt maîtresse de l’univers.“
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und Söhne in den Blick. Beide Konstellationen greifen in der Komödie explizit (in der Liebeselegie implizit, s.u.) ineinander. Wir wenden uns zunächst dem Verhältnis zu, das in der Liebeselegie keine explizite Berücksichtigung finden kann: dem der Söhne zu den Vätern. Es ist immer wieder bemerkt worden, dass dies ein zentrales Motiv der Nea und der Palliata ist, wobei eine gewisse Tendenz der Forschung auszumachen ist, nach der besonders Terenz das Vater-Sohn-Verhältnis in seinen Stücke thematisiert und auf römische Verhältnisse zugeschnitten hat.48 Während bei Plautus die Söhne bisweilen äußerst rücksichtslos gegen die Interessen ihrer Väter agieren,49 ja ihnen sogar den Tod wünschen, damit sie das zur Gewinnung ihrer Hetären notwendige Geld in die Finger bekommen,50 sind die iuuenes bei Terenz entweder von Anfang an von einer gewissen pietas gegenüber dem Vater erfüllt oder werden zumindest am Ende der Komödie zur Raison gebracht.51 48
Hunter (1985) S. 97; Peter Kruschwitz, Terenz, Hildesheim – Zürich – New York 2004, S. 195; Elaine Fantham, Heautontimorumenos and Adelphoe: A Study in Fatherhood in Terence and Menander, in: Latomus 30 (1971), S. 970 – 998. Da Terenz, anders als Plautus, ganz klar Menander als Vorlage favorisiert, wird bisweilen die Ansicht vertreten, er sei weniger originell im Umgang mit seiner Vorlage gewesen. Vgl. Anderson (1993a) S. 29 (die umgekehrte Ansicht findet sich aber auch; gerade Beare [1968] würdigt Terenz’ dichterische Kraft, s.u. und S. 71). Faktisch gehen vier der sechs Terenzkomödien auf Menander zurück (Beare S. 94), während sich Plautus nur unter anderem bei Menander bedient (Beare S. 49, 64). Tatsächlich romanisiert Terenz weniger im Bereich der Anspielungen auf römische Gebräuche und Institutionen (vgl. Gruen [2001] S. 84; Hofmann [1987] S. 418). Die Vorstellung einer größeren Nähe zum griech. Original bei Terenz ist letztlich auch Grundlage der Arbeit von Riemer (1996) S. 162 – 181, der eine Änderung des Plots bei Terenz beim Phormio thematisiert – dem einzigen Stück, bei dem Terenz wie Plautus den Titel geändert hat (S. 162; vgl. auch Eckard Lefèvre, P. Terentius Afer, in: Suerbaum [2002], S. 232 – 254, 245). Von einer Änderung spricht Donat für den Schluss der Adelphoe (Hunter [1985] S. 108). Das ändert so oder so nichts an dem Befund, dass Terenz durch seine Auswahl die Vater-Sohn-Problematik ins Zentrum gestellt hat. HansWolf Rissom, Vater- und Sohnmotive in der römischen Komödie, Kiel 1971. Barbara Sherberg, Das Vater-Sohn-Verhältnis in der griechischen und römischen Komödie, Tübingen 1995, S. 125 (und passim) versucht für Plautus und Terenz gleichermaßen nachzuweisen, dass beide die Vater-Sohn-Beziehung gegenüber Menander entinnerlicht hätten; ihre Materialbasis ist etwas zu gering, was den Griechen angeht. Beare (1968) S. 109 sieht die Leistung des Terenz gegenüber Menander gerade in „the deepening of sentiment,“ der humanitas (ein schwammiger Begriff) und der Charakterzeichnung (S. 107); insgesamt gehen die jüngeren Veröffentlichungen auch bei Terenz von einer besonderen Originalität aus (Konstan, Kruschwitz u.a.), Lefèvre im Prinzip auch (z.B. Lefèvre [2002] S. 247), er verbindet seine Thesen aber oft mit z.T. problematischen Rekonstruktionen der menandrischen Vorlagen, dazu auch Kruschwitz [2004] S. 203 Anm. 5). 49 Segal (1968) S. 19ff. Anderson (1993a) S. 3 – 29. 50 Most. 233f.: (Philolaches): utinam meus nunc mortuos pater ad me nuntietur,/ ut ego exheredem me meis bonis faciam atque haec sit heres. Segal (1968) S. 17. 51 Anderson (1993a) S. 135 sieht hier einen Unterschied zwischen Plautus und Menander und damit auch zwischen Plautus und Terenz, weil Letzterer, nach Andersons Sicht, den
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1. Der Jüngling Pamphilus aus der Andria fühlt sich zwar hin- und hergerissen zwischen seinen Loyalitäten gegenüber der von ihm bereits geschwängerten Glycerium und gegenüber seinem Vater, der eine Hochzeit mit einer Bürgerstochter geplant hat; aber auf dem Höhepunkt der Verwicklungen unterwirft sich Pamphilus ganz dem Vater (896f.): ego me amare hanc fateor; si id peccarest, fateor id quoque/ tibi pater me dedo: quiduis oneris inpone, impera. 2. Im Heautontimorumenos, von dem noch zu handeln sein wird (genaue Zusammenfassung unten), gelingt es dem strengen Vater Chremes, obwohl er nach der Logik des ganzen Stückes am Ende eigentlich als der klassische geprellte senex dastehen müsste, seinen Sohn in eine „bürgerliche“ Ehe zu zwingen. 3. Ausgefallen – im Doppelsinne – ist die Rolle des Vaters im Eunuchus. Insgesamt ähnelt die Personenkonstellation in diesem Stück noch am ehesten der Liebeselegie: Phaedria, dessen verliebte Reden als eine literarische Vorstufe des elegischen Sprechers in Frage kommen (s.u.), liebt die Hetäre Thais, die wiederum Verpflichtungen gegenüber dem miles Thraso nachkommen muss.52 Der senex kommt in dieser Konstellation gar nicht vor; ähnlich wie in der Liebeselegie sind die erotischen Mitspieler auf sich allein gestellt. Phaedria wird von Thais aufs Land geschickt, hält es dort aber nicht aus. Sein Bruder Chaerea verliebt sich in die „Adoptivschwester“ der Thais, dringt als Eunuch verkleidet in deren Haus ein und vergewaltigt das Mädchen, das er anschließend gerne heiraten möchte. Zunächst aber wird er aufgegriffen und vom Bruder des geschändeten Mädchens gefangen gesetzt. In die anschließenden Verwicklungen platzt der Vater der Brüder hinein – sehr zum Erschrecken des Sklaven Parmeno – und bringt Ordnung in die Verhältnisse. Der Vater erscheint hier als ein deus ex machina. 4. Der Phormio ist in gewisser Weise eine „Väterverschwörung“, bei der zwei senes als Brüder gegen die Interessen ihrer Söhne handeln, aber am Ende besiegt werden. Der senex Chremes unterhält neben seiner Familie in Athen noch eine weitere in Lemnos, die er, unterstützt von seinem Bruder Demipho, geheim hält. Demiphos Sohn Antipho hat heimlich eine mittellose Frau geheiratet; diese Hochzeit will sein Vater gern rückgängig machen, wobei ihm wiederum Chremes hilft, weil dieser möchte, dass Antipho seine uneheliche Tochter heiratet. Am Ende stellt sich heraus, dass es sich bei der Mesalliance tatsächlich um diese Tochter gehandelt hat, sodass die Hochzeit gar nicht rückgängig gemacht werden muss. Dennoch fliegt die geheime Ehe des Vaters wegen der Umtriebe des Parasiten Phormio auf, der dem Jüngmenandrischen Plot (Rückkehr des Sohnes in den Schoß der Familie) übernommen habe (S. 28f.). 52 Da dieser ihr eine junge Frau zum Geschenk machen soll, die einst von Piraten entführt und dann von Thais’ Mutter wie ein eigenes Kind aufgezogen worden sei. Um diese zu befreien, muss Thais dem miles für ein paar Tage ihre Liebe schenken.
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ling (und auch dem Sohn des Chremes in einer anderen Liebesangelegenheit) intrigierend zur Seite stand. Chremes muss sich faktisch seiner erbosten Frau unterwerfen, die in diesem Falle die Regelung der Verhältnisse (zum Teil, s.u.) übernimmt und den Jünglingen zu deren Liebesglück verhilft. 5. In der Hecyra dagegen sprechen die Männer (der senex Laches) von einer Frauenverschwörung (198 – 200): Pro deum atque hominum fidem, quod hoc genus est, quae haec est coniuratio! utin omnes mulieres eadem aeque studeant nolintque omnia neque declinatam quicquam ab aliarum ingenio ullam reperias! Der Jüngling Pamphilus hat eine Frau geheiratet, die er nicht begehrt; nach einem Aufenthalt auf der Insel Imbros wird er aber von seiner Schwiegermutter nicht mehr zu ihr vorgelassen, weil diese aufgrund einer vor der Ehe erlittenen Vergewaltigung schwanger ist. Als das endlich doch herauskommt, verspricht Pamphilus, die „Schande“ seiner Frau nicht zu verraten, will sich aber gleichwohl von ihr trennen. Für die in die Hintergründe Uneingeweihten, besonders die senes der verschwägerten Haushalte, scheint die Heimlichtuerei ihren Ursprung in einem Streit der Schwiegermütter zu haben (daher der Verdacht einer coniuratio). Es ist schließlich dem Eingreifen der Hetäre Bacchis zu verdanken, dass sich die Situation aufklärt, denn sie kann schließlich beweisen, dass der Vergewaltiger der Ehefrau niemand anders war als Pamphilus selbst – vor seiner Ehe! Die Hecyra fällt nur scheinbar aus der Vater-Sohn-Problematik heraus. Der plot erhält aber doch nur von ihr seinen tieferen Sinn: Der Sohn hat durch die Heirat den väterlichen Bereich verlassen, es ist recht eigentlich die Geschichte eines (Beinahe-)Rückfalls in die alte Konstellation. 6. In den Adelphoe erprobt Terenz, ganz ähnlich wie im Heautontimorumenos das Modell der zwei Erziehungsstile: Der senex Micio, ein Hagestolz und Stadtmensch, adoptiert Aeschinus, einen der beiden Söhne seines Bruders Demea, und erzieht ihn wie ein römischer auunculus, i.e. voller Nachsicht und Laisser-faire; Demea, der verheiratete Landmann, herrscht mit großer Strenge über sein verbliebenes Kind Ctesipho. Tatsächlich hat sich Aeschinus zu einem selbstbewussten Jüngling entwickelt, während Ctesipho unentschlossen und schwächlich bleibt. Beide Jünglinge setzen freilich ihre Liebschaften durch; dabei wird zunächst der strenge Demea düpiert; allerdings kommt es am Ende zu einem überraschenden Wechsel: Demea ist es leid, immer wegen seiner Strenge gehasst zu werden, er kopiert das gütige Verhalten seines Bruders und führt diesem vor Augen, dass er nur wegen seiner Großzügigkeit geliebt wird und keinen echten Respekt genießt. Die Übersicht sollte deutlich machen, dass wirklich alle Komödien des Terenz das Verhältnis Väter – Söhne nicht nur als Motiv oder Handlungsmotor verwenden, sondern dass hier der Aussagekern der Stücke liegt.
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Terenz verändert in jedem Stück bestimmte Elemente der Konstellation und kann so, durchaus dem römischen Exempeldenken verpflichtet, die Frage nach der richtigen Erziehung und der Adoleszenzproblematik aus verschiedenen Blickwinkeln verhandeln: strenge und nachsichtige Väter (Heautontimorumenos, Adelphoe, Andria), unaufrichtige Väter, die kein Vorbild sein können (Phormio), ratlose (Hecyra) und ferne Väter (Eunuchus). Der Drehund Angelpunkt, mit dem das Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen ausagiert wird, ist der „Besitz der List“; die Aushandlung der Frage also, wer listig sein darf – und wer nicht. Die List wird, dies sollte auch aus den vorangegangen Untersuchungen zu Livius deutlich geworden sein, in Rom als eine besondere Lizenz der jungen Männer und – dies noch ein wenig im Vorgriff – als eine besondere Unsitte der Frauen angesehen. Anders ausgedrückt und zugleich als These formuliert: Die List ist ein Signum männlicher Adoleszenz und ihr Erfolg steht in einem direkten Verhältnis zur Ausübung der patria potestas. Dieses Verhältnis wird in den terenzischen Komödien exemplarisch durchgespielt. Dabei ist es gerade falsch zu sagen, allein der seruus callidus sei in der Komödie listig, der Jüngling aber hilflos und ungeschickt. Es hat sich bereits im Poenulus gezeigt, dass auch andere Akteure die Rolle des Sklaven übernehmen können und dass auch die Jünglinge mal mehr, mal weniger listig sind. Im Folgenden wird der Sklaven daher eher als eine personifizierte und zugleich rollenmäßig ausgelagerte Listkompetenz aufgefasst. Es lohnt sich also zu untersuchen, welchem Jüngling die listigen Sklaven in welcher Weise zugeordnet sind; welcher Jüngling ohne Sklaven auskommt und wer ihn wie einsetzt. Damit lässt sich zeigen, welche Form von List ein Jüngling in einer bestimmten Konstellation benötigt oder eben nicht benötigt. Dagegen könnte bei einer reinen Zuordnung der Listkompetenz zum Sklaven nur in den Blick geraten, dass der eine Sklave mehr, der andere weniger umtriebig oder erfolgreich ist. Der Sklave pendelt in der Komödie, und besonders bei Terenz, sichtbar zwischen diesen beiden Aspekten, dem eines autonomen Rollencharakters, der eigene Interessen vertritt, und der Verlängerung der Rolle des iuuenis. Exkurs: Die Römische Jugend Bevor wir uns der literarischen Imagination zuwenden, ist es notwendig, ein paar grundsätzliche Bemerkungen zum Problem des Vater-Sohn-Verhältnisses in Rom zu machen und dabei die Zeit nach dem Zweiten Punischen Krieg besonders zu beachten. Johannes Christes hat die von Eyben aufgeworfene Frage nach einem jugendlichen Lebensgefühl in Rom neu gestellt53 53
Johannes Christes, Jugend im antiken Rom. „Junge Erwachsene“ oder „ruhelose Jugend“, in: Johannes Christes, Jugend und Bildung im antiken Rom. Zu Grundlagen römischen Lebens, Bamberg 1997, S. 5 – 36; vgl. auch Johannes Christes, Bildung, in: DNP 2 (1997), Sp. 663
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und in etwa dahingehend beantwortet, dass die klassische römische Erziehung keinen Platz für eine eigene Jugendzeit gelassen habe, weil es zunächst keine eigene Pädagogik gegeben habe und so aus dem unmündigen Kind rasch ein junger Erwachsener werden musste, der bald an die Institutionen und Berufe der Erwachsenen herangeführt wurde. Dagegen seien mit dem Aufstieg Roms zur beherrschenden Macht der Mittelmeerkoine neue pädagogische und Bildungskonzepte nach Rom gelangt, die zu einer Ausprägung von Jugend mit einer eigenen Jugendkultur geführt hätten.54 Dieser Analyse ist zuzustimmen, im Folgenden werden noch einige zusätzliche Überlegungen zu den soziopolitischen Ursachen angestellt, wobei nicht verschwiegen werden soll, das bereits bei Christes wichtige Hinweise auf die tiefer liegenden historischen Ursachen gegeben werden. Die Probleme beginnen bekanntlich bereits bei der konzeptionellen Fassung dessen, was in Rom eigentlich Jugend sein soll. Die verschiedenen Alter sind in Rom kaum nach einem biologischen oder sozialen Reifegrad, sondern vornehmlich juristisch und politisch definiert; es handelt sich, wie Jean Néraudau herausgearbeitet hat, eher um Altersklassen als um Altersgruppen.55 Sofern biologische und soziale Aspekte einfließen, sorgen sie eher für eine Verunklarung der Grenzen zwischen den Altersgruppen. Mit 14 Jahren war man heiratsfähig, mit 16 oder 17 aber erst nahm man die toga uirilis; voll geschäftsfähig war man seit der lex Laetoria aus dem Jahre 191 mit 25; die politische Laufbahn begann seit der lex Villia Annalis aus dem Jahr 180 mit wohl 27 Jahren, seit Sulla mit 30, seit Augustus bereits mit 25 Jahren.56 Beide Gesetze schufen innerhalb der Gruppe der iuuenes, die Männer bis tief in ihre Vierziger umfassen konnte, mehr oder minder künstlich eine weitere Altersgruppe, die adulescentes. Bei den Autoren, auch den augusteischen, herrscht keine deutliche Trennung zwischen iuuenes und adulescentes vor; war der letzte Terminus in der Republik vorherrschend, so bevorzugen die Augusteer iuuenis.57 Dies hängt damit zusammen, dass die adulescentes keine klar umrissene Altersgruppe bildeten; das eigentliche Problem aber, das die Unterscheidung zwischen iuuenis und adulescens problematisch macht, liegt in der patria potestas. Gibt es mit dem tirocinium fori noch ein einigermaßen klares und – 673, 667f. und Erziehung, in: DNP 4 (1998), Sp. 110 – 120. Emiel Eyben, Restless Youth in Ancient Rome, London – New York 1993, S. 5 – 41; Diana Bormann, Jugend. Rom – Republik und Kaiserzeit, in: Johannes Christes/ Richard Klein/ Christoph Lüth (Hgg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006, S. 72 – 78, 75 – 78. 54 Z.B. Christes (1997a) S. 20, 26, 33f. 55 Néraudau (1979) S. 86. Allgemein auch: Marc Kleijwegt, Ancient Youth. The ambiguity of youth and the absence of adolescence in Greco-Roman society, Amsterdam 1991, S. 58 – 67. 56 Néraudau (1979) S. 111 – 121. 57 Néraudau (1979) S. 126ff. Christes (1997a) S. 15; Hermann Menge, Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik. Völlig neu bearbeitet von Thorsten Burkard und Markus Schauer, Darmstadt 2000, S. 33 § 15 Anm. 1; Bormann (2006) S. 72.
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fassbares Ritual vom Übergang zwischen pueritia und adulescentia,58 so ist doch der Übergang vom adulescens zum iuuenis, ebenso der vom iuuenis zum senex, so gut wie nicht gestaltet. Hier liegt die Problematik einer eigenen Jugendkultur. Es gibt keinen klaren Übergang zwischen Jugend und Erwachsenenalter. Freilich gibt es einen solchen eigentlich nie. Man wird nicht plötzlich erwachsen, sondern allmählich. Viele Gesellschaften reagieren darauf mit zwei in der Regel miteinander korrespondierenden kulturellen Formationen: Sie haben bestimmte Übergangsriten und erteilen den Initianden einen Sonderstatus mit bestimmten Tabus und Lizenzen. Übergangsriten (rites de passage), d.h. Riten, mit denen „Orts-, Zustands-, Positions- oder Altersgruppenwechsel“ begleitet werden,59 spielen besonders beim Übergang vom Jugendlichen in die Gemeinschaft der Erwachsenen eine Rolle und finden hier fast in allen Gesellschaften ihre speziellen Ausprägungen. Über die möglichen Formen solcher Riten wird unten im Abschnitt zu Tibull ausführlicher gehandelt. Es ist aus den bisherigen Überlegungen offensichtlich, dass es in Rom kaum ausdifferenzierte Übergangsriten noch ausdifferenzierte Initiandengruppen („Jugendliche“) gibt (immerhin werden einige klassische Texte, namentlich im ersten Buch von Ab Urbe Condita, häufig in diese Richtung interpretiert60): Das tirocinium fori findet zu früh statt, um als wirklicher Eintritt in das Erwachsenenleben gelten zu können, es ist recht eigentlich ein Eintritt in das Jugendalter. Dasselbe gilt für die Hochzeit, die ziemlich früh stattfinden kann. Die lex Annalis dient eher dazu, ein zu frühes Eintreten der jungen Männer in die Ämterlaufbahn zu verhindern, als dass man hier von einem geregelten Übergang sprechen könnte.61 Ein fixes Mannesalter zwischen adulescentia und senectus gibt es in gewisser Weise gar nicht in Rom, Erwachsenwerden bleibt ein kumulativer Prozess, der erst mit dem Tod des Vaters endet, also vielleicht nie. Immerhin aber gibt es den genannten kumulativen Prozess und es gibt als Ergebnis dieses Prozesses den mehr oder minder autonomen Mann mittleren Alters. Umstritten in ihrer Reichweite, aber in der Tendenz ihrer Wirkung offensichtlich, ist hierbei die Rolle der patria potestas.62 Selbst wenn der junge Mann 58
Néraudau (1979) S. 147ff. Arnold van Gennep, Les rites de passage, Paris 1909; dt.: Übergangsriten, Frankfurt am Main 1986; Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, Frankfurt – New York 2000; dt. Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt am Main 2000. Zitiert wird nach den deutschen Ausgaben. Das Zitat bei Turner S. 94 (der vermutlich seinerseits van Gennep zitiert, aber ohne Seitenangabe). Für Griechenland einschlägig: Pierre Vidal-Naquet, Der schwarze Jäger. Denkformen und Gesellschaftsformen in der griechischen Antike, Frankfurt – New York 1989, bes. S. 105 – 149. 60 Vgl. etwa Fraschetti (1996) S. 73 und 92 zum Romulus-und-Remus-Mythos und den Zweikämpfen junger Männer. Siehe dazu auch das Kapitel zu Livius. 61 Néraudau (1979) S. 106f. 62 Fraschetti (1996) S. 83.
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alle Stadien auf dem Weg zum Erwachsenen durchschritten hat, wenn er das tirocinium fori absolviert, eine Ehe geschlossen, Geschäftsfähigkeit erreicht und Ämter bekleidet hat, bleibt er generell der patria potestas unterworfen. Gleichzeitig beginnt diese, ihren Griff zu lockern. In Rom war die in gewisser Weise auf Dauer gestellte Liminalität der Jugendlichen durch die patria potestas erzeugt und gleichzeitig in ihr aufbewahrt. Man kann für Rom daher theoretisch auf zwei etwas überspitzte Konsequenzen schließen: Da es keine ausdifferenzierten rites de passage gibt, wird der Übergang entweder durch die gesellschaftliche Kontrolle und die väterliche Gewalt moderiert63 oder die Jugend befindet sich – wenn diese Kontrolle wegfällt – in einem Dauerzustand des Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Meine These ist, dass die erste Alternative cum grano salis den Zustand in der hohen Republik markiert, während die zweite die Krise der späten Republik und den frühen Prinzipat kennzeichnet. Vergegenwärtigen wir uns die Exempel der Manlii, die als klassische Vertreter einer strikten patria potestas firmieren, so zeigt sich gerade hier die Logik der rites de passage. Der Sohn des L. Manlius Imperiosus wird bei Livius (7, 4f.) vom Vater aufs Land verbannt, weil er als geistig zurückgeblieben gilt oder genauer: weil er sich nicht gut ausdrücken könne und stockend spreche (7, 4, 6: quia infacundior sit et lingua impromptus). Dies jedenfalls ist der unwidersprochene Inhalt von Vorwürfen, die, laut Livius, der Volkstribun L. Pomponius erhebt, als er den beim Volk verhassten Manlius wegen verschiedener strenger Maßnahmen anzeigt. Das Verhalten des Vaters gegen den Sohn bezeugt in seinen Augen die maßlose Grausamkeit des Manlius. Doch als der Sohn in seinem Exil davon erfährt, fasst er einen Plan, von dem Livius sagt, dass er das grobe und bäuerliche Denken des Sohne verrate und nicht im eigentlichen Sinne republikanisch sei, aber doch eine lobenswerte pietas erkennen lasse (7, 5, 2: capit consilium rudis quidem et agrestis animi et quamquam non ciuilis exempli, tamen pietate laudabile). Heimlich schleicht er sich früh morgens in die Hauptstadt und besucht das Haus des Volkstribunen. Dem Türhüter (ianitori) kann er die Dringlichkeit begreiflich machen, mit dem Tribun sprechen zu müssen. Der Tribun hofft auf neue Argumente, die ihm der Sohn gegen den Vater geben werde, und lässt sich auf ein Gespräch unter vier Augen ein. Daraufhin zückt der Sohn einen Dolch und zwingt den Tribun zu schwören, keinen Prozess gegen den Vater anzustrengen. Der Tribun sieht sich in der Tat daraufhin gezwungen, diesen Eid öffentlich zu machen, um der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass er nichts weiter gegen Manlius unternimmt. Und als das Volk zum ersten Male Mili63
So Christes (1997a) S. 13, der sich gegen die Vorstellung wendet, die patria potestas nur als Einengung der Söhne zu verstehen, und mit Recht auf ihre stabilisierenden Faktoren hinweist. Vgl. auch den Monolog des Philolaches in der Mostellaria (I 2).
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tärtribune bestellt, wählt es ausgerechnet den Sohn des Manlius, beeindruckt von dessen pietas, in dieses Amt. Diese Geschichte wird gewöhnlich als ein typisches exemplum für die erfolgreiche Durchsetzung der patria potestas und damit als ein typisches Manliusexemplum gelesen.64 Die Manlii sind allerdings ebenso gut immer auch exempla für Konfliktgeschichten zwischen iuuenes und senes. Zwar gelingt es ihnen immer, die Autorität als Vater gegen ihre Söhne zu exekutieren, aber sie gelten dabei nicht nur als Hüter der patria potestas, sondern auch als gefährliche Strapazierer dieses Prinzips. Als ein Manlius seinen Sohn hinrichtet, weil er gegen das väterlich-magistratische Gebot sich einen erfolgreichen Zweikampf mit einem Feind geleistet hat, trägt ihm das den unversöhnlichen Hass der römischen iuuenes ein. Diese Geschichte dagegen endet anders, mit der Niederschlagung des Prozesses gegen den Vater und, das ist das eigentlich Überraschende, mit der Eingliederung des Sohnes in die Ämter der Stadt Rom, also genau dort, von wo ihn der Vater fern halten wollte. Tatsächlich bildet diese Geschichte die Logik jungmannschaftlicher rites des passage recht gut ab. Übergangsriten werden seit van Gennep in drei Phasen eingeteilt: die Trennungsphase, die eigentliche liminale Phase und die Wiedereingliederungsphase. Der Vater trennt sich von seinem Sohn, dieser lebt in einem sozial und politisch unterdeterminierten Raum. Auffällig ist auch, dass diese Seklusion des Sohnes mit dessen Sprachvermögen begründet wird, in gewisser Weise wird ihm eine Form der infantia, der Sprachlosigkeit bzw. der Sprachunklarheit, unterstellt. Gleichzeitig ist es diese soziale NichtFassbarkeit und Artikulationsschwäche, die dem Sohn eine besondere Lizenz erteilt. Er kann gegenüber dem sakrosankten Magistrat in einer Weise auftreten, die seinem Vater nicht erlaubt ist, die auch einem eingegliederten ciuis nicht erlaubt ist – das betont Livius ausdrücklich –, die aber gleichzeitig Werte der ciuitas verteidigt und ihm so eine Rückkehr bzw. eigentlich den Ersteintritt in die Gemeinde ermöglicht. Dies ist die Geschichte einer gelungenen Passage durch die prekäre Phase der Adoleszenz unter den Bedingungen einer intakten patria potestas. Tatsächlich erzählt Livius viele solcher Geschichten, in denen eine Besonderheit der jungen Männer deutlich wird: ein Ungestüm, das sich bisweilen gegen die senes, oder vorsichtiger: die Väter und Beamten richtet, aber letztlich auf Bekräftigung der gemeinsamen Werte abzielt, ein Ungestüm, das sich in einer eigentümlichen Mischung aus List und Gewalt äußert. Gerade im Hinblick auf die Komödie und die römische Liebeselegie lohnt es sich, darauf hinzuweisen, dass der junge Manlius sich erst an dem ianitor vorbeibringen musste, und zwar mit guten Ausreden, die dem angeblich so spracharmen jungen Mann gar nicht zuzutrauen waren. Der Ungehorsam mündet in eine Rückkehr in den Bereich des Vaters, die durch 64 Fraschetti (1996) S. 97f. (auch zur Parallele zu Brutus und der Hinrichtung seiner Söhne).
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eine List ermöglicht wird. Die List spielt bei Passageriten sehr oft eine zentrale Rolle, wie zum Beispiel auch an der Gestalt des Tricksters (s.u. Kapitel 5) deutlich wird. In der Komödie kennzeichnet sie, wie jetzt zu zeigen ist, das Handeln des Jugendlichen vor Eintritt in das Erwachsenenalter (Ende des Exkurses). Ein merkwürdig unausgewogenes Vater-Sohn-Verhältnis besteht zwischen dem senex Simo und dem iuuenis Pamphilus in der Andria. Simo akzeptiert, dass sein Sohn eine bestimmte Phase durchmachen muss, in der er über die Stränge schlägt (186 – 190): (…) sed nunc ea (die bisherigen Amouren seines Sohnes) me exquirere iniqui patris est; nam quod antehac fecit nil ad me attinet. dum tempus ad eam rem tulit, siui animum ut expleret suom; nunc hic dies aliam uitam defert, alios mores postulat: dehinc postulo siue aequomst te oro, Daue, ut redeat iam in uiam. Der Konflikt, auf dem die Komödie ihre Handlung entwickelt, entfaltet sich freilich auch genau hier: Es ist der Vater, der bestimmen möchte, wann die Adoleszenz endet und welcher Weg (ut redeat iam in uiam) der richtige für den Sohn ist. Tatsächlich sieht es zu Beginn der Handlung so aus, als habe Pamphilus seine jugendliche Männlichkeit überhaupt erst just zu dem Zeitpunkt zu entdecken begonnen, an dem der Vater diese Phase bereits wieder abschließen möchte. In der ersten Szene des ersten Aktes, die zugleich in typisch terenzischer Manier den exponierenden Prolog ersetzt,65 erfahren wir, dass Simo bisher eigentlich gar keinen Grund hatte, sich über das Verhalten seines Sohnes zu entsetzen. Als sich in der Nachbarschaft eine mittellose Frau aus Andros niederlässt und ihr Dasein als Hetäre zu bestreiten beginnt, hat sie zwar Zulauf von jungen Männern, aber sein Sohn scheint, obwohl ebenfalls Gast in ihrem Hause, keine Affäre mit ihr begonnen zu haben. Nachforschungen des Simo führen zu nichts (90 – 92): (…) comperibam nil ad Pamphilum quicquam attinere. enimuero spectatum satis putabam et magnum exemplum continentiae Als die Hetäre überraschend stirbt und Pamphilus ihren Tod herzlich beweint, geht der Vater aus Solidarität mit zur Einäscherung. Als aber Glycerium, die junge Schwester der Hetäre, an den Scheiterhaufen tritt, gesellt
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Lefèvre (2002) S. 237. Kruschwitz (2004) S. 27 Anm. 16; S. 142, 166 mit Anm. 11, hier auch eine Würdigung von Eckard Lefèvre, Die Expositionstechnik in den Komödien des Terenz, Darmstadt 1969.
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sich der mitfühlende Sohn an ihre Seite, und es ist diese Geste, die den Vater misstrauisch macht (127 – 136): (…) funus interim procedit: sequimur; ad sepulcrum uenimus; in ignem inpositast; fletur. interea haec soror quam dixi ad flammam accessit inprudentius sati’ cum periclo. ibi tum exanimatus Pamphilus bene dissimulatum amorem et celatum indicat: adcurrit; mediam mulierem complectitur: ‚mea Glycerium,‘ inquit ‚quid agis? quor te is perditum?‘ tum illa, ut consuetum facile amorem cerneres, reiecit se in eum flens quam familiariter! Es ist übrigens – und dies ist im Vorgriff auf die unten betonte Nähe von Elegie und Komödie gesagt – nicht unwahrscheinlich, dass Tibull später an diese innige Szene gedacht hat, als er die tote Schwester der Nemesis als Patronin wählt,66 um die herzlose Geliebte wieder an sich zu binden.67 Doch das Verhalten des Pamphilus wirkt immer noch tadellos und genau damit hat der Vater Simo ein Problem. Er vermutet zwar, dass sein Sohn ihn hintergeht (ibi tum exanimatus Pamphilus bene dissimulatum amorem et celatum indicat); aber streng genommen hat er keine Handhabe, bedenkt man, dass Pamphilus auch um die verstorbene Hetäre „keusche“ Tränen der Zuneigung vergossen hat.68 Wenn dieser jetzt einem unglücklichen Mädchen, das er über die Verstorbene kennen gelernt hat, zu Hilfe kommt, als diese droht, in den Scheiterhaufen zu fallen – wer kann da widersprechen? 66 Tib. 2, 6, 29 – 40. Dass Tibull die Schwester als Patronin betrachtet, geht aus v. 35 hervor: non feret usque suum te propter flere clientem: Sie wird es nicht hinnehmen, dass ihr Klient (also Tibull) deinetwegen (also Nemesis) immer weinen muss. (Dass es im Eunuchus um Patronage geht, hat Kruschwitz [2004] schlüssig gezeigt, s. bes. S. 94 zu Eun. 885 – 888, 887: te mihi patronam capio, Thai’, te obsecro). Tibull nutzt hier die Trauergefühle der Nemesis, um deren Herz zu erweichen. Er imaginiert damit, dass es eine Art Verbundenheit von ihm und Nemesis angesichts der gemeinsamen Trauer um ihre Schwester gibt; als wäre die terenzische Szene die Vorgeschichte zur elegischen Geschichte um Nemesis. 67 Erscheint doch die große Schwester der Glycerium auch als Seelenverwandte der Thais aus dem Eunuchus, der sich der verliebte Chaerea wie ein Klient unterstellt, um Erfüllung in der Liebe zu deren jüngerer (Adoptiv-)Schwester zu erbitten. Tibull nutzt hier die gleiche Personenkonstellation, jedoch geht es in der Elegie um eine Adoleszenz ohne Väter, in der Komödie um eine Adoleszenz unter der patria potestas. 68 Vgl. 136: reiecit se in eum flens quam familiariter. Die „familiäre“ Geste der Glycerium irritiert den Vater, während er die „familiäre“ Trauer des Pampihilo nicht beanstanden wollte (109 – 111): (…) placuit tum id mihi./ sic cogitabam ‚hic paruae consuetudinis/ causa huiu’ mortem tam fert f amiliariter (…)‘. Die Wortwahl des Terenz ist auffällig und bekräftigt, jenseits der Deutungen seines Protagonisten Simo, dass der Vater hier eigentlich einen Konflikt sucht und vom Zaune bricht.
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Simo wirkt regelrecht frustriert, weil sein Sohn ihm gehorsam ist. Zwar droht sein Nachbar, der senex Chremes, eine von den beiden Alten arrangierte Hochzeit zwischen Pamphilus und Chremes’ Tochter Philumena angesichts der Beziehung zwischen Pamphilus und Glycerium platzen zu lassen, aber auch hier gibt es keinen offensichtlichen Ungehorsam des Jünglings. Simo rechnet nämlich mit folgender Antwort seines Sohnes, wenn er ihm jetzt Vorwürfe macht (151 – 153): tute ipse his rebu’ finem praescripsisti, pater: prope adest quom alieno more uiuendumst mihi: sine nunc meo me uiuere interea modo.69 Sein Sohn scheint jederzeit bereit zu sein, seine Jugendliebschaften abzustellen, wenn der Vater es wünscht. Es ist eine eigentlich irrationale Befürchtung des Vaters, sein Sohn könne ihm nicht willfahren. Er konstruiert eine Komödienintrige seines Sohnes (bene dissimulatum amorem et celatum) mehr, als dass er sie entdeckt. Und weil sein Sohn intrigenunwillig ist – intrigiert der Vater! Er fingiert eine anstehende Hochzeit zwischen Pamphilus und Philumena, um herauszubekommen, ob sein Sohn ihm diese hintertreiben will. Die Hochzeit, die später nach dem Willen des Simo in Wirklichkeit stattfinden soll, wird jetzt nur fingiert, damit der Sklave Davos, von dem Simo zu Recht annimmt, er werde seinem Sohn beistehen, jetzt seine Listen da ausagieren könne, wo sie keinen Schaden anrichten. Mit anderen Worten: Simo erzwingt die Flegeljahre seines Sohnes, es ist das Lager der senes (Simo und sein Freigelassener Sosia), das das Lager der adulescentes (Pamphilus, Davos) mit einer List zu einer Gegenlist herausfordert (157 – 163):70 et nunc id operam do, ut per falsas nuptias uera obiurgandi causa sit, si deneget; simul sceleratu’ Davo’ siquid consili habet, ut consumat nunc quom nil obsint doli; quem ego credo manibu’ pedibu’que obnixe omnia facturum, magis id adeo mihi ut incommodet quam ut obsequatur gnato. 69
Man kann sich darüber streiten, ob Simo hier seinen Sohn zitiert (Eyben [1993] S. 25, der aber den Kontext ignoriert) –– oder, wie hier angenommen, die Antwort nur imaginiert. Es bleibt aber bei dem Résumé des Sosia (154): qui igitur relictus est obiurgandi locus? Zur Suche des Simo nach einer Gelegenheit, seinen Sohn zu tadeln vgl. Rissom (1971) S. 157f. Zu Simo auch Barbara Sherberg, Milde Väter in den Komödien des Terenz. Dichten im Zeichen des Philhellenismus?, in: Vogt-Spira/ Rommel (1999), S. 135 – 148, 144. 70 Ich teile zwar durchaus einige der Beobachtungen von Kruschwitz (2004) zum Verhalten des Vaters (S. 28 mit Anm. 18, 45 – 47), ich glaube aber, dass er zu kurz greift, wenn er Simo für „eine der am negativsten gezeichneten Vaterfiguren“ (S. 47) des Terenz hält.
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Doch das Lager der Jungen schlägt sich eher schlecht als recht: Tatsächlich hat Pamphilus nur einen, wenn auch entscheidenden Fehltritt getan: Er hat Glycerium geschwängert und ist in der Tat entschlossen, sie nicht zu verlassen. Doch erlebt er hier einen starken Loyalitätskonflikt, den er, als die ganze Sache auffliegt, seinem Vater zur Entscheidung überlässt (896f., Zitat s.o.). Auch der Sklave Davos hat zwar ein gewisses listiges Potential; aber es ist stärker von der Furcht vor dem pater familias in Schach gehalten, als Simo angenommen hatte, wie aus Davos’ Selbstgespräch hervorgeht (206 – 209): Enimuero, Dave, nil locist segnitiae neque socordiae, quantum intellexi modo senis sententiam de nuptiis: quae si non astu prouidentur, me aut erum pessum dabunt. nec quid agam certumst, Pamphilumne adiutem an auscultem seni. Es sind tatsächlich die Listen des Davos, die schließlich in die Katastrophe zu führen drohen: Um die Geburt des unehelichen Kindes geheim zu halten, spiegelt Davos dem Simo, der davon Wind bekommen hat, vor, es handele sich nur um eine vorgetäuschte Schwangerschaft, um die Hochzeit zu hintertreiben. Genau diese Täuschung aber nimmt Simo zum Anlass, die Hochzeit Wirklichkeit werden zu lassen, um Pamphilus für seine List zu bestrafen. Hätte Davos die Ereignisse an dieser Stelle laufen lassen, hätte bereits das bloße Gerücht von Glyceriums Schwangerschaft die gesamte Hochzeit – die geschwindelte wie auch ihre spätere reale Verwirklichung – zum Platzen gebracht. Davos muss sich deshalb auch harte Kritik der iuuenes (es handelt sich um eine Doppelintrige, deren zweiter Akteur hier nichts zur Sache tut) gefallen lassen.71 Am Ende setzt sich die Wahrheit auf der ganzen Linie durch: Pamphilus unterwirft sich seinem Vater, der in die Heirat mit Glycerium einwilligt. Sicher tut er das umso lieber, als sich ihr Status in den einer wohlhabenden Bürgerin verändert hat; lassen wir aber diesen komödientypischen Umschlag beiseite, so ist es doch so, dass allein schon die Wahrheit die ungewünschte Heirat verhindert hätte, weil Chremes zu keinem Zeitpunkt bereit gewesen wäre, seine Tochter dem Pamphilus zu geben, wenn dieser Vater eines unehelichen Kindes ist. Die Andria erzählt die Geschichte eines Vaters, der so streng ist, dass er die Phase jugendlicher List bei seinem Sohn zu gefährden droht. Pamphilus ist täuschungsunwillig. Der Vater reagiert darauf paradox: Er will seinen Sohn dazu zwingen, ihn zu hintergehen, um die Adoleszenzphase, die eine gewisse Lizenz jenseits der väterlichen Autorität voraussetzt, innerhalb der väterlichen Autorität gleichsam kontrolliert zur Entladung zu bringen. Pamphilus selbst nutzt die Lizenzen seiner Jugend eigentlich nur in einem Punkt und dieser entzieht sich der väterlichen Kontrolle: Er hat mit Glycerium durch die Schwangerschaft, zu der er steht, eine feste Beziehung 71
607ff. (Pamphilus), 625ff. (Charinus).
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geschaffen. Das alles aber löst sich durch die Anagnorisis, die Glycerium respektabel macht, in Wohlgefallen auf. Pamphilus’ Einstellung zur väterlichen Gewalt hingegen hat sich vom ersten Akt zum letzten hin nicht geändert; er spricht – ein Mal zitiert von seinem Vater, eine anderes Mal mit seinen eigenen Worten – immer dem Vater die Kontrolle über Anfang und Ende seiner wilden Jahre zu. Damit beschreibt die Andria indirekt eine Ökonomie jugendlicher List: Sie setzt einen strengen Vater voraus, der hintergangen werden muss; sie zeigt aber zugleich, dass zu große Strenge des Vaters den Sohn in seiner Entwicklung behindert. Simo möchte, dass sein Sohn ihn hintergeht, um ihn maßregeln zu können; er will die List der Jungen für die Alten instrumentalisieren. Fast ist Pamphilus um seine Flegeljahre betrogen; er hat kaum begonnen, Liebschaften zu erleben, da ist es auch schon damit zu Ende. Wäre nicht die Schwangerschaft der Glycerium, hätte Pamphilus seine Autonomie verfehlt. Pamphilus selbst erkennt am Rande der Katastrophe stehend seinen Mangel an strategemischer Kompetenz, die er eben nicht an den Sklaven hätte delegieren dürfen (607 – 609): (…) atque hoc confiteor iure mi obtigisse quandoquidem tam iners tam nulli consili sum. seruon fortunas meas me commisisse futtili! Terenz liest sich hier wie ein komisches Gegenstück zur Geschichte des Torquatus: ein Jüngling, dessen Adoleszenz sich ganz unter der Kontrolle der patria potestas abspielt und diese nur in einem einzigen Punkt unterläuft. Es ist klar, dass die Römer wenig Schwierigkeiten hatten, diese griechische Komödie romanisierend zu rezipieren. Der Heautontimorumenos und die Adelphoe setzen diese Logik voraus und bestätigen sie unter einem anderen Aspekt. Während die Andria einen starken Vater hat, der aber hohe Akzeptanz bei seinem Sohn genießt und so eine Entfaltung des Sohnes noch knapp ermöglicht, arbeiten diese Komödien mit zwei Extremen: einem völlig nachsichtigen und einem ganz strengen Vater. Bisweilen wird gesagt, dass Terenz in diesen Stücken eher auf Seiten des nachsichtigen Vaters stehe, dennoch ist zu betonen, dass in beiden Fällen die strengen Väter im letzten Moment ihren Willen bekommen und keineswegs völlig düpiert dastehen.72 Das gilt etwas weniger für 72
Differenziert sichtet Kruschwitz (2004) S. 159 – 164 die verschiedenen Interpretationen zum überraschenden Schluss der Adelphoe; ebenso Lefèvre (2002) S. 246f. Besonders Joachim Klowski, Terenz’ Adelphen und die modernen Erziehungsstile, in: Gymnasium 107 (2000), S. 109 – 127, 120 – 123 (vgl. zustimmend Kruschwitz [2004] S. 152 Anm. 44) hat klar erkannt, dass Micios Erziehungsmethode starker Kritik nicht zuletzt durch seinen „eigenen“ Adoptivsohn unterliegt (707): quid hoc est negoti? hoc est patrem esse aut hoc est filium esse? Die Rollen von Vater und Sohn werden, auch wenn das Verhalten Micios durchaus die Liebe des Sohnes hervorruft, von Micio verwischt. Es ist von dorther auch
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Chremes, der zwar am Schluss seinen Sohn in eine bürgerliche Ehe zwingt, aber mit seiner gesamten Weltanschauung Schiffbruch erleidet, während Demea zwar in der Sache nachgibt, aber die Berechtigung seiner Strenge deutlich machen kann. In einem Punkt aber gleichen sich der strenge und der nachsichtige Vater: Sie möchten die List aus dem Verhältnis zu ihren Söhnen ausschließen. Der strenge Vater möchte, dass sein Sohn ihm gehorcht und am liebsten keine Flegeljahre durchmacht; der nachsichtige Vater Micio will, dass sein Sohn ihm nichts verborgen hält, weil der keine Angst vor ihm haben muss (Ad. 52 – 59): (…) postremo alii clanculum patres quae faciunt, quae fert adulescentia ea ne me celet consuefeci filium. nam qui mentiri aut fallere institerit patrem aut audebit, tanto magis audebit ceteros. pudore et liberalitate liberos retinere satius esse credo quam metu. Jedoch sind beide Konzepte zum Scheitern verurteilt. Der Dualismus strenger Vater – nachsichtiger Vater ist in den Adelphoe klarer markiert als im Heautontimorumenos, deshalb gehen wir im Folgenden zunächst von diesem spätesten Stück des Terenz aus. Micios (adoptierter) Sohn Aeschinus hat in der Tat nichts von seinem Vater zu befürchten und alles von ihm zu erwarten. Die Großzügigkeit des Micio findet im Verlauf des Stückes zu einer derart grotesken Grenzenlosigkeit, dass sie sogar die Erwartungen des Aeschinus übertreffen. Hatte der treue Pamphilus in der Andria seinem strengen Vater in allem gehorcht mit Ausnahme der Beziehung zu Glycerium, so hat auch Aeschinus nur ein Geheimnis vor seinem Vater: Er hat durch die Vergewaltigung73 einer Frau, die er im Anschluss zu seiner Lebensgefährtin wählt, ein Kind in die Welt gesetzt und macht sich wegen dieses Fehltritts nun doch Sorgen, ob dem Vater die Mesalliance mit der mittellosen Nachbarstochter gefallen werde. Doch sobald die Verwicklungen der Komödie – die eigentlich mit Aeschinus gar nichts zu tun haben, sondern den jüngeren Bruder Ctesipho betreffen – diese Beziehung zu stören bezeichnend, dass Micio selbst am Schluss von seinem strengen Bruder in eine Ehe gezwungen wird – er endet wie die adulescentes im Hafen der Ehe! 73 (Ad. 467 uitiauit). Vincent J. Rosivach, When A Young Man Falls in Love. The Sexual Exploitation of Women in New Comedy, London – New York 1998, S. 14 macht deutlich, dass die Fälle, in denen in der Nea eine Vergewaltigung vorliegt, immer klar ausgemacht werden können. Schon durch die Wortwahl wird klar, dass in den Adelphoe eine Vergewaltigung stattgefunden hat und in der Andria nicht; uitiare, ein zentraler Terminus für die Vergewaltigung (ebenda S. 13), wird in der Andria für die voreheliche Verführung nicht verwendet (findet sich aber immerhin in deren Perioche).
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drohen, beichtet Aeschinus seinem (Adoptiv-)Vater und erhält nicht nur vollständige Absolution, sondern auch noch Unterstützung. Aeschinus lässt dieses Verhalten ratlos zurück (v. 707, vgl. dazu Anm. 72). Dagegen ist sein Bruder Ctesipho von dem strengen leiblichen Vater der beiden, Demea, in dessen potestas er ja im Gegensatz zu Aeschinus verblieben ist, völlig eingeschüchtert. Es ist der ältere Bruder, der schließlich anstelle des Ctesipho handeln muss und für diesen die Hetäre Bacchis aus den Händen des Kupplers Sannio raubt. Das Vorgehen des Aeschinus ist dabei eher von brachialer Gewalt als von List geprägt (uis vs. dolus!), während Ctesipho zwar zur Heimlichtuerei und Unaufrichtigkeit verdammt ist, aber letztlich auch keine wirkliche Intrige auf den Weg bringt.74 Das Verhältnis zur List ist gerade bei diesen beiden Brüdern idealtypisch dargestellt: Für Aeschinus ist der Sklave in erster Linie ein Handlanger, der den Kuppler Sannio verprügeln muss, als ihm Aeschinus am helllichten Tage die Hetäre Bacchis raubt, um sie seinem Bruder zu verschaffen. Aeschinus entwickelt sein jugendliches Ungestüm frei und bedarf keiner Täuschung – oder, negativ gewendet: findet keine Möglichkeit, listig zu handeln.75 Die List der Sklaven steht fast ausschließlich im Dienste der Sache des Ctesipho. Dieser ist aber dermaßen eingeschüchtert, dass er selbst nicht zur List, geschweige denn zur offenen Gewalt wie sein Bruder fähig ist. Dennoch wird deutlich, dass die List der Sache des kontrollierten Sohnes gehört und nicht der des Freien. Zur Entwicklung des Jugendlichen gehört nach terenzischer Logik die List: Die List ist das sichtbare Zeichen einer gesetzten Grenze, die durch die List umspielt, aber eben auch anerkannt wird. Micio setzt diese Grenze nicht und es ist nicht zuletzt Aeschinus, der hier ein Defizit erkennt. Er sucht sich ein Objekt, gegen das er angehen kann, und findet es in einem Stellvertreterkrieg, den er für seinen Bruder führt. Von hier aus motiviert sich das überraschende Eingreifen des Demea, der erkennt, dass weniger sein verbliebener 74
Karl Büchner, Terenz: Adelphen, in: Karl Büchner, Werkanalysen (Studien zur Römischen Literatur VIII), Wiesbaden 1970, S. 1 – 20, 1: „Die Adelphen haben keine Erkennung und keinen Betrug, in denen so oft die komische Handlung gipfelt (…). Gewiss spielen auch in den Adelphen Verheimlichungen und Täuschungen am Rande eine Rolle (…), das Hauptthema aber hängt an dem Charakter zweier schon bejahrter Brüder (…)“. 75 Es kommt hier eher zu einer merkwürdigen Vertauschung der Rollen. Für einen kurzen Moment wird Aeschinus von seinem Adoptivvater getäuscht, als er ihm sein Verhältnis beichten will (Szene IV 5). Micio weiß inzwischen Bescheid über das Verhältnis seines Sohnes und erfindet eine Geschichte, nach der die Pamphila einen anderen heiraten werde – damit der Sohn wenigstens einmal für einen Moment nervös wird. Daraufhin vertraut sich der verzweifelte Aeschinus seinem Vater an. Wie der Simo aus der Andria beantwortet Micio das Verheimlichen einer Liebesaffäre des Sohnes mit einer List – im Falle des Simo hat diese den Effekt, die Strafgewalt des Vaters zu ermöglichen, im Falle des Micio soll sie seine Großzügigkeit einleiten. In beiden Fällen aber sind die Söhne nicht zur List fähig, stattdessen tun es die Väter: In beiden Fällen ist der Umgang mit der List Zeichen einer verfehlten Erziehung (zu streng bzw. zu nachsichtig).
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als vielmehr sein weggegebener Sohn das Problem darstellt. Im letzen Akt ermuntert er Micio zu immer maßloseren Akten der Großzügigkeit und zwingt ihn sogar dazu, seinen eigenen way of life aufzugeben:76 Er fordert ihn auf, die Mutter seiner zukünftigen Schwiegertochter doch auch gleich zu heiraten (933: hanc te aequomst ducere), die Mauer zum Nachbarhause niederzureißen (916: dirue77), um mit der angeheirateten Familie einen gemeinsamen Haushalt zu führen (926: unam facere nos hanc familiam), den Patron dieser Familie mit einem Landgut zu beehren (949ff.), seinen Sklaven Syrus (960) zusammen mit dessen Gattin Phrygia (976) freizulassen und ihm noch darüber hinaus gleich einen ordentlichen Kredit als Startkapital zu gewähren. Micio ist durchaus nicht begeistert; aber Demea erreicht die Zustimmung seines Bruders immer wieder mit dem Verweis auf dessen Sohn Aeschinus. Aeschinus verfolgt mit wachsender Begeisterung die großzügigen Vorschläge seines bisher so strengen leiblichen Vaters Demea und befürwortet sie. In gewissem Sinne willfährt Micio also gar nicht der überraschenden Großzügigkeit seines Bruders, sondern den Wünschen seines Sohnes.78 Genau hier liegt das Kalkül des Demea: Er zeigt ihm, dass die grenzenlose Freiheit, die Micio seinem Sohn gewährt, die Identität des Vaters zersetzt, wenn sie konsequent durchgesetzt wird. Als Demea, der durch seine demonstrative comitas im Ansehen der jungen Männer gestiegen ist, daraufhin anbietet, auch in Zukunft wieder als praeceptor der Söhne aufzutreten, willigt ausgerechnet Aeschinus, der eine solche Erziehung nie genossen hat, enthusiastisch ein (995 – 997): tibi pater, permittimus: plus scis quid opu’ factost. sed de fratre quid fiet? DE: sino: habeat: in istac finem faciat. Aeschinus bekennt sich in dieser Szene zu seinem leiblichen Vater und nutzt dieses Bekenntnis prompt, um etwas für seinen jüngeren Bruder zu erreichen. Micio dagegen wird wieder das, was er vor der Adoption war: ein auunculus. Die Erkenntnis, die Aeschinus zu einem verantwortungsvollen Mann macht, ist die Akzeptanz einer Grenze. Auch Demea hat freilich mehr erkannt, als dass man die Zuneigung der Söhne durch Großzügigkeiten erkaufen kann. Er gestattet, auf Zureden seines ältesten Sohnes, die Beziehung des Jüngeren zu der Hetäre, beendet aber gleichzeitig (997: finem faciat) diese Phase. Ähnlich wie in der Andria ist es Aufgabe des strengen Va76
Ter. Ad. 899 – 997, i.e. die Szenen 7 – 9 des letzten Aktes. Siehe besonders 944 – 946 (Micio): etsi hoc mihi prauom ineptum absurdum atque alienum a uita mea/ uidetur, si uos tanto opere istuc uolti’, fiat. AE: bene facis/ merito te amo. 77 Die Aufforderung geht an Aeschnius, wird aber im Folgenden gegenüber dem Micio gerechtfertigt. Sie geht ja auch auf dessen Kosten! 78 937: age, da ueniam filio (Demea zu Micio).
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ters, eine Grenze zu setzen, die dem Jüngling ein listiges Unterlaufen und damit das Ausagieren seiner Adoleszenz ermöglicht, und diese Phase zu einem Ende zu führen. Das erklärt auch die Rolle des Vaters im Eunuchus, dessen Auftreten überraschend kurz und für manche unmotiviert erscheint.79 Der Eunuchus bietet genau die Situation, die sich die „plautinischen Söhne“ immer herbeigewünscht haben: Der Vater ist fern und die jungen Männer sind auf sich gestellt. Und tatsächlich entfalten sich vor diesem Hintergrund zwei zentrale Motive dieser Adoleszenz in einer für terenzische Verhältnisse besonders expliziten Weise: List und Vergewaltigung.80 Das Motiv der Vergewaltigung ist für heutige Rezipienten im Rahmen einer Komödie nur schwer verdaulich. Aber bereits beim Raub der Sabinerinnen wird deutlich, dass es etwas mit der Adoleszenz der Römer81 zu tun hat. Sowohl bei Livius als auch bei Terenz sind die Männer in ihrer Entwicklung unvollständig und gewinnen durch List die Körper der Frauen. Rosivach, Phillipides und, mit Abstrichen, Kruschwitz haben auf die Bedeutung des Vergewaltigungsmotivs für die Mannwerdung des Jünglings in der Komödie hingewiesen.82 Ge79
Kruschwitz (2004) S. 93: „sein Erscheinen auf der Bühne ist für die gesamte Handlung im Prinzip reichlich entbehrlich“. Kruschwitz selbst nimmt aber ebenfalls diese Beobachtung zum Anlass, um weitergehende Fragen zu stellen. Er beobachtet ein besonderes Interesse des Terenz für das Verhältnis Klient – Patron, das ja für die Rolle der Thais in mehrfacher Hinsicht eine Rolle spielt. Sie tritt als Patronin auf, erhält aber dann im senex selbst einen Patron, der ihr soziale Sicherheit garantiert (Kruschwitz [2004] S. 92 – 95). 80 Der Eunuchus ist die einzige überlieferte Komödie, in der die Vergewaltigung während des Bühnengeschehens stattfindet und nicht schon zurückliegt; sie wird außergewöhnlich breit geschildert: Karen F. Pierce, The Portrayal of Rape in New Comedy, in: Susan Decay/ Karen F. Pierce (Hgg.), Rape in Antiquity. Sexual Violence in the Greek and Roman Worlds, London 1997, S. 163 – 184, 175. 81 Und, wenn wir an die griechischen Vorlagen der Komödie denken, wohl auch der Griechen. 82 Rosivach (1998); Katerina Philippides, Terence’s Eunuchus: Elements of the Marriage Ritual in the Rape Scene, in: Mnemosyne 48 (1995), S. 272 – 284; Kruschwitz (2004) S. 82 Anm. 39; hier noch mit Unverständnis, dagegen besser S. 201; Pierce (1997); Richard P. Saller, The Social Dynamics of Consent to Marriage and Sexual Realations: The Evidence of Roman Comedy, in: Angeliki E. Laiou (Hg.), Consent and Coercion to Sex and Marriage in Ancient and Medieval Societies, Washington 1993, S. 83 – 104; Louise P. Smith, Audience Response to Rape: Chaerea in Terence Eunuchus, in: Helios 21 (1994), S. 21 – 38; Sharon L. James, From Boys to Men: Rape and Developing Masculinity in Terence’s Hecyra and Eunuchus, in: Helios 25 (1998), S. 31 – 48; Susan Lape, Democratic Ideology and the Poetics of Rape in Menandrian Comedy, in: Classical Antiquity 20 (2001), S. 79 – 119; Susan Lape, Reproducing Athens: Menander's Comedy, Democratic Culture, and the Hellenistic City, Princeton 2004; Georg Doblhofer, Vergewaltigung in der Antike, Stuttgart – Leipzig 1994. Es ist vielleicht ganz generell daran zu erinnern, dass sich Philippides auf Donat beruft, der selbst die Vergewaltigungsszene des Eunuchus mit dem Hochzeitsritual in Verbindung gebracht hat. Freilich bezieht sich Philippides auf verschiedene Elemente aus disparaten griechischen (!) Quellen (S. 277: „Greek ritual“). Aber genau dies ist das Potential literarischer Reinszenierung: nicht exakte Wiederholung eines konkreten Rituals, sondern Zitat unterschiedlicher Elemente, vgl. dazu Rüpke (2004).
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rade die Gestalt des Chaerea ist vor diesem Hintergrund bezeichnend. Chaerea verschafft sich Zutritt zum Hause der Thais, weil er sich deren Adoptivschwester nähern will. Da sein Bruder der Thais einen alten Eunuchen zum Geschenk machen möchte, bietet sich hier eine Gelegenheit: Chaerea schlüpft in die Kleider des Eunuchen und wird so in die unmittelbare Nähe des Mädchens gelassen, eine Nähe, die er dann für die Vergewaltigung missbraucht.83 Diese Verkleidungslist des Chaerea ist sehr bezeichnend. Adoleszenzrituale werden immer wieder durch die Inszenierung von Ambivalenz begleitet. Solche Inszenierungsformen sind in der Anthropologie besonders bei Übergangsritualen wie z.B. einer Hochzeit untersucht worden. Don Handelman etwa beschäftigt sich u.a. mit einem pakistanischen Hochzeitsritual, bei der eine groteske Narrenfigur auftritt und so den Übergang der Braut vom Mädchen zur erwachsenen Frau semantisiert. Das Besondere der Narrenfigur ist ihre Verbindung verschiedener Elemente: Häufig trägt ein Mann Frauenkleider; durch das gender crossing ist er weder männlich noch weiblich; durch bestimmte Attribute, die auf verschiedene Lebensalter hinweisen, kann die Gestalt alt und jung zugleich sein.84 Oft erscheint ihr Auftreten lächerlich und macht sie zur Zielscheibe des Spottes, der nicht selten sexuell konnotiert ist und dem Publikum gewisse, im Alltag verwehrte Lizenzen erteilt, Sexuelles zu verhandeln. Wir können hier erkennen, dass alle diese Eigenschaften auf Chaerea zutreffen: Er nimmt sich die Identität eines greisen Eunuchen, ein Aspekt, der zwar den Frauen verborgen bleibt, weil Chaerea als ein junger Eunuch präsentiert wird; aber für den Zuschauer bleibt die Information, dass der Jüngling die Identität eines Alten arrogiert, erhalten. Chaerea ist aggressiv und schwach, gefährlich und lächerlich zugleich – er wird ja, nachdem man seiner habhaft geworden ist, im Hause der Thais der Lächerlichkeit preisgegeben. Diese groteske Ambivalenz einer aggressiven und gleichzeitig desaströsen Narrenfigur kennzeichnet den trickster und ist von Miralles und Pòrtulas für Archilochos nachgewiesen worden.85 Die Römer haben diese Konstellation durchaus verstanden. Horaz inszeniert in sei83 Philippides (1995) S. 280 und 283 betont mit Vidal-Naquet (1989) und Angus M. Bowie, Aristophanes: Myth, Ritual and Comedy, Cambridge 1993, S. 52 die Bedeutung der sexuell ambivalenten Verkleidung des Chaerea. 84 „The ,old man‘ is (a) a young female, who (b) is sexually agressive, but of (c) questionable virility.“ Don Handelman, The Ritual-Clown: Attributes and Affinities, in: Anthropos 76 (1981), S. 321 – 370, 326. 85 Carles Miralles/ Jaume Pòrtulas, Archilochus and the Jambic Poetry, Rom 1983. Karl Kerény, The Trickster in Relation to Greek Mythology, in: Paul Radin, The Trickster. A Study in American Indian Mythology. With commentaries by K. Kerény and C. G. Jung, New York 1956, S. 171 – 191; Klaus-Peter Koepping, Trickster, Schelm, Pikaro. Sozialanthropologische Ansätze. Zur Problematik der Zweideutigkeit von Symbolsystemen, in: Ernst Wilhelm Müller/ René König/ Klaus-Peter Koepping/ Paul Drechsel (Hgg.), Ethnologie als Sozialwissenschaft, Opladen 1984, S. 195 – 215.
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nen Epoden konsequent eine solche ambivalente Narretei, mit sexuellen Desastern, aggressiven Invektiven und der Selbstinszenierung als mollis und iners. Horaz schafft somit in den Epoden einen Beitrag zum Thema der Adoleszenz, das dem der Liebeselegiker entspricht. Ich habe mich damit an anderer Stelle ausführlich auseinandergesetzt, allerdings eben noch nicht unter dem Aspekt der Mannwerdung.86 Es sollte aber in einer Monographie zur List bei den Römern nicht unerwähnt bleiben, dass der trickster für die Römer zwar keine kulturell leitende Gestalt ist – während er in der griechischen Literatur des Öfteren vorkommt, dass aber auch hier eine verstehende Adaption vorliegt. Nicht nur Phaedria ist durch sein verliebtes Sprechen das Vorbild des elegischen Ichs (s.u.), sondern auch Chaerea, der seine Liebesgeschichte erfährt, als er seinen militärischen Posten unerlaubt verlässt.87 Er zieht die militia amoris dem Kriegsdienst vor. Es ist daher auch nicht ausreichend, die Gestalt des Chaerea und sein Tun einfach aus der griechischen Vorlage zu erklären, obwohl es zunächst einmal dort seinen kulturellen Sitz im Leben hat. Vidal-Naquet hat Adoleszenzrituale für die griechische Gesellschaft beschrieben und Philippides die Relevanz dieses Konzepts gerade für die Nea deutlich gemacht.88 Die List ist natürlich das Signum auch des griechischen Epheben.89 Wenn wir aber verstehen wollen, in welcher Weise das Konzept der juvenilen List in die augusteische Literatur geraten ist (Livius’ frühe Könige, Scipio, die Liebeselegie usw.), kommt Terenz eine besondere Stellung als Transformator des griechischen Materials zu, die in seiner Generation (auf der Schwelle von Archaik und „Klassik“90), seiner Sprache (einer modernen Kunstsprache91) und der konsequenten Durchführung des Vater-Sohn-Schemas mit seiner Relevanz für römische Kontexte liegt. 86
Wittchow (2005c). Smith (1994) S. 21: „Chaerea is, after all, a soldier absent without leave“. 88 Vidal-Naquet (1989); Philippides (1995) S. 282. Vgl. etwa Vidal-Naquet S. 116f.: „Es ist übrigens ausreichend belegte Tatsache, dass die Verkleidung als Frau (…) für die griechischen Gesellschaften der archaischen Zeit – wie übrigens auch für andere Gesellschaften – ein Mittel ist, das den Eintritt in das Mannesalter und die Heiratsfähigkeit veranschaulicht (…). Man kann das jedoch so auffassen, dass das Wichtigste daran nicht die Art der Verkleidung selbst ist, sondern die Antithese, die sie zum Ausdruck bringt.“ (Hervorhebung F.W.) 89 Vidal-Naquet (1989) S. 136. 90 Néraudau (1979) S. 92. 91 George Pelham Shipp (Hg.), P. Terenti Afri Andria. With Introduction and Commentary, Oxford 1960 (ND Salem 1984) S. 54f. Differenziert: Andreas Bagordo, Beobachtungen zur Sprache des Terenz. Mit besonderer Berücksichtigung der umgangssprachlichen Elemente, Göttingen 2001, S. 17 – 20. Bagordo leugnet nicht die Sprachreform der Autorengenerationen von Terenz bis Cicero, stellt aber in Frage, ob Terenz hier eine besonders singuläre Erscheinung war. Das ist m. E. wegen der Rezeption, auf die es mir hier ankommt, müßig, denn als klassisch gewordener Text kommt dem Terenz als Sprachmodell doch besondere Bedeutung zu. 87
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An Chaerea aktualisiert sich das terenzische Projekt, Adoleszenz als eine Phase der List, der Gewalt und des Desasters zu markieren und mit Hilfe des Vaters zu überwinden, am dramatischsten. Denn es ist der Vater, der hier wie ein deus ex machina auftritt. Gerade weil die Jugendlichen Phaedria und Chaerea hier in einer Situation agieren, die sich die plautinischen iuuenes herbeisehnen, ist der Schluss der Komödie so auffällig: Der Vater rettet seinen Sohn aus einer demütigenden Situation, er ist ein ordnungsstiftender Faktor und kombiniert in seinem Verhalten Strenge und Güte in ausgewogenerer Weise als jeder andere terenzische Vater. Ebenso bedeutsam ist der Schluss für die Rolle des Phaedria: Er ist der ältere der beiden Brüder; er leidet zwar an seiner Liebe zu Thais – und ist durch seine Sprache der Prototyp auch des elegischen Sprechers –, kann aber fast autonom handeln (der Sklave Parmeno handelt eigentlich nur im Sinne des noch hilflosen Chaerea) und bekommt sogar Zulauf durch den Parasiten seines Rivalen Thraseo. Gemeinsam halten sie diesen dann zum Narren und können so die Finanzierung des Verhältnisses zu Thais sicherstellen (weil der miles gloriosus Thraseo als rechter Einfallspinsel weiterhin Geschenke machen wird, ohne die Gunst der Thais zu erlangen). Phaedria setzt so aus eigener Kraft seine Liebesbeziehung erfolgreich durch und kann das Leid, dass ihm durch den Rivalen beschert wird, überwinden. Der Eunuchus erzählt also unter anderem die Geschichte eines guten Vaters. Es ist auffällig, dass dieser gute Vater gleichzeitig ein ferner wie auch ein entschlossener Vater ist – anders als Micio, der unentschlossen, aber präsent ist; anders aber auch als die übermächtigen strengen Väter wie Demea, Chremes und Simo. Sind diese Väter allesamt ambivalent zu beurteilen, weil sie zwar nicht gleichgültig, aber doch oft zu streng sind, spielt Terenz im Phormio die Geschichte von zwei schlechten Vätern durch. Er wurde im selben Jahr 161 wie der Eunuchus uraufgeführt92 und so liegt es nahe zu vermuten, dass Terenz ganz bewusst die zwei Extreme nebeneinander gestellt hat. Die Väter im Phormio, namentlich Chremes, sind deshalb schlechte Väter, weil sie, anders als die typischen strengen Väter, nicht andere Pläne für das Leben ihrer Kinder haben als diese selbst, sondern weil sie die Kinder als Dispositionsmasse zur Bewältigung ihres eigenen Lebens missbrauchen. Das motiviert das resolute Eingreifen der Mutter, die hier an die Stelle des missratenen senex treten muss, um den Knoten der Ereignisse zu lösen. An sie wird am Schluss appelliert und nicht an den Vater. Die fragwürdige Rolle der senes motiviert aber zuvor noch die Umwertung einer anderen Komödienrolle und gerade hier liegt vermutlich auch eine starke Manipulation des Terenz gegenüber seinem Original: Die Intrige generiert ausgerechnet der
92 Vermutlich bei den ludi Romani. Der Eunuchus wurde bei den ludi Megalenses uraufgeführt. Lefèvre (2002) S. 236f. Kruschwitz (2004) S. 72 und 96.
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Parasit.93 Der Parasit Phormio, nach dem das Stück benannt ist, avanciert hier zu einer tricksterhaften Narrenfigur, die in ihren Möglichkeiten und Begrenzungen gewisse Ähnlichkeiten zum Eulenspiegel aufweist: Ist der Parasit durch seine Mittellosigkeit und seinen ungeklärten sozialen Status in der Regel vom Wohlwollen eines Mächtigen abhängig, so markiert das Außenseitertum des Parasiten im Phormio gerade dessen Unabhängigkeit. Die beiden Brüder, Demipho und Chremes, sind beide aus eigennützigen Gründen verreist: Chremes hat einen kompletten zweiten Haushalt mit Frau und Tochter auf Lemnos, Demipho wurde von einem Gastfreund mit dem Versprechen, es warte viel Gold auf ihn, nach Kilikien gelockt.94 Chremes und Demipho haben den Plan gefasst, Demiphos Sohn Antipho mit der lemnischen Tochter des Chremes zu vermählen,95 um diese zu versorgen. Antipho hat sich aber in ein mittelloses Mädchen namens Phanium verliebt, deren Mutter gerade verstorben ist. Die Lösung dieses Konfliktes wird darin liegen, dass es sich in Wirklichkeit um eben die lemnische Tochter des Chremes handelt; allerdings ändert dies nichts am amoralischen Verhalten der Väter.96 Chremes wiederum verheimlicht seiner attischen Frau das lemnische Verhältnis und plündert sogar deren Güter, um die zweite Ehe zu finanzieren (1013) und einen Teil der dreißig Minen an Phormio auszuzah93
Riemer (1996) S. 162ff. hat gezeigt, dass Plautus’ Titel immer mit Grund von der Vorlage abweichen, weil Plautus einen anderen Akzent setzt, auf den der Titel verweist. Dasselbe gilt laut Riemer für das einzige Stück, in dem Terenz den Titel geändert hat, eben den Phormio im Gegensatz zum Epidikazomenos des Apollodor. Terenz wertet den Parasiten hier auf. Lefèvre (2002) 244f. Eckard Lefèvre, Der Phormio des Terenz und der Epidikazomensos des Apollodor von Karystos, München 1978. Der Grad der Änderungen des Terenz gegenüber der Vorlage sind, wie immer bei Terenz, Gegenstand zahlreicher, schwer zu belegender Spekulationen. Weitgehende Einigkeit herrscht aber doch über den entscheidenden Punkt: die Aufwertung des Parasiten. Konstan (1983) S. 128f. mit Anm. 15; Kruschwitz (2004) S. 97; Erich Segal/ Carroll Moulton, Contortor Legum: The Hero of the Phormio, in: RhM 121 (1978), S. 276 – 288. 94 Phorm. 65 – 70 (Gespräch zwischen den Sklaven Geta und Davos): euenit senibus ambobus simul/ iter illi in Lemnum ut esset, nostro in Ciliciam/ ad hospitem antiquom. is senem per epistulas/ pellexit modo non montis auri pollicens. DA: quoi tanta erat res et supererat? GE: desinas:/ sic est ingenium. DA: oh regem me esse oportuit! Gerade der Umstand, dass nicht näher benannt wird, was hinter dem Geld steckt, wirft die Motivation ganz auf das ingenium, d.h. die Gier des Demipho, die ja auch im Weiteren sein Handeln bestimmt; vgl. etwa Phorm. 394ff.). 95 Der Zeitpunkt ist nicht ganz klar, vgl. Kruschwitz (2004) S. 107 Anm. 46. Konrad Gaiser, Zur Eigenart der römischen Komödie: Plautus und Terenz gegenüber ihren griechischen Vorgängern, in: ANRW I 2, Berlin – New York 1972, S. 1027 – 1113, 1053. 96 Kruschwitz (2004) S. 107 Anm. 46 hält den Umstand, dass Demipho bereit sei, seinen Sohn mit der Tochter seines Bruders zu verheiraten, für einen selbstlosen Zug im Bild des sonst geizigen senex. Das ist völlig absurd, gerade weil eine Szene, in der Demipho dem Bruder Chremes dieses „selbstlose“ Angebot macht, fehlt: Er wird eben nicht positiv gezeichnet, sondern es bleibt das bloße Faktum, dass die Väter an den Söhnen vorbei agieren.
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len (679 – 681).97 Es ist der Parasit Phormio, der ohne erkennbares Motiv den Söhnen der senes beispringt: Für Antipho ersinnt er eine Rechtsklügelei, mit der er ihm noch in Abwesenheit der senes die Ehe mit Phanium ermöglicht (124ff.). Um Geld für Chremes’ Sohn Phaedria zu beschaffen, der eine Kitharaspielerin aus den Händen eines Kupplers befreien will, willigt Phormio gegenüber Demipho ein, die Eheschließung rückgängig zu machen und Phanium selbst zu heiraten, und verlangt dafür eben die dreißig Minen, an deren Finanzierung sich Chremes beteiligt (IV 3 [643ff.]). Am Ende aber fliegt Chremes’ zweite Ehe auf und es stellt sich heraus, dass Phanium dessen Tochter ist, sodass die Auflösung der Ehe unnötig, ja unerwünscht wird. Phormio wird von den senes bedroht, damit er das Geld zurückzahlt, daraufhin schlägt der Parasit Lärm (986 – 989) und enthüllt Nausistrata, der attischen Gattin des Chremes, das Doppelleben ihres Mannes (990 – 1009). Da dessen lemnische Frau inzwischen verstorben ist, hält sie die Ehe zwar aufrecht, billigt aber Phormios Maßnahmen zugunsten des Phaedria und lädt den Parasiten bei sich zu Tisch, um ihren Mann zu demütigen. Chremes erscheint hier als ein nicht erwachsen gewordener, egoistischer senex. Nausistrata führt ihm dies deutlich vor Augen. Als Chremes erfährt, dass ihm der Parasit die dreißig Minen abgeluchst hat, und aufbrausend werden will, schneidet ihm seine Frau das Wort mit dem Hinweis ab, dass ein Mann, der zwei Ehefrauen hat, einem adulescens wohl kaum eine Freundin versagen kann (1040 – 1042): CH: hem quid ais? NA: adeo hoc indignum tibi uidetur, filius homo adulescens si habet unam amicam, tu uxores duas? nil pudere! quo ore illum obiurgabi’? responde mihi. Demipho wiederum hat das Verhalten seines Bruders Chremes genau mit den Argumenten zu entschuldigen versucht, mit denen in der Komödie sonst sexuelle Übergriffe der adulescentes entschuldigt werden: mit übermäßigem Alkoholeinfluss (1016 – 1018):98 nam neque neglegentia tua neque odio id fecit tuo. uinolentu’ fere abhinc annos quindecim mulierculam eam compressit unde haec natast; neque postilla umquam attigit. Anders aber als die adulescentes hat Chremes das Verhältnis nicht beendet – ob er sie nun noch „angerührt“ hat oder nicht. Tatsächlich muss hier der Sohn den Vater zur Raison bringen, denn Nausistrata nutzt die Situation nicht zur vollständigen Arrogierung der Rolle des pater familias, sondern
97 98
Kruschwitz (2004) S. 108. Rosivach (1998) S. 36 (Nr. 8) und 39.
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überlässt dem Sohn die letzte Entscheidung über das zukünftige Familienleben (1043 – 1045): DE: faciet ut uoles. NA: immo ut meam iam scias sententiam, neque ego ignosco neque promitto quicquam neque respondeo priu’quam gnatum uidero: eius iudicio permitto omnia Es ist klar, dass bei solchen Verhältnissen der Sohn keinen Widerpart im Vater hat. Wie bereits mehrfach gezeigt, ist dieser Widerpart aber notwendig, um dem Sohn Gelegenheit zum Erwachsenwerden zu geben. Dabei hinterlässt das Stück in einem Punkt eine nicht belanglose Leerstelle: Es wird wenig darüber ausgesagt, ob Demipho und Chremes zu streng oder zu nachlässig sind. Dagegen liegt der Akzent auf ihrem unmoralischen Handeln. Horaz hat später einen Zusammenhang zwischen väterlichem Werteverlust und kindlicher mollitia aufgetan (c. 3, 24, 54ff.):99 (…) nescit equo rudis haerere ingenuus puer uenarique timet, ludere doctior seu Graeco iubeas trocho seu malis uetita legibus alea, cum periura patris fides consortem socium fallat et hospites, indignoque pecuniam heredi properet (…). Es schwächt den Sohn ganz generell, wenn der Vater moralisch schwach ist. Genau das inszeniert bereits der Phormio des Terenz: Die adulescentes sind völlig außer Stande, aus Eigenem zu agieren, das gilt hier, anders als bei den Adelphoe, für beide iuuenes. Sie haben keine Listkompetenz und diese wird auch nicht aus ihrer eigenen familia, d.h. durch den Sklaven ergänzt.100 Sie kommt radikal von außen, von einem Außenseiter, der in keiner Beziehung zur Familie steht und erst am Schluss erfolgreich integriert wird. Damit hält die List sichtbaren Einzug in das Haus des Chremes und ermöglicht so den Abschluss der Geschichte. Der Vater wird hier recht eigentlich erst kreiert. Chremes’ späte Adoleszenz wird angehalten, die des Phaedria wird ermöglicht, indem ihm die amica und der listige Parasit gestattet werden. 99
Vgl. Néraudau (1979) S. 369 mit Anm. 83 auf S. 381. „Die Funktion des Sklaven ist in diesem Stück bemerkenswerterweise fast mehr die eines Gehilfen des Parasiten als die des bereitwilligen Helfers der Jungen“. Kruschwitz (2004) S. 116 Anm. 79. Es spricht einiges dafür, dass gerade im terenzischen Phormio gegenüber der griechischen Vorlage die Gestalt des Geta zugunsten des Phormio abgewertet wurde: Lefévre (1978) S. 48; Riemer (1996) S. 178 – 181. 100
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Da die Hecyra unter dem Aspekt der Frauenlist zur Sprache kommen wird, bleibt nur noch eine Komödie des Terenz zu besprechen: Der Heautontimorumenos ist – gerade auch im Bereich der Intrige – die vielleicht interessanteste Komödie des Terenz. Weil sie im Bereich der Intrige auch besonders unübersichtlich ist, muss die Handlung hier etwas ausführlicher wiedergegeben werden: 1. Akt: In der Eingangsszene finden wir den senex Menedemus im Gespräch mit seinem Nachbarn Chremes. Menedemus quält sich selbst mit harter Feldarbeit, um sich dafür zu bestrafen, seinen Sohn (Clinia) aus dem Hause getrieben zu haben, weil er ihm eine Beziehung zu einem ehrbaren, aber mittellosen Mädchen (Antiphila) untersagt hat. Wie sich dann aber herausstellt, findet Chremes den Clinia bei sich selbst zu Hause in Gesellschaft seines eigenen Sohnes Clitipho, bei dem Clinia untergekrochen ist, um seine Affäre heimlich wieder aufzunehmen. 2. Akt: Clitipho unterhält seinerseits eine heimliche Affäre zu einer gierigen Hetäre (Bacchis). Syrus, der Sklave des Chremes, schafft mit Hilfe des drögen Dromo (i.e. des Sklaven des Menedemus) beide Frauen herbei, um eine Intrige ins Werk zu setzen, die die Beziehungen ermöglichen soll: Beide Frauen sollen ins Haus des Chremes geschafft werden, wobei Clinia behaupten soll, die Bacchis sei seine Freundin. So wird es gemacht. Was Syrus mit diesem Plan im Sinne hatte, wird nie klar. 3. Akt: Chremes verrät inzwischen dem Menedemus, dass dessen Sohn zurückgekehrt ist. Er überredet Menedemus, nicht gleich zu seinem Sohn zu laufen und ihm in allem zu willfahren, sondern fordert ihn auf, sich doch noch etwas streng zu gebärden und sich das Geld, dass die Jünglinge doch zweifellos von ihm haben wollen, durch List abluchsen zu lassen. Menedemus fügt sich diesem Plan widerstrebend. Chremes wundert sich freilich ein wenig, dass eine solche Intrige nicht schon begonnen hat – die Jünglinge und ihre Sklaven planen ja nichts dergleichen, wie der Zuschauer weiß –, und führt dies auf die Trägheit des Dromo zurück. Deshalb fordert er den eigenen Sklaven Syrus auf, eine Intrige gegen Menedemus zu unternehmen. Syrus fühlt sich dadurch gerechtfertigt, auch gegen Chremes eine ins Werk zu setzen – was wohl sein eigentlicher Plan war. Dem Chremes erzählt er, dass Antiphila der Bacchis gehöre. Sie sei ein Pfand für 1000 Minen gewesen, die die Hetäre einst Antiphilas Mutter geliehen, wegen deren Tod aber nicht wiedererhalten hätte. Man wolle nun Menedemus dazu bringen, die 1000 Minen zu erstatten, um Antiphila freizukaufen. Chremes wendet mit Recht ein, dass Menedemus dazu keine Veranlassung habe. Syrus behauptet, dass er mit einer ablehnenden Antwort des Menedemus gerade rechne. Was Syrus mit dieser merkwürdigen List plant, bleibt ebenfalls im Dunkeln, jedoch kann er später die zugrunde liegende Lüge (von der Hypothek, die auf Antiphila laste) unverhofft gegen Chremes wenden.
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4. Akt: Sostrata, die Gattin des Chremes, erkennt in Antiphila die eigene Tochter wieder, die sie vor Jahren ausgesetzt hatte. Syrus erkennt, dass Clinia nun kein Interesse mehr haben wird, an der Intrige mitzuwirken, denn er kann seinem Vater nun doch eine gutdotierte Braut präsentieren. Syrus fordert dennoch den Clinia auf, weiterhin zu behaupten, die Bacchis sei seine Geliebte. Clinia stimmt widerstrebend zu, dennoch bleibt nach wie vor unklar, was Syrus bezweckt, denn diese Intrige kommt, wie bereits gesagt, nie zur Ausführung. Bacchis siedelt jetzt mit Clinia zu Menedemus über. Menedemus erkennt aber rasch die tatsächlichen Verhältnisse der beiden iuuenes. Dem Chremes macht Syrus dennoch weis, dass diese Wahrheiten (also dass Antiphila die Auserwählte des Clinia ist und dass Chremes’ eigener Sohn in ein Verhältnis mit der meretrix mala Bacchis verstrickt ist) in Wirklichkeit Lügen seien, damit Chremes immer noch in dem Glauben bleibe, sein Sohn Clitipho habe gar kein Verhältnis. Syrus nutzt auch die Gelegenheit, um dem Chremes das vermeintliche Lösegeld für seine Tochter Antiphila zu entlocken. Dann behauptet er, dass eine Hochzeit zwischen Clinia und Antiphila geplant sei, in die Chremes nur zum Schein einwilligen müsse. Syrus hat jetzt endlich für Clitipho das Geld beschafft, das dieser braucht, um seine Hetäre zufrieden zu stellen. 5. Akt: Chremes hat versucht, den Menedemus von der gegen ihn geplanten Intrige in Kenntnis zu setzen – schließlich war ja sein Plan, dass Menedemus sich wissentlich übers Ohr hauen lassen sollte –, muss aber erkennen, dass das Vorgetäuschte das Wahre ist. Daraufhin ergreift er drastische Maßnahmen: Er akzeptiert die Hochzeit seiner Tochter mit Clinia und täuscht vor, dem jungen Paar sein gesamtes Vermögen zu vererben, damit der unvorsichtige Clitipho nur treuhänderisch versorgt sei und das Geld nicht verschleudern kann. Syrus ist erschüttert über das Scheitern aller seiner Pläne und rät Clitipho nur noch, seine Eltern mit dem Vorwurf unter Druck zu setzen, er fühle sich nicht mehr wie ein eheliches Kind. Das zeitigt nur bescheidene Wirkung: Chremes ist bereit, seinen Sohn wieder in seine Rechte zu setzen, wenn dieser eine bürgerliche Ehe eingeht. Chremes setzt sich durch, Clitipho erreicht aber noch Verzeihung für Syrus. Ähnlich wie bei den Adelphoe überrascht der Schluss des Stückes: Warum gewinnt ausgerechnet der besserwisserische und blamierte senex Chremes die Kontrolle über seinen Sohn Clitipho zurück und kann ihn in eine standesgemäße Ehe zwingen? Elaine Fantham hat sich schon in den 70er Jahren mit dem Ausgang sowohl der Adelphoe als auch des „Selbstquälers“ beschäftigt.101 Dabei hat sie sich besonders der komplexen Gestalt des Chremes ge101
Fantham (1971) S. 994 hat das endliche Obsiegen der strengen Väter nicht als ein Zugeständnis des Terenz an das römische Publikum gewertet, sondern für menandrisch gehalten. Selbst wenn man dies annimmt, bleibt das Faktum der Auswahl der Stücke durch Terenz. Für eine Veränderung des Schlusses der Adelphoe gemäß römischen Wer-
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widmet. Denn Chremes und Menedemus sind kein komplementäres Paar wie Demea und Micio.102 Chremes ist ein strenger Vater, über den sich sein Sohn Clitipho gleich zu Beginn des zweiten Aktes ausgiebig beklagt. Aber er ist zunächst einmal ein neugieriger Mensch, der sich in die Angelegenheiten seines Nachbarn mischt und diesem Ratschläge erteilt, die er selber nicht befolgt.103 Es ist eigentlich Menedemus, der allein den Dualismus verkörpert, den Terenz später in den Adelphoe auf zwei Väter verteilt: Er wirft sich am Anfang des Stückes vor, früher zu streng gewesen zu sein, seinem Sohn seine Liebschaft verboten und ihn damit ins Ausland zum Militärdienst getrieben zu haben. Weil sein Sohn jetzt leidet, bestraft sich der Alte mit harter Hausarbeit. Dieses übertriebene Verhalten fordert den Widerspruch und die ungebetene Hilfe des Chremes heraus. Das Thema des Heautontimorumenos ist somit der inkonsequente Vater und dies zeigt sich wiederum am Thema der List: Auch die Listen sind fast alle völlig inkonsequent inszeniert und zum großen Teil nichtig. Die einzige List, die Syrus zustande bringt, fällt ihm unverhofft zu: eine Lüge, die sich gegen Menedemus richten sollte, dann aber gewinnbringend gegen Chremes verwendet wird; im Endergebnis aber wird dieser Verlust des Geldes von Chremes so hart geahndet, dass Syrus an seinen Intrigen verzweifelt. Die einzige List, die funktioniert, ist die des Chremes im letzen Akt, als er vortäuscht, seinen Sohn zu enterben und ihn so zur Raison bringt. Man darf sich fragen, ob dies überhaupt eine richtige List ist und der Vater im Falle des Ungehorsams nicht sogar Ernst gemacht hätte. Es ist mehr eine Drohung als eine List. Beide senes produzieren eine Diskrepanz zu ihren eigenen Ansprüchen: Menedemus verweigert die Rolle des pater durus, behält aber diesen Rollenwechsel ganz für sich – Chremes muss ihm seine Selbstbezichtigungen erst mühsam aus der Nase ziehen. Der Sohn des Menedemus, Clinia, weiß vom Sinneswandel seines Vaters nichts.104 Aber erst Chremes rät dem Menedeten plädiert Otto Rieth, Die Kunst Menanders in den „Adelphen“ des Terenz. Mit einem Nachwort hg. von K. Gaiser, Hildesheim 1964, S. 118ff. und Gaiser ebenda S. 151. Wilhelm Fielitz, Über Anfang und Ende der menandrischen Adelphen, in: NJPhP 97 (1868), S. 675 – 682, 681 (über die römische Strenge des Demea). Auch Büchner nahm eine Veränderung des Schlusses an (Karl Büchner, Das Theater des Terenz, Heidelberg 1974 und Büchner [1970] S. 5, 18ff.). Herbert Rädle (Hg.), Terenz. Adelphoe. Die Brüder. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1977, S. 124. Für menandrisch halten das Ende außer Fantham noch: Hugh Lloyd-Jones, Terentian Technique in the Adelphi and the Eunuchus, in: CQ 67 (1973), S. 279 – 284; John N. Grant, The Ending of Terence’s Adelphoe and the Menandrian Original, in: AJPh 96 (1975), S. 42 – 60; Godo Lieberg, Das pädagogisch-dramatische Problem der Adelphen des Terenz, in: GB 15 (1988), S. 73 – 84. 102 Fantham (1971) S. 978. 103 Eckard Lefèvre, Terenz’ und Menanders Heautontimorumenos, München 1994, S. 173ff. 104 Das wird auch ganz deutlich in der Szene II 4, in der Clinia sich nach Antiphila verzehrt, mit der er aber nach dem Plan des Syrus noch nicht zusammenkommen darf, weil Menedemus nach seiner Ansicht noch lange den Part des pater durus spielen wird (402): immo ut patrem tuom uidi esse habitum, diu etiam duras dabit.
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mus, nicht zu nachsichtig zu sein, denn es sei für Clinia nicht zuträglich, wenn er seinen vermeintlich lockeren Lebenswandel ohne den strengen Widerpart des Vaters ausleben könne. Chremes formuliert hier genau die Erziehungsmaxime, die wir als zentrale Botschaft aller Stücke des Terenz betrachtet haben. Chremes betont dabei ausdrücklich, dass die Jungen vermittels des Sklaven Syrus105 den Spielraum erhalten müssen, listig zu handeln (470 – 483): (…) falli te sinas techinis per seruolum; etsi subsensi id quoque illos ibi esse, id agere inter se clanculum. Syru’ cum illo uostro consusurrant, conferunt consilia ad adulescentes; et tibi perdere talentum hoc pacto satius est quam illo minam. non nunc pecunia agitur sed illud quo modo minimo periculo id demus adulescentulo. nam si semel tuom animum ille intellexerit, priu’ proditurum te tuam uitam et prius pecuniam omnem quam abs te amittas filium, hui quantam fenestram ad nequitiem patefeceris, tibi autem porro ut non sit suaue uiuere! nam deteriores omnes sumu’ licentia. Damit bietet der „Selbstquäler“ zu Beginn der Verwicklungen genau die Konstellation, die bei den Adelphoe ihr Ergebnis ist: Menedemus erscheint zwar als nachsichtiger Vater, lässt sich aber von Chremes überreden, diese Haltung nicht zu weit zu treiben. Und ähnlich wie in der Andria sind es hier die Alten, die eine List ins Werk setzen bzw. durch ihr Verhalten erzwingen möchten, dass Clinia dem Vater seine Affäre durch eine Intrige abringt. Tatsächlich hat Syrus, der Sklave des Chremes, für die beiden Jünglinge – also den Sohn des Chremes und den Sohn des Menedemus – eine solche bereits vorher in Angriff genommen. Die Voraussetzungen dieser Intrige aber haben von Anfang an nicht gestimmt, eben weil Menedemus die Rolle des pater durus eigentlich abgestreift hat. Die Wiederaufnahme dieser Rolle geschieht künstlich durch das Wirken des Chremes, der Syrus auffordert, den Menedemus zu täuschen. Doch es brechen in der Folge vor der Zeit alle übrigen Voraussetzungen der Intrige in sich zusammen. Bereits zu Beginn des vierten Aktes findet die Anagnorisis statt, sodass die Komödie für Clinia eigentlich abgeschlossen ist. Seine Geliebte Antiphila ist jetzt eine (von Chremes) gut zu dotierende Tochter. Aber ähnlich wie Chremes die Rolle 105
Vgl. die gesperrten Partien im folgenden Zitat. Die Sklaven vermitteln ihre List den Jünglingen, sie sind eben, wie oben ausgesagt, in gewisser Weise die rollenmäßig ausgelagerte Listkompetenz der Jünglinge.
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des Menedemus als pater durus über Gebühr verlängert hat, versucht nun Syrus, die Rolle des ungehorsamen Sohnes für Clinia künstlich in die Länge zu ziehen. Es war von Anfang an für den Zuschauer unklar, worauf die Intrige des Syrus überhaupt abzielte, als er Clinia bat, Bacchis als seine Geliebte auszugeben. Die Listen des Syrus laufen alle ins Leere, weil sie zu spät kommen. Menedemus hat die Rolle des pater durus zu hart gespielt, ist dann ins gegenteilige Extrem verfallen und lässt sich darin von Chremes korrigieren. Clinia hatte sich seinem Vater zunächst unterworfen, der damit argumentiert hatte, er habe selbst in seiner Jugendzeit keine Affären gehabt, sondern sei zum Militär gegangen. Diese Unterwerfung aber hat Clinia aus Eigenem überwunden, als er heimlich nach Athen106 zurückkehrte. Es gibt hier keinen Raum für weitere Listen und deshalb führen alle Listen, die mit Clinia zusammenhängen, zu nichts! Ganz anders sieht die Handlung Chremes – Clitipho – Syrus aus. Entwirft Chremes gegenüber Menedemus das Idealbild einer ausgewogenen Erziehung, die dem Jüngling Grenzen aufzeigt, aber auch Raum lässt für autonomes, listiges Handeln, so entwirft sein Sohn Clitipho in der ersten Szene des zweiten Aktes ein durchaus entsprechendes Bild eines idealen Vaters (213 – 219):107 Quam iniqui sunt patres in omnis adulescentis iudices! qui aequom esse censent nos a pueris ilico nasci senes neque illarum adfinis esse rerum quas fert adulescentia. ex sua lubidine moderantur nunc quae est, non quae olim fuit. mihin si umquam filius erit, ne ille facili me utetur patre; nam et cognoscendi et ignoscendi dabitur peccati locus: non ut meus, qui mihi per alium ostendit suam sententiam. Clitipho formuliert hier ein Problem, das gerade für die römischen Verhältnisse besonders treffend ist: Die Alten erwarten, dass die Kinder ohne Zwischenphase zu Erwachsenen werden.108 Genau dies beschreibt die klassische römische Erziehung, deren Konzepte für die adulescentia unterdeterminiert sind. Clitipho erbittet sich eine besondere Lizenz der Jugend und scheitert damit im Endeffekt. Das Besondere der Gestalt des Chremes ist eigentlich dieses inkonsequente Handeln gegen bessere Einsicht und gleichzeitig gemäß verbreiteter römischer Praxis.109 Dieses inkonsequente und unaufrichtige Handeln findet seinen Widerpart im Sohne Clitipho, der ein getreues Abbild seines Vaters ist: Er ist schwach, unaufrichtig und einer mala meretrix ver106
Bzw. auf die Landgüter bei Athen, vgl. Vincent J. Rosivach, The Stage Settings of the Rudens and the Heauton Timorumenos, in: RSC 26 (1978), S. 388 – 402, 402. Kruschwitz (2004) S. 52. 107 Fantham (1971) S. 979f. 108 Christes (1997a) S. 11. 109 Fantham (1971) S. 979: „In theory he is tolerant, in practice severe.“
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fallen.110 Der überraschende Sieg des Chremes entsteht durch die Einsicht, dass er mit seinem Verhalten als Vater versagt hat. Das Problem ist hier nicht Strenge, sondern Unaufrichtigkeit. Seine Intrige/Drohung gegen den Sohn, ihn zu enterben, hat dabei einen ähnlichen Effekt wie das strenge Exil, das Manlius seinem Sohn auferlegt hatte: Der Sohn wird in einem auf atemberaubend kurze Zeit zusammengedrängten Passageritus vom Vater entfremdet, sodass er an seinem Status als Sohn zu verzweifeln droht, und wieder in den väterlichen Bereich hereingeholt. Die List des Vaters ist hier zwar erfolgreich, aber sie ist auch brutal und gewaltsam. Sie kompensiert die gescheiterten Intrigenversuche des Chremes, mit denen er glaubte, den Syrus für das Lager der senes instrumentalisieren zu können. Chremes hat sich im letzten Moment auf ein konsequentes Handeln besonnen.111 Damit hat Terenz auch im Heautontimorumenos die List als signum der Jugend bestimmt: Sie ist keine Reaktion auf die List der Väter, sondern auf deren Prinzipien; und da Prinzipien der Alten positiv konnotiert sind, ist auch die List der Jungen positiv konnotiert. Die List der Väter dagegen ist tabuisiert und nicht altersgemäß. Die akzeptierte List der Jungen entsteht nicht aus einem Misstrauen gegenüber dem Vater, sondern beschreibt eine Eigenschaft der List, die im Einleitungskapitel benannt wurde: Sie unterläuft ein Prinzip, ohne es preiszugeben. Die Autorität der Väter wird durch die richtige List recht eigentlich anerkannt, denn die „richtige“ List hat nur eine begrenzte zeitliche und effektive Reichweite. Dies entspricht etwa den Husarenstücken der iuuenes in Livius’ Werk, die zwar listig handeln, aber keine römischen Werte preisgeben dürfen. Das Verhalten von Chremes und seinem Sohn aber drohte das Prinzip strenger Vater – listiger Sohn zu unterlaufen, die Wertegemeinschaft zwischen Vater und Sohn aufzugeben und mündete deshalb fast in einen Bruch der familiären Beziehung. Das exemplifiziert Terenz an dem anderen Paar, Menedemus und Clinia: Clinia hat aus aufrechten Gefühlen zu einer mittellosen, aber nach römischen Maßstäben tugendhaften Frau das vermeintliche Verbot des Vaters listig un110
Fantham (1972): „He is a spoiled boy“ (S. 976); „we not only can make our own judgement of Chremes by what he has produced, but we are given a clear picture of the father as seen by his son.” (S. 982). 111 Ich stimme in diesem Punkt daher nicht Fantham (1971) S. 982 zu, die trotz der späten Reaktion des Chremes der Auffassung ist, dass dieser insgesamt scheitert („the overall impression of failure remains“). Es geht eigentlich seit der Anagnorisis zu Beginn des vierten Aktes, die den Konflikt Clinia – Menedemus sogar dann lösen würde, wenn dieser ein durus pater geblieben wäre (ein wichtiger Aspekt, denn es obsiegt letztlich auch hier nicht der pater lenis!), nur noch um Chremes und Clitipho. Und diese turbulente Geschichte der Inkonsequenz mündet in Konsequenz: Der Sieg der Konsequenz des scheinbar blamierten Chremes entspricht voll und ganz der Logik des komischen Umschwungs: Bei Licht betrachtet hat Chremes sämtliche Inkonsequenzen des Stückes verursacht, auch die des Menedemus. Nun sind sie, zuletzt von ihm selbst, beseitigt. Ist das, im Rahmen des terenzischen Wertekanons, ein schlechtes Ende?
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terlaufen, Menedemus hat erkannt, dass er die Rolle des durus pater zu weit getrieben hat. Ihr Konflikt war abgeschlossen, bevor das Stück überhaupt begonnen hat; ihre Geschichte ist eine Komödie im Stile von „Viel Lärm um nichts“ und geschieht nur durch den Sog, den das listige Verhalten des Chremes erzeugt. Väter dürfen aber nicht listig sein. 4.3 Muliebre consilium: Die List der Frauen Der verliebte Mann befindet sich in einem Ausnahmezustand, der ihn der Frau in ihrem Normalzustand annähert – so überspitzt könnte man vielleicht die Performanz des verliebten Mannes, namentlich des Jünglings, in der römischen Literatur beschreiben. Es ist gerade für die Liebeselegie längst herausgearbeitet worden, dass das männliche lyrische Ich in dieser Gattung von mollitia und impotentia gezeichnet ist, dass sich der Mann der Frau unterwirft und damit in eine dienende Rolle gerät, die nach dem Verständnis patriarchaler Gesellschaften wenn überhaupt nur der Frau zukommt.112 Die Unterwerfung des elegischen Mannes unter die Frau hat aber keinen emanzipatorischen Zug; das regelmäßige Desaster der Liebesbeziehung und die schnöden Täuschungen der Geliebten bekräftigen letztendlich, dass es der Mann sein muss, der führen soll. Tibull glaubt zwar, seiner Delia die ersten Liebeslisten beigebracht zu haben, aber er muss rasch erkennen, dass er sich auf diesem Felde als Mann nicht behaupten kann. Nur Ovid sieht sich, nachdem er zwei Bücher praecepta amoris für Männer geschrieben hat, gezwungen, im Sinne der Frauen Waffengleichheit herzustellen – eine ungewöhnliche Volte, die aber genau daraus resultiert, dass Ovid die Liebe des adulescens entdramatisiert und rationalisiert hat. Die List ist eine Domäne der Frauen.113 Das mag etwas überraschend kommen, nachdem diese Arbeit sich vorwiegend der List der Männer gewidmet hat. Aber wie Ovid in der Ars amatoria die Männer über zwei Bücher mit Strategemen versorgt hat, die Waffengleichheit der Frauen aber allein durch ein Buch meint herstellen zu können, schreiben wir aus einem guten Grund viel zur List der Männer und wenig zur List der Frauen: Die Listigkeit der Frauen ist zwar ein römisches – und griechisches114 – Stereotyp, aber es wird in der augusteischen Literatur als literarisches Motiv kaum ausgebeutet. 112
David Fredrick, Reading Broken Skin. Violence in Roman Elegy, in: Paul Allen Miller (Hg.), Latin Erotic Elegy. An Anthology and Reader. Edited with an Introduction and Commentary, London – New York 2002, S. 457 – 479, 458: „the genres gender identification is unstable“. Bleiben wir im Rahmen vormoderner patriarchaler Gesellschaften, so hat gerade Rom – besonders im Vergleich zu Griechenland – der Frau noch einige Rechte und Initiativen zugestanden. 113 von Matt (2006) S. 33. Abbot (1997) S. 5 will sich dazu ausdrücklich nicht äußern. 114 Peter Walcot, Greek Attitudes Towards Women, in: Ian McAuslan/ Peter Walcot (Hg.), Woman in Antiquity, Oxford 1996, S. 91 – 102; Hesk (2000) S. 11 mit weiterer Lit.
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Nach Auffassung der männlichen römischen Autoren ist das listige Wesen der Frau einfach nicht strittig. Es ist, wie alle schlechten Eigenschaften der Frau, Zeichen ihrer Unbeherrschtheit (muliebris impotentia115) und muss vom Mann im Zaum gehalten werden; ausgetrieben werden kann es der Frau nicht. Darüber muss man nicht viele Worte machen. Oder doch? Es ist sicher so, dass gerade eine Untersuchung zum Listmotiv in der Literatur die Darstellung dieses Themas (weibliche List) nicht unendlich komplexer gestalten kann, als es die männlichen römischen Autoren ausgeführt haben, aber stereotyp reproduzieren muss der Literaturwissenschaftler deshalb nicht.116 Betrachten wir zunächst die Ursachen für diese misogyne Konstruktion der List. Eine Ursache für dieses römische Vorurteil liegt sicher in der klassischen Arbeitsteilung, die die Römer für die Geschlechter vorgesehen haben.117 Die Frau unterstützt und berät ihren Mann, sie konkurriert aber nicht mit ihm im Bereich der öffentlichen politischen Rolle; selbst dann nicht, wenn sie gemeinsam mit ihm bei politisch-sozialen Ereignissen auftritt wie etwa die Kaiserinnen oder Prinzessinnen im römischen Prinzipat. Ihr Wirken ist daher zu einem beträchtlichen Teil hinter die Kulissen verbannt; dort spielt es dennoch eine nicht unwesentliche Rolle und hat sehr wohl Einfluss auf den Anteil, den entweder die gens ihres Mannes oder die der Frau am politischen Einfluss in Rom haben. Frauen können in Rom auch Macht haben, aber diese Macht dürfen sie nicht offen zeigen.118 Die Logik dieser verborgenen 115
Liv. 34, 2, 2. Es fällt aber dennoch auf, dass selbst ein so wegweisendes Buch wie das von Thomas Späth, Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus. Zur Konstruktion der Geschlechter in der römischen Kaiserzeit, Frankfurt am Main – New York 1994, letztlich keine besonderen Überraschungen zur Funktionsweise der männlichen Konstruktion des weiblichen Geschlechts in Rom hervorgebracht hat. 117 Das ist freilich nicht auf Rom beschränkt. Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Frankfurt am Main 1978, S. 18 beschreibt die Frau als das rachsüchtigere Geschlecht, eben deshalb, weil es schwächer ist, und leitet daraus den Umstand ab, dass Hexen in der Regel weiblich seien. Dieser anthropologischen Aussage widerspricht Helmut Schoeck, Der Neid und die Gesellschaft, Freiburg u.a. 21972, S. 88f. mit zahlreichen Beispielen; allerdings teilt er noch das Gesamturteil. Dass es in der Tat einen Zusammenhang von Schwäche und List gibt und diese indirekten und oft verborgenen Mittel sich zu wehren den Hexereivorwurf erzeugen, ist nicht ganz von der Hand zu weisen; dies liegt dann aber – durchaus im Sinne Schelers und Schoecks – an der sozialen Position der Frau, nicht an ihrem Wesen. Die genannten Autoren sind freilich meilenweit von emanzipatorischem Gedankengut entfernt, so es die Frau betrifft. 118 Späth (1994) S. 114f. und 118: „Weibliches Handeln ist Handeln mit ‚Intrigen‘, artes, dolus, inlecebrae, so werden die Formen des Handelns [bei Tacitus F.W.] umschrieben, dessen Effekt ein devincere, obstringere, inligare von männlichen Objekten ist. ‚Intrige‘ heißt in den Annalen, wenn sie von weiblichen Handlungssubjekten ausgeht, dass Männer instrumentalisiert und damit in Passivität versetzt werden, weibliche Transgression ist es, wenn Männer dazu gebracht werden, auszuführen, was Frauen von ihnen verlangen. Diese Einflussnahme ist außerdem als ‚Intrige‘ gekennzeichnet dadurch, dass weibliches 116
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Einflussnahme kennzeichnet aber in der Terminologie der männlichen Politiker auch die coniuratio; alle Mittel, die einer coniuratio dienen, stehen immer in der Gefahr, als dolus malus denunziert zu werden. Es ist daher kein Zufall, dass Frauen fast in allen römischen Verschwörungsgeschichten eine zentrale Rolle spielen.119 Man könnte dem entgegenhalten, dass das Idealbild der römischen Matrone die List gerade nicht beinhaltet. Das ändert aber nichts an der misogynen Gerbrauchsanthropologie der römischen Männer, die die Frau für wankelmütig, der Lust ihres Körpers ausgeliefert120 und listig halten. Die römische Matrone leistet durch die Unterdrückung dieser Lust einen Verzicht und diesen Verzicht ermöglicht ihr nur ein passendes männliches Umfeld. Das beweist gerade die livianische Lucretiageschichte, in der sich eine vergewaltigte Matrone tötet, um kein exemplum für ihre Geschlechtsgenossinnen abzugeben: Die Unschuldsvermutung gilt für die Frau niemals a priori, sie muss erarbeitet werden. Das führt im Ergebnis zum Ideal der weiblichen Selbstkontrolle; aber diese Selbstkontrolle ist immer abhängig vom männlichen Anspruch der Kontrolle.121 Dies wird sehr deutlich in einer Episode, die Seneca in seinem Fürstenspiegel de clementia berichtet. Augustus ist knapp einem Attentatsversuch (insidiae)122 entgangen. Er berät sich mit seinen Freunden, wie mit dem Attentäter (L. Cinna) zu verfahren sei, kommt jedoch zu keinem rechten Schluss, weil er ihn gern begnadigen möchte, aber um die öffentliche Wirkung einer falsch verstandenen Milde fürchtet. Da schaltet sich Livia ein (clem. 1, 9, 6f.): Handeln sich nicht-institutioneller Mittel bedient und häufig mit dem Attribut des secretum versehen wird.“ 119 Victoria Emma Pagán, Conspiracy Narratives in Roman History, Austin 2004 (passim). 120 Aeque imprudens animal est et nisi scientia accessit et multa eruditio, ferum, cupiditatium incontinens (Sen. dial. 2, 14, 1). Ilsetraut Hadot, Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969, S. 157. Liv. 34, 2, 2 : impotentia muliebri. Die Äußerungen Senecas sind insgesamt etwas widersprüchlich und auch die folgende Episode beschreibt nur das positive Ideal recht gut. Dass Senecas Äußerungen über Frauen so widersprüchlich sind (Ursula Blank-Sangmeister, Römische Frauen. Ausgewählte Texte. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2001, S. 191 Anm. 4), hängt vielleicht auch mit einem Rollenwechsel der Frau in der Kaiserzeit zusammen; sie wurde als Vertraute des Mannes in einem allgemeinen Klima des Misstrauens und der Denunzierung immer wichtiger. 121 Vgl. Tac. Ann. 3, 34: nam uiri in eo culpam, si femina modum excedat (aus einer konträr geführten Senatsdebatte). 122 Auch diese Episode bestätigt übrigens die Logik der List als signum der Jugend. Seneca betont, dass Augustus selbst in seiner Frühphase hinterhältig gehandelt hat, verbindet dies aber ganz deutlich mit dem jungen Alter Octavians. Auch Cinna, der Attentäter, ist ein adulescens und dies ist ein wichtiges Argument in Augustus Überlegungen, ob er ihn begnadigen soll. Seine Gedanken schweifen dann zu der weiteren Frage, ob sein eigenes Leben überhaupt wertvoll genug sei, um gegen so viele Attentate verteidigt zu werden. Augustus nimmt hier kurzzeitig fast die Haltung des Lars Porsenna gegen Mucius Scaevola ein.
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Interpellauit tandem illum Liuia uxor et: ‚Admittis‘ inquit ‚muliebre consilium? Fac, quod medici solent, qui ubi usitata remedia non procedunt, temptant contraria. Seueritate nihil adhuc profecisti (…). Nunc tempta, quomodo tibi cedat clementia: ignosce L. Cinnae. deprensus est; iam nocere tibi non potest, prodesse famae tuae potest.‘ Gauisus, sibi quod aduocatum inuenerat, uxori quidem gratias egit, renuntiari autem extemplo amicis, quos in consilium rogauerat, imperauit et Cinnam unum ad se accersit. Das consilium der Livia steht hier in deutlichem Kontrast sowohl zu den Anschlägen des Attentäters (insidiae) als auch zum consilium der amici, das es hier verdrängt. Livias Rat beendet aber auch eine Kette von Anschlägen und Gegenanschlägen, deren Ursprung – dies legt das narrative Arrangement Senecas hier nahe – in der Jugend des Kaisers gelegen hat und aus dessen eigener jugendlicher Verschlagenheit herrührt (1, 9, 1): Diuus Augustus fuit mitis princeps, si quis illum a principatu suo aestimare incipiat; in communi quidem rei publicae gladium mouit, cum hoc aetatis esset, quod tu nunc es, duodeuicensimum egressus annum, iam pugiones in sinum amicorum absconderat, iam insidiis M. Antoni consulis latus petierat, iam fuerat collega proscriptionis, sed cum annum quadragensimum transisset et in Gallia moraretur, delatum est ad eum indicium L. Cinnam, stolidi ingenii uirum, insidias ei struere. Augustus beendet den circulus uitiosus von List und Gegenlist, Anschlag und Gegengewalt durch das Beispiel an Milde, das er an Cinna übt (1, 9, 12: Nullis amplius insidiis ab ullo petitus est). Das alles verdankt er dem Rat seiner Frau. Augustus hat selbst seine Jugendzeit gerade abgeschlossen und befindet sich mit vierzig Jahren nach römischem Verständnis auf der Schwelle zum senex.123 Der Rat, den seine Frau ihm gibt, ist, auch wenn er von Seneca in zentraler Weise für das Ende einer Politik von heimtückischem Schlag und Gegenschlag verantwortlich gemacht wird, nach seinen Voraussetzungen ganz anders als der Rat eines pater an seinen Sohn: Livia bittet respektvoll darum, gehört zu werden, und berücksichtigt in ihrem Ratschlag, ganz anders als Augustus selbst, der die gesamte res publica im Blick hat, nur das Wohl ihres Mannes. Seine Strenge habe ihm bisher nichts genützt, er solle es einmal mit Milde versuchen. Es könne ihm nicht schaden, sondern nur nützen. Dagegen argumentiert Augustus selbst mit dem gesamten Staatswesen und beschäftigt sich damit, warum er den jugendlichen adulescentes so 123 Eine Zwischenstufe zwischen adulescens/iuuenis und senex kennt der Römer nicht wirklich, s. Christes (1997a) S. 15. Übrigens weist Christes für Horazens Ars Poetica nach (vv. 158 – 174), dass dieser für seine Konzeption von iuuenis und senex die Komödie vor Augen hatte; ein weiterer Hinweis für die Bedeutung dieser Gattung für die Augusteer: Johannes Christes, Ars Poetica und Komödie, in: Stärk/ Vogt-Spira (2000), S. 637 – 660.
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verhasst sei. Er tritt seinerseits wie ein pater dem törichten iuuenis124 Cinna entgegen und kann ihn wiederum zu einem loyalen amicus des Kaisers machen. Livia bleibt in dieser idealtypischen Konstruktion des kaiserlichen Beraters Seneca ganz der Person und Rolle ihres Mannes untergeordnet, ja, sie ist eine willkommene Advokatin einer clementia, die den Kaiser anzieht, der nachzugeben er sich aber nicht gleich entschließen kann. Die Rolle der Frauen ist, wie so oft, im römischen Ideal katalytisch und komplettierend. Die Sabinerinnen komplettieren den römischen Staat, sie gründen ihn nicht. Sie beraten die beiden gentes, zu denen sie Loyalität empfinden, die ihres Vaters und die ihres Mannes, aber sie sind, wenn sie zwischen die Kämpfenden treten, Vermittler, keine dritte Partei. Jenseits dieses speziellen Familienkonfliktes treten sie nicht in die Mitte eines Streits, sondern stehen im Rücken ihres Mannes. Die Palliata unterläuft bekanntlich das positive Ideal der Frau, gleichzeitig bestätigt sie aber auch die negative Anthropologie der Römer: Ehefrauen, die der Mann nicht unter Kontrolle hält, werden zänkisch und eigensinnig; Hetären, die ja a priori nicht kontrolliert werden können, sind listig, gierig und promisk. Das trifft auf die Ehefrauen und Hetären bei Plautus zu.125 Philocomasium und Acroteleutium aus dem miles gloriosus brüsten sich mit ihrer Fähigkeit zur Intrige und überbieten sich darin, als möglichst „schlecht“ zu erscheinen.126 Bei Terenz dagegen erscheinen die Frauen, gerade wenn man sich diese Gattungserwartung und Gattungslizenz – also das Auftrumpfen der listigen Hetäre und das zänkische Wesen der Gattin des Alten – vor Augen führt, in einem ganz anderen Licht. Die Hetären bei Terenz verzichten in zum Teil demonstrativer Weise auf die List, die Ehefrauen auf den Zank. Das wird besonders deutlich in der Hecyra. Dort wird den Frauen nämlich beides unterstellt: Streitsucht und Intrige; der Vorwurf ist im ersten Falle haltlos, im zweiten beruht er auf einem völligen Missverständnis der Situation (s.o.). Die Hecyra beginnt mit zwei Vorspanncharakteren (der Hetäre Philotis und der greisen Syra), die den Prolog plautinischer Prägung ersetzen127 und nach zwei Szenen aus dem Stück verschwinden. Während in der zweiten Szene ein Gespräch mit dem Sklaven Parmeno für die Zuschauer die Klärung der dramatischen Ausgangslage des Stückes bringt,128 dient die erste Szene vornehmlich der Einführung der beiden Vor124
Als solcher wird Cinna 9, 3 bezeichnet. Brotherton (1926) S. 17f. 126 Hier haben wir tatsächlich einmal eine fast karnevaleske Umdrehung der Werte, indem das Schlechte gut wird, vgl. Plaut. Mil. 355f. 127 Lefèvre (1969), S. 93 – 96; Eckard Lefèvre, Terenz und Apollodors Hecyra, München 1999, S. 41 – 43, 61f. 128 Parmeno erzählt, dass sein junger Herr Pamphilus gegen seinen Willen, nur auf Geheiß des Vaters, eine gewisse Philumena geheiratet, sie dann aber doch lieben gelernt habe. Er sei dann wegen einer Erbschaftsangelegenheit weggefahren, nun aber, in seiner Abwesenheit, verhalte sich die junge Ehefrau abweisend gegenüber der Schwiegermutter. 125
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spanncharaktere – ein etwas überraschendes Manöver, wenn man bedenkt, dass die beiden nachher nicht mehr auftauchen.129 Aber es ist falsch zu glauben, die Szene habe mit dem Stück nichts zu tun. Sie bietet zwar keinen Einstieg in die Handlung, aber sie verweist auf die tiefere Bedeutung der aufgeführten Fabel. Die Hetäre Philotis verzweifelt an der Treue der Männer, weil sie gehört hat, dass Pamphilus die Hetäre Bacchis zugunsten der Philumena aufgegeben hat. Die alte Syra versucht deshalb die Philotis davon zu überzeugen, die Männer auszunutzen (insidiari), solange sie jung und schön sei. Philotis glaubt, man dürfe die Männer nicht alle über einen Kamm scheren. Syra hält es dagegen nicht für Unrecht, die zu fangen (capere), die einen fangen wollen, kann aber Philotis nicht überzeugen. Diese Szene, die in ähnlicher Form in der Mostellaria ihren berechtigten Platz hat (I 3: der Dialog Philematium – Scapha), scheint einerseits überflüssig zu sein, andererseits gerade in ihrer Isolierung vom Rest der Handlung eine Art protoelegischen Charakter zu haben, insofern hier ein Thema eingeführt und durchgespielt wird, das in dem begrenzten Raum der 18 Verse seinen Anfang und sein Ende hat und gleichzeitig doch thematisch mit dem Folgenden verbunden ist – wie eine Elegie mit den anderen Elegien eines Corinna-, Cynthia-, Delia- oder Nemesisbuches. Die wenigen exponierenden Verse inszenieren das eigentliche Thema des Stückes und könnten im Übrigen als Leitmotiv einer Untersuchung zu den terenzischen Frauengestalten schlechthin dienen: Es ist ein demonstrativer Listverzicht auf der einen Seite und gleichzeitig die Erkenntnis der Vielgestaltigkeit der sozialen Umwelt. Philotis lehnt es ab, die Männer alle gleich (schlecht) zu behandeln, weil sie alle verschieden sind.130 Genau das ist aber die Botschaft der Hecyra. Der Konflikt der Hecyra verdankt sich zum großen Teil dem Beharren der Männer auf misogynen Klischees. Die Männer sind allesamt langsam: Pamphilus, der seine Affäre zu Bacchis auch nach der Eheschließung nur zögernd aufgibt, deshalb seine Frau erst spät lieb gewinnt und, da er ihr deshalb nicht rechtzeitig ehelich beigewohnt hat, den Konflikt erst an die 129
Anders als in der vergleichbaren Szene Plautus Most. 1, 3 (157 – 312)! Die nämliche terenzische Eingangsszene wurde daher oft auch für missglückt oder überflüssig gehalten, vgl. Konstan (1983) S. 131: „it contributes nothing to the plot“; zweifelnd an solchen Urteilen hört sich Kruschwitz (2004) S. 120 Anm. 19 an, aber ohne eigene Lösungsvorschläge. 130 Die Verschiedenheit der Umwelt kann, wie sich bei Ovid zeigen wird, Argument für ein listiges Sich-Anpassen sein. Ovid lehrt, dass man jede Frau anders gewinnen muss, Philotis bietet hier ein – nach römischen Begriffen – Gegenstück zu dieser Auffassung: Sie nimmt offenbar die Vielfalt der Männer zum Anlass, jedes Mal neu deren Handeln und Charakter zu hinterfragen und sich die Möglichkeit zu einem ehrlichen Umgang mit ihnen offen zu halten. Das macht ihren Listverzicht noch eklatanter, denn, wie bereits bemerkt, ist die Frau – nach der Auffassung der Mehrheit der römischen männlichen Autoren – an sich listig. Philotis aber will nicht listig sein, sondern den Männern gegenüber vorurteilsfrei.
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Oberfläche bringt. Versteht man die Vergewaltigung tatsächlich als ein Motiv der rites de passage, dann wird dieses Motiv hier explizit verschleppt: Denn wieder ist es Pamphilus selbst, der seine Frau vorehelich vergewaltigt hat. Dieser Konflikt aber, der in der Komödie eigentlich in die Zeit vor der Hochzeit gehört, wäre niemals nach der Eheschließung aufgebrochen, hätte Pamphilus sich rechtzeitig in die Rolle des Ehemannes hineingefunden. Es ist daher auch bezeichnend, dass in dieser Komödie der Sklave Parmeno praktisch keine Funktion hat: Pamphilus muss diese Situation – das ist längst überfällig – selbst durchstehen. Tatsächlich entsteht die gesamte Intrige durch den Umstand, dass Pamphilus und seine Frau denken, das Kind sei unehelich. Seine Frau und seine Schwiegermutter akzeptieren daher den Wunsch des jungen Mannes, sich möglichst rasch wieder scheiden zu lassen; dennoch versucht Pamphilus zugunsten der Ehre seiner Frau, die wahren Beweggründe dieser Scheidung zu verbergen. Er handelt also gleichzeitig als verantwortungsvoller Ehemann und als verantwortungsloser iuuenis. Als Ehemann hat er einen seruus callidus als praeceptor amoris nicht mehr nötig; im Gegenteil, jetzt stört dieser sogar das Familienleben des Pamphilus, denn er darf nichts von dem häuslichen Skandal erfahren. Deshalb schickt er den frustrierten Sklaven auch immer nur in der Gegend herum und löst die Situation insgesamt aus Eigenem. Dennoch zielt sein Verhalten letztlich auf eine Rückkehr in den Stand des unbeweibten iuuenis. Die Ehe ist sexuell nicht vollzogen, sie wird aber paradoxerweise durch die Anagnorisis der Komödie vollzogen – bzw. als vollzogen erkannt. Laches, der Vater des Pamphilus, kehrt überstürzt vom Lande zurück, als er hört, das Philumena sich in ihr Elternhaus zurückgezogen hat und ihre Schwiegermutter nicht zu empfangen bereit ist. Er sucht die Schuld sofort bei seiner Frau, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, diese zu ihren Beweggründen zu befragen. Er hält das ganze für eine frauentypische coniuratio, in der sich Schwiegertochter und Schwiegermutter in die Haare bekommen hätten, macht aber seine Sostrata für die Eskalation verantwortlich. Ähnliche Vorwürfe muss sich später Myrrina von ihrem Mann Phidippus anhören, weil dieser schließlich den neugeborenen Enkel zu Hause entdeckt und sich nun überhaupt nicht mehr erklären kann, warum die Ehe zwischen seiner Tochter und Pamphilus gestört sei – es sei denn, seine Frau beabsichtige, das Kind aus Missgunst verschwinden zu lassen. Sostrata versucht, ihren Sohn Pamphilus zu schützen, Myrrina ihre Tochter Philumena, Pamphilus will eigentlich alle schützen: seine Mutter, seine Frau, seine eigene Ehre. Die Rettung geschieht am Ende so, wie sie in der ersten Szene des ersten Aktes schon einmal angedeutet wurde: durch den Verzicht einer Hetäre. Bacchis kann durch den Fund eines Ringes aufklären, dass Pamphilus der Vergewaltiger der Philumena war. Sie erklärt sich
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Laches gegenüber bereit, vor Philumena und deren Familie zu schwören, dass sie keinen Umgang mehr mit Pamphilus hatte.131 Am Ende jedenfalls müssen auch die beiden senes erkennen, dass sie ihre Frauen fälschlicherweise verdächtigt haben (777f.): (Laches:) Phidippe nostras mulieres supectas fuisse falso nobis in re ipsa inuenimus. Die einzige Lüge, die stehen bleibt, ist eine, mit der Bacchis, die Familie der Philumena und Pamphilus die Vergewaltigung vor dem Vater Laches geheim halten. Pamphilus argumentiert, dass die, die davon erfahren müssen, Bescheid wüssten, ansonsten gehe es eben niemanden etwas an. Man könnte diese Frage des Pamphilus als einen Rückfall in die Rolle des ängstlichen Sohnes werten. Faktisch aber ist genau das Gegenteil der Fall: Seine Emanzipation ist abgeschlossen; die Frauen lügen zu seinen Gunsten, im Sinne also des im Hause neu akzeptierten Mannes. Auch wenn Bacchis hier die Rolle der verzichtenden Geliebten hat, ist doch auffällig, dass mit den Frauen die agnatische Gruppe zugunsten des Pamphilus lügt, die cognatische Gruppe in „respektvollem“ Dunkel gehalten wird. Pamphilus hat jetzt seine eigene domus und die Loyalität seiner Frau und von deren Familie ist ihm sicher.132 Terenz kann sich das Handeln der Frauen nur in dieser loyalen Form vorstellen, ansonsten leisten die terenzischen Frauen einen zum Teil demonstrativen Verzicht auf verdecktes Handeln zu eigenen Gunsten. Erwägungen, die das Konzept der bona meretrix bei Terenz in Frage stellen, muss entgegengehalten werden, dass wir eigentlich133 nur eine einzige wirkliche 131
Kruschwitz (2004) S. 134 Anm. 60 ist der Auffassung, dass „viele Gelehrte dazu neigen, Bacchis (ähnlich wie Thais im Eunuchus […]) übermäßig zu glorifizieren“. Dagegen läge Gilula (Dwora Gilula, The Concept of Bona Meretrix. A Study of Terence’s Courtesans, in: RFIC 108 [1980], S. 142 – 165) „wohl richtig in der Annahme, dass Bacchis aus vitalen Eigeninteressen heraus lügt“, weil sie sonst selbst einen Prozess riskiere. Davon kann nicht die Rede sein (wieso überhaupt Lüge – gemäß dem Prolog hat sich Pamphilus zwar noch um Bacchis bemüht, ist aber früh abgeblitzt, dagegen aber wieder Kruschwitz [2004] S. 120 Anm. 19). Richtig ist, dass beide Seiten den Konflikt härter hätten führen können. Bacchis geht am Schluss versöhnt von Pamphilus fort; dieser macht ihr noch einmal galante Komplimente, sie beglückwünscht ihn zu seiner Gattin. Ein inniger Schluss! Das Konzept der bona meretrix bei Terenz beweist eindringlich Fantham (2000). 132 Diese Lüge ist typologisch ohnehin von der List zu scheiden. Nicht jeder, der etwas verbirgt, ist listig. Das gilt auch für den Pamphilus aus der Andria. Er hat dem Vater sein Verhältnis zu Glycerium verschwiegen, eine Intrige hat aber nicht er begonnen, sondern der Vater. So gesehen ist die Rolle der Frauen noch radikaler zu beschreiben: Bis auf die Thais des Eunuchus, die zugunsten ihrer Stiefschwester handelt, gibt es keine weibliche List bei Terenz – dafür aber jede Menge Unterstellungen einer solchen. 133 Grundsätzlich erahnen wir in der Bacchis der Adelphoe möglicherweise eine mala meretrix, aber sie kommt ja eigentlich gar nicht vor.
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mala meretrix bei Terenz kennen: die Bacchis aus dem „Selbstquäler“. Diese Hetäre fällt ausgerechnet durch ihre Unterhaltung mit Antiphila auf, in der sie sehr deutlich die Zwänge ihres Lebensunterhaltes benennt und die tugendhafte Antiphila um ihre Lebenswahl beneidet. Damit führt Terenz auch hier die Entscheidungssituation auf, die seine weiblichen Charaktere – ob Hetären oder Ehefrauen – immer zu durchleben hatten. Antiphila ist arm, aber tugendhaft; es wird deutlich, dass auch Bacchis diese Wahl hätte treffen können. Die Ehefrauen sind in der Regel gehorsam, Ausnahme ist auch hier der „Selbstquäler“, in dem Sostrata es nicht über sich gebracht hat, ihre neugeborene Tochter zu töten – eine Entscheidung, die sich letztlich auch positiv auf die Interessen ihres Mannes auswirkt. Terenz hat, das ist das Ergebnis, eine sehr konsequente Vorstellung davon, wer in der Welt der Komödie listige Kompetenz und Lizenz genießt und wer nicht, und er zeigt, welche Konfusionen entstehen, wenn solche Lizenzen fälschlich arrogiert werden. Dieser Komplex dient im Folgenden – nach einer Art kurzem Exkurs zu Vergil – als Folie für das Verständnis der List in der Liebeselegie.
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5 Quis fallere possit amantem? Die elegische List 5.1 Die List bei Vergil Im Vergleich zu Livius hat Vergil in seiner Aeneis ein radikaleres Konzept der List. Auch wenn der Historiker sie früh als unrömisch brandmarkt, zeichnet er doch narrativ das differenzierte Bild einer Handlungskompetenz, die die Römer von Anfang an zu nutzen verstanden und in ein komplexes Verhältnis zu ihrer politischen Leittugend, der fides, setzten. Dagegen enthält sich sein Zeitgenosse, der Epiker, weitestgehend einer normativen Kritik an der List, stellt sie aber konsequent und ausnahmslos als ein zum Scheitern verurteiltes Konzept dar oder, um es mit Abbot zu sagen, die List in der Aeneis ist self-defeating, sie findet nie ihr Ziel oder schlägt dem Urheber zum Unglück aus.1 Neptun erkennt in dem von Aeolus gegen die Trojaner erregten Sturm eine List der Juno und beruhigt das Meer;2 Venus und Juno versuchen sich gegenseitig zu überlisten, indem sie Aeneas in Karthago in eine desaströse Verbindung mit Dido treiben;3 bei der Zerstörung Trojas versuchen die Kämpfer um Aeneas die Griechen zu täuschen, indem sie deren Waffen anziehen, geraten dann aber in verlustreiche Kämpfe mit den eigenen Leuten;4 in der Unterwelt bestraft Rhadamanthus die Listen der Menschen;5 irae und insidiae sind die schrecklichen Kennzeichen und Mittel, mit denen Allecto Zwietracht und Krieg sät6 und die auch den Krieg (den Gott Mars7) als sol1 Abbot (2000) S. 70: „the ironic result is defeat and death“ (über Coroebus in Aen. 2, 389ff.). 2 Aen. 1, 130. Abbot (2000) S. 61f. 3 Aen. 4, 105 und 128. Abbot (2000) S. 62. Zu den Jagdlisten der Venus vgl. Niklas Holzberg, Vergil. Der Dichter und sein Werk, München 2006, S. 144. 4 Aen. 2, 390 und 420 – 423. Paul Gerhard Schmidt, Seid klug wie die Schlangen: Strategeme im lateinischen Mittelalter, in: von Senger (1999), S. 196 – 211 zitiert Aen. 2, 390 dolus an uirtus, quis in hoste requirat (rhet. Frage des Coroebus, mit der er die Trojaner zu der List überredet) als einen Beleg dafür, dass Vergil die Kriegslist für unproblematisch hält (S. 199): „Hier konnte Vergil sogar den eher negativ konnotierten Ausdruck dolus (List) verwenden, der sonst in der Diskussion gemieden wird.“ Es ist aber genau so, wie Abbot (2000) S. 59ff. und 65ff. darlegt: Die Argumentation scheint nachvollziehbar, wird aber durch den ständigen Misserfolg der List in der Aeneis in Frage gestellt. Abbot (1997) S. 132: „Coerobus, the author of the dolus, is the first in his group to die (2. 424 – 26).“ Holzberg (2006) S. 157. 5 Aen. 6, 566 – 569. Abbot (1997) S. 153f. 6 Aen. 7, 326 und 338. 7 Aen. 12, 335f. (iraeque insidiaeque, dei comitatus). Abbot (1997) S. 29 Anm. 66.
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chen kennzeichnen; der monströse Rinderdieb Cacus ist listenreich, wird aber besiegt;8 das nächtliche Husarenstück von Nisus und Euryalus liest sich wie eine direkte Gegendarstellung der Einzel- und Vorkämpfe, die ein Scaevola, ein Decius, ein Torquatus bei Livius zu bestehen haben. Wie diese handeln die beiden Helden nicht auf eigene Rechnung, sondern versichern sich beim zuständigen trojanischen Kriegsrat der Zustimmung zu ihrer nächtlichen Aktion, die sie selbst als insidiae bezeichen9 und die ihnen erheblichen persönlichen Mut abverlangt. Dennoch scheitern sie kläglich und sehen sich am Ende selbst getäuscht.10 Als das Kriegsglück sich für die Rutuler und ihre Verbündeten wendet, legen sie den Trojanern einen Hinterhalt, der namentlich für Camilla, die Turnus ausdrücklich zum Mittun an dieser Unternehmung eingeladen hat,11 mit dem Fall endet (der Ligurer Ligus – ein exemplum für die in den Augen der Römer notorische Verschlagenheit dieses Volkes12 – wird aber zuvor noch von Camilla zur Strecke gebracht, als er ein listiges Fluchtstrategem zur Anwendung bringen möchte13). Überhaupt erfährt der Leser nichts davon, dass die Trojaner durch den Hinterhalt in besondere Bedrängnis geraten wären. Die (Täuschungs-)Versuche der Juturna, den Zweikampf und den damit verbundenen Friedensschluss zwischen Latinern und Trojanern zu vereiteln, scheitern.14 Tatsächlich ist die einzige List in der Aeneis, die ihren Urheber nicht bestraft, ausgerechnet die des Sinon, der die Trojaner veranlasst, das hölzerne Pferd in die Stadt zu
8 Aen. 8, 205f.: at furis Caci mens effera, ne quid inausum/ aut intractatum scelerisue doliue fuisset. Abbot (1997) S. 154. 9 Aen. 9, 237: locum insidiis conspeximus ipsi. Nisus spricht in seiner Selbstbezichtigung, mit der er Euryalus schützen will, sogar von furtum: 428, vgl. auch 350. 10 Aen. 9, 385: [Euryalum] fallitque timor regione uiarum. Dabei hatten sich die beiden gebrüstet, den Weg gut zu kennen (9, 243): nec nos uia fallit euntis. Abbot (2000) S. 77. Vgl. George Eckel Duckworth, The Significance of Nisus and Euryalus for Aeneid IX – XII, in: AJPh 88 (1967), S. 129 – 150, ND in: Philip Hardie (Hg.), Virgil. Critical Assessments of Classical Authors. Vol. IV, London 1999, S. 304 – 321. Duckworth betont (S. 306 und 313) die Schuldhaftigkeit individualistischen Handelns, das für das letzte Drittel der Aeneis eine Art Leitmotivfunktion habe. In der Tat ist, wie oben bereits ausgeführt, der Partikularismus eines der Probleme, das die Römer auf politisch-militärischer Ebene mit der List haben. 11 Aen. 11, 515f., 522 – 525. Abbot (1997) S. 154. 12 Richard Heinze, Virgils Epische Technik, Leipzig – Berlin 31915, S. 10 Anm. 2. 13 Aen. 11, 701 – 724. Abbot (1997) S. 154. 14 Aen. 12, 246: monstroque fefellit (sc. Juturna), dagegen 632 – 634 (Turnus an Juturna): o soror et dudum agnoui, cum prima per artem/ foedera turbasti teque hac in bella desisti/ et nunc nequiquam fallis dea. Dazu Michael Paschalis, Vergil’s Aeneid. Semantic Relations and Proper Names, Oxford 1997, S. 384: „In a typical fashion, ,dolor‘ leads to ,dolus‘: Juno advises Juturna to employ any means in order to achieve the goal, and Juturna resorts to trickery (cf. 623–3 […]).” Zu den Listen der Juno vgl. David West, The End and the Meaning. Aeneid 12.791 – 842, in: Hans-Peter Stahl (Hg.), Vergil’s Aeneid. Augustan Epic and Political Context, London 1998, S. 303 – 318.
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ziehen.15 Diese negative Konnotation ergreift bei Vergil fast das gesamte Listvokabular. Dolus kommt in der Aeneis eigentlich nur in negativer Konnotation vor,16 obwohl der Dichter durchaus zu einem neutraleren, ja positiven Gebrauch in der Lage ist, wie die sechste Ekloge beweist, in der Silen durch die amüsante List von zwei Hirtenkindern und einer Najade „gezwungen“ wird, sein Weltgedicht vorzutragen. Hier wird unter anderem das Lied des Demodokos zitiert, indem Hephaist seiner untreuen Gattin den Liebesakt mit Ares verdirbt. Silen dagegegen kauft sich von der Najade aus der Fesselung ausgerechnet damit frei, dass er sie und damit ja doch sich selbst mit Sex „belohnt.“17 Insidiae,18 astus/astutia, fraus und furtum sind ohnehin in der 15
Abbot (1997) S. 161; vgl. aber ders. (2000) S. 81: „(…) Sinon’s skillful lies may have destroyed Troy, but in doing so, they also made Rome possible, demonstrating that the trickster may indeed be an agent of transformation, a creator/destroyer, a liminal figure whose lies have the power to move a wooden horse across the theshold of the city, thereby opening a door to new age.“ 16 25 Belege bei Fasciano (1982). 1, 130: die den Trojanern verderbliche List der Juno; 1, 673: die gefährlichen Listen der Venus, von ihr positiv verstanden, aber eben im Sinne Abbots „self-defeating“; 1, 682 und 684: wie das Vorige; 2, 34: der Rat des Thymoetes, das trojan. Pferd in die Stadt zu holen, könnte Verrat gewesen sein; 2, 44: die Listen der Danaer; 2, 62: Sinon; 2, 152: Sinon; 2, 196: Sinon; 2, 252: über die List der Griechen und das trojan. Pferd; 2, 264: über das trojanische Pferd; 2, 390 dolus an uirtus: die List bringt den Trojanern Unglück; 4, 95: Juno abfällig über die Listen der Venus und des Amor; 4, 128: Venus erkennt die Listen der Juno; 4, 296: die heimliche Abfahrt des Aeneas aus der Sicht der Dido; 4, 563: Merkur warnt Aeneas vor Didos Anschlägen; 5, 342 Die List des Nisus sichert den Sieg des Euryalus im Wettkampf, grundsätzlich positiv bewertbar, aber hier aus der Sicht des Verlierers gesehen; 5, 590: das Labyrinth; 6, 29: über das Labyrinth des Minotaurus; 6, 567: Rhadamanthus richtet über dolos; 11, 523: der unglückliche Hinterhalt der Camilla und des Turnus; 11, 704 und 712: über missglückte Ligurerlist, die den Tod bringt; 12, 26 sublatis dolis: ohne List, daher offen und ehrlich; die einzige Ausnahme, bei der man sich angesichts des übrigen Fundes aber fragen muss, ob es wirklich eine Ausnahme ist (wenn Vergil in der Aeneis dolus konsequent negativ verwendet, könnte hier auch Kritik anklingen), ist Aen. 8, 393 über die listenfrohe Venus, die wiederum mit Sex den Vulkan dazu bringt, die Waffen des Aeneas zu schmieden. An sich ist diese Stelle unproblematisch, anders Abbot (2000) S. 73ff. Auffällig ist überhaupt, dass doli in den ersten sechs Büchern, dem „Odysseeteil“, häufig sind, dann erst im Schlachtgeschehen in 11 wieder auftauchen. Sobald Radamanthus in Aen. 6, 567 die Listen aburteilt, verschwinden sie eine ganze Weile aus dem Text. 17 ecl. 6, 23 – 26: ille dolum ridens ‚quo uincula nectitis?‘ inquit;/ ‚soluite me pueri; satis est potuisse uideri./ carmina quae uultis cognoscite; carmina uobis,/ huic aliud mercedis erit.‘ Simul incipit ipse. Vgl. Frank Wittchow, Prekäre Gemeinschaften. Inklusives und exclusives Lachen bei Horaz und Vergil, in: Werner Röcke/ Hans Velten (Hgg.), Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter in Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Berlin 2005, S. 85 – 110 mit weiterführender Literatur. Zur Stelle auch Abbot (1997) S. 21. 18 Julus ereilt die List (ars) der Allecto, als er gerade Tiere vermittels insidiis jagt; hier wird das Motiv der sich selbst bestrafenden List (Abbot: self-defeating) wieder aufgenommen (7, 478), d.h. Julus tötet unwissentlich einen zahmen Hirsch, dem er mit Jägerlist nachstellte, und wird dann selbst zum Gejagten, von den weiteren Folgen einmal ganz abge-
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lateinischen Literatur in der Regel negativ konnotiert;19 Vergil mildert dies niemals ab. Aber sogar ars, die ja auch bei Livius für Ränke und Künsteleien verwendet werden kann,20 gerät in einen ungewöhnlich starken Sog negativer Listkonnotationen.21 Einzig consilium erscheint je nach Kontext positiv oder negativ konnotiert, firmiert also als echte vox media. sehen. Michael C. J. Putnam, Aeneid VII and the Aeneid, in: AJPh 91 (1970), S. 408 – 430, zitiert wird der ND in: Michael C. J. Putnam, Essays on Latin Lyric, Elegy and Epic, Princeton 1982, S. 288 – 310, also hier S. 303 (Ein weiterer ND in Michael C. J. Putnam, Virgil’s Aeneid. Interpretation and Influence, Chapel Hill – London 1995, S. 100 – 120). Die Jagd selbst verwandelt sich in der Aeneis von einer Tätigkeit, die der Ernährung dient, zu einer unnötigen Beschäftigung in der Absicht, Beute zu machen bis hin zum Krieg selbst, vgl. Putnam (1982) S. 299. Das exemplifiziert auch Vergils Vorstellung der Zeitalterabfolge und der damit verbundenen negativen Einschätzung der artes (s. folg. Kapitel). 19 Wheeler (1988) S. 63 – 65 (fraus) und S. 65 – 67 (furtum; W. hält es hier allerdings nicht für eindeutig negativ, aber sein eigenes Material belegt doch insgesamt die negative Konnotation); Abbot (1997) S. 34f. (fraus). 20 Z.B. 3, 35, 8. 21 37 Belege in der Aeneis bei Fasciano (1982). P ositiv/neutral: 1, 639: die Wirkkunst im Palast der Dido; 5, 359: ein durch Kunst gefügter Schild; 5, 484: Entellus weiht nach seinem Sieg im Faustkampf seinem Bruder Eryx seine Faustriemen und seine Kunst; 5, 521: Acestes zeigt seine Kunst beim Bogenschießen; 5, 705: Der greise Nautes wurde von Pallas Athene in mancherlei Fertigkeit unterrichtet; 6, 663: wer durch erfundene Künste Kultur gebracht, lebt nach dem Tode bei den Seligen; 6, 852: Die Regierungskünste sind den Römern verheißen; 10, 135: Julus ist unter den kämpfenden Trojanern wie eine kunstvoll (per artem) eingearbeitete Gemme aus Elfenbein; 12, 519: ars für den „Beruf“ (Übers. Emil Staiger) des Fischers (? Jedenfalls legt das der Kontext nahe, der Beruf wird nicht eigens genannt). Negativ: 1, 657: die Listen der Venus mit bekanntem negativem Ausgang; 2, 15: ambivalent die Kunst der Pallas, die das trojanische Pferd erbauen hilft; 2, 106, 152 und 195 (Sinon); 4, 493: magische Künste will Dido nicht; 5, 270: nicht negativ, aber doch fast nutzlos die Schifferkünste des Sergestus; 5, 442: die List des Dares ist am Ende nichts gegen die Gewalt des Entellus; 7, 338: Allecto hat mille nocendi artes; 7, 477: eine weitere List der Allecto; 7, 755: Dem Marruvier Umbro hilft seine Kunst, Schlangenbisse zu heilen, nicht gegen den Speer, der ihn töten wird. Dieser Aspekt der nutzlosen Kunst ist besonders auffällig (Arztkunst), auch Iapyx sieht sich außer Stande, seine Medizin erfolgreich an dem verletzten Aeneas zur Anwendung zu bringen (12, 393, 397, 427). Die Medizin kommt als ars in der Aeneis schlecht weg (anders als in den Georgica, vgl. Jackie Pigeaud, Die Medizin in der Lehrdichtung des Lukrez und des Vergil, in: Gerhard Binder [Hg.], Saeculum Augustum II. Religion und Literatur, Darmstadt 1988, S. 216 – 239): Hippolytos, der durch die Ränke (7, 765 arte) der Phaedra umkommt, wird von Diana und Aeskulap wieder belebt, doch Jupiter straft Aesculap als den Erfinder dieser Heilkunst (7, 772 ipse repertorem medicinae talis et artis); 8, 143: Aeneas beteuert dem Euander, er komme selbst, ohne vorher durch Gesandte oder List (per artem) die Stimmung des Königs zu erforschen. Tatsächlich schlagen aber alle Verhandlungen, die Aeneas nicht anderen überlässt, negativ aus (Tod der Dido, Tod des Pallas; dagegen ist die Gesandtschaft an Latinus zunächst erfolgreich, die Probleme beginnen später); 8, 226: Der verfolgte Cacus wirft einen Stein, der vorher durch die Kunst seines Vaters (arte paterna) Vulkan fest geschmiedet war nach Herakles. Hier wird die Kunst des Gottes etwas fragwürdig, die ansonsten in Buch 8 im Zusammenhang mit den Waffen des Aeneas positiv konnotiert ist (8, 377, 401, 442, 612); Julus schenkt dem Euryalus ein
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Man könnte angesichts dieses Befundes zu dem Schluss kommen, dass ausgerechnet Vergil sich das Thema List einfach gemacht hat und sie in viel eindeutigerer Weise als Livius als unrömisch, ja gar als urgriechisch (Sinon) betrachtet. Dies verkennt aber zwei Entwicklungslinien, mit der der Dichter das Thema moderiert, nämlich die Annäherung an das Griechentum und die Problematisierung der trojanischen Identität. Vergil entwickelt in der Aeneis das Grundthema vom Gewinn einer römischen Identität unter Aufgabe maßgeblicher Anteile der trojanischen.22 Dabei kommt es auch zu einer Integration des Griechischen und der Befriedung des Konfliktes zwischen westlicher und östlicher Reichshälfte im Sinne der augusteischen Schaffung einer Mittelmeerkoine. Dies hat besonders Antonios Rengakos herausgearbeitet:23 Ist etwa Sinon der klassische Vertreter des verschlagenen Griechen, der Troja in den Untergang reißt, so treffen die Trojaner auf der Insel der Kyklopen mit Achaemenides wiederum auf einen bittflehenden Griechen, den sie gleichwohl erretten. Diese neuerliche Gnade müssen sie diesmal aber nicht teuer bezahlen (3, 588ff.).24 Diomedes, der alte Kriegsgegner, weigert sich, gegen die Trojaner in Latium zu kämpfen, und empfiehlt stattdessen, Frieden zu machen (11, 225ff.).25 Aeneas selbst entwickelt sich zu einem zweiten Achilles, der den Turnus erschlägt, wie es einst Hektor ergangen ist.26 Anders ausgedrückt: Der Dualismus perfidia – fides ist nicht einer zwischen Ost und West; im Gegenteil, Aeneas zweifelt an prononcierter Stelle an seiner eigenen fides, nicht an der der Feinde (11, 55): haec mea magna fides? klagt er, weil er den Pallas nicht wie versprochen hat bewahren können. Zum anderen sind es die Trojaner selbst, die sich als verSchwert, das Lycaon mira arte gefertigt hat (9, 304). Es ist ausgerechnet die Vorliebe des Euryalus für schöne Waffen, die sein Schicksal besiegeln wird, denn er lädt sich später zu viele davon als Beute auf (9, 359 – 366, 384f.). 11, 716: Aunus hilft keine Ligurerlist; 11, 760: Arruns, der Camilla töten wird – um dafür selber von Diana getötet zu werden –, ist ihr an List (multa arte) überlegen; 12, 632, 874: Die Kniffe der Juturna, das foedus aufzuhalten und den Turnus zu retten, scheitern; 12, 892: Aeneas fordert Turnus auf, alles zu geben, was er an animi oder ars besitzt. Dies ist der klassische Dualismus von uirtus und dolus, hier als animus und ars. Dieser Beleg könnte neutral zu verstehen sein. Die negativ konnotierten Belege überwiegen, ars ist dann entweder mit List gleichzusetzen oder sie bezeichnet eine nutzlose Kunst, namentlich die Medizin, mit der versucht wird, dem Unausweichlichen ein Schnippchen zu schlagen. 22 Werner Suerbaum, Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1999, S. 135f. 23 Antonios Rengakos, Zum Griechenbild in Vergils Aeneis, in: A & A 39 (1993), S. 112 – 124. Alles in allem zustimmend: Martina Erdmann, Überredende Reden in Vergils Aeneis, Frankfurt am Main – Berlin u.a. 2000, bes. S. 100 – 102. Auch John P. Lynch, Laocoon and Sinon: Virgil, Aeneid 2. 40 – 198, in: Greece & Rome 27 (1980), S. 170 – 179 (ND in: Hardie IV [1999], S. 76 – 84). Alle drei sind sich aber einig, dass Sinon eine negative Figur ist, die als Gegenbild für die Trojaner fungiert (z.B. Lynch [1980] S. 83). 24 Rengakos (1993) S. 118f. 25 Rengakos (1993) S. 123f. 26 Rengakos (1993) S. 121f.
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weichlichte und ehrlose Phryger müssen beschimpfen lassen und die mit der trojanischen Identität gerade auch das verschlagene Wesen abzulegen erst lernen müssen. Das bei Livius von den Griechen und Puniern Erlernte, die Listkompetenz, erscheint bei dem Epiker als ein in Wirklichkeit trojanisches Erbe.27 5.2 Aeneas als amator perfidus Bei einem so bedeutenden Text wie der Aeneis ist es nicht überraschend und vor allem hinlänglich bekannt, dass die Bewertung der moralischen Qualitäten des Haupthelden umstritten ist. Eine gängige Konfliktlinie namentlich im Bereich der Didotragödie ist die Bewertung des Schicksals. Aeneas erscheint gerade in diesem Teil der Aeneis in besonderer Weise als vom Schicksal getriebener und von den Göttern – besonders von seiner Mutter, aber auch von Juno – Gelenkter.28 Gleichzeitig ist es in der Tradition der two-voices-theory üblich geworden, bestimmte auktoriale Zuschreibungen – und sei es schon die der pietas – nicht einfach hinzunehmen und danach zu fragen, ob nicht jenseits der offensichtlichen Handlungslogik eine verborgene zu finden ist, die das Handeln des Haupthelden in einem anderen Licht erscheinen lässt.29 Grundsätzlich scheint die zweite Interpretation, sofern sie nicht in einen willkürlichen Dekonstruktivismus abgleitet, einer einsinnigen Lesart überlegen zu sein und dem Wesen der augusteischen Dichtung insgesamt gerechter zu werden; dennoch ist es notwendig, einen grundsätzlichen, die Positionen abmildernden Hinweis zu geben. Die moralische Beurteilung des Aeneas als Individuum ist möglicherweise für die Römer weniger brisant gewesen als für die moderne Philologie. Gewiss können Römer Werte nur schlecht von ihren Trägern trennen: moribus antiquis res stat Romana uirisque.30 Aber die Römer sind sich immer auch bewusst gewesen, dass Werte kollektiv getragen werden (Cic. rep. 2, 2, 1). Gerade weil Werte nicht abstrakt erscheinen, sondern immer an das Handeln Einzelner gebunden sind, werden sie erst begriffen, wenn man sie sich in der Zusammenschau verschiedener exemplarischer Handlungen bewusst macht. Dahinter tritt eine Individualmoral zurück. Konkret für die Aeneis 27
Rengakos (1993) S. 116: „Vergil (…) zeichnet den in seinen schmerzlichen Erinnerungen versunkenen Aeneas als einen typischen konservativen Römer, man möchte fast meinen, catonischer Observanz. Ist dies Aeneas’ und Vergils letztes Wort über die Griechen in der Aeneis?“ Rengakos zeigt, dass es dies nicht ist (s.o.), und dasselbe gilt m. E. für die Punier. Dennoch wird eben auch das punische Stereotyp zitiert (s.u.). 28 Z.B. Heinze (1915) S. 302. 29 Cecil Maurice Bowra, Aeneas and the Stoic Ideal, in: Greece & Rome 3 (1933/34), S. 8 – 21, ND in: Philip Hardie (Hg.), Virgil. Critical Assessments of Classical Authors. Vol. III, London 1999, S. 204 – 217, 205: „Surely Virgil cannot have thought Aeneas perfect“. 30 Frg. 156 Skutsch.
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gewendet: Aeneas ist Träger der für Vergil zentralen Idee einer römischen Identitätsfindung und als solcher findet sein Handeln innerhalb eines Lernprozesses statt, mit Erfolgen und Rückschlägen. Dies ist unausweichlich und führt nicht notwendig zu einer Verurteilung des pius Aeneas, dessen Fähigkeiten und Mut so zahlreichen labores ausgesetzt sind. Aeneas agiert für das Kollektiv der Aeneaden als der zukünftigen Römer. Gerade hier wird das fatum so bedeutsam: Aeneas steht als Individuum immer gerechtfertigt da unter dem Gesichtspunkt der Sendung, die er für das Kollektiv übernimmt. Gleichzeitig ist er aber ein handelndes Individuum, das fatum als Triebkraft seines Handelns ist für sein jeweiliges Gegenüber, namentlich Dido, bestenfalls im Grundsätzlichen, aber nicht im Besonderen erkennbar.31 Die Aeneas gegenübertreten, bewerten sein Handeln, und diese Lizenz der vergilischen dramatis personae darf sich auch der Interpret erteilen, sofern er sie nicht absolut setzt. Es wird daher im Folgenden die Handlungslogik der DidoTragödie betrachtet, ohne sie vorschnell mit der Sendung Roms zu semantisieren. Vergil hat in gewisser Weise eine solche offene Lesart seines Kunstwerkes selbst inszeniert und damit lizensiert. Als Aeneas in Karthago landet, sieht er als erstes Gebäude der neuen Stadt den Junotempel, auf dessen Fries der trojanische Krieg dargestellt ist. Es ist diese Darstellung der Kämpfe in seiner Vaterstadt, die Aeneas das erste Mal das Gefühl der Zuversicht gibt, hier gastlich aufgenommen zu werden, und nicht etwa die aufmunternden Worte seiner Mutter (1, 450 – 452): Hoc primum in luco noua res oblata timorem leniit, hic primum Aeneas sperare salutem ausus et adflictis melius confidere rebus. Aeneas meint zu beobachten, dass das Kunstwerk in gerechter und unparteiischer Weise die im Krieg geleisteten Taten belohnt und in umfassender, fast humanistischer Weise Mitgefühl für das menschliche Sein verrät (1, 461f.): (…) sunt hic etiam sua praemia laudi sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt. Dagegen ignoriert er völlig den generellen Rahmen dieser Darstellung, den Umstand nämlich, dass es sich um eine Ehrung der Göttin Juno handelt, mithin eine Sichtweise des Geschehens gegeben ist, die eindeutig die Per31
Dazu Ernst A. Schmidt, Vergils Aeneis als augusteische Dichtung, in: Jörg Rüpke (Hg.), Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik, Stuttgart 2001, S. 65 – 92, 87ff. Wenig ergiebig: Swantje Heil, Spannungen und Ambivalenzen in Vergils Aeneis. Zum Verhältnis von menschlichem Leid und der Erfüllung des fatum, Heidelberg 2001.
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spektive des Siegers einnimmt.32 Aeneas’ Verhältnis zu den bildenden Künsten wird von Vergil überhaupt in eigentümlicher Weise gezeichnet. Er pendelt zwischen kreativem Missverstehen und nutzloser Kontemplation. Die Darstellung auf seinem Schild versteht er nicht, schultert aber gleichwohl, ohne es zu wissen, die gesamte römische Geschichte – mit Erfolg. Die Darstellungen auf den Flügeltüren des Apollotempels in Cumae mit ihren Darstellungen von List und Verstrickung (unter anderem hat der Künstler Daedalus sein eigenes Labyrinth abgebildet33) ziehen Aeneas derart in ihren Bann, dass Achates und die Priesterin Deiphobe ihn erst eindringlich an seine Pflichten erinnern müssen (6, 14 – 41). Auch im ersten Buch wird Aeneas als in das Kunstwerk versunken dargestellt, mit durchaus kritischen Untertönen (1, 464): sic ait atque animum pictura pascit inani. Er ist hier sowohl in selbstvergessener Weise versunken als auch in kreativer und erfolgreicher Weise unverständig, denn seine reduktionistische Interpretation des Tempelfrieses wird durch die freundliche Aufnahme bei Dido schließlich doch gerechtfertigt. Gleichwohl sollte der Hinweis nicht übersehen werden, dass Vergil hier eine Kommunikationssituation schafft, die prekär ist, weil sie das Selbstbezogene der Außenwahrnehmung des Aeneas betont. Tatsächlich geht es in den Gesprächen (und Erzählungen), die Aeneas mit Dido führt, sehr stark um diesen Aspekt einer Kommunikation, die als künstlerische Repräsentation (der Held spricht wie der Dichter) auftritt,34 als solche aber inanis ist wie die Bilder am Junotempel, denn die Fakten, die geschaffen werden, folgen einer ganz anderen Logik. 32
Peter J. Holliday, The Origins of Roman Historical Commemoration in the Visual Arts, Cambridge 2002, S. 214: „Virgil may once again reveal his ironic, if not subversive, amusement in placing paintings commemorating Greek rather than Trojan victory on a temple to Juno, the goddess who hounded Aeneas, the ancestor of the imperial patron.” Vgl. auch Holzberg (2006) S. 144. Holliday betont auch sonst immer wieder die verschiedenen Rezeptionshaltungen der Römer gegenüber historischen Monumenten in Rom. Außer Acht lässt dies z.B. Robert D. Williams, The Pictures on Dido’s Temple, in: Stephen J. Harrison (Hg.), Oxford Readings in Vergil’s Aeneid, Oxford – New York 1990, S. 35 – 45 (ursprgl. in: CQ 10 [1960], S. 145 – 151). Zum Umstand, dass die Betrachtung von Kunst (also die Bilder am Junotempel) den Schmerz zugleich intensiviert und in eine Form gießt, bereits Adam Parry, The Two Voices of Virgil’s Aeneid, in: Hardie III (1999), S. 49 – 64 (ursprgl. in: Arion 2 [1963], S. 66 – 80), S. 63f. 33 Das Labyrinth wird in der Aeneis immer von seinem listig-verschlagenen Charakter her verstanden, vgl. Abbot (1997) S. 142 – 145; Abbot (2000) S. 69ff. Aen. 7, 282 verwendet daedala für die listige (Servius: ingeniosa) Circe (Robert D. Williams, Aeneid VII – XII, Bristol 1996 [ND von London 1973], S. 186f.). Der Begriff ist hier negativ konnotiert, denn Circe hat das Geschlecht der Rosse, die Latinus hier dem Aeneas schenkt, durch heimliches Unterschieben einer sterblichen Pferdemutter für die Rosse ihres Vaters Sol erschaffen (7, 283: supposita de matre nothos furata creauit). 34 Das Doppelsinnige der Rolle des Aeneas als Handelnden und Erzählers behandelt auch Charles Segal, Art and the Hero: Participation, Detachment and Narrative Point of View in the Aeneid, in: Hardie III (1999), S. 42 – 58 (ursprgl. in: Arethusa 14 [1981], S. 67 – 83), z.B. S. 54: „ambiguity of Aeneas between narrator and participant“.
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Diese Logik ist die der List. Aeneas nähert sich der Dido zunächst durch eine Wolke verhüllt und ist für sie nicht sichtbar (1, 411 – 414, 516).35 Erst als seine Gefährten von Dido die Einladung an die Trojaner erhalten haben, sich in ihrem Reich niederzulassen – sodass Aeneas also bereits von Anfang an von den seiner Sendung zuwiderlaufenden Wünschen der Königin unterrichtet ist –, geben er und Achates sich zu erkennen (1, 586f.). Als sie dann noch freundlicher von Dido aufgenommen werden, lässt Aeneas auch nach Ascanius schicken. Doch dies verhindert ohne Not seine Mutter Venus und ersetzt den Enkel Julus durch den Sohn Cupido/Amor.36 Julus selbst wird diesem Geschehen ganz entrückt; er schläft und ist in die Intrige nicht eingeweiht (1, 680 – 688). Durch diese Ersetzung des Julus geschehen zwei Dinge: Die Ereignisse werden erotisiert und Aeneas erhält selbst eine Art trojanisches Pferd, das er in die Mauern Karthagos bringt. Das ist umso auffälliger, als seine eigene Erzählung, in der er seinen Status als Vertriebener bekräftigt, mit der List des Sinon einsetzt, die das echte trojanische Pferd bei den Trojanern einführt. Sinon selbst ist zwar keine Erfindung des Vergil gewesen, wohl aber doch die Rolle, die er in der Aeneis spielt.37 Vergil begnügt sich nicht mit der List, die das Danaergeschenk schon in seiner materialen Präsenz bedeutet. Sinon erscheint so als eine moralisch verdunkelte Doublette des Aeneas selbst;38 wie Aeneas ist er ein Bittflehender, dem aufgrund des bezeugten Verlustes seiner Heimat (2, 137: nec mihi iam patriam antiquam spes ulla uidendi) Aufnahme in das Volk derer angeboten wird, zu denen er sich scheinbar flüchtet (2, 148f.: quisquis es, amissos hinc iam obliuiscere Graios/ noster eris). Während das trojanische Pferd die gut umbaute Stadt Troja vernichten wird, sorgen die Erzählungen des Aeneas und die Gegenwart Amors in Gestalt des Julus für ein Innehalten beim Aufbau der Stadt Karthago.39 Der Unterschied zwischen Sinon und Aeneas besteht freilich in der individuellen Absicht. Das Verhalten Sinons ist von berechnender List geprägt und dies wird von Vergils auch immer wieder 35
Riggs Alden Smith, The Primacy of Vision in Virgil’s Aeneid, Austin 2005, S. 29. Zu den Täuschungen der Venus bei dieser Gelegenheit vgl. Smith (2005) S. 28 – 33. 37 Hans von Geisau, Sinon, in: Der Kleine Pauly 5 (1979), Sp. 208f.; Heinze (1915) S. 8 Anm. 2 sah auch die Trugrede, natürlich nicht dem Inhalte nach, bereits in der vorvergilischen Tradition. Kurze Zusammenfassung der literarischen Vorläufer und Theorien zu Sinon jetzt auch bei Nicholas Horsfall, Virgil, Aeneid 2. A Commentary, Leiden – Boston 2008, S. 93 – 95. 38 Vgl. dazu auch John Kevin Newman, The Classical Epic Tradition, Madison (Univ. Wisconsin) 2003, S. 161. Sarah Spence, Varium et Mutabile. Voices of Authority in Aeneid 4, in: Christine G. Perkell (Hg.), Reading Vergil’s Aeneid. An Interpretive Guide, Norman 1999, S. 80 – 95, S. 87. 39 4, 77 – 89. Siehe bes. 88f.: (…) pendent opera interrupta minaeque/ murorum ingentes aequataque machina caelo. Die machina, die an den Himmel reicht, evoziert das trojanische Pferd, das Vergil mehrfach als machina bezeichnet: 2, 46; 2, 151; 2, 237. Ansonsten kommt das Wort in der Aeneis nicht mehr vor. 36
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deutlich gemacht.40 Allerdings erstreckt sich der Vorwurf des dolus, der im zweiten Buch der Aeneis immer wieder im Zusammenhang mit der List des trojanischen Pferdes an die Adresse der Griechen gerichtet wird, eben auch auf die Hintermänner des Sinon, also auf Odysseus im Besonderen und das griechische Heer im Allgemeinen.41 In diesem Punkt bereits unterscheiden sich Aeneas und Sinon kaum; das Verhalten der Venus wird von Juno ebenfalls als List erkannt und mit einer ebensolchen beantwortet.42 Die Kräfte, die hier wirken, sind die der Verstellung und des Betrugs, unabhängig von der Willensfreiheit und den Absichten ihres menschlichen Agenten, des Flüchtlings Aeneas. Die Unterscheidbarkeit von Sinon und Aeneas wird bezüglich der List auch und gerade dann noch schwieriger, wenn wir an diesen Punkt Abbots generelle These herantragen, dass es in Rom, ausgehend vom römischen Recht, mit allfälligen Reflexen auch in nicht-juristischer Literatur, einen Wechsel von einer Gesinnungs- hin zu einer Verantwortungsethik gegeben habe (der aber so umfassend nicht war, wie Abbot ihn zeichnet43), die den dolus malus nicht von ihrer Intention her, sondern von ihrer Wirkmächtigkeit her begreift: „So, for instance, does it matter if Aeneas did not intend to deceive Dido?“44 Am Ende steht das Schicksal der Karthager und das der Trojaner parallel da: Langfristig wird aufgrund der „List“ des Aeneas – wenn wir sie als List der julischen Stammmutter Venus bezeichnen, müssen wir sie nicht einmal in Anführungsstriche setzen – das Schicksal Karthagos besiegelt, so wie das trojanische Pferd in Kombination mit der Trugrede des Sinon Ilion in den Staub tritt. Eine Eigenschaft aber hat die List des Aeneas, worin sie sich 40
Z.B. 2, 195 – 198: Talibus insidiis periuri arte Sinonis/ credita res, captique dolis lacrimisque coactis/ quos neque Tydides nec Larisaeus Achilles,/ non anni domuere decem, non mille carinae. Vgl. auch Clemens Zintzen, Die Laokoonepisode bei Vergil, Wiesbaden 1979, S. 64. Zu Tränen als Mittel der List vgl. Kapitel 6 den Abschnitt zu Tereus und Procne. 41 Aen. 2, 57 – 66. Sinons Tat entspricht auch der eines Mucius Scaevola. Er ist ein iuuenis (57), der bereit ist entweder zur List oder zum Tode (62: seu uersare dolos seu certae occumbere morti). Ein solches Husarenstück sieht natürlich anders aus, wenn Römer es von Römern berichten, als wenn man Opfer einen solchen Tat wird. Abbot (1997) S. 128. Ders. (2000) S. 77. 42 Interessant auch Abbot (1997) S. 26 zu „1. 673 – 74, which equates Venus’ deception of Dido with the capture of a city (‚capere ante dolis et cingere flamma/ reginam meditor‘).“ 43 Hier entfaltet die Arbeit von Behrends (1982) ihre Stärken, der für die fraus legis, die zum gleichen Umschwung im spätrepublikanischen Rechtsdenken gehört, deutlich macht, dass man mit Richtungsstreitigkeiten innerhalb der juristischen Experten zu rechnen hat, die gerade am Anfang des Prinzipats zum Teil wieder zu Rückbesinnungen auf alte Rechtspraktiken geführt haben (S. 99). 44 Abbot (1997) S. 137f. Umso überraschender ist es, dass Abbot (S. 128) diese Beobachtung nicht auf die Ich-Erzählung des Aeneas selbst bezieht: „In Book 2 of the Aeneid, the hero’s voice is the voice of the deceived.“ Wieder stößt man an die Grenzen von Abbots Ansatz, mit dem er die Privilegierung der Perspektive des Getäuschten seit dem Ende der Republik belegen will. Aeneas und Sinon unterscheiden sich durch die Intention, weniger durch ihr Handeln.
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deutlich von der des Sinon unterscheidet: Sein Vorgehen in Karthago ist durch die hinter ihm waltenden Kräfte der Venus und des Amor von Anfang an erotisiert. Dies überrascht nicht, wenn man den Konflikt Karthago – Rom in seiner Parallele zu dem zwischen Griechenland und Troja sieht, denn auch dieser generiert aus einem erotischen Sujet, dem Parisurteil und dem Raub der schönsten Frau der Erde. Dennoch ist diese Wahl des Sujets keineswegs unausweichlich, wenn man bedenkt, dass innerhalb (und außerhalb) der Aeneis die Venus allmählich als Stammmutter der gens Iulia etabliert und als solche enterotisiert wird.45 Am Ende von Vergils Epos tritt sie als Heilerin ihres Sohnes auf.46 Tatsächlich aber zeigt Venus in der Aeneis immer beide Gesichter, die der Stammmutter und die der Liebesgöttin. Die Beziehung zwischen Aeneas und Dido ist häufig unter dem Gesichtspunkt ihrer Orientierung an der Tragödie untersucht worden.47 Meines Erachtens sind aber die Bezüge zur römischen Liebeselegie mindestens ebenso auffällig und eindeutig.48 Aeneas erscheint als amator passiv und hilflos und der Anleitung bedürftig. Damit geht es ihm genauso wie dem elegischen Ich. Darauf wird im Folgenden noch einmal genauer eingegangen werden. Zentral für die Darstellung der Beziehung zwischen Aeneas und Dido aber sind drei Aspekte: Rhetorik als Mittel des Mannes, sich der Frau anzunähern, wechselseitige List als Ausfluss dieser rhetorischen Kommunikation und Unbeherrschtheit49 der Frau im Umgang mit dem Liebenden. Die Logik des Geschlechterverhältnisses, so wie sie in der Liebeselegie entwickelt wird, hat auch sonst auf die augusteische Literatur jenseits der Gattungsgrenzen ausgestrahlt und z.B. in Livius’ Darstellung vom Raub der Sabinerinnen Einzug gehalten (1, 9, 16): 45
Antonie Wlosok, Die Göttin Venus in Vergils Aeneis, Heidelberg 1967, S. 109. Wlosok ignoriert aber die Entwicklung der Venus-Gestalt und kommt daher auf die erotische Seite der Göttin, die ganz offensichtlich in den Dido-Büchern zu beobachten ist, nicht zu sprechen. 46 Julia Hawkins, The Ritual of Therapy: Venus the Healer in Virgil’s Aeneid, in: Barchiesi/ Rüpke/ Stephens (2004), S. 77 – 97. 47 Heinze (1915) S. 119; Norman Wentworth De Witt, The Dido Episode in the Aeneid of Virgil, Chicago (Diss.) 1907 (besonders Kapitel 4); Eckard Lefèvre, Dido und Aias. Ein Beitrag zur römischen Tragödie, Mainz 1978 (Abhandl. Akad. Wiss. Geist. Soz. Klass. 1978 [2]); Antonie Wlosok, Vergils Didotragödie. Ein Beitrag zum Problem des Tragischen in der Aeneis, in: Herwig Görgemanns/ Ernst A. Schmidt (Hgg.), Studien zum antiken Epos, Meisenheim am Glan 1976, S. 228 – 250 (ND engl. The Dido Tragedy in Virgil: A Contribution to the Question of Tragic in the Aeneid, in: Hardie IV [1999], S. 158 – 181). 48 Holzberg (2006) S. 150 nennt sie, beide Bezüge berücksichtigend, ein „elegisches Drama“, seine Deutung versteht aber die Dido als Äquivalent des männlichen elegischen Ichs (z.B. S. 151f.). 49 Suerbaum (1999) S. 215 bemerkt diesen Umstand (Unbeherrschtheit der Dido), führt ihn aber merkwürdigerweise nicht auf die Frauenstereotype der Römer zurück, sondern fragt nach persönlichen Einstellungen des Vergil – um dann festzustellen, dass man zu wenig von ihm weiß, um die Frage seriös zu beantworten.
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Accedebant blanditiae uirorum, factum purgantium cupiditate atque amore, quae maxime ad muliebre ingenium efficaces preces sunt. Die Männer belegen vordergründig ihre angeblichen guten Absichten, indem sie ihr Angebot einer richtigen Ehegemeinschaft an die geraubten Frauen erneuern. Die Männer erreichen nach der Aussage des Historikers am meisten (also mehr als durch die staatstragende Rede des Romulus) bei den Frauen durch Schmeicheln und Bitten. Die Beteuerungen der Männer betonen zunächst die Begierde (cupiditas) und erst dann die Liebe (amor). Insgesamt erscheinen die männlichen Schmeicheleien als dem weiblichen Gemüt genau angepasst. Liebe und Lust gehören in dieser Sichtweise ganz der Frau, die Männer dagegen täuschen diese Gefühle nur vor. Dadurch gerät auch hier etwas Rhetorisches in den Liebesdiskurs, Livius bezieht diese Qualität vermutlich aus der zeitgleich entstandenen Liebeselegie.50 Die Besonderheiten dieser Gattung werden im folgenden Unterkapitel noch einmal vor Augen geführt; es reicht für diesen Zusammenhang, darauf hinzuweisen, dass das elegische Ich sich zwar vordergründig im Rahmen des seruitium amoris seiner domina ganz unterwirft, faktisch aber seine Ziele nur durch dolus erreichen kann, weil die Geliebte sich meist schon in einem anderen Verhältnis befindet; ferner wird sein eigenes listiges Verhalten für die Frau Vorbild, um ihrerseits den Elegiker zu hintergehen, sobald es ihr gut scheint. Die zur domina erklärte Geliebte kann ihre dominante Rolle nicht verantwortlich ausfüllen und bestätigt auch in der Liebeselegie letztlich das überkommene Frauenbild der Männer, nach dem die Frau von muliebris impotentia gekennzeichnet ist. Auch dieses Verhältnis findet sich in der Aeneis gespiegelt: Dido hat in Sychaeus einen legitimen uir, sogar einen coniunx, an den sie sich, dem Ideal der uniuira verpflichtet, sogar nach seinem Tod noch gebunden fühlt (4, 15 – 30) und der durch das Verhältnis mit Aeneas hintergangen wird (4, 552). Dieses Motiv erscheint noch bedeutsamer, gerade weil es durch die Witwenschaft eigentlich unnötig ist. Ferner ist Dido eben eine Königin, während Aeneas als bittflehender Flüchtling auftreten muss – in besonderer und doch gleichzeitig prekärer Weise einzig durch Venus und Amor geschützt. Dieses Machtgefälle zu seiner domina erlebt das elegische Ich kaum anders. Die im Rhetorischen angesiedelte List, mit der Aeneas sich der Dido nähert, wird schließlich durch ausdrückliche Hintergehungslisten des Aeneas fortgesetzt 50 Wilfried Stroh, Die römische Liebeselegie als werbende Dichtung, Amsterdam 1971. Wilfried Stroh, Rhetorik und Erotik. Eine Studie zu Ovids liebesdidaktischen Gedichten, in: WJ N.F. 5 (1979), S. 117 – 132. Sicherlich betont Stroh (S. 131) mit Recht, dass das Rhetorische in geballter Form erst bei Ovid in die Liebesdichtung geraten ist, dennoch ist es ein Zug der gesamten Gattung. Vgl. dazu auch Diana Bormann/ Frank Wittchow, Einleitung, in: Diana Bormann/ Frank Wittchow (Hgg.), Emotionalität in der Antike. Zwischen Performativität und Diskursivität. FS Christes, Berlin 2008, S. 9 – 33, 21.
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(4, 291ff.); gleichzeitig wird Aeneas, als er seine Abfahrt regelt, vor der List der Dido gewarnt (4, 563). Sachlich scheint diese Warnung nicht gerechtfertigt zu sein; zwar wendet die Königin am Ende tatsächlich Listen an, aber diese zielen nicht darauf, Aeneas an sich zu binden oder ihn zu hintergehen (zwei gegenläufige Optionen der Liebeselegie), sondern darauf, ihren eigenen Untergang vor ihrem Umfeld verborgen zu halten und durchführen zu können (4, 675). Dennoch zitiert Vergil durch die von Hermes vorgebrachte Warnung vor der weiblichen List die Logik der Liebeselegie, nach der List mit Gegenlist beantwortet wird. Diese Organisation der Didotragödie mit den Mitteln der Liebeselegie hat bestimmte Konsequenzen für das Verhältnis der List zum römischen Nationalcharakter, so wie ihn Vergil versteht. Bleiben wir ganz bei der Beobachtung Abbots, dass die List in der Aeneis immer zum Scheitern verurteilt ist, sich regelrecht selbst bestraft, könnte man ja zu dem Schluss kommen, dass Vergil hier keine Entwicklung zeichnet, wie Livius es etwa tut, und dass für ihn letztlich die Frage nach dem Zusammenhang von List und Handeln immer schon in einer Mischung aus Pragmatik (es funktioniert nicht) und Moral (nur Griechen lügen51) beantwortet ist. Dies aber ist nicht der Fall. Die Geschichte des Aeneas bei Dido ist auch die Geschichte eines Beinahe-sich-Verligens. Dem Aeneas ist sein passives und inkonsequentes Verhalten gegenüber Dido ja immer wieder zum Vorwurf gemacht worden;52 bisweilen wird er durch die Kräfte entschuldigt, die von außen auf ihn wirken, namentlich das fatum.53 Vor diesem Hintergrund ist seine schnelle Abreise von der zudringlichen Königin sogar positiv bewertbar, weil Aeneas keinen Konflikt erlebt, sobald er sein fatum erkennt. Dies ist auch in der Tat so. Aber Aeneas, auch dies ist immer wieder bemerkt worden, braucht doch aufs Ganze gesehen eine Reihe von Anstößen, um seinem fatum zu folgen, und wächst erst allmählich in die Rolle des Anführers seines Volkes hinein. Der Aufenthalt in Karthago bedeutet vor diesem Hintergrund einen Tiefpunkt und damit zugleich eine Peripetie für die Identität des Helden. Der Liebeselegiker ist passiv und sowohl nach dem überkommenen, besonders aber dem von Augustus initiierten Ideal römischer Männlichkeit verweichlicht (effeminatus). Genau das aber ist der Vorwurf, mit dem die Trojaner immer wieder konfrontiert werden. 51 Zweimal wird das Verhalten des Sinon als ars Pelasga bezeichnet (1, 106, 152); ferner 1, 65 als insidiae Danaum; 1, 252 dann (nicht nur auf Sinon) als doli Myrmidonum. 52 Michael C. J. Putnam, The Hesitation of Aeneas, in: Michael C. J. Putnam, Virgil’s Aeneid. Interpretation and Influence, Chapel Hill – London 1995, S. 152 – 171, 160. Holzberg (2006) S. 159 – 164. Umso erstaunlicher, dass Holzberg den Aeneas nicht mit dem elegischen Ich vergleicht. Es ist sicherlich korrekt, dass die Emotionalität der Dido eher der des lyrischen Ichs in der Elegie entspricht; aber dies doch erst nach dem Rollentausch, als Aeneas wieder männlich agiert! 53 Zu dieser Problematik auch Zintzen (1979) S. 57f. Sehr allgemein Heinze (1915) S. 331.
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Als die Rutuler Feuer an die Schiffe der Trojaner legen und die phrygische Kybele diese in Meeresnymphen verwandelt, beruhigt Turnus seine erschrockenen Mitstreiter (9, 140 – 158):54 sed periisse semel satis est: peccare fuisset ante satis, penitus modo non genus omne perosos femineum. quibus haec medii fiducia ualli fossarumque morae, leti discrimina parua, dant animos; at non uiderunt moenia Troiae Neptuni fabricata manu considere in ignis? Sed uos, o lecti, ferro qui scindere uallum apparat et mecum inuadit trepidantia castra? Non armis mihi Volcani, non mille carinis est opus in Teucros. addant se protinus omnes Etrusci socios. Tenebras et inertia furta Palladii caesis late custodibus arcis ne timeant, nec equi caeca condemur in aluo: luce palam certum est igni circumdare muros. haud sibi cum Danais rem faxo et pube Pelasga esse ferant, decimum quos distulit Hector in annum. nunc adeo, melior quoniam pars acta diei, quod superest, laeti bene gestis corpora rebus procurate, uiri, et pugnam sperate parari. Turnus vergleicht hier das Verhalten der Trojaner mit dem der Griechen und setzt sie noch hinter diese zurück. Die Griechen waren gezwungen, gegen die Trojaner zur List zu greifen, weil sie diese nicht besiegen konnten, die Rutuler dagegen haben solche Mittel nicht nötig und versprechen die pugna iusta; Turnus benötigt, anders als Aeneas, nicht die Hilfe von göttlichen Waffen und kritisiert überhaupt die Argumentation der Aeneaden mit dem fatum und die Rolle, die Venus nun schon zweimal im Zusammenhang mit einem Frauenraub – dem der Helena und jetzt dem der Lavinia – gespielt habe. Damit reduziert er die Trojaner auf das Bild der verweichlichten und treulosen Phryger. Hier wird in der Tat ein Motiv aufgegriffen, das in ähnlicher Form bei Livius begegnet: Die Römer können immer nur so gut sein wie ihre Feinde (und umgekehrt): Gegen den listigen Hannibal mussten die Römer selbst Listen einsetzen (Ab Urbe Condita); im Konflikt zwischen Griechen und Trojanern lernen zunächst die Trojaner von den Griechen (Aeneis), was listiges Kämpfen bedeutet; als Nächstes sind es tatsächlich die Karthager unter Dido, die an Aeneas lernen müssen, was es heißt, einen listigen Gegner zu haben, worauf Dido selbst listig handelt (tatsächlich agiert Dido erst mit List, nachdem Aeneas seine heimlichen Abreisepläne in 54
Vgl. dazu unten Kapitel 6.
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Angriff nimmt55). Die fraus Punica erscheint so als Erfahrungswissen, das mit Aeneas erworben wurde56 (von dem sich ja auch in einem Teil der vorvergilischen Überlieferung erzählt wurde, er sei nichts weiter als ein griechischer Kollaborateur gewesen und habe nur deshalb den Fall Trojas überlebt.57 Es wäre typisch für Vergil, dies in dieser sublimen Weise zu verhandeln und taktvoll anzuzitieren). Es ist tatsächlich Turnus, der diesen circulus vitiosus von List und Gegenlist durchbricht, indem er listiges Verhalten als Antwort auf – vermeintliche oder wirkliche – trojanische List verweigert.58 Am Schluss mündet der Konflikt in die Kampffigur, die den Römern als Sinnbild der pugna iusta schlechthin gilt: den Zweikampf der beiden Anführer, den die Schwester des Turnus vergeblich zu stören versucht. Nun, da die Männer sich beide zum offenen Zweikampf einfinden, bleibt die einzige List des Feindes die einer Frau. Die Trojaner machen im Konflikt mit den Rutulern eine Entwicklung durch, die ihre trojanische Identität im Zusammenschluss mit der latinischen in die römische aufgehen lässt. Dabei erzählt Vergil keine reine Verlustgeschichte. Es handelt sich auch um die Aufgabe des als weibisch perhorreszierten Phrygischen.59 Sie vollzieht sich an Aeneas, dieser selbst aber ist ein Mann des Übergangs, er hat beide Seiten in sich. In der Dido-Episode trägt er die Züge des elegischen Antirömers, der den Kriegsdienst zugunsten eines 55
Und diese List bezieht sich eigentlich nur auf ihren Selbstmord, den sie vor ihrer Schwester Anna geheim hält (4, 675 von dieser als fraus bezeichnet). Tatsächlich warnt Merkur im Traum den Aeneas vor den Listen der Dido (4, 563), doch solche, die gegen die Trojaner gerichtet wären, gibt es gar nicht. Man könnte allenfalls das Handeln der Juno mit dem der Venus vergleichen, doch auch dieses ist eine Reaktion auf die List der Venus, begonnen hat also in jedem Falle die trojanische Partei (4, 90 – 128). 56 Als Dido sich schließlich in allen ihren Hoffnungen getäuscht sieht, erinnert auch sie sich an den eigentlich schlechten Ruf der Trojaner (4, 541f.): nescis heu, perdita, necdum/ Laomedonteae sentis periuria gentis? Vgl. auch Gerhard Binder, Erläuterungen zum AeneisText, in: Gerhard Binder u.a., Dido und Aeneas. Vergils Dido-Drama und Aspekte seiner Rezeption, Trier 2000, S. 113 – 142, 129 mit Hinweis auf Horaz c. 3, 3, 26 und die Tradition des meineidigen Troja. Devallet (1996) besonders S. 21 – 24 weist nach, dass in der DidoEpisode die Hauptcharakteristika, mit denen in der römischen Literatur die Karthager perhorresziert werden (calliditas, crudelitas, perfidia), von Vergil alle dem Aeneas zugeschrieben werden. 57 Richard F. Thomas, Virgil and the Augustan Reception, Cambridge 2001, S. 71 – 73. Die Verse 41 – 44 des Carmen saeculare (cui per ardentem sine fraude Troiam/ castus Aeneas patriae superstes/ liberum muniuit iter, daturus/ plura relictis) wurden z.T. als direkte Negation dieser aeneasfeindlichen Fassungen gelesen. 58 Erst als die Lage der Rutuler auf militärischem Gebiet immer auswegloser wird, legt er den Trojanern einen Hinterhalt, aber dies ist keine „griechische“ List, die mit Lüge und Verstellung operiert, sondern ein militärischer Hinterhalt (der im Übrigen von Vergil nur angekündigt, aber narrativ gar nicht ausgeführt wird. Der Leser kann die anschließenden Kämpfe nicht als Hinterhalt erkennen, es gibt, wie die ganze Zeit über, nur eine offene Feldschlacht). Vgl. dazu unten Kapitel 6. 59 Holzberg (2006) S. 201f.
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seruitium amoris aufzugeben im Begriffe ist. Er arbeitet sich durch uirtus und labor aus diesem Stadium wieder heraus,60 droht aber immer wieder, in lähmende Resignation zu verfallen – zum letzen Male noch im 12. Buch, als er trotz der Heilung durch Venus an seiner fortuna verzweifelt. Die Metamorphose vom Trojaner zum Römer vollendet sich erst in der kommenden Generation: in Julus.61 Julus hat von der erotischen List, mit der sich Aeneas bei Dido Einlass verschafft hat, nichts mitbekommen, Venus hatte ihn schlafend entrückt, ne qua scire dolos (…) possit (1, 682). Er ist es auch, der dem Numanus Remulus die rechte Antwort zu geben weiß und ihn mit einem Pfeilschuss tötet,62 als dieser die Trojaner – ganz ähnlich und eher noch drastischer als sein Schwager Turnus – als verweichlichte, zweimal besiegte Trojaner beschimpft.63 Apollon muss den Knaben zur Zurückhaltung mahnen, weil seine Rolle sich erst später erfüllt. Im Gegensatz zu seinem Vater aber trägt Julus das römische Ethos schon von Kindesbeinen an in sich, er hat keine phrygische Identität.
60 Aen. 12, 435. Ich habe mich zu dem gesamten Komplex, dem Verhältnis Julus und Aeneas und den ihnen zugeordneten Werten und Tugenden, in Wittchow (2005a) geäußert. Vgl. jetzt auch Holzberg (2006) S. 200 – 210. Zur Aufgabe der effeminierten phrygischen Identität in der Didogeschichte: Holzberg (2006) S. 160f. 61 Einschlägig für den Initiationsaspekt der vergilischen Jünglingsgestalten im Allgemeinen und die spes gentis, die auf Julus ruht: Mark Petrini, The Child and the Hero. Coming of Age in Catullus and Vergil, Ann Arbor 1996, passim und S. 11: „The successes and failures of Euryalus, Pallas, Lausus, and Iulus inevitably define the world of Vergil’s epic (…).“ Zu Julus besonders S. 108. Vgl. auch Philip Hardie, Virgil. Aeneid. Book IX, Cambridge 1994, S. 153 zu Nisus und Euryalus, S. 185 – 213 zu Julus. 62 Gregor Maurach, Der Pfeilschuß des Ascanius. Zum 9. Buch der Aeneis, in: Gymnasium 75 (1968), S. 355 – 370 (ND in: Hardie IV [1999], S. 322 – 335, bes. S. 331), jedoch mit einer Beurteilung, die Aeneas als dem Julus überlegen darstehen lässt. Dazu Suerbaum (1999) S. 194f. (auch zu Jarbas, Aen. 4, 206ff.). 63 Aen. 9, 598 – 620: non pudet obsidione iterum ualloque teneri,/ bis capti Phryges, et morti praetendere muros?/ en qui nostra sibi bello conubia poscunt!/ quis deus Italiam, quae uos dementia adegit?/ non hic Atridae nec fandi fictor Vlixes:/ durum a stirpe genus natos ad flumina primum/ deferimus saeuoque gelu duramus et undis;/uenatu inuigilant pueri siluasque fatigant,/ flectere ludus equos et spicula tendere cornu./at patiens operum paruoque adsueta iuuentus/ aut rastris terram domat aut quatit oppida bello./ omne aeuum ferro teritur, uersaque iuuencum/ terga fatigamus hasta, nec tarda senectus/ debilitat uiris animi mutatque uigorem:/canitiem galea premimus, semperque recentis/ comportare iuuat praedas et uiuere rapto./ uobis picta croco et fulgenti murice uestis,/ desidiae cordi, iuuat indulgere choreis,/ et tunicae manicas et habent redimicula mitrae./ o uere Phrygiae, neque enim Phryges, ite per alta/ Dindyma, ubi adsuetis biforem dat tibia cantum./ tympana uos buxusque uocat Berecyntia Matris/ Idaeae; sinite arma uiris et cedite ferro. Nicholas Horsfall, Numanus Remulus: Ethnography and Propaganda in Aeneid 9.598ff., in: Harrison (1990), S. 305 – 315, bes. S. 313 unten.
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5.3 Auf der Suche nach der verlorenen List: Die Liebeselegiker Die Entwicklung des Aeneas ist (auch) eine prekäre Passage vom iuuenis, der unter der Ägide seines Vaters agiert, zum senex, der selbst führen muss. Noch im 12. Buch der Aeneis droht er, vom Pfeilschuss verwundet, wieder in lähmende Resignation zu verfallen, tötet dann in jugendlicher impotentia seinen bittflehenden Gegner – aus Rache für einen anderen iuuenis, den gefallenen Pallas. Dies ist jedenfalls eine Möglichkeit, den schwierigen Schluss zu verstehen. Die Problematik einer Jugend, die nicht zu ihrer Rolle im Alter findet, spielt in der augusteischen Literatur eine zentrale Rolle und findet ihren Niederschlag besonders in der römischen Liebeselegie. Die List erscheint dabei als ein zentrales signum der Jugend; als solches firmierte es, wie wir gesehen haben, bereits in der Komödie, namentlich in der des Terenz. In der Liebeselegie aber, die das augusteische Zeitalter einleitet und mit ihm endet, wird das strategemische Potential des jungen Mannes in charakteristischer Weise problematisiert. 5.3.1 Elegie und Komödie64 Das Verhältnis von Komödie und römischer Liebeselegie ist immer wieder untersucht worden.65 Obwohl viele Elemente der Komödie in der Liebese64
Das Folgende auch als: Frank Wittchow, Non ego sum stultus ut ante fui. List, Gelächter und Aggression bei Tibull und Ovid, in: Markus Janka/ Ulrich Schmitzer/ Helmut Seng (Hgg.), Ovid. Werk. Kultur, Wirkung, Darmstadt 2007, S. 41 – 84. Der Abdruck geschieht mit freundlicher Genehmigung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt. 65 Max Rothstein, Nachträgliches zu Properz, in: Werner Eisenhut (Hg.), Properz, Darmstadt 1975, S. 1 – 26 (ursprgl. in: Philologus 59 [1900], S. 441 – 465); Friedrich Leo, Elegie und Komödie, in: Eisenhut (1975), S. 27 – 35 (ursprgl. in: RhM 55 [1900], S. 604 – 611); Archibald A. Day, The Origins of Latin Love-Elegy, Oxford 1938 (ND Hildesheim –Zürich – New York [Olms] 1984), S. 85 – 101; James C. McKeown, Augustan Elegy and Mime, in: PCPS 205 (1979), S. 71 – 84; Elaine Fantham, Mime, The Missing Link in Roman Literary History, in: CW 82 (1989), S. 153 – 163; Jasper Griffin, Latin Poets and Roman Life, London 1985, S. 198 – 209; John A. Barsby, Ovid’s Amores and Roman Comedy, in: Francis Cairns/ Malcolm Heath (Hgg.), Papers of the Leeds International Latin Seminar 9: Roman poetry and prose, Greek poetry, etymology, historiography, Leeds, 1996, S. 135 – 157 (Barsby hat einen zu engen Begriff von literarischer Abhängigkeit, vgl. Herrmann [2004] S. 13f.); David Konstan, Love in Terence’s Eunuch. The Origins of Erotic Subjectivity, in: AJPh 107 (1986), S. 369 – 393; veränderter ND in: David Konstan (Hg.), Greek Comedy and Ideology, Oxford 1995; Jan Felix Gaertner, Zur Deutung von [Tib.] 3, 19, in: Mnemosyne 55 (2002), S. 346 – 349; Paolo Fedeli, Il remedium amoris, fra commedia ed elegia, in: Stärk/ Vogt-Spira (2000), S. 251 – 266. Zu Catull: Sander M. Goldberg, Catullus 42 and the Comic Legacy, in: Stärk/ Vogt-Spira (2000), S. 475 – 489. Eine umfassende Bibliographie bietet Katharina Herrmann, Nunc levis est tractanda Venus. Form und Funktion der Komödienzitate in der römischen Liebeselegie, Greifswald (Diss.) 2004. Verf. dankt Frau Herrmann für die Erlaubnis, das Manuskript vor der Veröffentlichung zu benutzen.
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legie gefunden wurden, ist weder über die Quantität noch über die Qualität des Gattungstransfers Einigung erzielt worden, ja recht eigentlich gibt es nicht einmal eine Diskussion über die Konsequenzen dieser Befunde, sondern es überwiegen Einzeluntersuchungen, die ad hoc bei bestimmten Elegien solche Entlehnungen erkennen. „Die engen motivischen Berührungen zwischen Komödie und Elegie hat man wegen der Gattungsschranken nicht immer genügend beachtet.“66 Dabei erscheint die Frage gerade für Ovid von zentraler Bedeutung zu sein. Gemäß einer verbreiteten Ansicht ironisiert Ovid die Gattungslogik seiner Vorläufer und führt sie, hier gehen die Meinungen auseinander, an ein Ende oder zu einem Neuanfang. Ulrich Schmitzer kritisiert in seinem Forschungsüberblick67 mit Barbara Boyd68 den hermeneutischen Trugschluss, für die drei erhaltenen Autoren dieses Genos gleichsam eine Normalschreibweise zu rekonstruieren und von dort her Abweichungen zu konstruieren. Außerdem ist, trotz wichtiger Einzelstudien, der Humor in der augusteischen Dichtung noch gar nicht wirklich erfasst und verstanden worden.69 Es ist vor diesem Hintergrund schwierig, Ironisierungen zu konstatieren und zu bewerten. Was den konkreten Zusammenhang zwischen Komödie und Elegie angeht, ist die Ausgangssituation aber im Begriff, deutlich besser zu werden. Katharina Herrmann hat in ihrer Dissertation zum ersten Mal sämtliche Aspekte der Fragestellung systematisiert, quantifiziert und in einem kurzen Résumé auch qualifiziert.70 Es ist für diese Untersuchung weder angezeigt noch möglich, einen Überblick über die Gesamtheit ihrer Beobachtungen 66 Michael von Albrecht, Ovid, Ars Amatoria. Liebeskunst. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2003 (bibliograph. ergänzte Ausgabe, ursprgl. 1992), S. 203. 67 Ulrich Schmitzer, Neue Forschungen zu Ovid, in: Gymnasium 109 (2002), S. 143 – 166, 146. 68 Barbara Weiden Boyd, Ovids Literary Loves. Influence and Innovation in the Amores, Ann Arbor 1997, S. 9f. 69 Die Arbeit von Heinz Antony (Humor in der augusteischen Dichtung. Lachen und Lächeln bei Horaz, Properz, Tibull und Vergil, Hildesheim 1976) schafft hier keine Abhilfe, weil sie gerade im analytischen Bereich nicht besonders in die Tiefe geht. Sie ist aber durch die zahlreichen Belegstellen komischer Stellen bei den Augusteern ein wichtiges Hilfsmittel. Gewiss hat sich die Situation seit 1976 etwas gebessert, aber ein wirkliches Verständnis für den augusteischen Humor kann man bis heute nicht erkennen. Das Dilemma beschreibt, namentlich für Ovid, Wolf-Lüder Liebermann, Liebe und Dichtung. Was hat Amor/Cupido mit der Poesie zu schaffen? – Amores I, 1, in: Mnemosyne 53 (2000), S. 672 – 689, bes. 688 Anm. 49, wobei er selbst keine überzeugende Lösung erkennen lässt. Vgl. auch Niklas Holzberg, Die Römische Liebeselegie. Eine Einführung, Darmstadt 22001, S. 30; Frank Wittchow, Prekäre Gemeinschaften. Inklusives und exklusives Lachen bei Horaz und Vergil, in: Werner Röcke/ Hans Velten (Hgg.), Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Berlin 2005, S. 85 – 110. Früh einschlägig aber: Eckard Lefèvre, Propertius Ludibundus. Elemente des Humors in seinen Elegien, Heidelberg 1966. 70 Herrmann (2004). David Konstan, Sexual Symmetry. Love in the Ancient Novel and Related Genres, Princeton 1994, S. 153f.
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und Thesen zu geben, aber der Eindruck ist doch insofern überwältigend, als sie eine Vielzahl von lexikalischen und motivischen Entlehnungen und Übernahmen nachweist und außerdem die zentralen Gestalten der Liebeselegie auf Komödiencharaktere zurückführt. Die Liebeselegie erscheint vor diesem Hintergrund als eine Komödie mit reduziertem Personal; der iuuenis, das elegische Ich, steht im Gegensatz zum Jüngling der Komödie ohne Vaterhaus und ohne unterstützenden Sklaven da;71 die puella ist der meretrix nachgezeichnet,72 die hier wie dort Schützenhilfe von einer lena erhält. Etwas komplexer ist die Position des uir, da das Ehebruchsmotiv in der Komödie entfällt (s.u.); aber es gibt auch auf der Bühne eine ganze Reihe von Rivalen, gegen die sich der iuuenis behaupten muss und die auch durchaus Rechte geltend machen (miles gloriosus), die den Jüngling in ähnliche Nöte stürzen wie der elegische uir.73 Der Effekt dieses Gattungstransfers ist nach Herrmann eine Distanzierung des Lesers/Hörers vom Pathos des elegischen Ichs, da der adulescens der Komödie eine hilflose und blasse Gestalt sei, deren kopflose Emotionalität einen eher komischen Effekt erziele, anstatt Liebesleid zu transportieren. Andererseits verweise der Vergleich mit der Komödie auch mit größerer Vehemenz auf einen zentralen Unterschied der beiden Gattungen: Die Liebe des Elegikers finde kein Happy-End und bleibe – wir denken etwa an Nemesis – zum Teil sogar gänzlich unerwidert.74 Ein Aspekt soll hier aber noch herausgehoben und erweitert werden: Herrmann untersucht die drei Rollen des elegischen iuuenis – das Dichter71
Der eleg. iuuenis ist dem der Komödie aber im Übrigen sehr ähnlich. Namentlich die Gestalt des terenzischen Phaedria (Eunuchus) steht hier Pate, wie neben Herrmann (2004) S. 114ff. bereits Elaine Fantham (Comparative Studies in Republican Latin Imagery, Toronto 1972, S. 82 – 91), Konstan (1986) und Alessandra Minarini (Il Linguaggio della comedia e il linguaggio dell’ elegia: Terenzio e Tibullo, in: Paideia 57 [2002], S. 328 – 339) bemerkt haben. Zu Catull vgl. Marilyn B. Skinner, Catullus 8: The Comic Amator as Eiron, in: CJ 66 (1971), S. 298 – 305; Richard F. Thomas, Menander and Catullus 8, in: RhM 127 (1984), S. 308 – 316; David Wray, Catullus and the Poetics of Roman Manhood, Cambridge 2001, S. 83. 72 Auch Konstan (1994) S. 159. Sharon L. James, Learned Girls and male Persuasion. Gender and Reading in Roman Love Elegy, Berkeley 2003, S. 35. 73 Außerdem ist auch die Position des uir bzw. coniunx in der Elegie alles andere als eindeutig bestimmbar. Herrmann schließt den uir für die Elegie als Rivalen aus (mit James [2003] S. 104), da er – im Gegensatz zu anderen amatores, die dem Elegiker in die Quere kommen – angeblich keine Gefahr darstelle für die Beziehung des elegischen Ichs zur puella. Das kann ich nicht ganz nachvollziehen; immerhin beklagt sich Ovid am. 1, 4 sehr wohl über den uir des Mädchens. „Bei den Elegikern Properz, Tibull und Ovid tritt immer wieder ein ‚Mann‘ (vir) der puella als Rivale des poeta in Erscheinung. Auch [sc. Catulls] Lesbia hat, wie man am Ende der Gedichteinlage [c. 68, 141 – 148] erfährt, einen ‚Mann‘ (V. 146).“ Niklas Holzberg, Catull. Der Dichter und sein erotisches Werk, München 2002, S. 171. 74 Herrmann (2004) S. 123, 206, 113f. und 116 (auch zu Phaedria, der auch in der Komödie kein Happy End erfährt. Man kann hier auch an den Heautontimorumenos denken).
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Ich, den Liebenden und den praeceptor amoris – und fragt nach den Vorbildern in der Komödie: Für den praeceptor amoris findet sie in der Komödie nicht so recht zu einem Vorbild und weist einzig auf die Erotodidaxe der Kupplerinnengestalten hin, für die die Elegiker ein männliches Gegenüber schaffen.75 Nun scheint doch das Drama des elegischen Sprechers gerade durch den Umstand erzeugt zu werden, dass der Elegiker weder einen seruus callidus noch einen Vater hat.76 Der Wegfall des Vaters markiert den Wegfall einer moralischen Schranke für das Liebesverhältnis und zugleich den Wegfall eines ökonomischen Reservoirs, mit dem die Gunst der puella zu erkaufen wäre. Dieser Wegfall pekuniärer Möglichkeiten verweist umso schmerzhafter auf den Wegfall des seruus callidus, der, wenn man ihn nicht sogar als den eigentlichen praeceptor amoris des iuuenis betrachten will, doch sein personifiziertes Listpotential ist.77 Das Drama, das die Liebeselegie entfaltet, gewinnt von dieser Ausgangslage her seinen immer gleichen plot: Der iuuenis versucht aus Eigenem, das Defizit an Witz und Geld auszugleichen. Statt Geld gibt er Gedichte,78 gleichzeitig macht sich der iuuenis immer auf die Suche nach einem praeceptor amoris oder versucht sich, wenn er ihn nicht findet, selbst in dieser Rolle. Beides in der Regel ohne Erfolg. Diese Ausgangslage demonstriert beispielhaft die Elegie 1, 6 des Tibull. 5.3.2 Tibull und Ovid Tibull und Ovid bilden, nicht nur weil sie Anfang und Ende der augusteischen Elegie darstellen, eine wichtige Einheit.79 Der letzte Elegiker widmet dem ersten ein Epitaphion (3, 9) und erwähnt ihn bei Aufzählungen
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Herrmann (2004) S. 122f. So auch von Albrecht (2003) S. 203 ohne Rekurs auf den seruus callidus. Stroh (1979) S. 130 Anm. 57: „Über eine ars amatoria im Sinne Ovids verfügen in der Liebeselegie nur die lenae praeceptrices (Prop. 4, 5; Ov. am. 1, 8).“ 76 Konstan (1994) S. 153; Dies freilich auch bei Herrmann (2004) S. 96. 77 Sofern man den praeceptor als einen Produzenten von Strategemen versteht. Der seruus callidus gibt, anders als Priap, keine Ratschläge, wie man die Liebe leben solle. Aber der Sklave in der Komödie ist immer nur so listig, wie der Jüngling unfähig ist, d.h. er kompensiert die mangelnde Listkompetenz des Jünglings oder wird weggeschickt, falls der Jüngling über eine solche verfügt (in der Hecyra ist dies der Fall, in der der Jüngling eigentlich schon ein Ehemann ist und damit sein juveniles Verhalten mehr und mehr ablegt, s.o.). Da Ovid den praeceptor amoris (auch) als einen Erfinder von Strategemen auffasst (s.u.), hat es m. E. seine Berechtigung, die beiden Figuren (Sklave und praeceptor) funktional zu vergleichen. 78 Herrmann (2004) S. 112. 79 Robert J. Ball, Legitur Tibullus et placet: Ovid’s tribute to a role model, in: Defosse (2002), S. 48 – 53.
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seiner Vorgänger immer in exponierter Weise.80 In den Tristien beklagt er ausdrücklich, keine Rezitation des Tibull miterlebt zu haben, sehr wohl aber eine des Properz.81 Es war zuallererst Tibull, der mit seinen Elegien gewissermaßen eine Aufgabe gestellt hat, an deren Lösung sich Ovid versucht. Um diese Aufgabe zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf das Ende der Beziehung zu Delia, wobei hier auch die Berechtigung der These von Baca eingeräumt werden soll, nach der es sich bei Delia und Nemesis recht ei-
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Properz wird in den Amores gar nicht erwähnt; Tibull in 1, 15 zusammen mit Gallus; Tibull als Erster und mit persönlicher Anrede (1, 15, 27f.): donec erunt ignes arcusque Cupidinis arma/ discentur numeri, culte Tibulle, tui); in ars 3, 329 – 346 erwähnt Ovid bei den Lektüreempfehlungen für die Mädchen Properz vor Gallus, pointiert am Schluss und wieder mit persönlicher Anrede den Tibull (334). 3, 536 – 538 eröffnet Nemesis den Reigen der elegischen puellae; einzig in rem. 764 wird Properz mit einer persönlichen Anrede ausgezeichnet, doch auch hier erscheint Tibull durch seine Spitzenstellung in der Aufzählung der Elegiker noch herausgehoben, während Properz durch das uel ein wenig launig angeschlossen wird (763 – 765): carmina quis potuit tuto legisse Tibulli/ uel tua, cuius opus Cynthia sola fuit?/ quis poterit lecto durus discedere Gallo? Trist. 2, 445 – 466 (s.u.) widmet von 11 Versen nur zwei dem Properz; In trist. 5, 1, 17f. steht Properz zwischen Gallus und Tibull; eine besondere Auszeichnung ist hier bei keinem zu erkennen. In trist. 4, 10, 45 – 54 (s. folg. Anm.) wird Gallus als Vorläufer, Properz als Nachfolger des Tibull bezeichnet, sodass dieser als zentraler Bezugspunkt erscheint. Alle Stellen bei Robert Maltby (Hg.), Tibullus: Elegies. Text, Introduction and Commentary, Cambridge 2002, S. 34 – 37. Zur Bedeutung des Gallus vgl. Ulrich Schmitzer, Gallus im Elysium. Ein Versuch über Ovids Trauerelegie auf den toten Papagei Corinnas (am. 2, 6), in: Arachnion n. 2.1 Mai 1996 (http://www.cisi.unito.it/arachne/num4/schmitzer.html) Anm. 21 (Ovid erwähnt Gallus und Tibull häufig, Properz seltener). 81 trist. 4, 10, 45 – 54: saepe suos solitus recitare Propertius ignes/ iure sodalicii, quo mihi iunctus erat./ Ponticus heroo, Bassus quoque clarus iambis/ dulcia convictus membra fuere mei./ et tenuit nostras numerosus Horatius aures,/ dum ferit Ausonia carmina culta lyra./ Vergilium uidi tantum, nec auara Tibullo/ tempus amicitiae fata dedere meae./ successor fuit hic tibi, Galle, Propertius illi;/ quartus ab his serie temporis ipse fui. Nicht immer berücksichtigt die Forschung den Vorzug, den Ovid dem Tibull eingeräumt hat (willkürlich auch die Zurückweisung der doch ganz eindeutigen Chronologie Gallus – Tibull – Properz – Ovid. Das wird Ovid schon am besten gewusst haben.), vgl. Christoff Neumeister, Tibull. Einführung in sein Werk, Heidelberg 1986, S. 163: „Wichtigstes Vorbild der Ovidischen Liebeselegie ist Properz.“ Vgl. Kathleen Morgan, Ovid’s Art of Imitation. Propertius in the Amores, Leiden 1977 (Mnemosyne Suppl. 47). Anders aber Michael von Albrecht (1994a) S. 603: „die vielfältige Tibullnachfolge desselben Dichters [sc. Ovid] sogar in der Lehrdichtung und im Epos.“ Vgl. auch S. 634: „Für die Liebesdidaktik kann sich Ovid auf einzelne Elegien Tibulls und die Kupplerinnen-Weisheit der Komödie stützen“. (Hervorhebung von Albrecht). Ders. (2003b) S. 203f. Vgl. Boyd (1997) S. 18 gegen James C. McKeown, Ovid: Amores. Text, Prolegomena and Commentary in four volumes. Vol. I: Text and Prolegomena, Liverpool 1987, S. 14. Tibull 1, 9 hat am. 3, 11 stark beeinflusst, s. Meike Keul, Liebe im Widerstreit. Interpretationen zu Ovids Amores und ihrem literarischen Hintergrund, Frankfurt am Main u.a. 1989, S. 66 – 69.
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gentlich um die gleiche Person handelt,82 nicht im Hinblick auf eine fassbare Geliebte hinter den Gedichten, sondern im Rahmen der Darstellungslogik. Es ist Tibulls Elegie 1, 6, die Ovid in seiner Selbstrechtfertigung in den Tristien (2, 445; s.u.) so ausgiebig zitiert, dass der Bezug zu Gallus und Properz dahinter weit zurücktritt. Tibull setzt hier zu Beginn der Elegie ein Motiv fort, das er in der Priapuselegie (1, 4) bereits eingeführt hat. Dort wendet er sich an den Gott, um von ihm praecepta für sein Werben um Knaben zu erlangen; angeblich fragt er zugunsten eines Freundes (s.u.). Er scheitert aber sowohl in der Anwendung dieser praecepta als auch an seinem Traum, später selbst einmal als praeceptor amoris auftreten zu können und dann im Alter geachtet bei der turba iuuenum, den jungen Männern also, dazustehen.83 5.3.3 Tibull 1, 6 als mimicum adulterium Mit diesem Scheitern setzt die sechste Elegie ein; was Tibull hier erleidet, ist das, was er selbst beigebracht hat und was Ovid beibringen wird: Es sind Liebesstrategeme (1, 6, 1 – 20): semper, ut inducar, blandos offers mihi uultus, post tamen es misero tristis et asper, Amor. quid tibi saeuitiae84 mecum est? an gloria magna est insidias homini composuisse deum? nam mihi tenduntur casses: iam Delia furtim nescio quem tacita callida nocte fouet. illa quidem iurata negat, sed credere durum est: sic etiam de me pernegat usque uiro. ipse miser docui, quo posset ludere pacto custodes: heu heu nunc premor arte mea, fingere nunc didicit causas, ut sola cubaret cardine nunc tacito uertere posse fores. tum sucos herbasque dedi, quis liuor abiret, quem facit impresso mutua dente uenus. 82
Albert Roy Baca, The Role of Delia and Nemesis in the Corpus Tibullianum, in: Emerita 36 (1968), S. 49 – 56, 55f. Vgl. Herrmann (2004) S. 101 Anm. 709. Zu Baca differenziert David F. Bright, Haec mihi fingebam. Tibullus in his work, Leiden 1978, S. 122f. 83 Jan Radicke, Priapus, ein rätselhafter Liebeslehrer. Zur Interpretation von Tibulls Elegie I 4, in: Hermes 134 (2006), S. 195 – 210 geht davon aus, dass die Gestalt des Priap ohnehin nur von dem elegischen Ich – den er als einen klassischen unzuverlässigen Erzähler bezeichnet – vorgeschoben wurde, somit also die Lehren des Priap die des „Tibull“ sind, an denen dieser zu scheitern und damit zum Gespött der Leute zu werden droht (S. 209f.). 84 Ich folge hier nicht Postgates Konjektur, sondern fasse wie die meisten Herausgeber seuicie (Ambrosianus) als saeuitiae auf.
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at tu, fallacis coniunx incaute puellae, me quoque seruato, peccet ut illa nihil. neu iuuenes celebret multo sermone, caueto, neue cubet laxo pectus aperta sinu, neu te decipiat nutu, digitoque liquorem ne trahat et mensae ducat in orbe notas. Tibull bietet hier einen repräsentativen Querschnitt durch das lateinische Listvokabular. Das nähert den Text der Komödie an, ein Punkt, der für die weitere Argumentation nicht ganz unwesentlich ist.85 Durch die Anklage an Amor wird das ganze Elend erotischer perfidia gleich eingangs auf eine grundsätzliche Ebene gehoben: Amor selbst legt dem Tibull immer einen Hinterhalt, d.h. der Gott der Liebe selbst ist unbeständig. Tibull fühlt sich wie ein Wild, das mit Netzen gejagt wird, ein Bild, das eng mit der List verknüpft ist und in der Komödie häufig für die Schlichen der meretrices verwendet wird.86 Delia handelt verstohlen (furtim), ist schlau (callida), trügerisch (fallax), meineidig (iurata negat) und sie weiß die Wachen auszuspielen (ludere). Tibull selbst hat sie diese Kunst (ars) gelehrt. Sie macht Vorwände (causas fingere, vgl. auch 36: simulare), kurz: sie täuscht (decipere). Ihr Handeln wird möglich durch ein Aufmerksamkeitsdefizit (incautus), das freilich nicht bei Tibull liegt, sondern bei ihrem coniunx. Tibull spricht programmatisch von Listen und ihrem Scheitern. Wir haben oben gesehen, dass das listige Agieren des Mannes eigentlich ein Handeln auf weiblichem 85 Die römische Komödie, zum Teil beeinflusst von der griechischen Nea (wegen der schmalen Überlieferung lassen sich nicht genügend griechische Äquivalente für alle lateinischen termini finden), zieht alle Register, um Intrigenhandlungen und -pläne metaphorisch oder eigentlich zu benennen. Einschlägig dazu die Arbeit von Brotherton (1978, ursprgl. 1926) [ab jetzt B.]. Die Zusammenhänge, aus denen das Listvokabular von Tib. 1, 6 stammt, sind für sich gesehen freilich nicht direkt der Komödie zuzuordnen – dies hätte man nur behaupten können, wenn sich bei Tibull einige Gräzismen, die jedoch tatsächlich nur in der römischen Komödie Verwendung fanden (z.B. tech[i]na statt ars, vgl. dazu auch Wheeler [1988] S. 58), oder andere seltene Ausdrücken (conglutinare) gefunden hätten; die Nähe zur Komödie ergibt sich eher durch den massiven Einsatz des Vokabulars, das aus ganz verschiedenen Lebenswelten stammt: insidiae (Jagd/Krieg: S. 63); periurus (iurata negat: entspricht dem periurium a.d. Recht: S. 17); simulare wird von B. nicht eigens behandelt, vgl. aber B. S. 107 zu Ter. Haut. 636, ebenso wenig ludere, das aber ubiquitär ist; callidus (geistig) B. S. 30; fallere und fallacia ist häufig, fallax kommt nur in den Komikerfragmenten vor: B. S. 7 Anm. 2; fingere B. S. 38f.; ars wird merkwürdigerweise von B. nicht untersucht; decipere B. S. 59. Grundsätzlich ist zu merken, dass das Listvokabular in der Komödie oft auszeichnend verwendet wird, dies gilt sogar für malus (B. S. 18, z.B. Plaut. Mil. 355f.): Palaestrio befürchtet, Philocomasium sei nicht subdola genug, um die Intrige durchzuführen; darauf diese, auftrumpfend: Cedo uel decem, edocebo/ minime malas ut sint malae, mihi solae quod superfit: Ich bin so „schlecht“ (= listig), es reicht noch für zehn brave Mädchen! 86 Brotherton (1926) S. 55: „Especially are the wiles of courtesans compared to the art of fowling, just as is so often the case in ele gy.” (Hervorhebung F.W.).
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Terrain darstellt. So muss es zunächst nicht überraschen, dass er hier rasch überboten wird. Nachdem er das Scheitern dieser Strategeme oder genauer, diese Wendung strategemischen Wissens gegen sich selbst konstatiert hat, versucht Tibull etwas anderes: Er versucht den coniunx der Delia zu überreden, besser auf seine Frau Acht zu geben, und bietet sich gleich selbst als Aufpasser an. Um die Gefahr der Untreue der Delia zu untermalen, argumentiert er just mit der Rolle, die er bisher bei Delia gespielt hat: nämlich der des heimlichen Ehebrechers (1, 6, 21 – 34): exibit quam saepe, time, seu uisere dicet sacra Bonae maribus non adeunda Deae. at mihi si credas, illam sequar unus ad aras; tunc mihi non oculis sit timuisse meis. saepe, uelut gemmas eius signumque probarem, per causam memini me tetigisse manum; saepe mero somnum peperi tibi, at ipse bibebam sobria supposita pocula uictor aqua. non ego te laesi prudens: ignosce fatenti, iussit Amor: contra quis ferat arma deos? ille ego sum, nec me iam dicere uera pudebit, instabat tota cui tua nocte canis. quid tenera tibi coniuge opus? tua si bona nescis seruare, frustra clauis inest foribus. Die Komik dieser Situation ist zwar wenigen entgangen, aber nicht immer hat sie die Gesamtinterpretation der Elegie bestimmt.87 Bereits 1971 hat sich Julia Haig Gaisser um eine einheitliche Deutung der Elegie bemüht, indem sie die konsequente Inszenierung komischer Situationen nachzuweisen suchte.88 Robert J. Ball und Niklas Holzberg89 betonen beide die komischen Elemente der Elegie, während noch Christoff Neumeister gerade im Vergleich zu Ovids Elegie 2, 19, die ja eine Wiederaufnahme des Gesprächs 87
Generell dazu bereits Bright (1978) S. 166 – 183, bes. S. 168 und 100, der als frühe Ausnahme Friedrich Leo nennt (Über einige Elegien Tibulls, in: Philologische Untersuchungen 2 [1881], S. 1 – 47, 61). Vgl. die folgenden Anmerkungen. 88 Julia Haig Gaisser, Structure and Tone in Tibullus I, 6, in: AJPh 92 (1971), S. 202 – 216, bes. S. 210f. 89 Robert J. Ball, Tibullus the Elegist. A Critical Survey, Göttingen 1983, S. 93, 95, 96; Holzberg (2001) S. 84f. Allgemein konstatiert Hans-Christian Günther (Albius Tibullus. Elegien. Mit einer Einleitung zur Römischen Liebeselegie und erklärenden Analysen zum Text übersetzt von Hans-Christian Günther, Würzburg 2002, S. 47 – 49) den Humor bei Tibull, besonders im Nemesis-Teil, was freilich ein wenig überrascht. Immerhin S. 46: „Gewiß spielte bei Tibull Scherz und Ironie bereits im ersten Buch eine große Rolle“. Auch: Reinhart Herzog, Tibullus, in: Der Kleine Pauly 5 (1975), Sp. 819f., 820: „schließlich ist T.’ Liebe oft des Humors, ja der beiläufigen Beschränkung auf das ‚Private‘ (2, 5, 109ff.) fähig.“
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Ehebrecher – coniunx ist, vom bitterernsten Ausdruck bei Tibull gegenüber dem heiteren Zynismus bei Ovid spricht.90 Das Problem liegt hier besonders in den Versen 57 – 65. Das elegische Ich hatte zuvor davon gesprochen, dass die Göttin Bellona untreuen Liebenden schlimme Strafen angedroht habe. Tibull bittet nun darum, dass diese Strafen aber im Falle seiner Geliebten doch eher milde ausfallen mögen. Diese Zurückhaltung begründet er folgendermaßen (1, 6, 57 – 66): non ego te propter parco tibi, sed tua mater me mouet atque iras aurea uincit anus. haec mihi te adducit tenebris multoque timore coniungit nostras clam taciturna manus: haec foribusque manet noctu me adfixa proculque cognoscit strepitus me ueniente pedum. uiue diu mihi, dulcis anus: proprios ego tecum, sit modo fas, annos contribuisse uelim. te semper natamque tuam te propter amabo: quidquid agit, sanguis est tamen illa tuus. Es gibt durchaus Interpretationen, die sich erstaunt und gerührt angesichts dieses freundlichen und völlig einzigartigen Portraits einer alten Mutter geben.91 Doch Gaisser hat darauf hingewiesen, dass wir es hier mit der 90
Neumeister (1986) S. 164, s. auch S. 147f. Michael von Albrecht geht in seiner Literaturgeschichte (1994) nicht auf die Komik bei Tibull ein. 91 Georg Luck, Die Römische Liebeselegie, Heidelberg 1961, S. 69; Saara Lilja, The Roman Elegist’s Attitude to Women, Helsinki 1965, S. 229f.: „In I, 6 there is a real eulogy to Delia’s mother”. Maltby (2002) S. 263: „The overall tone of the elegy is cool and severe. There are, however, several elements which serve to vary and lighten the tone. There is humour in the self irony of 9ff. and in the very outrageousness of his attitude to the coniunx, while the praise of Delia’s mother in 57 – 66, though rooted in self interest and used as a weapon against Delia, adds a touch of sentimentality which is rare in the genre outside T.“; Joachim Lilienweiß/ Arne Malmsheimer/ Burkhard Mojsisch (Hgg.), Albius Tibullus, Elegische Gedichte. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2001, S. 125 Anm. 12: „Tibull hat ein gutes zwischenmenschliches Verhältnis zu den Angehörigen seiner Geliebten Delia, hier zu ihrer Mutter (…).“ Lilienweiß et al. erkennen zwar auch das Kupplerische dieser Mutter, sehen es aber zugunsten des Tibull eingesetzt. Richtig dagegen Michael C. J. Putnam, Tibullus. A Commentary , Univ. of. Okl. 31987, S. 108: „The last poem to Delia and in many ways the most ironic“; S. 109: „We would think this an example of the poet’s genuine affection for the family life (…) until we notice that the mother is really her daughters procuress.” Sogar Konstan (1994), der das Verhältnis von Mutter und lena in Tib. 2, 6, 45 – 54 thematisiert (S. 154f.), erkennt (S. 155) in 1, 3, 83 – 90 eine positive Mutterfigur, die er auf die anus der Antiphila in Ter. Haut. 274 – 95 bezieht. Das setzt die Identität der Gestalten in 1, 3 und 1, 6 voraus, die m. E. nicht gegeben ist, und, selbst wenn sie gegeben wäre, nur das Wunschdenken des Tibull wiedergibt, und zwar in 1, 3 wie in 1, 6!
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Darstellung eines Verhältnisses von lena und meretrix zu tun haben. Bright folgert daraus richtig, dass man Tibulls ‚Lob der Alten‘ keineswegs ernst zu nehmen habe.92 Ich möchte diese These mit zwei Argumenten stützen, zum einen mit der Logik der Aussagen, zum anderen mit der genetischen Markierung des Gedichtes. Zur Logik der Aussagen: In der gesamten Elegie treffen wir Tibull als einen Sprecher an, der angesichts der treulosen Geliebten versucht, Verbündete auf seine Seite zu ziehen, die aufgrund ihrer Position im elegischen Spiel dafür gar nicht in Frage kommen, weil ihre Interessen nicht mit denen des iuuenis vereinbar sind. Zuerst hatte er sich selbst als praecceptor amoris versucht, doch sein „Zögling“ (Delia) missbraucht die Lehren für eigene Ziele; dann versucht er den coniunx auf seine Seite zu ziehen, dieser aber scheint darauf nur mit Entrüstung zu reagieren. Tibull inszeniert hier eine regelrechte Bühnensituation, bei der man sich die Gestik und Mimik des Gatten lebhaft vorstellen kann und soll; wie er während der vertraulichen Annäherung des Tibull (15 – 32) immer entrüsteter wird, bis dieser gezwungen ist, seine Strategie zu ändern. Endlich schlägt Tibulls Ton vom PlumpVertraulichen ins Aggressive um (1, 6, 33f.): quid tenera tibi coniuge opus? tua si bona si nescis seruare, frustra clauis inest foribus. Dann versucht der glücklose Jüngling mit großer Geste, andere iuuenes von ihrer Seite fern zu halten.93 Auch sie werden ihm wohl kaum willfahren. Als nächstes spricht er in der oben wiedergegebenen Weise die Mutter der Geliebten an.94 In der Komödie wird die Rolle der lena auch häufig von der 92
Bright (1978) S. 175f. Gaisser (1971) S. 210f. Tib. 1, 6, 39 – 42: tum procul absitis, quisquis colit arte capillos/ et fluit effuso cui toga laxa sinu/ quisquis et occurret, ne possit crimen habere/ †stet procul ante, aut alia stet procul ante uia†. Rhetorisch auch aus der Gesprächssituation mit dem coniunx motiviert: Die Beschimpfung des „Ehemannes“ (dazu s.u.) dauert nur kurz (33f.). Nachdem der Versuch, den eigenen Ehebruch als Argument für eine bessere Bewachung der Delia einzusetzen, komisch missglückt ist, versucht er nun, auf die aktuelle Gefahr anderer amatores hinzuweisen, versucht es also mit der gleichen Argumentationsstruktur, nur dass er sich selbst als Ehebrecher aus der Schusslinie nimmt und sich nun als „Bewacher“ andient. 94 Dieser Wechsel des Adressaten der Rede wird durch die Einlage 43 – 56 ebenfalls fast bühnentechnisch ermöglicht. Tibull referiert hier die Prophezeiung einer Bellonapriesterin, die allen, die sich an ein Mädchen heranmachen, das bereits eine Beziehung hat, Strafen androht. Tibull erreicht so einen Abstand zum Dialog Tibull – coniunx, der ein Äquivalent darstellt zu einem Szenenwechsel auf der Bühne. McKeown (1979) S. 71 – 84, 78 argumentiert ganz ähnlich für die Einheit von Properz 2, 29. Es ist übrigens bezeichnend für die oben gezeichnete Forschungssituation, dass auch er nur einen Zusammenhang von Properz und Ovid konstatiert und Tibull aus seinen Erwägungen ganz herausfällt, obwohl 1, 6 die Situation eines mimicum adulterium viel genauer abbildet als die in Frage kommenden Elegien des Properz und auch der Bezug zu Ov. am. 3, 4 eindeutiger ist. Am Ende dieser Einlage wendet sich Tibull kurz an Delia; so wird die Szene 93
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Mutter ausgeübt (vgl. Herrmann). Genau wie der leno ist auch die lena der Komödie geradezu der natürliche Feind des iuuenis, ist es doch die Kupplerin (oder die kuppelnde Mutter), deren Interesse an einer guten Partie sich auf das richtet, was der iuuenis nicht hat: Geld!95 Auch dies folgt der komischen Logik einer Werbung an die falsche Adresse. Es ist geradezu absurd sich vorzustellen, wie die alte Mutter nachts an der Schwelle auf den mittellosen Tibull warten soll, damit dieser Ehebruch begehen kann. Zur genetischen Markierung, i.e. der Gattungslogik, der die Elegie hier folgt: M. E. kopiert Tibull hier nicht direkt eine Komödie – dort kommt das Ehebruchsmotiv nicht vor96 –, sondern ein mimicum adulterium, das gerade für den römischen Mimus die zentrale Gattungsausprägung darstellt.97 Der Einfluss des Mimus auf die römische Literatur lässt sich selten konkret benennen, weil die Quellenlage denkbar schlecht ist.98 Dennoch sind immer wieder einzelne Gedichte mit mimischem Charakter identifiziert worden. Berührungen zwischen Liebeselegie und Mimus hat besonders McKeown (1979) wahrscheinlich gemacht; generell nimmt sie auch Herrmann an, verfolgt diese Spur aber nicht weiter. Es ist schlechterdings auch nicht denkbar, einen Bezug zwischen Komödie und Liebeselegie zu postulieren und nicht gleichzeitig mit dem Mimus zu rechnen, der im ersten vorchristlichen Jahrmeretrix – lena – iuuenis ermöglicht, der coniunx ist nicht mehr „auf der Bühne“. Damit wird nicht ausgesagt, dass Tibull seine Elegie zur Aufführung vorgesehen hat, sondern dass er tatsächlich die Besonderheiten der hier elegisch ausgebeuteten Gattung Mimus im Blick hat. Immerhin kommt der Rezitation der Elegien besondere Bedeutung zu und wurde bei der Produktion auch berücksichtigt; s. Herrmann (2004) S. 30ff. Zur Technik der Pausen als Kennzeichen szenischer Gedichte vgl. Eduard Fraenkel, Horace, Oxford 1957, S. 180f. Hans Peter Syndikus, Catull. Eine Interpretation. Erster Teil. Einleitung. Die kleinen Gedichte (1 – 60), Darmstadt 1984, S. 228 Anm. 14 nennt auch Tibull 2, 1 als Beispiel für ein szenisches Gedicht. Siehe auch Widu-Wolfgang Ehlers, Auribus escam oder Der intendierte Rezitator – Produktions- und rezeptionsästhetische Aspekte der Mündlichkeit antiker Texte, in: Lore Benz (Hg.), ScriptOralia Romana. Die römische Literatur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 2001, S. 11 – 42. 95 Vgl. Rolf F. Hartkamp, Von leno zu ruffiano. Die Darstellung, Entwicklung und Funktion der Figur des Kupplers in der römischen Palliata und in der italienischen Renaissancekomödie, Tübingen 2004, S. 11 und 163; James (2003) S. 52 – 54. 96 Herrmann (2004) S. 28. Einzig Ehemänner hintergehen bisweilen ihre Frauen, aber der Ehebruch mit einer „Matrone“ ist tabu, wie gerade der miles gloriosus belegt – die Götterkomödie Amphitruo ist freilich eine Ausnahme. 97 Lore Benz, Zur Verquickung von Sprachkomik, Körperwitz und Körperaktion im antiken Mimus, in: Zeitschrift für Germanistik 2 (2001), S. 261 – 273, 270. Lore Benz, Die römischitalische Stegreifspieltradition zur Zeit der Palliata, in: Lore Benz/ Ekkehard Stärk/ Gregor Vogt-Spira (Hgg.), Plautus und die Tradition des Stegreifspiels. FS Eckard Lefèvre, Tübingen 1995, S. 139 – 154. Lore Benz, Die lustigen Personen der antiken Possenbühnen, in: Peter Csobàdi u.a. (Hgg.), Die lustige Person auf der Bühne. Bd. 1, Anif – Salzburg 1994 (Wort und Musik 23), S. 89 – 97; Lore Benz, Mimos II, in: DNP 8 (2000), Sp. 205 – 207. 98 Die Fragmente bei Mario Bonaria, I Mimi Romani/Romani Mimi, Rom 1965; ders., Mimorum Romanorum Fragmenta (2 Bde.), Genua 1955.
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hundert eine gewisse literarische Aufwertung erlebte, die ihn für die Augusteer attraktiv machen konnte.99 Dies geht sowohl aus der dramatischen Gestaltung als auch aus der Personenlogik hervor. Es hat ja Verwunderung erregt, warum Delia hier einen regelrechten coniunx an die Seite gestellt bekommt, obwohl sie, wie aus 1, 6, 18 hervorgeht, nicht als Matrone gekleidet ist und überhaupt die Beziehung, in der sie sich bewegt, ansonsten wenig von einer regelrechten Ehe erraten lässt.100 Es erklärt sich aber als intertextueller Hinweis auf das mimicum adulterium.101 Die Gattung inszeniert einen Ehebruch, bestehend aus einem jungen adulter, einer gewitzten Ehefrau und einem gehörnten Ehemann, der nach Kräften verspottet wird. Diese gängige Charakterisierung des mimicum adulterium beziehen wir übrigens wiederum ausgerechnet von Ovid;102 sie folgt beinahe direkt (mit einem Abstand von 33 Versen) der Rechtfertigung seiner Ars amatoria mit der Erotodidaxe seiner elegischen Vorgänger, bei der er wiederum Tib. 1, 6 ausgiebig zitiert hat (trist. 2, 445 – 468):103 non fuit opprobrio celebrasse Lycorida Gallo, sed linguam nimio non tenuisse mero. credere iuranti durum putat esse Tibullus, 99
Benz (2001) S. 273; Fantham (1989). Horaz epod. 17 wird ebenfalls häufig als mimisch beschrieben, vgl. Adolf Kiessling/ Richard Heinze, Q. Horatius Flaccus. Oden und Epoden, Berlin 91958, S. 556: „Der Form nach ist das Gedicht ein Mimus, den Mimiamben des Herondas am ehesten vergleichbar: Rede und Gegenrede ohne einrahmende Erzählung.“ Das trifft auch auf Tib. 1, 6 zu; ebenso ist die eigentümliche Mischung von Aggressivität und Hilflosigkeit des Tibull in diesem Gedicht durchaus dem jambischen Sprechen vergleichbar (vgl. Frank Wittchow, Der Dichter auf der Suche nach seiner Rolle. Zur persona in den Jamben des Horaz, in: A & A 51 [2005], S. 69 – 82). Jambus und Mimus haben aber auch genetische Abhängigkeiten. David Mankin (Hg.), Horace: Epodes, Cambridge 1995, S. 273. Daneben werden als vom Mimus beeinflusst diskutiert z.B. Prop. 2, 23; 2, 29 (B); 4, 8; 4, 9; Hor. sat. 1, 2; Ov. am. 3, 4 u.a. (McKeown [1979]; Fantham [1989] S. 158). 100 Bright (1978) S. 176ff.: „Her marital status is deliberately left vague“ (S. 177). Jedoch nicht, weil er irrelevant wäre, wie Bright ebenda meint. 101 Ähnlich argumentiert McKeown (1979) S. 76. Allerdings sehen McKeown S. 76 und Herrmann (2004) S. 28 das Mimus-Verhältnis von adulter, uir und puella als Grundkonstellation der Liebeselegie als Gattung schlechthin. Das stimmt so nicht; jedenfalls wird es in vielen Elegien gerade nicht evoziert, wenn der Rivale nur reicher ist als der elegische iuuenis, nicht aber ältere (wenn auch ohnehin unklare) Rechte besitzt. 102 trist. 2, 497 – 500: Quid, si scripsissem mimos obscena iocantes,/ qui semper uetiti crimen amoris habent:/ in quibus assidue cultus procedit adulter,/ uerbaque dat stulto callida nupta uiro? McKeown (1979) S. 72f. identifiziert Ov. am. 3, 4 mit einem mimicum adulterium, diese Elegie ist durchaus thematisch verwandt mit Tib. 1, 6. Dessen Gegenstück bei Ovid ist genauer am. 2, 19, vgl. dazu Joan Booth (Hg.), Ovid. The Second Book of Amores, Warminster 1991, S. 191 (zum Gebrauch von callida 2, 19, 10); ebenso James C. McKeown, Ovid: Amores. Text, Prolegomena and Commentary in four volumes. Vol. III: A Commentary on Book Two, Leeds 1998, S. 412. 103 Text nach J. B. Hall (Teubner 1995) ohne die Konjektur tutus in 464.
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sic etiam de se quod neget illa uiro: fallere custodes idem docuisse fatetur, seque sua miserum nunc ait arte premi. saepe, uelut gemmam dominae signumue probaret, per causam meminit se tetigisse manum, utque refert, digitis saepe est nutuque locutus, et tacitam mensae duxit in orbe notam et quibus e sucis abeat de corpore liuor, impresso fieri qui solet ore, docet: denique ab incauto nimium petit ille marito, se quoque uti seruet, peccet ut illa minus. scit, cui latretur, cum solus obambulet, ipse et totiens clausas exscreat ante fores, multaque dat furti talis praecepta docetque qua nuptae possint fallere ab arte uiros. non fuit hoc illi fraudi, legiturque Tibullus et placet, et iam te principe notus erat. inuenies eadem blandi praecepta Properti: destrictus minima nec tamen ille nota est. his ego successi, quoniam praestantia candor nomina uiuorum dissimulare iubet. Die genetische Nähe von Tib. 1, 6 zum mimicum adulterium könnte durchaus von Ovid in dieser Form abgebildet worden sein.104 Die ganze Elegie folgt dieser Logik und damit ist sie nicht untergründig ironisch, sondern offen komisch, ihr Tenor ist nicht resignativ, sondern turbulent. Die Beziehung zwischen Delia und Tibull versinkt nicht in Verzweiflung, sondern in aggressiv-denunzierendem Gelächter. Die Aggressivität des tibullischen Lachens105 tritt freilich nicht nur im Komisch-Machen des gehörnten Ehemannes zutage; in seiner eigentlichen Bedeutung ist es m. E. noch kaum erfasst worden. 5.3.4 Elegie und rites de passage Das Gedicht endet nicht in dem sinnlosen Appell an die „goldene Alte“, sondern wendet sich noch einmal Delia zu (1, 6, 77 – 86): at quae fida fuit nulli, post uicta senecta 104
Alle hier markierten Verse bezeichnen das Zitat aus Tib. 1, 6 bei Ovid. Vgl. Bright (1978) S. 179: „the stylized picture of the aggressive lover (1, 1, 73 – 4)“. In der Sache gebe ich Bright recht, Tibulls Aggressivität ist ein wichtiges Motiv; ob auch die Stelle aus der ersten Elegie gut gewählt ist, die immerhin mit nunc leuis est tractanda uenus einsetzt und hier fast eine ovidische Heiterkeit verrät, sei dahingestellt. 105
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ducit inops tremula stamina torta manu firmaque conductis adnectit licia telis tractaque de niueo uellere ducta putat. hanc animo gaudente uident iuuenumque cateruae commemorant merito tot mala ferre senem, hanc Venus ex alto flentem sublimis Olympo spectat et infidis quam sit acerba, monet. haec aliis maledicta cadant; nos, Delia, amoris exemplum cana simus uterque coma. Tibull spricht Delia in 1, 6 zweimal an; hier am Schluss der Elegie (womit er thematisch zum Anfang zurückfindet) und weiter oben, als er die Bellonapriesterin zitiert, die all denen, die sich an der Liebe vergreifen (i.e. untreu sind oder Untreue provozieren), Strafen androht (1, 6, 55f.): et tibi nescio quas dixit, mea Delia, poenas:/ si tamen admittas, sit precor illa leuis. Die Geste ist in beiden Fällen ähnlich: Tibull spricht eine Drohung aus, für die er sich fremder Autorität bedient, um sich sogleich von dieser Autorität zu distanzieren. Auf diese Weise zügelt er scheinbar seine eigene Aggressivität, ohne das Argument einer möglichen Strafe aufgeben zu müssen. Die Autorität ist in beiden Fällen sowohl menschlicher als auch göttlicher Provenienz. Ein besonderes Augenmerk verdienen in diesem Zusammenhang die cateruae iuuenum (1, 6, 81). Ähnlich wie Tibull seinen Wunsch nach bzw. seine Drohung mit Vergeltung an göttliche Gewalten delegiert hat, so droht er hier mit der Vergeltung durch eine Gruppe von iuuenes, die der einstmals gealterten Delia mit Spott begegnen. Diese jungen Männer sind dem Leser bereits in 1, 4 als mögliche Zuhörer eines senex praeceptor amoris Tibull benannt worden.106 In beiden Fällen markiert Tibull deutlich, dass er nicht einfach an viele Jugendliche denkt, die im einen Fall dem Tibull folgen, im anderen eine alte Frau verlachen, sondern wirklich an eine konkrete Schar von jungen Männern, die man sich als korporativ handelnde Gruppe vorstellen muss. In 1, 4 stellt sich Tibull vor, wie ihm die turba iuuenum ein Geleit gibt (diducat), dieses Geleit ist nicht denkbar, wenn wir einfach an viele zufriedene Leser des Dichters denken. Noch deutlicher ist der Ausdruck cateruae: Damit ist immer eine geschlossene Gruppe gemeint.107 Die Kombination cateruae iuuenum zudem ist 106
1, 4, 79f.: tempus erit, cum me Veneris praecepta ferentem/ deducat iuuenum sedula turba senem. Die beiden Stellen korrespondieren miteinander durch das Verhältnis iuuenes – senex (beide Male die gleiche Form senem, die Tibull in 1, 6 auch für die alte Frau statt anus verwendet. Gewiss wäre anus an dieser Stelle metrisch nicht möglich; aber ein Dichter wie Tibull hätte Alternativen gehabt). 107 Vgl. Georges Art. caterva. Der ThLL führt ebenfalls fast nur Stellen auf, in denen eine geschlossene Gruppe – entweder eine Art Gefolge oder militärische Einheiten gemeint sind. Daneben gibt es unspezifische Stellen, etwa Tib. 1, 2, 47: iam tenet infernas magico stridore cateruas (von einer Hexe). Solche Stellen erklären sich aber aus dem sonst belegten
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selten; bis auf einen unklaren Beleg in der Ciris 85 (Stelle verderbt) und eine durchaus parallel zu verstehende Stelle bei Horaz108 handelt es sich in allen Fällen um ein geschlossenes (politisches) Gefolge, das nicht abstrakt bezeichnet wird, sondern im Raum als Gruppe auftritt.109 Für die Liebeselegie sowohl des Tibull als auch des Ovid spielt das Verhältnis des elegischen Ichs zu den iuuenes einerseits, das Verhältnis von iuuenes und senes andererseits eine wichtige Rolle. Die Hoffnung des Tibull aus 1, 4, einmal als senex von den iuuenes gefeiert zu werden, zerschlägt sich durch den Umstand, dass die praecepta, die er vermitteln möchte – es sind Liebesstrategeme zur Gewinnung einer/eines Geliebten –, bei ihm selbst missglücken (1, 4, 82: deficiunt artes deficiuntque doli). Eine Autorität als praeceptor amoris kann er nicht gewinnen.110 Gleichzeitig aber findet Tibull auch keinen Platz in der Gruppe der iuuenes.111 Die Drohung an Delia, im Alter kämen Gebrauch von caterua, d.h. auch wenn die Stelle selbst kein Beleg für caterua als geschlossener Haufe ist, widerspricht er diesem Verständnis gar nicht und muss daher analog zu den eindeutigen Stellen aufgefasst werden. Ich habe keine Stelle gefunden, in der caterua eindeutig nur „viele“ bezeichnet – von Plin. nat. 18, 251 abgesehen (mit sächlichem Genetiv). Sogar die unspezifischen Belege verraten einen polemisch verwendeten Bezug zur caterua hominum, etwa so wie Tusc. 1, 77: cateruae ueniunt contra dicentium nec solum Epicureorum: Cicero verwendet hier den Begriff Scharen abwertend und bildlich: ‚Da kommen gleich in ganzen Gruppen – scharenweise – die Leute, denen das nicht passt.‘ Vgl. zur Verteilung des Motivs der iuuenum cateruae bei Tibull auch Heino Belling, Untersuchung der Elegien des Albius Tibullus, mit Beiträgen zu Properz, Horaz, Lygdamus, Ovid, Berlin 1897, S. 91f. und 100. 108 c. 3, 20 5. Dort geht eine puella durch die obstantis cateruas iuuenum, um sich ihren Geliebten zurückzuholen, um den auch der Adressat des Gedichtes, Pyrrhus, wirbt. Auch hier stellt sich Horaz die cateruae ganz konkret als eine physisch anwesende (und der puella Widerstand leistende) Gruppe vor (nicht einfach „the numerous male admirers of Nearchus“ wie bei Robin G. M. Nisbet/ Niall Rudd [Hgg.], A Commentary on Horace: Odes. Book III, Oxford 2004, ad. loc. Besser übersetzt Bernhard Kytzler [Hg.], Q. Horatius Flaccus. Oden und Epoden. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 41981, S. 161: „durch der Jünglinge sperrende Scharen“, vgl. dazu die folg. Anm.). Es ist wohl auch kein Zufall, dass es sich um ein homoerotisches Motiv handelt. Ich verstehe die cateruae iuuenum als ein Äquivalent für Jungmännerbünde im Rahmen einer Logik der rites de passage; da ist genau diese geschlechtliche Unklarheit ein typisches Merkmal (Kiessling/ Heinze [1958] S. 339: “die Figur des schönen Knaben, der, auf der Grenze zum Jüngling, Mann und Weib entflammt“). Möglicherweise ist deshalb auch Tibull der einzige Elegiker, der dieses Thema in seine Elegien integriert. Vgl. zu Liminalität usw. Wittchow (2005c). 109 Liv. 3, 37, 6f.; 4, 15, 6, beide Male für die patrizischen iuuenes als pressure groups; Verg. Aen. 1, 497 vom Gefolge der Dido. Zu den Stellen vgl. Maltby (2002) S. 279 und R. O. A. M. Lyne (Hg.), Ciris. A Poem attributed to Vergil, Cambridge 1978 (ND 2004), S. 139. 110 Vgl. Jula Wildberger, Ovids Schule der „elegischen” Liebe. Erotodidaxe und Psychagogie in der Ars amatoria, Frankfurt am Main u.a. 1998 (Studien zur Klassischen Philologie 112), S. 391. 111 Wildberger (1998) S. 74f. S. 75 zu Tib. 1, 3, 63f.: ac iuuenum series teneris immixta puellis/ ludit et adsidue proelia miscet amor: Bei Ovid „wird der Schüler also bereits im diesseits Freuden erleben, wie sie sich Tibull erst nach dem Tode erhofft“ (mit Bezug auf ars
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die iuuenes, um sie zu verspotten, betont diese Dislozierung des elegischen Ichs ebenfalls, denn zu diesem Zeitpunkt wäre auch Tibull ein Greis und nicht mehr Teil der Gruppe von iuuenes. Die Einsamkeit des elegischen Ichs vollzieht sich hier vor dem Hintergrund des Erwachsenwerdens. Gleichzeitig wird offenbar, dass die Verbindung von Listkompetenz un d Adoleszenz auch bei Tibull denkbar eng ist. Besonderes Augenmerk bei den rites de passage kommt, wie bereits deutlich wurde, in patriarchal organisierten Gesellschaften der Gruppe der männlichen Jugendlichen zu. Sie sind untereinander oft in einer egalitären und intensiven Kameradschaft verbunden. Durch ihren eigentümlichen Status des Nicht-Mehr (Kind) und Noch-Nicht (Erwachsener) sind sie zum einen oft besonderen Prüfungen ausgesetzt und müssen sich bestimmten Mentoren klaglos fügen, zum anderen können sie aber auch besondere Lizenzen erteilt bekommen (und wir haben gesehen, dass die Lizenz zur List in der griechisch-römischen Literatur hier eine herausragende Rolle spielt), die aus ihrem unbestimmten gesellschaftlichen Status erwachsen. Diese Lizenz offenbart sich nicht selten in turbulenten Rügebräuchen, die für das gesamte Mittelalter bis in die jüngste Neuzeit hinein (Haberfeldtreiben) in Europa und den Vereinigten Staaten belegt sind.112 Sie sind für das Mittelalter und die Neuzeit inzwischen recht gut erforscht; sie werden erfasst durch eine Verschränkung soziologischer, anthropologisch-ethnologischer, historischer, rechtshistorischer und literaturwissenschaftlicher Anätze. Dieser Reichtum an Fragestellungen korrespondiert mit einer vergleichsweise breiten Quellenbasis regionalen Brauchtums, die wir in dieser Form für die römische Antike nicht haben.113 Ein früher Versuch Hermann Useners,114 Formen der „Volksjustiz“ in der occentatio115 und flagitatio zu erkennen, hat sich vergleichsweise rasch zu
1, 217, wo die iuuenes und puellae bereits gemeinsam im Diesseits den Triumphzug des C. Caesar betrachten). Wildberger sieht die Einsamkeit des elegischen Ichs bei Properz und Tibull bei Ovid aufgehoben, es geht ihr nicht allein um die Trennung von iuuenis und puella, sondern generell um den Umstand, dass bei Properz und Tibull das elegische Ich immer allein steht und dies gerade im Gegenüber mit anderen Gruppen deutlich gemacht wird (S. 74). 112 Ernst Hinrichs, Charivari und Rügebrauchtum in Deutschland. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Martin Scharfe (Hg.), Brauchforschung, Darmstadt 1991, S. 431 – 463; Martin Scharfe, Zum Rügebrauch, in: Martin Scharfe (Hg.), Brauchforschung, Darmstadt 1991, S. 184 – 215 (ursprgl. in: Hessische Blätter für Volkskunde 61 [1970], S. 45 – 68). 113 Für Griechenland vgl. die Arbeiten von Vidal-Naquet (1989), Philippides (1995) u.a. 114 Hermann Usener, Italische Volksjustiz, in: RhM 56 (1900), S. 1 – 28 (ND Kl. Schr. IV, Leipzig – Berlin 1913, S. 356 – 382, zitiert wird nach den Kl. Schr.). Er korrespondiert zeitlich mit dem ersten Schub volkskundlicher Studien über sog. „Volksjustiz“, der im 19. Jahrhundert stattfand, um bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zum Stillstand zu kommen. Edward P. Thompson, „Rough music“: Le Charivari anglais, in: Annales (ESC) 2 (1972), S. 285 – 312, 291f. Während in der Romanistik und Anglistik seit
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einer rechtshistorischen Diskussion verengt, die sich damit befasste, ob die bei Cic. rep. 4,12116 für die Zwölf Tafeln überlieferte Formulierung si quis occentauisset siue carmen condidisset quod infamiam faceret flagitiumue alteri ein Originalzitat darstelle; ob occentare magische Fluchgesänge oder infamierende carmina bezeichne; ob, falls occentare magische Konnotationen habe und der siue-Satz eine anachronistische Deutung Ciceros darstellt, es überhaupt strafbar war, infamierende carmina aufzusagen.117 Damit ist aller-
dieser Zeit wieder ein größeres Augenmerk auf dieses Brauchtum gelegt wird, hat sich in der Klass. Philologie nach meinem Dafürhalten dort wenig getan. 115 Tatsächlich ist der Begriff occentatio lat. nur einmal belegt und meint nicht das Phänomen, das hier behandelt wird und in den Quellen nur mit dem Verb occentare auftaucht, Christoph Brecht, Occentatio in: RE 17, 2 (1937), Sp. 1752 – 1763, 1752. Traditionell spricht man weiterhin von occentatio, allerdings hat der Neue Pauly seinen entsprechenden Artikel jetzt mit dem Verb bezeichnet (Artur Völkl, Occentare, in: DNP 8 [2000], Sp. 1090). 116 Dazu Fest. p. 190f. L; Cic. Tusc. 4, 4. 117 George Lincoln Hendrickson, Occentare Ostium bei Plautus, in: Hermes 61 (1926), S. 79 – 86 ist den Kritikern Useners (1913) insofern gefolgt, als er die Regelung der Zwölf Tafeln zwar auf magische Gesänge beschränkt sein lassen wollte, gleichzeitig aber wies er darauf hin, dass bestimmte Belegstellen in den plautinischen Komödien nicht dieser Logik folgten, sondern dass hier tatsächlich diffamatorische Ständchen vor der Tür einer meretrix gemeint seien, führte diese aber nicht auf römische Praxis, sondern auf die griechischen Vorlagen aus der Nea zurück. Nun hatte bereits Eduard Fraenkel (Rez. F. Beckmann, Zauberei und Recht in Roms Frühzeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Interpretation des Zwölftafelrechtes, Münster [Diss.] 1923, in: Gnomon 1 [1925], S. 185 – 200) mit guten Argumenten erwiesen, dass die Formulierung in der ciceronischen Variante sehr wohl den Originaltext der Zwölf Tafeln zitiert und damit bereits hier eine Unterscheidung zwischen magischen und diffamatorischen Gesängen gemacht wird – wobei die Verwirrung hier auch aus einem Anachronismus herrühren kann, wie Hendrickson ganz richtig vermerkt. Guiseppe Comerci, Carmen, occentatio e altre voci magico-diffamatorie dalle XII Tavole a Cicerone, in: Bolletino di Studi Latini 7 (1977), S. 287 – 306 geht von einer ursprünglich magischen Bedeutung von occentare aus, die aber rasch in Vergessenheit geriet; er gibt daher in reduzierter Weise Usener Recht, wenn er zwar einerseits (durch Erörterung der in der Diskussion einschlägigen Stellen Plaut. Merc. 408, Persa 569 und Curc. 145ff.) eine Herkunft des occentare aus der italischen Volksjustiz ablehnt, gleichzeitig aber davon ausgeht, dass bereits im 3. Jh. v. Chr. occentare mit conuicium facere gleichzusetzen ist und – dies ist für unsere Untersuchung wichtig – die zentralen Charakteristika Gewalt, Lärm und iniuriae aufweist (S. 299 – 301). Am plausibelsten erscheint mir die historische Entwicklung bei Michèle Ducos, Le droit romain et la polémique, in: La parole polémique. Études réunies par Gilles Declercq, Michel Murat et Jacqueline Dangel, Paris 2003, S. 283 – 296 nachgezeichnet zu sein, der davon ausgeht, dass in den Zwölf Tafeln zunächst die (von Ducos als Charivari aufgefasste) occentatio sanktioniert wurde (die Todesstrafe erklärt sich als Äquivalent zur sacrosanctitas der Volkstribune, sodass das Gesetz vermutlich gedacht war, um patrizische Magistrate zu schützen). Dieses Gesetz wurde dann auf infamierende Dichtung übertragen – der Prozess gegen Naevius ist hier zentraler Beleg; in dieser Weise verstehen es Cicero und Horaz. Vgl. auch: George Lincoln Hendrickson, Verbal Injury, Magic or Erotic Comus? (Occentare ostium and Its Greek
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dings das Anliegen Useners, auf bestimmte Phänomene des italischen Brauchtums hinzuweisen, etwas in Vergessenheit geraten. Es kann keinen Zweifel geben, dass es auch in Italien Rügebräuche gegeben hat,118 und es ist zumindest nicht unwahrscheinlich, dass diese in Zusammenhang mit den rites de passage der jeweiligen regionalen iuuenes standen. Michèle Ducos hat mit guten Gründen hinter der occentatio eine Form des Charivari vermutet, legt ihr doch die Definition von Festus eindeutig die drei Hauptcharakteristika, nämlich infamierende Absicht, Lautstärke und einen gewissen antimusikalischen Zug (Katzenmusik) bei. Die oben zur Darstellung gebrachte Geschichte um Manlius trägt ja auch den Züge eines Rügebrauchs, mit dem der junge Manlier zugleich das Gebot des Vaters unterläuft (sich dabei mit List Eintritt in das Haus des Tribunen verschafft) und doch im Sinne des Vaters eine Rüge gegen dessen Widersacher ausspricht. Als Initianden der Gemeinschaft der Erwachsenen genießen die Heranwachsenden zunächst einmal keine besonderen Lizenzen, sondern erdulden oft – wie bei den griechischen Epheben (Vidal-Naquet) – besondere Prüfungen, mit denen sie sich für die Aufnahme in die Gemeinschaft der erwachsenen Vollbürger qualifizieren müssen. Ebenso kennzeichnen mittelalterliche und frühneuzeitliche Rügebräuche zwar auf den ersten Blick besondere formale Lizenzen – ausgelassener Spott und eine Art von Selbstjustiz –, tatsächlich wird diese Lizenz aber im Sinne und stellvertretend für die Erwachsenen wahrgenommen. Beim Charivari (dt. Katzenmusik, engl. rough music) z.B. handelt es sich um eine Form der „Antimusik“, einen ohrenbetäubenden Lärm,119 der auf besonderen (schrägen) Instrumenten gespielt wurde.120 Die Jungmannschaft zog dabei vor das Haus einer Person/Familie, die gegen Normen der Gemeinschaft verstoßen hatte; der Brauch bedeutete soziale Diffamierung. Besonders ins Auge sticht dabei der Umstand, dass die Jungmännerbünde sehr häufig, wenn auch nicht ausschließlich, bei Verstößen gegen sexuelle Normen aktiv wurden: Untreue, Ehebruch, gegen Frauen, die ihre Männer schlugen, Mesalliancen, Wiederverheiratungen von Witwen und Witwern.121 Das mag auf den ersten Counterpart), in: Classical Philology 20 (1925), S. 289 – 308, besonders S. 289. María José Bravo Bosch, La injuria verbal colectiva, Madrid 2007. 118 Eduard Fraenkel, Two Poems of Catullus, in: JRS 51 (1961), S. 46 – 53 (zu c. 42 auch auf deutsch: Das 42. Gedicht Catulls, in: Rolf Heine [Hg.], Catull, Darmstadt 1975, S. 431 – 443): „The process of flagitatio, which modern learning has had to recover from a few echoes in literature, was familiar to every Roman child.” (S. 50f.). 119 Vgl. Wilhelm Kroll (Hg.), Catullus, Stuttgart 71989, S. 77 (zu Catull c. 42): „reflagitemus durch lautes Geschrei, das ursprünglich in flagitare liegt“. Hinrichs (1991) S. 432. 120 Roger Pinon, Qu’est-ce qu’un charivari? Essai en vue d’une définition opératoire, in: Hans Friedrich Foltin/ Ina-Maria Greverus/ Joachim Schwebe (Hgg.), Kontakte und Grenzen. Probleme der Volks-, Kultur- und Sozialforschung, FS G. Heilfurth, Göttingen 1969, S. 393 – 405, 398 mit Anm. 13. 121 Hinrichs (1991) S. 443 – 450.
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Blick überraschen, hält man doch gerade die Jugend im Bereich des Sexuellen eher für selbst der Kontrolle bedürftig als für ein soziales Kontrollinstrument. Tatsächlich sind es aber gerade die Jugendlichen, die hier ihren Eintritt in die Welt der Erwachsenen vorbereiten und gleichzeitig dafür sorgen, dass der Heiratsmarkt nicht beschädigt wird und die Grenzen der Geschlechter mit ihren verschiedenen kulturellen Performanzen eingehalten werden. Es ist vor diesem Hintergrund auffällig, dass das elegische Ich der Liebeselegie ein iuuenis ist, der nicht einer patria potestas unterliegt, gleichzeitig aber nicht die gesellschaftliche Position eines uir sui iuris ausfüllt – auch wenn er sie, im Falle des Properz, der ausdrücklich den Tod seiner Eltern konstatiert, logischerweise innehaben müsste.122 Er lebt eben nicht für die res publica, übernimmt auch keine Verantwortung für eine domus, geschweige denn familia, sondern verharrt in den (prekären) Freiräumen der adulescentia. Dieses Verharren ist, wie die Elegien 1, 4 und 1, 6 des Tibull in exemplarischer Klarheit belegen, zugleich ein Verzweifeln an der Listkompetenz. Die Bewertung der römischen Liebeselegie hat gerade, was das Verhältnis zu den Werten der römischen Gesellschaft angeht, eine bemerkenswerte Wandlung erlebt. Wilfried Stroh und Niklas Holzberg betonten in den achtziger Jahren, durchaus abhängig vom politischen Zeitgeist, eine jugendliche Haltung des „Make love, not war“, das sich in den drei zentralen Begriffen des foedus aeternum, des seruitium amoris und natürlich vor allem in der militia amoris niederschlage. Diese Begriffe wurden zunächst als Umstülpungen des eigentlichen Militärdienstes, als Gegenkonzept zur wirklichen Ehe und als Umkehrung des Verhältnisses von Mann und Frau verstanden.123 Dagegen ist inzwischen, besonders von Holzberg selbst, das 122
Bei Tibull fällt auf, dass er im Falle seines eigenen Todes nur weibliche Verwandte einschließlich der Mutter um sich sieht. Konstan (1994) S. 154, auch zu Properz 2, 20, 15: ossa tibi iura per matris et ossa parentis. Properz beteuert hier übrigens seine Treue zur Geliebten und arrogiert die grauitas der Männer ausgerechnet im Bereich der erotischen Liebe (2, 20, 14): tu modo ne dubita de grauitate mea. Es ist ein klassisches Beispiel dafür, wie das foedus aeternum mit Werten der römischen Familie abgestützt wird. 123 Wilfried Stroh, Die Ursprünge der römischen Liebeselegie. Ein altes Problem im Licht eines neuen Fundes, in: Poetica 15 (1983), S. 205 – 246. Holzberg (2001) S. 21ff. auch selbstkritisch zu seiner ersten Auflage 1990 (dort vgl. etwa S. 15); allerdings hält Holzberg daran fest, dass die Liebeselegie die Werte der Gesellschaft umdrehe, auch wenn er sie nicht mehr im engeren Sinne als gesellschaftskritisch wertet. Vgl. aber ders. S. 15: „Er [der eleg. Liebende] errichtet (…) eine alternative Existenz, in der die moralischen Werte der Welt, in der ein junger Römer aus gutem Hause normalerweise lebt, entweder unverändert oder unter umgekehrten Vorzeichen gelten.“ [Hervorhebung F.W.]. Und unten: „Analog zur Institution der Ehe, die auf Lebenszeit geschlossen wird, soll die Bindung des poeta/amator an seine puella, mit der er in freier Liebe zusammen sein möchte, nach seinem Wunsch bis zu seinem Tode währen.“ Wenn wir hinzunehmen, dass Tibull sich gar nicht auf die militia amoris beschränkt, sondern auch seine wirkliche militia für Messalla in sein Dichten hinein nimmt, bleibt eigentlich nur das seruitium amoris bei ihm
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Bewusstsein dafür geschärft worden, dass die Liebeselegiker die akzeptierten Werte der römischen Gesellschaft nicht einfach negieren, sondern recht eigentlich in ihre „illegitimen“ Liebesverhältnisse einbringen, wenn sie die Beziehung zur puella als unverbrüchlich gestalten und diese selbst am liebsten als uniuira sähen.124 Das elegische Ich erprobt damit akzeptierte Werte der Väter in einem lizenzierten Freiraum. Das aber ist die Logik der (meisten) Jungmännerrituale. Hier zeigt sich eine zentrale Funktion der Liebeselegie, die bekanntlich auch ihren Boom in der spätrepublikanischen und frühaugusteischen Epoche erklären kann, problematisieren diese Dichtungen doch den Übergang der iuuenes in die Welt der senes125 gerade zu einem Zeitpunkt, als einerseits die Wertewelt der Gemeinschaft selbst ins Wanken gerät,126 andererseits von politischer Seite Bemühungen angestrengt werden, die iuuentus korporativ zu reetablieren. Es handelt sich nicht um einen generellen Protest gegen die Welt der „Erwachsenen“, da er diese nicht gänzlich in Frage stellt, sondern überkommene Werte zum Medium des Protestes macht. Dieser Protest folgt der Logik der Rüge und dies zu verstehen bedeutet, auch ihren funktionalen Gehalt für die literarische Imagination des politischen Übergangs zu begreifen. Die Augusteer leisten mit der Liebeselegie etwas für die augusteische Restauration. So werden einige Werte beibehalten (die fides des foedus aeternum), andere werden umbesetzt (militia) und in einer Situation existentieller Prüfung (seruitium) ausprobiert und ausagiert. Genau diese Logik liegt auch den späteren europäischen Rügebräuchen zugrunde. Dies widerspricht der These Holzbergs et al. nicht, sondern motiviert sie etwas anders: Die jungen Männer bekräftigen ihren Status als Initianden der Gemeinschaft der Erwachsenen, indem sie mit karnevaleskem – mit Livius könnte man sagen fescenninem – Spott Werte verteidigen, die für die Gemeinschaft der Erwachsenen zentral sind, in die sie ja hinein möchten. Dies bezieht sich auch immer wieder auf den Bereich der ehelichen Treue, d.h. es geht um das Verübrig. Dies beschreibt vielleicht besser ein Lebensgefühl als ein Lebenskonzept. Damit ist das elegische Programm des Tibull kein Gegenentwurf, sondern eher eine Art Experimentierfeld, in dem männliche Geschlechtsidentität entwickelt wird. Es ist vor diesem Hintergrund vielleicht kein Zufall, dass Tibull als einziger Liebeselegiker auch Knabenliebe besingt. Der Schwellenzustand wird „häufig mit dem Tod, dem Dasein im Mutterschoß, mit Unsichtbarkeit, Dunkelheit, Bisexualität, mit der Wildnis und mit einer Sonnen- oder Mondfinsternis gleichgesetzt.“ (Turner [2000] 95). Tod und Bisexualität sind die Themen der Liebeselegie schlechthin, Bisexualität nicht allein durch Marathus, der ja exklusiv tibullisch ist, sondern durch die mollitia und Effeminisierung des iuuenis. 124 Zu Holzberg s. vorig. Anm. James (2003) S. 49: „(…) Roman love elegy uses the lexicon of marriage to describe nonmarital relationships.“ 125 Man mag hier eine Zwischenstufe erwarten, aber genau diese kannten Römer eben nicht: siehe oben und bes. Christes (1997a) S. 14. 126 Vgl. etwa zu Catull besonders: Christopher Nappa, Aspects of Catullus‘ Social Fiction, Frankfurt am Main u.a. 2001, 85ff. William Fitzgerald, Catullan provocations. Lyric poetry and the drama of position, Berkely – Los Angeles – London 1995. Wray (2001).
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spotten und Infamieren von Ehebrechern und Ehebrecherinnen, aber auch von gehörnten Ehemännern, die nicht genug auf die Treue ihrer Frauen geachtet haben. Der moderne Ausdruck „jemandem aufs Dach steigen“ erinnert etwa an ein mittelalterliches Ritual, bei dem Jungmännerbünde Ehebrechern das Dach abdeckten.127 Aber zentral für das Charivari ist das Potential, dieses in einem Appell an die infamierende Macht der Jungmannschaft zu funktionalisieren.128 Die Krise der Republik und der Beginn der Restitution ist dabei der richtige Nährboden für die Literarisierung einer solchen symbolischen Performanz und erklärt zugleich die Blüte und das rasche Verschwinden der Gattung.129 Ferner erklärt es aber auch, warum die List in der Elegie nicht zielführend ist und den Jugendlichen, anders als in der Komödie, enttäuscht. Das Scheitern der List in der Elegie erklärt sich nicht aus der generellen These Abbots, dass der dolus seit der Republik aufgrund eines Wandels im Recht negativ konnotiert ist. Das Scheitern der jugendlichen List artikuliert eine Krise der Adoleszenz, in der es den jungen Männern schwer wird, die Schwelle zum Erwachsenen zu übertreten. Dennoch hat auch diese Inszenierung einer „Listkrise“ als Codierung einer Adoleszenzkrise einen konstruktiven Charakter (wie die Rügebräuche ihn ja auch aufweisen). Es war Augustus, der sich darum bemühte, die iuuentus, die in zahlreichen augusteischen Texten, namentlich denen des Livius und des Vergil als Unterpfand römischer Größe erscheint, korporativ neu zu fassen und moralisch neu zu orientieren. Dies geschieht auch vor dem Hintergrund der pessimistischen Darstellung jugendlicher condicio humana (etwa der Anhänger des Catilina bei Sallust).130 Die Liebeselegie stellt vor diesem Hintergrunde einen Fortschritt dar, gibt sie doch den iuuenes eine Stimme und verhandelt die Diskrepanz zwischen staatlichen Ansprüchen und dem Gefühl moralischen Ungenügens – dies tritt gerade bei Tibull in besonderer Schärfe hervor, der seine Abweisung der Politik und des Krieges immer wieder durch Hinweise
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Karl Meuli, Charivari, in: Horst Kusch (Hg.), FS Frank Dornseiff, Leipzig 1953, S. 231 – 243, 233. 128 Auch in frühneuzeitlichen Texten (zu denen keine genetische Kontinuität seit der Antike behauptet wird! Es geht allein um die Homologie) erscheinen die iuuenes als eine Institution, an deren Macht sich solche wenden können, die sich von ehelicher Untreue bedroht sehen. Sie richten sich gegen die Verletzung von Werten der Gemeinschaft und werden oft in karnevalesker Umdrehung präsentiert, die die Umkehrung der Ordnung symbolisiert, anprangert und komisch ausagiert. Für Hinweise auf diesen Punkt danke ich meiner romanistischen Kollegin Katja Gvozdeva. Vgl. auch Katja Gvozdeva, „Groteske Ehe“ in der Frühen Neuzeit und ihre medialen Reinszenierungen, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 3 (2004), S. 475 – 490. 129 Stroh (1983) S. 244. 130 Néraudau (1979) S. 92, 367.
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auf seine eigenen Feldzugserfahrungen unterläuft – eine reine Protesthaltung sieht anders aus.131 Ich habe an anderer Stelle gezeigt,132 dass auch die Epoden des Horaz insgesamt in der Logik einer inszenierten Liminalität aufgehen. Damit ist gemeint, dass Horaz dichterische Äquivalente zu symbolischen Ausdrucksformen schafft, die wir in anderen Gesellschaften als Medien erkennen, um soziale und politische Liminalitäten zu beschreiben. Das lyrische Ich gebärdet sich in den Epoden wie ein ritual clown, eine Art menschliches Pendant zum mythischen trickster, d.h. es insziniert sich zugleich als stark und schwach, als aggressiv und labil, als männlich und weiblich und symbolisiert so selbst die Schwelle eines liminalen Prozesses. Im Rahmen jener Veröffentlichung wurde diese clowneske Selbstinzenierung des Horaz noch nicht auf das gleichzeitige Phänomen der Liebeselegie bezogen. Doch findet es genau hier eine Entsprechung. Dieser Aspekt ist von Horaz zwar nicht eigens in den Vordergrund geschoben worden (sonst hätte er vielleicht auch selbst die Gattung der Liebeselegie gewählt),133 aber besonders sein verwirrender Umgang mit seiner Widersacherin, der Hexe Canidia, die er in der letzten Epode zugleich verhöhnt und (vergeblich) beschwichtigt134 (während diese ihn vergeblich zu bändigen sucht135), zeigen diese bewegliche Seite des Ritualnarren, der sich eines festen Zugriffs immer wieder entziehen kann. Besonders der trickster (ein Beispiel ist etwa Till Eulenspiegel, dessen listiges Wesen in der Einleitung vorgestellt wurde. Canidia selbst prophezeit dem lyrischen Ich der Ep131 Insofern scheint mir Néraudau (1979) das Problem der Logik nach richtig umrissen, an Tibull aber falsch exemplifiziert zu haben, wenn er einige Äußerungen des Horaz, in denen er kriegerische Tugend und Ertüchtigung durch die Jagd propagiert (Sat, 2, 2, 9 – 13; c. 3, 2; 3, 24, 54ff.; 3, 7, 25f.; 3, 12, 7 – 12; 1, 8, 3 – 7), gleichsam als Antwort auf Tibull und die Elegiker auffasst (S. 369 mit Anm. 83 auf S. 381). Horaz antwortet in den Oden eigentlich auf sich selbst, sein Epoden-Ich, denn er hat den gleichen Konflikt durchlebt. Gerade c. 3, 24, 54ff. macht genau diesen Zusammenhang zwischen kindlicher mollitia und väterlichem Werteverlust deutlich (s.o.). 132 Wittchow (2005c). Dort auch weitere Literatur. 133 Jugend und Alter spielen auch in den Epoden eine Rolle, jedoch geht es Horaz m. E. nicht grundsätzlich um das Problem der Jugend, sondern er symbolisiert mit seiner Jugend, die im Kampf mit Canidia zu einem resignativen Alter wird, in genereller Weise eine Gesellschaft im Umbruch. Verwandt sind aber Elegie und (horaz.) Epode in diesem Punkt sehr wohl. Zur Nähe von Epoden und Liebeselegie vgl. Hans Peter Syndikus, Horaz und die elegischen Dichter, in: Radke (1998), S. 375 – 398, bes. S. 391 – 394 mit weiterführender Literatur. 134 epod. 17, 1f.: iam iam efficaci do manus scientiae/ supplex et oro regna per Proserpinae; dagegen 17, 19f.: dedi satis superque poenarum tibi/ amata nautis multum et i nstitoribus. Diese Anrede wird die Hexe wohl kaum besänftigen. 135 epod. 17, 76 – 81: an quae mouere cereas imagines/ ut ipse nosti curiosus, et polo/ deripere lunam uocibus passim meis/ possim crematos excitare mortuos/ desiderique temperare pocula/plorem artis in te nil agentis exitus? Die Hexe ist sich eben nicht sicher, ob sie genug Macht über Horaz hat.
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oden ein Schicksal wie das des tricksters Prometheus136) besitzt neben seiner verwirrenden Kombination von Aggressivität und Schwäche auch die List als Maxime seines Handelns. Trickster und Ritualnarr sind ein „Dazwischen“ wie die List, die kein Gegenkonzept zu etwas ist, sondern zwischen Norm und Bedürfnis vermittelt. Aggressivität und Schwäche sind ja in gewisser Weise Zeichen auch der List, denn sie ist das Mittel des Schwachen, um dem Starken etwas abzuringen. Die reale Existenz liminaler Rituale als Quelle der literarischen Imagination wurde bei der Analyse der Epoden noch bewusst offen gelassen, stattdessen wurde lieber von Analogien gesprochen. Für die vorliegende Untersuchung zu Tibull und Ovid ist dieser Weg auch denkbar, insofern die römische Liebeselegie als eine Literaturgattung verstanden wird, die den Übergang vom iuuenis zum senex thematisiert und mit spezifischen politisch-sozialen Übergängen parallelisiert. Allerdings könnte Tibull an dieser Stelle (1, 6, 81) tatsächlich auf bestimmte Formen jugendlicher Rügelizenz anspielen, auch wenn wir mangels Quellen deren Form nicht exakt bestimmen können. Besser fassbar sind, wie bereits erwähnt, die griechischen Vorbilder, sodass die Existenz entsprechender römischer Riten zum Teil ganz in Abrede gestellt wird.137 Doch bereits Catull hat die flagitatio dichterisch verarbeitet (auch hier mit einer Verbindung zum Mimus),138 hinzu kommen gerade in der Komödie bestimmte Anspielungen auf das occentare ostium. Auch wenn diese Stellen ebenso wie die juristischen Belege für das occentare stark um136
epod. 17, 65 – 69: optat quietem Pelopis infidi pater/ egens benignae Tantalus semper dapis/ optat Prometheus obligatus aliti/ optat supremo conlocare Sisyphus/ in monte saxum. In der Palinode, mit der Horaz seine jambische Aggressivität beendet, bezieht er sich wiederum auf Prometheus (c. 1, 16, 13 – 16): fertur Prometheus addere principi/ limo coactus particulam undique/ desectam et insani leonis/ uim stomacho adposuisse nostro. Der trickster-Gott ist verantwortlich für die jambische Mischung von Aggressivität und Schwäche. 137 Vgl. zu Griechenland Kapitel 4 Anm. 59 (Vidal-Naquet). Pinon (1969) rechnet offenbar für die römische Antike fest mit einem Brauch, der dem Charivari entspricht, schließt aber das röm. conuicium mit seiner Definition aus (S. 404f.). In Pinons Definition (S. 404) spielt die lärmende Musik eine zentrale Rolle für das Charivari. Auf eine solche scheint aber Ducos (2003) S. 286 aus der Formulierung von Festus cum quodam canore zu schließen, ohne dies allerdings auszubuchstabieren. Ich spreche aufgrund der prekären Quellenlage lieber allgemeiner von Rügebräuchen und frage nach der Logik des mittelalterlichen und neuzeitlichen Materials. 138 c. 42, vgl. bes. 6 – 9: persequamur eam et reflagitemus!/ quae sit quaeritis? Illa, quam uidetis/ turpe incedere, mimice et moleste/ ridentem catuli ore Gallicani.). Fraenkel (1961) S. 48: „The crowd of the little poems surround their victim, and with the gusto of Italian youngsters who relish such a game they shout at her. (…) The connotations of the word mima are well known.” Vergleich mit dem occentare ostium S. 49f. Siehe auch Kenneth Quinn (Hg.), Catullus. The Poems, Bristol 1996 (=21973), S. 217; Syndikus (1984) S. 226 – 230; Robinson Ellis, A Commentary on Catullus, Hildesheim – Zürich – New York 1988 (ND von Oxford 21889), S. 148 (zu mimice). Eine Catull-Imitation der flagitatio aus c. 42 nimmt Ellis in Ovid ars 3, 447ff. wahr (S. 148). John Ferguson (Hg.), Catullus, Lawrence (Kansas) 1985, S. 121 – 123; Kroll (1989) S. 77: „Sitte der öffentlichen Beschimpfung“.
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stritten sind, ist es doch nicht unwahrscheinlich, dass wir hier Spuren eines römischen Charivari vor uns haben.139 Ein weiterer Hinweis ist auch die Theatertheorie des Livius, die eine besondere Nähe von Stegreifspiel und jugendlichen Spottritualen herstellt. Gerade weil die historischen Tatsachen hinter dieser eigentümlich inkonsequenten livianischen Darstellung verschwimmen, kommt diesem Versuch des Historikers, eine solche Verbindung herzustellen, besondere Bedeutung zu. Offenbar wollte er eine Nähe von zwei kulturellen Praktiken historisieren, die er als zusammengehörig wahrnahm. Er hat in seiner Theorie des Theaters das römische Stegreifspiel140 in den Kontext der Spottverse junger Männer gestellt (7, 2, 4 – 7): (…) Sine carmine ullo, sine imitandorum carminum actu ludiones ex Etruria acciti, ad tibicinis modos saltantes, haud indecoros motus more Tusco dabant. Imitari deinde eos iuuentus, simul inconditis inter se iocularia fundentes uersibus, coepere; nec absoni a uoce motus erant. Accepta itaque res saepiusque usurpando excitata. Vernaculis artificibus, quia ister Tusco uerbo ludio uocabatur, nomen histrionibus inditum; qui non, sicut ante, Fescennino uersu similem incompositum temere ac rudem alternis iaciebant sed impletas modis saturas descripto iam ad tibicinem cantu motuque congruenti peragebant. Der Historiker beschreibt hier in einer etwas unklaren Weise das Aufgreifen von burlesken carmina durch Jugendliche, die diese Verse untereinander (inter se) gebraucht haben sollen. Damit gibt es einen Hinweis auf Spottverse (iocularia), die der Bekräftigung der Kameradschaft innerhalb der Gruppe dienen (inklusives Gelächter). Gleichzeitig haben diese Verse fescenninen Charakter, d.h. sie bezeichnen nicht allein inklusiven, sondern auch exklusiven Spott. Die fescennine Komik hat ihren Ort in der persönlichen Invek139
Ducos (2003) S. 286: „il s’agit donc d’une forme de charivari.“ Für Plautus ist freilich nicht ganz klar, ob es sich um die Adaption griechischer Bräuche handelt (Hendrickson [1926]). Insgesamt muss man sagen, dass die Existenz jugendlicher Spottrituale in Rom wohl kaum ernsthaft in Zweifel gezogen werden kann. Sie sind für das ganze Abendland belegt und ergeben sich aus der Logik der römischen „Mythen“. Es wäre ein Fehler, die Liebeselegie nicht unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, beschneidet man sich doch auf diese Weise das ohnehin karge Material. Vgl. auch Wray (2001) S. 58: „Recent work in anthropology and sociology has made it increasingly possible (and meaningful) to speak of a continuous ,ancient Mediterranean‘ or even simply a ,Mediterranean‘ manhood, though the specificity of a given point along that continuum is not to be elided.“ 140 In diesen Zusammenhang gehört die oskische Atellane, die sich vom Mimus zwar generisch unterscheidet, aber doch ganz ähnliche Publikumsvorlieben bedient. Tatsächlich hat der Mimus in der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. „die Atellane in ihrer vornehmlichen Funktion des Tragödiennachspiels abgelöst.“ Rudolf Rieks, Mimus und Atellane, in: Eckard Lefèvre (Hg.), Das Römische Drama, Darmstadt 1978, S. 348 – 377, 361 zu Cic. fam. 9, 16, 7.
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tive, aber auch bei Erntefesten und Hochzeiten.141 Der letzte Punkt ist auch deshalb von Bedeutung, weil Tibulls Elegie 1, 4 sich überraschend an einen Titius richtet, für den Tibull vorgibt, sich bei Priap nach praecepta erkundigt zu haben, mit denen man Knaben gewinnen kann – allein, seine Frau verbiete es ihm, diese anzuwenden. Es ist bereits vermutet worden, dass sich dahinter ein sexueller Hochzeitsscherz verbergen könnte.142 Die Verbindung von Stegreifspiel, fescennini uersus und korporativer iuuentus scheint bei Tibull daher eine Folie seiner elegischen Imagination zu sein. Dabei spielt es keine Rolle, ob Livius eigentlich eine authentische Geschichte des römischen Theaters liefert. Bedeutsam ist für diesen Zusammenhang allein, dass er solche Rituale kennt und formale Übereinstimmungen mit der Bühnenposse (Atellane) feststellt. In der juristischen Diskussion besteht (s.o.) keine Einigkeit darüber, ob die occentatio Spott (conuicium, i.e. Infamierung) oder Fluch bezeichnet. Nun hat allerdings Hendrickson143 bereits früh darauf hingewiesen, dass man gerade in früher Zeit keinen großen Unterschied zwischen Fluch und Spott anzusetzen braucht, da das greifbare Ergebnis, die Zerstörung einer sozialen Existenz, in jedem Falle das Gleiche beinhaltet und somit eine quasimagische Relation von Sprechakt und Schaden gegeben ist. Tatsächlich haben wir in der Liebeselegie immer wieder Passagen, in denen die iuuenes den puellae göttliche Strafen ankündigen, zugleich aber darum bitten, dass diese nicht zu hart ausfallen mögen. In Elegie 1, 6 haben wir hier genau die Verbindung von Fluch (durch die Autorität der Bellona-Priesterin) und Spott (durch die Autorität der iuuenes), die die occentatio auszeichnet. Die occentatio verheißt Vergeltung und exakt als Vergeltung tritt die Geliebte des Tibull im zweiten Buch wieder auf.144 Tibull erlebt aber nicht nur eine Vergeltung, er vollzieht auch eine, indem er in den sechs Gedichten des zweiten Buches eine schrittweise reuocatio des elegischen Programms inszeniert. Das seruitium amoris wird pervertiert und beinhaltet Mord, um die Geliebte zufrieden zu stellen (2, 4, 21: at mihi per caedem et facinus sunt dona paranda), und 141
Peter Lebrecht Schmidt, Fescennini versus, in: Der Kleine Pauly 2 (1975), Sp. 539f. Die Bedeutung der fescennini uersus auf Hochzeiten ist eindeutig, dagegen kann es sich beim Invektivengebrauch um eine übertragene Anwendung handeln. Woran Livius genau dachte, ist unklar, die Vorstellung von fesc. uers. bei ländlichen Festen vermutlich reine Konstruktion, vgl. Georg Wissowa, Fescennini versus, in: RE 6, 2 (1909), Sp. 2222f.; Edward Courtney, Fescennini versus, in: DNP 4 (1998), Sp. 483, vgl. auch Catull 61, 126ff. 142 Francis Cairns, Tibullus. A Hellenistic Poet at Rome, Cambridge 1979, S. 173f.; Jacques André (Hg.), Albius Tibullus. Elegiarum Liber Primus. Tibulle, Élégies, Livre Premier, Paris 1965, S. 45; Paul Murgatryod, Tibullus I. A Commentary on the First Book of the Elegies of Albius Tibullus, Bristol 1991, S. 156 – 157; Maltby (2002) S. 236. 143 Hendrickson (1926) S. 86 Anm. 1. 144 Ausgerechnet Bright (1978) S. 122f. lehnt die Identität von Delia und Nemesis in der letzten Konsequenz ab, obwohl er (S. 181 mit Anm. 126) für Tib. 1, 6, 77ff. die Parallele in der Anthologia Palatina zitiert, 6, 283 (anonym). Genau dort wird aber der Hetäre im Alter die Bekanntschaft mit Nemesis verheißen.
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bietet Selbstmord an, um sie zu erfreuen (2, 4, 59f.: si modo me placido uideat Nemesis me uultu/ mille alias herbas misceat illa, bibam). Der Kriegsdienst wird gegenüber der militia amoris wieder bevorzugt, sofern er verspricht, von den Seelenqualen der Liebe zu heilen (2, 6, 7f.: Quod si militibus parces, erit hic quoque miles/ ipse leuem galea qui sibi portet aquam). Das foedus aeternum verschwindet hinter der Todessehnsucht; das ganze Buch 2 endet wiederum mit einer Verfluchung, nämlich der einer lena (2, 6, 53f.: tunc tibi, lena, precor diras: satis anxia uiuas/ mouerit e uotis pars quotacumque deos). Was in 1, 6 in der Gestalt der anus vereinigt war – Blutsverwandte (Mutter) und Kupplerin – wird in 2, 6 aufgeteilt: Die Blutsverwandte, über die sich Tibull eine Bindung an Nemesis verspricht, ist hier eine Schwester, die lena dagegen ist eine professionelle Kupplerin. Die Schwester ist tot, die Kupplerin wird verflucht. Damit haben sich die in 1, 6 noch komisch gemachten Hoffnungen des elegischen Ichs endgültig zerschlagen. Das Ende ist ein Scheitern.145 5.3.5 Die Antwort Ovids Man muss diese von Tibull geschaffene Ausgangslage berücksichtigen, um die Bedeutung der Ars amatoria und der Amores146 namentlich hinsichtlich der 145
Dem widerspricht ausdrücklich nicht der Umstand, dass es Tibull nicht gelingt, sich aus der Verstrickung zu lösen. Auch Horaz konnte sich dem Griff der Hexe Canidia nicht endgültig entziehen, dennoch wird der Bruch mit der Epodenwelt in der letzten Epode angekündigt und im ersten Buch der Oden noch einmal bekräftigt (Wittchow [2005c]). Tibull inszeniert ein doppeltes Scheitern: das des elegischen Ideals und gleichzeitig das der Lösung von der elegischen Misere. Genau hier wird Ovid ansetzen, s. im Folgenden. Übrigens scheint mir Tibull hier auch einen Bezug zu Terenz aufzumachen (s.o.). In der Andria verstrickt sich der Jüngling Pamphilus in seine Liebe zu Glycerium; dies Verhältnis wird dem Vater offenbar beim funus für deren Schwester. Simo, der Vater des Pamphilus, bekräftigt, dass er seinem Sohn durchaus eine Phase der ungeordneten Liebschaft zu einer Hetäre zugesteht, dass diese Phase aber abgeschlossen werden muss (186 – 190). Tibull macht durch dieses Zitat am Ende des Nemesisbuches, das den Beginn der Andria (105 – 141) zitiert, deutlich, dass er gefühlsmäßig eher am Beginn seiner Liebe steht als an ihrem Ende, m.a.W. dass er sie nicht abschließen kann. 146 Ars amatoria und Amores werden hier zunächst als ein einheitliches Projekt aufgefasst. Natürlich handelt es sich um verschiedene Werke und die Ars amatoria soll nicht auf die Funktion eines Kommentars zu den Liebeselegien reduziert werden. Aber es ist doch so, dass das Besondere der Amores in einer neuen Auffassung von Liebe besteht, die dann in der Ars didaktisch entfaltet wird – ob als Parodie, echte Didaxe oder metapoetische Aussage, sei vorerst dahingestellt. Diese neue Auffassung von Liebe zeigt sich darin, dass die ovidischen Elegien zwar der Gattungstopik (glücklicher Anfang – Misstrauen und Gefühl des Abgelehntwerdens – Abschied von der Geliebten) folgen, aber die Liebe nicht zentraler Prüfstein für Scheitern oder Obsiegen eines Lebensplanes ist, so wie ihn etwa Tibull 1, 1 entwickelt. Ovid wendet sich am Ende der Amores einem neuen Projekt zu, Tibull endet 2, 6 mit Verzweiflung und Fluch, Properz beginnt in Buch 4 ebenfalls ein neues Dichtungsprojekt, aber der Versuch, sich von Cynthia (auch sexuell) zu lösen, ist
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artes als Strategeme richtig zu würdigen.147 Tibulls elegante Sprache hat aus dem burlesken Mimus eine Verbindung von Komik und sprachlicher Dezenz geschaffen, die für Ovid reizvoll sein musste. Gleichzeitig bietet Tibull eine prekäre Verbindung von Komödienintrige, Listkompetenz und Gelächter, die in einem Scheitern (an der Passage) mündet. Er präsentiert einen schwachen iuuenis, eine meretrix mala, die Vergeltung bringt und erhält, eine Fragwürdigkeit der praecepta, die gegen ihren Lehrer ausschlagen und eine Dislozierung des elegischen Ichs in der Gruppe der iuuenes. Tibull missglückt die Passage vom iuuenis zum senex, er kann sich nicht vorstellen, später von den iuuenes durch seine Erfahrung geachtet zu sein und muss sie seinerseits um Hilfe bitten. Einen Platz hat er dort aber nicht. Dieses Scheitern ist es, das Ovid umgeht, indem er die elegische Listkrise wieder beendet. Ovid klärt zuallererst sein Verhältnis zu den iuuenes neu – auf etwas Ähnliches hat Jula Wildberger im Zusammenhang mit der Triumphdarstellung in ars 1, 217 hingewiesen (s.o.). Selbstbewusst spricht er außerdem aus, dass die iuuenes seine Ars amatoria mit Gewinn werden lesen können und erwartet gegen Ende des zweiten und dritten Buches die Dankbarkeit bei den Jungen und Mädchen, die Tibull versagt geblieben ist. Gleichzeitig werden die iuuenes als strafende Jungmannschaften obsolet. Ferner setzt er genau da an, wo Tibull mit Delia Schluss gemacht hat. Es ist mehrfach bemerkt worden, dass Ovid aus Motiven, die Tibull in ein Gedicht zwingt, mehrere Einzelelegien macht.148 Tibull hat in 1, 6 das lyrische Ich sich an verschiedene ungeeignete Bündnispartner wenden lassen und dadurch einen komischen Effekt erzielt, bei dem das unausweichliche Scheitern des lyrischen Ichs geradezu ubiquitär wird. Ovid bietet durchaus ähnliche Situationen an: Er muss vor dem erfolgreichen uir zurückweichen (1, 4), bittet vergeblich den Türhüter um Einlass (1, 6), muss hilflos zusehen, wie eine Kupplerin seiner Corinna Ratschläge erteilt (1, 8) usw. Aber diesen Elegien werden immer wieder solche an die Seite gestellt, in denen Ovid selbst die Geliebte hintergeht (2, 7 und 8 – Cypassis; 2, 10), in denen er Corinna (1, 5; 2, 12) erobert oder sich über den uir lustig macht. Dadurch wird die List bei Ovid nicht zu einem generell sich gegen den elegischen iuuenis kehrenden Konzept, sondern ist Teil eines Auf und Ab, in dem bald prekär (4, 8), vgl. Marion Komp, Absage an Cynthia. Das Liebesthema beim späten Properz, Frankfurt am Main u.a. 1988, S. 180. Antonio de Caro, Non ego sum qui fueram. Le fratture del tempo nelle elegie di Properzio, in: Pan 13 (1995), S. 61 – 77. 147 Harold C. Gotoff, Tibullus: Nunc Levis est Tractanda Venus, in: HSCPh 78 (1974), S. 231 – 251, 247: „But he critics who applaud the humour of Ovid [sc. am. 2, 19 und 3, 4] fail to recognize its origins both in 2.4 and 1.6, which portray a cyclical way of courtship.” Gotoff hat die Komik bei Tibull vielleicht am besten erfasst. 148 Michael von Albrecht (Hg.), Ovid, Amores. Liebesgedichte. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2001, S. 239. Ders. in seiner Literaturgeschichte (1994a) S. 600 und 635; Neumeister (1986) S. 163.
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der elegische Spieler, bald seine Gegenspieler den Sieg davontragen. Properz zum Beispiel ist seiner Geliebten auch nicht immer treu, leidet aber, anders als Ovid, an dieser Situation und sehnt sich in die Eindeutigkeit einer monogamen Knechtschaft zurück. Untreue ist bei ihm kein Spiel, sondern Verschärfung des elegischen Dilemmas.149 Dies entspricht in etwa dem, was Ovid selbst in der Ars amatoria darlegt, wenn er im dritten Buch den Mädchen Ratschläge gibt, um Waffengleichheit herzustellen.150 Die Niederlage, die der praeceptor amoris bei Ovid erlebt, ist keine vollständige, sondern ergibt sich aus einem wechselseitigen Zugewinn an strategemischer Kompetenz der Mitspieler. Tibull hatte einen Zusammenhang hergestellt zwischen praecepta amoris und dem Scheitern der Beziehung, doch „[a]nders als der [tibullische] Gartengott führt er [sc. Ovid] seine eigenen Lehren nicht ad absurdum.“151 Ovid versteht nämlich ars, um es überspitzt auszudrücken, aus einem augusteischen Blickwinkel heraus als „griechische List“; d.h. er verbindet sie mit Konzepten von metis und techne, die bei den meisten anderen augusteischen Autoren negativ konnotiert sind und als solche nicht selten den Griechen unterstellt werden. Grundsätzlich hat die lateinische ars wie die griechische techne sowohl die Bedeutung einer lernbaren Kunst oder eines Metiers als auch die eines Kunstgriffes, Kniffes oder Strategems. Techne als Metier finden wir etwa seit der Sophistik, z.B. in der rhetorike techne, zu der die Ars amatoria ja durchaus Beziehungen unterhält, erinnert sie doch sowohl lautlich als auch in ihrer strukturellen Disposition an eine ars oratoria.152 Doch schon vor der Sophistik umfasst techne auch den schlauen Kunstgriff und sie behält und erneuert diese Semantik im Rahmen der philosophischen Kritik an den von der Sophistik gelehrten Künsten.153 Ovid versteht seine Ars in diesem Doppelsinn als eine lernbare Kunst und als einen Katalog von Strategemen und Taktiken (artes). Dieser Doppelsinn aber ist ebenso gut römisch wie griechisch gedacht – immerhin kommt ja die Verbindung von iuuenis und List ohnehin über die Nea aus dem griechischen Kulturkreis.154 Die affirmative Gräzisierung des ovidischen Liebesstrategems verdankt sich aber noch einem anderen Aspekt. Sie gilt überhaupt nur vor dem Hintergrund der spätrepublikanisch149
1, 4, 1 – 4 (die ganze Elegie ist Beleg dieser These). ars 3, 1 – 6, besonders v. 3: ite in bella pares! 151 Wildberger (1998) S. 88. 152 Thaddäus Zielinski, Marginalien, in: von Albrecht/ Zinn (1968), S. 205; Stroh (1979) S. 118; Ulrich Schmitzer, Ovid, Hildesheim – Zürich – New York 2001, S. 65; Michael L. Stapleton, Harmful Eloquence. Ovids Amores from Antiquity to Shakespeare, Ann Arbor 1996, S. 2ff. 153 Wheeler (1998) S. 28; Detienne/ Vernant (1974) S. 11; Jean-Pierre Vernant, Mythe et pensée chez les grecs, Paris 21966, S. 227; Jörg Kube, TEXNE und APETH: sophistisches und platonisches Tugendwissen, Berlin 1969. 154 Vidal-Naquet (1989) und Philippides (1995).
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augusteischen (also nicht gesamtrömischen) Perhorreszierung der List. Wir konnten sie bei Livius fassen, wenn er die List als unrömisch bezeichnet – obgleich er selbst, wie sich gezeigt hat, Differenzierungen vornimmt, die auch als Kritik einer solchen generellen Abweisung eines listigen Handlungspotentials angesehen werden können. Auch Vergil zeigt uns die List immer nur im Scheitern und Tibull steht ihm darin in nichts nach. Ovids Listen sind dagegen erfolgreich. Der Erfolg der ovidischen List korrespondiert mit einer bestimmten Auffassung der Umwelt, die Detienne und Vernant für einige (man sollte es den Römern nicht nachtun und die Griechen generalisieren) griechische Metis-Mythen herausgearbeitet haben und die ferner auf den Metamorphosen-Dichter vorverweist. Metis und Techne erscheinen in diesem Zusammenhang als Antworten auf eine vielgestaltige Natur; metis ist eine Fähigkeit, Gelegenheiten auszuspähen, sich ihnen anzupassen und sie im eigenen Sinne zu nutzen.155 Dies geschieht in einer Umwelt, in der sich die verschiedenen Kräfte und Mächte, die Gottheiten, Titanen und Menschen in einem labilen Gleichgewicht befinden, das nur dadurch sichergestellt ist, dass Zeus den Kampf um die Herrschaft durch das Verschlucken und damit Monopolisieren der Metis für sich entscheiden konnte.156 Damit ist Zeus immer eine Spur gewitzter als seine Konkurrenten und kann selbst nicht mehr überlistet werden. Dieser Umstand ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Prärogative des Göttervaters (in dieser Sichtweise!) nicht auf einem ethischen Monopol beruht, sondern der Kampf der in der Welt wirkenden Kräfte aus einem wechselseitigen Überbieten listiger Intelligenz (metis) besteht. Die Götter erscheinen somit nicht als zuverlässige Partner, die mit den Menschen ein fides-Verhältnis eingehen; die Natur wiederum erscheint nicht als konstante Entität, die eine sichere Grundlage menschlicher Kultur bietet. Eine solche Auffassung von Göttern haben die Römer bekanntlich nicht geteilt und später sogar programmatisch abgelehnt.157 Durch die Betonung der fides als einer mehr oder minder unbedingten Erwartbarkeit von
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„La mètis est bien une forme d’intelligence et de pensée, un mode de connaître: elle implique un ensemble complexe, mais très cohérent, d’attitudes mentales, de comportements intellectuels qui combinent le flair, la sagacité, la prévision, la souplesse d’esprit, la feinte, la débrouillardise, l’attention vigilante, le sens de l’opportunité, des habiletés diverses, une expérience longuement acquise; elle s’applique à des réalites fugaces, mouvantes, déconcertantes at ambiguës, qui ne se prêtent ni à la mesure précise, ni au calcul exact, ni au raisonnement rigoureux.“ Detienne/ Vernant (1974) S. 10. 156 Detienne/ Vernant (1974) S. 104 – 125. 157 Signifikanterweise stammt die Nachricht, dass Romulus Fabeln der griechischen Mythologie aus dem römischen Götterhimmel verbannt habe, wiederum aus einer augusteischen Quelle (Dionys von Halikarnass), vgl. Fritz Graf, Der Mythos bei den Römern. Forschungs- und Problemgeschichte, in: Graf (1993a), S. 25 – 43, 31.
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Handeln, der Identität von Tun und Sagen,158 waren die Römer daher sehr schnell dabei, listiges Handeln mit den starken Begriffen mendacium, periurus, proditio, fraus usw. zu belegen, auch wenn eine glatte Lüge oder Täuschung gar nicht stattgefunden hat. Auch in Griechenland waren diese Implikationen des Polytheismus bekanntlich früh Gegenstand vielfältiger Kritik; dennoch bleibt die Metis über die Jahrhunderte hinweg fest im griechischen Denken verankert.159 Ovid betont nicht erst in den Metamorphosen die Vielgestaltigkeit der Umwelt, die dem Menschen immer wieder neue Strategeme abverlangt, um in ihr zu bestehen. Auch seine Ratschläge in der Ars amatoria gipfeln in der Erkenntnis, dass das Wesen der Menschen so vielgestaltig ist, dass der Liebende sich immer wieder neu orientieren muss (ars 1, 755 – 766): finiturus eram, sed sunt diuersa puellis pectora; mille animos excipe mille modis. nec tellus eadem parit omnia: uitibus illa conuenit, haec oleis; hic bene farra uirent. pectoribus mores tot sunt, quot in ore figurae: qui sapit, innumeris moribus aptus erit, utque leues Proteus modo se tenuabit in undas, nunc leo, nunc arbor, nunc erit hirtus aper. hi iaculo pisces, illi capiuntur ab hamis, hos caua contento retia fune trahunt: nec tibi conueniet cunctos modus unus ad annos; longius insidias cerua uidebit anus.160 Ovid eröffnet ferner die Ars amatoria mit einer Anspielung auf das 23. Buch der Ilias (315 – 318), wo Nestor seinen Sohn Antilochos für das Wagenrennen instruiert (1, 1 – 4):161 158
Hölkeskamp (2004) S. 113: „Fides bezeichnet somit eine genuin soziale Qualität, die auf eine intensive und unmittelbare Reziprozität, eine verlässliche Gegenseitigkeit aller sozialen Beziehungen zielt.“ 159 Detienne/ Vernant (1974) S. 7 – 13, 52 – 57. 160 Hierin liegt auch ein gewisser Unterschied zu den Ratschlägen des tibullischen Priap, der, im homoerotischen Kontext, erstens generell davor warnt, sich mit Knaben einzulassen (1, 4, 9), zweitens eine Form der Beständigkeit empfiehlt, um zum Ziel zu gelangen (1, 4, 15 – 20). Zwar weiß auch Priap, dass es viele verschiedene Gründe gibt, einen Knaben attraktiv zu finden, aber der Akzent liegt eben auf dieser Attraktivität, nicht auf dem Umstand, dass man sich diesen verschiedenen Personen je anders nähern muss. Das Bild, das Priap bemüht, ist im Gegenteil das einer regelhaft sich verändernden Natur und gerade nicht das der diskontinuierlichen Metamorphose, wie es sich in der Gestalt des Proteus ausdrückt (1, 4, 19f.): annus in apricis maturat collibus uuas/ annus agit certa lucida signa uice. 161 Mario Citroni, Ovidio Ars. 1, 3 – 4 e Omero, Iliade 23, 315 – 18: l’analogia tra le artes e la fondazione del discorso didascalico, in: Sileno 10 (1984) (= FS A. Barigazzi Bd. 1), S. 157 –
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Si quis in hoc artem populo non nouit amandi, hoc legat et lecto carmine doctus amet. arte citae ueloque rates remoque mouentur, arte leues currus: arte regendus Amor. Antilochos lernt im homerischen Bezugstext von seinem Vater Nestor, ein Defizit an Stärke durch List auszugleichen.162 Ovid tritt hier wie Nestor als ein senex auf, der einem iuuenis dabei hilft, die elegische Schwäche durch Strategeme (artes und nicht nur ars) zu überwinden. Ovid markiert das Wesen der artes, die er lehrt, im ersten Buch der Ars amatoria ganz genau. Im Gegensatz zu Tibull etwa, der sich in den eigenen Netzen verfängt, bemüht er ohne Bedenken für die List die Metaphern der Jagd, mit ihren Haken und Netzen163 und zeigt sich in erstaunlich offener Weise als Vertreter einer positiv konnotierten List.164 Sieht sich Tibull als gejagtes Wild, gegen das Netze gespannt werden, ermuntert Ovid die iuuenes, selbst Netze zu spannen. Folgerichtig gibt sich Ovid auch als praeceptor amoris im Sinne eines Bändigers des Gottes Amor. Genau das konnte Tibull, wir erinnern uns, mit seinen Listen gerade nicht leisten, er war der Gewalt des Gottes ausgeliefert. Amor aber ist, so beschreibt ihn Ovid selbst, ein ungebärdiger Knabe (ars 1, 9: ferus est et qui mihi saepe repugnet), seine Macht ist allenthalben fühlbar (am. 1, 1, 15: an quod ubique, tuum est?) und vor allem: unberechenbar (am. 1, 2 45: non possunt, licet ipse uelis, cessare sagittae). Der Gott Amor, verstanden als Metapher für die Liebe, stellt somit eine sprunghafte Naturgewalt dar (vgl. das folgende Kapitel zu den Metamorphosen); und dagegen bietet sich zuallererst die metis an. Was bei Tibull Rechtfertigung des Scheiterns war, 167. Metis deckt in der Ilias noch beide Konnotationen, die von ars und dolus ab. Techne kommt in den homerischen Dichtungen selten, in der Ilias nur einmal vor (G 61, dort für die Schiffsbaukunst), häufiger in der Odyssee, dort sowohl für die technische (z.B. g 433 Schmiedekunst) wie für die listige Kunstfertigkeit (z.B. d 455, spezifiziert durch dolhw), vgl. Carl Capelle, Vollständiges Wörterbuch über die Gedichte des Homeros und der Homeriden, Darmstadt 1968, S. 543 und 156; Wheeler (1988) S. 28; Wildberger (1998) S. 2. 162 Die bewusste Stelle in der Ilias (23, 315ff.) zeigt den Gebrauch von metis im umfassenden Sinne, der nicht allein die List, sondern auch die Handwerkskunst umfasst, setzt doch Nestor mit der Klugheit des Holzfällers ein. Jedoch laufen die Ratschläge, die Nestor selbst gibt, auf Listen hinaus, die durchaus bei den anderen Wettbewerbsteilnehmern für den charakteristischen Unmut der Geprellten sorgen (439ff. und 534 – 562). Detienne/ Vernant (1974) S. 17 – 31. 163 Netz: ars 1: 45; 263; 270; 764; ars 2: 2; 189 (fallacia retia – Priap hat bei Tibull dieses Motiv des Netzetragens für den der Jagd frönenden Geliebten homoerotisch verwendet 1, 4, 49f.), Haken: ars 1, 47; 3, 425 (Angeln). 164 von Albrecht (2003b) S. 201 (für Xenophons Memorabilien 3, 11 als eine Quelle der ovidischen Erotodidaxe, dort finden sich zahlreiche Jagdmetaphern in der Unterhaltung mit Theodote).
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wird bei Ovid Rechtfertigung der List, einer „griechischen“ List, die er dem römischen Volk (ars 1, 1: hoc […] populo) erst beibringen muss. Zum einen erkennen wir in einem solchen Konzept von Liebe, dieser Befund ist für Ovid wohlbekannt, die Ermöglichung eines leichtfertigen Spieles mit erlaubter List und Gegenlist. Die römische fides steht einem solchen Konzept zunächst im Wege und tatsächlich gipfelt die Ars in der Aussage: nomen inane fides (ars 1, 740): „Treue ist ein leeres Wort.“165 Das überbietet vergleichbare Aussagen bei Tibull, der zwar auch weiß, dass meineidige Liebesschwüre ungültig und mithin straflos sein können,166 aber eben gerade nicht die Geliebte und vor allem nicht sich selbst aus der fides entlässt. Dafür aber errichtet Ovid eine klare Grenze zwischen der List in der Liebe und der List in anderen Bereichen des sozialen Lebens (ars 1, 641 – 646): reddite depositum; pietas sua foedera seruet; fraus absit; uacuas caedis habete manus. ludite, si sapitis, solas impune puellas: † hac magis est una fraude pudenda fides. † fallite fallentes; ex magna parte profanum sunt genus: in laqueos, quos posuere, cadant. Hatte Tibull seiner Geliebten sogar Mord angeboten, um ihre Bedürfnisse zufrieden zu stellen, und somit gedroht, die Grenzen der elegischen Welt zu verlassen (er hätte Dritte beschädigt),167 schließt Ovid eine solche Transgression aus dem Bereich des Erotischen aus. Das Erotische wird damit auch selbst zu einem geschützten Bereich – eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende Passage. Es ermöglicht, die Liebesbeziehung selbst als ein Phänomen mit begrenzter Reichweite zu konstituieren und nicht, wie bei Tibull, als ein Lebenskonzept, dessen Scheitern die gesamte Biographie zu beherrschen droht. In am. 2, 19, die eine direkte Antwort auf Tibull 1, 6 darstellt,168 wendet sich Ovid seinerseits an einen Ehemann, der auf seine Frau, eine puella, die es Ovid offenbar angetan hat, nicht richtig aufpasst. Ovid möchte, dass es schwer ist, an eine Frau heranzukommen, denn nur, wenn er verletzt werde, könne er wirklich lieben. Dies gerade habe seine Corinna erkannt (am. 2, 19, 9 – 14): 165
Immerhin bemüht auch Ovid die etwa bei Livius häufige Rechtfertigung römischer List – z.B. gegen die Karthager –, die von einem tückischen Erstschlag des Gegners ausgeht, auch dies gipfelt in dem programmatischen Ausruf: fallite fallentes (ars 1, 645). 166 1, 4, 21f. (aus dem Munde des Priap), dazu Radicke (2006) S. 198. 167 2, 4, 21 – 26: at mihi per caedem et facinus sunt dona paranda/ ne iaceam clausam flebilis ante domum/ aut rapiam suspensa sacris insignia fanis:/ sed Venus ante alios est uiolanda mihi:/ illa malum facinus suadet dominamque rapacem/ dat mihi. sacrilegas sentiat illa manus. 168 McKeown (1998) S. 406, 412.
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uiderat hoc in me uitium uersuta Corinna, quaque capi possem, callida norat opem. a, quotiens sani capitis mentita Dolores cunctantem tardo iussit abire pede! a, quotiens finxit culpam, quantumque licebat insonti, speciem praebuit esse nocens! Ovid enthüllt hier, dass die ganze Beziehung zwischen ihm und Corinna auf einem merkwürdigen Einverständnis beruht: dass Corinna täuscht, weil ihr Liebster es so will. List aber lebt von einem Aufmerksamkeitsdefizit einer Partei, der die andere etwas entreißt.169 Hier nun gibt es kein Aufmerksamkeitsdefizit, weil beide dieses Spiel bewusst spielen. Damit ist die List fast verschwunden.170 Sie ist kein aggressiver Akt mehr, der wie bei Tibull mit Aggressionen beantwortet wird. Das Lachen des Tibull hat ja neben der turbulenten Komik eine aggressive Seite; sie droht mit Zerstörung des guten Rufes, mit Verfluchung und mit der Zerstörung der eigenen sozialen Existenz.171 Die meretrix mala aber erhält hier bei Ovid deutliche Züge einer meretrix bona. All dies erlaubt es dem elegischen Ich, etwas zu tun, was den anderen Elegikern kaum möglich war:172 die Geschichte abzuschließen.173 Der Abschluss aber ist der zentrale Beweis für das Gelingen von rites de passage. Doch endet nicht auch die Geschichte von Ovid und Corinna im Katzenjammer? Es ist zunächst Ovid, der in ihrem Bett versagt. Impotenz ist in den Epoden des Horaz ein deutliches Zeichen für das Desinteresse des Part-
169 Es ist präziser, vom „Wachheits- und Kenntnisstandsgefälle zwischen Strategemanwender und Strategembetroffenen“ (von Senger [1999b] S. 12) auszugehen, als die List pauschal über das Element der Täuschung zu definieren. Viele Listen kommen ohne Täuschung aus, vgl. etwa den Sklaven Syrus im Heautontimorumenos, der am meisten Verwirrung stiftet, indem er die Wahrheit sagt. 170 von Albrecht (2001) ist daher fast Recht zu geben, der in Ovid sogar in der Liebesdichtung einen Moralisten erkannt hat (S. 253ff.). Vgl. ferner Stapleton (1996) S. 1ff. (bes. zu trist. 2, 353 – 357). Allerdings fällt es als Gesamturteil vielleicht doch schwer, ausgerechnet Ovids Amores als moralisch zu bezeichnen. Ebenso übertreibt Stapleton, wenn er letztlich das lyrische Ich der Amores als eine Art sich selbst entlarvenden Kleingeist interpretiert. Die Amores transportieren doch, hier scheint mir die konventionelle Ansicht die richtige zu sein, in erster Linie die Botschaft, dass die Liebe vergnüglich sein kann und daher sein soll. 171 Bright (1978) S. 181: „This brutally detailed picture [sc. 1, 6, 77ff.] has its parallels elsewhere, but none is so pointed or filled with suggestions of pain, both physical and psychological.” Vgl. auch Bright S. 181 Anm. 126 mit Parallelen bei Horaz c. 1, 25 und 4, 13. 172 Bright (1978) S. 181: „Tibullus cannot admit a final rupture.“ 173 Edward Kenney, Ovid. The Love Poems. Translated by A. D. Melville with an introduction and notes by E. Kenney, Oxford 1990, S. xviii – xix.
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ners.174 Man kann daher das Versagen des elegischen Ichs auch als deutliches Zeichen dafür lesen, dass es vielleicht doch Ovid selbst ist, der sich aus dem Spiel entfernt.175 Und tatsächlich: Bevor die Beziehung in Bitterkeit erstickt, beendet sie der Dichter als Dichter, durch die Wahl einer anderen Gattung. Die letzte Liebeselegie vor diesem poeteologischen Ausklang, also Elegie 3, 14, konstatiert zwar die Treulosigkeit der Geliebten, aber es kommt nicht mehr zu einem quälenden Hin und Her zwischen elegischem Ich und puella. Nein, konsequent muss Ovid sagen (3, 14, 1 – 4): Non ego, ne pecces, cum sis formosa recuso sed ne sit misero scire necesse mihi nec te nostra iubet fieri censura pudicam sed tamen ut temptes dissimulare rogat. Man könnte hier, wie es so oft bei Ovid geschehen ist, den Zynismus des schönen Scheins erkennen, dem Ovid den Vorzug gegenüber einer ehrlichen Bindung zu geben scheint. Doch verhindert er durch diese Ansicht genau das, was Tibulls letzte Antwort auf die untreue Geliebte war: die Infamierung der Geliebten in der Gesellschaft. Er fordert sie nicht auf keusch zu sein, sondern keusch zu scheinen!176 Damit entpuppen sich Ars amatoria und Amores nicht als ein ad absurdum der bisherigen Liebeselegie, sondern als eine konstruktive Antwort auf Tibull und Properz – in dieser Reihenfolge. Die Konstellation iuuenis – meretrix – lena wird neu gruppiert; der iuuenis wird mit der List des seruus callidus ausgestattet, die meretrix mala bekommt Züge der meretrix bona; dies führt zu einer konsequenten Perhorreszierung der lena, die als einzige unverändert aus dem bisherigen Programm übrig bleibt.177 Das spöttische und herabsetzende Lachen des Mimus und des Charivari wird in ein einverständiges Lachen der Liebenden überführt. Die Verfluchung der Geliebten bleibt aus.
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Horaz versagt in den Epoden angeblich bei einer hässlichen Vettel und gibt in den Oden (c. 16) durch einen Rückbezug zu erkennen, dass es sich hierbei eigentlich nur um eine Beziehungskrise gehandelt habe und die beschimpfte Frau in Wirklichkeit jung und schön ist. Kiessling/ Heinze (1958) S. 81. Vgl. dazu: Lindsay C. Watson, Horace’s Epodes. The Impotence of Iambos?, in: Stephen J. Harrison (Hg.), Homage to Horace. A Bimillinary Celebration, Oxford 1995, S. 188 – 202; Wittchow (2005c). 175 Bezeichnend sind hier die Fragen, mit denen Ovid am. 3, 7 beginnt (1f.): At non formosa est, at non bene culta puella/ at, puto, non uotis saepe petita meis? Auf den ersten Blick sind sie klar rhetorisch gemeint, aber sie enthüllen vielleicht doch das eigentliche Problem: mangelndes Begehren als erste denkbare Ursache der Impotenz. 176 von Albrecht (2001) S. 255: „Diskretion ist überhaupt ein Leitmotiv der Amores.“ 177 am. 1, 8. Herrmann (2004) S. 172.
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5.3.6 Die wiedergefundene List Durch die Arbeit von Jula Wildberger ist die Frage aufgeworfen worden, inwiefern die Ars amatoria praktikable Anweisungen für Liebende gibt. Diese Frage ist von ihr vorsichtig beantwortet worden, insofern eine ganze Reihe der erotischen Strategeme durchaus einleuchtend formuliert ist (tatsächlich spricht die Ars amatoria bis heute ihre Leser vergleichsweise unmittelbar an), andererseits der metaliterarische Charakter der Dichtung offen zutage tritt. Dieser metaliterarische Charakter ist vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchung zunächst zu betonen, bevor die Frage nach der sozialen Relevanz des Textes noch einmal in den Blick genommen wird: Ovid schreibt insofern eine ars poetica für das Verfassen von Liebeselegien nach Tibull, Gallus und Properz, als er die Motive und das Personal der Liebeselegie neu gruppiert und so einen Neuanfang zumindest theoretisch ermöglicht.178 Daher erscheinen die Liebeslehren der Ars amatoria nicht als ein Handbuch zum Gebrauch in der Gesellschaft, sondern als eine literarische Erörterung der Gattung, die in gewisser Weise die zweite urrömische Schöpfung neben der Satire darstellt. Es ist so recht eigentlich Ovid, der die Elegie vom grotesken und turbulenten Mimus und der Aggressivität eines herabsetzenden Gelächters in die Logik der plautinischen und terenzischen Komödie mit ihrem glücklichen Ausgang überführt. Dennoch scheint die Relevanz für die Gesellschaft in der Behandlung der iuuenes zu bestehen. Die Epoden des Horaz, die Elegien des Tibull und des Properz zeigen alle Jünglinge, die angesichts der politischen (und militärischen) und sexuellen Rollen, die von ihnen erwartet werden, verzweifeln. Ihre Texte behandeln diese Unsicherheit der iuuenes in dem geschützten Raum der Literatur, der eine Art Äquivalent zu einem liminalen Feld gibt, in dem diese Rollen in Negation und Zustimmung zugleich erprobt werden können. Horaz muss sich zwar gegen Ende der Epoden der Macht der Hexe Canidia ergeben (epod. 17, 1f.: Iam iam efficaci do manus scientiae/ supplex et oro regna per Proserpinae); aber er bekräftigt in den Oden Werte der Jugend, die in der augusteischen Restitutionspolitik für die Jugend eine besondere Rolle spielten: Er sieht die Jünglinge sich auf der Jagd ertüchtigen und den „süßen Tod“ fürs Vaterland sterben. Das mögliche Versagen der Jugend bringt er zugleich in Abhängigkeit vom Werteverlust der Väter.179 Anders gewendet: Die horazische persona absolviert erfolgreich die rites de passage, die in den Epoden inszeniert werden. Tibull scheitert an ihnen, Properz nimmt zwischen diesen beiden Möglichkeiten eine Mittelstellung ein, denn er kann sich zwar auch aus seiner Bindung an seine Geliebte befreien, aber seine letzten Gedichte an Cynthia sind keine Darstellungen eines befriedeten Lebensabschnitts: Cynthia taucht als larmoyan178 179
Etwa in diese Richtung kann man Boyd (1997) S. 18 verstehen. c. 3, 24, 54 – 62. Vgl. Néraudau (1979) S. 369 mit Anm. 83 auf S. 381.
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ter Totengeist wieder auf und erscheint im endgültig letzten Gedicht als eifersüchtige Störerin, mit der Properz einen labilen Waffenstillstand herstellt.180 Wie Ovid aber wendet sich Properz im letzten Buch anderen literarischen Projekten zu.181 Ovid selbst übernimmt in den Amores von Properz zwar das scheinbar ambigue Ende der eigentlichen Liebesbeziehung, gleichzeitig aber schließt er mit 3, 15 das literarische Projekt Liebeselegie expliziter ab als dieser: Properz lässt die Aitien parallel zu seiner Liebesgeschichte entstehen, Ovid beendet diese, bevor er sich einem neuen Projekt zuwendet. Und dies ist ausgerechnet das des praeceptor amoris.182 Dieses Abschließen-Können ist von keinem der hier genannten Autoren in dieser Form inszeniert worden (bei Horaz ist es gar eine Leerstelle, die die Epoden von den Oden trennt). In der Ars amatoria legt Ovid die Logik bloß, nach der eine Beziehung einen Anfang, einen Verlauf und einen Schluss erhält.183 Dies ist eine rhetorische Figur, gewiss, sie ist aber ebenso signifikant im Hinblick auf das Überstehen einer Lebensphase, die mit der Jugend verknüpft ist. Der ovidische iuuenis leidet niemals so stark, dass er, um es modern auszudrücken, „beziehungsunfähig“ wird. Sowohl bei Livius als auch in der Komödie wurde deutlich, dass die Römer ihre Jugendlichen eigentlich als listenfroh erleben. Tibull inszeniert die elegische Misere programmatisch als ein Scheitern jugendlicher List, einfach ausgedrückt: Dem elegischen Jugendlichen ist der Spaß an der List vergangen. Ovid gibt sie 180 4, 8. Karin Neumeister, Die Überwindung der elegischen Liebe bei Properz (Buch I – III), Frankfurt am Main – Bern 1983 ist der Ansicht, dass Properz seine Beziehung zu Cynthia sogar am entschlossensten von allem Elegikern beendet habe (S. 11): „Keiner, weder Tibull noch Ovid, hat in derart markanter Weise Auftakt und Abschluß seiner Elegiensammlung von dem Beginn und dem Ende einer leidenschaftlichen Liebe abhängig gemacht wie Properz.“ Aber Neumeister kann dies nur konstatieren, weil „die Sonderrolle, die das vierte Elegienbuch des Properz spielt“, in ihrer Untersuchung „außer acht bleiben“ (S. 11 Anm. 1) soll. Es ist schon richtig, dass Properz den Abschluss mit Cynthia sehr stark markiert und dass auch die Cynthia-Elegien des vierten Buches durch ihre Motivumkehr (jetzt soll Properz perfidus sein, der das sonst immer der Cynthia vorgeworfen hat – das Ganze folgt der Logik der horazischen Greisinnen-Epoden und der Palinoden im ersten Odenbuch) den Abschluss markieren (Komp [1987] S. 49f.). Aber umso auffälliger ist es, dass Cynthia eben nicht einfach verschwindet. 181 Christes (1997a) S. 30. Diana Bormann, Jugend. Rom – Republik und Kaiserzeit, in: Johannes Christes/ Richard Klein/ Christoph Lüth (Hgg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006, S. 72 – 78, S. 77. 182 Stroh (1979) S. 130: „Wie man weiß, bezeichnen sich auch Tibull und Properz als Liebeslehrer (…). Der Lehrer Ovid ist ja weder verliebt noch hat er ein Mädchen: Er lehrt nicht als Exempel, sondern gewissermaßen als echter Lehrer, d.h. auf Grund eines aus vielfacher Erfahrung abgeleiteten Wissens“. Und ebenda Anm. 57: „Was immerhin bei Properz andeutungseise schon vorgebildet ist (vgl. 1, 9, 7; 2, 14, 19f.; 2, 34, 3).“ 183 Niklas Holzberg, Ovid. Dichter und Werk, München 1997, S. 102 nennt die Ars amatoria und die Remedia amoris einen Liebesroman, der im Gegensatz zu den Amores und Heroides ein Happy End habe. Das ist richtig, allerdings ist dies, wie hier gezeigt, eben bereits in den Amores angelegt und vorbereitet.
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ihm zurück, nicht minder programmatisch durch die Veröffentlichung einer Ars amatoria mit Strategemen der Liebe. Wer sich in der Jugend die Hörner abstößt, kann aber die Jugendphase auch beenden. Selbstbewusst sagt Ovid daher gegen Ende der Amores (3, 11, 32): non ego sum stultus ut ante fui. Dieser passage gelingt aber auch deshalb, weil Ovid den iuuenis aus dem Konflikt der ihn bedrückenden Rollenerwartungen erlöst; Ovid sieht die Rolle des jungen Mannes eben nicht zwischen den Anforderungen von Politik (Militär) und Familie auf der einen Seite und Liebe und Sex auf der anderen, sondern er reduziert die Jugendkultur bekanntlich auf das erotische Spiel. Diese Reduktion erscheint antiaugusteisch, sie ermöglicht aber auch das erfolgreiche Durchschreiten der Phase der Jugend.184 5.4 Zwischenergebnis In allen bisher besprochenen Texten – der Aeneis, der Liebeselegie und der Komödie, aber letztlich auch in der Geschichtsschreibung des Livius, den Epoden und Oden des Horaz oder einem Traktat, wie es Senecas Schrift De clementia darstellt, lässt sich je nach Gattung ein mehr oder minder stark ausgeprägtes Beziehungsdreieck zeichnen, das die Phase der Adoleszenz, die Herausforderung der Liebe und die Technik der List umfasst. Gewiss geht es nicht allen diesen Autoren zuallererst um das Verhältnis von Jugend und List, aber gerade durch den Rekurs auf eine altersmäßige Lizenz, listig zu handeln, wird deutlich, dass sie, wie stark sie auch zwischenzeitlich dolus als perfidia perhorreszieren mögen, auf einen konstruktiven Umgang mit diesem Handlungspotential abzielen. Der Aspekt der kontrollierten Emanzipation (die Alten erwarten listiges Handeln der Jungen und provozieren es zum Teil), der sich in der Komödie hat nachweisen lassen, scheint paradox zu sein, trifft sich aber mit dem Potenzial der List, Prinzipien unterlaufen zu können, ohne sie aufzuheben. Die List erscheint als ein signum des heranwachsenden römischen Staates (Romulus und die Folgen bei Livius, der „punische“ Aeneas bei Vergil), als eine Eigenschaft des jungen Mannes (Liebeselegie und Komödie) und als ein proprium der Frau (sämtliche römische Literatur185). Der junge Mann und die Frau nähern sich in der Phase der männlichen Adoleszenz einander an: Hier darf der Jüngling ganz der Leidenschaft ausgeliefert sein (entsprechend der muliebris impotentia, der inertia und mollitia) und er darf diese Leidenschaft mit List zu verwirklichen suchen. Er befindet sich in der Regel – eine Regel, die die Elegie in auffälliger Weise durchbricht 184 Vgl. Wildberger (1998) S. 17: Ovid „führt den Liebenden in die Gemeinschaft seiner Mitbürger zurück“. 185 Eine übertreibende Generalisierung, die aber doch eine Tendenz der von Männern verfassten Literatur Roms (jedenfalls der überlieferten Literatur) beschreibt.
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– wie die Frau unter der patria potestas und kann sie nur unterlaufen, nicht außer Kraft setzen. Während dies für die Frau (idealiter) ein Dauerzustand ist, handelt es sich beim Mann um ein Durchgangsstadium, einen wirklichen passage, der überstanden und abgeschlossen werden muss. Livius hat sämtliche Listen, die die alten Senatoren als unrömisch oder präziser: als unerlaubt modern brandmarken (42, 47, 4 – 9), in der gesamten (überlieferten) Darstellung seines Werkes immer wieder Römer tun lassen. Für Wheeler war diese Stelle daher eine durchsichtige Propaganda, in der wie bei einem Abziehbild eine nur vermeintlich sittlichere Vergangenheit einer modernen Verschlagenheit entgegengehalten wird. Das verdeckt, wie folgerichtig es für den Römer ist, dass die alten Senatoren kritisch von der listigen Politik der Jungen sprechen. Dieser Dissenz ist ein Generationenritual, das für den römischen Leser auch als solches decodierbar ist (vgl. auch die Debatte Fabius – Scipio), und stellt eben nicht das letzte Wort des Livius in Sachen List dar. Gewiss klingt der moralische Generalverdacht der Alten etwas unfroh. Für die rebulikanische Komödie hat sich gezeigt, dass auch die Römer eine Freude an der List entfalten konnten und sie ausgiebig und lustvoll inszenierten. Interessanterweise wird diese Lust an der List von den Augusteern eher zitiert als praktiziert. Waren in der Komödie der listige Sklave – aber eben auch der listige Jüngling – und die listige Hetäre ein zentrales Sujet der Unterhaltung, so können wir dieses Motiv im Mimus durchaus noch vermuten. In die Literatur der großen Augusteer aber ist sie fast nur krisengeschüttelt erschienen. Freilich zeichnet Livius in der Gestalt des Scipio und durch die Übernahme listiger Kompetenzen in die römische Kriegsführung auch gleichzeitig das Bild einer List, die politischen, militärischen und kulturellen Wandel begleitet und moderiert. Er ist damit dem Ovid gar nicht fern, der in seinem gesamten Werk ein Gespür für den Wechsel der Gegebenheiten verrät, seien sie politischer, erotischer oder kosmischer Natur. Er beendet die Krise der List und es sind seine Metamorphosen, die der List in einem umfassenden, kosmologischen Sinne ihre Berechtigung zuerkennen.
III Die List und der Kosmos
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6 Die List und die Stimme: Metamorphosen 6.1 Fatum und Metamorphose Der Ausbruch des Krieges zwischen den Latinern und Trojanern erfolgt in der Darstellung des Vergil durch ein Missverständnis, das von den Rutulern1 propagandistisch ausgenutzt wird. Der junge Ascanius schießt auf der Jagd einen stattlichen Hirsch ohne zu wissen, dass es sich um ein zahmes Tier handelt, das Silvia, die Tochter des königlichen Hirten Tyrrhus, gemeinsam mit diesem und ihren Brüdern aufgezogen hat. Es kommt daraufhin seitens der herbeigerufenen latinischen Landbevölkerung zu ersten Übergriffen gegen die phrygischen Neuankömmlige, die schließlich in den Krieg münden, weil natürlich auch die Trojaner ihrem Prinzen zur Hilfe kommen.2 Ist ein solches Jagdmissgeschick grundsätzlich nichts Ungewöhnliches, so betont der Dichter doch, dass der eigentliche Ursprung des Pfeilschusses in den von der Furie Allecto aufgereizten Jagdhunden des Ascanius liege, die das harmlose Tier aufgespürt haben. Juno, auf deren Geheiß dies alles geschehen ist, bezeichnet den Vorgang selbst nicht ohne Zufriedenheit als fraus (552). Das übrige Buch 7 wird von dem Aufmarsch der latinischen Bundesgenossen beherrscht; das achte Buch beinhaltet die Fahrt des Aeneas zu Euander, der dort seinerseits Bundesgenossen sucht, und den Erhalt der Waffen des Vulkan mit der Schildbeschreibung. Die Kämpfe aber, die bis zur Rückkehr des Aeneas weitergegangen sind, werden narrativ im neunten Buch wieder aufgenommen. Die Rutuler möchten die Abwesenheit des Aeneas nutzen, um die Trojaner zum offenen Kampf zu reizen; diese aber verschanzen sich, einer Weisung des Aeneas folgend, in den Mauern ihres Lagers. Um den Feind dennoch zur Schlacht zu reizen, legen Turnus und seine Getreuen Feuer an die trojanischen Schiffe, die nur von einem Wall und dem Fluss geschützt neben dem Lager an Land gezogen wurden. Die folgenden Ereignisse sind von Vergil durch einen gesonderten Musenanruf abgesetzt worden (9, 77 – 79); der Dichter markiert damit die Besonderheit der Erzählung: Der Göttin Kybele sind die Schiffe besonders lieb, weil deren Holz auf ihrem Berg Ida geschlagen worden ist; aus diesem Grunde verwandelt die
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Allecto hat ja den Turnus und die Rutuler bereits aufgehetzt, der Friede ist schon besudelt (7, 467: polluta pace). Die Frage des Kriegsausbruchs wird durch das Wirken der Allecto völlig verunklart; es gibt keinen eindeutigen Urheber. 2 Aen. 7, 475 – 523.
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große Göttermutter sie jetzt in Meeresnymphen (deae pelagi) und rettet sie so vor der Vernichtung (80 – 122). Diese Metamorphose hat bereits in der Antike Kritik herausgefordert und gibt bisweilen noch heute den Lesern der Aeneis Rätsel auf,3 obwohl besonders durch die Studien Putnams (1982 und 1998) und Hardies (1992) die Einordnung des Ereignisses in den größeren Kontext der Bücher 7 – 9 geleistet wurde (s.u.). Das märchenhaft Phantastische der Verwandlung scheint in den Kontext des römischen historisierten Mythos, für den das vorovidische römische Epos im Allgemeinen und das vergilische im Besonderen das geeignete Gefäß war, nicht zu passen;4 ferner scheint sich das Konzept der sich verwandelnden Welt nicht mit der vom fatum gesteuerten Sendung des Aeneas und seiner Protorömer zu vertragen.5 3
Joachim Dingel, Kommentar zum 9. Buch der Aeneis Vergils, Heidelberg 1997, S. 19 Anm. 2, mit dem Zitat von Servius zur Stelle (9, 81); Hardie (1994) S. 88. Die Kommentare verweisen gleichwohl darauf, dass Vergil selbst durch den Musenanruf das Besondere der Stelle betont – an eine Ungeschicklichkeit des Dichters mag man so kaum mehr glauben; ebenso wird auf die Bezugnahme auf Od. 13, 125 – 164 und Il. 8, 180 – 183; 15, 717 – 727 und 16, 112 – 113 hingewiesen; dazu auch Georg N. Knauer, Die Aeneis und Homer. Studien zur poetischen Technik Vergils mit Listen der Homerzitate in der Aeneis, Göttingen 2 1979, S. 271f. Suerbaum (1999) S. 328. 4 Obwohl doch Aeneas am Ende des sechsten Buches die Unterwelt durch die Pforte der falschen Träume verlässt! Auch dies ein wichtiges Rezeptionssignal Vergils, immerhin ist es der Abschluss der ersten Hälfte der Aeneis und kündigt damit an, dass das Folgende anders zu lesen ist als das Vorhergegangene (Aen. 6, 893ff.). Dazu Putnam (1982) S. 288. Die Auffassung Everetts und Nordens, dass es sich um eine reine Zeitangabe handelt, wenn Aeneas die Pforte der falschen Träume nimmt (d.h. vor Mitternacht die Unterwelt verlässt, weil die wahren Träume danach kommen), bleibt unangetastet, erklärt aber wohl doch nicht alles: William Everett, Upon Virgil, Aeneid VI., 893-898, in: Classical Review 14 (1900), S. 153f. Eduard Norden, P. Vergilius Maro, Aeneis. Buch VI, Stuttgart 81984, S. 348. Andere Deutungen mit weiterführender Lit. in: Edith und Gerhard Binder (Hgg.), Vergil. Aeneis. 5. und 6. Buch. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1998, S. 244 – 246. In 7, 37 setzt Vergil auch noch einmal mit einem Musenanruf ein (dazu Eduard Fraenkel, Aspects of the Structure of Aeneid 7, in: Stephen J. Harrison [Hg.], Oxford Readings in Vergil’s Aeneid, Oxford – New York 1990, S. 253 – 276, 253 – 256), gleichzeitig sind Bücher 6 und 7 verzahnt, weil der Anruf nicht sogleich ansetzt. Die Häufigkeit von Schiffsmetamorphosen dient zur Verteidigung der Stelle bei Elaine Fantham, Nymphas … e navibus esse. Decorum and Poetic Fiction in Aeneid 9.77 – 122 and 10.215 – 59, in: CP 85 (1990), S. 102 – 119. 5 Klassisch trägt Robert Deryck Williams, Aeneid VII – XII, Bristol 1996 (ND von London 1973), S. 283 in seinem Kommentar die Vorbehalte gegen die Stelle vor. Grundsätzlich zum Verhältnis fatum und Metamorphose vgl. Ulrich Schmitzer, Zeitgeschichte in Ovids Metamorphosen. Mythologische Dichtung unter politischem Anspruch, Stuttgart (Diss.) 1990, S. 268 (zum ovidischen Cipus als einem selbstbestimmten Helden, der Gegenentwurf ist zum fatum-gesteuerten Aeneas). Schmitzer (1990) hat sich noch gegen den Gedanken gewendet, die Metamorphose sei als geschichtliches Konzept antiaugusteisch. In jüngeren Veröffentlichungen hat er sich aber zum Teil explizit von seiner ablehnenden Haltung abgewandt (Ulrich Schmitzer, Reserare oracula mentis – Abermals zur Funktion der Pythagorasrede in Ovids Metamorphosen, in SFIC 4 [2006], S. 32 – 56, 48f. und ders., Neue
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Die Kritik und Rechtfertigung der Metamorphose sind aber nicht erst postvergilisch, sondern werden schon im Epos selbst geleistet: zunächst von Jupiter, direkt im Anschluss an das Geschehen von Turnus. Zugleich beschreiben beide Reden zusammen genommen mehr oder minder explizit, was das Konzept der Metamorphose beinhaltet – und was nicht. Bereits frühzeitig, nämlich beim Bau der Schiffe, hatte Kybele ihren Sohn Jupiter gebeten, nicht zuzulassen, dass diese Schiffe auf dem Meer „erschüttert und besiegt“ (9, 91f.: ne cursu quassatae ullo neu turbine uenti/ uincantur) werden. Jupiter fasst diese doch recht allgemeine Formulierung (von seiner Mutter freilich unwidersprochen) so auf, dass Kybele für die Schiffe Unsterblichkeit verlange (9, 94 – 97): o genetrix, quo fata uocas? aut quid petis istis? mortaline manu factae immortale carinae fas habeant? certusque incerta pericula lustret Aeneas? cui tanta deo permissa potestas? Dies zu gewähren sei ihm ebenso wenig möglich, wie er es Aeneas ermöglichen könne, seine Fahrt ungefährdet zu überstehen. Stattdessen bietet Jupiter die Metamorphose der Schiffe in Göttinnen an – das göttliche Eingreifen der Kybele zugunsten ihrer Schiffe ist also kein autonomer Akt, sondern aktualisiert eine vom obersten Gott schon früher erteilte Lizenz. Jupiter versöhnt hier das Konzept der Metamorphose mit dem fatum. Eine unwandelbare Dauer der Dinge erscheint als fatumswidrig: Den Schiffen kann nicht einfach Unsterblichkeit verliehen werden. Aber die Verwandlung in etwas anderes, bei der die Existenz (Schiffe und Nymphen „leben“ im Meer) erhalten, die Gestalt (Schiffe vs. Nymphen) jedoch verändert wird, kann Dauer sicherstellen. Die Metamorphose sichert Dauer im Wandel und ist als solche nicht per se ein fatumswidriges Konzept.6 Gleichzeitig ist das fatum keine Determinante, die Konflikte und Veränderungen verunmöglicht. Dies macht der Gott mit dem Hinweis auf die Fährnisse des Aeneas deutlich: Aeneas kann und darf nicht vor Gefahren bewahrt werden, auch wenn seine Sendung ihn grundsätzlich in Schutz zu nehmen scheint.7 Vergil teilt damit aber grundsätzlich mit Ovid (vgl. Anm. 5 und im Folgenden) die Vorstellung, dass die Welt sich verändern muss und dass ganz besonders vom Menschen Geschaffenes – in diesem Falle die Schiffe – nicht unsterblich und Forschungen zu Ovid – Teil III, in: Gymnasium 114 [2007], S. 160 mit Anm. 27). Janine Andrae, Vom Kosmos zum Chaos. Ovids Metamorphosen und Vergils Aeneis, Trier 2003, S. 51 – 124. Interessanterweise wird Schmitzers Arbeit selbst oft als Träger der These vom antiaugusteischen Ovid gelesen, vgl. Lothar Spahlinger, Ars latet arte sua. Untersuchungen zur Poetologie in den Metamorphosen Ovids, Stuttgart – Leipzig (Diss.) 1996, S. 24. 6 Folgerichtig beschreibt Vergil sie später selbst als vom Schicksal determiniert (9, 107f.): Ergo aderat promissa dies et tempora Parcae/ debita complerant. 7 Hardie (1994) S. 93 ist überrascht, dass Jupiter diese Perspektive einnimmt.
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unveränderbar ist und somit der Mensch immer gefährdet bleibt. Auch eine schicksalhafte Sendung schafft ihm keine Sicherheit (Aeneas’ incerta pericula). Der Wandel sichert nur das Überleben, die Existenz, nicht aber das ursprüngliche Wesen. Beschreibt der Gott, was die Metamorphose leistet, und rechtfertigt er sie zugleich als ein mit dem fatum nicht im Widerstreit stehendes Konzept, so liefert, wenig überraschend, der Gegner Turnus die Kritik. Als seine Gefährten angesichts der magischen Verwandlung zu verzagen drohen, richtet er ihren Mut wieder auf (9, 128 – 137): Troianos haec monstra petunt, his Iuppiter ipse auxilium solitum eripuit: non tela neque ignis exspectant Rutulos. Ergo maria inuia Teucris nec spes ulla fugae: rerum pars altera adempta est, terra autem in nostris manibus, tot milia gentes arma ferunt Italae. Nil me fatalia terrent, si qua Phryges prae se iactant, responsa deorum; sat fatis Venerique datum, tetigere quod arua fertilis Ausoniae Troes. sunt et mea contra fata mihi (…). Turnus bezeichnet die Metamorphose als göttliches Zeichen (monstra). Als Zeichen ist die Metamorphose semantisch uneindeutig und kann von Turnus für die Rutuler in Anspruch genommen werden8 – Turnus ignoriert damit freilich die göttliche Stimme, die Trojaner und Rutuler gleichermaßen vernommen haben und die das Ereignis eindeutig für die Trojaner vereinnahmt.9 Nicht werden, so seine Auslegung, die Schiffe vor den Rutulern gerettet, sondern sie werden vielmehr den Trojanern entwendet. Genau wie vorhin Jupiter verbindet Turnus die Metamorphose mit dem Fatumskonzept. Diesmal wird das fatum durch die Metamorphose aber nicht dynamisiert, sondern verunklart: Turnus deutet die Metamorphose zu seinen Gunsten und setzt folgerichtig sein eigenes fatum gegen das des Aeneas. Das fatum erscheint damit nicht als eine geschichtliche Sendung, sondern als ein individuelles Konzept, das von dem einen Menschen gegen das eines anderen ausgespielt werden kann.10 Partikularisierung von Interessen und 8
Dingel (1997) S. 84; Suerbaum (1999) S. 262; Elaine Fantham, Ovid’s Metamorphoses, Oxford 2004, S. 105. 9 Aen. 9, 110 – 117 (112f.: tum uox horrenda per auras/ excidit et Troum Rutulorumque agmina complet). Zum Verhältnis Metamorphose – Stimme s.u. Bei Vergil kommt der Stimme offenbar nicht der hohe Stellenwert zu wie bei Ovid, weil bei Vergil Bedeutung unabhängig von Benennung existiert und keinem Wandel unterworfen ist, den die Stimme ordnen muss. 10 Nicht als Gegenkonzept, sondern als reine Hybris deutet dies Peter Schenk, Die Gestalt des Turnus in Vergils Aeneis, Königstein Ts. 1984, S. 65.
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Uneindeutigkeit einer sich wandelnden Natur: Dies sind, dem Feind der „Römer“ (Trojaner) in den Mund gelegt, die politischen Gefahren einer mythischen Erzählung, die die Verwandlung zu ihrem Prinzip erhebt. Partikularinteressen und Anpassung an eine Umwelt, die vielgestaltiger ist als die Konzepte, mit der sie beschrieben und geordnet wird: Dies sind aber auch die Grundvoraussetzungen für listiges Handeln. Und tatsächlich handelt es sich bei näherer Betrachtung hier auch um eine Listerzählung. Die Metamorphose der Schiffe in Meeresgöttinnen versieht, wie dann so oft bei Ovid, die Funktion eines Fluchtstrategems.11 In den Metamorphosen ist es ein regelmäßiges Motiv, dass von lüsternen Göttern verfolgte Mädchen in Bäume oder Flüsse verwandelt werden, um den Nachstellungen zu entgehen; bei Vergil werden die Schiffe von Kybele bzw. Jupiter in Nymphen verwandelt, die den Rutulern entkommen.12 Es ist daher wohl kaum ein Zufall, dass Turnus den zweiten Teil seiner Rede der „phrygischen Perfidie“ im Allgemeinen und der Problematik des protrojanischen göttlichen Eingreifens im Besonderen widmet. Anders ausgedrückt: Turnus reagiert genau mit der Art von Propaganda, wie wir sie bei Livius als Reaktion der Römer auf echte oder vermeintliche Kriegslisten ihrer Gegner (speziell: Karthago)13 kennen (9, 140 – 158, siehe dazu auch das Kapitel zu Aeneas als amator perfidus): „Sed periisse semel satis est“: peccare fuisset ante satis, penitus modo non genus omne perosos femineum. quibus haec medii fiducia ualli fossarumque morae, leti discrimina parua dant animos; at non uiderunt moenia Troiae Neptuni fabricata manu considere in ignis? 11
Verschiedene Funktionen der Metamorphose bei Ernst A. Schmidt, Ovids poetische Menschenwelt. Die Metamorphosen als Metapher und Symphonie, Heidelberg 1991, S. 57: „Rettung, Befreiung, auch Erlösung (…), Strafe, Rache, Lohn.“ 12 Wie bei so vielen Listen bei Livius wird auch hier darauf hingewiesen, dass es sich um eine Reaktion auf vorangegangenes Unrecht handelt (Aen. 9, 108: Turni iniuria – dies ein recht willkürlicher Vorwurf, vgl. Dingel [1997] S. 78). Genauso auch argumentiert die Cymodocea (eine der aus den Schiffen geschaffenen Nymphen), als sie Aeneas ermahnt, den eingeschlossenen Trojanern schneller Entsatz zu bringen, und bei dieser Gelegenheit noch einmal die Metamorphose zusammenfasst (10, 231 – 234: perfidus ut nos/praecipitis ferro Rutulus flammaque premebat,/ rupimus inuitae tua uincula teque per aequor/ quaerimus. Der Gegner ist perfidus (warum?) und die Verwandlung und Flucht geschehen gegen den Willen der Schiffe. Das sind die typischen Rechtfertigungen der List: Amoral des Gegners und eigene Zwangslage. 13 Ist es ein Zufall, dass die Kybele während des Zweiten Punischen Krieges (204) von den Römern „von Pessinus nach Rom“ geholt wurde (Suerbaum [1999] S. 198), also ihr Walten in ähnlicher Weise für die Römer in Anspruch genommen wurde, wie es Turnus hier für die Rutuler tut? Vgl. Erich S. Gruen, The advent of the Magna Mater, in: Erich S. Gruen, Studies of Greek culture and Roman policy, Leiden 1990, S. 5 – 33; zur Parallele Turnus – Hannibal: Hardie (1994) S. 77, 90, 214.
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sed uos, o lecti, ferro qui scindere uallum apparat et mecum inuadit trepidantia castra? non armis mihi Volcani, non mille carinis est opus in Teucros. addant se protinus omnes Etrusci socios. tenebras et inertia furta Palladii caesis late custodibus arcis ne timeant, nec equi caeca condemur in aluo luce palam certum est igni circumdare muros. haud sibi cum Danais rem faxo et pube Pelasga esse ferant, decimum quos distulit Hector in annum. nunc adeo, melior quoniam pars acta diei quod superest, laeti bene gestis corpora rebus procurate, uiri, et pugnam sperate parari. Turnus verweist darauf, dass die Rutuler als „echte Männer“ (genus femineum vs. uiri) in einer pugna iusta kämpfen werden, dass Turnus keine von Vulkan gearbeiteten Waffen benötigt wie Achill (und damit natürlich wie Aeneas) und dass auch Trojas Mauern, obwohl von Neptun gebaut, in Asche versunken sind. Turnus denunziert also allein schon durch die Wahl der Begriffe14 und die Logik seiner Argumentation das Walten der protrojanischen Götter als unerlaubte Hilfe, als List, die gegen offenen Kampf aber nicht nachhaltig nützen kann. Darüber hinaus ist das gesamte Verhältnis von Wasser – Schiffen – Meeresgöttinnen (Nymphen) bereits von der griechischen Mythologie her eines, in dem Natur und techne in einem prekären Verhältnis von ewiger Wandelbarkeit (Elusivität des Wassers) und listiger Bemächtigung (Seemannskunst) stehen.15 Der Schiffsbauer und der Steuermann verwalten nicht einfach eine techne, sondern sie überlisten das Meer durch metis, indem sie dem Unwegbaren einen Weg aufzwingen.16 Exemplarisch wird dies in der homerischen Geschichte von Menelaos und Proteus eingefangen, in der die Menschen zunächst auf der Insel Pharos – also dem Land – gefangen sind, dann aber dem Meergott – und damit dem Meer – durch List und Gewalt eine Auskunft (i.e. einen Ausweg) abringen (dazu ausführlich unten).17
14 Hardie (1994) S. 102 zu Aen. 9, 150f.: „furtum = ‚stratagem‘, ‚trick‘ cf. 10, 735; 11, 515; Sen. Ag. 626 (of the Wooden Horse).“ 15 Martin Litchfield West, Hesiod, Theogony. Edited with Prolegomena and Commentary, Oxford 1966 (ND 1997), S. 403f. ad Hes. theog. 889. 16 Detienne/ Vernant (1974) S. 203 – 243, Zitat S. 215: „Trouver un póros – chemin, issue ou expédient –, ruser avec le vent, être sans cesse sur le qui-vive, prévoir l’occasion la plus prompte pour agir, toutes ces activités et toutes ces manœvres – ces ,machinations‘, mechanaí, disent les Grecs – exigent une intelligence à multiples facettes, cette gnóme polúboulos que Pindare dénonce chez le pilote.” 17 Elaine Fantham, Ovid’s Metamorphoses, Oxford 2004, S. 13.
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Metamorphose und List stehen in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis und die wütenden Ausfälle des Turnus anlässlich der Verwandlung der Schiffe in Göttinnen verweisen darauf, dass die Metamorphose kein unproblematisches Naturbild ist, wenn die List, wie in Vergils Epos geschehen, perhorresziert werden und das fatum politisiert und überindividuell gültig sein soll. Zwar hat Jupiters Rede bezüglich der Metamorphose rezeptionssteuernde Wirkung, wenn sie die Metamorphose in das System des fatum integriert; aber es sind doch die Worte des Turnus, die zuletzt erklingen.18 Es sollte auch nicht vergessen werden, dass selbst Jupiters Argumentation für die Metamorphose eine wichtige Eigenschaft der List transportiert: Es handelt sich ja auch bei seinem Eingreifen um das Unterlaufen eines Prinzips (nämlich der vom fatum festgelegten Unmöglichkeit der Unsterblichkeit), ohne es wirklich preiszugeben (das fatum wird durch die Metamorphose nicht angetastet). Vor diesem Hintergrund kann man die Metamorphose der Schiffe nicht mehr als phantastisches Spolienelement im narrativen Gebäude der Aeneis verstehen, vielmehr stellt sie ein zentrales Interpretament in der vergilischen Konzeption des fatum dar, das durch die Metamorphose dynamisiert und ereignishaft gehalten wird. Tatsächlich wird dieses kallimacheische Kleinepos auch nicht einfach in den Rest der Handlung eingelegt, sondern durch den Dichter von langer Hand vorbereitet. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Handlung recht eigentlich nicht durch die Metamorphose, sondern durch das achte Buch unterbrochen wird,19 steht das Ereignis in einem lückenlosen erzählerischen Zusammenhang seit Buch 7,20 der von Ovid 18
Es ist bezeichnend, dass die gesamte Aeneis ähnlich schließt wie dieses durch den Musenanruf ausgezeichnete Kleinepos: mit der Beschwerde des Turnus. Damit bleibt die Kritik im Raum, auch wenn sie nicht als dominante Aussage verstanden werden muss. Vgl. zur Uneindeutigkeit der Schlussaussage Wittchow (2005a); zur Problematik überhaupt (in Auswahl) Peter Burnell, The Death of Turnus and Roman Morality, in: Greece & Rome 34 (1987), S. 186 – 200; Antonie Wlosok, Vergil in der neueren Forschung, in: Gymnasium 80 (1973), S. 129 – 151, 148ff.; Karl Galinsky, The Anger of Aeneas, in: Hardie III (1999), S. 434 – 457 (ursprgl. in: AJP 109 [1988], S. 321 – 348); Karl Galinsky, Damned if You Do and Damned If You Don’t. Aeneas and the Passions, in: Vergilius 43 (1997), S. 89 – 100; Wendell Clausen, Virgil’s Aeneid. Decorum, Allusion and Ideology, München – Leipzig 2002, S. 185 – 209, bes. 208f.; Nicholas Horsfall, Justice and Judgement, in: Horsfall (1995a), S. 192 – 216, 216; Richard F. Thomas, The Isolation of Turnus. Aeneid Book 12, in: Hans-Peter Stahl (Hg.), Vergil’s Aeneid. Augustan Epic and Political Context, London 1998, S. 271 – 302, 297. In meinen Augen am besten hat Michael C. J. Putnam, Aeneid 12. Unity in Closure, in: Perkell (1999), S. 210 – 230 den Schluss verstanden, wenn er von „calculated dissatisfactions of this ending“ spricht (S. 224) und auf den bukolischen Dualismus von Meliböus und Tityrus als Bezugspunkt verweist (S. 229f.). 19 Zur zeitlichen Struktur der Bücher 8 – 10 vgl. Dingel (1997) S. 12 – 15. 20 Das siebte Buch beginnt ja auch mit der Vorbeifahrt des Aeneas am Gestade der Circe (7, 10ff.), wo das Gestöhn der in Tiere verwandelten Menschen zu hören ist; vgl. Philip Hardie, Augustan Poets and the Mutability of Rome, in: Anton Powell (Hg.), Poetry and Propaganda in the Age of Augustus, London 1992, S. 59 – 82, 62; Putnam (1982). Vgl. vor al-
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kaum anders gestaltet würde: Der junge Ascanius auf der Jagd nach dem zahmen Hirsch und der daraus resultierende Verlust und Konflikt atmen die Atmosphäre zahlreicher Metamorphosenerzählungen (Actaeon, Procris und Cephalus, Cyparissus21). Zudem dringt der Pfeilschuss des Ascanius in ein bukolisches Idyll ein, das Züge des saturnischen Zeitalters hat – auch Vergil verwebt so wie später Ovid das Metamorphosenmotiv mit dem der Weltzeitalter.22 Turnus erscheint in seinen Waffen am Ende des siebten Buches lem auch Michael J. Putnam, Virgil’s Epic Designs, Ekphrasis in the Aeneid, New Haven – London 1998, S. 97 – 118, bes. S. 100 – 102. 21 Ohne weitere ästhetische Folgerungen verweist Fordyce (1993) S. 147 auf met. 10, 109ff. (eben Cyparissus): John D. Christie (Hg.), P. Vergili Maronis Aeneidos Libri VII – VIII. With a Commentary by C. J. Fordyce. Introduction by P. G. Walsh, Bristol 1993 (korr. ND von Oxford 1977). 22 Putnam (1982) S. 290 und (1998) S. 100. Das saturnische Zeitalter trägt allerdings bei Vergil dann auch bereits Zeichen der Kulturalisierung. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass diese Episode ihren Vorläufer im Brand der Schiffe im fünften Buch der Aeneis hat (Walter Wimmel, Hirtenkrieg und Arkadisches Rom. Reduktionsmedien in Vergils Aeneis, München 1973, S. 78), eine Episode, die Abbot (1997) S. 142 – 145 und (2000) S. 69ff. unter dem Gesichtspunkt der List untersucht hat: Das Trojaspiel, dass die trojanischen Jugendlichen hier wie ein Schauturnier darbieten, vergleicht Vergil mit dem Labyrinth des Minotaurus und seinen tausend Wegen, die als List wirken (5, 588 – 595): ut quondam Creta fertur Labyrinthus in alta/ parietibus textum caecis iter ancipitemque/ mille uiis habuisse dolum (…)/ haud alio Teucrum nati uestigia cursu/ impediunt texuntque fugas et proelia ludo;/ delphinum similes [s.u.!] qui per maria umida nando/ Carpathium Libycumque secant. Das Trojaspiel vermischt hier positiv konnotierte Geschicklichkeit der Jugendlichen (dolus bonus) und den Umstand, dass diese Jugendlichen für den Krieg trainieren; ferner geht es um die Unübersichtlichkeit der gegeneinander reitenden Einheiten, womit auch eine Ähnlichkeit zum missglückten Kriegsstrategem aus dem zweiten Buch (Aen. 2, 390 und 420 – 423; s. auch Abbot [2000] S. 70ff.) gegeben wird (alles auch Abbot [1997]). Während die Jugendlichen unter der Führung des Ascanius turnieren, werden die trojanischen Frauen von der Götterbotin Iris versucht. Iris hat den Auftrag von Juno erhalten und verwandelt sich nun in die Trojanerin Beroe (5, 620). Diese ermuntert die Frauen, die Schiffe anzuzünden, um die Irrfahrt vor der Zeit mit einer Stadtgründung zu beenden (5, 623 – 640). Obwohl die königliche Amme Pyrgo noch Einspruch erhebt (5, 645 – 653), werten die Frauen schließlich den Regenbogen, den Iris beim Wiederaufstieg in den Olymp nach sich zieht, als göttliches Zeichen und zünden die Schiffe an (5, 654 – 663). Ascanius wird durch den Rauch alarmiert und gibt sich den Frauen zu erkennen, indem er den Helm abwirft, mit dem er die Scheinschlacht geschlagen hatte (5, 673f.: galeam ante pedes proiecit inanem/qua ludo indutus belli simulacra ciebat). Auch Aeneas kommt hinzu und die Frauen fliehen, wieder zur Besinnung gekommen, beschämt in den Wald. Die strukturelle Ähnlichkeit besteht m. E. zum einen zur Sinon-Laokoon-Geschichte (Versucher, Warner, falsches prodigium), ganz besonders aber eben zur Schiffsmetamorphose: 1. Die Rolle des Ascanius und seiner iuuenes – sie geben in beiden Fällen den Anlass für die Bedrohung der Schiffe; im ersten Falle ist das „listige“ (weil labyrinthische) Trojaspiel die narrative Rahmung (und die Ursache dafür, dass die Frauen allein mit sich sind), im anderen Falle sind es die iuuenes, die durch ihre Jagd Unheil stiften. Beide Male sind die Folgen ihres Handelns durchaus unbeabsichtigt und doch nur zum Teil unverdient (Putnam [1982] S. 303 zu Buch 7: „The Trojans are not fully blameless as they now themselves present a literal cause for war“), aber eben in einen narrativen Zusam-
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als Vertreter der Metamorphose – ebenso wie Aeneas mit den Seinen am Ende des achten als Agent des fatum auftritt: Der Helm des Turnus trägt die Chimaera, der Schild bildet die bereits verwandelte Io ab (7, 783 – 792).23 In Turnus und Aeneas streiten somit die Prinzipien der listigen Metamorphose und des „frommen“ fatum, die Jupiter zu vereinen sucht. Wie so viele Versöhnungen schwebt sie dem Dichter vor, bleibt aber uneingelöst. 6.2 Metis und Metamorphose Detienne und Vernant haben die Bedeutung der metis für die griechische Literatur und Kultur als überzeitlich gültige Vorstellung beschrieben, der sie in verschiedenen, gattungsmäßig disparaten und epochal weit gestreuten Texten auf die Spur gekommen sind.24 Ihre Darstellung der metis als „listige Intelligenz“ beschreibt eine performative Kompetenz, die neben einer philomenhang gebracht. 2. monstra/prodigia: Die Frauen deuten den Regenbogen der Iris falsch, ebenso deutet Turnus die Metamorphose falsch; in beiden Fällen werden die Schiffe in letzter Minute gerettet. 3. Die Rolle der Iris und die der Allecto. 4. Die Jugendlichen werden mit Delphinen verglichen, die Schiffe ebenso, als sie sich in Meeresnymphen verwandeln (9, 119: delphinumque modo). Fazit: Es handelt sich letztlich in beiden Fällen um Listgeschichten, die in Aggression und Verwirrung münden: Das listige Trojaspiel mit den Jünglingen als Delphinen ist hier Äquivalent zur Metamorphose und den Schiffen als Meeresnymphen, Ersteres mündet in der Attacke auf die Schiffe, Letztere in die neu motivierten Attacken der Rutuler auf das trojanische Lager. Dass die ganze Situation durch das erste Eingreifen des Ascanius (im fünften Buch durch das Abstreifen des Helmes, im zweiten durch den Pfeilschuss des Ascanius auf den Numanus Rutulus) aufgehalten, durch die Rückkehr des Aeneas beendet wird, ist ebenfalls eine strukturelle Übereinstimmung. Zu Ascanius’ Schuss auf den Hirsch vgl. Putnam (1982) S. 297ff. Wimmel loc. cit. 23 Putnam (1982) S. 304f. Hardie (1992) S. 63. Hierbei übrigens auch ein Querverweis zu Buch 6 (286 – 294), in dem Aeneas von der Sybille darauf hingewiesen wird, dass die Zentauren, die Scylla, der Briareus, die belua Lernae, die Chimaera (!), die Gorgonen, die Harpien und „die Gestalt eines dreibeinigen Schattens“ nur körperlose Trugbilder seien, die man nicht bekämpfen kann. Genau das ist ein Thema der Bücher 7 und 9, in denen groteske Gestalten Verwirrung stiften, die in Gewalt mündet, aber eben nicht selbst mit Gewalt zu beherrschen ist (Allecto!): Es sind uana somnia (6, 283f.), was sie auch mit der Pforte verbindet, aus der Aeneas aufsteigt. Dazu Putnam (1982) S. 289. Das ArchaischBrutale der Abbildungen auf Turnus’ Waffen betont Williams (1996) S. 225; Stuart Gerard Paul Small, The Arms of Turnus: Aeneid 7. 783 – 92, in: TAPhA 90 (1959), S. 243 – 252, 245: „like the Chimaera Turnus is an ‚archaic‘ creature, that is, a member of an obsolescent breed marked out for ultimate destruction in an evolving universe“; S. 247: „he identifies with the forces making for anarchy in the universe“; S. 248: „Turnus too is an irrational combination of violence, contradiction and negation; the heterogenity of the Chimaera coresponds only too closely to a certain fundamental disorganization and want of coherence in his character and motivation.“ Weniger überzeugend sind Smalls Überlegungen zu Io. Die Symbolkraft der Metamorphose als solche entgeht ihm. 24 Detienne/ Vernant (1974) S. 8f.
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sophischen Weisheit Bestand hat und ihr historisch vermutlich vorausging. Sie ist eine Form des Wissens, die sich im Handeln aktualisiert und beweist. Anders als der moderne Gebrauch des deutschen Wortes List (der ursprüngliche ist der metis durchaus ähnlich) und der antike des lateinischen dolus oder des griechischen dolos lässt die metis nicht zuerst an eine konkrete Handlung oder das Werkzeug dafür denken.25 Sie ist eine Fähigkeit, ein Plan, ein Wissen und eine Kunst (techne, ars), die auf ein bestimmtes Verständnis von Umwelt rekurriert.26 25 Dolus ist zwar auch die Schläue, aber insgesamt eher ein artificium als eine ars (vgl. ThLL s.v. dolus 1858). Freilich, wenn der Sklave Palaestrio zur Durchführung der Intrige den Periplectomenus bittet, eine listenreiche Frau zu besorgen, dann kann man auch dolus hier wie metis als eine Kompetenz verstehen (Plaut. Mil. 782f.: ecquam tu potis reperire forma lepida mulierem/ quoi facetiarum cor pectusque sit plenum doli? [pectus ist Konjektur für überliefertes corpus, das hier keinen Sinn ergibt; das ändert nichts am Sinn von plenum doli.]). Das ergibt sich auch aus einer Verbindung wie Verg. Aen. 2, 152: dolis instructus et arte Pelasga, die ThLL für Synonyme hält (1863). OLD s.v. dolus unterscheidet zwischen dem Rechtsverstoß (dolus malus), einem Strategem und einem listenreichen Verhalten, d.h. einem „Behaviour, that relies on deception to achieve its purpose, trickery, treachery, cunning“. Dennoch ist dolus immer mehr das Konkrete (so ist ein pectus plenum doli ein Charakter, der viele konkrete Listen ersinnt; Sinon [Aen. 2, 152] hat viele konkrete Winkelzüge in petto (pectus!) und verdankt dies der ars Pelasga, die er beherrscht). Dt. List „bedeutete ursprünglich ‚Wissen‘ und bezog sich auf die Techniken der Jagdausübung und des Kampfes, auf magische Fähigkeiten und auf handwerkliche Kunstfertigkeiten. Allmählich entwickelte ‚List‘ einen negativen Nebensinn und wurde im Sinne von ‚Trick, geschickte Täuschung, Ränke‘ gebräuchlich“ (Günter Drosdowski, Duden „Etymologie.“ Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache [Duden Bd. 7], Mannheim u.a. 21989, S. 422 [s.v. List]). Auch Adelung (1793) s.v. List unterscheidet zwischen dem alten Gebrauch des Wortes („Kunst, d.i. Fertigkeit, etwas zur Wirklichkeit zu bringen“) und dem moderneren und engeren Gebrauch, nämlich der „Fertigkeit, sich dem anderen verborgener Umstände zur Erreichung seiner Absicht vortheilhaft zu bedienen, und das dazu gebrauchte Mittel.“ Das heißt, auch im modernen deutschen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts ist List nicht nur Mittel, sondern auch Fertigkeit. Das sind genau die semantischen Felder, die metis ursprünglich abgedeckt hat. Lat. dolus hat offenbar keine etymologische Verbindung zu Wörtern, die den Kunstgriff zu einer künstlerischen Kompetenz erweitern (einzig der Hinweis auf altisländisches tal geht noch am ehesten in diese Richtung): Alois Walde, Lateinische Etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 21910, S. 240, ThLL a.a.O. 1857. ThLG 1622f. erklärt dÒlow mit dolus und somit nichts, allerdings ist der Bedeutungsumfang des lateinischen und des griechischen Wortes tatsächlich ähnlich, d.h. (zum Folgenden Liddell/ Scott s.v. dÒlow S. 443) dÒlow ist das listige Mittel – z.B. das trojan. Pferd Od. 8, 494 und das Netz Od. 8, 276 (so wie Silen Verg. ecl. 6 über das Netz als List [dolus] lacht) –, das Strategem, der Trick und die Schläue. 26 „La mètis est bien une forme d’intelligence et de pensée, un mode de connaître: elle implique un ensemble complexe, mais très cohérent, d’attitudes mentales, de comportements intellectuels qui combinent le flair, la sagacité, la prévision, la souplesse d’esprit, la feinte, la débrouillardise, l’attention vigilante, le sens de l’opportunité, des habiletés diverses, une expérience longuement acquise; elle s’applique à des réalites fugaces, mouvantes, déconcertantes at ambiguës, qui ne se prêtent ni à la mesure précise, ni au calcul exact, ni au raisonnement rigoureux.“ Detienne/ Vernant (1974) S. 10. Vgl. auch
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Die Gefahr bei einer solchen strukturalistisch geprägten Vorgehensweise Detiennes und Vernants ist, dass der Eindruck entstehen könnte, ähnliche literarische Formationen (also in unserem Falle bestimmte Darstellungen der List) verraten immer ein gleiches dem zugrunde liegendes Denken. Was Detienne und Vernant immer wieder in ihren Texten gefunden haben, muss keine ungebrochene Gültigkeit griechischen Metis-Denkens belegen, sondern kann vergleichsweise diskontinuierliche Rezeptionsstufen bestimmter Gedankenbilder bedeuten. Solche Gedankenbilder wären etwa die Verknüpfung der Motive Netz, Angel und Vogelrute27 mit dem Gedanken der List und die Verbindung von Meer, Meergottheiten, Metamorphose und List. Richtig ist durchaus, dass bestimmte Darstellungsformen besonders geeignet sind, bestimmte Aussagetypen zu realisieren – etwa wenn groteske Darstellungen gern für karnevaleske Bedeutungen in Anspruch genommen werden. Das Phänomen der List wird aber – weder für eine Gesellschaft noch für einen Text – nicht dann verstanden, wenn bestimmte, als überzeitlich konstruierte Handlungstypen beschrieben werden, sondern es muss das Besondere des literarischen Werkes in seiner historischen Epoche immer mit untersucht werden.28 Die Konstruktionen listigen Verhaltens wurden bei Livius aus dem Blickfeld eines augusteisch geprägten historischen Moralismus verstanden. Im folgenden Kapitel wurden ebenfalls augusteische Konzeptionen von Altersklassen und altersgemäßem Handeln auf Ausdrucksformen bezogen, die besonders durch die griechisch geprägte Gattung der Komödie beeinflusst wurden und dann in die römische Liebeselegie eingegangen sind – auch hier waren griechische Einflüsse mitzudenken (rites de passage), wenngleich die Belege für die griechische Elegie uns hier meistenteils im Stich lassen. Ovids Metamorphosen erscheinen in ihrer Anlage, mit ihrem wandelbaren Kosmos, den willkürlichen Göttern, die den Menschen bald unterstützen, bald fallen lasLiddell/ Scott S. 1130 s.v. m tiw („wisdom, skill“ oder „counsel, plan, undertaking“ – undertaking beschreibt eine Handlung, aber dies ist dann eher ein abgeleiteter Gebrauch). ThLG s.v m tiw 1019f. versteht m. als Rat (= boulÆ) oder als sollertia. 27 Zur Jagd als erotischem Motiv in den Metamorphosen vgl. Gregson Davis, The Dead of Procris. „Amor“ and the Hunt in Ovid’s Metamorphoses, Rom 1983, bes. S. 145f. Detienne/ Vernant (1974) S. 280f. 28 Dabei geht es also nicht um „die“ römische oder griechische Weltsicht – weder generell noch zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt –, sondern um literarische Konstruktionen. Wenn Livius die Römer als ein Volk der fides beschreibt, heißt das nicht, dass „die“ Römer sich so gesehen haben. Sehr wohl aber ist klar, dass Livius mit einem zentralen Begriff des römischen politischen Selbstverständnisses operiert, und es soll nicht überraschen, wenn die Ergebnisse solcher Untersuchungen sich auch auf andere Bereiche der römischen Kultur und Literatur beziehen lassen. Kultur und Literatur sind keine getrennten Entitäten, sondern ineinander verwoben vgl. dazu auch Rüpke (2004), S. 40: „Text and ritual, performance and scriptuality, acta and agenda constitute interrelated systems, not alternatives.“
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sen oder gar missbrauchen, und vor allem durch die avancierte Rolle, die die List in diesem Kontext spielt (s. im Folgenden), zunächst als ein weiterer literarischer Beleg für griechisches Metis-Denken. Das Besondere der ovidischen Metamorphosen freilich ist, dass sie mehr als Zitate von Gedankenbildern bieten; die Metamorphosen sind ein Weltkonzept. In diesem Aspekt (also allein schon durch den Umstand, dass eine Verknüpfung von List und Wandel hergestellt wird) steht dieses römische Epos Vorstellungen nahe, die Detienne und Vernant für „die“ Griechen konstruiert haben. Aber es wäre einseitig, Ovids Denken als griechisch zu beschreiben und von dort her zu erklären.29 Verstanden werden muss es zuerst im Kontext der anderen augusteischen Autoren: Livius, Vergil, Horaz, Tibull und Properz (vorangegangene Kapitel und im Folgenden). Dass Ovid sein Weltkonzept auch im Rückgriff auf griechische Texte entwirft, ist angesichts der Praxis neoterischer und augusteischer Dichtung eine Selbstverständlichkeit. Ovids Denken kann hier nur insofern als „griechisch“ angesehen werden, wie wir es auch als „unaugusteisch“ verstehen,30 nämlich unter der Prämisse, dass es keinen griechischen, keinen römischen und auch keinen augusteischen Mainstream gibt. Mit diesen Kautelen lässt sich sagen, dass die Kombination von Metamorphose, Kosmologie und List sich eher mit bestimmten griechischen Texten und Denkweisen vergleichen lässt als andere augusteische Texte, die um die fides und/oder das fatum zentriert sind. Eine Besonderheit der Metamorphosen ist also die Kosmologie (= Kosmogonie und Weltalter)31 an ihrem Anfang. Ovid verweist so mit Nachdruck darauf, dass die Natur selbst eine avancierte Rolle in seinem Epos spielt. In gewisser Weise ist sie der fehlende epische Held. 29
Bezeichnenderweise konnte auch Certeau (1988) S. 162 die Metis-Studie für seine „Kunst des Handelns“ instrumentalisieren, die mit dem antiken Griechenland wenig, aber sehr viel mit dem Frankreich des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu tun hat. 30 Der klassische Aufsatz von Eckard Lefèvre, Die unaugusteischen Züge der augusteischen Literatur, in: Gerhard Binder (Hg.), Saeculum Augustum II. Religion und Literatur, Darmstadt 1988, S. 173 – 196 hat m. E. hier immer noch viel für sich, besonders auch, weil er zwischen Weltsichten unterscheidet, die zeitgleich nebeneinander existieren (S. 195): „Es ist zu unterscheiden. Augustus’ Welt und Ovids Welt waren grundverschieden. Keiner konnte den anderen verstehen. Augustus musste Ovid als antiaugusteisch empfinden, während Ovid sich selbst wohl nur als unaugusteisch eingeschätzt haben dürfte. Das war ein unausgleichbarer Konflikt.“ 31 Schmidt (1991) S. 16 bezieht die Kosmologie nur auf die Kosmogonie, aber das wäre ein Streit um Worte. Ich bin nicht ganz seiner Meinung, dass die Kosmogonie keine Metamorphose beinhaltet, präziser ist, dass es sich bei Kosmogonie und Weltalter eher um eine Vorklärung des Prinzipiellen handelt, bevor die Verwandlungsgeschichten losgehen. Dass die „Veränderung des gestaltlosen Stoffes in eine Gestalt (…) keine Metamorphose [ist]“ (ebenda), ist eine Überpointierung, die etwas Wesentliches verdeckt: Das Existentielle hat keine Form, d.h. es ist eigenschaftslos. Genau das ist es aber, das durch die Metamorphosen bewahrt wird, und eben nicht das Essentielle!
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Die Handlungsspielräume des Menschen werden zuallererst von ihm selbst begrenzt, nicht durch die sozialen, politischen und juristischen Regeln, die er aufstellt, sondern durch den Entwurf, den er sich von seiner Umwelt macht, also seinen Naturbegriff. Handeln scheint dann an natürliche Grenzen zu stoßen. Die List als eine „Kunst des Handelns“ (Certeau) erobert Spielräume und dem Bild der Umwelt kommt dabei besondere Bedeutung zu: Handelt es sich um einen Verstoß gegen die natürliche Ordnung oder befindet sich die List im Einklang mit ihr? Im ersten Falle erscheinen Listen wahlweise als Unmöglichkeiten, als Sünde oder als Unwahrscheinlichkeiten, im zweiten dagegen sind sie erwartbar, möglich und vielleicht gar erwünscht. Je autonomer sich der Mensch in seiner Umwelt bewegen kann, desto listiger wird er sein, denn die List ist der Prototyp autonomen Handelns. Sissela Bok diskutiert in ihrer Studie zur Lüge die Position Kants, der Lügen kategorisch ablehnt, weil der Lügner selbst bei edlen Motiven eine Verantwortung für die aus der Lüge resultierenden Ereignisse (deren Ablauf der Lügner durch seine Wirklichkeitsfiktion ja ändert) übernimmt, die er nicht überblickt. Das heißt eigentlich nichts anderes, als dass der Lügner eine besondere Form der Freiheit arrogiert. Lüge ist eine Form der Fiktion (der Umkehrschluss gilt nicht), d.h. sie ist etwas von einem Menschen Geschaffenes. Der Mensch ist für dieses Geschaffene verantwortlich, er kann diese Verantwortung nicht abtreten. Eigenverantwortliches Handeln ist aber dem, was man freies Handeln nennt, noch am nächsten. Somit ist auch die List, die ja Partikularinteressen dadurch wahrnimmt, dass der Überlistete nicht Herr seiner Handlungen ist, eine besonders freie Form des Handelns – ohne dass mit den Begriffen der Freiheit moralische Implikationen (frei = gut, unfrei = schlecht) mitgedacht sind. 32 Es ist leichter zu bestimmen, ob ein bestimmtes Weltbild autonomes Handeln ermöglicht bzw. wahrscheinlich macht oder nicht, als direkt auf eine moralische Bewertung zu schließen. Dennoch erscheint bereits durch den Dualismus von Determinismus und Wandel in der Aeneis deutlich zu werden, dass das fatum die List eher perhorresziert, während die Metamorphose sie geradezu herausfordert. Synthesen bleiben hier immer problematisch, auch wenn Jupiter selbst sich um eine solche bemüht. Das wird eigentlich noch dringlicher in der Gestalt des Turnus, der die Insignien der Metamorphose trägt und sie dennoch kritisiert. Damit gibt der Rutuler zu erkennen, dass er die ideologischen Implikationen der Metamorphose erkennt: Er setzt buchstäblich seine Stimme gegen die der Götter (Aen. 9, 110 – 117), denn eine wandelbare Welt kennt keine autorisierten Stimmen und ist daher auf individuelle Deutungen angewiesen. Anders ausgedrückt: Die menschliche Stimme gewinnt an Bedeutung, wo die göttliche sie verliert (s.u.). Turnus privatisiert das fatum und stuft das göttliche Eingreifen zugunsten der Troja32
Bok (1999) S. 41.
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ner von der Vollstreckung des Schicksals auf ein parteiisches Strategem zurück und verachtet diese ganze „phrygische“ perfidia. Er symbolisiert die List in ihrer Negativität.33 Ovid hat sich in seiner „Lektüre“34 der vergilischen Schiffsmetamorphose der Sichtweise des Turnus angeschlossen, wenn er (met. 14, 530ff.) die Verwandlung der Schiffe nicht als eindeutiges Zeichen der göttlichen und schicksalhaften Bevorzugung der Trojaner versteht,35 auf provozierende Weise beide Kontrahenten gleichstellt36 und ferner den persönlichen Mut
33
Andrew Feldherr, Metamorphosis in the Metamorphoses, in: Hardie (2002b), S. 163 – 179, 168f.: „But rather than regard Virgil’s treatment of the episode as either halfhearted or misjudged, we can rather take it as a self-conscious deployment of the vexed status of metamorphosis within epic, alerting readers all too ready to dismiss the tale as fantasy that Aeneas’ divinely guided foundation of Rome requires a different poetics than do the exploits of Homer’s mortal heroes. As Ovid will later, Virgil here marks metamorphosis an occasion to reorient his readers’ exspectation of the poem.“ 34 Karl Galinsky, Hercules Ovidianus (Metamorphoses 9, 1 – 272), in: WS 6 (1972), S. 93 – 117, 116; Karl Galinsky, Vergil’s Aeneid and Ovid’s Metamorphoses as World Literature, in: Karl Galinsky (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Augustus, Cambridge 2005, S. 340 – 358, 351: „the Metamorphoses is a constant dialogue with Vergil.“ Jean-Paul Brisson, Rome et l’âge d’or. De Catulle à Ovide, vie et mort d’un mythe, Paris 1992, S. 84: „Ovide – qui connaissait intimement son Virgile, plus intimement même que nous sans doute.“ Thomas (2001) S. 79; Sergio Casali, Altre voci nell’ ‚Eneide‘ di Ovidio, in: MD 35 (1995), S. 59 – 76; William R. Barnes, Virgil: The Literary Impact, in: Nicholas Horsfall, A Companion to the Study of Virgil, Leiden – New York – Köln 1995, S. 257 – 292, hier: S. 257 – 267. Grundsätzlich ist Siegmar Döpp, Virgilischer Einfluß im Werk Ovids, München (Diss.) 1968 der Vergilrezeption nachgegangen, freilich war zu diesem Zeitpunkt noch kaum ein literaturtheoretisches Instrumentarium etabliert, um die komplexen intertextuellen Bezüge der augusteischen Werke zueinander wirklich würdigen zu können (vgl. etwa Alessandro Barchiesi, Speaking Volumes. Narrative and Intertext in Ovid and Other Latin Poets, London 2001; Fritz Graf, Myth in Ovid, in: Hardie [2002b], S. 108 – 121, 114f., Gian Biagio Conte, The Rhetoric of Imitation. Genre and Poetic Memory in Virgil and Other Latin Poets, Ithaca – London 1986, darin das Vorwort von Charles Segal [S. 7 – 17] S. 12: „Virgil and Ovid embody for him [sc. Conte F.W.] two complementary modes of literary allusiveness“). So kommt Döpp (1968) S. 126 noch zu der Ansicht: „Die Hauptgestalt von Virgils Epos hat Ovid in seiner Würde nicht angetastet.“ Die verschiedenen Methoden von Ovids Vergilrezeption jetzt in der ausgezeichneten Studie von Andrae (2003). 35 So Dingel (1997) S. 32 zur vergilischen Fassung. 36 Auch und gerade, was die Fürsorge der Götter angeht (14, 568: habetque deos pars utraque). Das ist ebenfalls ein Problem, das schon bei Vergil in dieser Episode angelegt ist: Turnus trägt einerseits Züge des Achilles, andererseits ist es Aeneas, der fern vom Schiffslager weilt wie der homerische Achill beim Angriff auf das griechische Schiffslager. „This difficulty of deciding which of the two, Turnus or Aeneas, is the new Achilles (prophesied by the Sibyl in Book 6) is another one of the interpretative puzzles the text seems continually to set for readers.“ (Susan Ford Wiltshire, The Man Who Was Not There, in: Perkell [1999], S. 162 – 177, 166).
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dem göttlichen Walten für überlegen erachtet (14, 568f.: quodque deorum est/ instar, habent animos)37 – nicht gerade Zeichen eines tiefen Determinismus. 6.3 Metamorphosen der List Es ist ganz offensichtlich, dass Ovid ein völlig anderes Weltbild vertritt als Vergil, und wir erwarten deshalb auch eine andere Beurteilung der List. Diese Erwartung wird – in paradoxer Weise bei diesem Dichter erwartungsgemäß38 – zunächst enttäuscht. Das eiserne Zeitalter wird von Ovid zu Beginn der Metamorphosen ganz traditionell (wenn auch besonders motivreich39) beschrieben (1, 128 – 131): protinus inrupit uenae peioris in aeuum omne nefas, fugere pudor uerumque fidesque in quorum subiere locum fraudesque dolique insidiaeque et uis et amor sceleratus habendi. Das letzte und damit depravierteste der Weltzeitalter wird gleich zu Beginn ausgerechnet mit dem Ersatz der fides durch ihr Gegenteil, nämlich Betrug, Listen und Hinterhalte charakterisiert. Grundsätzlich ist an dieser Beschreibung nichts Ungewöhnliches. Die Depravierung des menschlichen Lebens wird in der Zeitalterfolge von den anderen augusteischen Dichtern (namentlich Vergil, Horaz und Tibull) immer moralisch gefasst.40 In den „Metamorphosen“ Vergils,41 dem Weltgedicht Silens in der sechsten Ekloge, werden die saturnischen Reiche ebenfalls durch das furtum Promethei (ecl. 6, 42) abgelöst – eine Epitome des Weltzeitaltermythos, in dem die Dekadenz vom 37 Dingel (1997) S. 26 Anm. 1: „Stichelei“ gegen Aeneas bei Ovid. Zwar lässt auch Vergil den Jupiter sagen, dass er für alle Kämpfenden der gleiche (10, 112: rex Iuppiter omnibus idem – ob das hodie aus 107 noch nachklingt, sei einmal dahingestellt), also unparteiisch sei, aber das nähert ihn eben gerade einem fatum an, das überindividuell ist (Suerbaum [1999] S. 246). Genau das gilt nicht, wenn jede Partei eigene Götter hat; vgl. Rüpke (1990) S. 119 – 122. 38 Eckard Lefèvre, Die Bedeutung des Paradoxen in der römischen Literatur der frühen Kaiserzeit, in: Poetica 3 (1970), S. 59 – 82 (Schwerpunkt auf Ovid). 39 Bodo Gatz, Weltalter, Goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967 (Spudasmata XVI), S. 76. 40 Die Abfolge von Zeitaltern (saecula) gegenüber Geschlechtern (Hesiod) ist vermutlich augusteisch, erster Beleg Hor. epod. 16, 63f. Dazu H. C. Baldry, Who invented the Golden Age? in: CQ 2 (1952), S. 83 – 92 und Franz Bömer, P. Ovidius Naso. Metamorphosen. Buch I – III, Heidelberg 1969, S. 47 – 49. Natürlich ist auch der hesiodeische Mythos (erg. 106 – 201, dazu West [1978] S. 172 – 177) bereits moralisiert, es geht bei den Weltaltern um nichts anderes als Moral. 41 Spahlinger (1996) S. 10 – 14 arbeitet die strukturellen Übereinstimmungen von Silens Weltgedicht mit Ovids Metamorphosen heraus.
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silbernen bis zum eisernen eingefangen ist; aber schon in der Aeneis stehen doch belli rabies und amor habendi (Aen. 8, 327) im Vordergrund (uis und amor sceleratus habendi sind bei Ovid dagegen weiter nach hinten gerückt) und sind Ausfluss der Erschwerung des Nahrungserwerbs durch die Ackerkultur und den labor improbus und allgemein eine Funktion der Ökonomisierung des menschlichen Lebens durch den Zwang, Handel zu treiben.42 Diese 42 georg. 1, 145f.: tum uariae uenere artes. labor omnia uicit/ improbus. Die Stelle ist auch ein Beleg für den im vorangegangenen Kapitel bereits angemerkten negativen Ton für die ars bei Vergil. Die Frage, ob der labor improbus von Vergil negativ verstanden wird, ist umstritten. Richard Jenkyns, Virgil’s Experience. Nature and History; Times, Names and Places, Oxford 1998, S. 678 – 684 ist der Ansicht, dass sich eine pessimistische Sicht von labor improbus nicht halten lasse. Sabine Bruck, Labor in Vergils Aeneis, Frankfurt am Main u.a. 1993, S. 18 weist darauf hin, dass Jupiter selbst den labor und die artes gebracht hat und dass Vergil dies bejaht. Das stimmt, dennoch ist es auch typisch vergilisch, diese condicio humana selbst als einen post-paradisischen Zustand zu fassen. Es soll hier auch nicht gesagt werden, dass Vergil die ars allgemein als etwas Schlechtes ansieht: sie ist gut und wichtig als Mittel des Menschen, gegen den Mangel anzugehen. Aber sie entsteht auf menschliche Initiative in einer Situation der Not (georg. 1, 133), vgl. Robert Cramer, Vergils Weltsicht. Optimismus und Pessimismus in Vergils Georgica, Berlin – New York 1998, S. 42f.: „Sie [sc. die Arbeit F.W.] ist allerdings Teil eines göttlichen Plans, der den Menschen aus Untätigkeit und Trägheit aufscheuchen soll. Sie hat einen Sinn.“ Besser auch die von Bruck zum Teil abgelehnten: Heinrich Altevogt, Labor improbus. Eine Vergilstudie, Münster 1952, S. 10f.; Rudolf Kettemann, Bukolik und Georgik. Studien zur Affinität bei Vergil und später, Heidelberg 1977, S. 24; Wilfried Stroh, Labor improbus, in: Venanz Schubert (Hg.), Der Mensch und seine Arbeit, Sankt Ottilien 1986, S. 111 – 146, 132. Vgl. auch Roger A. B. Mynors, Virgil Georgics. Edited with a Commentary. With a Preface by R. G. M. Nisbet, Oxford 1994, S. 30; Richard F. Thomas, Virgil. Georgics. Vol. 1. Books I – II, Cambridge 1988, S. 17f. und 92f. Artes sind signa der nichtsaturnischen Zeitalter (vgl. auch Putnam [1998] S. 105f.). Das Jagen erscheint hier als fallere (139). Anders ist jedoch das Konzept des Euander in Aen. 8, 320ff. Dort ist es Saturn, der einem unzivilisierten (hier neg. konnotiert) Volk die Kultur bringt. Die Aussage Brucks (1993) S. 55, die dem Euander eine eingeschränkte Weltsicht unterstellt, weshalb er Saturn anstelle des Jupiter setze, überzeugt nicht. Besser Hartwig Heckel, Zeitalter, in: DNP 12, 2 (2002), Sp. 706 – 709, 708 und Bömer (1969) S. 47 mit weiterf. Lit. – Ebenso steht das Agrarische in den Epoden des Horaz im Vordergrund (ebenfalls moralisiert durch den numquam fallentis termes oliuae: epod. 16, 45). Die Schifffahrt ist besonders durch den Handel notwendig geworden; vgl. Tib. 1, 3, 35ff. Die periuria (1, 3, 51), die den Tibull nicht schrecken, weil er sie nicht begangen hat (Maltby [2002] S. 200), sind wohl auch Kennzeichen des eisernen Zeitalters, von Tibull aber schon von der eigentlichen Weltalterthematik (35 – 50) getrennt (48 noch Kritik an der ars des Schmiedes, die Waffen herstellt). – Gier spielt eine Hauptrolle Tib. 2, 3, 35ff. – Prop. 2, 32 bettet das Motiv immerhin in eine Klage über die Untreue der Geliebten ein (Listvokabular 2, 32, 19f. ) wie bei Tibull (1, 6, s. obiges Kapitel). Den Untergang der fides beklagt Properz in 3, 13, 49, hier aber ist es auch die Habgier und nicht die List, die den (gemeinten) Gegenbegriff zur fides bildet. Interessant ist an Prop. 2, 32, dass Properz den moralischen Niedergang sofort wieder nach der Flut des Deucalion einsetzen lässt. Zu den Stellen allgemein vgl. Heckel (2003) Sp. 707f. Vgl. auch noch Rigobert Günther/ Reimar Müller, Das Goldene Zeitalter. Utopien der hellenistischen römischen Antike, Leipzig 1987 und Stuttgart
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Motive werden von Ovid auch aufgegriffen, aber eben erst im Anschluss an die zitierten Verse. Doch die Betonung des Listvokabulars zur Charakterisierung des eisernen Zeitalters ist in dieser Form eine Eigenheit der Metamorphosen. Die List ist hier auch nicht Teil eines Dualismus von uis und dolus. Ovid setzt der vergilischen Betonung von Krieg und Habgier mit der List einen dritten Begriff hinzu, der durch die Dreigliedrigkeit von fraudesque dolique insidiaeque besonders betont wird. Damit ist zunächst einmal festzuhalten, dass Ovid hier nicht nur einen typisch augusteischen, d.h. in diesem Falle moralisierenden Blick auf die List hat, sondern dass diese Perhorreszierung der List sogar an besonders prononcierter Stelle steht. Dies kann aus drei Gründen überraschen. 1. Wir haben Ovid im vorangegangen Kapitel als wenig skrupulösen Vermittler von Liebesstrategemen kennen gelernt. Zwar hat der Dichter dort eine deutliche Grenze zwischen der List in der Liebe und dem Betrug in anderen Bereichen des Lebens gezogen (1, 637ff.), aber wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die meisten Metamorphosen (und namentlich die im Anschluss an die Schilderung der großen Flut) erotische Erzählungen sind,43 so verwundert diese Akzentuierung, die als eine bewusste Wahl des Dichters erscheint, doch ein wenig. 2. Tatsächlich sind die geschilderten Metamorphosen auch wirklich voll von Listen, die keineswegs einheitlich beurteilt werden. Jeder Leser von Ovids Epos wird zweifellos bestätigen, dass die Metamorphosen eine spielerischgalante Seite haben, in der die List der Liebenden und auch die mancher Heroen positiv konnotiert ist.44 u.a. 1988 (Lizenzausgabe der DDR. Einordnung der Texte z.T. obsolet). Ergebnis: Niemand betont die List als Zeichen des eisernen Zeitalters so wie Ovid. – Bömer (1969) S. 63 zu met. 1, 129 beklagt sich, dass Gatz (1967) S. 72 Anm. 41 behaupte, mit fides bringe Ovid ein römisches Thema in den Mythos, ohne dies näher zu belegen. Das ist, wie so oft bei Bömer, überpenibel. Wie sich hier zeigt, ist die prononcierte Stellung der List typisch ovidisch, d.h. Ovid arbeitet hier mit einem zentralen Gegenbegriff zur fides. Es ist deshalb alles andere als unwahrscheinlich, dass fides hier auch römisch konzipiert ist. Es ist denkbar, dass Ovid Rechtsverstöße meint. Dies entspräche zum einen der Betonung der dike durch Hesiod, zum anderen wäre damit der dolus malus zitiert, also wieder ein römischer Begriff. Zu Hesiod erg. 199 und met. 1, 129 vgl. Moritz Haupt/ Otto Korn/ Rudolf Ehwald/ Michael von Albrecht, P. Ovidius Naso. Metamorphosen. Erster Band. Buch I – VII, Dublin – Zürich 101966, S. 28. 43 Lancelot Patrick Wilkinson, Ovid recalled, Cambridge 1955 (ND Bristol 2005), S. 206: „Love is the chief theme of the Metamorphoses.“ Zu ars 1, 637ff, (expedit esse deos usw.) vgl. Wilkinson S. 191 (und hier im Folgenden). 44 Z.B. Atalante und Hippomenes (10, 560 – 707) oder der gesamte Perseus-Zyklus 4, 604 – 5, 249. Perseus ist allenfalls im Hinblick auf seine Ähnlichkeit mit Aeneas eine problematische Figur, weil die Auseinandersetzung zwischen ihm und Phineus um Atalante dem Helden eine göttliche Sendung abspricht (Schmitzer [1990] S. 242f.); ansonsten ist er ein rundum positiver Held, der sich immer wieder mit – zum Teil von Göttern gestützter – List gegen archaische Mächte durchsetzt, z.B.: Perseus verwandelt Atlas mit dem Me-
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3. Es scheint unklar, wieso überhaupt noch Listen vorkommen. Das eiserne Zeitalter bildet zusammen mit dem Gigantenaufstand und der Untat des Lycaon für Jupiter die Motivation, die Menschen im Zuge der großen Flut auszurotten und durch ein neues Geschlecht zu ersetzen. Dieses aus Steinen geborene genus durum ist aber nicht nur experiens laborum, wie Ovid es beschreibt (1, 414), sondern hat Listen und Täuschungen von vornherein im Repertoire seines Handelns. Deucalion und Pyrrha kommt für die Beantwortung dieser Fragen eine zentrale Bedeutung zu, da sie zu einem entscheidenden Zeitpunkt als Schöpfergestalten auftreten, die materialistischelementare (Steine), menschliche, göttliche und titanische Züge vereinen.45 Ernst A. Schmidt hat die verschiedenen Probleme in der Chronologie der ovidischen Ursprungsmythen benannt und einer Lösung zuzuführen versucht, indem er eine zeitliche Abfolge der verschiedenen Mythen als nicht vom Dichter beabsichtigt betrachtete; stattdessen gehe es in den Metamorphosen darum, die condicio humana überzeitlich zu beleuchten. Es könne nicht sein, dass die Aussagen über die metallenen Zeitalter über ein untergegangenes Menschengeschlecht gemacht würden und somit für uns eigentlich bedeutungslos seien; Deucalion und Pyrrha als Kinder des Prometheus und Epimetheus gehören streng genommen in die erste Generation der Menschen, wobei auch die Schöpfung des Iapetossprosses von Ovid nur als eine von zwei Möglichkeiten für die Entstehung des Menschen behandelt wurde.46 Schmidt setzt an die Stelle der Chronologie lieber die Ordnung symphonischer Motive in den Metamorphosen, die auftauchen, variiert und mit Neben- und Leitmotiven kombiniert werden.47 Für diese Sicht der Metamorphosen spricht sicher einiges, dennoch scheint es zu weit zu gehen, mit diesem Argument die Semantik der Chronologie gänzlich in Abrede zu stellen. Damit ist gemeint, dass Ovid zwar tatsächlich die verschiedenen Mythen als alternative und sich ergänzende Deutungen der menschlichen Natur anbietet, dass aber dennoch durch die Zeitabfolge inhaltliche Aussagen hergestellt werden. Deucalion und Pyrrha zeichnen sich neben ihrer Unschuld (1, 327: innocuos ambo) auch durch ein gehöriges Maß an Misstrauen gegenüber den Täudusenhaupt, weil er nicht stark genug für einen Zweikampf ist (4, 653: uiribus inferior); Cepheus fragt nach der Rettung der Andromeda den Perseus, wie er das Medusenhaupt geraubt hat: quanta uirtute quibusque/ artibus (4, 770f.); Perseus erzählt, er habe den Töchtern des Phorcys das Auge listig geraubt, das die beiden gemeinsam benutzt hätten (4, 776f.): id se sollerti furtim, dum traditur, astu/ supposita cepisse manu usw. 45 Spahlinger (1996) S. 81: „Gottgewollte Schöpfung durch Menschenhand.“ 46 Schmidt (1991) S. 23f. Das Ganze wird überhaupt expliziert im ersten Teil (Abschnitt A) von Schmidts Untersuchung (S. 12 – 78). 47 Ähnlich über die Fluterzählung: Joseph B. Solodow, The World of Ovid’s Metamorphoses, Chapel Hill 1988; Michael Simpson, The Metamorphoses of Ovid. Translated with Introduction and Commentary, Amherst 2001, S. 279.
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schungen der Götter aus. Nachdem sie, als einzige Überlebende der Flut,48 von der Themis das Orakel erhalten haben, die Gebeine der großen Mutter hinter sich zu werfen, weigert sich Pyrrha zunächst, weil sie denkt, sie müsse tatsächlich die Knochen ihrer leiblichen Mutter schänden. Nach einigem Nachdenken äußert sich Deucalion vorsichtiger (1, 390 – 397): inde Promethides placidis Epimethida dictis mulcet et ‚aut fallax‘ ait; ‚est sollertia nobis, aut (pia sunt nullumque nefas oracula suadent) magna parens terra est: lapides in corpore terrae ossa reor dici; iacere hos post terga iubemur.‘ coniugis augurio quamquam Titania mota est spes tamen in dubio est: adeo caelestibus ambo diffidunt monitis. sed quid temptare nocebit? Indem Deucalion und Pyrrha als Titanensprösslinge zwischen eisernem und postfluvialem Zeitalter vermitteln, holen sie sichtbar den Schöpfungsanspruch des Prometheus (und des Epimetheus, einer freilich sekundären Gestalt, die Hesiod wohl eher als Gegenentwurf zu Prometheus konstruiert hatte und die in der gleichen Funktion hier wieder auftaucht49) aus der alten Zeit in die neue. Diese chronologische Verlinkung wäre überflüssig, wenn sich das Titanische des Menschen von selbst verstünde. Dieses Titanische aber bezeichnet besonders zwei Eigenschaften des Menschen, die sie ihren Eltern (Vätern) verdanken: Misstrauen gegenüber den Göttern und Listigkeit.50 Beides sind Embleme der menschlichen Autarkie gegenüber den Göttern (List als selbstbestimmtes Handeln; Misstrauen als Abweisung einer In48
Lycaon scheint die Flut zusammen mit seiner Tochter auch überlebt zu haben. Schmidt (1991) S. 21. Hans Herter, Das Concilium Deorum im I. Metamorphosenbuch Ovids, in: Gerhard Wirth (Hg.), Romanitas – Christianitas. Untersuchungen zur Geschichte und Literatur der römischen Kaiserzeit. FS J. Straub, Berlin – New York 1982, S. 109 – 124, 110. Lassen wir es hier dabei bewenden, dass die Logik der Deucalion-und-Pyrrha-Geschichte die von einzigen Überlebenden ist, wie es Ovid ja 1, 325f. auch ausdrücklich sagt. 49 West (1966) S. 309. Gerhard Fink, Pandora und Epimetheus. Mythologische Studien, Erlangen (Diss.) 1958, S. 60, Otto Lendle, Die „Pandorasage“ bei Hesiod. Textkritische und motivgeschichtliche Untersuchungen, Würzburg (Diss.) 1957, S. 100. Escher, Epimetheus, in: RE 6, 1 (1907), Sp. 181f. Escher hält die Gestalt offenbar für vorhesiodeisch, dennoch für sekundär. Ovid hat, wie die meisten römischen Schrifststeller, den Pandoramythos (in dem Epimetheus seine zentrale Rolle spielt) nicht erzählt: Vgl. Immanuel Musäus, Der Pandoramythos bei Hesiod und seine Rezeption bis Erasmus von Rotterdam, Göttingen 2004 (Hypomnemata 151), S. 165. 50 „Ein Spiel von List und Gegenlist“: Ernst Heitsch, Das Prometheus-Gedicht bei Hesiod, in: Ernst Heitsch (Hg.), Hesiod, Darmstadt 1966, S. 419 – 435, 422 (ursprgl. in: RhM 106 [1963], S. 1 – 15). Jenny Strauss Clay, Hesiod’s Cosmos, Cambridge 2003, S. 102: „this drama of mutual deception“ über die hesiodeischen Prometheus-und-Pandora-Mythen (theog. 507 – 616, erg. 42 – 105). Dazu West (1966) S. 305 – 308. Allgemein: DNPGruppe Kiel, Prometheus, in: DNP 10 (2001), Sp. 402 – 406.
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teressengemeinschaft, man könnte auch sagen: aktive und passive Listkompetenz), dagegen sind Voreiligkeit und Nachbedacht die Schattenseite dieser Autarkie, die zugleich die generelle Unterlegenheit des Menschen markieren. Pyrrha ist mit ihrer raschen und ablehnenden Reaktion des falsch gedeuteten Orakels die klassische Epimetheustochter, als die Ovid sie auch apostrophiert (1, 390). Der Sohn des Prometheus (ebenda: Promethides) aber erwägt als Ursache für die Irritation tatsächlich genau das titanische Erbe: Es ist eine fallax sollertia, eine trügerische Kunstfertigkeit, deren Trug auf den Urheber zurückfallen kann. Aus diesem Misstrauen können sich die beiden Titaniden auch nicht selbst befreien, sie können nur mit ihren Vermutungen experimentieren (temptare). Erst das göttlich inspirierte Ergebnis zerstreut ihre Zweifel. Die Titaniden als Schöpfer in einem metonymischen Verhältnis zum Ergebnis ihrer Schöpfung. Das passt insgesamt in das Konzept von E. A. Schmidt, der die Logik der Metamorphose mit einigem Recht als die einer Metapher beschrieben hat. Zutreffend ist, dass Ursprungsgestalt und neuer Körper meist durch eine metaphorische Beziehung miteinander verknüpft sind.51 Falsch aber ist, die Metamorphosen als eine rein dichterische Semantisierung der Welt zu bezeichnen, also streng genommen als ein Epos der Metaphern, nicht der Verwandlungen.52 Auch wenn es nicht gelungen ist, Ovids Epos in klare Epochen zu gliedern und eine eindeutige Chronologie der einzelnen Verwandlungsgeschichten herzustellen, sollte es doch klar sein, dass gerade darin ein Konzept des Werdens und Vergehens des Menschen ausgedrückt wird und nicht nur eine poetische Aitiologie. Schmidt führt hier vor 51
Der neue Körper ist „‚Bild‘ (Bildspender)“, der alte ist das Bezeichnete „Bildempfänger“, vgl. Manfred Landfester, Einführung in die Stilistik der griechischen und lateinischen Literatursprachen, Darmstadt 1997, S. 89. Es wäre gewiss möglich, die verschiedenen Metamorphosen in die präzisen Tropen (Metonymie, Synekdoche usw.) aufzuschlüsseln. Das soll jetzt nicht angestrebt werden; aber es ist vielleicht doch wichtig, sich hier von Schmidt abzuheben. Schmidt (1991) versteht die Metamorphosen als ein dichterisches Projekt, das die Welt zu einem lesbaren Text macht qua Erweiterung des dichterischen Metaphernschatzes (S. 64: „Die Welt ist durch Ovids Metamorphosen ein solcher Bildersaal geworden.“). Mir geht es nur darum zu zeigen, dass die Verknüpfung von Ursprungskörper und neuem Körper semantisch durch die Metapher erfolgt. Ich würde aber nicht deshalb die Konsequenzen für Ovids Geschichtsbild klein schreiben oder ihn gar wie Schmidt für einen unpolitischen Menschen halten: Ovid sei (S. 45) „die Kategorie der Entwicklung und Veränderung fremd (…). Er ist nicht nur an geschichtlichen Prozessen nicht interessiert, sondern auch nicht an der Geschichte eines einzelnen Menschen.“ 52 Godo Lieberg, Das Verhältnis der Metapher und des Vergleichs zur Metamorphose in den Metamorphosen Ovids, in: Werner Schubert (Hg.), Ovid. Werk und Wirkung. FS M. v. Albrecht Teil I, Frankfurt am Main u.a. 1999, S. 343 – 358, 343 und passim hat die Thesen Schmidts und Pianezzolas (Emilio Pianezzola, Elementi della tecnica poetica ovidiana: similitudine metafora metamorfosi, Turin 1973; Emilio Pianezzola, La metamorfosi ovidiana come metafora narrativa, in: Daniele Goldin [Hg.], Retorica e Poesia [Atti del III Convegno Italo Tedesco, Bressanone 1975], Padua 1979, S. 79 – 91) als zu vereinfachend kritisiert und mit Gegenbeispielen entkräftet.
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allem ins Feld, dass die Transformationen bei Ovid mit wenigen charakteristischen Ausnahmen,53 immer einmalige und endgültige sind, jedenfalls sofern sie den Menschen betreffen.54 Deshalb könne man daraus gerade kein Konzept ewigen Wandels im Sinne der Pythagoras-Rede gewinnen. Ohne die Frage aufzugreifen, ob die Pythagoras-Rede den Schlüssel zu Ovids Epos beinhaltet oder nicht, muss dem doch entgegnet werden, dass Ovid zwar in der Tat zumeist einmalige und endgültige Verwandlungen darstellt, dass diese Verwandlungen aber ständig stattfinden und zudem ubiquitär sind. Wie Schmidt selbst darstellt, betreffen sie nicht ausgesuchte Menschen (etwa den epischen Helden), sondern alle Wesen und Menschen jeder sozialen Schicht.55 Ferner nimmt Ovid den Menschen nie in seiner ganzen Biographie, sondern nur im Umschwung der Metamorphose wahr.56 Ovids Welt ist eine des ungeordneten und ungezügelten Wandels und nicht der poetischen Metapher. Verwandlungen entstehen aufgrund der Instabilität der Form (hier ein antideterministisches Konzept zu übersehen erscheint mir undenkbar). Die Logik der ovidischen Metamorphose beschreibt zuallererst einen Wandel der Form hin zu einem neuen Körper;57 d.h. sie betont die Instabilität der Qualität aller Dinge als Ursache der Entstehung neuer Körper und bisweilen neuer Spezies. Insofern ist es etwas unpräzise zu sagen, in der Metamorphose werde ein Wesenskern von einer Form in die andere gerettet.58 Das ist etwa der Fall, wenn eine konkrete Person in einer Pflanze 53
Z.B. Caenis/Caeneus/auis unica 12, 531; Mestra 8, 871ff. (die Tochter des Erysichthon, ihr Name [in der Teubneriana als Mnestra] fällt in den Metamorphosen nicht (wie auch nicht in der übrigen lat. Lit.); dazu ausführlich Franz Bömer, P. Ovidius Naso. Metamorphosen. Buch VIII – IX, Heidelberg 1977, S. 236 – 238. W. Drexler/ H. W. Stoll, Mestra, in: RML 2.2 (1894/97), Sp. 2845f. 54 Schmidt (1991) S. 47, zum Problem der Ausnahmen allgemein S. 12. 55 Schmidt (1991) S. 17f. aber mit anderen Konsequenzen. 56 Schmidt (1991) S. 18 und 45. 57 Man muss, wie William S. Anderson, Ovid’s Metamorphoses. Books 1 – 5. Edited with Introduction and Commentary, Norman – London 1996, S. 6f. und mit ihm inzwischen die meisten Philologen betonen, das Proömium (In noua fert animus mutatas dicere formas/ corpora) wörtlich nehmen: „Formen, die in neue Körper transformiert“ werden, nicht „Körper, die in verschiedene Formen transformiert werden“. Ovid betont die Labilität der Form als Grundlage für neue Spezies, damit unterstreicht er die fundamentale Instabilität als menschliche Grunderfahrung in ihren verschiedenen Aspekten. Siehe auch Fantham (2004) S. 4f. 58 Schmidt (1991) S. 45: „Es gibt immer nur jeweils einen einzelnen Punkt im Leben eines Menschen und den punktuellen, aber endgültigen Umschlag, die metabolÆ. Die Menschen werden von ihrem Wesenskern her (…) als festumrissene stabile unveränderliche Wesen angeschaut. In der schlagartigen metabolÆ wird ihr Wesenskern in der Regel nicht berührt, sondern bleibt unverändert.“ Vgl. dazu Heinrich Dörrie, Wandlung und Dauer. Ovids Metamorphosen und Poseidonios’ Lehre von der Substanz, in: AU 4, 2 (1959), S. 95 – 116, 97f. Alles in allem zustimmend Spahlinger (1996) S. 29 und 254f. Scevola Mariotti, La carriera poetica di Ovidio, in: Belfagor 12 (1957), S. 609 – 635, 626, Karl
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weiterlebt, z.B. bei Dryope (9, 325 – 393). Oft ist es aber doch so, dass bei den Verwandlungen der Menschen in Tiere oder Pflanzen die individuelle Besonderheit (Akzidenz), eine Qualität eines Individuums, in die generelle Besonderheit (Essenz) einer Gattung überführt wird. Das gilt auch nicht für alle, aber doch für viele Metamorphosen.59 Während also einige Qualitäten sich ändern, können manche Qualitäten weitergegeben werden; diese Translation von Eigenschaften von einem Körper zum anderen ist möglich durch die Veränderbarkeit der Gestalten. Die Härte des Steins wird zur Härte des menschlichen Wesens, zu seiner Widerstandsfähigkeit; die Gestalt (forma) des Steins ändert sich zum Menschen hin; die Qualität des Stoffes (Härte) wird zur Qualität des Wesens. Es herrscht zunächst das Prinzip der Ähnlichkeit und Analogie,60 während das Prinzip der Identität nachgeordnet ist. Aufbewahrt wird in der materiellen Metamorphose oft eine Qualität, manchmal ein individuelles Bewusstsein (2, 485 mens antiqua manet: Callisto;61 Dryope: Das sind dann eigentlich Verzauberungen, wie sie Circe vornimmt), nie die Essenz (s. dazu im Folgenden), immer die Existenz. Die erhaltene Qualität ist Spur und Beleg der Transformation, nicht unbedingt ihr Zentrum oder Motor – das zeigt die Philemon-und-Baucis-Geschichte. In den Bäumen, in die sie verwandelt wurden, ist eigentlich nichts von ihnen erhalten geblieben, weder ihr Wesen noch eine Eigenschaft – außer dem Umstand, dass sie noch beisammen stehen, wie sie beisammen gelebt haben. Das ist eine Spur der Verwandlung. Was wohl eigentlich empfunden wird, wenn von der Erhaltung eines Wesenskerns gesprochen Galinsky, Ovid’s Metamorphoses. An Introduction to the Basic Aspects, Berkeley – Los Angeles 1975, S. 44f. Solodow (1988) S. 180. 59 Callisto hatte keine Eigenschaft des Bären; sie behält aber in der Bärin ihr Wesen. Es „lässt sich doch z.B. im Charakter der Callisto (II 401ff.) vor ihrer Verwandlung nichts entdecken, was an die typischen Eigenschaften eines Bären erinnert“: Niklas Holzberg, Einführung, in: Erich Rösch, P. Ovidius Naso, Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und hg. Erich Rösch, München – Zürich 111988, S. 730; zustimmend Schmidt (1991) S. 64. Die Überlegung Spahlingers (1996) S. 257, wonach die zweite Metamorphose die erste korrigiert, ist abwegig und beruht auf der Überlegung, dass der Charakter in der Transformation erhalten bleibe. M. E. ist es Ovid hier wichtig zu zeigen, dass der Missbrauch der Callisto durch mehrere Götter völlig willkürlich ist (dazu Anderson [1996] S. 10f. Fritz Graf, Die Götter, die Menschen und der Erzähler. Zum Göttermythos in Ovids ‚Metamorphosen‘, in: Michelangelo Picone/ Bernhard Zimmermann [Hgg.], Ovidius redivivus. Von Ovid zu Dante, Stuttgart 1994, S. 22 – 42, 36ff.). Deshalb bedeutet ihre Metamorphose auch „nichts“ und ist willkürlich. Zur Willkür der Götter in den M. auch Wilkinson (1995) S. 192. Holzberg (1997) S. 157 selbst teilt auch Schmidts Ansicht, dass „[v]iele der Ovidischen Verwandlungsmythen (…) die Umsetzung einer Metapher in eine ätiologische Erzählung“ darstellen. 60 Michael von Albrecht, Die Verwandlung bei E. T. A. Hoffmann und bei Ovid, in: A & A 10 (1961), S. 161 – 180, 162ff. Bömer (1969) S. 132. 61 William S. Anderson, Multiple Change in the Metamorphoses, in: TAPhA 94 (1963), S. 1 – 27, 9.
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wird, ist der Umstand, dass die Metamorphose oft dadurch ausgelöst wird, dass eine Qualität bei einem Individuum so dominant wird, dass sie ihm eigentlich seine Individualität wegnimmt. Dies macht die Metamorphose deutlich, indem sie aus dem Individuum eine neue Gattung macht bzw. das Individuum in eine andere Gattung, die es schon gibt, verwandelt. So etwa im Falle der Grausamkeit des Lycaon, die ihn entmenscht und zum Wolf macht. Es mag irritieren, dass ausgerechnet die Essenz, verstanden als der Grundstock von Qualitäten, die zur Bestimmung einer Gattung nötig sind, in diesem Modell nicht erhalten bleibt. Dieser Satz gilt, insofern die Metamorphose ein Ding/Wesen in ein anderes verwandelt (würde die Essenz erhalten bleiben, wäre es kein anderes Ding). Ovid kennt aber auch die Verwandlung eines Dinges unter Wahrung der Essenz, besonders auffällig etwa die der pars melior seiner selbst am Ende der Metamorphosen (15, 875). Und eigentlich ist genau das der Sinn des Metamorphosenprojekts. Empirisch sehen wir niemals eine Frau sich in einen Baum verwandeln. Warum erzählt Ovid dann von einer Welt, in der dieses und Ähnliches dauernd geschieht? Weil er deutlich machen will, dass alles sich ständig verändert und wir diese Veränderung auch da annehmen sollen, wo eine Gattung oder ein Phänomen vor unseren Augen konstant erscheint. Der Mensch und seine Ordnungen verändern sich, auch wenn Mensch und Ordnung essentiell Bestand haben. Aber irgendwann summieren sich die Instabilitäten der einzelnen Qualitäten, ihre Veränderungen, und schaffen eine neue Essenz. Das ist der Sinn der ovidischen Metamorphosen, deshalb ist es wichtig, die Veränderungen des Charakters, des Wesens mit in das Projekt des Ovid hineinzunehmen. Ohne diese Vorstellung könnte er seiner pars melior, der Essenz seiner selbst und seines Werkes, nicht ewige Dauer verheißen. Die Essenz Ovids aber ist an die Essenz der menschlichen Gattung geknüpft. Würden sich die Menschen zurück in Steine verwandeln, würde auch Ovids Werk vom Wandel verschluckt. Das erscheint ihm auch nicht grundsätzlich undenkbar. Er hat allerdings ein paar Hinweise darauf gegeben, dass er es für unwahrscheinlich hält. So ist der Wandel von inneren Qualitäten ein zentrales Motiv der Geschichte von Procris und Cephalus, in der keine körperlichen, sondern nur charakterliche Metamorphosen (Liebe zu Eifersucht) ein hoffnungsloses Spiel von List und Täuschung ins Werk setzen.62 Auch bei Apollo wird der radikale Wechsel im Innenleben des Gottes eindringlich erzählt.63 Damit 62
Anderson (1963) S. 11 – 14. Anderson (1963) S. 6 (und 8). Met. 1, 495f.: sic deus in flammas abiit, sic pectore toto/ uritur et sterilem sperando nutrit amorem. Anderson bemerkt daher treffend, dass der Verwandlung der Daphne recht eigentlich eine des Gottes Apoll vorangegangen ist, der durch die Leidenschaft verändert wurde. Für Ovid sind Veränderungen ubiquitär, selbst das Wesen hat gar keinen festen Kern! Vgl. auch Friedmann Harzer, Ovid, Stuttgart – Weimar 2002, S. 72: „Betrachtet man die Geschichte des griechischen Verbs 63
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macht Ovid deutlich, dass sich die Kontinuität tatsächlich allein auf das Sein des Seienden bezieht und der Wandel sonst alles erfassen kann. Es gibt also neben der materiellen auch eine immaterielle Metamorphose. Insofern folgt auch die Kosmologie der Logik der Metamorphose64 und der Weltaltermythos klärt einen wichtigen Aspekt der Verwandlung. Zwar bleiben die Menschen im Weltaltermythos morphologisch Menschen (bis zur ersten materiellen Metamorphose von Stein zu Mensch), aber ihr Wesen verwandelt sich und irgendwann sind es nicht mehr die Menschen, denen die Götter einst Bleiberecht neben sich eingeräumt haben. Allein schon die metaphorische Beschreibung der wechselnden Zeitalter (Gold, Silber, Erz, Eisen) entspricht dem Gedanken der Metamorphose. Anders ausgedrückt: Die Historisierung des Niedergangs der Menschen betont die Instabilität seiner charakterlichen Qualitäten und seines Wesens; und wie bei der materiellen Metamorphose ist auch hier die Instabilität der Qualitäten die Voraussetzung der Metamorphose. Das ist die Botschaft der Lycaon-Geschichte: Der im eisernen Zeitalter depravierte Mensch ist nicht mehr derselbe Mensch. Deshalb wird Lycaon verwandelt, aber auch die anderen Menschen des eisernen Zeitalters werden, weil ihre schlechten Eigenschaften dominant geworden sind, transformiert. Im Gegensatz zu Lycaon bleiben sie Menschen, aber, das ist Ovids Aussage, es sind eben nicht mehr dieselben Menschen. Wurden bei Lycaon dessen schlechte Eigenschaften bei der Metamorphose erhalten, so gehen die Götter bei den anderen Menschen subtiler vor. Deshalb erzählt die Deucalion-und-Pyrrha-Geschichte gleichzeitig von einem radikalen Neuanfang und von der Translation wichtiger Qualitäten aus dem praefluvialen Menschengeschlecht.65 Die Metamorphose, ob nun materieller oder immaterieller Natur, ist immer abhängig von der Instabilität der Qualität, die Weitergabe von Qualitäten ist willkürlich. In der Verwandlung von Steinen in Menschen werden Qualitäten in das Wesen der Menschen hinein gegeben und dies umfasst mehr als die Härte des Steins, es umfasst auch die Qualitäten der Titaniden (Metonymie Verursacher – Verursachtes). Durch Deucalion und Pyrrha ‚metamorphóõ‘, so kommt neben der physischen auch die psychische Metamorphose in den Blick, in der sich nicht das Äußere einer menschlichen Figur wandelt, sondern ihr Inneres.“ [Die Hervorhebung in Sperrschrift statt fett im Original]. 64 Was Schmidt (1991) S. 15f. ausgeschlossen hat. 65 Aus diesem zyklischen Denken – denn damit beginnt eigentlich die Zeitalter-Abfolge neu, bezieht Ovid wohl auch seinen Optimismus, dass seine pars melior ewig dauern wird. Hätte Ovid ein rein nach vorne schreitendes Zeitmodell, würde es wohl irgendwann aus sein mit dem Menschen und dann könnte niemand mehr sein Werk lesen. So legen Ovids Metamorphosen zwar nicht nahe, dass irgendetwas vom Wandel verschohnt bliebe, sehr wohl aber, dass durch die ständigen Metamorphosen und Neudurchmischung der Qualitäten irgendwann alles einmal wieder kommt. In einer solchen Welt, in der immer Menschen Wandel erleben, in der sich also nicht ändert, dass sich alles ändert, kann Ovid selbstbewusst sagen, dass seine pars melior – und dies ist ja seine Dichtung, die den Wandel erzählt – immer Gültigkeit haben wird.
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wird, das ist der Sinn ihres Überlebens, das Menschengeschlecht der Urschöpfung in das postfluvium transformiert. Die Flut beendet daher nicht die Abfolge der Zeitalter, sondern transformiert das eiserne in einen Neuanfang, der überhaupt erst eine weitere Kette von Metamorphosen ermöglicht. Und es ist die List, die Ovid als zentrales Merkmal des titanischen Erbes und des eisernen Zeitalters markiert hat. In Deukalion und Pyrrha ist sie positiv als kunstfertige sollertia aufbewahrt, negativ als Misstrauen. Dieses Misstrauen muss durch fides ersetzt werden. Insofern ist das Weltbild des Ovid gut römisch gedacht, denn es organisiert sich im Ethischen am Dualismus Treue/Zuverlässigkeit – Treulosigkeit: fides – perfidia. Die Flut hat diesen Dualismus nicht zum Verschwinden gebracht, sondern wieder neu auf Null gesetzt; das Übergewicht von dolus und insidiae ist mit den Menschen des eisernen Zeitalters verschwunden, aber nicht das Konzept. 6.4 Das elegische Weltbild der Metamorphosen Dolus und insidiae verschwinden nicht, sondern erscheinen transformiert wieder in der Geschichte – und zwar ähnlich prompt und umstandslos wie die weibliche Zügellosigkeit bei Properz 2, 32, der den moralischen Niedergang sofort wieder nach der Flut des Deucalion einsetzen lässt (2, 32, 49 – 62): tu prius et fluctus poteris siccare marinos altaque mortali deligere astra manu quam facere, ut nostrae nolint peccare puellae! hic mos Saturno regna tenente fuit; at cum Deucalionis aquae fluxere per orbem et post antiquas Deucalionis aquas, dic mihi, quis potuit lectum seruare pudicum, quae dea cum solo uiuere sola deo? uxorem quondam magni Minois, ut aiunt, corrupit torui candida forma bouis; nec minus aerato Danae circumdata muro non potuit magno casta negare Ioui. quod si tu Graias es tuque imitata Latinas, semper uiue meo libera iudicio! Cynthias Verhalten – das den Auslöser dieser Erwägungen zu Weltalter und Flut gibt – ist hier der Gipfelpunkt einer gesellschaftlichen Depravierung (der Frauen), der sich in Catulls Lesbia angekündigt hatte (2, 32, 45). Zu Zeiten des sabinischen Königs Tatius mögen die Frauen in Rom noch züchtig gewesen sein, aber dies sei lange vorbei. Unter der Herrschaft des Saturn seien die Frauen zuletzt an gutem Verhalten interessiert gewesen. Auch
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Properz vermischt hier scheinbar die Zeitebenen: Eine Zeit moralisch züchtiger Frauen scheint sowohl die Frühzeit Roms als auch die saturnische Zeit gewesen zu sein.66 Entweder konstruiert Properz die saturnische Zeit wie Vergils König Latinus67 als Frühzeit Latiums – dann wäre dies immer noch vor der Herrschaft des Tatius – oder er versteht (dies liegt m. E. näher) ebenfalls die Weltalter als eine Zeit vor der Deucalischen Flut, was die Chronologie der Stelle eigentlich nahe legt, die die Flut direkt nach dem saturnischen Reich präsentiert. Damit würde Properz im engeren Sinne den Verlust der pudicitia als ein Hauptmerkmal des Niedergangs avancieren (wenn auch konzentriert auf die Frauen), ferner würde auch er eine zyklische Auffassung von Aufstieg und Niedergang konstruieren: Die Schöpfungsgeschichte beschreibt eine moralische indifferente Zeit, die aber in den Weltaltern erst zu Moral und dann zu Dekadenz führt. Diese wird durch eine Flut beendet, 66
Mojsisch u.a. (Burkhard Mojsisch/ Hans-Horst Schwarz/ Isabel J. Tautz [Hgg.], Properz. Sämtliche Gedichte. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1993) übersetzen v. 52 problematisch (S. 158): „Du wirst eher in der Lage sein, die Fluten des Meeres versiegen zu lassen und mit sterblicher Hand Sterne vom Firmament herabzuholen, als zu bewirken, dass unsere Mädchen nicht gern Fehltritte begehen. Das war schon Sitte, als Saturn noch die Herrschaft behauptete.“ (Hervorhebung F.W.) Der Umstand, dass die Mädchen nicht sündigen, war Sitte des saturnischen Zeitalters. Durch das „schon“ wird suggeriert, Properz meine, dass sogar während dieses Zeitalters die Mädchen untreu waren. Davon steht bei Properz nichts, das hic greift den Ausdruck ut nostrae nolint peccare puellae auf. So ausdrücklich („hic mos: pudicitia“) Petrus Joannes Enk, Sex. Propertii Elegiarum. Liber Secundus. Cum Prolegomenis, Conspectu Librorum et Commentationum ad IV Libros Popertii Pertinentium etc. Pars Altera Commentarium Continens, Leiden 1962. Richtig daher Georg Luck, Properz und Tibull. Liebeselegien. Lateinisch/Deutsch, Zürich – Stuttgart 1964, S. 141: „Eher könntest du gar die Fluten des Meeres austrocknen und als Sterblicher mit der Hand die erhabenen Sterne pflücken, als erreichen, dass unsere Frauen nichts Schlechtes tun. Das war der Brauch, als noch Saturn die Welt regierte.“ Vgl. auch die Paraphrase von Paolo Fedeli, Properzio. Elegie Libro II. Introduzione, testo e commento, Cambridge 2005, S. 916. Ähnlich Vincent Katz, The Complete Elegies of Sextus Propertius. Translated with Introduction and Notes, Princeton 2004, S. 216 und Simone Viarre, Properce. Élégies, Paris 2005, S. 80. Das Problem ensteht durch das in den Handschriften überlieferte et in v. 53, vgl. Harold Edgeworth Butler/ Eric Arthur Barber, The Elegies of Propertius, Hildesheim – Zürch – New York 1996 (ND von Oxford 31933), S. 253. Mojsisch folgen den Mss. aber gerade nicht. 67 Verg. Aen. 7, 203f.: Putnam (1982) S. 290 und (1998) S. 100 (s.o.). Die Menschen verstehen sich hier nicht durch leges, sondern nur durch mos. Vergils Position ist, gerade wenn wir an die Position des Euander im achten Buch denken (s. oben Anm. 42), etwas widersprüchlich, insgesamt aber entsteht doch der Eindruck, Vergil verstehe, anders als Hesiod und Ovid, das saturnische Zeiralter nicht als eine kulturlose Zeit – dies wäre bei ihm negativ konnotiert, sondern als eine rechtlich geordnete Gesellschaft im Gegensatz etwa zu Cacus; dazu ausführlich Karl Watts Gransden, Vergil. Aeneid VIII, Cambridge 1976, S. 36 – 41. Donald E. Hill, Ovid. Metamorphoses I – IV, Warminster 1985, S. 171. Vgl. aber auch John Kevin Newman, Saturno Rege. Themes of the Golden Age in Tibullus and other Augustan Poets, in: Radke (1998), S. 225 – 246, 230: „Against Horace, Propertius follows Virgil (Geo. II. 136 ff.) in urging, in a patriotic elegy addressed to Tullus (III. 136ff.), that Italy itself is the land of the Blest.“
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die wiederum moralisch „reinen Tisch macht“, also indifferent ist. Die weitere Entwicklung bleibt offen, ob in der Zwischenzeit weitere Dekadenzzyklen stattgefunden haben, wird nicht deutlich. Klassisch ist der moralische Neubeginn in der römischen Frühzeit und die Dekadenz der späten Republik. Und Augustus? Ist er Neubeginn oder Ende des Niedergangs? Vor allem aber: Was folgt danach? Es zeigt sich hier deutlich, dass diese zyklische Konzeption nicht eine der identischen Wiederholung ist. Weder Properz noch Ovid verkünden wie Vergil (ecl. 4) die Rückkehr des goldenen Zeitalters, sondern sie denken ähnlich wie Livius in einem Paradigma von zyklischem Aufstieg und Niedergang.68 Properz bettet seine Kosmologie – die auf ihrem engen Raum die Chronologie der Metamorphosen vorwegnimmt – in eine Klage über die Treulosigkeit seiner Geliebten im Besonderen und der Frauen im Allgemeinen ein. Der erste Teil der Elegie (1 – 42) bemüht in ganz ähnlicher Weise wie Tib. 1, 6 die zentralen Begriffe des Listvokabulars.69 Wenn Ovid wiederum dolus und insidiae erst an die Spitze der Übel des eisernen Zeitalters, dann ins Zentrum des transformierenden Schöpfungsaktes der Titaniden stellt, so kann dies ein erstes Anzeichen für die Erotisierung des Kosmos unter elegischen Vorzeichen sein, die Ovid in den Metamorphosen vornimmt (dazu unten): Im Weltbild der Liebeselegie ist perfidia neben amor habendi der Hauptmakel zunächst der Frauen, dann aber – wiederum bei Properz – auch der Männer.70 Ebenso ging es in Properzens Elegie 2, 32 neben der Unzucht der Frauen auch um deren Hinterlist.71 Für ein elegisches Weltbild kann also die List durchaus zentral gemacht werden. Vielleicht erklärt diese Erotisierung des Kosmos, warum im Weltbild der Metamorphosen die erotische perfidia zunächst nicht so leicht eingehegt werden kann wie in der Ars amatoria (1, 633 – 646):72 68
Alessandro Barchiesi, Ovidio. Metamorfosi. Vol. I (Libri I – II). A cura di A. Barchiesi con un saggio introduttivo di C. Segal, o.O. 2005, S. 168. Zu Vergil: Mary Frances Williams, The Sidus Iulium, the divinity of men, and the Golden Age in Virgil’s Aeneid, in: LICS II (2003). Zur zyklischen Geschichtsauffassung des Livius oben Kapitel 2, S. 80 Anm. 20 und passim. 69 Anders als Tibull, der über die Listen seiner Delia klagt, behauptet Properz – freilich mit bitterem Unterton –, diese seien alle an ihn verschwendet, weil er die Schliche seiner Freundin schon kenne; auch kündigt Properz entschlossener als Tibull bei Delia den Ehrverlust der durchtriebenen Cynthia an. Dazu programmatisch Prop. 2, 5; vgl. Friedrich Solmsen, Properz und seine literarischen Beziehungen zu Tibull und Vergil, in: Eisenhut (1975), S. 224 – 246, 224ff. 70 Prop. 4, 7; dazu Komp (1988) S. 48 und passim. 71 2, 32, 19f.: nil agis, insidias in me componis inanis/ tendis iners docto retia nota mihi. 72 Wilkinson (1955) S. 190 – 193, 192: „Nor are the gods of the Metamorphoses the factitious guardians of morality, whose usefulness he proclaimed in the Ars Amatoria.“ Anders als Fränkel (1970) S. 98f. sieht Wilkinson bei Ovid nicht den Hauch eines Glaubens an die Götter. Ich bin nicht sicher, ob der Unterschied zu Fränkels Position wirklich sehr groß ist.
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Iuppiter ex alto periuria ridet amantum et iubet Aeolios inrita ferre Notos. per Styga Iunoni falsum iurare solebat Iuppiter: exemplo nunc fauet ipse suo. expedit esse deos, et, ut expedit, esse putemus: dentur in antiquos tura merumque focos; nec secura quies illos similisque sopori detinet: innocue uiuite, numen adest. reddite depositum; pietas sua foedera seruet: fraus absit; uacuas caedis habete manus. ludite, si sapitis, solas impune puellas: † hac magis est una fraude pudenda fides. † fallite fallentes: ex magna parte profanum sunt genus: in laqueos, quos posuere, cadant. Ovid lässt in der Ars zwar offen, ob er wirklich an Götter glaubt, die über das menschliche Tun wachen – die Position erinnert insgesamt an die Ciceros in de divinatione73 – aber er konstruiert hier doch eine Position, in der perfidia in der Liebe lizensiert ist, während es notwendig sei (und daher nützlich, wenn man dies religiös begründen kann), dass fides in allen anderen menschlichen Belangen herrsche. Die Sichtweise der Metamorphosen scheint eine andere zu sein, wenn man sich das rücksichtslose Verhalten der Götter gerade im ersten Buch, also direkt im Anschluss an den Neubeginn der deukalischen Flut, vor Augen führt. Doch könnte dies hier nicht eine Frage der Sichtweise, sondern des Sichtwinkels sein. In der Tat hat Jupiter sich nicht als indifferent erwiesen, als er wegen des Frevels des Lycaon die Menschen vom Erdboden vertilgte. Insofern aber in den Metamorphosen Liebesgeschichten überwiegen, sind auch die Götter egozentrisch und moralisch indifferent. Dieses Nicht-Moralische des göttlichen Handelns ist unberechenbar und ubiquitär, es verunmöglicht praktisch eine Moralisierung der sonstigen menschlichen Beziehungen, wie sie die Ars amatoria noch entwirft. Selten treten die Götter als gerechte Richter auf wie in der Lycaongeschichte oder der Erzählung von Philemon und Baucis, viel häufiger sind sie unberechenbare Liebhaber. Der Mensch kann nicht wissen, ob er zum Werkzeug der Leidenschaften eines Gottes wird. Wie kann er sich auf etwas verlassen? Dennoch ist es vielleicht wichtig, sich klar zu machen, dass Ovid hier nicht einfach das Register vom praeceptor 73
Adrian S. Hollis, Ovid. Ars amatoria. Edited with Introduction and Commentary, Oxford 1977, S. 132 – 133, bes. ad 638 mit Hinweis auf div. 2, 148. Nicht weiterführend sind die Auslassungen Walter Pötschers, Zu Ovids Weltanschauung, in: Defosse (2002), S. 424 – 432. Interessant aber sein Hinweis auf Hor. c. 2, 8, 9ff. (S. 432), der die Meineidigkeit einer Hetäre keiner Kritik unterzieht, sondern zugibt, dass sie nur umso erfolgreicher ist, je skrupelloser sie auftritt.
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amoris zum epischen Dichter wechselt,74 sondern dass es gerade die elegische Sichtweise der Metamorphosen ist, die den gerechten Gott der Kosmologie75 nicht zur Entfaltung kommen lässt. Wenn der elegisch Liebende sein Ziel erreichen will, sieht er sich nach Strategemen um. Gleichzeitig wird der elegisch Liebende daran erkannt, dass er entweder mit seinen Strategemen Schiffbruch erleidet (Tibull) oder sich in einem gerechten Spiel von List und Gegenlist bewegt. Ein Monopol der List, die es dem Liebenden erlaubt, die Liebe zu beherrschen, kann es nicht geben, sonst wäre die Liebe nicht mehr elegisch. Das heißt auf die Metamorphosen gewendet: Die Götter können die List nicht monopolisieren. Detienne und Vernant haben einen nicht unbedeutenden Akzent auf den Umstand gelegt, dass z.B. nach der Theogonie des Hesiod (886 – 900)76 Zeus seine erste Gattin Metis verschluckt und auf diese Weise die listige Intelligenz monopolisiert. Er gibt sie noch an die bereits gezeugte gemeinsame Tochter Athene weiter, verhindert aber, dass ein listiger Sohn geboren wird, der ihn so entmachtet, wie er selbst bereits Kronos entthront hatte. Bei Hesiod (theog. 486) ist Kronos der erste Monarch, seine Macht installiert er durch eine List der Gaia: Damit wird die Welt zum ersten Male organisiert und differenziert. Aber die List selbst ist ein schlimmer Anschlag, der Vergeltung nach sich zieht. Kronos erleidet dasselbe von seinem Sohn.77 Ovid hat die Reihe von listigem Schlag und Gegenschlag nicht unterbrochen, sondern nimmt sie gleich nach der Neuschaffung der Welt wieder auf. In den Metamorphosen ist Jupiter dagegen von Anfang an unbestrittener Herrscher über den Kosmos. Dass er Saturn entmachten musste – konnte! –, wird in einem einzigen Vers mitgeteilt (1, 113: Postquam Saturno tenebrosa in Tartara misso); ebenso wird die Herausforderung durch die Giganten durch einen allmächtigen Göttervater umstandslos bestanden (1, 154f.: tum pater omnipotens misso perfregit Olympum/ fulmine et excussit subiectae Pelion Ossae).78 74
Wilkinson (1955) S. 192: „It would have put everything out of gear if he had not accepted the mythological gods along with the legends.“ 75 Wilkinson (1955) S. 193: „The Creator with whom the poet opens belongs to a different category. He is the Zeus of the philosophers, and has nothing to do with the mythological line which culminated in Jupiter.“ 76 West (1966) S. 401 – 403; Lutz Käppel, Metis, in DNP 8 (2000), Sp. 102f. Hans von Geisau, Metis, in: Der Kleine Pauly 3 (1979), Sp. 1275f., vgl. 1276 (problematisch der Begriff Weisheit): „Der Hauptgott sollte die Weisheit immer in sich haben.“ Detienne/ Vernant (1974) S. 74f., 104ff. und passim. 77 Detienne/ Vernant (1974) S. 70ff., S. 99f. 78 Es ist auffällig, dass Ovid den Jupiter auch narrativ ganz von seinen Feinden entrückt. Es kommt recht eigentlich gar nicht zu einem Zweikampf, in 1, 152 wird nur gesagt, dass die Giganten die himmlische Herrschaft erstrebt haben sollen (adfectasse ferunt regnum caeleste Gigantas/altaque congestos struxisse ad sidera montes). Als Tatsache erscheint dagegen der Blitzschlag Jupiters. Dann wird wieder auf die blutenden und verschütteten Körper umgeblendet (156ff.). Dieses Blut ist für ein brutales Menschengeschlecht verantwortlich,
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Der ovidische Jupiter herrscht aber durch Kraft und Gewalt; sein Ziel ist zwar die moralische Reinigung der Erde, aber er verschlingt, d.h. monopolisiert die List nicht. Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass dieser Jupiter mit Augustus verglichen werden kann. Augustus’ Herrschaft erscheint als unangreifbar, als gewaltförmig, aber nicht als listig. Dagegen erscheint die Macht des Amor schon phänomenologisch als listig: Es ist der kleine, körperlich schwache Gott, der den größeren (zunächst Apollo, aber eigentlich alle Götter) beherrscht. Dolus, insidiae und sollertia stehen Jupiter zwar zur Verfügung, aber sie sind keine Ressource, über die er allein gebieten kann. Die Apollon-und-Daphne-Geschichte, eine der bekanntesten aus der ovidischen Epik, vermittelt zwischen der Kosmologie und der elegischen Metamorphose: „La posizione strutturale di questo racconto serve a mettere in evidenza una serie di temi e di techniche che sono di grande importanza per tutta l’arte di Ovidio.“79 Schon in der Ars hatte Ovid die „physische Liebe (…) als Stifterin menschlicher Gemeinschaft und Kultur“ gefeiert;80 somit markiert der Übergang von der noch chaotischen Schöpfung zur Liebe auch den Beginn der Kultur.81 Apollon tötet den Python, eine unabsichtlich82 bei der Urzeugung entstandene monströse Schlange. Der Gott ist stolz über diesen Sieg seiner Waffen und verspottet deshalb die Bogenkunst Amors. Der Sohn der Venus revanchiert sich für diese Schmähung, indem er Apollo mit dem scharfen Pfeil der Liebe verletzt, das Objekt seiner Liebe, die Nymphe Daphne, aber mit dem stumpfen Pfeil des Desinteresses beschießt. Apollo muss erkennen, dass ihn seine Orakel nicht über den Ausgang seiner Hoffnungen Auskunft geben können (1, 491: illum oracula fallunt) und dass ihn auch seine Heilkunst nicht von seinem Liebeskummer heilen kann (1, 524: nec prosunt domino quae prosunt omnibus artes). Dass diese Metamorphose den Gott vermenschlicht und in ein elegisches Lebensgefühl zwingt, kann wohl als Allgemeingut betrachtet und muss hier daher nicht weiter verfolgt werden.83 Wichtig für die Frage nach dem das aus ihm entsteht. Der ganze Akzent liegt auf dem Schöpfungsaspekt, Jupiter ist dagegen so souverän, dass ein wirklicher Kampf gar nicht stattfindet. 79 Barchiesi (2005) S. 203. 80 Markus Janka, Ovid. Ars Amatoria. Buch 2. Kommentar, Heidelberg 1997, S. 354. 81 Wir folgen damit aber ausdrücklich nicht der alten Ansicht, wonach Ovid in seinen Metamorphosen den Weg vom Chaos zum Kosmos beschreite (vgl. Walther Ludwig, Struktur und Einheit der Metamorphosen Ovids, Berlin 1965, S. 19; Ernst Zinn, Worte zum Gedächtnis Ovids, gesprochen bei der Zweitausendjahrfeier 1958, in: Michael von Albrecht/ Ernst Zinn [Hgg.], Ovid, Darmstadt 1967, S. 3 – 39, 24). Es geht hier nicht um die Vollendung einer kosmischen Ordnung, sondern um eine Kulturentstehung. Ovid hält jede Kultur für instabil, weil die natürliche Ordnung instabil ist. Es ist aber falsch zu glauben, ausgerechnet Ovid werte deshalb Kultur ab. 82 met. 1, 438f.: illa quidem nollet, sed te quoque, maxime Python,/ tum genuit. Die Urzeugung geht allgemein planlos vor sich. 83 Alessandro Barchiesi, The Poet and the Prince. Ovid and Augustan Discourse, Berkeley 1997, S. 18; Barchiesi (2005) S. 206; W. S. M. Nicoll, Cupid, Apollo and Daphne (Ovid, Met.
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Stellenwert der List in diesem Epos ist aber, sich zu vergegenwärtigen, dass Ovid hier einen Dualismus von uis und amor aufmacht, der dem von uis und dolus verwandt ist. Apollons Hoffärtigkeit entsteht hier ja zunächst nicht aufgrund seiner artes, sondern ist einem Erfolg seiner Waffen geschuldet (1, 456): ,quid‘ que ,tibi lascive puer, cum fortibus armis?‘ Durch die Reduktion des Gottes auf Menschenmaß angesichts der Macht der Liebe wird aus dem Anspruch Apolls eine pompöse Prahlerei, die ihn in die Nähe eines miles gloriosus bringt. Amor antwortet mit einen Arrangement, das einer Intrige entspricht und die Gewalt des an sich stärkeren84 Gottes unterläuft. Die Liebe führt dann schließlich auch die übrigen artes Apollos ad absurdum.85 6.5 List und Ordnung Die desaströsen Amouren des Apoll und des Jupiter am Eingang der Metamorphosen stellen eine Form der Erniedrigung dieser Götter der Ordnung dar. Das ist gewiss kein folgenloses Geschehen, sondern wirft die Frage auf, wie sich der Mensch eigentlich in einem solchen Kosmos orientieren soll. Charles Altieri kontextualisiert die Demütigung der großen Götter bei Ovid mit dem Streit zwischen Ajax und Odysseus um die Waffen des Achill (met. 13, 1 – 398). Odysseus ist der Meister der Fiktion und er besiegt Ajax, der sich auf seine Taten und seine Kraft verlässt, deshalb, weil er dem ovidischen Kosmos besser angepasst ist. Durch die Instabilität der Phänomene kann der Mensch keine endgültigen Deutungen über seine Umwelt gewinnen, er kann nur momentan brauchbare Bedeutungen erzeugen.
1, 452ff.), in: CQ 30 (1980), S. 174 – 182; Simpson (2001) S. 280; Otto Steen Due, Changing Forms. Studies in the Metamorphoses of Ovid, Kopenhagen 1974, S. 112; Niklas Holzberg, Apollo’s erste Liebe und die Folgen. Ovids Daphne-Erzählung als Programm für Werk und Wirkung, in: Gymnasium 106 (1999), S. 317 – 334, 323f.; Karen Sara Myers, Ultimus Ardor. Pomona and Vertumnus in Ovid’s Metamorphoses 14. 623 – 771, in: CJ 89 (1994), S. 225 – 250; Peter E. Knox, Ovid’s Metamorphoses and the Traditions of Augustan Poetry, Cambridge 1986, S. 14 – 18; Andrae (2003) S. 42 – 50; Yasmin Syed, Hymnic Genre in the Metamorphoses, in: Barchiesi/ Rüpke/ Stephens (2004), S. 99 – 113, 100; Philip Hardie, Ovid’s Poetics of Illusion, Cambridge 2002, S. 263; Michael von Albrecht, Ovid. Eine Einführung, Stuttgart 2003, S. 133f. Hermann Tränkle, Elegisches in Ovids Metamorphosen, in: Hermes 91 (1963), S. 459 – 476 (über den eleg. Gehalt bei Byblis und Alcyone). 84 Das Gespann Hermes – Apollo wird durch die Anlage ja zitiert, vgl. Syed (2004) S. 103f. 85 Simpson (2001) S. 280.
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„Story becomes the only adequate response to the human condition, and what the story provides is not truth but an entrance into the phenomena which constitute our immediate reality.“86 Anders ausgedrückt: Der ovidische Mensch (Altieris Ovidian man) ist ein Mensch, der Gelegenheiten erspäht und nützliche Fiktionen erschafft. Wenn wir dies mit der Charakterisierung des listigen Menschen bei Certeau oder Detienne und Vernant vergleichen: Der ovidische Mensch muss listig sein, wenn er bestehen will. Das Konzept von dolus in den Metamorphosen ist abhängig von der Erotisierung des Kosmos. Jupiter als gerechter Weltherrscher und Apollo als Gewährsmann kultureller Fähigkeiten (artes) werden willkürlich, sobald sie unter den Bann Amors kommen. Die Entmoralisierung der elegischen Welt droht auf diese Weise kosmisch zu werden. Das wirft die etwas weitergehende Frage nach dem Stellenwert von Ordnung in den Metamorphosen auf. Es genügt m. E. nicht, die These von der Entwicklung vom Chaos zum Kosmos, die man einige Zeit in den Metamorphosen erkennen wollte, einfach umzudrehen, auch wenn es richtig ist festzuhalten, dass die Ordnung am Eingang des Epos durch uis hergestellt und vom listigen Amor erfolgreich herausgefordert wird und damit nicht von Dauer ist (vgl. unten auch die Gestalt des Hercules). Es stellt sich die Frage, wie Ovid im Kosmos der Metamorphosen jene moralischen Grenzen ziehen will, die er in der Ars noch setzen konnte, indem er die Liebe als ein Feld liminaler Lizenzen beschrieben hat, die nicht die gesamte fides ergreifen dürfen. List kann ebenso wenig ubiquitär werden wie die Lüge, denn die Lüge braucht die Wahrheit als Grundannahme der Kommunikation; die List braucht Ordnungen, die sie unterlaufen kann.87 Dabei spielt die Bedeutung der menschlichen Stimme eine besondere Rolle. „The failure of speech constitutes the most touching and depressing aspect of many metamorphoses. It exemplifies the fact that the person transformed can no longer create either his own identity or his present reality but becomes captured in the materiality of natural force.“88
86
Charles Altieri, Ovid and the New Mythologists, in: William S. Anderson (Hg.), Ovid. The Classical Heritage, New York 1995, S. 253 – 265, 260 (ursprgl. in: Novel 7 [1973/1974], S. 31 – 40). Zur Erniedrigung Apollos und Jupiters vgl. S. 261. 87 Die List ensteht überhaupt nur da, wo Rollenkonflikte zwischen individuellem Sein und normativer Ordnung auftreten. Gabriele Stein, Mutter – Tochter – Geliebte. Weibliche Rollenkonflikte bei Ovid, München – Leipzig (Diss.) 2004, S. 185: „[F]ür die ovidischen Heroinen ist die epische Gesellschaftsordnung kein System, das in der Auseinandersetzung verändert werden kann, sondern ein nahezu feindliches Gegenüber, das es zu überlisten gilt. (…) Das Resultat ist eine Aushöhlung und Relativierung des normativen Systems, durch die bisweilen beängstigende Freiräume entstehen.“ 88 Altieri (1995) S. 259. Vgl. auch Fantham (2004) S. 18.
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Die Stimme ist es, die es dem Menschen zu allererst ermöglicht, in den dauernden Wandel der Umwelt eine, wenn auch immer prekäre, Ordnung zu implantieren. Die Metamorphose der Götter ist kreativ und listig,89 die Metamorphose des Menschen setzt seinem Gestaltungsspielraum ein Ende. Konfrontiert mit der Natur verfügt er nicht über Ressourcen, sondern handelt in der Zeit. Der menschliche Gestaltungsspielraum liegt nicht in der Kraft, die Natur zu verändern, sondern in der Deutung einer vielgestaltigen Natur. Die Stimme, die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und Deutungen zu produzieren, macht einen Odysseus zwar zum Sieger über Ajax, aber sie macht den Menschen nicht zu einem allmächtigen Wesen. Es wäre vor dem Hintergrund der Diskursanalysen der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts vielleicht attraktiv, die Welt der Metamorphosen als ein semantisches Tableau von Metaphern zu beschreiben, als einen Text, den der Mensch durch seine Sprache bändigt und beherrscht. Die Metamorphosen beschreiben aber eine unabhängig vom Menschen bestehende Natur in ständigem Wandel, eine Natur, deren Wirkmächte übermenschlich sind. Der ovidische Mensch ist kein Existentialist, der seinen Sinn allein produziert, und auch kein Konstruktivist, der seine Umwelt autonom beschreibt. Dazu ist er allzu oft ein bedrängter Verlierer, er ersinnt Listen und ist ihnen ausgesetzt. Die Natur ändert ihre Gestalt und die Götter ihre Gunst. Zwar hat nur der Mensch ein Interesse daran, dieser Natur Ordnung abzuringen und Sinn zu geben; aber weil er Teil der Natur ist und weil er immer wieder die Götter und die Natur bemüht, um Sinn zu finden, ist er nicht autonom in seinem Bemühen, Ordnung herzustellen. Die Sprache macht den Menschen zum Mitspieler, er bleibt nicht Objekt, aber wird auch nicht König. Die Sprache ist ein allzu schwacher Schild gegen den Sturm der Gefahren, denen er von den Göttern und den Menschen ausgesetzt ist. Denn nicht nur die Götter rauben den Menschen die Sprache, sondern auch Menschen tun es. Das ist das Thema der Geschichte von Procne und Philomela. 6.6 Natürlicher Wandel – menschliche Ordnung Bisher wurde gezeigt, dass eine Welt im Wandel einen anpassungsfähigen Menschen verlangt, der immer wieder bereit ist, Bedeutungen neu zu erzeugen und sich seinen Sinn ad hoc neu zu suchen. Aber bedeutet der Umstand, dass die Natur keine stabile Ordnung vermittelt, tatsächlich auch, dass es 89
Schmidt (1991) S. 14 beobachtet richtig, dass Götterverwandlungen meistens den Charakter der Täuschung haben, während die der Menschen ewig und ehrlich seien (vgl. auch Anderson [1963] S. 7). Ob die Verwandlungen der Menschen wirklich ewig sind, wurde oben bereits in Frage gestellt, richtig aber ist, dass die Götter als Vertreter der auf den Menschen wirkenden Kräfte trügerisch auftreten, während der Mensch seiner Metamorphose in der Regel ausgeliefert ist.
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keine Ordnung gibt? In diesem Falle könnte der Mensch Handeln nicht moralisch beurteilen. In der Geschichte von Tereus und Procne aber wird immer wieder der Verlust von fides und pietas beklagt. Möchte Ovid an diesem Extremfall zeigen, dass es in dem von ihm erzeugten narrativen Kosmos keine Werte gibt? In der Tat hat ja Ovids Weltbild bei aller galanten Heiterkeit eine resignative Note, wenn es darum gehen sollte, den Menschen als einen in der Natur aufbewahrten darzustellen. Der Mensch ist in den Metamorphosen immer wieder ein schuldlos Herumgetriebener; was ihm zustößt, geht nicht a priori auf ein System von Untat und Vergeltung zurück (Daphne, Io, Callisto und Dryope etwa leiden unschuldig). Aber geht damit die Kategorie „Untat“ ganz verloren? Wenn Wahrheit nicht metaphysisch begründet werden kann, dann muss sie kommunikativ begründet werden. Tatsächlich herrscht heute, nach dem Zusammenbruch einer ordnungstiftenden Metaphysik, allgemein die Ansicht vor, dass Wahrheit kommunikativ entsteht, ja dass Natur selbst nicht Grundlage sondern Produkt sozialer Ordnungen ist. Anders ausgedrückt: Man kann aus der Natur nur ableiten (naturalisieren), was man selbst vorher hineingegeben hat.90 Wenn die Begriffe pietas und fides für die Tereus-Geschichte solche Bedeutung haben, könnte eine Antwort des Dichters sein, dass Ordnungen immer soziale Ordnungen sind. Es sind menschliche Beziehungen, die Ordnung in das Chaos einer sich wandelnden Welt bringen, und es ist Aufgabe des Menschen, sie aufrechtzuerhalten, indem sie Wahrheiten und keine Lügen produzieren. Sissela Bok hat z.B. darauf hingewiesen, dass menschliche Kommunikation zwar einen enormen Abrieb produziert, weil durch Irrtum, Lüge und Unvollständigkeit mehr falsche als wahre Aussagen ausgetauscht werden, dass aber gerade deshalb das Ehrlichkeitsgebot, d.h. die Grundannahme, dass mein Gegenüber mir die Wahrheit sagen möchte, unverbrüchliche Grundlage der Kommunikation ist: „A society, then, whose members were unable to distinguish truthful messages from deceptice ones, would collapse.“91 Odysseus könnte also niemanden täuschen, wenn sein Gegenüber nicht mit wahren Aussagen und wahrhaftigem Verhalten rechnete. Das ist ziemlich genau das, was der Römer als fides bezeichnet. Wenn aber nun doch wieder alles auf fides und pietas zusteuert, wie unterscheidet sich dann Ovids Konzept von Wahrheit, Ordnung und List von dem der anderen Augusteer? Was für eine Rolle spielt es dann, den Fatumsdeterminismus durch einen chaotischen Transformismus zu ersetzen, wenn der epische Erzähler letzteren genauso für ein geordnetes Weltbild kassiert wie Jupiter die Schiffsme90
Vgl. dazu Monika Fludernik, Towards A ‚Natural‘ Narratology, London 1996, S. 4, 11 – 17; Frank Wittchow, Exemplarisches Erzählen bei Ammianus Marcellinus, München – Leipzig (Diss.) 2001, S. 81. 91 Bok (1999) S. 19.
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tamorphose für seinen Determinismus? Warum ist Odysseus in der Welt der Metamorphosen eine eher positive Figur und Tereus ein Verbrecher?92 Oder, vorsichtiger ausgedrückt, weil diese Ausgangsfrage allzu leicht als petitio principii erscheinen könnte: Warum erzeugen die Listen des Odysseus Erfolge, die des Tereus Katastrophen? Im Folgenden wird das Verhältnis von List, Wahrheit und Gewalt untersucht. Dabei wird auch ein – vielleicht unerwarteter – Vergleich von Tereus und Odysseus als zwei ovidischen Prototypen listigen Verhaltens angestellt. 6.7 Natur und Perversion (Vorüberlegung) Bevor wir uns endgültig der Gestalt des Tereus zuwenden, sollte noch ein zentraler Aspekt dieser Geschichte geklärt werden: Ovid macht, wie sich zeigen wird, als Auslöser der Katastrophe eine eingeborene Lust des Thrakers verantwortlich, die er zugleich als uitium bezeichnet. Damit ist Tereus, ähnlich wie Myrrha und Byblis, als ein Perverser gezeichnet worden, wobei Ovid den natürlichen Fehler bei Tereus am deutlichsten markiert.93 Das wirft die Frage auf, wie Ovid eigentlich eine Perversion konzipiert, wenn doch die Natur vielgestaltig ist und keine Ordnung kennt, aus der man eine natürliche Abweichung konstruieren könnte. Diese Frage ist für die List von einiger Bedeutung. Wie oben gezeigt wurde, ist die Metamorphose selbst eine Form der List der Natur (dies macht etwa die Gestalt des Proteus sinnfällig, der sich in immer neuen Gestalten dem Zugriff des Menelaos entziehen will). Wenn Ovid negativ konnotierte Veränderungen der Natur kennt, könnte dies auch Grundlage für eine negativ konnotierte 92
Dass Ovid von seiner Einstellung zur List mit Tereus auch sympathisieren könnte, artikuliert Charles Segal, Philomela’s Web and the Pleasures of the Text: Reader and Violence in the Metamorphoses of Ovid, in: Irene J. F. de Jong/ J. P. Sullivan, Modern Critical Theory and Classical Literature, Leiden – New York – Köln 1994, S. 257 – 280, 263 in seiner Studie zur Gewalt in dieser Episode: „The craft, artistry, careful plotting, eloquence, pretence, masks, and multiple identities of Tereus coincide temporarily with those of his creator, the poet Ovid, with his plotting, his shifting perspectives, his ability to take on and imitate different roles and different voices. Lust makes the Thracian warror eloquent (facundum faciebat amor, 469), so that he becomes craftily persuasive and seductive through both his words and his tears (470 – 74). Yet however Ovid may identify with Tereus’ skill in winning over and manipulating his hearers, he has little sympathy with the character as a whole.“ 93 Bei Myrrha, die Inzest mit ihrem Vater hatte, spricht Ovid davon, dass die Natur dies zugelassen habe (10, 304: si tamen admissum sinit hoc natura uideri), und verortet es im arabischen Raum; das entspricht noch am ehesten dem uitium der Thraker im Allgemeinen und des Tereus im Besonderen. Aber er macht auch die „stygischen Schwestern“ dafür verantwortlich (10, 314), also nicht allein die Natur; bei Byblis spricht Ovid nur davon, dass diese ihren Bruder nicht so liebte, wie sie musste (9, 456: non soror ut fratrem, nec qua debebat, amabat), woher dieses ‚müssen‘ kommt, sagt er nicht.
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List sein. Und tatsächlich gibt es eine strukturelle Analogie zwischen der Perversion in der Natur und einer perversen List. Die perverse Natur und die (bei Tereus zum Teil daraus resultierende) perverse List verunmöglichen dem Opfer a priori, das abweichende Verhalten in einen Kommunikationsrahmen einzupassen. Ovid hat in der Geschichte von der Pest in Ägina eine kranke Natur (und nicht eine natürliche Krankheit) thematisiert. Die Geschichte erfährt der Leser aus dem Munde des Hauptbetroffenen: Der König Aeacus erzählt seinem Gast Cephalus, wie es dazu kommt, dass sich so viele junge Männer in der Stadt aufhalten, die sein Gast bei seinem letzten Besuch noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, während viele alte Bekannte verschwunden sind (7, 512 – 517). Juno habe aus ungerechtem Zorn auf die Nymphe Aegina, eine Geliebte des Zeus, die nach ihr benannte Insel mit einer Seuche heimgesucht (523f.). Zunächst habe man die Krankheit für ein Übel von menschlichen Ausmaßen (mortale malum) gehalten und es mit der Arztkunst (arte medendi) behandelt, weil der eigentliche Grund verborgen war (525f.). Die Krankheit habe dann aber alles Leben auf Ägina vernichtet (527 – 613), bis Aeacus sich in einem letzten verzweifelten Appell an Jupiter gewandt (614 – 618), dieser die Pest beendet94 und die Zahl der Bürger durch eine Metamorphose erneuert habe: Aus einer Ameisenkolonie sei das neue Geschlecht der Myrmidonen entstanden (619 – 657). Ovid legt von Anfang an den Schwerpunkt auf die Ungerechtigkeit und Unerkennbarkeit des Ereignisses. Es handelt sich auch nicht um eine „natürliche“ Krankheit, für die menschliche Kunst ein adäquates Mittel bereit hielte. Die Pest hat keinen Sinn; der Zorn der Juno ist unberechtigt und vor allem: Er bleibt bis zuletzt unerkannt. Die Phrase (525f.) dum uisum mortale malum tantaeque latebat/causa nocens cladis legt zwar nahe, dass man später auf die Ursache gekommen ist, tatsächlich aber kommt es zu dieser Erkenntnis nie, weil die Krankheit selbst das verhindert.95 Die gesamte religiöse Kommunikation kommt umfassend und nachhaltig zum Erliegen (7, 587 – 601): templa uides contra gradibus sublimia longis (Iuppiter illa tenet): quis non altaribus illis inrita tura dedit? quotiens pro coniuge coniunx pro gnato genitor, dum uerba precantia dicit, non exoratis animam finiuit in aris inque manu turis pars inconsumpta reperta est! admoti quotiens templis, dum uota sacerdos concipit et fundit purum inter cornua uinum, 94
Das wird nicht eigens gesagt, ergibt sich aber aus der Logik der Erzählung. Somit ist der dum-Satz zeugmatisch und bezieht sich semantisch nur darauf, dass man das malum irgendwann nicht mehr für mortale gehalten hat.
95
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haud exspectato ceciderunt uulnere tauri! ipse ego sacra Ioui pro me patriaque tribusque cum facerem natis, mugitus uictima diros edidit et subito conlapsa sine ictibus ullis exiguo tinxit subiectos sanguine cultros. exta quoque aegra notas ueri monitusque deorum perdiderant: tristes penetrant ad uiscera morbi. Die Pest zielt auf völlige Vernichtung der Menschen auf Ägina. Sie nimmt ihnen alles, was zur Differenzierung menschlicher Kultur notwenig ist. Das Fieber setzt den Menschen so zu, dass sie weder Kleidung (558: non stratum, non ulla pati uelamina possunt) noch Wohnung (574: corpora deuoluunt in humum fugiuntque penates) ertragen. Dieser kulturlose Zustand trägt Züge eines verkehrten saturnischen Zeitalters: Die Nutztiere fallen auf dem Felde tot nieder und werden von den Hunden, Wölfen und Vögeln nicht angetastet.96 In den positiven Utopien wird immer auf das friedliche Zusammenleben von Wolf und Lamm verwiesen, hier erscheint das gleiche Motiv in perverser Verkehrung: Verzichtet im saturnischen Zeitalter der Jäger auf die Beute, so verweigert in der Pest der Aasfresser das Aas. Aeacus kann diesen Zustand nur durch ein letztes, verzweifeltes Gebet beenden (615ff. Wortlaut s.u.), in dem er Jupiter vor die radikale Alternative stellt, Ägina entweder zu retten oder den König auch hinwegzuraffen. Bis Jupiter die Myrmidonen erschafft, bleibt aber die Kommunikation gestört: Obwohl der König im Traum die Metamorphose der Ameisen in Menschen sieht, verflucht er dieses Traumbild und wird erst wieder durch das Handgreifliche, d.h. den Umstand, dass sein Palast wieder bevölkert ist, vom Eingreifen des Gottes überzeugt.97 Die Tereus-Geschichte wird in einer ähnlichen Zersetzung der Kommunikation enden.98 Die Darstellung der Pest ist lehrreich für Ovids Naturverständnis. Krankheit lässt sich nur dort feststellen, wo es einen Begriff von Gesundheit gibt. Die Krankheit selbst aber lässt sich als Ausnahme in ein geordnetes Naturverständnis überführen. Die Menschen auf Ägina halten die Pest zunächst auch für ein mortale malum, doch müssen sie rasch erkennen, dass ihre Kunst nichts ausrichten kann (7, 562). Die Pest übersteigt den Begriff der regulären Krankheit, weil sie nicht nur jede ars, sondern auch jede Kommunikation, einschließlich der religiösen, jeden Versuch, das Übel einzuordnen, aus96
Vgl. Holzberg (2006) S. 121 zu georg. 3, 480ff. met. 7, 643 – 651: Somnus abit. damno uigilans mea uisa querorque/ in superis opis esse nihil; at in aedibus ingens/ murmur erat, uocesque hominum exaudire uidebar/ iam mihi desuetas. dum suspicor has quoque somni/ esse uenit Telamon properus foribusque reclusis/ ,speque fideque, pater, maiora uidebis./ egredere!‘ egredior, qualesque in imagine somni/ uisus eram uidisse uiros, ex ordine tales/ adspicio noscoque: adeunt regemque salutant. 98 Es ist auch hier ein Verweis auf das Handgreifliche, das die Kommunikation ersetzt: Philomela wirft dem ungläubigen Tereus den Kopf des Itys ins Gesicht (s.u.).
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schließt. Die Ursache des Unglücks kommt in der gesamten Darstellung gar nicht mehr vor; es geht zu keinem Zeitpunkt darum, den Zorn der Juno zu besänftigen. Die exta sind nicht lesbar, die religiösen Zeremonien nicht durchführbar. Wenn es Aeacus nicht gelungen wäre, Jupiter zum Einlenken zu bewegen – mit einem besonders eindringlichen Sprechakt (s.u.) – , dann hätten die Menschen nichts tun können, um das Chaos der mörderischen Ereignisse zu ordnen. Die Krankheit ist der Gegenbegriff zur Gesundheit und damit Teil einer dualistischen Ordnung. Die Pest aber droht die Ordnung zu zersetzen – sinnbildlich gemacht im Verlust der Kultur. Perversionen lassen sich nicht in soziale Ordnungen integrieren, sie erscheinen als fremd, d.h. von außen kommend. Insofern werden sie als „natürliche“ Perversion konzipiert; nicht, weil der Natur eine Ordnung unterstellt wird, sondern, weil die Natur Phänomene entwickelt, die sich nicht mehr „naturalisieren“, d.h. in ein menschliches Bild der Natur integrieren lassen. Das Perverse schlägt sich als Unsagbarkeit nieder. Anders ausgedrückt: Ovid leitet aus der Natur in der Tat keine Ordnung ab, sondern er ordnet die Natur durch Kommunikation. Wenn aber die Natur eine Kommunikation ausschließt, wenn sie dem Menschen keine Ordnung ermöglicht, dann vernichtet sie den Menschen. Nur in diesem Sinne ist eine solche Natur „pervers“, nicht in einem metaphysischontologischen Sinne, sondern in einem anthropozentristisch-pragmatischen. Das ist in den Geschichten über sexuelle Devianzen nicht anders: Myrrhas Amme bittet das Mädchen immer wieder, ihr den Grund für ihr Unglück zu verraten (10, 388 – 418), damit sie ihr helfen könne. Als Myrrha schließlich ihr Begehren nach dem eigenen Vater kundtut, ist die Amme völlig vor den Kopf gestoßen, weil sie dieses Verhalten gar nicht in Erwägung ziehen konnte. Sie kann es weder, wie sie es in Unkenntnis der Lage noch versucht hatte, als Wahnsinn (397: furor) noch als Behexung (398: siue aliquis nocuit) noch als Gotteszorn (399: ira deum) beschreiben – wogegen sie Hilfsmittel gekannt hätte –, damit aber ist ihre Vorstellungskraft erschöpft (400: quid rear ulterius?). Der Inzest erscheint für sie nicht als mortale malum. Es ist nicht Teil einer als natürlich konstruierten Ordnung. Sie kann ihn nicht aussprechen (429f.: et non ausa parente/ dicere conticuit). Das Perverse ist unaussprechlich. Diese Unaussprechlichkeit wird von den „Perversen“ in den Metamorphosen ausgenutzt. Die List unterläuft kommunikative Ordnungen, setzt sie aber voraus. Eine schlechte List profitiert von zersetzten Ordnungen und zersetzt selbst Kommunikation. Dies exemplifiziert Ovid in der Tereus-und-Procne-Geschichte.
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6.8 Tereus und Procne: Intrigen gegen die Stimme Die Erzählung von Tereus und Procne zerfällt in fünf Teile: die Hochzeit des Thrakers Tereus mit Procne, der Tochter des Athenerkönigs Pandion (424 – 446), die Bemächtigung der Philomela (447 – 562), die Aufdeckung der Untat (571 – 600), den Racheplan (601 – 646) und die Rache-Katastrophe (647 – 674). Die Einteilung, die ich hier vornehme, richtet sich nach den Figurenkonstellationen:99 Im ersten Teil agieren Tereus und Procne, im zweiten Teil (abgesehen von der Täuschung Procnes am Schluss des Abschnitts) Tereus und Philomela, im dritten Philomela und Procne, im vierten planen die Schwestern ihre Rache, im fünften führen sie den Plan aus. Hier sind erstmals alle drei dramatis personae vereint, sie erfahren auch jede eine Metamorphose – die sie wieder auseinander reißt. Es ist wichtig, sich diese Personenkonstellationen klar zu machen, um einerseits das Spiel der wechselseitigen Intrigen zu verstehen, andererseits um die verschiedenen Prinzipien, die sich in den Agenten verkörpern und dann in den jeweiligen Paaren gegeneinander gestellt sind, zu analysieren. In der Erzählung kommen zahlreiche Täuschungen und Intrigen vor.100 Tereus täuscht hintereinander Philomela, ihren Vater Pandion (nämlich über seine Motive, Philomela aus Attica nach Thrakien zu holen) und seine Frau (über den Verbleib der erwarteten Schwester); Philomela überlistet Tereus, indem sie ihrer Schwester eine geheime Nachricht zukommen lässt; Philomela und Procne täuschen Tereus, indem sie ihm den eigenen Sohn zum Mahl vorsetzen (Motiv der thyesteischen Mahlzeit). Sämtliche Listen münden in Katastrophen.
99
Ich versuche hier nicht, über die Einteilung der Geschichte in Szenen und Akte einen Gattungsbeweis zu führen. Zu solchen Bemühungen kritisch Franz Bömer, P. Ovidius Naso. Metamorphosen. Buch VI – VII, Heidelberg 1976, S. 118; Ignazio Cazzaniga, La saga di Itis nella tradizione letteraria e mitografica greco romana. Bd II. L'episodio di Procne nel libro sesto delle Metamorfosi di Ovidio, Varese – Milano 1951 (vgl. dazu wieder Paolo Monella, Procne e Filomela. Dal Mito al Simbolo Letterario, Bologna 2005, S. 215 – 220); Alfons Ortega, Die Tragödie der Pandionstöchter in Ovids Metamorphosen, in: Walter Wimmel (Hg.), Forschungen zur römischen Literatur. FS Karl Büchner, Wiesbaden 1970, S. 215 – 223. Ich denke aber sehr wohl, dass hier durch die Intrigenstruktur (nicht die Anordnung in fünf Akte, sondern durch das Spiel von Intrige und Gegenintrige, ebenso auch durch das Motiv des tragischen Missverstehens) ein Anklang an die Tragödie geleistet wird, vgl. Brooks Otis, Ovid as an Epic Poet, Cambridge 1966, S. 207. Otis hält dennoch insgesamt die Tereus-und-Procne-Geschichte für ein Epyllion (ebenda S. 377 – 381). Bömer (1976) S. 119 teilt die Geschichte in acht Szenen (die siebte hat vier Unterszenen), beginnt aber bereits mit 6, 412. Die Vorgeschichte spielt in der Tat eine Rolle (s. im Folgenden), aber hier geht es eben um die Personenkonstellationen. 100 „The plot of the story will advance through an involved play of surrogancy and dissimulation that tells of the repeated transgression of boundaries that should structure family and society.“ Hardie (2002a) S. 260.
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6.8.1 Die Hochzeit (Tereus und Procne) Threicius Tereus haec auxiliaribus armis fuderat et clarum uincendo nomen habebat. Tereus wird met. 6, 424f. als waffenstarker Thraker eingeführt. Ovid kennt natürlich den klassischen Dualismus von Kraft vs. Schläue.101 Bei Naevius standen hierfür pugna vs. dolus (Dic quo pacto eum potiti; pugnan an dolis?).102 Beide Begriffe waren neutral gefasst, d.h. dolus war nicht negativ konnotiert, denn Naevius hat ein völlig neutrales Wort (pugna) dagegengestellt. In spätrepublikanischer und besonders augusteischer Zeit wird die List abgewertet, was man an der Aufwertung von pugna oder (häufiger) uis zu uirtus erkennen kann (vgl. Vergil, Aen. 2, 390: dolus an uirtus quis in hoste requirat?).103 Ovid aber hat bezeichnenderweise den in augusteischer Zeit problematischen, weil leicht negativ zu konnotierenden Begriff dolus seinerseits durch ars ersetzt (9, 62: inferior uirtute meas deuertor ad artes), d.h. das Gleichgewicht durch Aufwertung der Schläue wiederhergestellt.104 Tereus erscheint vor diesem Hintergrund zunächst als ein Vertreter des Achilles-Ethos, als ein Mann der uis – ohne dass diese a priori negativ gedeutet werden muss. Fredrick hat in einer Untersuchung zur Gewalt in der Elegie deutlich gemacht, dass zwar das Epos generell der literarischen Inszenierung von Männlichkeit, die Elegie der von Weiblichkeit (mollitia usw.) dient, dass aber diese Zuordnung im Falle der Elegie immer wieder unterlaufen wird.105 Der elegische Wertekosmos ist, wie oben bemerkt, durch die Apollo-DaphneEpisode von Ovid gleich zu Beginn auch für die Metamorphosen program-
101
Abbot (1997) S. 12ff. Wheeler (1988) spricht gern vom Achill- bzw. Odysseus-Ethos, z.B. S. XIV. Achill wird im certamen armorum gewissermaßen von Ajax vertreten. 102 Aus dem Lycurgus: Warmington 44. Frg. 11 bei Enzo V. Marmorale (Hg.), Naevius poeta, Florenz 1950, S. 195. Dazu Wheeler (1988) S. 59f., 97. Ter Beek (1999) S. 246f. Bei Ennius in den Annalen stehen, ebenfalls neutral, consilium und arma nebeneinander: quantis consiliis quantumque potesset in armis (Skutsch 213; Warmington fr. 271, vgl. auch 175 – 176 [Skutsch 197f.], dazu Wheeler S. 55, 71). Dass dolus ursprünglich neutral konnotiert gewesen sein soll, s. Wheeler (1988) S. 93ff. Wheeler neigt aber dazu, dolus zu positiv zu sehen, über eine Stelle wie Liv. 1, 53, 4 geht er rasch hinweg (S. 63). Differenzierter hier Abbot (1997), vgl. met. 15, 120f., wo die Rinder als animal sine fraude dolisque/ innocuum simplex beschrieben werden, dazu: Abbot (1997) S. 13. Zu dolus als vox media ist in Kapitel 1 genug gesagt worden. 103 Abbot (1997) S. 15, 19 und 12 mit Anm. 16. 104 Vgl. auch 13, 205: consilioque manuque. Hier ist consilium sogar eher der positivere Begriff, während manus ganz neutral ist (es handelt sich, wenig überraschend, um die Rede des Odysseus). 105 Fredrick (2002) S. 464: „Again, epic functioned as the literary analogue for the construction of masculinity through political and military action.“
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matisch gemacht worden.106 Damit ist keineswegs gesagt, dass alle Metamorphosen elegisch organisiert sind, es geht vielmehr darum, dass Ovid in seinem Werk epische und elegische Konzepte konfrontiert.107 Dasselbe gilt, wie sich bereits bei der Interpretation der Dido-Aeneas-Geschichte in der Aeneis gezeigt hat, auch für Vergils Epik. Im Bereich der Körpersymbolik weist der elegische Körper der candida puella bezüglich des Genitalbereichs eine Art Leerstelle auf (so unterbricht sich Ovid ausgerechnet in seiner sexuell explizitesten Elegie am. 1, 5, 23: singula quid referam?). Die elegische puella ist sexuell unerreichbar (Daphne!), anders ausgedrückt: In der elegischen Welt kann die puella nicht penetriert werden. Wenn dies doch geschieht, muss der Elegiker auf mock-epic zurückgreifen, d.h. er beschreibt das Liebesspiel mit epischen Metaphern und Vokabeln des Kampfes: Prop. 2, 1, 13f.: seu nuda erepto mecum luctatur amictu/ tum uero longas condimus Iliadas.108 Die Elegiker äußern sich ferner zwiespältig zu der Frage, ob es erlaubt sein darf, das Mädchen zu schlagen. Wir müssen hier gar nicht auf die verschiedenen Abstufungen eingehen.109 Deutlich ist in jedem Falle, dass Gewalt in der Elegie prekär, List aber akzeptiert ist und dass sich dieses Verhältnis im Epos genau umgekehrt darstellt.110 – Diese Bewertung von Gewalt und List ist für die Tereus-und-Procne-Geschichte von einiger Bedeutung. Tereus ist im elegischen Wertekosmos ein Mann des Krieges und nicht der militia amoris. Er ist erfolgreich als epischer Krieger; aber genau diese Geschichte erzählt Ovid eben nicht. Dass die Charakterisierung des Tereus über arma zugleich auf die Gegenbegriffe zur kriegerischen uirtus verweist, wird durch einen anderen Dualismus bekräftigt, der in den Eingangsversen enthalten ist: der zwischen Thraker (Tereus) und Athenerin (Procne).111 Athen, so hatte Ovid zuvor erzählt, 106
Hermann Fränkel, Ovid. Ein Dichter zwischen zwei Welten, Darmstadt 1970, S. 85 (Übersetzung der 2. Auflage von 1956, Berkeley – Los Angeles: Ovid: A Poet Between Two Worlds). Ernst Doblhofer, Ovidius urbanus. Eine Studie zum Humor in Ovids Metamorphosen, in: Philologus 104 (1960), S. 63 – 91, 79. 107 William S. Anderson, Form Changed: Ovid’s Metamorphoses, in: Anthony James Boyle, Roman Epic, London – New York 1993, S. 108 – 124, hier: S. 110 – 118. Die Fragestellung nahm ihren Ausgang mit Richard Heinze, Ovids elegische Erzählung, Leipzig 1919 (ND in: Richard Heinze, Vom Geist des Römertums, Darmstadt 1960, S. 308 – 403), der noch versuchte, eine strikte Trennung zwischen epischem und elegischem Stil bei Ovid nachzuweisen (Anderson [1993b] S. 110). Susanne Daams, Epische und elegische Erzählung bei Ovid. Ars Amatoria und Metamorphosen, München 2003, S. 151f. und passim. Vgl. dazu auch Ingo Gildenhart/ Andrew Zissos, Barbarian variations: Tereus, Procne and Philomela in Ovid (Met. 6.412-674) and Beyond, in: Dictynna 4 (2007), S. 1 – 25, 14. 108 Fredrick (2002) S. 473. 109 Bei Tibull 1, 6, 73f. erscheint es möglich, bei Properz ist es Zeichen von rusticitas, Ovid ironisiert das Motiv. 110 Die List ist ja, wie wir gezeigt haben, eigentlich eine weibliche Praxis, die beim jungen Mann nur in der Phase der Adoleszenz geduldet wird. 111 Zur Bedeutung des Dualismus auch Segal (1994) S. 263, 268; Stein (2004) S. 112.
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hatte als Einziges nicht seinen König zu den Trauerfeierlichkeiten in Theben geschickt (Niobekatastrophe, Tod des Amphion), weil es in einen Krieg mit Barbarenvölkern verwickelt war (6, 421 – 423): credere quis posset? Solae cessastis Athenae. obstitit officio bellum, subuectaque ponto barbara Mopsopios terrebant agmina muros. Ovid spricht hier Athen emphatisch direkt an und seine Ansprache scheint nicht ganz frei von Tadel zu sein: Das Säumen Athens kommt überraschend. Es wird mit der kriegerischen Bedrohung erklärt; dennoch erscheint Athen hier als zaudernde, nicht als kämpfende Gemeinde, während die kriegerische Entschlossenheit ganz beim thrakischen König liegt. Es handelt sich hierbei nicht um eine Nebensächlichkeit, denn Ovid betont schon bei nächster Gelegenheit, nämlich beim Ausbruch der verbotenen Lust des Königs auf Philomela, dass die Ursache in der Natur der Thraker zu suchen sei (6, 458 – 460): digna qidem facies, sed et hunc innata libido exstimulat, pronumque genus regionibus illis in venerem est: flagrat uitio gentisque suoque. Während das cessare des athenischen „Lagers“ in diesem Konflikt ungewöhnlich und unerwartet ist, handelt Tereus im Einklang mit seiner Natur. Diese Natur aber wird als fehlerhaft beschrieben.112 Tereus ist ein erotisierter Krieger, kein Liebender, der elegischen Kriegsdienst leistet. Das ist im Kosmos der Metamorphosen eine Perversion – und Perversionen sind es, die Tereus produziert.113 Die Verbindung von Procne und Tereus hat nicht den Segen der Götter. Ovid malt diesen Aspekt breit und eindringlich aus (6, 428 – 434): (…) non pronuba Iuno Non Hymenaeus adest, non illi Gratia lecto: Eumenides tenuere faces de funere raptas Eumenides strauere torum, tectoque profanus incubuit bubo thalamique in culmine sedit. hac aue coniuncti Procne Tereusque, parentes hac aue sunt facti (…) 112
Otis (1966) S. 210. Garrett A. Jacobsen, Apollo and Tereus: Parallel Motifs in Ovid’s Metamorphoses, in: CJ 80 (1984/85), S. 45 – 52 hat auf die Übereinstimmungen der Apollo-Daphne- und der Tereus-Philomela-Geschichte hingewiesen. Es geht hier (auch) um die Pervertierung der elegischen Liebe und nicht nur, wie Jacobsen meint, um das Herausarbeiten der Unterschiede von Göttern und Menschen (ebenda S. 45 und 52).
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Was auf der ethnisch-natürlichen Ebene als uitium firmiert, die Lüsternheit des Thrakers, wird auf der religiösen Ebene endgültig zur Perversion; die Hochzeit ist ein verkehrtes Ritual, in dem statt der Fruchtbarkeits- und Ehegötter die Kräfte des Todes und des Zwists bestimmend sind.114 Diese Ehe ist im umfassenden Sinne widernatürlich und pervers; nicht aufgrund einer absichtlichen unmoralischen Entscheidung wie bei den Inzest-Metamorphosen (Byblis, Myrrha), sondern aufgrund von physischen und metaphysischen Parametern, die gar nicht ins Bewusstsein der handelnden Menschen treten.115 Die Beschreibung der metaphysischen Kräfte ist dabei von Ovid eng in den Kontext der sozialen Handlungen gelegt worden.116 Auf dieser Ebene verhalten sich alle Beteiligten normgerecht (6, 428 – 438): Conubio Procnes iunxit (…) (…) (434b:) gratata est scilicet illis Thracia, disque ipsis grates egere diemque quaque data est claro Pandione nata tyranno quaque erat ortus Itys, festum iussere uocari: usque adeo latet utilitas! (…) Die Thraker gratulieren, wie es angemessen ist,117 ihrem König und begehen Hochzeit und Geburt des Itys mit Dankfesten. Ovid macht hier also einen deutlichen Unterschied zwischen der menschlichen Beschreibung der Hochzeit und ihrer wirklichen Beschaffenheit. Damit tritt auch eine grundsätzliche Disjunktion von Natur und Wahrnehmung, von Wirklichkeit und Wahrheit in den Metamorphosen zutage.118 Die Durchführung der Hochzeit und die Geburtstagsfestlichkeit für Itys sind befohlene (iussere) Beschreibun-
114
Gildenhart/ Zissos (2007) S. 6 und passim. Otis (1966) S. 211: „The story starts (424ff.) with self-deception of all major characters. Tereus and Procne are happy in their marriage and in their new son, Itys. To such a degree is reality hidden by apperance: usque adeo latet utilitas (438).“ 116 Sie beginnt in v. 428 nach der Hephthemimeres und endet mit der Penthemimeres in v. 434. 117 Das meint ja hier scilicet. 118 Diese Disjunktion von Wirklichkeit und Beschreibung stellt in zahlreichen Metamorphosen die typische ovidische Ironie und Paradoxie her. Sie ermöglicht immer wieder die häufigen Listen in den einzelnen Episoden. Jupiter nähert sich der Callisto in der Gestalt der Diana und wird von der jungen Frau als numen me iudice (…)/ (…) maius Ioue begrüßt (2, 428f.). Jupiter freut sich, dass „er sich selbst vorgezogen wird“, er spielt also mit der Disjunktion von Erscheinung und Realität und setzt sie in dem ovidischen Paradox sibi praeferri se (2, 430) gleich, d.h. es wird mit den Personalpronomina se und sibi gerade nicht mehr zwischen Schein und Sein unterschieden. 115
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gen der jeweiligen Ereignisse, „der wahre Nutzen liegt verborgen“:119 Ovid deutet hier bereits an, dass es zwischen Wirklichkeit (als dem Ganzen der Umwelt, d.h. Metaphysik und Phänomene) und der menschlichen Deutung zwar immer eine Diskrepanz gibt, dass aber die Deutung der Natur dadurch nicht beliebig manipulierbar wird. Der ovidische Odysseus bewegt sich zwar geschmeidig in einer sich wandelnden Welt, er unterläuft menschliche Kommunikationsmuster, aber er tut der Wirklichkeit keine Gewalt an.120 Dagegen bekommt die Hochzeit von Tereus und Procne von Anfang an etwas Gewaltsames, auch wenn die dramatis personae keine Chance haben, ihren Irrtum zu erkennen. Die Diskrepanz von Schein und Sein erzeugt zuerst den Irrtum, dann die Lüge. 6.8.2 Die Bemächtigung der Philomela (Tereus und Philomela) Für B. Otis generiert sich die gesamte Katastrophenkette der Tereus-ProcneGeschichte aus der perversen libido des Tereus:
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Dass es in der Tereus-und-Procne-Geschichte um das Verhältnis von Täuschung und Wirklichkeit, um Ordnung und Perversion und um die Stimme geht, ist selbstverständlich zentral für alle Interpretationen dieser Episode. Probleme ergeben sich aber in der Gewichtung dieser Aspekte zueinander. So ist für Stein (2004) die Sprache „ein hinterhältiges und bösartiges Geschöpf“, mit deren Hilfe „böse Absichten und eigennützige Interessen (…) verbrämt“ werden (S. 140). Ich bin dezidiert der gegenteiligen Ansicht, auch wenn ich mich vielen Einzelüberlegungen von Stein anschließen kann. Nicht aber ihrer Deutung von utilitas im v. 438: usque adeo latet utilitas, denn sie paraphrasiert: „so vollkommen versteht es der Mensch, seine eigentlichen Interessen zu verheimlichen“ (S. 114). Sie rechtfertigt das (S. 114 Anm. 365) aus der Parallelstelle rem. 515 und hält „die in den Kommentaren von Bömer (1976) S. 127 und Haupt/ Korn/ Ehwald/ von Albrecht (1966) S. 337 gebotenen Vorschläge dagegen für wenig hilfreich“. Es ist korrekt, dass rem. 515 dazu auffordert, die eigenen Interessen zu verbergen, allerdings spricht Ovid hier von der Selbsttäuschung, die nötig ist, um die Liebesleidenschaft wieder loszuwerden. Und genau das ist doch der Bezug der Stelle: Ovid tadelt die Selbsttäuschung, mit der die Menschen nicht erkennen, was ihnen nützt – genau in diesem Sinne wird der Vers auch immer übersetzt: Rösch (1992) S. 219: „So verborgen liegt, was uns frommt“; Michael von Albrecht, P. Ovidius Naso. Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1994, S. 311: „so wenig wissen sie, was gut für sie ist!“; Simpson (2001) S. 103: „So seldom do we see what is best for us!“; Anderson (1963) S. 18: „Others think Tereus and Procne fortunate in their marriage and newborn son: little do they understand the facts (utilitas 6. 438).“ Warum Stein die Paraphrase von Otis (1966) S. 211: „To such a degree is reality hidden by appearance“ für in ihrem Sinne „gut“ findet, ist nicht ersichtlich. 120 Vgl. etwa 13, 339f.: Nempe capi Troiam prohibebant fata sine illo (sc. das Palladium)!/ fortis ubi est Aiax? Odysseus rechtfertigt den Raub des Palladium mit dem Beschluss der fata. Damit leugnet er nicht das Durchtriebene seines Tuns, aber er macht deutlich, dass er sich gerade nicht gegen eine metaphysische Ordnung stemmt.
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„The cause of the trouble is not divine spite or vengeance but Tereus’ innate libido: even Philomela’s beauty is but the agent that provokes it (vv. VI, 458 – 60): (…). Tereus terrible libido is what uses and perverts the strong sisterly affection of Procne and Philomela as well as the goodwill of their father, King Pandion. In consequence Procne and Philomela are transformed and degraded into mere incarnations of vengeance.“121 Wie bereits dargestellt, spielt die perverse Natur hier in der Tat eine zentrale Rolle. Bömer hält allerdings dagegen, dass Ovid das Thema der innata libido im Laufe der Erzählung fallen lasse und stattdessen die perfidia des Thrakers in den Mittelpunkt rücke.122 Tatsächlich entwickelt Ovid in der Tereus-undProcne-Geschichte beide Schwerpunkte: die Perversion einer natürlichen Ordnung auf der einen Seite (Tereus’ innata libido) und die daraus resultierende Pervertierung der Kommunikation auf der anderen Seite. Die Katastrophe wird zunächst durch eine sprachliche Ermächtigung ausgelöst: Procne bittet Tereus, sie mit ihrer Schwester zusammenzubringen (6, 440 – 442): (…) si gratia, dixit ulla mea est uel me uisendam mitte sorori, uel soror huc ueniat. (…) Die mit einem Konditionalsatz eingeführte Bitte ist bei Ovid einer der wirkmächtigsten Sprechakte; in der Regel wird einer solchen (wie hier) willfahren. Im Unterschied zu anderen Sprechakten setzt der Konditionalsatz nicht die Wirklichkeit einer Aussage voraus, sondern bietet eine Wenndann-Verknüpfung an. Dadurch wird der menschliche Irrtum hier fast ausgeschlossen – dies spielt besonders in der Kommunikation mit den Göttern eine Rolle. Ein Beispiel: Hätte Callisto den als Diana verwandelten Jupiter nicht als Diana begrüßt, sondern sinngemäß gesagt: „Wenn du Diana bist, so sei mir willkommen“, hätte sie Jupiter in denselben Zugzwang gebracht, in den Aeacus ihn bringt, als er ihn verzweifelt bittet, die Pest auf Ägina zu beenden (7, 615 – 618): ‚Iuppiter o!‘, dixi ‚si te non falsa loquuntur dicta sub amplexus Aeginae Asopidos isse 121
Otis (1966) S. 209f., vgl. auch S. 206, wo er als eine Gemeinsamkeit der Metamorphosen um Tereus, Scylla, Byblis und Myrrha eine pathologisch-unnatürliche Liebe beschreibt. 122 Bömer (1976) S. 131f. legt nahe, dass das Motiv der libido von Ovid eingeführt wurde; also sollte man es besonders ernst nehmen. In der antiken Ethnographie wurden als typisch thrakisch eher perfidia und crudelitas wahrgenommen (Hor. epod. 5, 13f.: impia/ mollire Thracum pectora).
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nec te, magne pater, nostri pudet esse parentem aut mihi redde meos, aut me quoque conde sepulcro!‘ Die Konditionalform des Gebetes ist die mächtigste Form, in der der Mensch seine Stimme in den Metamorphosen gebrauchen kann.123 Sie legt ihre ganze Kraft auf die Fuge zwischen Protasis und Apodosis, ohne ihr Gegenüber mit einer affirmativen Aussage über die Wirklichkeit zu konfrontieren. Eine solche Aussage könnte falsch sein und damit den ganzen Sprechakt hinfällig machen. Alle von Ovid referierten Sprechakte, die die Hochzeit und das Geburtstagsfest für Itys betrafen, waren irrtümliche Aussagen, dagegen erscheint die erste oratio recta der Tereus-und-Procne-Geschichte in dieser Form der ermächtigten und ermächtigenden Bitte. Zu diesem Zeitpunkt gibt es weder für die Leser noch für die handelnden Personen einen Anlass, die Gunst (gratia), in der Procne bei Tereus steht, in Frage zu stellen. Dagegen sind bereits die rein affirmativen Aussagen, in denen Procne ihrem Mann ein mögliches Procedere für die erwünschte Einholung der Philomela entwickelt, unfreiwillig doppeldeutig (6, 442 – 444): (…) redituram tempore paruo promittes socero; magni mihi muneris instar germanam uidisse dabis. (…) Die Anweisungen wird Tereus in der Tat befolgen, aber sie sind dann nicht mehr Elemente einer von Procne ausgesprochenen Einladung, die Tereus nur übermittelt, sondern werden zum Teil einer Intrige, mit der der Thraker für die von ihm begehrte Philomela um Urlaub bei ihrem Vater bitten wird. Die Ausgangslage hat sich verändert (Tereus will Philomela für sich und nicht für seine Frau)124 und damit bedeutet der ursprüngliche Sprechakt et123
Die Konditionalform gehört formal zum griechischen Gebetstypus, ob es auch zum römischen gehört, ist umstritten, die Beispiele bei Livius und Vergil legen das nicht nahe, vgl. Frances V. Hickson (jetzt: Hickson-Hahn), Roman Prayer Language. Livy and the Aeneid of Vergil, Stuttgart 1993, S. 11. Fritz Graf, Gebet III, in: DNP 4 (1998), Sp. 830 – 834, 831. Emmanuel von Severus, Gebet I, in RAC 8 (1972), Sp. 1134 – 1258, 1140: Das homerische Bittgedicht folgt der Struktur: „(…) ‚hab ich Dir je‘, um fortzufahren (…) ‚so gewähre mir dies‘.“ P. Johann Thomas Beckmann, Das Gebet bei Homer, Würzburg (Diss.) 1932. Ovid hat hier doch in gewissen Grenzen eine eigene Ausdrucksform etabliert, denn der si-Satz beschreibt die Identität des Gottes (statt einer klaren Epiklese) und reduziert die vorangegangenen Leistungen des Bittenden fast auf nichts: „wenn du dich nicht schämst, mein Vater zu sein“. Dies begründet eine Bindung, aber spricht nicht von bisherigen Leistungen. Ähnlich in den Bitten an Menschen: „wenn es gratia gibt“ (met. 6, 440), „wenn es pietas gibt“ (met. 6, 503): Bindungen werden zur Grundlage, nicht Leistungen. „Vorsichtsklauseln“ sind, allgemein gesprochen, bei römischen Gebeten üblich, Severus Sp. 1155. 124 Anderson (1963) S. 18: „Tereus has changed from affectionate brother-in-law to lover.“
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was anderes (6, 468): agit sua uota sub illa.125 Tereus setzt, einmal von seiner Begierde zu Philomela gefangen, eine ganze Kette von Täuschungen ins Werk, aber diese Täuschungen resultieren zum größten Teil nicht aus Inszenierungen von etwas, das nicht ist, sondern nutzen die Doppeldeutigkeit von Gesten und Sprechakten aus.126 Dies ist der zentrale Punkt in Ovids Darstellung. Das Erfinden einer Wirklichkeit, die gar nicht existiert, erhält erst zu einem späteren Zeitpunkt der Geschichte Bedeutung (6, 564 – 566: at ille/ dat gemitus fictos commentaque funera narrat/ et lacrimae fecere fidem). Stattdessen geht es die meiste Zeit darum, dass die dramatis personae immer deshalb ins Unglück geraten, weil sie eine zweite Erklärung für die Gesten und Worte ihrer Gegenüber gar nicht auf der Rechnung haben.127 Pandion wird durch beider Bitten besiegt (483: uincitur ambarum genitor prece), und schließt auf einen identischen Willen seiner Töchter und seines Schwiegersohns (6, 496 – 508): ‚hanc ego, care gener, quoniam pia causa coegit, et uoluere ambae, uoluisti tu quoque, Tereu, do tibi perque fidem cognataque pectora supplex, per superos oro, patrio ut tuearis amore et mihi sollicito lenimen dulce senectae quam primum (omnis erit nobis mora longa) remittas; tu quoque quam primum (satis est procul esse sororem), si pietas ulla est, ad me, Philomela, redito.‘ mandabat pariterque suae dabat oscula natae, 125
Hardie (2002a) S. 263. Hier weiche ich von Hardie (2002a) S. 265 ab, der Tereus’ Imagination mit dem Einfallsreichtum eines Pseudolus vergleicht (Plaut. Pseud. 401 – 403): sed quasi poeta, tabulas quom cepit sibi/ quaerit quod nusquam gentiumst, reperit tamen/ facit illud ueri simile quod mendacium est. Dies ist das klassische strategemische „Aus einem Nichts etwas erzeugen“ (von Senger [1999] S. 31). Sicher, Tereus beherrscht es auch. Aber es beschreibt gerade nicht das Zentrale seiner Manipulationen. Im Grunde exemplifiziert Ovid, was Horckheimer und Adorno (1988) S. 67 über die Listen des Odysseus gesagt haben: „Das Wort soll [sc. im mythischen Weltbild F.W.] unmittelbare Macht haben über die Sache, Ausdruck und Intention fließen ineinander. List jedoch besteht darin, den Unterschied auszunutzen. Man klammert sich ans Wort, um die Sache zu ändern. So entspringt das Bewusstsein der Intention: in seiner Not wird [sc. der homerische F.W.] Odysseus des Dualismus inne, indem er erfährt, dass das identische Wort Verschiedenes zu bedeuten vermag.“ 127 Die ganze Problematik bietet in der umgekehrten Form die Byblis-Geschichte. Byblis beklagt sich, dass sie ihren Namen nicht ändern kann (9, 487f.: o ego si liceat mutato nomine iungi/ quam bene, Caune, tuo poteram nurus esse parenti, dazu Anderson [1963] S. 16, vgl. auch S. 20 unten) und so von der Schwester zu dem wird, als was sie sich längst fühlt: der Geliebten. Byblis beklagt, dass die sozialen Benennungen keinen Raum für ihr Erleben lassen. Die Stimme könnte sich anpassen, sie selbst könnte sich – und wird sich – als Geliebte bezeichnen, aber die sozialen Texte bilden ein Netz, das ihr keinen Ausweg lässt. 126
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et lacrimae mites inter mandata cadebant; utque fide pignus dextras utriusque poposcit inter seque datas iunxit natamque nepotemque absentes pro se memori rogat ore salutent. Pandion appelliert an die falschen Werte, weil er die Gesten und Worte von zwei Personen nur auf eine Motivation zurückführt: fides, cognata pectora und superi haben vielleicht für Pandion, aber nicht für Tereus Bedeutung; seine Liebe ist auch kein amor patrius – hatte Pandion zuerst auf ein identisches Wollen von Philomela und Tereus geschlossen, schließt er mit diesem Begriff auf eine identische Liebe, die er selbst und Tereus hegen. Ähnlich ist es um die pietas bestellt. Zwar spricht Pandion hier seine Tochter an, aber es handelt sich genau um die Haltung, die die ganze Zeit dem Tereus unterstellt wurde bzw. die dieser vorgetäuscht hatte. Die pietas der Philomela wird angesprochen, weil die des Tereus als bewiesen gilt. Die hier parallel zur alles auslösenden Bitte der Procne an Tereus gestaltete konditionierte Aufforderung bevollmächtigt eine bereits entmachtete; die pietas der Tochter ist irrelevant, da Tereus keine hat. Der mächtige Sprechakt ist machtlos geworden. Doch Ovid scheint der Irrtum des Pandion mehr zu betrüben als die Motive des Thrakers. Das Handeln des Tereus wird zwischenzeitlich mit einem merkwürdig apologetischen Vokabular belegt, die Blindheit seiner Opfer dagegen heftig beklagt. Dass Tereus’ Motivation eine unnatürliche libido (458ff.) ist und keine pietas, wie Philomela und Pandion denken, wurde zwar ausgesprochen, aber signifikanterweise fällt der epische Erzähler dann in den elegischen Diskurs (6, 465 – 471): et nihil est, quod non effreno captus amore ausit, nec capiunt inclusas pectora flammas iamque moras male fert cupido reuertitur ore ad mandata Procnes et agit sua uota sub illa. facundum faciebat amor, quotiensque rogabat ulterius iusto, Procnen ita uelle ferebat. addidit et lacrimas, tamquam mandasset et illas. Das Auftreten des Tereus wird rhetorisch und dies hat amor und nicht libido verursacht!128 Dieses Motiv stammt aus der Elegie im Allgemeinen (Paraklausithyron) und der Liebesdidaxe des Ovid im Besonderen, der die Beredsamkeit immer wieder in den Dienst der Liebe stellt129 (vgl. auch das 128
William S. Anderson, Ovid’s Metamorphoses. Books 6 – 10. Edited, with Introduction and Commentary, Norman 1972, S. 213. 129 ars 1, 608ff.; Bömer (1976) S. 134; Stroh (1971; 1979); Holzberg (1997) S. 105. Zu Tereus’ perverser Transgression elegischer und epischer Konzepte in den Metamorpho-
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bereits diskutierte Verhalten der Römer gegenüber den Sabinerinnen in Liv. 1, 9, 14 – 16). Die Formulierung verdient hier besondere Aufmerksamkeit, weil man versucht sein könnte, sie apologetisch zu lesen; keiner versteht mehr als Ovid und seine Leser, dass die fides des amator eine relative Sache ist, und niemand ist schneller dabei, dem Liebenden rhetorische Hilfestellung zu geben. Tereus lässt Tränen fließen (6, 471: addidit et lacrimas), um Procne zu überzeugen.130 Die Tränen sind einerseits zentrales Symbol der elegischen Emotionalität,131 andererseits werden sie von Ovid, anders als von den anderen Elegikern, nur als rhetorisches Überredungsmittel eingesetzt.132 Von Odysseus bemerkt Ovid ausdrücklich, dass er in seiner Rede im Streit um die Waffen des Achill erkünstelte Tränen der Trauer um den gefallenen Helden eingesetzt habe (13, 132f.): (…) manuque simul ueluti lacrimantia tersit lumina (…)133 Tereus verkauft seine elegischen Tränen als Tränen der pietas im Dienste seiner Frau (6, 471: tamquam mandasset et illas) und spielt so wieder das Spiel mit der doppelten Bedeutung von Sprechakten und Gesten. Libido und amor werden ebenfalls derart verwechselbar, dass die Ebene des epischen Erzählers erreicht wird, der amor an die Stelle der libido setzt.134
sen vgl. jetzt auch Gildenhart/ Zissos (2007) S. 14 – 16. Monella (2005) versteht die Nachtigall als Symbol der elegischen Dichtung, jedenfalls in der römischen Ausprägung des Mythos. 130 Gildenhart/ Zissos (2007) S. 15. 131 Holzberg (1997) S. 105. Joan Booth, Performing Tears in Roman Love Elegy and Modern Life, in: Bormann/ Wittchow (2008), S. 57 – 75, 59. Thorsten Fögen, Tränen in der römischen Liebeselegie, in: Thorsten Fögen (Hg.), Tränen und Weinen in der griechisch-römischen Antike (Zeitschrift für Semiotik 28 [2006]), Tübingen 2006, S. 239 – 269. Zu Tereus: Segal (1994) S. 263; Stein (2004) S. 120f. 132 Booth (2008) S. 71f. zu ars 1, 659 – 662: et lacrimae prosunt; lacrimis adamanta mouebis/ fac madidas uideat, si potes, illa genas/ si lacrimae, neque enim ueniunt in tempore semper/ deficient, uncta lumina tange manu. Ebenso Holzberg (1997) S. 105. Die Parallele von Ars und Tereus-Episode bereits bei Hardie (2002a) S. 267. Dass die Tränen des Tereus durchaus auch ihren Ursprung in echter Emotionalität haben können (nämlich erotische Leidenschaft und Angst vor Entdeckung) und gleichzeitig gespielt sind, sieht bereits Caroline Hollenburger-Rusch, Liquitur in lacrimas. Zur Verwendung des Tränenmotivs in den Metamorphosen Ovids, Hildesheim u.a. (Diss.) 2001, S. 136. 133 Anderson (1963) S. 22. Hopkinson (2000) S. 108f. 134 Vgl. Liv. 1, 9, 16: Accedebant blanditiae uirorum, factum purgantium cupiditate et amore, quae maxime ad muliebre ingenium efficaces preces sunt. Die römischen Männer sehen gegenüber den Sabinerinnen keinen Anlass, sich um eine Unterscheidung von cupiditas und amor zu bemühen. Wenn Ovid hier libido und amor gleichsetzt, spielt er mit der Verwechselbarkeit der beiden Leidenschaften.
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Genau in diesem Augenblick, da die terminologische Verwirrung die Ebene des epischen Erzählers erreicht hat, macht sich dieser gleichsam frei und ruft angesichts der Täuschungen des Thrakers aus (6, 472 – 474): pro superi, quantum mortalia pectora caecae noctis habent! ipso sceleris molimine Tereus creditur esse pius laudemque a crimine sumit. Der epische Erzähler beklagt hier mit besonderer Emphase nicht nur die Verschlagenheit des Täters – die hat er durch das elegische Vokabular ja gerade marginalisiert –, sondern auch die grundsätzliche Unfähigkeit der Menschen, Täuschungen zu entdecken. In den gängigen Übersetzungen und Kommentaren zu dieser Stelle wird die Formulierung meist auf Tereus’ dunkle Triebe bezogen (z.B. von Albrecht: „Wieviel finstre Nacht wohnt in Menschenherzen“). Doch liegt hier ein Zitat aus Lukrez’ De Rerum Natura vor (2, 14), in dem der Dichter die Unfähigkeit der Menschen beklagt, zu erkennen, in welcher Gefahr sie leben:135 o miseras hominum mentes, o pectora caeca! qualibus in tenebris uitae quantisque periclis degitur hoc aeui quodcumquest. Ein emphatischer Einwurf stand auch in der Überleitung zur Tereus-undProcne-Episode, als Ovid das Zaudern (cessare) Athens beklagt hat. Es ist die Passivität, die der Dichter zuerst zensiert. Dieser Position entspricht auch die des Odysseus, wenn er in seiner Entgegnung auf Ajax immer wieder auf die Verantwortung derer verweist, die sich von ihm haben täuschen lassen (13, 308 – 318): (…) an falso Palameden crimine turpe est accusasse mihi, uobis damnasse decorum? Sed neque Naupliades facinus defendere tantum tamque patens ualuit, nec uos audistis in illo crimina: uidistis. pretioque obiecta patebant. Nec Poeantiaden quod habet Vulcania Lemnos 135
Die lukrezischen pectora sind dabei Sitz der Emotionen (im Gegensatz zu mentes), deshalb muss die Stelle bei Ovid wohl so verstanden werden, dass die Triebe des Menschen blind sind. Das bezieht sich sowohl auf Tereus als auch auf die, die ihm aufgrund eigener Affekte (Geschwisterliebe bei Philomela, patrius amor bei Pandion) nur allzu gern glauben wollen. Die Ausführungen Ovids nach dem Ausruf pro superi beziehen sich ja auch genau darauf, dass Tereus für pius gehalten wird (creditur), und nicht nur darauf, dass er in Wirklichkeit verbrecherisch ist. Die Parallelstelle bei Lukrez bietet natürlich auch Bömer (1976) S. 134 ad loc., aber neben zahlreichen anderen Belegstellen, ohne diese besonders zu avancieren.
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esse reus merui (factum defendite uestrum, consensistis enim) nec me suasisse negabo, ut se subtraheret bellique uiaeque labori temptaretque feros requie lenire dolores. paruit – et uiuit! Der Betrug an Palamedes gilt allgemein wohl neben der von Odysseus durchgeführten Aussetzung des verwundeten Philoktet auf Lemnos zu den schwärzesten Punkten in der Biographie des Ithakers. Er ist ein Beispiel für bösartige Hinterlist, die sich mit dem Verhalten des Tereus vom moralischen Standpunkt aus durchaus vergleichen lässt. Dennoch argumentiert Odysseus ganz von den Möglichkeiten seiner Kommunikationspartner her: Palamedes konnte die Untat nicht widerlegen; die anderen Fürsten, die zu Gericht saßen, hatten eine augenscheinlich unwiderlegbare Kette von Indizien, die zur Verurteilung führen musste. Odysseus rekurriert hier zum einen auf die Leistung seiner listigen Installation – Palamedes galt ihm ja eigentlich als an Klugheit überlegen136 –, zum anderen setzt er seine List in der Rede fort, indem er immer noch an der Gültigkeit der von ihm erfundenen Beweise festhält. Odysseus argumentiert mit der Verwantwortung, die sein Gegenüber beim Bestehen einer immer schon doppelbödigen Kommunikation hat; er betrachtet Listen als einen Teil menschlicher Beziehungen, mit dem gerechnet werden muss. Der epische Erzähler dagegen beklagt die Blindheit der Menschen. Das ist kein direkter Einspruch gegen den Griechen. Odysseus’ optimistische Einschätzung der Listkompetenz seiner Mitmenschen verdankt sich aber einem bestimmten Ideal von List, gegen das Tereus verstößt. Odysseus’ gesamte Rede im certamen armorum folgt im Prinzip der Logik, die wir im zweiten Kapitel für die Rechtfertigung der List bei Livius gegeben haben: Die List ist angemessen, wenn keine anderen Handlungsmöglichkeiten bestehen,137 sie rechtfertigt sich von vornherein im Kriege,138 sie antwortet auf die perfidia des Gegners,139 sie verfolgt übergeordnete Ziele der
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Vgl. Aias in met. 13, 37, der den Palamedes als sollertior isto (sc. Odysseus) beschreibt. Accius hat die perspicax prudentia des Palamedes betont (Acc. 112 Warmington), dazu Neil Hopkinson, Ovid Metamorphoses. Book XIII, Cambridge 2000, S. 87. Des Accius Tragödien Tereus und Atreus sind übrigens auch wichtige Quellen für die ovidische Gestaltung der Tereus-und-Procne-Geschichte, vgl. Bömer (1976) S. 117. 137 Z.B. 13, 208f.: (…) nec aperti copia Martis/ ulla fuit. 138 13, 205f.: longa referre mora est, quae consilioque manuque/ utiliter feci spatiosi tempore belli. Es ist schwierig, dafür eine konkrete Stelle zu benennen, es geht aus der ganzen Argumentation hervor, dass das Handeln gegen die Trojaner a priori unproblematisch ist, es geht eher darum, welchen Stellenwert die List gegenüber den Kriegstaten des Ajax hat. 139 13, 245f.: (…) non ante tamen, quam cuncta coegi/ prodere et edidici, quid perfida Troia pararet.
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Gruppe und ist nicht privatisierend,140 sie unterläuft zwar die Übermacht des Gegners, aber sie meidet nicht die Gefahr.141 Es mag durchaus auch oder gerade beim römischen Leser ein Zweifel bleiben, ob diese Rechtfertigungsgründe auch für den Justizmord an Palamedes gelten sollen:142 Dies war eine privatisierende List, die nur niederste Racheinstinkte des Odysseus befriedigt hat; aber sie wird im Text eben doch damit abgemildert, dass Odysseus seine Täuschung als Teil einer Kommunikation von selbstverantwortlichen Mitspielern zeichnet. Palamedes musste ja durchaus einen Gegenschlag von Odysseus erwarten, als er ihm sein Täuschungsmanöver in Ithaka verdorben hatte, und dieser Gegenschlag folgt zwischen zwei intellektuell ebenbürtigen Partnern auf der Ebene der List. Tereus dagegen hintergeht keine Feinde, sondern seine nächsten Verwandten, er folgt keinen übergeordneten Zielen, sondern einer ungezügelten Lust. Es geht keine Provokation voraus. Einzig der Umstand, dass er in der Tat seine Interessen nicht offen verfolgen kann, führen ihn dazu, Intrigen anzuzetteln. Diese Interessen aber wurden bereits als pervers gebrandmarkt. Ferner geht Tereus nicht das Risiko einer ebenbürtigen Kommunikation ein. Hier liegt ein Schwerpunkt der gesamten Erzählung. Odysseus triumphierte über Palamedes, weil dieser nicht in der Lage war, der von ihm ins Werk gesetzten Indizienkette etwas entgegenzusetzen, er wusste nicht, was er antworten soll, aber er hätte kommunizieren können. Tereus versucht auf brutalste Weise, der Philomela die Möglichkeit zu nehmen, überhaupt noch kommunikativ zu handeln. Tereus nimmt der Philomela ihre Stimme. Es war nämlich eben der Sprechakt der Philomela, der das ganze Gespinst von Lügen, Irrtümern und Täuschungen mit einer machtvollen sprachlichen Bewegung zerreißen konnte (6, 533 – 548): (…) ‚o diris barbare factis! o crudelis!‘ ait, ‚nec te mandata parentis cum lacrimis mouere piis nec cura sororis nec mea uirginitas nec coniugialia iura? omnia turbasti; paelex ego facta sororis, tu geminus coniunx, hostis mihi debita poena. 140 13, 264f.: (…) uestemque manu diduxit et ‚haec sunt/ pectora semper‘, ait ‚uestris exercita rebus.‘ Das ist eine der Generallinien von Odysseus’ Argumentation für seine Listen. Durch den Verweis auf die Gestik ironisiert Ovid ihn hier freilich ein bisschen. Überhaupt scheint Ovid seinen Spaß zu haben, die gestische Untermalung (s.o. die Tränen für Achill) als Inszenierung zu beschreiben. 141 Z.B. 13, 341 – 345 (Odysseus über sich selbst in der 3. Person, die erste Frage ‚Warum hast du Angst‘ richtet sich an Ajax): (…) cur hic metuis? cur audet Ulixes/ ire per excubias et se committere nocti/ perque feros enses non tantum moenia Troum,/ uerum etiam summas arces intrare suaque/ eripere aede deam raptamque adferre per hostes? 142 Die Gegenargumente alle in der Rede des Ajax, zu Palamedes 13, 56 – 60.
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quin animam hanc, ne quod facinus tibi, perfide, restet, eripis? atque utinam fecisses ante nefandos concubitus! uacuas habuissem criminis umbras. si tamen haec superi cernunt, si numina diuum sunt aliquid, si non perierunt omnia mecum, quandocumque mihi poenas dabis. ipsa pudore proiecto tua facta loquar: si copia detur, in populos ueniam; si siluis clausa tenebor, inplebo siluas et conscia saxa mouebo; audiet haec aether et si deus ullus in illo est.‘ Philomela kündigt hier nicht einfach nur an, Tereus zu verraten. Sie zeigt sich in vollem Umfang einer Sprache mächtig, die Wahrheit herstellt. Sie spricht zunächst den Schwager als das an, was er ist: als grausamen Barbaren, dessen Taten und eben nicht dessen Worte ihn zu dem machen, was er ist. Dann benennt sie alle bisherigen Täuschungen, nämlich die fälschlich suggerierten Motivationen des Tereus: Weder die Wünsche des Vaters noch die Sorge der Procne und sein Status als Schwager noch die Unantastbarkeit der Jungfrau motivieren und steuern sein Verhalten. Dann benennt sie sein eigentliches Verbrechen: omnia turbasti. Die Untat des Tereus beruht auf einer Verwirrung zentraler Vorstellungen menschlicher Ordnung.143 Die Verwandtschaftszugehörigkeiten werden von Tereus nachhaltig und unumkehrbar verunklart. Am Ende kündigt sie dem Tereus Vergeltung an, falls Götter existieren. Damit nutzt sie ihre Sprache zu einer Verpflichtung der Götter. Dieselbe si-Klausel wendet sie aber auch für die Prognose ihres eigenen Tuns an; sie stellt klar, dass sie in jedem Falle ihre Stimme verwenden wird, um die Untat des Tereus publik zu machen. Gerade in der Welt der Metamorphosen ist möglich, was Philomela als Letztes ankündigt: Selbst wenn sie gefangen gehalten wird, wird sie Wälder, Felsen und Luft mit ihrer Klage füllen; irgendein Gott wird sie erhören.144 143
Es ist daher nicht angemessen, von „destruction“ zu sprechen (Otis [1966] S. 212); auch ist es vielleicht nicht ganz korrekt, wie Bömer (1976) S. 148 das omnia mit konkretem Inhalt zu füllen: „omnia: 1. pia mandata patris. 2. pietatem sororis. 3. uirginitatem meam. 4. iura coniugii.“ Für Philomela ist wirklich alles durcheinander, so wie später Procne fas und nefas durcheinander bringen wird. Besser ist hier der Begriff der Grenzverletzung: Barbara Pavlock, The Tyrant and the Boundary Violation in Ovid’s Tereus Episode, in: Helios 18 (1991), S. 34 – 48. Es ist auch nicht ganz richtig, mit Anderson (1963) S. 19 zu sagen: „It was Tereus act of violence that confounded everything“ (Hervorhebung F.W.). Nein, das Durcheinanderwerfen selbst ist der schlimme Akt und der bezieht sich auf das gesamte Handeln des Tereus, das die Gewalt nur enthüllt. 144 Für so etwas halten die Metamorphosen Beispiele bereit: Als der Diener des Königs Midas nicht mehr für sich behalten kann, dass sein Herr Eselsohren hat, gräbt er ein Loch in die Erde und spricht die Nachricht dort hinein; es wachsen aber Schilfrohre an der Stelle, die im Winde raschelnd das Geheimnis verraten (11, 182 – 193).
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Die Stimme ist nicht Garant für die Wahrheit: Sie kann lügen (Tereus) oder ihren Standpunkt nicht durchsetzen (Palamedes), aber sie ist das einzige Mittel im Kosmos der ovidischen Metamorphosen, mit dem der Mensch Einfluss auf sein Geschick nehmen kann. Der Verlust der Stimme durch die Verwandlung in Pflanzen, Tiere usw. beendet die Möglichkeit des Menschen, an der Produktion von menschlicher Wahrheit teilzunehmen. Bezeichnenderweise ist es deshalb auch die kumäische Sibylle, deren Metamorphose ihr gerade nicht die Stimme raubt, sondern als Einziger die Stimme belässt:145 Die Sibylle ist Sprachrohr Apollos, dieses Privileg bleibt dem Orakel, das Orakel ist ganz Stimme. Es wäre falsch, die Glossotomie als reinen Gewaltakt zu beschreiben, mit dem Tereus von der Rolle des listigen artifex gleichsam zurückfindet in die des epischen Kriegers. Anders als die Vergewaltigung und Einkerkerung der Schwägerin ist die Glossotomie nicht bloße Bemächtigung, sondern Teil einer Vertuschungsstrategie. In den Werken und Tagen Hesiods hatte Zeus den Übeln, die sich aus dem Krug der Pandora in die Welt verteilten, die Stimme genommen, damit der Mensch ihnen nicht entrinnen kann.146 Tereus möchte den Übeln, die er in die Welt setzt, ebenfalls die Stimme rauben, um jede Gegenwehr zu verunmöglichen. Gerade die abstoßende Verbindung von Gewalt und Vertuschung macht den Tereus zu dem unmöglichen (perversen) Mischwesen aus elegischem Amator und epischem Krieger, das er ist. Wenn die List das Unterlaufen einer Kommunikationsroutine ist, die auf ein Aufmerksamkeitsdefizit des Gegners lauert, so ist die Intrige des Tereus eine, die Kommunikation zerstört. Die ganze Intrige des Tereus spielte mit der Unaussprechlichkeit seines wirklichen Tuns. Philomela aber ist mit ihrem Sprechakt gelungen, was der Amme der Myrrha unmöglich schien: das Unaussprechliche auszusprechen. Dies möchte Tereus gern unterbinden, deshalb nimmt er ihr die Sprache selbst. Das ist der Gipfelpunkt seiner Intrige, einer in der Logik der Metamorphosen schmutzigen Intrige.147 145
14, 152f.: usque adeo mutata ferar nullique uidenda/ uoce tamen noscar, uocem mihi fata relinquent. Die andere Ausnahme ist Echos Stimme, aber diese wird letztlich von der Stimme zum Ton (3, 401: sonus est, qui uiuit in illa): Sie trägt keine Semantik mehr und wiederholt nur, vgl. Altieri (1995) S. 258: „To repeat a story is to submit one’s freedom to it; thus there must be some authority certifying its importance.“ Ebenso jetzt Petra Gehring, Die Wiederholungs-Stimme. Über die Strafe der Echo, in: Doris Kolesch/ Sybille Krämer (Hgg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt am Main 2006, S. 85 – 110, 90: „Der eigentümliche Zwang, der auf Echo liegt, ihre Wiederholungs-Stimme, greift ihre Position ruinös an.“ 146 Hes. erg. 104: (…) §pe‹ fvnØn §je leto mht eta ZeÊw. 147 „The central role of language in the episode is closely related to Tereus’ status as both a barbarian and a tyrant; that is, as a threat to the defining features of civilized humanity. In his ‚tyrannical‘ lust, he had destroyed language, along with the sanctities of kinship and marriage. He attempted to destroy his victim’s humanity by destroying her power to speak and then separating her from civilized society by imprisonment in the forest.“ Segal (1994) S. 267.
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Die Perversion der Kommunikation korrespondiert dabei mit einer pervertierten Natur. Eine gute List (aus der Sicht der Metamorphosen) unterläuft Ordnungen, zersetzt sie aber nicht. Odysseus hat niemals eine Zweifel daran gelassen, wer sein Feind und wer sein Freund ist, wer seine Ehefrau ist und wer eine Geliebte. In allen diesen Bindungen hat er mit einem listigen Partikularismus agiert, d.h. nicht immer fühlten sich Freunde freundlich behandelt. Aber die sozialen und natürlichen Zuordnungen standen nie zur Disposition. Die Glossotomie ist eine anmaßende Handlung. Bei Ovid sind es die natürlichen Metamorphosen – von Göttern ausgelöste oder ohne genannte Motivation in der Natur stattfindende –, die dem Menschen die Sprache nehmen.148 Ovid gestaltet diesen Verlust der Sprache hier ganz ähnlich, als ein Verstummen mitten im Sprechen (6, 555 – 557): ille indignantem et nomen patris usque uocantem luctantemque loqui conprensam forcipe linguam abstulit ense fero (…)149 Die natürlichen Metamorphosen verwandeln den Menschen aber zugleich in etwas anderes und nehmen ihm sichtbar das Mensch-Sein. Sie entziehen damit den Menschen auch dem Begehren des Gottes. Tereus möchte Philomela aber weiterhin missbrauchen und lässt sie am Leben (es ist eben ein Vertuschungsstrategem). Somit bleibt sie ihm, aber auch er ihr ausgesetzt. Die Wahrheit von Philomelas Stimme hat das Doppelspiel der Bedeutungen beendet; Tereus hat durch die Glossotomie die Wahrheit Philomelas zum Verstummen gebracht. Übrig bleibt Tereus’ einsinnige Fiktion: Jetzt erst beginnt er wirklich, Lügen in die Welt zu setzen, denn er kann nicht mehr im Schutze der einen Wahrheit, die er zum Verstummen gebracht hat, seine zweite entfalten.150 Tereus erzählt seiner Frau, dass Philomela gestorben sei, 148
„Während den Göttern das Recht auf diese uis im Allgemeinen geradezu selbstverständlich zusteht, wird Tereus mit menschlichen Maßstäben gemessen.“ Bömer (1976) S. 145. B. bezieht sich zwar auf die Vergewaltigung und nicht auf das Verstümmeln, aber der Gedanke ist im Grundsätzlichen angemessen. 149 Vgl. 9, 371 – 393 die Worte der in einen Lotosbaum verwandelten Dryope (392): desierant simul ora loqui, simul esse. Die Metamorphose der Dryope geschieht auch ganz gegen deren Willen und reißt sie von ihrer Familie weg, ähnlich wie die Glossotomie der Philomela. Aber Dryope hört eben auch auf, einen Mund zu haben (desierant […] simul esse), d.h. Mensch zu sein. Philomela ist nur verstümmelt, ihre Zunge lebt sogar noch auf unheimliche Weise weiter, um dann zu sterben, sich eben nicht zu verwandeln (6, 557 – 560): (…) radix micat ultima linguae/ ipsa iacet terraeque tremens inmurmurat atrae/ utque salire solet mutilatae cauda colubrae/ palpitat et moriens dominae uestigia quaerit. 150 Auch Procne, die im Folgenden das Doppelspiel von Handlung und Bedeutung aufnimmt, greift erst nach dem Gewaltakt, der Tötung des Itys, zur einsinnigen Lüge (6, 648): patrii moris sacrum mentita.
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wiederum sind es Tränen, die seine Lügen glaubwürdig machen (6, 565 – 570):151 dat gemitus fictos commentaque funera narrat et lacrimae fecere fidem. uelamina Procne deripit ex umeris auro fulgentia lato induiturque atras uestes et inane sepulcrum constituit falsisque piacula manibus infert et luget non sic lugendae fata sororis. Diese Lügen erzeugen diesmal eine leere Verdoppelung der Wirklichkeit. Procne errichtet ihrer Schwester, ihren falschen Manen, ein Kenotaph.152 Das inane sepulcrum ist aber ebenso gut auch ein sinnloses Grabmal.153 Während Tereus zur plumpen Lüge greift – erst danach ist seine Rolle als artifex in dieser Geschichte auch ausgespielt – erlebt Procne jetzt an Tereus in Thrakien etwas Ähnliches wie Philomela mit Tereus in Athen: Sie lebt ihre schwesterliche Liebe unter einer falschen Voraussetzung, die durch die Täuschungen und Tränen des Thrakers geschaffen wurden. Auch diese Täuschung mündet in Gewalt. 6.8.3 Die Aufdeckung der Untat (Philomela und Procne) Den Umschwung bringt die List der Philomela. Zum ersten Mal bemüht Ovid jetzt eindeutig positive Bezeichnungen für listiges Handeln154 (6, 574 – 580): 151
Hardie (2002a) S. 267. Bömer (1976) S. 154; vgl. Aen. 3, 304 über das Kenotaph des Hector, Haupt/ Korn/ Ehwald/ von Albrecht (1966) S. 343. Hardie (2002a) S. 87. 153 Hardie (2002a) S. 87 spricht ebenfalls von einem „tomb doubly empty“, meint aber hier die doppelte Abwesenheit der Toten (das Kenotaph enthält sowieso keine Tote; aber hier ist nicht einmal die abwesende Tote tot). 154 Bömer (1976) S. 157: „sollertia (I 391, IX 741, XIII 327. Tib. I 4, 3; nicht bei Verg. Hor. Prop.) als typische Eigenschaft, die dem Schwächeren (der Frau, dem Sklaven) hilft, sich gegen den Stärkeren durchzusetzen, so z.B. am. I 8, 87 servus et ad partes sollers ancilla parentur. II 19, 41 quas ferat et referat sollers ancilla tabellas. epist. 19, 25f. In anderem Zusammenhang vereinigt am. III 8, 45f. die Eigenschaften ingeniosus und sollers, wie unsere Stelle: (…).“ Immerhin sollers wird auch von Horaz und Vergil verwendet und zwar ep. 2, 3, 407 von der Dichtkunst des Apollo. C. 4, 8, 8 von der Malerei und der Bildhauerkunst. Georg. 4, 327 von der umsichtigen Sorge (frugum et pecudum custodia sollers) des Aristaeus um seine „Früchte und sein Vieh“ (Honig und Bienen). Vor allem aber sind die von Bömer genannten Belege von sollertia in den Metamorphosen keineswegs solche, die eine Fähigkeit des Schwächeren gegenüber dem Stärkeren meinen. Die sollertia von Deucalion und Pyrrha hat mit List wenig, aber viel mit Kunstfertigkeit zu tun (1, 391). Properz meidet das Wort tatsächlich (weder sollers noch sollertia). Sollertia ist also, alles in allem, bei den Augusteern zunächst einmal die Kunstfertigkeit des Menschen beim Meistern einer 152
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(…) grande doloris ingenium est, miserisque uenit sollertia rebus stamina barbarica suspendit callida tela purpureasque notas filis intexuit albis indicium sceleris, perfectaque tradidit uni utque ferat dominae, gestu rogat, illa rogata pertulit ad Procnen: nescit, quid tradat in illis. Die List der schlauen Philomela bezieht sich ganz darauf, ein Äquivalent für die verlorene Sprache zu schaffen, einen Text, der hier wahrhaftig als Gewebe daherkommt.155 Sie ist die einzig positiv konnotierte Handlung in dieser Geschichte, die nicht zugleich als Irrtum denunziert wird. Doch diese schlaue Erfindung ist wie jede List defizient.156 Sie dient dem Augenblick, sie kann Kommunikation manipulieren, aber nicht wirklich ersetzen. „Einen schriftlichen Text, sei er graviert, gedruckt oder auch als auswendig gelernter und imaginierter Schrifttext ins Gedächtnis eingegraben, können ganz verschiedene Menschen zu beliebigen Zeiten und an verschiedenen Orten lesen. Die Möglichkeit, den Urtext wiederholter, zeitlich und örtlich auseinandergezogener Lektüre durch verschiedene Menschen zu unterziehen, aber hat eine Konsequenz, die dem Ritual unbekannt ist. Während im Ritual ‚Text‘ und ‚Sinn‘ uno actu präsent sind, ja, ein und dasselbe sind, entsteht mit der Schrift eine neue Unterscheidung, nämlich die Differenz von unverändertem/ unveränderbarem Text einerseits und der Interpretation und dem Sinn des Textes andererseits. Der durch eindeutige Zeichen fixierte Text ermöglicht – und erzwingt – in der wiederholten Lektüre eine je neue ‚Rezeption‘, ein je neues Verstehen. Und damit beginnt das Geschäft der Hermeneutik, die sich der unendlichen und zirkulären Sinnsuche und Sinnentfaltung widmet. Der Text gebiert Texte, die Texte gebären. Es werden, kaum daß der Urtext in der Welt ist, Mechanismen – Bindung an
Aufgabe, oft als (angeborenes, im Gegensatz zu ars, vgl. Wheeler [1988] S. 56) Talent einer Profession. 155 Segal (1994) S. 264. 156 Optimistischer bewertet Hardie (2002a) S. 87 die Durchschlagskraft des carmen miserabile. Byblis dagegen hat erkannt, dass ein Brief die direkte Kommunikation nicht ersetzt (9, 523 – 531): Incipit et dubitat; scribit damnatque tabellas;/ et notat et delet; mutat culpatque probatque/ inque uicem sumptas ponit positasque resumit./ quid uelit, ignorat: quidquid factura uidetur,/ displicet; in uultu est audacia mixta pudori./ scripta ‚soror‘ fuerat, uisum est delere sororem/ uerbaque correptis incidere talia ceris:/ ‚quam nisi tu dederis non est habitura salutem/ hanc tibi mittit amans; pudet, a pudet edere nomen (…).‘
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Wortlaut und strenge Formvorschriften – nötig werden, um diesen Prozeß unter Kontrolle zu halten.“157 Die Trennschärfe, mit der sie in ihrem letzen Sprechakt Wahres und Falsches geschieden hat, kann Philomela durch den Text nicht vollständig zurückgewinnen.158 Die Botschaft erzeugt hier keine Kommunikation, sondern Verstummen – es ist wieder dieser Aspekt, der dem epischen Erzähler einen Ausruf abnötigt, und nicht die Grausamkeit des Geschehens oder der sich anschließenden Pläne. Das Verstummen wiederum produziert die gleiche Konfusion wie die Täuschungen des Tereus. „Alles hast du durcheinander gebracht“, dies hatte Philomela dem Tyrannen entgegengeschleudert. Procne aber spricht nicht, was der Dichter staunend vermerkt,159 sondern bringt ihrerseits fas und nefas durcheinander (6, 581 – 586): euoluit uestes saeui matrona tyranni fortunaeque suae carmen miserabile legit Et (mirum potuisse) silet: dolor ora repressit, uerbaque quaerenti satis indignantia linguae defuerunt, nec flere uacat, sed fasque nefasque confusura ruit, poenaeque in imagine tota est.
157 Fögen (2002) S. 83. Fögen unterscheidet in ihrer Studie zum römischen Recht zwischen Text und Ritual, wir können Ritual durch „Performanz der Stimme“ ersetzen und meinen dann dasselbe. 158 Und zwar genau aus den Gründen, die Segal (1994) seiner Definition von Text zugrunde legt. Natürlich meint Segal den strukturalistischen Textbegriff „from which the reader reconstructs meaning in an endless production of possible readings.“ (S. 264 Anm. 16). Aber genau das macht diesen Text defizient. Philomela kann ihre so kluge List, den Text, semantisch nicht bändigen. M. E. gehen all diese Interpretationen, die die Sprache hier als desavouiert, weil als rhetorisch ansehen („the silent, true version of Philomela’s story, told only by the silent notae, dramatically refutes Tereus’ specious oral narrative“ [S. 266]), am Sinn der Geschichte vorbei. Besonders krass hier die Deutung von Stein (2004) S. 139f., die es fertig bringt, die abgeschnittene Zunge der Philomela als ein „hinterhältiges und bösartiges Geschöpf“ zu interpretieren, dass sich wie „ein kriecherischer und listiger Diener (…) im Staube wälzt“. Dies. S. 140 Anm. 437: „Vor allem Larmour (1990) kommt das Verdienst zu, ,the theme of the manipulation of language‘ knapp und treffend als eine Art Leitmotiv dieser Metamorphosen-Episode herausgestellt zu haben: ,language is an instrument not for expressing, but, rather, for covering up true thoughts and intentions‘ (S. 134).“ Gemeint: David H. J. Larmour, Tragic Contaminatio in Ovid’s Metamorphoses: Procne and Medea, Philomela and Iphigeneia (6. 424 – 674); Scylla and Phaedra (8. 19 – 151), in: ICS 15, 1 (1990), S. 131 – 141. Aber wenn dies so wäre, wie könnte Philomela dann darunter leiden, dass sie ihren Triumph dem Tereus im Moment der Rache nicht mitteilen kann: nec tempore maluit ullo/ posse loqui (met. 6, 659f.)? Sprache ist manipulierbar, das ist Ovid klar. Das Besondere aber ist, dass er sie dennoch als einziges Mittel men schlicher Identitätsbehauptung avanciert. 159 Segal (1994) S. 265.
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Die Wahrheit ist hier zum wiederholten Male nicht befreiend. Die Konstellation von Tereus und Philomela begann mit Täuschungen und endete in purer Gewalt; jetzt aber werden Täuschungen im Verhältnis von Procne und Tereus zentral. Für Philomela hatten ihre freimütigen Worte mit dem Verlust der Stimme und mit Gefangenschaft geendet. Procne stürzt sich nach der Mitteilung der Wahrheit in eine buchstäbliche Orgie der Vergeltung. Sie gesellt sich zu den Bacchantinnen, die gleichzeitig (tempus erat, quo) eine Trieteris feiern. Procne hat nun die Rollen mit Tereus getauscht; sie täuscht das Rasen der Bacchantin vor, das aber in Wirklichkeit das der schmerzgeplagten und furiengejagten Gattin und Schwester ist. Wie bei Tereus ist die Performanz ihrer Täuschung keine reine Inszenierung, sondern die Leidenschaft ist Ausdruck einer echten Emotion, nur eben nicht der, die im Rahmen einer Bacchusfeier erwartet wird (6, 594 – 600): concita per silvas turba comitante suarum terribilis Procne furiisque agitata doloris, Bacche, tuas simulat; uenit ad stabula auia tandem exululatque euhoeque sonat portasque refringit germanamque rapit raptaeque insignia Bacchi induit et uultus hederarum frondibus abdit attonitamque trahens intra sua moenia ducit. Die List der Procne gipfelt, wie die ihres Mannes, in einer Bemächtigung der Schwester. Procne raubt (rapit) Philomela, die Geraubte wird ebenfalls mit den Insignien der Bacchantinnen bekleidet und ihr Gesicht im Grün des Efeus verborgen. Philomela ist erschüttert und erleidet damit erneut ein Trauma, das mit einer gewaltsamen, d.h. menschlich „nachgestellten“ Metamorphose beschrieben werden kann. Wie bei einer Verwandlung in einen Baum bedeckt das Grün Philomelas Gesicht und beendet ihre kurze Aktivität, die wie bei Tereus in einer Artikulation gegipfelt hatte.160 6.8.4 Der Racheplan (Procne und Philomela) Die Initiative bei der Rache bleibt bei Procne, deren Gewaltphantasien die Taten ihres Mannes abbilden und – zunächst vergeblich – zu überbieten suchen (6, 613 – 619). Sie bezeichnet Tereus als einen artifex, als einen kunstvollen Intriganten (615). Mit diesem Attribut macht sie deutlich, dass nicht allein die Brutalität das Skandalon seines Verhaltens ist, sondern auch und besonders die Verschlagenheit, für die die Thraker berühmter waren als für 160
Segal (1994) S. 272 ist der Auffassung, dass Procne die Tat des Tereus genau rückgängig macht. Sie überlistet damit aber das Gewalttätige der ganzen Handlung. Die stumme, schreibende Philomela kann keine Initiative zurückgewinnen – ohne Stimme!
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ihre innata libido (vgl. oben Anm. 122). Diese Verschlagenheit wird innerhalb der Phantasien der Procne allein mit Gewalt und nefas beantwortet. Im Dualismus von ars und arma/uis, bei dem Tereus von Ovid ja am Eingang der Geschichte eindeutig noch nicht auf Seiten der ars angesiedelt wurde, siedelt sich Procne jetzt auf dem Pol der Gewalt an. So wie der Anblick der Philomela den Tereus zu einem artifex hat werden lassen, der seine sexuelle Gier befriedigen will, so ist es jetzt der Anblick des gemeinsamen Sohnes, der Philomela ebenfalls zu einer Intrigantin macht. Dabei wiederholt der Blick der Procne aber den Denkfehler, dem alle Getäuschten in dieser Geschichte unterlegen waren: Sie erkennt in Itys die Züge ihres Mannes und nimmt diese Ähnlichkeit als Rechtfertigung ihres Handelns (6, 619 – 623): (…) peragit dum talia Procne ad matrem ueniebat Itys: quid possit ab illo admonita est oculisque tuens immitibus ‚a quam es similis patri!‘, dixit nec plura locuta triste parat facinus tacitaque exaestuat ira Damit identifiziert sie Itys aufgrund der Ähnlichkeit mit ihrem verbrecherischen Gatten, anstatt für möglich zu halten, was in dieser Tragödie immer wieder geschehen ist: dass identische Eindrücke auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sind. In diesem Sinne täuscht sie sich auch selbst, denn die rächende Ehefrau betrügt die liebende Mutter um ihr Kind. Wie bei den gegen andere gerichteten Täuschungen muss Procne auch die Selbsttäuschung immer wieder durch Argumentieren am Leben erhalten (6, 631f.): inque uicem spectans ambos ‚cur admouet‘ inquit ‚alter blanditias, rapta silet altera lingua? (…)‘ Die Stummheit der Philomela und die Schmeicheleien des Kindes sind für sie zu verschieden, als dass beide unschuldig sein könnten. Wenn das Opfer stumm ist, kann das beredte Kind nicht auch Opfer sein, obwohl es genau dazu von der Mutter bestimmt ist. Philomela identifiziert die pietas, die sie gegen ihren Sohn empfindet, mit der, die sie ihrem Gatten gegenüber empfunden hat.161 Als listige und brutale Täterin bringt sie genau wie Tereus die sittlichen Kategorien gerade damit durcheinander, dass sie körperliche Erscheinung, Gestik, Mimik und
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In 6, 624 – 629 schildert Ovid die Gefühle der Mutter, die aus pietas in Wanken kommen, wenn das Kind sich ihr zärtlich nähert (629: ex nimia mentem pietate labare). In 634f. ruft sie sich daraufhin zur Ordnung: cui sis nupta, uide, Pandione nata, marito./ degeneras! scelus est pietas in coniuge Tereo. Hier spricht sie von der pietas gegen Tereus, dabei war die es nicht, die sie hat schwankend werden lassen.
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Sprechakte für eindeutig erklärt. Procne und Philomela töten den Knaben Itys, zerreißen ihn und kochen oder braten die Stücke (6, 645f.). 6.8.5 Die Rachekatastrophe (Procne, Philomela, Tereus) Das Ehepaar Tereus und Procne hat durch sein Handeln die Sprache als Mittel, Ordnung zu stiften, gründlich zerstört. Nachdem Procne in der letzten großen Intrige des Dramas den Tereus anlügt, er solle zu einem religiösen Mal erscheinen, an dem nur ein einziger Mann teilnehmen könne, und sie und ihre Schwester ihm das Fleisch des Sohnes servieren, ist die Sprache nicht mehr in der Lage, Klarheit zu schaffen. Als Tereus nach dem Verzehr des Mahles nach seinem Sohn fragt, kann Procne sich nicht mehr beherrschen, ihre Untat weiter geheim zu halten. Doch ihre Mitteilung ist in die Form des Rätsels gegossen (6, 655): intus habes, quem poscis „In dir ist, den du suchst.“162 Das Rätsel hat wie der Witz mit der List gemein, dass es mit zwei Bedeutungsebenen arbeitet. Das ganze Handeln von Tereus und Procne hat aber immer damit gerechnet, dass die zweite Bedeutungsebene verborgen bleibt. Als sie das Spiel mit den doppelten Bedeutungen und der gestischen Uneindeutigkeit nicht mehr spielen können, machen sie Gewalt zum Mittel der Intrige und ersetzen die doppelsinnige List durch die einsinnige Lüge. Jetzt, in der Katastrophe aber, sucht Tereus verzweifelt und vergeblich nach einer zweiten Bedeutung: Es gibt aber für das Rätsel keine zweite Deutung als eben die, dass Tereus das eigene Kind verschlungen hat. Tereus aber kann diese Deutung gar nicht erfassen und sucht deshalb um sich herum nach seinem Kind (655): intus habes quem poscis ait. circumspicit ille. Der eindeutige Sprechakt ist desavouiert. Die Lösung des Geheimnisses bringt nicht die Sprache, sondern eine Geste der stummen Schwester mit einem Beweisstück: Philomela wirft dem Vater den Kopf des Kindes ins Gesicht. Tereus wird im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Kopf auf die Wahrheit gestoßen. Die Autopsie des blutigen Beweisstücks ist das sichtbare Ende der sprachlichen Bewältigung des Geschehens. Die natürliche Metamorphose, die nun die drei heillos gegeneinander Aufgebrachten in Vögel verwandelt, kommt nicht mehr als Erlösung, da der Verlust der Sprache den eigentlichen qualitativen Sprung der Transformation bereits vorweggenommen hat. Tereus, Philomela und Procne bleiben Opfer, Jäger und Gejagte.163 162
Rätsel und Witz sind durch die „Struktur der doppelten Bedeutunsgebene verbunden“ (Ralf Simon, Witz, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 [2003], S. 861 – 864, 862), zur Verbindung Witz – List s. Clausewitz (1834) S. 178. 163 Segal (1994) S. 273. Vgl. auch S. 270: „Compared to an eagle seeking its prey with its talons (516f.) Tereus has already undergone an inner metamorphosis before he becomes,
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6.9 Die geordnete Natur: Stimme als Mittlerin von List und Gewalt Ordnung entsteht bei Ovid aus der Sprache. Eine heile Natur ist zwar Voraussetzung einer sinnvollen Ordnung, insofern sie dem Menschen Raum lässt, sich zu artikulieren, Natur als Begründung von Ordnung bleibt aber marginal: Sie erklärt sich nicht selbst, sondern muss erklärt werden. Die Natur hat keine Stimme, sondern nur wahrnehmbare Phänomene, die keinen eindeutige Botschaft und schon gar keinen festen Text ergeben – Natur als Text ist eine Konstruktion, ist immer nur ein carmen miserabile, das keine eindeutigen Lesarten erlaubt, doch verändert sich die Natur ständig; die Ordnungen, die auf ihr errichtet werden, sind labil. Das ist auch die Logik der Schöpfungsgeschichte zu Beginn der Metamorphosen. Schmidt wollte die Ausdifferenzierung des Chaos nicht als Metamorphose gelten lassen, weil das Chaos noch formlos sei (1, 16). Dabei hat Ovid hier am deutlichsten gemacht, dass das Sein des Seienden keine Qualitäten hat (1, 17: nulli sua forma manebat). Das Chaos mündet in eine monarchistische Ordnung des Göttlichen, in der auf Moral geachtet wird. Gleichzeitig aber funktioniert diese Ordnung nicht lückenlos: Jupiter selbst ist anfällig für die Leidenschaften der Liebe und hat, alles in allem, häufig anderes zu tun, als den Sinn der Schöpfung zu vermitteln. Liebe ist in der Ars verantwortlich für Kultur,164 in den Metamorphosen für Wandel,165 das heißt nichts anderes, als dass beides, Kultur und Wandel, bei Ovid zusammengehört. Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass Ovid eher ein Denken beklagt, das die Natur als eindeutiges Zeichensystem konstruiert, als ein Handeln, das sich die Uneindeutigkeit der Natur zunutze macht. Odysseus und Ajax mögen beide von Ovid kritisch dargestellt sein; Odysseus aber erkennt, dass sprachliche Ordnungen immer dem Wandel hinterherhinken. Secundum naturam uiuere, sich der Vielgestaltigkeit der Welt anpassen, droht in dieser Sichtweise immer, in der Gesellschaft als List beschrieben zu werden. Sprache muss ständig aktualisiert werden, sie lebt im Gebrauch. Aus diesem Grund ist der geschriebene Text der gesprochenen Sprache unterlegen. „Es gibt keine Sprache jenseits des raum-zeitlich situierten Vollzugs ihrer stimmlichen, schriftlichen oder gestischen Artikulation.“166 Ovid ist eigentlich kein Logo-, sondern ein Phonozentrist. Es ist daher kein Zufall, dass Ovid die Ewigkeit seiner Dichtung gerade nicht als corpus, sondern als pars melior mei bezeichnet. Es kommt etwas überraschend, dass Anderson, literally, the hoopoe with its „armed face“ (armata facies, 673f.). The bestiality in his character has already been marked by adjectives like ferus and saevus.“ 164 Janka (1997) S. 354. 165 Anderson (1963) S. 7: „Passion’s power to transform gods and men constitutes a principal element of many stories recounted by Ovid.“ 166 Sybille Krämer, Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Thesen über Performativität als Medialität, in: Paragrana 7, 1 (1998), S. 33 – 57, 39.
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der in seinem Aufsatz (Anderson [1963]) exzellent nachgewiesen hat, dass der Wechsel immer auch das Wesen der Menschen ergreift, am Ende (S. 24) sehr stark zwischen der trügerischen forma und den „qualities of the human spirit“ unterscheidet. Richtig ist: Es bleibt das Beseelende, der spiritus,167 aber gerade nicht das Individuelle, Wesenhafte.168 Natürlich prophezeit sich Ovid hier, dass sein Werk überlebt, aber eben nicht als monumentum,169 sondern im Akt des Gelesen-Werdens. Es wird selbst dadurch immer wieder neu.170 Die Existenz überlebt, nicht die Gestalt. Die Existenz aber hat keine feste Bedeutung. Ovid billigt nicht allein Sprechakten Ordnungsfunktionen zu (Philomela wirft Tereus den Kopf des Sohnes ins Gesicht: Dieses Zeigen ist eine Geste), privilegiert aber die Stimme vor anderen Gesten (trotz ihres Triumphs beklagt Philomela, dass sie ihre Freude an Tereus’ Leid nicht auch sprachlich artikulieren kann171), mit denen der Mensch die Natur für sich ordnet. Die Sprachgeste ist dynamischer als die Körpergeste, weil sie sich immer wieder der wandelnden Situation anpassen kann. Die Tereusgeschichte desavouiert nicht die Sprache, wie etwa Stein in ihrer Interpretation der Episode gemeint hat, sondern sie erzählt von einer Desavouierung der Sprache aufgrund eines brutalen Umgangs mit der Stimme. Sprache aber ist nicht desavouiert, sofern das Medium, die Stimme, immer wieder aktualisierend eingesetzt wird. Die Tereusgeschichte ist ein exemplum, wie man Sprache nicht verstehen soll, sie richtet sich aber nicht gegen die Sprache als Medium der Orientierung. 167
15, 167 – wenn man sich mit Anderson (1963) S. 27 auf die Pythagorasrede als Erklärungsgmodell der Metamorphosen überhaupt einlassen will. 168 Es kann bestehen bleiben, muss aber nicht. Die klassischen Beispiele – Callisto, Io usw. – belegen nichts weiter, als dass die Spur, die die Verwandlung lässt, auch der Charakter sein kann. Aber das ist nicht das Zentrale der Metamorphose. 169 Hor. c. 3, 30; Anderson (1963) S. 26. 170 „The proclaimed theme of Ovid’s greatest and most ambitious work is change, ‚forms that changed into new bodies‘, with a suggestion that the poem’s form wa s changed even as it took shape: ‚Gods, inspire my undertaking (for you have changed it too)‘.“ Sara Mack, Ovid, New Haven – London 1988, S. 99 [Hervorhebung F.W.]. Außerdem suggeriert Ovid, dass sich sein Werk auch weiterhin verändern wird! Dies nicht zu berücksichtigen ist m. E. der Denkfehler von Anderson (1963) S. 27: „The poet of change, because his images are true and living, inspired by the eternal human spirit, triumphs over change.“ Auch Spahlinger (1996) S. 50 meint wohl nicht das, was wir hier als die Bedeutung der Stimme betonen, wenn er (in der Sache zutreffend) zur Sphragis schreibt, Ovid knüpfe das Bestehen seines Werkes an die „Voraussetzung, dass das Werk Leser findet, die seiner Sprache mächtig sind und dem gleichen kulturellen Umfeld wie der Dichter und sein Werk angehören.“ Das ist aber eben die Vorstellung, das Werk sei an den römischen Kulturkreis gebunden. Ovid spricht nur von dem geographischen Bereich, in dem sich zu seiner Zeit Rom erstreckt, d.h. praktisch und mit einer Portion römischer Selbstgefälligkeit von der bewohnten Welt. Dass Rom sich nicht verändern könne, ist damit nicht impliziert. 171 Segal (1994) S. 268.
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Die stimmlich getragene Sprache, der schriftlich getragene Text und die körperlich getragene Gestik Philomelas haben in dieser Episode immer wieder Wahrheit produziert: die Sprache, als sie Tereus seinen Betrug vorwirft, der Text, als sie ihre Schwester informiert, die Geste, als sie dem unverständigen Tereus den Kopf des Itys ins Gesicht wirft. Die Wahrheit hat hier aber niemanden frei gemacht. Tereus und Procne beantworten Wahrheit immer mit Gewalt, um an der Einsinnigkeit ihres Weltbildes festzuhalten. Philomela selbst ist nicht mehr in der Lage, mit den Göttern zu kommunizieren, wie sie es einmal angekündigt hatte, und wird erst von ihrem Schwager, dann von ihrer Schwester einer unvollständigen, aber knebelnden Metamorphose unterworfen. Tereus und Procne sind selbst als artifices, als listige Ränkeschmiede, nicht in der Lage, sich wirklich geschmeidig auf sich wandelnde Gegebenheiten einzulassen. Ihre Listen münden in Lügen, die mit Gewalt verteidigt werden. Damit funktionieren sie als Ideologien – der ungeschmeidigsten und autoritärsten Form, mit Sprache Wirklichkeit zu beschreiben. Der ovidische Mensch situiert sich durch seine Sprache in der Welt, er schafft sich die Welt nicht: Die Welt ist kein Text. Sprechakte sind teilhabende Gesten.172 Dies ist gut römisch gedacht. In der Aeneis steht Jupiter unter den fata, in den Metamorphosen agiert er ordnungsstiftend in einer sich wandelnden Natur, kann aber ihren Wandel nicht beherrschen. Jupiter hat teil an der Natur. Ebenso haben die Menschen mit ihren Gesten und Sprechakten teil an der Natur, die Natur ist, wie Anthony Corbeill für das römische Religionsverständnis allgemein ausgesagt hat, nicht etwas Übermenschliches, sondern etwas Mehr-als-Menschliches.173 Der älteste Beleg von Gestus in der lateinischen Sprache beschreibt ein Täuschungsmanöver in einer Komödie des Terenz.174 Gesten, körperliche oder sprachliche, bilden weniger Wirklichkeit ab, als dass sie manipulativ in die Welt eingreifen. Die Ausübung der römischen Religion erscheint dem modernen Betrachter oft als listig, wenn er die Manipulationen der Magistrate mit einem modernen Konzept demütigen Glaubens betrachtet. Wenn man aber bedenkt, dass Gesten Teilhabe an den Prozessen der Natur sind, dann beschreibt „Manipulation“ das Wesen kultischen Handelns bei den Römern. In einer Episode bei Plinius d. Ä. (nat. 28. 15f.)175 zeigt sich in besonderer Weise die manipulative Macht der Stimme. Als bei den Bauvorbereitungen für einen 172
Corbeill (2004) S. 31. Corbeill (2004) S. 39: „Everything that is natural is divine; in other words, everything natural is supernatural – a paradox to us but not to the Romans. Yet (…) there is a difference between the supernatural and the more-than-human. The former – ‚supernatural‘ – implies mysticism, whereas the latter – ‚more-than-human‘ – confesses to an awareness that nature includes the non-human in its workings.“ 174 Corbeill (2004) S. 18 mit Anm. 23 zu Ter. Phorm. 890: nunc gestu’ mihi uoltusque est capiundus nouos. 175 Bei Corbeill (2004) S. 30.
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Tempel auf dem späteren Capitol ein menschlicher Kopf ausgegraben wird, schicken die Römer eine Gesandtschaft zu dem etruskischen Seher Olenus um eine Expertise. Dieser zeichnet auf dem Boden einen Grundriss des Tempels und fragt die Römer: hoc ergo dicitis, Romani? Hic templum Iouis optimi maximi futurum est, hic caput inuenimus? Die Römer erkennen, dass der Seher mit seinem Sprechakt das Vorzeichen, dass die Vorherrschaft der Gemeinde, in der das caput gefunden wurde, bedeuten würde, nach Etrurien verlegen will (er zeigt ja auf etrurischen Boden). Die Römer präzisieren daher: non plane hic sed Romae inuentum caput dicimus. Corbeill zeigt an dieser Episode das Zusammengreifen von Sprach- und Körpergeste. Wichtiger aber ist, dass Sprache und Gestik hier teilhaben an der Konstruktion der Wirklichkeit. Zwar beziehen sich die Römer in ihrer Klarstellung auf das prodigium, so wie es wirklich stattgefunden hat; aber der Sprechakt und die Gestik selbst sind in der Lage, die Wirklichkeit zu verändern. Dafür ist aber eine schnelle und kompetente Handhabung der Sprache nötig. Sprache (i.e. Sprache-im-Vollzug = Stimme, s.u.) ist listig und wahrhaftig zugleich. Sie unterläuft Wahrheiten und schafft sie. In dieser Auffassung ist sie trotz ihrer Empfänglichkeit für Manipulationen niemals verzichtbar für den Menschen, sondern eben Hauptinstrument, um an der Natur teilzuhaben. Es ist nun deutlich geworden, was die Listen des Tereus und des Odysseus unterscheidet: Die Listen des Tereus zielen auf ein Ende der Kommunikation, seine Intrigen zerstören die menschliche Ordnung. Die Glossotomie ist ein perverses Strategem, weil sie Vertuschung durch Gewalt an der Stimme vollzieht und somit ein absurdes Mischwesen aus uis und dolus darstellt. Gleichzeitig ist auch die passive Listkompetenz der dramatis personae negativ konnotiert; sie rechnen nicht mit der Mehrdeutigkeit von Verhalten und werden deshalb zu stummen Opfern. Odysseus dagegen agiert in einer mehrdeutigen Welt und erwartet von seinen Widersachern, dass sie sich in einer solchen situieren. Kommunikation ist in seinen Augen ein risikoreiches Unterfangen, in dem aber der Mensch dem Menschen prinzipiell gleichberechtigt gegenübertritt – anders als der Mensch, der Opfer eines listigen Gottes wird. Die Ordnungen, auf die Odysseus sein Verhalten bezieht, sind dabei die ganz konventionellen des augusteischen Kriegers, wie ihn schon Livius gezeichnet hat: der Krieg mit seinen taktischen Strategemen und dem consilium des Feldherren, das die Gewalt der Kombattanten ordnet und sich ihr nicht unterordnet. Ovid stellt diesen autonomen Helden, der auf der Verantwortung der Menschen für ihren Erfolg in der Welt beharrt, ausdrücklich gegen den vergilischen Aeneas. Denn Odysseus beansprucht die Waffen des Achilles, weil er versteht, was darauf abgebildet ist (der Kosmos), Ajax dagegen verlangt Waffen, die er nicht versteht (13, 295: postulat, ut capiat, quae non intellegit, arma).176 Die Haltung des Ajax ist genau die des vergilischen Aeneas, der den Schild und damit das fatum Roms auf 176
Altieri (1995) S. 260.
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sich nimmt, ohne dessen Botschaft zu verstehen.177 Die labores des Odysseus dagegen liegen gerade darin, die fata zu überwinden, nicht sich ihnen passiv zu fügen (13, 373f.): iam labor in fine est: obstantia fata remoui/ altaque posse capi faciendo Pergama cepi.178 6.10 Gewalt und Ordnung, List und Wandel Nun haben Horckheimer und Adorno den Odysseus auch als einen bürgerlichen homo oeconomicus gezeichnet, der durch das listige Besiegen mythischer Wesen der Natur für den Menschen Terrain abringt.179 Bereits in der Einleitung wurde darauf hingewiesen, dass es zu weit führen würde, sich mit der sehr zeitgebundenen Interpretation der „Dialektik der Aufklärung“ hier im Ganzen auseinander zu setzen, aber es bleibt doch die Frage, wie Ovid eigentlich ordnungsstiftendes Handeln bewertet. Im Dualismus Ajax – Odysseus wird der Konflikt von consilium und uis eindeutig zugunsten des Listigen entschieden, auch wenn dieser beide Tugenden für sich in Anspruch nimmt;180 der Dualismus Tereus – Odysseus (angedeutet in dem Dualismus Thraker – Grieche) unterscheidet zwischen guter und schlechter List. Aber Odysseus erscheint in den Metamorphosen eigentlich nicht als Kulturheroe, er „reitet“ die Natur, er verändert sie nicht. Ordnung entsteht aber nicht durch Listen, sondern durch ordnende Gesten. Es bleibt deshalb noch die Frage zu klären, wie im Text der Metamorphosen eigentlich mit 177
Aen. 8, 730: rerumque ignarus imagine gaudet. David A. West, Cernere erat: The Shield of Aeneas, in: Harrison (1990), S. 295 – 304, 304. 178 Dass dieses Entfernen der fata kein Verstoß gegen das fatum ist, wurde oben bereits gesagt: Odysseus hatte eben durch den Diebstahl des Palladiums möglich gemacht, was eine deterministische Lesart der fata ausgeschlossen hätte, die besagen, dass ohne das Palladium Troja nicht eingenommen werden könne. So wie der vergilische Jupiter die Metamorphose in seinen Determinismus integriert, so integriert Ovid die fata in seinen aleatorischen Transformismus („Chaostheorie“). 179 Horckheimer/ Adorno (1988) S. 50 – 87, z.B. S. 67: „Denn das Recht der mythischen Figuren, als das des Stärkeren, lebt bloß von der Unerfüllbarkeit ihrer Satzung. Geschieht dieser Genüge, so ist es um die Mythen (…) geschehen. Seit der glücklich-mißglückten Begegnung des Odysseus mit den Sirenen sind alle Lieder erkrankt, und die gesamte abendländische Musik laboriert an dem Widersinn von Gesang in der Zivilisation, der doch zugleich wieder die bewegende Kraft aller Kunstmusik abgibt.“ Das heißt m. E. nichts anderes, als dass Horckheimer und Adorno das listige Besiegen der mythischen Kräfte durch Odysseus als ein Rationalisieren verstehen, das sie zwar kritisch bewerten, das aber dennoch auch als Kulturleistung beschreibbar ist. 180 13, 205f.: longa referre mora est, quae consilioque manuque/ utiliter feci spatiosi tempore belli; aber: 13, 368f.: nec non in corpore nostro/ pectora sunt potiora manu, uigor omnis in illis. Auch das Résumé weist auf den Sieg der facundia (13, 382f.): Mota manus procerum est, et, quid facundia posset/ re patuit, fortisque uiri tulit arma disertus. Der beredte Odysseus erhält die Waffen des tapferen Achill. Vgl. Anderson (1963) S. 21 – 23; Anderson sieht allerdings die Sache des Odysseus in eher negativem Licht.
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dem Thema List bei den Kulturstiftern umgegangen wird. Dafür werden exemplarisch Hercules und Aeneas untersucht. 6.11 Hercules: Der offensive Herrscher Auch Hercules wird in den Metamorphosen aus dem Blickwinkel erotischer Episoden betrachtet; seine Arbeiten für Eurystheus werden nicht erzählt, bilden aber doch auch hier den zentralen Aspekt seiner Identität. Als Hercules vom Gift des Nessusgewandes gemartert wird, spricht er Juno direkt an und argumentiert mit den geleisteten Arbeiten, die selbst die erzürnte Stiefmutter wenigstens so weit erweichen müssen, um ihn mit dem Tode von seinen Qualen zu erlösen (9, 176 – 204).181 Wirklich ausführlich aber erzählt Ovid im neunten Buch der Metamorphosen von der Liebesgeschichte von Hercules und Deianira.182 Der erste Teil der Erzählung wird dabei an den Fluss Achelous delegiert, der seinem Zuhörer Theseus als letzte von mehreren Geschichten erzählt, wie er eines seiner beiden Hörner eingebüßt hatte. Wie Hercules hat Acheolus nämlich die schöne Deianira begehrt und verspottete den Gegner: Als Gott sei er bedeutender als ein Sterblicher, als Herr der Wasser (seines Flusses) sei er ein Einheimischer; Hercules dagegen werde vom Hass der Juno verfolgt und habe seine Kindschaft zu Jupiter entweder erfunden oder müsse als Bastard betrachtet werden. Hercules bemüht in seiner knappen Antwort den Dualismus von uirtus und facundia (9, 29f.): (…) melior mihi dextera lingua! dummodo pugnando superem, tu uince loquendo. Dieser Dualismus ist dem von dolus und uirtus eng verwandt. Tatsächlich ist das zugrunde liegende Begriffspaar das von ars und uirtus, wobei die beiden Begriffe jeweils durch andere Konkreta mit möglicherweise eindeutiger negativen oder positiven Konnotationen ersetzt werden können. Die Rhetorik hat sowohl von ihrem Selbstverständnis als auch in der Kritik einen Bezug zur List; die gesamte Rhetorisierung der Liebeselegie durch Ovid und der Bezug der Ars amatoria zur ars oratoria sind eine der Quellen für das strate181
Mit denselben labores empfiehlt sich Hercules auch der Deianira 9, 14f. Galinsky (1972a) S. 94 – 98; Margit Petersmann, Die Apotheosen in den Metamorphosen Ovids, Graz (Diss.) 1976, S. 35 – 41; Schmitzer (1990) S. 172. Alle drei sehen hierin eine parodistische Reinszenierung des Kampfes von Aeneas und Turnus um Lavinia. Das mag sein; aber im Folgenden wird die Gestalt doch ernst genommen. Ovids Thema in den Metamorphosen ist die Liebe (Wilkinson [1955] S. 206); der Dichter vereinnahmt auch andere „ernste“ Stoffe für dieses Thema. Dies immer wieder mit Parodie zu erklären, greift m. E. zu kurz. 182
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gemische Denken der Liebenden in der augusteischen Literatur. Die Rhetorik hat gerade in Rom deshalb auch immer in der Kritik gestanden. In seiner Rede pro Murena greift Cicero diese Problematik in klassischer Weise auf (Mur. 14, 30): Duae sint artes igitur quae possint locare homines in amplissimo gradu dignitatis, una imperatoris, altera oratoris boni. Ab hoc enim pacis ornamenta retinentur, ab illo belli pericula repelluntur. Ceterae tamen uirtutes ipsae per se multum ualent, iustitia, fides, pudor, temperantia (…). Sed nunc de studiis ad honorem appositis, non de insita cuiusque uirtute disputo. Cicero bezeichnet hier Rhetorik und Strategie als Künste, die er von den uirtutes unterscheidet, weil er hier nur angeborene Tugenden als uirtus bezeichnet. Dennoch unterscheiden sich Feldherr und Redner dadurch, dass der eine uis anwendet, der andere sapientia (Mur. 14, 30): Omnia ista nobis studia de manibus excutiuntur, simul atque aliqui motus nouus bellicum canere coepit. Etenim, ut ait ingeniosus poeta at auctor ualde bonus, ‚proeliis promulgatis pellitur e medio‘ non solum ista uestra uerbosa simulatio prudentiae sed etiam ipsa illa domina rerum ‚sapientia; ui geritur res, spernitur orator‘ non solum odiosus in dicendo ac loquax uerum etiam ‚bonus; horridus miles amatur,‘ uestrum uero studium totum iacet. ‚Non ex iure manum consertum sed mage ferro‘ inquit, ‚rem repetunt.‘ Quod si ita est, cedat, opinor, Sulpici, forum castris, otium militiae, stilus gladio, umbra soli; sit denique in ciuitate ea prima res propter quam ipsa est ciuitas omnium princeps. Cicero ordnet die Künste des Friedens und damit die der Rhetorik und des Rechts183 der sapientia zu, wogegen der Soldat horridus ist; Cicero nimmt beim Redner einige Präzisierungen vor („Ennius meint nicht nur den geschwätzigen Redner, sondern auch den guten“),184 denn er versucht, zwi183
Es geht auch bei dem hier zitierten Ennius um den Konstrast von „war and legal argument“ (Otto Skutsch [Hg.], The Annals of Ennius. Edited with introduction and commentary by Otto Skutsch, Oxford 1985 [ND 2004], S. 430). Recht und Rhetorik sind bei ihm aber nicht in zwei Bereiche getrennt (der Politiker lässt sich in Rom ja vom Juristen beraten und argumentiert dann auch juristisch); vgl. auch Liv. 10, 22, 6f. Der gesamte ennianische Text mit einigen Erl. bei Gellius 20, 10: pellitur e medio sapientia, ui geritur res, spernitur orator bonus, horridus miles amatur. Haut doctis dictis certantes nec maledictis miscent inter sese inimicitiam agitantes, non ex iure manum consertum, sed magis ferro rem repetunt regnumque petunt, uadunt solida ui. Joachim Adamietz, Marcus Tullius Cicero. Pro Murena. Mit einem Kommentar, Darmstadt 1989, S. 152; frg. 262 – 268 Warmington; frg. 247 – 253 Skutsch. 184 „Die eigene Profession bezieht Cicero ebenfalls in den Spott ein, indem er den Begriff orator bonus (der bei Ennius wohl den Staatsgesandten [nach außen] bzw. den Verkünder guten Rates [nach innen] bedeutete; Neuhauser 125 – 128) auf die berufliche Qualität
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schen den beiden in seinen Augen gleichwertigen Helden der ciuitas, dem Feldherrn und dem Redner, eine dritte Gruppe zu etablieren, nämlich die Juristen, denen er eine reine simulatio prudentiae vorwirft (Mur. 13, 29): Vt aiunt in Graecis artificibus eos auloedos esse qui citharoedi fieri non potuerint, sic nos uidemus, qui oratores euadere non potuerint, eos ad iuris studium deuenire. Diese Konstruktion ist künstlich und der konkreten Verteidigung geschuldet, weil der angesehene Jurist Servius den wenig bedeutenden Militär Murena als weniger geeignet für den Konsulat bezeichnet hatte.185 Anders drückt Cicero das Mur. 10, 22 aus: omnes urbanae res, omnia haec nostra praeclara studia et haec forensis laus et industria latet in tutela ac praesidio bellicae uirtutis. Simul atque increpuit suspicio tumultus, artes ilico nostrae conticiscunt. Hier ist der Dualismus ganz klar einer von uirtus des Feldherrn und ars aller übrigen Betätigungen für den Staat.186 Es zeigt sich aber bei der Argumentation des Cicero, dass der Dualismus Redner/Jurist – Militär (und damit uis – facundia), der schon bei Ennius angelegt ist, in der Tat etwas mit dem Dualismus von ars und uis zu tun hat, wobei ars und dolus rasch verwechselbar werden: Die Juristen, die bei Cicero von den Rhetoren abgesetzt sind, werden von ihm sogleich mit dem Vorwurf der simulatio bedacht. Das Wortfeld der List ist der natürliche Widerpart des Wortfeldes uis und uirtus187 und erscheint für Cicero im Dualismus Redner – Feldherr sofort als eine Semantik, die sich anbietet und die er erst für seine Zwecke bändigen muss.188 bezieht und einen Gegensatz zwischen dem widerwärtigen und geschwätzigen Redner und dem guten herstellt.“ Adamietz (1989) S. 152f. (er zitiert: Walter Neuhauser, Patronus und Orator. Eine Geschichte der Begriffe von ihren Anfängen bis in die Augusteische Zeit, Innsbruck 1958, von mir nicht eingesehen). Es ist Cicero zuzutrauen, dass er auch über seine eigenen Profession lacht, da er in der Tat an anderer Stelle (Mur. 10, 22, s. im Haupttext) alle artes gegenüber der des Feldherrn abwertet; aber ich kann an dieser Stelle keine Selbstironie erkennen. 185 „Ciceros Argumentation im Hinblick auf die drei artes ist durchaus von der Prozesssituation bestimmt. Dies gilt vor allem für die Bewertung der Jurisprudenz. Seit der Jugend suchte er sich mit dem römischen Rechtswesen vertraut zu machen, vertrat im Gegensatz zur gängigen Praxis die Notwendigkeit der Rechtskenntnis für den Redner (…).“ Adamietz (1989) S. 122. 186 Ganz genauso auch Liv. 10, 22, 6f. 187 Dazu ausführlich oben zu Tereus mit weiterf. Lit., namentlich Abbot (1997). Auch Abbot (2000) S. 59f. Wheeler (1988) S. 108. 188 Dies mag auch den Ausdruck verba dare für überlisten erklären, der uns in dieser Arbeit allerdings kaum begegnet ist, gebräuchlich ist er wohl eher in der Literatur der Republik, vgl. bei Claudius Quadrigarius FRH 14, 4 (= Gell. 17, 2, 24): Cominius qua ascenderat,
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Im Streit von Odysseus und Ajax erscheint die Beredsamkeit als positive Überlegenheit des listigen Sprechers, die uirtus als tumbe Gewalt;189 die Knappheit der Antwort des Hercules aber ist sinnfälliger Verzicht auf eine ausgefeilte Antwort. Der Ersatz der List durch Gewalt kündigt sich an und diesmal wird die List unterliegen. Achelous schämt sich, als bloßer Großsprecher gelten zu müssen (9, 31f.: puduit modo magna locutum/ cedere), und tritt in den Kampf ein.190 Der Kampf trägt zunächst Züge einer pugna iusta, d.h. die beiden Gegner treten in direkter Linie gegeneinander an und messen ihre Körperkraft.191 Nach mehreren Anläufen überwindet Hercules den Achelous und drückt ihn mit seiner Körperkraft in den Sand. Mit großer Offenheit (9, 55f.: siqua fides neque ficta mihi nunc gloria uoce/ quaeritur) bekennt Achelous seine Unterlegenheit und sein Umgreifen von uirtus zu ars (9, 62f.: inferior uirtute meas deuertor ad artes/ elaborque uiro longum formatus in anguem). Die Metamorphose des Flusses in eine Schlange wird hier eindeutig als eine List gekennzeichnet, die ars des Flusses ist Gegenkonzept zum offenen Kampf und damit dolus.192 Hercules reagiert ähnlich (wenn auch aus der Position des Siegers heraus und deshalb deutlich gelassener) auf diese Metamorphose wie Turnus auf die der Schiffe; in beiden Fällen empfinden die Kämpfer die Verwandlung als eine Form des Foulspiels, auf die sie mit der Betonung ihrer kriegerischen uirtus reagieren (9, 66 – 76): risit et inludens nostras Tirynthius artes ‚cunarum labor est angues superare mearum‘ descendit atque uerba Gallis dedit. Ovid hat den Ausdruck trist. 2, 500 ausgerechnet, als er den Mimus darstellt. 189 Andrae (2003) S. 247: „Während er [i.e. Ajax F.W.] sich selbst eher als einen Mann der Tat (manu pugnare, arma, facere) charakterisiert, hält er Odysseus für einen Mann des Wortes (loqui, dicere), genauer gesagt: des erfundenen Wortes, der Fiktion (fictis verbis).“ Für Andrae spielt dieser Aspekt der Fiktion eine größere Rolle, weil sie die Auseinandersetzung zwischen Ajax und Odysseus (mit Recht) als eine poetologische zwischen dem Stil des Vergil und des Ovid begreift. Dieser Aspekt wird hier nicht zentral betrachtet (vgl. aber unten Ajax und der Schild). 190 Doblhofer (1960) S. 73: „Dasselbe naiv-selbstbewußte Pochen auf ein recht schwach begründetes Selbstbewusstsein, denselben Ton überheblicher und zudringlicher Vertraulichkeit hatte schon Horaz sat. I 9, 7 seinem Schwätzer in den Mund gelegt: ‚Noris nos‘, inquit, ‚docti sumus‘; bezeichnenderweise freilich in den Satiren. Ihn in die erhabenere Sphäre des Epos unter wohlgelungener Modifikation epischer Überlieferung einzuführen, bleibt Ovid vorbehalten.“ Anders ausgedrückt: Ovid zeigt gleich zu Beginn, dass diesmal die Gewalt positiv, die Redegabe negativ konnotiert ist. 191 Nichts anderes drückt das Bild aus, nach dem die beiden Kämpfer wie zwei Stiere gegeneinander rennen (9, 46): non aliter uidi fortes concurrere tauros. 192 Schmidt (1994) S. 14: „Götter verwandeln sich in der Regel, um Menschen auf die Probe zu stellen, zu versuchen, zu täuschen oder zu verführen. (…) Als wieder rückgängig zu machende haben die Götterverwandlungen oft den Charakter von täuschender Verkleidung und falschem Schein.“ Schmidt reduziert die Verwandlung zu sehr auf die Täuschung, ansonsten ist die Beobachtung korrekt.
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dixit, ,et ut uincas alios, Acheloe, dracones, pars quota Lernaeae serpens eris unus echidnae? uulneribus fecunda suis erat illa nec ullum de comitum numero caput est inpune recisum quin gemino ceruix herede ualentior esset. hanc ego ramosam natis e caede colubris crescentemque malo domui domitamque reclusi. quid fore te credis, falsum qui uersus in anguem arma aliena moues, quem forma precaria celat?‘ Hercules vergleicht den in eine Schlange verwandelten Flussgott nicht nur mit der viel größeren und vielköpfigen lernäischen Hydra, sondern er wertet die Stärke der falschen Schlange per se ab. Die täuschende Metamorphose des Flussgottes ist mit der echten Natur nicht zu vergleichen. Dieser Aspekt ist neu in der Darstellung eines mit einem sich transformierenden Wasserwesen kämpfenden Helden. Dass dieser Kampf etwas mit der List der Natur zu tun hat, wurde bereits deutlich gemacht. Detienne und Vernant situieren ihn innerhalb einer Reihe ganz ähnlich gelagerter Kämpfe: Thetis gegen Peleus, Menalaos gegen Proteus, Herakles gegen Nereus und gegen Periclymenus, den Sohn des Neleus.193 Das mythische Szenario ist, wie sie betonen, immer das selbe: Alle diese Meeresgottheiten haben die Gabe der Polymorphie, eine geriebene Intelligenz und ein Orakelwissen gemeinsam. Für die Gegner heiße es immer, sich eines listigen Wesens durch List zu bemeistern, die List werde ausgetrickst.194 Ovid hat diesen Aspekt der List, die gegen die List 193
Menelaos und Proteus: Hom. Od. 4, 349 – 570; Verg. georg. 387 – 452 (die Geschichte ist analog zu der des Menelaos gestaltet, der Bezwinger des Gottes freilich ist Aristaeus. Vergil zitiert die Geschichte in ecl. 6, dort wird der „Anschlag“ des Hirten und der Nymphe auf Silen als List [dolus] bezeichnet, s.o.). Peleus und Thetis: Pind. Nem. 3, 35f. und 4, 62 – 65. Dies sind nur Anspielungen, zum Verhältnis List – Gewalt bei der Bemächtigung der Thetis lässt sich dort wenig sagen; in Ov. met. 11, 235 – 265 aber ist Peleus wie Menelaos in der Odyssee und Herakles gegen Periclymenos im Frauenkatalog (Hes. Cat. fr. 33 – 35 Merkelbach/ West) auf göttliche Hilfe angewiesen, die mehr oder minder deutlich als List firmiert (bei Hesiod hilft das Metiskind Athene dem Herakles). Herakles und Nereus: Bacchyl. dith. 17 (laut Hanfmann et al. – aber wo? Es handelt sich dort um Theseus) und Pherec. FGrH 3 F 16a: Auch in diesem kurzen Fragment ist nur von Gewalt die Rede, aber es ist ebenfalls nicht aussagekräftig. Zu den Quellen (neben Detienne/ Vernant [1974] S. 110 Anm. 14): George M. A. Hanfmann u.a., Nereus, in: Simon Hornblower/ Anthony Spawforth (Hgg.), The Oxford Classical Dictionary, Oxford 3 2003, S. 1036f.; Jan Stenger, Peleus, in: DNP 9 (2000), Sp. 492f. Außerdem gibt es noch den ebenso gelagerten Kampf zwischen Herakles und Triton (Annemarie Ambühl, Proteus, in: DNP 10 [2001], Sp. 460f., 460), dazu existieren aber keine literarischen sondern nur bildliche Quellen: K. W. Arafat, Art. Triton, in: Hornblower/ Spawforth (2003), S. 1553. 194 Detienne/ Vernant (1974) S. 107 – 110.
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gesetzt wird, hier aber stark marginalisiert und eben die Gewalt des Hercules betont. Proteus wird in der homerischen Fassung der Geschichte von seiner eigenen Tochter hintergangen. Menelaos weiß nicht, wie er die Insel Pharos verlassen kann, und möchte den Meergreis dazu befragen. Dieser lässt sich – wie alle Meergreise – aber nicht freiwillig auf eine solches Gespräch ein. Die Proteustochter Eidothea verrät dem Menelaos eine List: Er solle sich mit drei seiner Gefährten als Robben verkleidet an den Strand legen. Wenn der Meergreis an Land komme, um sich zu seinen Robben zu legen, sollten sie ihn mit Gewalt bezwingen. Proteus werde sich in immer neue Gestalten verwandeln, dürfe aber nicht losgelassen werden. Menelaos hält den Greis so lange umschlungen, bis dieser in seine eigentliche Gestalt zurückfindet und aufgibt. In dieser Geschichte ist der Dualismus von List und Gewalt eben so eingefangen, wie der Gedanke sich bereits andeutet, dass die Verwandlungen schwächer sind als das eigentliche Lebewesen, das die Metamorphose hier nur nachstellt (einen Löwen [Od. 4, 456] kann man wohl kaum festhalten, es sei denn, er ist nur Mummenschanz). Dennoch liegt der Schwerpunkt des Kampfes noch auf der puren körperlichen Gewalt, mit der Menelaos die Transformationen des Proteus bannt; anders als Hephaist im Lied des Demodokos (Od. 8, 266 – 366) verwendet der Held kein Netz – die klassische „List“ des Jägers gegen Fische oder Wildtiere,195 die sich durch Kraft oder Schnelligkeit entziehen. In den Georgica wendet Aristaeus in einer sonst eng an der homerischen Proteusgeschichte196 orientierten Erzählung Gewalt und Netze an (georg. 4, 399: uim duram et uincula), während ein indirektes Zitat in den Bucolica die Gewalt ganz aus der Geschichte schreibt (Silen wird von zwei Hirtenjungen mit Blumenkränzen gefesselt, eine List, über die der Alte nur lachen kann [ecl. 6, 23]: ille dolum ridens ‚quo uincula nectitis‘ inquit).197 Der ovidische Hercules dagegen hat den Konflikt mit Achelous offen begonnen (er musste sich nicht heranpirschen wie Menelaos, da es sich um eine offene Auseinandersetzung um Deianira handelte) und beantwortet die 195
Od. 8, 276 wird das Netz als dolos bezeichnet. „In this section [4, 387 – 515 F.W.] and in the next (425 – 52), though the characters and situation are changed to suit the new context, V. adapts a poetic model as closely as anywhere in his corpus. Cyrene’s instructions, and Aristaeus’ execution of them, are based closely on the famous incident from Hom. Od. 4, 351 – 570 (…). Ovid has an amusing and net reversal of the incident at M. 11.229 – 65, where the mortal Peleus, with advice from the god Proteus, captures the nymph Thetis.“ Richard F. Thomas, Georgics. Volume 2. Books III – IV, Cambridge 1988, S. 216f. 197 Verf. hat sich mit den Bezügen der Eklogenstelle zu Homers Odyssee gründlicher auseinander gesetzt in: Wittchow (2005b) S. 105f. Eine Verwirrung ist dort mit dem Motiv des Netzes entstanden, natürlich benutzt der homer. Menelaos kein Netz, sondern der (dort nicht erwähnte) verg. Aristaeus. Eben durch die Bezeichnung der Fesseln als dolus bezieht sich die Eklogenstelle ja auch auf das Lied des Demodokos, in dem das Netz als List bezeichnet wird. 196
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Metamorphosen mit Gewalt. Indem Hercules uis als Entscheidungsgrundlage aufrechterhält und die List erkennt und verlacht, wird diese sofort in ihrer Defizienz erkennbar. List ist ein Mittel gegen Gewalt, sie agiert aus einer Position der körperlichen Schwäche heraus. Hercules lässt sich von der Maskerade des Gottes nicht verwirren, sondern konzentriert sich auf das, was er bereits herausgefunden hat: dass ihm der Gott körperlich unterlegen ist. Damit verpufft die ars des Gottes nutzlos. Im anschließenden Kampf besiegt Hercules den Fluss und raubt ihm auch noch eines seiner Hörner. Er hat damit in der Natur eine Spur hinterlassen, genauso wie seine Arbeiten Kultur an die Stelle von Natur setzen. Hercules passt sich der Natur nicht an, er drückt ihr mit Macht seinen Stempel auf. Gleichzeitig wird deutlich, dass Ordnung nicht aus der Natur abgeleitet ist, sondern ihr aufgezwungen wird. Es ist ein gewaltsamer Prozess. Tatsächlich unterscheiden sich Odysseus und Hercules darin, dass Odysseus sich geschickt innerhalb der Natur auf der einen und der sozialen und politischen Ordnung auf der anderen Seite bewegt. Odysseus verkörpert Orientierungswissen. Herakles dagegen ist früh das Sinnbild des Herrschers geworden und lange geblieben,198 weil er mit Gewalt oder mit Macht (der Androhung von Gewalt)199 Ordnungen schafft. Odysseus hat Macht innerhalb der Verhältnisse, Herakles über die Verhältnisse.200 Ovids Weltbild schließt diese ordnungsstiftende Macht gerade nicht aus; er zeigt sie aber, analog zu seinem Konzept einer wandelbaren und dadurch listig-elusiven Natur, als einen Sieg der Gewalt über die List. Die Geschichte von Hercules und Deianira ist auch eine Umkehrung der klassischen erotischen Metamorphosenerzählung. Apollo verliert Daphne an eine Metamorphose, Hercules ringt seine Geliebte einer transformierenden Umwelt ab. Der Sieg des Hercules steht auch zunächst deutlich als Endpunkt dieser Episode; Achelous beendet seine Erzählung und die Jünglinge um Theseus setzten ihre Reise fort, die sie unterbrochen hatten, weil Achelous selbst sie gewarnt hatte, seinen angeschwollenen Strom zu überqueren (8, 547 – 559): 198
Abraham J. Malherbe, Art. Herakles, in: RAC 14 (1988), Sp. 559 – 583. Dass Herakles Bezugspunkt für den Herrscher war, wird allein schon durch Senecas Apocolocyntosis deutlich, allerdings blieb Herakles bis zu den Reden des Dio Chrysostomus an Trajan hinter Romulus als imperiales Vorbild zurück (Malherbe [1988] Sp. 566). Vgl. auch Pierre Hadot, Art. Fürstenspiegel, in: RAC 8 (1972), Sp. 555 – 632, 597 – 600. Allgemein: Karl Galinsky, The Herakles Theme. The Adaptions of the Hero in Literature from Homer to the Twentieth Century, Oxford 1972. Zu Hercules und Augustus vgl. Eduard Norden, Ein Panegyricus auf Augustus in Vergils Aeneis, in RhM 54 (1899), S. 466 – 482, 473. Schmitzer (1990) S. 166 – 186. 199 Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 21988; S. 22f., 60ff. 200 Wir sagen dies hier in Abwandlung einer These von Christian Meier zu Julius Caesar, Die Ohnmacht des allmächtigen Dictators Caesar, Frankfurt am Main 1980; ders., Caesar, München 21988, S. 24f.
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interea Theseus sociati parte laboris functus Erechtheas Tritonidos ibat ad arces. clausit iter fecitque moras Achelous eunti imbre tumens. ,succede meis‘, ait, ,inclite, tectis Cecropida, nec te committe rapacibus undis. ferre trabes solidas obliquaque uoluere magno murmure saxa solent. uidi contermina ripae cum gregibus stabula alta trahi, nec fortibus illic profuit armentis nec equis uelocibus esse. multa quoque hic torrens niuibus de monte solutis corpora turbineo iuuenalia uertice mersit. tutior est requies, solito dum flumina currant limite, dum tenues capiat suus alueus undas.‘ Statt sich aber weiter die Wartezeit vom Flussgott vertreiben zu lassen, warten sie nun nicht mehr, bis die Fluten absinken (9, 93 – 97): Lux subit, et primo feriente cacumina sole discedunt iuuenes; neque enim, dum flumina pacem et placidos habeant lapsus totaeque residant opperiuntur, aquae. uultus Achelous agrestes et lacerum cornu mediis caput abdidit undis. Die Geschichte vom Sieg des Hercules über den Fluss wirkt unmittelbar als exemplum. Theseus und seine Männer unterwerfen sich nicht mehr den Gezeiten der Natur, sondern entscheiden sich für den Aufbruch. Sie tun es damit dem Hercules nach und bezwingen den Fluss.201 Ovid zeichnet den Sieg der Ordnung über die listige Natur als einen reinen Gewaltakt, während die List eine Antwort auf die Vielgestaltigkeit der Natur und ein Unterlaufen der Ordnung ist. Dennoch ist der Sieg der Gewalt über die List, der Sieg der Ordnung über die Vielgestaltigkeit, nur ein zeitlich begrenzter. Obwohl Ovid mit dem Ende der Erzählung des Achelous und der Reaktion der iuuenes einen deutlichen Schlusspunkt gesetzt hat und damit 201
Galinsky hat sich mehrfach zur Hercules-Episode geäußert. Für ihn (Galinsky [1972]) war der Kampf zwischen Hercules und Achelous zunächst ein Beispiel für einen Rückgriff des Dichters auf die komisch-burleske Tradition der Hercules-Gestalt. Später (Galinsky [1975] S. 247) hat er diese Sichtweise revidiert; dazu auch Andrae (2003) S. 21. Michael von Albrecht, Ovids Humor und die Einheit der Metamorphosen, in: von Albrecht/ Zinn (1968), S. 405 – 437, 414 und 432 hält den Anfang des neunten Buches (laut Galinsky [1972] S. 94 die Verse 9, 1 – 96, so speziell ist von Albrecht aber nicht) für ein heiteres Vorspiel, danach aber nimmt er einen ernsten Erzählton wahr; nun mag Ovid hier wie sonst Ironisierungen vornehmen, die Botschaft, dass an dieser Stelle Hercules durch seine Kraft der Überlegene, Achelous durch seine Großsprecherei der Unterlegene ist, scheint mir davon nicht beeinflusst zu sein.
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auch das Endgültige der heroischen Kulturleistung betont, wird doch jenseits dieses Abschlusses klar, dass eine solche Endgültigkeit zuerst narrative, dann aber auch weltanschauliche Fiktion ist. Die Geschichte wird als abgeschlossene erzählt; aber sie ist es nicht. Ovids Werk handelt nicht von Texten, sondern von lebendigen Stimmen; als der Gott sein Haupt in den Fluten versenkt, verschwindet seine Stimme aus der Geschichte, damit verliert er aber sofort die Kontrolle über das Erzählte und vor allem: das Erzählen, denn eine Stimme schafft kein Werk, kein corpus. Die Natur verändert sich, auch wenn sie nicht erzählt wird. Dies drückt der Wechsel vom delegierten Erzähler zum epischen Erzähler aus: Das weitere Schicksal des Hercules kann jeder und niemand erzählen, denn jeder und niemand, das ist der epische Erzähler. Er erzählt vom Ende der „Herrschaft“ des Hercules.202 Hercules fällt der List eines ungezähmten Mischwesens zum Opfer. Es ist wieder ein Fluss, der hier eine entscheidende Rolle spielt. Wie der Achelous, den Theseus und seine Männer erst nicht, dann ermuntert durch das Beispiel des Hercules endlich doch überqueren, ist der Euenus angestiegen und hat eine gefährliche Strömung (9, 103 – 106): namque noua repetens patrios cum coniuge muros uenerat Eueni rapidas Ioue natus ad undas. uberior solito nimbis hiemalibus auctus uerticibus frequens erat atque imperuius amnis. Hercules löst dieses Problem für sich selbst in bewährter Manier. Er durchquert den Fluss nicht da, wo er am ruhigsten ist, sondern stürzt sich unverdrossen in die Fluten.203 Sorge bereitet ihm nur seine Frau, die er dem Kentauren Nessus anvertraut. Dieser aber versucht Deianira, nachdem er sie übergesetzt hat, zu vergewaltigen. Herakles kommt noch rechtzeitig ans andere Ufer, um den Betrüger durch einen Pfeilschuss zu töten. Ovid hat diesen Teil der Geschichte sehr knapp zusammengefasst – dass Nessus auf dem Fluss Euenos als Fährmann arbeitet und deshalb im Gegensatz zu Hercules in der Lage ist, Deianira überzusetzen, erfährt der Leser nicht mehr204 –, dennoch ist seine Wortwahl bezeichnend. Ovid verwendet zwei Formulierungen, die er ganz ähnlich in der Ars amatoria verwendet hat. Der Raub des Nessus wird vom epischen Erzähler (9, 120) als fallere depositum bezeichnet. In der Ars amatoria hatte Ovid ausdrücklich das reddere
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Wir sprechen von der Herrschaft des Hercules, weil er Sinnbild des Herrschers ist. met. 9, 115 – 117: ‚quandoquidem coepi, superentur flumina‘ dixit/ nec dubitat nec, qua sit clementissimus amnis,/ quaerit et obsequio deferri spernit aquarum. 204 Alexandra Frey, Nessos, in: DNP 8 (2000), Sp. 860f., 861: „Von diesem Mythos gibt es sehr viele Variationen.“
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depositum als soziale Regel jenseits der Beziehungen von Mann und Frau aufgestellt (ars 1, 641f.): reddite depositum; pietas sua foedera seruet: fraus absit; uacuas caedis habete manus. Nessus greift hier zu einer verbotenen List. Aber auch Hercules wird kritisiert (9, 117): obsequio deferri spernit aquarum. Diese Formulierung korrespondiert mit dem zweiten Buch der Ars amatoria, in der Ovid sagt, man könne eine unwillige Geliebte nur durch geduldige Nachgiebigkeit gewinnen, er vergleicht diese Geschmeidigkeit des Liebenden mit der Kunst des Schwimmens (ars 2, 181f.): obsequio tranantur aquae, nec uincere possis flumina, si contra quam rapit unda nates.205 Ovid hat durch diese beiden Bezüge deutlich gemacht, dass Nessus einen hinterhältigen Betrug anzettelt und Hercules nicht in der Lage ist, sich dynamisch dem Unvorhergesehenen anzupassen. Bereits in der Tereus-Episode hatte er nicht nur den Vertrauensbruch kritisiert, sondern auch die Unfähigkeit der Menschen beklagt, Hinterlist zu erkennen und zu begegnen. So wie in der Einleitung zur Achelous-Hercules-Episode die facundia des Gottes zur Großsprecherei herabgewürdigt, die Stärke des Heroen zur uirtus aufgewertet wurde, signalisiert der epische Sprecher hier frühzeitig, dass Hercules diesmal mit seiner Kraft keinen Sieg erringen wird.206 Zwar tötet er Nessus, dieser aber wendet eine tückische, auf lange Zeit projektierte List an, indem er sterbend der Deianira weismacht, sie könne sein blutiges Gewand als Liebeszauber verwenden, wenn die Leidenschaft ihres Mannes abkühle.207 Die sich nun anschließende Tragödie, die mit der Marterung und Apotheose des Hercules endet, illustriert das Problem der herculischen Ordnung eindringlich: Sie hat nur eine begrenzte Reichweite. Dies wird sowohl durch die 205
Die Redensart, dass man nicht gegen den Strom schwimmen soll, ist vielleicht von Ovid in die lateinische Literatur eingeführt worden, vgl. zur Bedeutung und mit Hinweis auf die Parallelen bei Ovid selbst Janka (1997) S. 165. 206 Einen solchen Wechsel hat es möglicherweise auch im Kampf zwischen Herakles und Periklymenos gegeben, vgl. Johannes Haubold, Heracles in the Hesiodic Catalogue of Women, in: Richard Hunter (Hg.), The Hesiodic Catalogue of Women. Constructions and Reconstructions, Cambridge 2005, S. 85 – 98, 91: Bei Hesiod wird Herakles erst als der dargestellt, dem Athena und Apollo beistehen, nachdem er viel Leid durchgemacht hat, nach dem Sieg aber fokussiert Hesiod auf das Leid des Neleus. Das hat zwar mit der List nichts zu tun, zeigt aber, dass auch die hesiodeische Erzählung die Gewalt jeweils verschieden bewertet. 207 Auch dies wird mehr beim Leser vorausgesetzt, als es ihm erzählt wird (9, 131 – 133). Die zeitlich große Reichweite der List wird in 9, 134 (longa fuit medii mora temporis) deutlich.
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longa mora (kontrastierend) exemplifiziert, die die List des Nessus überwindet, als auch durch den Umstand, dass Hercules überhaupt keine Gelegenheit mehr hat, seine direkte Form der Gewalt anzuwenden. Er wird Opfer eines Gerüchts (fama), das der Deianira einredet, ihr Mann betrüge sie mit Iole. Die Eheleute treten aber nicht mehr in eine face-to-face-Kommunikation ein, sondern Deianira sendet Hercules aus einem einsamen Entschluss heraus das Nessusgewand. Sie übergibt es dem Lichas, der selbst nicht weiß, was er dem Hercules da weitergibt (9, 155 – 158): ignaroque Lichae, quid tradat, nescia luctus ipsa suos tradit blandisque miserrima uerbis dona det illa uiro, mandat. capit inscius heros induiturque umeris Lernaeae uirus echidnae. Lichas ist ignarus, Deianira nescia und Hercules inscius. Deutlicher kann Ovid nicht machen, dass das ganze herculeische System an Unwissenheit zugrunde geht, überlistet von einem längst gefallenen Gegner. Es ist das begrenzte Wissen des Hercules, das seine Ordnung endlich macht, während die im Mischwesen Nessus exemplifizierte vielgestaltige Natur immer wieder neue Listen ersinnt. Macht schafft Ressourcen und lange Dauer, List passt den Augenblick ab. Um diesen Augenblick zu erfassen, kann sie durchaus weit in die Zukunft planen. Wenn aber die Natur sich ständig wandelt, werden die Ressourcen der Macht prekär, während die List auf den Wechsel spekuliert. So obsiegt die longa mora der vorausschauenden List über die longue durée der Macht. Zusammenfassend lässt sich sagen, das Hercules auch bei Ovid eine positive Figur ist, die der tückischen Natur Ordnung abringt. Gleichzeitig aber macht er deutlich, dass Ordnung dennoch zeitlich begrenzt und für Veränderungen anfällig ist (eine bedeutende Umkehrung des Prinzips, nachdem die List schnell, die ressourcengestütze Macht von langer Dauer ist). Bisweilen wird Ovids Werk gegen allzu konsequente Interpretationen in Schutz genommen.208 Versuche, die Metamorphosen zu systematisieren oder ihren Sinn zu erfassen, werden zum Teil mit dem Hinweis relativiert, dass es gerade Sinn der Metamorphosen sei, sich einsinnigen Interpretationen zu entziehen. Das mag sein. Aber es hat sich doch gezeigt, dass Ovid das Verhältnis von Sprache – Gewalt und List – Ordnung konsequent durchführt. Anpassung und dynamische Sinnstiftung ist die erste Antwort auf eine sich im Wandel befindliche Welt. Ordnung kann nur durch Gewalt hergestellt werden, muss aber Veränderungen dynamisch angepasst werden. Die List erscheint als 208 Holzberg (1997) S. 156f.: „Es gibt eine umfangreiche Literatur zur Interpretation des Verwandlungsmotivs in Ovids Hexametergedicht. Aber alle bisherigen Versuche, die häufige Verwendung des Motivs durch den Dichter auf eine damit verbundene einheitliche Intention zurückzuführen, können nicht überzeugen.“
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zentrales Instrument des Menschen, um diese beiden Aufgaben zu leisten; deshalb wird der Dualismus von ars und uirtus insgesamt zugunsten Ersterer entschieden ohne dass Letztere desavouiert würde. Livius hatte die List als die „am wenigsten römische Kunst“ bezeichnet, musste ihr aber dennoch einen Platz einräumen. Für Ovid ist dolus eine lebensnotwendige ars. Dennoch muss er der Gewalt ihre Berechtigung zugestehen. Der Mensch kann nicht existieren, wenn er keine Ordnungen erzeugt. Listen, die Ordnungen ausschließen und zersetzen, sind bei ihm negativ konnotiert, Listen, die Ordnungen unterlaufen und dynamisieren, werden positiv beschrieben. Deshalb teilt Ovid die von Pythagoras geäußerte Meinung, dass politische Gemeinwesen aufsteigen und untergehen.209 6.12 Aeneas: Der Gründer auf der Flucht Ovid kann dem Augustus zum Abschluss ohne Gefahr eine lange Herrschaft wünschen und ihn den Julius Caesar so ablösen und übertreffen lassen, wie Jupiter den Saturn abgelöst hat:210 Eine ewige Dauer von Herrschaft wird damit nicht impliziert. Ewigkeit hat er nicht dem Augustus, sondern sich und seinem Werk zugedacht. Ordnungen sind endlich, aber Stimmen existieren, solange es Menschen gibt. Wie oben schon angemerkt, spricht Ovid von der pars melior mei, die sich nicht in einem Text, sondern im Akt des Lesens aufbewahrt: Die Stimme des Lesers wiederholt die Stimme des Erzählers. Man muss dies nicht als antiaugusteisch bezeichnen: „Ovid betreibt nicht Opposition, indem er ein zum Prinzipat alternatives politisches Konzept entwickelt – so etwas liegt außerhalb des in dieser Zeit Denkbaren – aber er stellt kaum verhüllt den Primat der Politik in Frage.“211 Vielleicht geht es aber auch nicht nur darum, dass Ovid der Literatur oder genauer: der Stimme des Lesers den Vorzug gibt vor der ordnenden Geste des princeps, sondern dass der Dichter hier die Überzeugung ausspricht, dass eine Ordnung nur von Dauer ist, wenn sie sich verändert. Damit unterscheidet er sich gar nicht grundsätzlich von einem Historiker wie Livius.212 Ovid, so 209
Auf die Diskussion, ob die Rede des Pythagoras der Schlüssel zu den Metamorphosen ist, möchte ich hier nicht eingehen. Auf jeden Fall passt die Rede des Philosophen in das übrige Konzept des Epos und widerspricht ihr nicht. Vgl. dazu auch Schmitzer (2006a) S. 53: „So gesehen, erfüllt die Pythagoras-Erzählung einen wichtigen Teil, aber eben doch nur Teil, im literarischen Gesamtkonzept der Metamorphosen.“ 210 15, 855 – 860. 211 Schmitzer (2001) S. 140. Zum Ende der Metamorphosen und zur Sphragis ebenda S. 137 – 140. Vgl. auch Holzberg (1997) S. 156; Gerlinde Bretzigheimer, Jupiter Tonans in Ovids Metamorphosen, in: Gymnasium 100 (1993), S. 19 – 74; Spahlinger (1996) S. 24. 212 „(…) the themes of metamorphosis and mobility were, after all, part of the very structure of Rome in Livy’s authoritative history, just as the ability of Rome to transform herself was a suitable theme for Ovid’s Metamorphoses.“ Emma Dench, Romulus’ Asylum.
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wurde es schon oft gesehen, liebte das Rom, in dem er lebte und das Augustus geschaffen hatte,213 aber er war sich bewusst, dass er einer nachgeborenen Generation angehörte, die Rom anders erlebte und anders beschrieb, ohne die Essenz, die melior pars Roms in Frage zu stellen.214 Das ändert aber nichts daran, dass diese Konzeption von Natur und Ordnung, von Stimme und Bedeutung, von Gewalt und List, von Determinismus und Metamorphose im Widerspruch zu einem teleologischen Fatumsdeterminismus steht. Die Implikationen dieser Frage, soweit sie für die List eine Rolle spielen, wurden am Eingang dieses Kapitels anhand der Schiffsmetamorphose bereits entwickelt. Aber eine letzte Frage bleibt doch noch offen: Wie geht Ovid mit diesem Aspekt bei Aeneas um? Es ist eine Sache, an Hercules als dem Prototyp des kultur- und ordnungsstiftenden Herrschers das Prekäre einer für die Dauer gedachten Ordnung zu exemplifizieren und den Starken zum Opfer des Listigen zu machen.215 Eine andere ist es, den vom fatum erwählten pius Aeneas Vergils in die Metamorphosen zu integrieren. Es wurde oben schon deutlich, dass Ovid den vergilischen Helden mit feinen Nadelstichen traktiert, wenn Odysseus Ajax’ unwissenden Gebrauch der Waffen verspottet, wenn Turnus und Aeneas als ebenbürtig beschrieben und Sichtweisen des Rutulers von der Stimme des epischen Erzählers geteilt werden. Diese im Grundsätzlichen schon öfter behandelte Frage soll hier aber nur auf das Thema der List enggeführt werden: Ist der ovidische Aeneas listig? Kann er in den Metamorphosen bestehen, wenn er es nicht ist? Vergil hatte die List bei Aeneas nicht negiert, aber von der Intentionalität entkoppelt und auf eine narrative Handlungslogik projiziert (Abbot), m. a. W., Aeneas handelt listig, es fehlt ihm aber die Intention (womit er nach der Auffassung bestimmter Theorien gar nicht listig handelt216). Diese Konzeption kann Ovid schlecht übernehmen, denn seine ganze Vorstellung vom Menschen, vom Ovidian man (Altieri) beruht doch auf der Vorstellung, dass der erfolgreiche Held aktive und passive Listkompetenz hat; er handelt nicht unabsichtlich listig. Er kann aber den Aeneas nicht so einfach scheitern lassen wie den Hercules, denn seine Mission ist durch das vergilische Epos kanonisiert worden und der Protagonist zudem von zu großer Bedeutung für Roman identities from the Age of Alexander to the Age of Hadrian, Oxford – New York 2005, S. 143. 213 Schmitzer (2001) S. 70 – 74. Karl Galinsky, Augustan Culture. An Interpretive Introduction, Princeton 1996, S. 126. 214 Zur Generationenfrage Lefèvre (1988). 215 Obwohl auch der Kampf des Hercules mit Achelous den von Aeneas und Turnus um Lavinia zitiert, s.o. und vgl. Schmitzer (1990) S. 171f. 216 Diese Frage wird in der Neuzeit besonders in der Evolutionstheorie diskutiert; etwa an der Frage, ob bestimmte Formen tierischer Mimikry eigentlich unter dem Aspekt der List zu fassen sind, wenn diese Tiere doch nicht intentional, sondern bestenfalls instinktiv handeln (bestimmte Täuschungen durch Fell oder Federn sind nicht einmal instinktgesteuert): Peter Sitte, Die „listenreiche“ Evolution: Täuschung bei Tieren, Pflanzen, Bakterien und Viren, in: von Senger (1999), S. 475 – 495, 476.
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Augustus selbst. Ihn zu einem listigen Helden zu machen, ist aus demselben Grunde nicht minder riskant. Ovid löst das Problem mit einer List des Erzählers, indem er den Aeneas spürbar an diesem Problem vorbeilotst. Aeneas fährt mit seinen Schiffen an Orten von Metamorphosen und Listen vorbei, erlebt sie aber nicht: Auf Delos erfährt er von der Verwandlung der Aniustöchter, die ihr eigener Bruder an die Griechen hatte ausliefern müssen, weil es hier keinen Aeneas gab, der Andros verteidigt hätte (13, 665f.: non hic Aeneas, non qui defenderet Andron/ Hector erat). Auf der Weiterfahrt erreichen sie nach Creta die Strophaden, doch vertreibt sie die Harpyie Aello aus den „treulosen Häfen“ (13, 710: portubus infidis); an Ithaka, dem Reich des trügerischen Odysseus (13, 712: regnum fallacis Ulixis), fahren sie vorbei; nach weiteren Stationen geraten sie in die Nähe von Skylla und Charybdis; indem er die Geschichten um Skylla und Galatea erzählt, vermeidet Ovid jetzt das Aeneis-Thema, von den Teukrern wird nur noch lapidar gesagt, dass sie den Felsen der Skylla und den Strudel der Charybdis besiegt haben (14, 75f.: Charybdim/ euicere rates). Erzählerisch ist es ein Bestehen, ohne sich auf das Thema einzulassen: Aeneas ignoriert den transformierenden Charakter der Natur einfach. Die wechselseitigen Listen, die Vergil bei Aeneas’ Aufenthalt in Karthago geschildert hat, fasst Ovid knapp zusammen und fokussiert sie auf Dido, von der er nur sagt, dass sie, die Getäuschte, (durch ihren Selbstmord im Rahmen einer nur vorgespielten Opferhandlung) ihrerseits alle täuschte. Von diesem Ort der Täuschung aber flieht Aeneas rasch zum treuen Acestes (14, 79 – 84): non bene discidium Phrygii latura mariti Sidonis inque pyra sacri sub imagine facta incubuit ferro deceptaque decipit omnes rursus harenosae fugiens noua moenia terrae ad sedes Erycis fidumque relatus Acesten sacrificat tumulumque sui genitoris honorat. Die Sirenenfelsen – es sind die Töchter des Achelous (14, 87), mit dem sich Hercules dagegen offensiv auseinander gesetzt hatte – lässt er hinter sich und auch an den Inseln der Cercopen fährt er vorbei, die wegen ihres listigen Wesens von Jupiter in Affen verwandelt worden waren (14, 91 – 93): quippe deum genitor fraudem et periuria quondam Cercopum exosus gentisque admissa dolosae in deforme uiros animal mutauit (…) Aeneas trifft dann die Sibylle (14, 101 – 153) und hört von ihrer bevorstehenden Metamorphose in eine Stimme ohne Körper, weil sie sich von
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Apollo zwar Jahre soviel wie Sand, aber keine ewige Jugend hatte schenken lassen. Dann verlässt der Erzähler den Aeneas wieder für eine ganze Weile und wendet sich den Erzählungen der Griechen Achaemenides und Macareus zu, die von Odysseus und Circe viel, von Aeneas fast nichts erzählen. Aeneas besucht die Insel Aiaia nicht, sondern lässt den Hinterhalt der Circe hinter sich (14, 446f.): et procul insidias infamataeque relinquunt tecta deae (…) Erst mit der Landung in Latium wird die Schilderung um Aeneas breiter. Die Auseinandersetzungen sind um die Metamorphose der Schiffe gruppiert, von der eingangs schon gehandelt wurde (wenn auch mit Schwerpunkt auf dem vergilischen Original). Aeneas erscheint hier als barbarischer Gegner (14, 574), dessen Ansprüche mit denen des Turnus vergleichbar sind (s.o). Der Sieg der Waffen mündet in die Apotheose des Helden (14, 581 – 608). Wie bereits gesagt, geht es hier nicht um eine Problematisierung der „ovidischen Aeneis“217 im Ganzen. Unter dem Gesichtspunkt der List aber lässt sich sagen, dass Ovid den Aeneas konsequent an allen Orten der List und der Metamorphose vorbeisegeln lässt. Die Dido-Episode war insgesamt wohl kaum von Ovid auszusparen, doch auch hier inszeniert der Dichter eine überstürzte Flucht weg von der Täuschung hin zur fides. Die Cercopen werden für ihre List mit grotesker Körperlichkeit bestraft, die Wahrhaftigkeit der Sibylle macht sie ganz zur Stimme. Die Cercopen meidet Aeneas, die Sibylle verehrt er wie eine Göttin. Die Cercopen erscheinen am Ende der Reise des Aeneas noch einmal als bestrafte Zeugen einer hinterhältigen List; aber auch der Verlust des Körpers der Sibylle ist keine Gunst, sondern dem Umstand geschuldet, dass die Sibylle sich etwas Falsches von dem Orakelgott gewünscht hatte (deshalb seufzt die Sibylle, als sie davon erzählt: 14, 129). Aeneas ist nicht wie Hercules zwischen den Polen uirtus – dolus angesiedelt (und auf die erste Position gesetzt), sondern wählt zwischen dolus und uox. Vox soll Wahrhaftigkeit und pietas vermitteln, aber der Dualismus ist falsch. Die groteske Körperlichkeit der List und die völlige Körperlosigkeit der wahrhaftigen Stimme: Dies sind zwei Extreme, die beide nicht das Ganze der Natur beschreiben, die doch Form ist, die immer neue Körper erzeugt. Die Cercopen sind mit dem Verlust der Sprache bestraft (14, 98 – 100), die Sibylle mit dem Verlust des Körpers geschlagen. Stimme und Körper erscheinen damit beide von zwei Seiten: Die Cercopen verlieren die Stimme, weil sie mit ihr gelogen haben, die Sybille behält die Stimme, um 217
Andrae (2003) S. 164 – 197, 24 mit Recht gegen Döpp (1968) und Siegmar Döpp, Vergilrezeption in der Ovidischen Aeneis, in: RhM 134 (1991), S. 327 – 346.
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Wahrhaftigkeit herzustellen. Die Cercopen leben in Affenkörpern, die den menschlichen Körper grotesk verzerrt wiedergeben, die Sybille klagt über ihre Körperlosigkeit, die ihre frühere Schönheit auch bei Apollon wird vergessen machen (14, 150f.). Weder Stimme noch Körper bedeuten a priori etwas; Körper können schön (Sybille) oder hässlich (Cercopen, die greise Sybille) sein, die Stimme kann lügen oder wahr sprechen. Aber Stimme und Körperwandel sind aufeinander bezogen. Die Stimme ist für Ovid das, was für Hesiod die Metis ist: Sie ist die dynamische Antwort auf eine dynamisch sich verändernde Natur. Sie schafft Ordnung und unterläuft sie zugleich. Stimme ist nicht allein Ton und nicht allein Sprache, sondern Sprache-im-Vollzug.218 Nur Sprache-im-Vollzug kann den Wettlauf mit der sich wandelnden Natur einigermaßen bestehen. Aus der Sicht einer menschlichen Ordnung, die Wandel durch Text fixieren will, kann Stimme daher als List erscheinen – die Stimme des Odysseus. Aus der Sicht des Listigen, der Bedeutungen immer wieder unterlaufen will, ist die Stimme, die definiert und ausspricht, was in diesem Moment passiert, dagegen Bedrohung, denn es ist die Stimme der Wahrheit, die die List beendet – Philomela. Doch ermöglicht es der falsche Dualismus von Stimme und List (und Stimme und Körper) dem Ovid, die vergilische Konzeption scheinbar beizubehalten: Aeneas ist pius, weil er die List meidet und die Wahrheit sucht – eine List des Erzählers. Die Stimme ist nur wahrhaftig in Bezug auf sich wechselnde Körper; sie hat kein konstantes Objekt, das die Wahrheit produzierte, die Gegenbegriff zur List wäre. Die Stimme macht den Wechsel der Natur dem Menschen zugänglich, sie bedarf in der Tat nicht des Körpers, aber der Körper. Auch so kann man den Anfang der Metamorphosen verstehen, in dem Sprechen und Körper in Beziehung gesetzt werden: in noua fert animus mutatas dicere formas corpora
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Die Cercopen haben noch eine Stimme, um Klagelaute von sich zu geben (14, 98 – 100): nec non prius abstulit usum/ uerborum et natae dira in pericula linguae:/ posse queri tantum rauco stridore reliquit. Aber sie können nicht mehr sprechen. Sie können Bedeutung nicht mehr aktualisieren, sondern müssen immer klagen. Diese Stimme ist reine Spur der Metamorphose. Es ist mit Stimme von mir aber nicht die Fähigkeit, Laute auszustoßen, gemeint. Es ist wichtig, Sprache von Stimme zu unterscheiden. Nur die Stimme setzt Sprache in Vollzug, während Sprache ohne Stimme nur ein semantisches System bleibt.
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Lateinische Textausgaben sind hier nicht aufgeführt, für die Hauptautoren fanden Verwendung: Die Oxfordausgabe für Livius (und für die Bücher XLI – XLV die Teubnerausgabe von Briscoe); Tibull: Oxford (Postgate); Vergil: Mynors (Oxford); Ovid/Metamorphosen: Anderson (Teubner); Liebesdichtung: Kenney (Oxford); Plautus und Terenz: Lindsay und Kauer/ Lindsay (Oxford); Valerius Maximus: Briscoe (Teubner). Kommentare sind mit dem Herausgeber aufgeführt. Außerdem wurden die gängigen Hilfsmittel (Georges, ThLL, ThLG, OLD und Liddell-Scott) verwendet. Aus den Fragmenten der Frühen Römischen Historiker von Beck und Walter wird mit der Abkürzung FRH (Historikerkennziffer/ Fragmentziffer) zitiert. Werden die Kommentare oder Einleitungen aus diesem Werk unabhängig vom antiken Fragment angezeigt, so wird zitiert Beck/ Walter I (2005) bzw. Beck/ Walter II (2005).
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