Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur 9783110496031, 9783110495492

The poetical nature and performance of medieval poetry is largely constituted by the simulated orality of the conversati

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German Pages 510 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Graphische Codierung der Performanz – Handschrift und Druck
(Un-)Sichtbarkeit der Stimme?
Stimme und Sprechen bei Hartmann von Aue
Die Markierung der Figurenstimmen in der Kölner Tristan-Handschrift B
Sprechen in Kurzerzählungen
Modellierungen von Stimme
Modellierungen von Stimme und Mündlichkeit
Das Spiel der Stimmen
Etsijtes horende dese soetmondighe tale
… vnde sprac luder stemme, dat en islick horen mochte
Wirkung und Macht der Stimme
Die Macht der Stimme
Figurenrede und Figurendialoge in der Eyrbyggja saga
Zu den inquit-Formeln in der altnordischen Sagaliteratur
Volkes Stimme
Artikulierte und hörbare Performanz
Stimme(n) des Klagens
Das Motiv des Wiedererkennens an der Stimme in Heldenepen und höfischen Romanen des französischen und deutschen Mittelalters
Stimme – Argument – Wirkung
‚Cliffhanger‘
Vox sancti
Zwischen Stimme und Schrift
Mystisches und magisches Sprechen
mit kleiner wankels schricke
Verdoppelung und Verdrängung
Sprechmagie und Sprechakttheorie
Badges
Personen-, Werk- und Sachregister
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Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur
 9783110496031, 9783110495492

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Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur

Historische Dialogforschung

Herausgegeben von Nine Miedema, Angela Schrott und Monika Unzeitig

Band 3

Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur Monika Unzeitig, Angela Schrott, Nine Miedema (Hg.)

ISBN 978-3-11-049549-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049603-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049292-7 ISSN 2363-8001 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Heinrich von Veldeke, Eneasroman, Abb. fol. 69r © Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Monika Unzeitig, Angela Schrott und Nine Miedema   Einleitung | 1 

Graphische Codierung der Performanz – Handschrift und Druck   Elisabeth Lienert   (Un-)Sichtbarkeit der Stimme? Reden und Redewechsel in der Rosengarten-Überlieferung | 15  Tina Terrahe   Stimme und Sprechen bei Hartmann von Aue. Textinterne Performanz-Signale und deren Reflexe in der Gießener Iwein-Handschrift | 33  Birgit Zacke   Die Markierung der Figurenstimmen in der Kölner Tristan-Handschrift B | 55  Elke Koch und Nina Nowakowski   Sprechen in Kurzerzählungen. Zur poetischen und visuellen Reflexion mündlicher Kommunikation in Beichterzählungen des Cgm 714 | 83 

Modellierungen von Stimme   Angela Schrott   Modellierungen von Stimme und Mündlichkeit. Echofragen in altspanischen Texten | 113  Elisabeth de Bruijn   Das Spiel der Stimmen. Performative Verspassagen in einigen niederländischen Prosaromanen (ca. 1500–1540) | 133 Rita Schlusemann   Etsijtes horende dese soetmondighe tale. Stimme und auditive Rezeption in gedruckten niederländischen Prosaromanen | 155 

VI | Inhalt

Karin Cieslik   … vnde sprac luder stemme, dat en islick horen mochte. Die Gestaltung der Stimmen im mittelniederdeutschen Prosaroman Paris und Vienna (Antwerpen 1488) | 175 

Wirkung und Macht der Stimme   Anita Sauckel   Die Macht der Stimme. Formen, Funktionen und Wirkungsweisen von sagnaskemmtan am Beispiel zweier Íslendingaþættir | 197  Hendrikje Hartung   Figurenrede und Figurendialoge in der Eyrbyggja saga. Formen, Funktionen, Effekte | 213  Jana Krüger   Zu den inquit-Formeln in der altnordischen Sagaliteratur | 231  Rebecca Merkelbach   Volkes Stimme. Interaktion als Dialog in der Konstruktion sozialer Monstrosität in den Isländersagas | 251 

Artikulierte und hörbare Performanz   Florian Schmid   Stimme(n) des Klagens. Überlegungen zur Performanz der Nibelungenklage im Umfeld der höfischen Epik | 279  Teresa Cordes   Das Motiv des Wiedererkennens an der Stimme in Heldenepen und höfischen Romanen des französischen und deutschen Mittelalters | 309  Florian Kragl   Stimme – Argument – Wirkung. Zur Performanz von Figurenreden im Nibelungenlied und in der Krone Heinrichs von dem Türlin | 331 

Inhalt | VII

Stephan Müller   ‚Cliffhanger‘. Mittelhochdeutsche Epik als Serie am Beispiel der Aventiure-Enden des Nibelungenlieds in Handschrift C | 351  Maryvonne Hagby   Vox sancti. Beobachtungen zur Stimmlichkeit der volkssprachigen Legenden des Hoch- und Spätmittelalters | 363  Almut Suerbaum   Zwischen Stimme und Schrift. Rhythmische Strukturen im Repertoire der Jenaer Liederhandschrift am Beispiel von Frauenlobs ‚Zartem Ton‘ | 395 

Mystisches und magisches Sprechen   Julia Weitbrecht   mit kleiner wankels schricke. Die Performanz der Vogelstimme zwischen Artikulation, Imitation und Inspiration | 419  Annette Volfing Verdoppelung und Verdrängung. Simultane Diskurse in der mystischen Literatur | 433 Jutta Eming   Sprechmagie und Sprechakttheorie. Ein Versuch über Parzivals zweiten Aufenthalt auf der Gralburg | 449  Ann Marie Rasmussen   Badges. Abzeichen als sprechende Objekte | 469  Personen-, Werk- und Sachregister | 489 

Monika Unzeitig, Angela Schrott und Nine Miedema

Einleitung 1 Stimmen und ihre mise en scène und mise en page Der vorliegende Band geht auf die Tagung ‚Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur‘ zurück (6. bis 8. Oktober 2014, Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald). Er schließt konzeptionell in seiner interdisziplinären und interphilologischen Ausrichtung an die beiden vorangegangenen Bände der Reihe ‚Historische Dialogforschung‘ an.1 Das gewählte Thema zielt auf die in den Redeszenen literarischer Texte fingierte Mündlichkeit und deren mediale Realisierung, wobei die von Paul Zumthor formulierte Differenzierung von oralité und vocalité, Mündlichkeit und Stimmlichkeit, einen zentralen Ausgangspunkt bildet.2 In dieser Perspektive konzentriert sich die Fragestellung auf den genuin medialen Aspekt der Hörbarkeit und der Stimmlichkeit als poetischer Qualität des Textes. Aus dieser Sicht ist daher gerade nicht der von Gérard Genette metaphorisch gebrauchte Begriff der Stimme zur Beschreibung einer pragmatischen Textfunktion und einer narrativen, fokalisierenden Instanz3 gemeint. Gegenüber der Genette’schen Stimme als zentrale, aber tonlose Kategorie der Erzählanalyse zielt die Frage nach der vocalité auf die medial als hörbar gedachte Stimme in der Textproduktion und -rezeption der vormodernen Literatur, auch in ihren narratologischen Funktionen.4 Ungeachtet der eingeschränkten Kenntnis historischer Aufführungspraxis lassen die Texte selbst und die ihnen eigenen performativen Merkmale auf Vortragsbedingungen und intendierte Wirkungen schließen. Ebenso gibt die schriftliche Tradierung der Texte Aufschluss über die Bewahrung, den Verlust oder die Veränderung der performati-

|| 1 Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven, hg. von Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1); Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende, hg. von Nine Miedema, Angela Schrott und Monika Unzeitig, Berlin 2012 (Historische Dialogforschung 2). Der ganz besondere Dank für die Mitarbeit an der Redaktion des Tagungsbandes geht an Manuela Dittmann und Flori-an Schmid, ebenso an Markus Gärtner für seine sorgfältige Lektüre. 2 Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 18). 3 Zur Stimme bei Gérard Genette siehe insbesondere den Tagungsband Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, hg. von Andreas Blödorn, Daniela Langer und Michael Scheffel, Berlin/New York 2006 (Narratologia. Contributions to Narrative Theory/Beiträge zur Erzähltheorie 10). 4 Weiterführend Nine Miedema, „Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse“, in: Historische Narratologie – mediävistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer, Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 35–67.

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ven Qualität der Dichtung und ihrer Rezeptionsbedingungen. Unter dem Aspekt der in der mise en page graphisch fixierten Stimme und ihrer in der mise en scène erfolgenden phonischen Aktualisierung können die spezifischen medialen Vortrags- und Überlieferungsbedingungen mittelalterlicher Literatur erfasst werden. Die in den Beiträgen behandelten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texte indizieren gattungs- und formübergreifend eine ‚laute‘ Vortragskultur, die auf eine hörbare Inszenierung und ihre Wirkung ausgerichtet ist. Ihre Tradierung in Handschrift und Druck lässt, wenn auch nicht systematisch, so doch partiell eine Schriftkultur erkennen, die die Stimmlichkeit der Texte markiert. Die zeitliche Spanne der untersuchten Texte reicht vom 12. bis zum 16. Jahrhundert und umfasst den europäischen Literaturraum von altspanischer, altfranzösischer, mittelhochdeutscher, mittelniederdeutscher, mittelniederländischer und altnordischer Dichtung (auch unter Einbezug lateinischer Vorlagen). Mit diesem literarisch und sprachlich umfangreichen Spektrum werden einerseits medial bedingte Veränderungen von Literaturproduktion und -vermittlung in Handschrift und Druck thematisiert; andererseits lassen sich nationalliteraturspezifische Erzähl- und Diskurstraditionen im europäischen Kontext, gattungsübergreifende und transnationale Phänomene, aber auch Grenzen von Vergleichbarkeit aufzeigen. Das in den Beiträgen untersuchte Textkorpus ist vielfältig in Form, Gattung und literarischer Sprache, zeitlicher und räumlicher Entstehung sowie hinsichtlich seiner medialen Überlieferung. Verstexte (höfische Epik, Märe, Legende), strophische Dichtungen (Heldenepik) und Prosaformen wie Isländersagas oder gedruckte Prosaromane (zum Teil auch mit inserierten Verspassagen) bedingen spezifische Vortrags- oder Vorlesekonzepte. Insofern korreliert die je spezifische Textform mit ihren performativen Rezeptionsmöglichkeiten und steht zugleich in Relation zu der über die Gestaltung der Figurenstimmen inserierten (fingierten) Mündlichkeit im Text. Redeszenen prägen quantitativ und qualitativ, wie die Beiträge zeigen, versgebundene Texte und Prosaerzählungen gleichermaßen.

2 Stimme(n) und ihre Performanz Dass Figuren eine eigene Stimme erhalten und über Rede exponiert werden, ist für die mittelalterliche volkssprachige Literatur ab dem 12. Jahrhundert verstärkt festzustellen.5 Das Abbilden einer Kommunikationssituation mit Sprechereinführung, Markierung und Abgrenzung der Rede ist für Vers- wie Prosatexte nicht nur ein zu beschreibendes, sondern auch ein in seinen vielfachen Funktionen zu analysieren-

|| 5 Siehe Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, „Einleitung“, in: dies. (wie Anm. 1), S. 1–14, hier S. 11.

Einleitung | 3

des narratives Verfahren. In der potenziell mitzudenkenden Reaktualisierung der Stimme in der Performanz des Vortrags ist die hörbare Qualität der Stimme sowohl auf der Figurenebene als auch auf der Ebene der Rezipienten relevant. Auf beiden Kommunikationsebenen – textintern und textextern – erfüllen die vertexteten und zugleich hörbaren Stimmen unterschiedliche Funktionen. Auf der Figurenebene kann die performative Wirkung der hörbaren Stimme strategisch und handlungsbestimmend, konfliktfördernd oder -lösend, emotionale und körperliche Reaktionen erzeugend, magisch und göttlich gewollt sein. Für den Zuhörer sind im Akt der Rezeption dagegen insbesondere durch fingierte Mündlichkeit erzeugte nähesprachliche Effekte zu beachten:6 Die Suggestion von Spontaneität oder Simultanität von Rede ist eine rezipientenorientierte Vertextungsstrategie.

2.1 Stimmen im Text und ihre sprachliche Markierung Die sprachliche Markierung der Stimmen und ihre möglichen Funktionen im Text, die Einführung der sprechenden Figuren, die Abgrenzung von Figurenrede und Erzählbericht oder Erzählerrede und die Qualifizierung über erweiterte inquit-Formeln ist für die mittelalterliche Epik mehrfach beschrieben worden7 und wird in diesem Band fortführend aufgegriffen. Besonders aufschlussreich ist der für die Isländersagas beschriebene Einsatz der inquit-Formeln (vgl. den Beitrag von Jana Krüger), den für diese Prosatexte eine variable Stellung auszeichnet und der zugleich eine systematisch zu nennende Wahl der verba dicendi und des Tempusgebrauchs (Präteritum und Präsens) erkennen lässt. Da weiterführende und systematisierende Analysen zur inquit-Formel in deutschen und niederländischen Prosatexten, besonders auch

|| 6 Siehe Peter Koch und Wulf Oesterreicher, „Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“, in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15–43; Wolf-Dieter Stempel, „Zur Frage der Repräsentation der gesprochenen Sprache in der altfranzösischen Literatur“, in: Mimesis und Simulation, hg. von Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Freiburg i.Br. 1998 (Litterae 52), S. 235–254. 7 Siehe zum Beispiel Frank Brandsma, „Medieval Equivalents of ‚quote-unquote‘. The Presentation of Spoken Words in Courtly Romance“, in: The Court and Cultural Diversity. Selected Papers from the Eighth Triennial Meeting of the International Courtly Literature Society, The Queen’s University of Belfast, 26 July – 1 August 1995, ed. by Evelyn Mullally and John Thompson, Woodbridge 1997 (Selected Papers from the [...] Triennial Congress of the International Courtly Literature Society 8), S. 287–296; Franz Hundsnurscher, „Das stilistische Potential der inquit-Formel“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und dems., Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 103–115; Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, „Einleitung“, in: ebd., S. 1–17, hier S. 10; David Yeandle, „Redebericht, Redeeinleitung, direkte und indirekte Rede als Mittel der Charakterisierung in der Soltane-Episode im III. Buch des Parzival“, in: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag, hg. von Ralf Plate und Martin Schubert, Berlin u.a. 2011, S. 94–117.

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im Vergleich der mittelalterlichen wie auch frühneuzeitlichen Literatursprachen,8 noch nicht vorliegen, bieten die Verweise zu diesem Aspekt in den einzelnen Beiträgen zu den Prosaromanen erste fundierte Anhaltspunkte zu Form, Tempus, Stellung und verba dicendi (vgl. hierzu die Beiträge von Elisabeth de Bruijn, Rita Schlusemann und Karin Cieslik).

2.2 Die Stimme und ihre hörbaren Qualitäten Figurenreden sind ein erzählerisches Mittel, um besonders die hörbare Realisierung und Wahrnehmung der Stimme und damit ihre akustischen Effekte in Szene zu setzen. Die hörbaren Qualitäten der Stimme werden in den Texten vielfältig thematisiert und funktionalisiert. Dass die Beschaffenheit der Stimme bzw. die Eigenheit ihres Klangs als konstitutives Kennzeichen die Identität einer Figur bestätigt, ist im literarischen Motiv des Wiedererkennens an der Stimme verdichtet.9 Auf der Figurenebene ist die hörbare Stimme als wiedererkennbare und individuierende Stimme eines Protagonisten handlungsstrategisches Mittel; das Motiv des Wiederkennens an der Stimme (als Verkennen und Erkennen) wird für den Rezipienten zusätzlich als erzählstrategisches, spannungssteigerndes Mittel eingesetzt. Wie die vergleichende Analyse altfranzösischer und mittelhochdeutscher Texte mit ihren männlichen Protagonisten zeigt, findet das Motiv gattungsspezifisch Verwendung in den chansons de geste und den höfischen Romanen (vgl. den Beitrag von Teresa Cordes). Auffällig deutlich betonen gedruckte Prosaromane die auditive Wahrnehmung und die hörbare Wirkung von Stimme. In den untersuchten mittelniederdeutschen und mittelniederländischen Prosaromanen wird die hörbare Qualität der Stimme explizit in Verbindung mit den inquit-Formeln benannt und ihre gehörte Wirkung auf der Figurenebene mit emotionalen bis hin zu körperlichen Reaktionen vorgeführt (vgl. die Beiträge von Rita Schlusemann, Karin Cieslik). Die Wirkmacht von

|| 8 Für die Entwicklung der inquit-Formel in den Texten vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen siehe Franz Hundsnurscher, „Sprechen und sagen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit“, in: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. von Nine Miedema und Rudolf Suntrup, Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 31–52. 9 Grundlegend dazu Ulrich Mölk, „Das Motiv des Wiedererkennens an der Stimme im Epos und höfischen Roman des französischen Mittelalters“, in: Romanistisches Jahrbuch 15 (1964), S. 107–115; zur Individualität des Stimmklangs siehe auch Almut Schneider, „er liez ze himel tougen erhellen sîner stimme dôn. Sprachklang als poetische Fundierung normativen Sprechens“, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium, hg. von Elke Brüggen, Franz-Josef Holznagel, Sebastian Coxon und Almut Suerbaum unter Mitarbeit von Reinhold Katers, Berlin 2012, S. 199–216. Die antiken Grundlagen der Reflexion über die individuelle Stimme wurden erarbeitet von Verena Schulz, Die Stimme in der antiken Rhetorik, Göttingen 2014 (Hypmnemata 194).

Einleitung | 5

Worten kann ein in Redeszenen vorgeführtes lebhaftes Interagieren der Figuren generieren, das sich als Dramatisierung der Handlung beschreiben lässt.

2.3 Zur Modellierung von Stimme Die hörbare Qualität der Stimme kann durch ihre im Text angelegte und beschriebene Modellierung erzeugt und in ihrer damit verbundenen Wirkung auf der Figurenebene beschrieben werden. Weniger die Worte und ihr Inhalt, vielmehr die akustische Klangdimension bestimmen das Hörbare. Das laute Brüllen (ruofen) Dietrichs von Bern in der 33. Aventiure des Nibelungenliedes fungiert als akustische Überbietung der kämpferischen Gewalt und gibt Dietrich in diesem Auftritt nicht nur eine heroische körperliche Präsenz, sondern seine Stimmgewalt bewirkt zugleich eine Unterbrechung der eskalierenden Situation (vgl. den Beitrag von Florian Kragl). Die klagenden Stimmen in der höfischen Epik dagegen werden als solche vor allen Dingen durch den Klageton und signalgebende – wenn auch häufig lediglich als kommunikative Routineformeln verwendete – Interjektionen wie ôwe oder ach wahrgenommen und lösen Hilfereaktionen aus. Die textintern auf der Figurenebene erzählte affektive Teilhabe der Protagonisten kann explizit durch den Erzähler (wie in Wolframs von Eschenbach Parzival) oder durch den Klagegestus des Textes (Nibelungenklage) textextern, auf der Ebene der Rezeption, auch die Emphase der Zuhörerschaft einfordern (vgl. den Beitrag von Florian Schmid). Lautstärke und Klang der Stimme sind genuin mündliche Phänomene wie auch die Intonation. Ein Beispiel für das dialogstrategische Potenzial der Intonation ist die Echofrage, die eine unmittelbar vorangehende Äußerung wiederholend aufnimmt. Durch die intonatorisch als interrogativ markierte Struktur stellt die Echofrage die wiederaufgenommene Äußerung des Gesprächspartners in Frage – sei es in ihren Inhalten oder als Sprechakt. Diese polyphone Wiederaufnahme hat ihren natürlichen Ort in der Mündlichkeit wie in den Diskurstraditionen der Nähesprache und findet sich daher nur in literarischen Texten, die die Echofrage nutzen, um textintern nähesprachliche und temporeiche Gesprächsdynamik zu erzeugen. Diese Affinität lässt sich am Beispiel des spätmittelalterlichen altspanischen Libro de Buen Amor beobachten, das die Echofrage und die Dimension der Intonation gezielt einsetzt, um einen komödiantischen Dialogtyp zu gestalten, in dem die Kupplerin Trotaconventos prominent auftritt (vgl. den Beitrag von Angela Schrott). Modelliert wird das Phänomen Stimme ebenfalls über rhythmische Strukturen. Am Beispiel von Frauenlobs ‚Zartem Ton‘ lässt sich für die Sangspruchdichtung – am Beispiel der Jenaer Liederhandschrift mit ihrer reichen Melodieüberlieferung – ein komplexes Verhältnis von Klangphänomenen des Textes und denen der Melodie beobachten (vgl. den Beitrag von Almut Suerbaum): Die dem Text eigenen klanglichen Gestaltungsmerkmale von syntaktischer Struktur und Endreim können mit der Melodie kongruieren, aber zu ihr auch in einem spannungsvollen Verhältnis stehen.

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Ähnliches gilt für das Verhältnis von Textaussage und Melodie.10 Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass in der Sangspruchdichtung für einen neuen Text vorhandene Melodien aufgenommen werden, während sie im Minnesang vom Textverfasser unikal komponiert sind. Die graphische Codierung in der Jenaer Liederhandschrift zielt nicht nur auf eine Aufbewahrung und die Möglichkeit einer (Wieder-)Aufführung, sondern von der hörbaren Stimme in der Performanz ist zusätzlich eine imaginierte Stimme in der Lektüre von Text und Notation durch den mittelalterlichen Experten zu unterscheiden.

2.4 Macht und Wirkung der Stimme – magisches Sprechen Alle Beiträge thematisieren – wenn auch sehr unterschiedlich – Aspekte der Wirkung und Macht der Stimme. Da Sprache vor allem in ihrer stimmlichen11 Vermittlung, d.h. im Sprechen Einfluss ausüben kann, kommen in den Texten die Figuren nicht nur selbst zu Wort, sondern die literarische Gestaltung der artikulierten Worte ist wesentlich auf ihre Wirkung und eine entsprechende Wirkmacht durch das gesprochene Wort hin konzipiert. Dies betrifft Kommunikationsstrategien (vgl. die Beiträge von Anita Sauckel, Rebecca Merkelbach und Florian Kragl) ebenso wie Vorstellungen vom magischen und mystischen Sprechen (vgl. die Beiträge von Ann Marie Rasmussen und Annette Volfing) und Sprechen mit oder durch Gott (vgl. die Beiträge von Maryvonne Hagby und Julia Weitbrecht). Mit Bezug auf Kommunikationsstrategien zeigt die Analyse von Konfliktsituationen in der Krone Heinrichs von dem Türlîn, dass in diesem Fall nicht eine klar argumentierende Rede, sondern ein ‚Zerreden‘ mit vielen Worten, also nicht die diskursive inhaltliche Klärung, sondern die wortreiche Performanz der Stimmen deeskalierend funktioniert (vgl. den Beitrag von Florian Kragl). Die Beiträge zu den Isländersagas demonstrieren in unterschiedlichen und zugleich sagaspezifischen Kontexten eine andere Form der Macht der Worte: Wie wirksam die öffentliche Stimme für Zuordnungen und Wertungen im sozialen Gefüge ist, führt die Untersuchung zu den als ‚Monster‘ zu bezeichnenden Wesen vor, die Teil, aber auch Außenseiter dieser Gesellschaft sind (vgl. den Beitrag von Rebecca Merkelbach). Die Artikulation der öffentlichen Meinung, präsentiert als einer Allgemeinheit zugewiesene Aussagen, bestimmt die soziale Sicht und Bewertung der gesellschaftlichen Außenseiter und ihrer disruptiven Taten. Die kollektive soziale Stimme formuliert die als Bedrohung wahrgenommene monströse Grenzüberschreitung und affirmiert zugleich den Status des ‚Monsters‘ (Wiedergänger, Berserker, || 10 Vgl. dazu auch Johannes Kandler, „Gedoene ân wort daz ist ein tôter galm“. Studien zur Wechselwirkung von Wort und Ton in einstimmigen Gesängen des hohen und späten Mittelalters, Wiesbaden 2005 (Elementa Musicae 5). 11 Dies gilt analog ebenso für Formen der schriftlichen Vermittlung.

Einleitung | 7

Troll). Darüber hinaus erzählen Isländersagas explizit von der in der Aufführung erzeugten Wirkung des Vortrags des Dichters und der Wirkmacht seiner Stimme am Königshof (vgl. den Beitrag von Anita Sauckel). In der Geschichte vom sagakundigen Isländer kann der Dichter und Held durch seine Vortragskunst nicht nur den Dank des Königs erwerben, sondern auch in die soziale Oberschicht aufsteigen. Die Erzählung präsentiert das (für Isländersagas) typische und spezifische heroische Modell des durch Dichtkunst und Vortrag erfolgreichen Helden. Das Narrativ des Dichterhelden, der durch sein sprachliches Können ausgezeichnet wird, kann wie in der Erzählung von Þorleif, dem Skalden des Jarls um die potenziell magische Wirkmacht von Dichtung12 erweitert werden. Von der in der Performanz erzeugten magischen und desaströsen Wirkung der Dichtung wird aber nur (ohne die unmittelbare Wiedergabe der Worte) erzählt. Ein textintern inszeniertes wirklichkeitskonstituierendes Potenzial des gesprochenen Wortes lässt sich nicht nur auf ein (weites) Verständnis von ‚Magie‘ zurückführen, bei dem die magische Kraft weniger dem Sprechen, sondern vielmehr der Sprache selbst zukommt. Die textlich inserierte Figurenrede lässt sich auch im Hinblick auf das religiös konnotierte Wunder relationieren (vgl. den Beitrag von Jutta Eming): Indem Parzival sich nach dem Befinden des Anfortas erkundigt, wird die Heilung des Gralkönigs im Parzival initiiert, die Genesung selbst ist dagegen auf das Wirken Gottes zurückzuführen. Eingegliedert ist Parzivals Sprechen in eine Kette mündlicher Erklärungen weiterer Figuren, sodass sich die Heilung durch ein performatives ‚Netzwerk‘ von Stimmen begründen lässt. Dabei kann die Dimension des Textes multimodal erweitert werden. Nicht allein das (literarisch gestaltete und funktionalisierte) gesprochene Wort, sondern auch die Kombination von Wort und Bild kann Wirklichkeit konstituieren und performativ wirksam werden. Buchstaben oder Schrift auf Pilgerzeichen verleihen dem Zeichen, seinem Träger und seinem Referenzrahmen über ihre Gestaltung und ihren Gebrauch eine ‚Stimme‘. Sie verweisen nicht nur (als Platzhalter) auf Schriftlichkeit per se, sondern auch auf Mündlichkeit und damit auf unterschiedliche mündliche und schriftliche Gattungen und Diskurse. Über ihre Verweisfunktionen können Pilgerzeichen an religiösen ‚Redeformen‘ wie Gebet und Liturgie und ihren Wirkungszuschreibungen und -intentionen partizipieren. Zugleich besteht die Schrift auch unabhängig von ihrem Verweiskontext und kann gegenüber dem Bild unterschiedliche Funktionen übernehmen: vom bloßen Verweis auf Schriftlichkeit bis hin zur Eigenständigkeit gegenüber dem Bild, wenn sie als Gebet verstanden wird (vgl. den Beitrag von Ann Marie Rasmussen). Das Sprechen zu, mit oder durch Gott, die Polyfunktionalität und Polyphonie von Sprache und Stimme und ein damit verbundenes Verständnis, eine Gestaltung

|| 12 Die Vorstellung von der magischen Wirkmacht der Dichtung ist an die in der altisländischen Literatur erzählten Ursprünge von Dichtung durch Odins Dichtermet gebunden.

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und Führung von Stimme(n) finden einen komplexen Ausdruck in der Beschreibung mystischer Erfahrung als einer spezifischen. Es werden Vertextungsstrategien erkennbar, die Stimme(n) wahrnehmbar machen, um das menschlich nicht-darstellbare Spirituelle und Gotteserleben in Ansätzen darstellbar und nachvollziehbar zu machen und zugleich zu ästhetisieren (vgl. den Beitrag von Annette Volfing): In der Mystik werden herkömmliche Rollen und Identitäten aufgehoben, was sich in der Aufspaltung, Zusammenführung und Verteilung von Stimmen verschiedener Instanzen zeigt. Dies lässt sich in Mechthilds von Magdeburg Fließendem Licht der Gottheit am erzählenden Ich beobachten, das mit der eigenen Stimme und in Angleichung an biblische Gestalten spricht, sowie am plötzlichen Wechsel von Perspektiven aus dritter und erster Person oder von der Stimme einer Personifikation zur Stimme des Autors/Erzählers. Thematisiert werden ebenso der Gegensatz der vielen Stimmen der Schöpfung gegenüber der einen Stimme des Schöpfers sowie das Mysterium der Trinität. Obgleich jeder der drei Instanzen unterschiedliche Inhalte zugeschrieben werden (Gottvater als unerschöpfliche Quelle, Sohn als nicht festhaltbarer Reichtum, Heiliger Geist als unbesiegbare Macht der Wahrheit), wird gleichzeitig der Einklang der drei Stimmen formuliert. Sofern in einer Aufführungssituation alle drei Aussagen simultan gesungen würden, würde eine zugleich metaphorische wie auch musikalische Polyphonie erzeugt. Inwiefern die Stimme des Glaubens über die Stimme der Protagonisten ritualisiert in Legenden eingeschrieben und dort christliche Heiligkeit repräsentiert wird, zeigt die deutsche Bearbeitung der Legende der heiligen Margarete aus Der Heiligen Leben (vgl. den Aufsatz von Maryvonne Hagby): Die Stimme der Legende repräsentiert die meist durch direkte Rede narrativierte Stimme des Glaubens, die geprägt ist durch die Sprechhandlung des Bekennens (und des Streitens). Die Stimme der Heiligen hat nicht nur eine konstituierende Funktion in textstruktureller und textsemantischer, sondern auch in gattungsspezifischer Hinsicht. Es sind diese literarisierten Stimmen der Heiligen und ihre Sprechakte, die den Text zu einem hagiographischen Text werden lassen. Oftmals tragen sie die den hagiographischen Sinn vermittelnde Struktur des Textes und sollen zu einer intendierten aedificatio und imitatio des Publikums führen. Diese Vox sanctae erfährt in Legenden nicht nur in menschlicher Hinsicht eine Narrativierung, sondern auch im Gesang, d.h. in der Stimme, von Vögeln eine Spiegelung (vgl. den Beitrag von Julia Weitbrecht): Der Vergleich zwischen einer kurzen Mirakelerzählung aus der Legende des Heiligen Thomas Becket in der lateinischen Legenda Aurea und im mittelhochdeutschen Passional zeigt eine Verschiebung von der Sprech- zur Sprachfähigkeit und Sprachmächtigkeit: Der Vogel ist im ersteren Fall als Medium einer göttlichen Botschaft funktionalisiert, während er im zweiten nicht nur die Fähigkeit zur Artikulation und Imitation der menschlichen Stimme aufweist und von Gott inspiriert ist, sondern Sprache auch im pragmatischen Sinn adäquat gebrauchen kann.

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2.5 Stimme als Struktur Redeszenen haben textintern strukturierende Funktionen. Die direkten Reden unterbrechen den Erzählbericht. Sie können den Fortschritt der Handlung verlangsamen, indem sie mimetisch einen Dialogverlauf abbilden; damit markieren sie den Wechsel vom narrativen zum dramatischen Modus. Mit der Verlangsamung verbindet sich die in der Momentaufnahme wiedergegebene dramatische Umsetzung der Stimmen. Dieses Verfahren lässt sich insbesondere für Kulminationspunkte in der Erzählung beobachten (vgl. die Beiträge von Karin Cieslik und Hendrikje Hartung). Im Effekt ist das retardierende Erzählverfahren gleichzeitig ein spannungserzeugendes. Die literarische Technik, durch abrupte Abbrüche der Handlung, durch Exkurse sowie durch die Thematisierung möglicher Unterbrechungen im Vortrag Spannung zu erzeugen, eröffnet die Frage, inwiefern sich aus der Textform mögliche mediale Unterbrechungen in der Vortragspraxis herauslesen lassen. Zu fragen ist, ob sie, in der Textstruktur als Option vorgesehen, auch Hinweise auf eine mögliche Aufführungspraxis geben. Der Vergleich der handschriftlichen Überlieferung für das Nibelungenlied indiziert die auffällige Häufung von Zusatzstrophen an den AventiureEnden in der Fassung *C und die damit verbundene Umgestaltung der Aventiuren mit veränderten Abschlüssen und zusätzlichen Vorverweisen. Die so modifizierten Aventiure-Grenzen lassen die Vermutung zu, dass sich durch diese ergänzten Perspektivierungen eine cliffhanger-artige Rezeptionssteuerung manifestiert (vgl. den Beitrag von Stephan Müller).

3 Stimme(n) in Handschrift und Druck Die Fragen zum Markierungssystem von gesprochener Rede und gesungener Stimme verbinden sich notwendig mit der Frage nach der Erstellung und Funktion des Überlieferungsträgers. Gegenüber der in raum- und zeitgebundener Performanz realisierten Literatur bietet ihre schriftliche Fixierung eine Zeit und Raum entbundene Kommunikationsmöglichkeit. Im graphischen Medium von Handschrift und Druck ist die schriftliche Kommunikation jedoch wiederum eine situationsspezifische und eine nach ihren Funktionen zu differenzierende, indem sie produktionsseitig eine Aufzeichnungsfunktion auszeichnet, rezeptionsorientiert eine Erfassungsfunktion.13 Für beide Funktionen, aber wesentlich für die leserbezogene Gebrauchsfunktion steht die Gestaltung des Textes mit seinen visuellen Hilfen für

|| 13 Siehe dazu grundlegend Barbara Frank, Die Textgestalt als Zeichen. Lateinische Handschriftentraditionen und die Verschriftlichung der romanischen Sprachen, Tübingen 1994 (ScriptOralia 67), S. 16.

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die Rezeption und Rezeptionssteuerung im Fokus. Seitengestaltung, Hervorhebung durch Initiale, Lombarde, Alineazeichen, Paragrafenzeichen, Majuskel, Markierung durch Interpunktionsformen wie Punkt und Virgel sind wesentliche Mittel einer kommunikationsorientierten Schriftproduktion. Hinzu kommen Hervorhebungen durch farbliche Markierungen, die auch sekundär ergänzt sein können, wie zum Beispiel in der nachträglichen Rubrizierung oder Kolorierung von Drucken (vgl. hierzu den Beitrag von Karin Cieslik). Redeszenen modifizieren den Erzähl- sowie den Lesevorgang und unterbrechen den Erzählbericht (récit) durch direkte Rede (discours).14 Die Inserierung von Figurenrede in den Text wird auf sprachlicher Ebene durch die vorangestellte inquitFormel oder zum Beispiel durch Anredeformen und andere Redesignale bei eingeschobener oder nachgestellter inquit-Formel geleistet, die in ihrer Gestaltung die Referenz auf die Gesprächspartner sichern und auch die Rede selbst kennzeichnen können. Inwieweit die graphische Gestaltung von Redesignalen zusätzlich (zum Wortlaut) für Handschriftennutzer oder Leser von Drucken sichtbar ‚Stimmen‘, Sprecherwechsel und auch Wechsel von Erzähler- und Figurenstimme markiert und damit Hilfen oder zumindest Indizien zur Realisierung einer (lauten oder leisen) Rezeption bietet, ist in diesem Kontext von besonderem Belang für die Bestimmung von Formen und Funktionen der Redemarkierungen. Vor dem Hintergrund, dass für die Erfassung von Markierungskonventionen und für den Gebrauch von graphischen Möglichkeiten zur Kennzeichnung von Redeszenen noch systematische wie auch historische Untersuchungen zu leisten sind,15 auch um die Funktion der Handschriften und Drucke für eine (Vor-)Leserezeption genauer zu bestimmen, zeichnen sich die Tagungsbeiträge durch neue Einsichten über allgemeine und spezifische Handhabungen von graphischer Codierung aus. Mit Blick auf eine vorangegangene und auch wiederholbare Performanz sind die Handschriften und Drucke sehr unterschiedlichen Funktionszusammenhängen zuzuordnen, die auch mit Bezug auf ihre zeitliche Entstehung zu verstehen sind. Die untersuchten Überlieferungsträger umfassen ein zeitliches Spektrum vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Eine Neukonzeption von gedrucktem Medium und Performanz zeichnet sich für das Ende des 15. und den Beginn des 16. Jahrhunderts ab. Die Einzelanalysen (vgl. zum Beispiel die Beiträge von Elisabeth Lienert, Tina Terrahe, Birgit Zacke sowie Elke Koch und Nina Nowakowski) zeigen im Ergebnis, dass stets einheitliche Mittel zur Markierung der Rede zur Verfügung stehen (zum Beispiel rote und blaue Lombarden, Alineazeichen), diese aber kein geschlossenes System bil|| 14 Die Begrifflichkeit zur Unterscheidung von Erzählbericht und Figurenrede ist in der mediävistischen Forschung uneinheitlich; präzise differenziert zwischen récit und discours (direct) Bernard Cerquiglini, La Parole Médiévale, Paris 1981. 15 Exemplarisch für die Markierung von raschen Redewechseln vgl. Nikolaus Henkel, „Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts“, in: Unzeitig/Miedema/ Hundsnurscher (wie Anm. 1), S. 139–164, hier S. 157–159.

Einleitung | 11

den, sondern vielmehr individuell genutzt werden.16 Dieser Befund wird ergänzt durch einen zweiten: Die vorhandenen Auszeichnungsmittel zur Markierung von Rede werden polyvalent, ohne notwendig eindeutige Funktionsfestlegung eingesetzt. Mit der Transformation des Vortragstextes in die schriftliche Aufbewahrung ist die Stimme medial lediglich in der Dimension des Überlieferungsträgers sichtbar und visuell markiert. In Hinsicht auf eine performative Reaktualisierung indizieren die vorgestellten Handschriftenbeispiele unterschiedliche Realisierungsmöglichkeiten: Es lassen sich einerseits elaborierte Systeme für die Stimmenmarkierung finden, wie im Fall der Kölner Tristan-Handschrift, die für diesen höfischen Versroman auf eine Funktion als Vorlesehandschrift verweisen (vgl. den Beitrag von Birgit Zacke). Andererseits ist zu beobachten, dass spätere Handschriften und Drucke aus dem Kontext der strophischen Dietrichepik des 14. und 15. Jahrhunderts zwar Rede markieren, aber durch die textlich erweiternde Gestaltung von inquit-Formeln und Zuordnung von Rede keine Bezüge zu einer Aufführungspraxis durch einen Sänger erkennen lassen. Innerhalb der exemplarisch vorgestellten Befunde zur Rosengarten-Überlieferung korreliert die Feststellung einer fehlenden systematischen ‚Sichtbarkeit der Stimme‘ durch graphische Mittel mit der nur sporadischen Visualisierung von Redeszenen in den Illustrationen der Handschriften und Drucke (vgl. den Beitrag von Elisabeth Lienert).17 Performative Aspekte in Redesituationen sind im Rosengarten-Corpus lediglich vereinzelt über Handgesten angedeutet oder in den zugeordneten Bildtituli formuliert. Reflexe einer stimmlichen Inszenierung des Textes für den Vortrag finden sich in diesem Fall somit weder auf Schrift- noch auf Bildebene. Weitere neue Aspekte von Stimme und Performanz ergeben sich mit Blick auf frühe niederländische Drucke aus dem 15. und 16. Jahrhundert in Antwerpen (vgl. den Beitrag von Elisabeth de Bruijn). Die thematisch und stofflich auf mittelalterlichen Texten aufbauenden Drucke verweisen mit inserierten Versdialogen und ihrer graphischen Präsentation auf eine performative Dramatisierung, die man sich im Kontext der vor Ort etablierten städtischen Spielgesellschaften vorzustellen hat.

|| 16 Diese Befunde korrelieren auch mit den Ergebnissen einer vergleichenden Analyse der handschriftlichen Überlieferung von Chrétiens de Troyes Erec et Enide von Françoise Gaspari, Geneviève Hasenohr und Christine Ruby, „De l’écriture à la lecture: réflexion sur les manuscrits d’Erec et Enide“, in: Les Manuscrits de Chrétien de Troyes, éd. par Keith Busby, Terry Nixon, Alison Stones et Lori Walters, Amsterdam/Atlanta 1993, Bd. 1, S. 97–148. Der Vergleich der sieben Textzeugen zeigt (unabhängig von der Qualität der Handschriften) den Einsatz einer „ponctuation“ als Redesignal, aber zugleich eine variable Dichte in der Markierung und keine Systematik in ihrer Verwendung; vgl. ebd., S. 128. 17 Dies scheint gattungs- bzw. textspezifisch zu sein: Die Illustrationen der Hundeshagenschen Handschrift des Nibelungenliedes zum Beispiel enthalten, anders als die Rosengarten-Codices, überwiegend Redeszenen; vgl. Beate Braun-Niehr, Das Nibelungenlied. Der Hundeshagensche Codex Ms. germ. fol. 866 der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Berlin/Gütersloh 2012.

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4 Conclusio Die poetische Qualität und Performanz mittelalterlicher Dichtung wird zu einem großen Teil durch die fingierte Mündlichkeit der Redeszenen und die Stimmlichkeit des Vortrags konstituiert. Handschriften und Drucke entwickeln daher eine partiell systematische Schriftkultur der Markierung von Stimmlichkeit, die es ermöglicht, Konzepte von Stimme und Performanz in verschiedenen Sprach- und Kulturräumen zu rekonstruieren. Im Forschungsgebiet der historischen Dialoganalyse finden sich in den letzten Jahren vermehrt Untersuchungen zu Redeszenen in mittelalterlicher Dichtung und zu deren fingierter Mündlichkeit, wobei die Stimmlichkeit als ein Parameter unter vielen erscheint. Der vorliegende Band widmet sich erstmals ausschließlich der Frage nach den Spuren, die Stimme und Performanz in Texten hinterlassen. Zentrales Thema sind die performative Qualität und Stimmlichkeit mittelalterlicher Dichtung und die sich daraus ergebenden Traditionen graphischer Codierung von Stimme in Handschriften und Drucken. Im Besonderen wird für die mittelalterliche Literatur die textinhärente Dialogizität als hörbare Mehrstimmigkeit analysiert, die als genuin mediale Hörbarkeit die poetische Qualität des Textes konstituiert. Die versammelten sprach- und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen dokumentieren eine auf Inszenierung und Effekt angelegte laute Vortragskultur und zeigen auf, dass mittelalterliche Texte aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen eine Schriftkultur zur Markierung von Stimmlichkeit und Mehrstimmigkeit hervorbringen.

| Graphische Codierung der Performanz – Handschrift und Druck

Elisabeth Lienert

(Un-)Sichtbarkeit der Stimme? Reden und Redewechsel in der Rosengarten-Überlieferung Der Rosengarten, ein Heldenepos in Langzeilenstrophen (überliefert ab dem 14. Jahrhundert, vielleicht schon im 13. Jahrhundert entstanden), erzählt von Zweikämpfen Dietrichs von Bern und seiner Helden in Kriemhilds Rosengarten zu Worms. Reden sind fast so wichtig wie die Kämpfe: Diskutiert wird unter anderem die Auswahl geeigneter Kämpfer; den Reihenkämpfen gehen Aufforderungen und Herausforderungsreden voraus. Strophische Heldenepik, auch der Rosengarten, lebt im Sangvortrag, von der Sängerstimme. Die schriftliche Überlieferung1 ist stark variant, in mehreren Versionen und Fassungen, zahlreichen Handschriften und Drucken mit abweichendem Handlungsverlauf, Textbestand und Wortlaut. Das Anspruchsniveau der meisten Textzeugen ist mittel bis niedrig, das Layout wenig aufwändig. Varianz entspringt nicht nur der Variabilität der Gattung, sondern auch geringer Sorgfalt der Schreiber. Ausgangspunkt meiner Überlegungen waren philologisch die Anforderungen an den Editor, direkte Rede und Sprecherwechsel durch Interpunktion zu markieren. Das war manchmal schwierig: In der Rosengarten-Überlieferung gibt es keine entsprechende Interpunktion; inquit-Formeln fehlen bisweilen oder sind nicht eindeutig. Manchmal sind nicht einmal Erzähler- und Figurenrede eindeutig voneinander zu unterscheiden.2 Abgesehen von den inquit-Formeln gibt es nur ganz vereinzelt

|| Dank: Die Vortragsform ist beibehalten; lediglich Nachweise wurden hinzugefügt. Ich danke den Diskussionsteilnehmern für wichtige Anregungen. Für Abbildungsgenehmigungen danke ich der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main und der Universitätsbibliothek Heidelberg. 1 Vgl. die Zusammenstellung der Textzeugen in: Rosengarten, hg. von Elisabeth Lienert, Sonja Kerth und Svenja Nierentz, 3 Bde., Berlin/Boston 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 8,I/II/III), hier Bd. I, S. XIII–LX. Die hier verwendeten Kurzbezeichnungen der Fassungen und Versionen entsprechen denen der Neuausgabe (A-ÄF, A-JF: ältere bzw. jüngere Vulgatfassung von Rosengarten A; A-Dr: Dresdner Rosengarten; D: Vulgatfassung D von Rosengarten DP; C: Rosengarten C), die Siglen der Textzeugen hier und in der Ausgabe sind übernommen aus: Joachim Heinzle, Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin/New York 1999 (De Gruyter Studienbuch). 2 Dies gilt besonders für Parenthesen innerhalb von direkten Reden oder beim Übergang von Erzähler- zu Figurenrede und umgekehrt. Direkte Reden sind nicht immer problemlos am Tempusgebrauch (Präsens), an Anreden, Personalpronomina und Deiktika zu erkennen; Anreden des Erzählers an das Publikum unterscheiden sich manchmal wenig von Anreden textinterner Sprecher an ihre Adressaten. In Dietrichs Rede, mit der er Hildebrand und den anderen Bernern gegenüber seine

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und punktuell Ansätze einer Markierung von Figurenrede. Die hier vorgestellten Beispiele sind exemplarisch vor allem aus Leittextzeugen verschiedener Fassungen entnommen (ggf. mit Lesarten), es handelt sich durchweg um Textzeugen des 14. und 15. Jahrhunderts (R12: Leithandschrift für A-ÄF, 1453; R9: Leithandschrift für D, um 1420; R7: einziger Textzeuge für C, um 1370/1380; r1: Leitdruck für A-JF, 1479). Spektakulär sind auch die markanten Beispiele in keinem Fall – Handschriften höheren Anspruchsniveaus bieten tendenziell auch mehr an Sichtbarkeit der Stimme; das Alltägliche mag freilich als Folie von Interesse sein. Ausgeklammert sind hier aufgrund anderer Gattungszugehörigkeit die zwei Fassungen des RosengartenFastnachtspiels.

1 Sängerstimme und Strophenform Übergeordnet ist die Stimme des Sängers, der Erzähler- und Figurenrede im Sangvortrag zum Klingen bringt: Im Vortrag von Heldenepik ist alles Stimme.3 ‚Regieanweisungen‘ für die Vortragsweise gibt es nicht. Ob und ggf. wie Figurenrede und Sprecherwechsel akustisch angezeigt wurden, zum Beispiel durch die Stimmlage bzw. eine andere Intonation der gleichbleibenden Melodie, ist unbekannt.4 Wo Männer- und Frauenstimme wechseln, wäre das einfach, bei vielen Heldenstimmen weniger. Inquit-Formeln sind auch im invarianten Kernbestand des Textes sehr

|| Entschlossenheit bekundet, dem drutz (A-Dr 80,2) der Wormser Herausforderer entgegenzutreten, ist zum Beispiel die Parenthese (sie des nit wolten geroten, als ich euch thun bekant) eingeschoben, die ebenso als Einschaltung des Erzählers durchgehen könnte (A-Dr 80,3 und Anmerkung, Rosengarten (wie Anm. 1), Bd. I, S. 191; vgl. zum Beispiel auch D v. 1952f., D v. 1412f. und Anmerkungen, ebd., Bd. II, S. 394, 354). 3 Allgemein zum Sangvortrag von Heldendichtung vgl. zum Beispiel Horst Brunner, „Epenmelodien“, in: Formen mittelalterlicher Literatur. Festschrift für Siegfried Beyschlag, hg. von Otmar Werner und Bernd Naumann, Göppingen 1970 (GAG 25), S. 149–168; Horst Brunner, „Strukturprobleme der Epenmelodien“, in: Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstitutes, hg. von Egon Kühebacher, Bozen 1979 (Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstitutes 7), S. 300328; Gisela Kornrumpf, „Strophik im Zeitalter der Prosa. Deutsche Heldendichtung im ausgehenden Mittelalter“, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, hg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien – Berichtsbände 5), S. 316340; Harald Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004. 4 Maria E. Müller sieht die akustische Markierbarkeit von Figurenrede durch die melodische Form eingeschränkt: Maria E. Müller, „Vers gegen Vers. Stichomythien und verwandte Formen des schnellen Sprecherwechsels in der mittelhochdeutschen Epik“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 117–137, hier S. 122.

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häufig; das spricht tendenziell eher dagegen, dass die Klarheit der Redeverteilung im Vortrag von außertextlichen Mitteln abhängig war. Indiz für die Sängerstimme ist in der schriftlichen Überlieferung nicht eine Melodie (die Textzeugen mittelhochdeutscher Heldenepik, auch die des Rosengarten, enthalten durchweg keine Melodien), sondern lediglich die Strophik. Der Rosengarten ist im Hildebrandston abgefasst, einer Strophenform aus vier paargereimten, gleich gebauten zäsurierten Langzeilen. In der Schrift ist diese Strophenform als solche ohne besondere Markierung nicht von fortlaufenden Langverspaaren zu unterscheiden. In den meisten Rosengarten-Handschriften sind Strophen nicht konsequent abgesetzt oder markiert.5 Von den vollständigen Textzeugen weisen nur die späten Umarbeitungen in die Heunenweise (mit zusätzlichen Anversreimen gegenüber dem Hildebrandston) eine konsequente Strophengliederung auf: das Dresdner Heldenbuch (R14) und die Auflagen des Gedruckten Heldenbuchs (r1–r6). Wenn Strophen überhaupt markiert werden, stehen dafür nur begrenzte Mittel zur Verfügung: Absetzen von Strophen, ggf. zusätzlich mit Aus- oder Einrücken von Strophenanfängen, Gliederungssignale wie Alinea- bzw. Paragraphen- oder Caputzeichen, Initialen und Lombarden, Rubrizierung. Dies sind tendenziell die gleichen Mittel wie sie üblicherweise der Textgliederung6 (etwa beim Wechsel von Handlungssträngen) und – im Rosengarten-Corpus sehr selten – der Markierung von Figurenrede dienen. Die Textzeugen des Rosengarten verwenden, wenn überhaupt, zur Strophengliederung Alineazeichen (R2, ganz inkonsequent R7), vereinzelt „vorgezogene[ ] Initiale[n]“7 (R19) oder setzen Strophen ab (mit Rubrizierung des Strophenbeginns R14; mit Einrücken und Majuskeln/Versalien bei den Strophenanfängen die erste Auflage des Gedruckten Heldenbuchs r1).8 Es überwiegt das Absetzen von Lang-, gelegentlich auch Kurzversen, bisweilen mit Markierung der Versanfänge. Initialen, Lombarden und Alineazeichen scheinen überwiegend der Absatzgliederung zu dienen. Die Strophenform und damit der optische Eindruck von Sangbarkeit werden durch gra-

|| 5 Zu den Beschreibungen der Textzeugen vgl. Rosengarten (wie Anm. 1), Bd. I, S. XIII–LX; Ghislaine Grimm, Heldendichtung im Spätmittelalter. Überlieferungsgeschichtliche Studien zu den skriptographischen, typographischen und ikonographischen Erscheinungsformen des ‚Rosengarten zu Worms‘, Wiesbaden 2009 (Imagines Medii Aevi 22). 6 Grundsätzlich zu den Mitteln der Textgliederung vgl. besonders Nigel F. Palmer, „Kapitel und Buch. Zu den Gliederungsprinzipien mittelalterlicher Bücher“, in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), S. 43–88; Johann Peter Gumbert, „Zur ‚Typographie‘ der geschriebenen Seite“, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. von Hagen Keller, Klaus Grubmüller und Nikolaus Staubach, München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 283–292; Barbara Frank, „Zur Entwicklung der graphischen Präsentation mittelalterlicher Texte“, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 47 (1993), S. 60–81. 7 Bernhard Schnell, „Eine neue Fassung des ‚Rosengarten‘?“, in: ZfdA 108 (1979), S. 3350, hier S. 34. 8 Die senkrechten Doppelstriche zur Stropheneinteilung in R12 sind neuzeitlich und nicht konsequent gesetzt.

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phische Betonung einerseits des Einzelverses, andererseits strophenübergreifender Absätze eher überspielt als hervorgehoben.

2 Text und Stimmen: inquit-Formeln und Sprecherzuordnung Auch unabhängig von den Unwägbarkeiten der Überlieferung werden in den Rosengarten-Texten direkte Reden weit überwiegend durch inquit-Formeln9 ausdrücklich bestimmten Sprechern zugeordnet. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle leiten inquit-Formeln direkte Reden ein (zum Beispiel Do sprach die konigin, A-ÄF 14,210); sehr häufig sind auch Unterbrechungen der Rede durch inquit-Formeln (zum Beispiel sprach die kunigin, A-ÄF 19,1); selten stehen sie abschließend nach direkter Rede (zum Beispiel sprach do her Dytherich, P v. 58; vgl. auch A-ÄF 384,1; A-Dr 315,2). Solche ausführlichen inquit-Formeln umfassen in den meisten Fällen einen Halbvers (bei Spitzenstellung meist den Anvers), bei detaillierterer Bezeichnung des Sprechers manchmal einen ganzen Langvers (zum Beispiel Do sprach ein hertzog jung, der was uß Pravant, A-ÄF 16,3). Sie können, trotz der Formelhaftigkeit der Formulierungen, gelegentlich variieren: Zwar ändert sich das verbum dicendi kaum (es dominiert sprach), wohl aber variiert die Kennzeichnung des Sprechers durch Name, Herkunftsbezeichnung, Status, Epitheta. Für das Publikum ist der jeweilige Sprecher meist der inquit-Ansage zu entnehmen, manchmal auch mehrfach: Da sprach Wittich: „Und geb er mir alles sin lant, / doch bestunde ich sin nit“, sprach der wygant. (A-ÄF 262,3f.). Einer Modulation der Stimme beim Vortrag, um direkte Rede zu markieren, bedürfte es in den meisten Fällen nicht. Wie ausführlich und aussagekräftig die inquit-Formel ist, hängt vor allem von den metrischen Gegebenheiten ab: ob noch ein Halb- oder gar ein ganzer Langvers zu füllen ist, ob gerade noch ein er bzw. si sprach zum Beispiel in einem zweisilbigen Auftakt unterzubringen ist oder ob die Rede uneingeleitet bleibt; auch liefern inquit-Formeln nicht selten flexible Reimwörter. Die sehr häufigen ‚kurzen‘ inquit-Formeln (er bzw. si sprach) bieten eigentlich keine oder kaum eine Information zur Referenz, sondern markieren lediglich die Tatsache, dass gesprochen wird; sie erscheinen quasi als Rede-Marker, allerdings nicht konsequent. Insbesondere bei schnellen Redewechseln, wo Orientierung am nötigsten wäre, fehlen gelegentlich inquit-Formeln. Dadurch ist manchmal nicht auf den ersten Blick zu entscheiden, ob eine Rede fortgesetzt oder von der

|| 9 Grundsätzlich zu Formen und Funktionen der inquit-Formel in mittelhochdeutscher Literatur vgl. Franz Hundsnurscher, „Das literarisch-stilistische Potential der inquit-Formel“, in: Miedema/Hundsnurscher (wie Anm. 4), S. 103–115. 10 Alle Zitate nach Rosengarten (wie Anm. 1).

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eines anderen Sprechers abgelöst bzw. durch Zwischenrede unterbrochen wird. Ob und ggf. wie beim Sangvortrag eine akustische Vereindeutigung vorgenommen wurde, wissen wir nicht. Inwieweit die Überlieferung Sprecher und Sprecherwechsel durch Hinzufügung von inquit-Formeln verdeutlicht oder durch Wegfall verunklärt, ist meist nicht leicht festzustellen: Ein Original ist nicht greifbar; Rückschlüsse aus der Metrik sind nur bedingt möglich – die Metrik der Handschriften (nicht die der Handbücher) lässt ziemlich viel zu. Gelegentlich sind Langverse in allen Handschriften einer Fassung durch inquit-Formeln ‚überfüllt‘, zum Beispiel Er sprach: „Nempt von myner hend das guldin fingerlin, / [...]“ (A-ÄF 23,3); zweisilbiger Auftakt wäre allerdings denkbar.11 Aufschlüsse liefert gelegentlich die Varianz: Sie sprach: „Wa ir in dem land varend, so műse euch got bewarn!“ (A-ÄF 25,3). Sie sprach erscheint nur im Leittextzeugen R12; in allen Parallelhandschriften (R20, R17, R11, R4) fehlt es. In R12 geht diesem Segenswunsch der Herzogin Bersabe an den Herzog von Brabant eine Zwischenüberschrift voran (Hie rytet der hertzog von Pravant in das land gen Bern, vor 23,3); möglicherweise soll danach Sie sprach die Referenz augenfällig klären. Es begegnen jedoch auch ‚unterfüllte‘ Verse bei fehlender inquit-Formel: „Ich lise, also es geschriben stot: / [...]“ (D v. 308, wegen Lücke in R9, nur in R16 erhalten); es spricht wohl Dietrichs Schreiber, der Kriemhilds Brief vorliest; die fehlende inquit-Formel geht hier möglicherweise auf eine Tendenz zur Ökonomie zurück: Vielleicht sollte die redeinterne Redeankündigung Ich lise nicht gedoppelt werden. Der Umgang mit der Redesituation in der Überlieferung ist auch sonst nicht einheitlich. Wenn Verse mit inquit-Formeln teilweise stehen, teilweise fehlen, wird die Redesituation entweder in einem Teil der Überlieferung verunklärt oder im anderen vereindeutigt; was richtig oder ursprünglich ist, ist nicht immer festzustellen. In der Leithandschrift von A-ÄF fordert Hildebrand den Draufgänger Wolfhart indirekt zu einem Zweikampf gegen den Riesen Pusolt auf, der sich soeben Gibich für den nächsten Kampf zur Verfügung gestellt hat: Da sprach meinster Hiltebrant: „Sichstu das, Wolffhart?“ (A-ÄF 222,3), und Wolfhart antwortet unvermittelt, ohne Redeeinleitung: „Wir hab diß reyse all zu lange gespart. / Ich enseume mich nit [...]“ (A-ÄF 222,4–223,1 und f.). Die Parallelüberlieferung (R20, R17, R11, ähnlich A-JF 262,4f.; A-Dr 193,4f.) enthält einige Plusverse vor Wolfharts Antwort (nach 222,3): Nü hebe dich liebir neffe gein yme vff die fart / Da sprach der wodinde wolffart (hier nach R20), mit einer inquit-Formel, die Wolfhart zugleich nennt und entsprechend der üblichen Rollentypik charakterisiert.12 Manchmal führen Unterschiede in Versbestand oder Versfolge zu unterschiedlicher Zuordnung der Reden: „Ir mgent under allen recken wol der kunest sin. / Wer

|| 11 Vgl. ebenso zum Beispiel A-ÄF 216,3. 12 Vgl. auch D v. 477 (R9), ohne inquit-Formel „Wet der úbel túfel, wolt der múnch in dis lant?“; Plusverse in R16 und R18 (ähnlich P v. 219–221) nennen Wolfhart als Sprecher.

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des nit glaubt, daz ist mir sicher leyt.“ (A-ÄF 210,2f.): Kriemhild (zuvor als Sprecherin genannt) macht ihrem Kontrahenten Dietrich ein Kompliment (A-ÄF 210,2), und auch der Folgevers mit der Bekräftigung des Gesagten (A-ÄF 210,3) kann in diesem Kontext nur ihr in den Mund gelegt sein. Handschrift R10 enthält allerdings zwei Plusverse nach 210,2, die nicht ausdrücklich (eine inquit-Formel fehlt), aber sachlich eindeutig Dietrich zugeordnet sind: Jch bin nit der konste edel konigin / So hoffen ich auch ich wel nit der boste syn. Dann aber ist [„]Wer des nit glaubt, daz ist mir sicher leyt.“ Teil von Dietrichs Rede. In der Leithandschrift von A-ÄF belohnt Kriemhild den Dietrichhelden Witege vereinbarungsgemäß für seinen Sieg, und auch die folgende anerkennende Bemerkung ist ihr in den Mund gelegt, bevor Witege sich zu seinen Leuten begibt und dort von Dietrich zum Lohn dessen Pferd Schemming erhält: Ein helsen und ein kuschen gab sie dem werden man. „Du hast dem din erlichen gesigt an.“ Da ginge der helt Wittich zu dem Wolffingen hin dan. Da sprach der von Bern: „Du bist ein bider man. [...]“ (A-ÄF 271,1–4)

In den Handschriften R17 und R11 steht „Du hast dem din erlichen gesigt an.“ nach „Du bist ein bider man [“], gehört also in Dietrichs Rede. In anderen Fällen resultiert – unterschiedliche – Vereindeutigung der Sprechsituation aus Varianz in der Anrede: Mit „Das lyt an euch selber, lieber bruder min“ (A-ÄF 160,3) spricht einer der Klosterbrüder Ilsan an; mit den Varianten liebin brudir (R20, R17, R11) bzw. ir lieben brůder (R4), ‚liebe Brüder‘ bzw. ‚ihr lieben Brüder‘, aber gehört der Vers in Ilsans Rede. In einigen Fällen bleibt unklar oder muss nicht ohne Mühe im Kontext geklärt werden, wer der Sprecher ist.13 Ob und wie das im Vortrag vereindeutigt wurde, wissen wir nicht. In einigen Fällen muss in der modernen Edition der Herausgeber durch Interpunktion und/oder Graphie eine Entscheidung treffen, obwohl der Wortlaut mehrdeutig ist: Nachdem Hildebrand Amerlot als Gegner Gunthers benennt, antwortet der Auserwählte zunächst (auch ohne inquit-Formel eindeutig): „Ich thun es willickleichen“ (A-Dr, 295,3); die Zuordnung des Abverses „Mit streit so won im pey“ jedoch hängt an der Deutung von im: Als Personalpronomen markiert es eine (erneute) Kampfaufforderung Hildebrands ([Amerlot:] „Ich thun es willickleichen.“ [Hildebrand:] „Mit streit so won im pey.“),14 als Kontraktion aus ich im gehört es in Amerlots Rede ([Amerlot:] „Ich thun es willickleichen, mit streit so won i’m pey.“).15 || 13 Vgl. auch D v. 159–163, die Hildebrands Rede oder dem vom Schreiber referierten Inhalt des Briefs zugeordnet werden können; dass Rüdiger D v. 963–969 seine Rede fortsetzt, zwischen die Rede Wolfharts geschoben, geht nur aus dem Sinn hervor. 14 So Rosengarten (wie Anm. 1). 15 So Das Dresdener Heldenbuch und die Bruchstücke des Berlin-Wolfenbütteler Heldenbuchs. Edition und Digitalfaksimile, hg. von Walter Kofler, Stuttgart 2006, S. 202−235, 295,3.

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Mitten im Dialog zwischen Gippich und Hildebrand vor ihrem Zweikampf begegnet in D ein Vers ohne inquit-Formel, in dem der Sprecher auf sein hohes Alter hinweist (D v. 1019) und der daher sinngemäß beiden Gegnern zugeordnet werden könnte; (nur) für den interpungierenden Editor ist es nicht gleichgültig, ob Gippich noch weiterredet („[...] / So bin ich in súlicher aht, hundert jor sint mir gezalt“) oder bereits Hildebrand antwortet („So bin ich in súlicher aht, hundert jor sint mir gezalt“). Auch Namensverwechslungen in inquit-Formeln, Fehler in der Redezuweisung begegnen bisweilen.16 Das deutet darauf, dass die Schreiber sich weder enger auf den Sinn des Wortlauts eingelassen haben noch zeitnah Zugang zu einer die Sprecher vereindeutigenden Vortragspraxis hatten. Als Gedächtnisstütze vor dem Vortrag wäre so etwas wenig hilfreich, schwer vorstellbar aber auch als Aufzeichnung aus dem Gedächtnis unmittelbar nach einem Vortrag.

3 Stimme und Layout: graphische Markierungen, Paratexte, Abbildungen Selten wird die Stimme, werden Stimmen oder Redesituationen auch im Layout markiert (in der Regel zusätzlich zum Wortlaut). In den Textzeugen des Rosengarten spielen dabei Interpunktionszeichen wie Virgel, Punkt oder Zitatzeichen für die Markierung von direkter Rede oder Redewechseln keine Rolle (Interpunktion fehlt in diesen Handschriften auch sonst fast vollständig).17 Wenn überhaupt, wird Rede (sehr selten) graphisch markiert durch Lombarden und Alinea- bzw. Paragraphenoder Caputzeichen, d.h. durch Mittel der Textgliederung, die neben der Absatzgliederung nach Sinneinschnitten oder bei Wechsel des Handlungsstrangs auch der Strophengliederung und der Hervorhebung dienen können, bisweilen lediglich der optischen Gliederung der (Doppel-)Seite. Die Polyvalenz der Zeichen verunklärt ihre konkrete Funktion im Einzelfall. Lombarden werden in der Rosengarten-

|| 16 Einige Beispiele: Der Sprecher, der A-Dr 218,2–4 Rache für seine in den Kämpfen getöteten Angehörigen ankündigt, kann nicht der in der Handschrift genannte Heym sein, da auf der Seite der Berner kein Kämpfer im Rosengarten gefallen ist. In der Episode von Rüdigers Gesandtschaft nach Worms und seinem Besuch bei Kriemhild und ihren Damen häufen sich falsche inquit-Formeln (D v. 877ff.), die bei der Edition zu Eingriffen zwingen; Rüdiger bittet, den Gesang der künstlichen Vögel in Kriemhilds Garten hören zu dürfen, nicht, wie in R9, eine von Kriemhilds Hofdamen. 17 Anders in einem Beispiel aus der Berliner Handschrift von Veldekes Eneas bei Nikolaus Henkel, „Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts. Das Modell der Dramen des Terenz und Seneca“, in: Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven, hg. von Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1), S. 139–164, hier S. 168f.

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Überlieferung eher sparsam und meist zur Abschnittsgliederung verwendet.18 In den Leittextzeugen kommen auf einen Textbestand bis maximal etwa 600 Strophen (knapp 1000 bis rund 2500 Langzeilen) 15 bis 37 Lombarden. Lombarden stehen fast immer bei Textbeginn nach Überschrift oder Zwischenüberschrift; wohl eher zufällig fällt dies mehrfach mit inquit-Formeln zusammen. Mehrfach stehen sie bei Handlungsstrangwechsel, gelegentlich zu Beginn von Strophen, noch seltener bei inquitFormeln in anderer Position als der nach (Zwischen-)Überschrift, nur ganz vereinzelt bei direkter Rede selbst. Ob sie tatsächlich wegen der Rede bzw. Redeeinleitung gesetzt sind, ist unsicher oder zweifelhaft, wenn zugleich Abschnittswechsel und/oder Strophenbeginn vorliegen.

Abb. 1: Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Ms. germ. qu. 2 (R7), fol. 32r [Ausschnitt] (Lombarde bei C 68,3)

An einer markanten Stelle in R7 (fol. 32r, zu Beginn von C 68,3) steht die Lombarde zu Beginn einer direkten Rede selbst (Abb. 1); es handelt sich aber zugleich um eine Gelenkstelle bei der Montage von D- und A-Elementen (mit „Nomine domine“ geht der Mischtext wieder über zu A). Dominant scheinen die Funktionen der Gliederung und Hervorhebung. Meist ist wohl auch die Optik der Doppelseite mitzubedenken,

|| 18 Lombarden und Initialen (teilweise nicht ausgeführt, aber durch Freiräume, ggf. mit Lombardenstellvertretern, vorgesehen) begegnen in R2 (F), R6 (P), R7 (C), R8 (D), R9 (D), R10 (A-ÄF), R11 (AÄF), R12 (A-ÄF), R19 (F), R20 (A-ÄF).

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auch wenn die ästhetischen Prinzipien der Verteilung von Lombarden hier nicht offensichtlich auf der Hand liegen. Aussagekräftig ist der Befund allenfalls, wenn überhaupt, für R9 (D), die aber auch nur 37 Lombarden aufweist. Im fortlaufenden Text (außerhalb der Position nach Überschrift oder Zwischenüberschrift) stehen in R9 Lombarden fast nur im Zusammenhang mit inquit-Formeln (vierzehnmal), meist bei der Einleitung direkter Rede des Typus Do sprach ... (D v. 239, 278, 531, 577, 763, 782, 867, 945, 1767, 1938, 2134; nur D v. 1588 beim Sprechernamen), lediglich in zwei Fällen (D v. 1186 und 1379) nach direkter Rede Also sprach ... Zweimal erscheinen sie in direkter Rede selbst (D v. 488 bei der Fortsetzung der Rede des gleichen Sprechers nach eingeschobener inquit-Formel; D v. 1300 zu Beginn einer Rede), einmal bei der Einleitung indirekter Rede (D v. 728: Do sprochent). Lediglich zwei Lombarden in anderer Position als nach (Zwischen-)Überschrift haben eine nicht mit Reden oder Rede-Einleitungen zusammenhängende Funktion (D v. 999: Wechsel des Handlungsstrangs; D v. 2390: Beginn einer Aufzählung). Gelegentlich haben also Lombarden anscheinend durchaus die Funktion, Redeeinleitungen (seltener Redeschlüsse, nur vereinzelt Reden selbst) hervorzuheben (Abb. 2).

Abb. 2: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 359 (R9), fol. 8v und fol. 9r [Doppelseite, verkleinert] (Lombarden bei D v. 239 und v. 278, jeweils bei inquit-Formeln Do sprach ...); http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg359/0032 und 0033 (Stand: 09.03.2017)

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Allerdings ist es angesichts der äußerst geringen Gesamtzahl von Lombarden nur ein winziger Bruchteil der inquit-Formeln und Reden, der so betont wird. Auf der Doppelseite fol. 8v–9r des Cpg 359 (Abb. 2) ist nur je eine Redeeinleitung durch Lombarde markiert; drei weitere auf fol. 8v und zwei weitere auf fol. 9r sind nicht hervorgehoben. Lombarden stehen, wenn überhaupt, meist bei ‚langen‘, situationsbezogenen inquit-Formeln des Typs Do sprach ..., wo Redesituation und Sprecher ohnehin durch den Wortlaut direkt bezeichnet sind; sie dienen nicht der Klärung der Redesituation, sondern heben einzelne Reden hervor, meist bei stärkeren Einschnitten in Argumentation oder Handlung. Entscheidend ist die Hervorhebungsfunktion (die hier besonderen Reden gilt), nicht die Markierung der Stimme. Alinea- bzw. Paragraphenzeichen und Verwandtes stehen in den verschiedenen Handschriften des Rosengarten teilweise bei Langzeilen- (R1) oder, weniger konsequent, bei Strophenanfängen (R12, R7, R2), gelegentlich bei Sprecherwechsel (R12, R7); sie dienen der Abschnittsgliederung (R12, R7, R5), vor allem bei Wechsel des Handlungsstrangs, oder der Hervorhebung. Ihre genaue Funktion ist im Einzelfall fast immer unklar; mehrfach fallen mehrere Möglichkeiten zusammen. Besonders in R7 (C) gibt es sehr viele Alineazeichen sowie Doppelstriche (vermutlich Reste von Alineazeichen) am linken Rand vor der Zeile. In zahlreichen Fällen, manchmal über mehrere Seiten hinweg, markieren diese Alineazeichen Strophenanfänge, unbekümmert um Rede oder Nicht-Rede; umgekehrt begegnen sie manchmal seitenweise gar nicht; niemals werden sie konsequent in einer eindeutigen Funktion eingesetzt. Häufig fallen Strophenanfänge mit Sprecherwechsel zusammen, mit inquit-Formeln oder direkter Rede. In nur zwei Fällen scheint speziell auf den Redezusammenhang Rücksicht genommen: In einer Redeszene in R7 (C 97,1–102,1; fol. 34r), der Beratung über die Auswahl der Kampfgegner, sind über mehrere Strophen hinweg mit Alineazeichen zugleich Strophenanfänge und einige der Sprecherwechsel bezeichnet (meist nur die Fragen, nicht die Antworten) (Abb. 3). Jedoch fehlt das Alineazeichen am Strophenbeginn C 103,1, wo kein Sprecherwechsel stattfindet, und steht erst wieder beim Sprecherwechsel C 103,3 (ausnahmsweise Dietrichs Antwort). Der nächste Sprecherwechsel C 104,1 allerdings ist wiederum nicht markiert; hier sieht es fast so aus, als solle aus optischen Gründen der Abstand zwischen den Alineazeichen nicht zu kurz ausfallen.

(Un-)Sichtbarkeit der Stimme? | 25

Abb. 3: Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Ms. germ. qu. 2 (R7), fol. 34r [Ausschnitt] (Alineazeichen bei C 100,1; 101,1; 102,1; 103,3)19

Abb. 4: Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Ms. germ. qu. 2 (R7), fol. 29v [Ausschnitt] (Alineazeichen bei C 26,4)

|| 19 Auf der gleichen Seite zuvor schon, nicht abgebildet, bei C 97,1; 98,1; 99,1.

26 | Elisabeth Lienert

In einem Fall (R7, fol. 29v, C 26,4) steht das Alineazeichen mitten im Reimpaar (Abb. 4). Die Funktion der Markierung einer Strophengrenze ist hier auszuschließen. Als Funktion des Alineazeichens kommt nur die Hervorhebung der Redeeinleitung in Frage; hervorgehoben wird damit freilich eine besondere Rede, der Beginn der Beratungen in Bern über die Behandlung der Boten aus Worms. (Nur wenige Zeilen später ist eine weitere Redeeinleitung nicht markiert.) Sporadische Zwischenüberschriften gibt es in vielen (nicht allen) Textzeugen. Nach Zwischenüberschriften folgen häufig direkte Reden. Die Überschriften selbst weisen allerdings in der zweiten Hälfte des Textes (ab Beginn der Reihenkämpfe) meist nur auf die Zweikämpfe, nicht auf die Reden hin. Nicht einmal der lange Streit Hildebrands mit Dietrich, bevor dieser endlich gegen Siegfried antritt, schlägt sich im Wortlaut der Zwischenüberschriften nieder. Die Zwischenüberschriften des ersten Teils (bis zur Ankunft der Berner in Worms) in R12 (A-ÄF) und R9 (D) weisen auch auf Redeszenen wie Empfänge, Bitten, Vorlesen und ähnliches hin.20 Dabei nehmen sie auf die Reden selbst keine Rücksicht; bisweilen (zum Beispiel R12 [A-ÄF] vor 46,3; vor 102,1) stehen Zwischenüberschriften sogar mitten in direkter Rede.

Abb. 5: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 359 (R9), fol. 14r [Ausschnitt]; http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg359/0043 (Stand: 09.03.2017)

|| 20 Vgl. zum Beispiel R12 (A-ÄF) vor 46,3: Hie enphecht [...]; vor 95,1 Hie [...] sagt; vor 102,1 Hie sagt [...]; vor 178,3 Hie [...] bit [...]; vor 215,3 Hie sagt frawe Krinhilt den frid uff dem von Bern; R9 (D) vor v. 61 Also her Dieth die herren hies wilckon sin [...]; vor v. 197 Also der schriber den herren den brief laß.

(Un-)Sichtbarkeit der Stimme? | 27

Die (wenigen) Abbildungen von Redeszenen21 in R9, einer Handschrift mit kolorierten Federzeichnungen aus dem Umfeld der ‚Elsässischen Werkstatt von 1418‘, und die Holzschnitte mit Redeszenen im Gedruckten Heldenbuch (hier vertreten durch die erste Auflage, r1) verdeutlichen Redesituationen ausschließlich durch die Anordnung der Figuren im Raum und vor allem durch entsprechende Gesten. Das in der Bildüberschrift formulierte Willkommenheißen von Gästen etwa wird in einer Federzeichnung in R9 (fol. 14r, vor D v. 511) durch die ausgestreckten Hände der Gastgeberin angezeigt (Abb. 5). Spruchbänder und ähnliche Textelemente im Bild kommen nicht vor; an Paratexten außerhalb der Abbildungen begegnen regelhaft Bildbeischriften bzw. Bildtituli über den Federzeichnungen (R9) bzw. Holzschnitten (r1). Rede ist bisweilen im Bild ausgespart: Wenn der riesenhafte Siegfried über den Zaun des Rosengartens steigt, um sich Dietrich zu stellen, erwähnt nur der Bildtitulus seine Herausforderungsrede (r1, fol. 249r, A-JF vor 410,3: Hie sprang der húrnen Seifrit in den Rosengarten vnd rieft, wa der von Bern sey, obe er mit jm wlle streiten vnd meint, er sey ferczagt); im Bild ist nichts dergleichen angezeigt. Meistens handelt es sich bei den Redeszenen um konventionalisierte Szenen des Empfangs, des Abschieds oder der Beratung, wo aus der Figurenanordnung und aus den Handgesten22 auf die Gesprächssituation zu schließen ist. Bei solchen konventionalisierten Szenen werden – regelhaft im frühen Buchdruck – Holzschnitte häufig mehrfach verwendet und sind entsprechend unspezifisch, ohne Hinweise auf Sprecheridentitäten oder Redeinhalte. Die Handgesten sind meistens nicht mehr als Zeigegesten (charakteristisch ist der ausgestreckte Zeigefinger); um sie als Indikatoren der Redesituation zu deuten, bedarf es des Textes, mindestens des beigefügten Bildtitulus23. Wie der Bildtitulus (Abb. 6) formuliert (Hie bat die kúnigin ein herczogen auß brobant ir bot zů sein zů dem von beren / vnd ferheisset jm die herczogin Saba zů geben; vor A-JF 19,3), handelt es sich hier um die Beauftragung eines Boten. Der gleiche Holzschnitt wird für weitere KriemhildSzenen verwendet, den Empfang der Berner durch Kriemhild (fol. 236r; vor A-JF 241,3) und die Aufkündigung der Waffenruhe vor dem Beginn der Kämpfe (fol. 237r; vor A-JF 254,3: Hie ward der frid dem Berner vnd seinen helden aufgesagt von der kúnigin).

|| 21 Zur Wiedergabe von Redeszenen im Bild vgl. grundsätzlich Anja Becker, „Dialogszenen in Text und Bild. Beobachtungen zur Leidener Wigalois-Handschrift“, in: Miedema/Hundsnurscher (wie Anm. 4), S. 19–41, zu den Handgesten bes. S. 28f. 22 Vgl. ebd., bes. S. 28f. 23 Faksimile des Darmstädter Exemplars der ersten Auflage des Gedruckten Heldenbuchs: Heldenbuch. Nach dem ältesten Druck in Abbildung hg. von Joachim Heinzle, Bd. 1, Göppingen 1981 (Litterae 75,1), hier fol. 218r.

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Abb. 6: Gedrucktes Heldenbuch, erste Auflage, o.O. o.J. [Straßburg um 1479] (Exemplar: Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Inc. III 27) (r1), fol. 218r [Ausschnitt], vor A-JF 19,3; http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-iii-27/0435 (Stand: 09.03.2017)

Auch in der bildlichen Darstellung von Beratungsszenen verweisen die Konfigurationen der Körper im Raum und die Handgebärden auf die Redesituation (Abb. 7). Der gleiche Holzschnitt wird fol. 226v, vor A-JF 124,3, wiederverwendet. Details zur Situation und zu den Sprechern liefern nur die Bildtituli (Hie saß der von Beren bey den gesten, als sie sich hetten abgeczogen vnd redten von den dingen. Da kam Wolffart vnd berieffet sie zů tisch, vor A-JF 95,1; Hie siczt herr Dieterich von Bern vnd wúrt zů rat mit Hiltbrant vnd mit seinen mannen, wie sie sich in dem garten halten wllen, vor AJF 124,3). Im Holzschnitt, der abbildet, wie die Herzogin Wolfhart um Hilfe für die bedrohten Wormser Boten bittet (r1, fol. 222v, vor A-JF 78,3), verweist die Handgebärde auf eine Redesituation, keine erotische, trotz des Vertraulichkeit anzeigenden Betts, das im Text nicht vorkommt (Abb. 8). Wo möglich, wird Rede durch Visualisierbares ersetzt oder angedeutet: Die Übergabe von Kriemhilds Brief, der (indem er verlesen und diskutiert wird) auch im Text zentral ist, steht im Bild für die ganze Botschaft (Abb. 9). Gibichs erzwungene Belehnung durch Dietrich nach Abschluss der Kämpfe wird repräsentiert durch die performative Schwurgeste (Abb. 10).

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Abb. 7: Gedrucktes Heldenbuch, erste Auflage, o.O. o.J. [Straßburg um 1479] (Exemplar: Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Inc. III 27) (r1), fol. 224r [Ausschnitt], vor A-JF 95,1; http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-iii-27/0447 (Stand: 09.03.2017)

Abb. 8: Gedrucktes Heldenbuch, erste Auflage, o.O. o.J. [Straßburg um 1479] (Exemplar: Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Inc. III 27) (r1), fol. 222v [Ausschnitt], vor A-JF 78,3; http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-iii-27/0444 (Stand: 09.03.2017)

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Abb. 9: Gedrucktes Heldenbuch, erste Auflage, o.O. o.J. [Straßburg um 1479] (Exemplar: Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Inc. III 27) (r1), fol. 219r [Ausschnitt], vor A-JF 30,3 (Hie reit der herczog von brobant mit den seinen gen beren vnd bringent dem berner die botschaft von der kúnigin crymhilt.); http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-iii-27/0437 (Stand: 09.03.2017)

Abb. 10: Gedrucktes Heldenbuch, erste Auflage, o.O. o.J. [Straßburg um 1479] (Exemplar: Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Inc. III 27) (r1), fol. 253v [Ausschnitt], vor A-JF 472,1 (Hie sichert vmb alle spenn / vnd schwert / kúnig Gibich / herr Dieteriche von Bern / vnd empfacht sein land von dem berner zů lehen.); http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-iii-27/0506 (Stand: 09.03.2017)

(Un-)Sichtbarkeit der Stimme? | 31

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Fazit: Stimme, Schrift und Performanz

Konventionen für die graphische Markierung von Rede und Sprecherwechseln sind in der Rosengarten-Überlieferung nicht etabliert. Es deuten sich allenfalls in wenigen Einzelfällen besonders hervorzuhebender Reden zaghafte Ansätze zu einer solchen Markierung an; diese bedient sich freilich der gleichen Mittel wie andere Hervorhebungen: Lombarden und Alinea. Die Zeichen sind polyvalent, ihre Funktion ist nicht eindeutig, da die gleichen Codierungen auch für die Abschnittsgliederung und zur Markierung der Strophenform verwendet werden, alles in keiner Weise konsequent. Die Rosengarten-Überlieferung ist hierin wohl nicht nur gattungstypisch für Heldenepik. Sie kann wohl repräsentativ für Handschriften niedrigen bis mittleren Anspruchsniveaus im 14. und 15. Jahrhundert stehen. Abbildungen sind selten; in größerer Anzahl begegnen sie erst im Gedruckten Heldenbuch; stets sind sie mit Bildüberschriften verbunden. Tendenziell fokussieren die Abbildungen weniger auf Redeszenen. ‚Text im Bild‘ (Spruchbänder und Ähnliches) fehlt völlig. Die Abbildungen konzentrieren sich auf die Figuren und ihre Position im Raum und zueinander; gelegentlich stehen performative Gesten für die Sprechhandlung. Nichts spricht dafür, dass Textzeugen dieses Typs einen unmittelbaren Bezug zur Aufführungspraxis haben. In Performanz sind die sporadischen Redesignale im Layout nicht umzusetzen. Wo der Text nicht ausdrücklich formuliert, muss sich der Sänger erschließen oder im Gedächtnis haben, wer spricht und wo der Sprecher wechselt. Ob sich die Handschriften als „Gedächtnisstütze“24 für den ungefähren Wortlaut vor oder nach dem Vortrag eignen, sei angesichts von Fehlern nicht nur bei der Redezuordnung dahingestellt. Für (Teil-)Niederschriften aus dem Gedächtnis und/oder die Modifikation schriftlicher Vorlagen aufgrund ungenauer Erinnerung an vorgetragene Texte spricht in der Tat die unökonomische Vielzahl nichtfunktionaler, schwerlich beabsichtigter und als Schreiberfehler nicht erklärbarer Varianten.25 In der Heldenepik-Überlieferung nimmt die Schrift wenig Rücksicht auf die Stimme, weder auf die des Sängers noch auf die der Figuren. Beides scheint mehr Angelegenheit des Gedächtnisses als der Schrift.

|| 24 Haferland (wie Anm. 3), bes. S. 103. 25 Vgl. ebd., S. 303f. u.ö.

Tina Terrahe

Stimme und Sprechen bei Hartmann von Aue Textinterne Performanz-Signale und deren Reflexe in der Gießener Iwein-Handschrift

1 Einleitung Die mittelhochdeutsche Epik lebt mehr in der Aufführung als in der Schrift, weniger im geschriebenen Text als vielmehr in der Performanz desselben, und die „Übermittlung von Texten ist an die mündliche Aktualisierung, an die Stimme, an Gesten, an Zeichen, an Inszenierung und bestimmte Situationen gebunden“.1 Verschiedenste Studien haben sich bereits mit diesem Phänomen beschäftigt,2 doch fehlen bisher – soweit ich sehe – konkrete Analysen, die weder metaphorisch noch theoretisch, sondern praktisch nach der ‚verschrifteten‘ Stimme des Vortragenden im Text fragen.3 Eingangs setze ich voraus, dass sich der Autor mit seiner eigenen Stimme in den Text einschreibt, die aber auch zum Zeitpunkt des Textverfassens schon als die Stimme eines fingierten und inszenierten Erzählers konzipiert sein kann. In der späteren und auditiven Rezeption wird diese Stimme zur Erzählerstimme, welche der Vorlesende in seinem Vortrag mit denjenigen Eigenschaften und Charakteristika versehen und inszenieren kann, die im Text festgeschrieben sind bzw. die er im Text

|| 1 Jan-Dirk Müller, „Vorbemerkungen“, in: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von dems., Stuttgart 1996 (Germanistisches Symposien, Berichtsbände 17), S. XI–XVIII, hier S. XI. 2 Vgl. u.a. ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit (wie Anm. 1); Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, hg. von Andreas Blödorn, Daniela Langer und Michael Scheffel, Berlin/New York 2006 (Narratologia 10); Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36); Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, hg. von Cornelia Herberichs und Christian Kiening, Zürich 2008 (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 3); Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven, hg. von Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1); Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende, hg. von Nine Miedema, Monika Unzeitig und Angela Schrott, Berlin 2012 (Historische Dialogforschung 2); der âventiuren dôn – Klang, Hören und Hörgemeinschaften in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Ingrid Bennewitz und William Layher, Wiesbaden 2013 (Imagines medii aevi 31). 3 „[G]anz buchstäblich, also nach der lauten Sprechstimme“ fragt Reinhart Meyer-Kalkus, „Vorlesbarkeit. Zur Lautstilistik narrativer Texte“, in: Blödorn/Langer/Scheffel (wie Anm. 2), S. 349–381, hier S. 349.

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festgeschrieben sieht. Der Vortragende kann demnach, sofern er das vom Autor gegebene Angebot für die Performanz annimmt, der (zum Teil auch nur fingierten) Autor- bzw. Erzählergestalt ihre Präsenz verleihen, weshalb ich weiterhin davon ausgehe, dass die poetische Schrift von vornherein ihre Vorlesbarkeit impliziert und diese daher schon beim Verfassen vom Autor als wesentliches Kriterium mitgedacht wird. Folglich müssten in den Werken mittelhochdeutscher Dichter textinterne Indikatoren zu finden sein, die konkretisieren, wie der Vorlesende seine Stimme im Vortrag zu modellieren habe. Schon Paul Zumthor präferierte als Zugang zur Performativität mittelalterlicher Texte „das Studium der vokalen Hinweise im Text selbst“,4 Maria E. Müller versteht diese Stellen „als detaillierte Anweisungen für die Imitation unterschiedlicher Sprechweisen in der Vortragssituation“ oder „Inszenierungsanweisungen“5 und Monika Unzeitig bezeichnet sie „als Regieanweisung für den Vortragenden und als Verständnishilfe für den Rezipienten“.6 Grundsätzlich liegt solchen Überlegungen selbstverständlich die Aporie des Mediävisten zugrunde, „denn er bekommt die performance in situ nicht zu fassen“7 und kann daher auch über die Vorlieben eines mittelalterlichen Publikums keine sicheren Aussagen treffen. Die im Folgenden behandelten Textstellen mit ihren Redeanweisungen und Modulationen stimmlicher Phänomene legen nahe, dass sich die Vorlieben eines mittelalterlichen Publikums nicht grundsätzlich von den modernen unterschieden haben. Es lässt sich damals wie heute „mit einiger Wahrscheinlichkeit der von Grund auf kommunikative Charakter der mittelalterlichen poetischen Texte behaupten“.8 Deshalb gehe ich davon aus, dass auch ein mittelalterlicher Zuhörer eine stimmlich variierte und mit einer gewissen Theatralik versehene Performanz eher geschätzt haben wird als einen getragenen, leisen und monotonen Vortrag. Anhand eines close reading möchte ich die Textpassagen, die einem Vortragenden performative Hinweise darauf liefern, wie die anschließende wörtliche Rede zu akzentuieren sei, aus den Werken Hartmanns von Aue herausarbeiten und ihre Funktion analysieren, weil die Redeszenen in diesen eine besondere Rolle spielen.9

|| 4 Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, aus dem Französischen von Klaus Thieme, München 1994 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 18), S. 25. 5 Maria Elisabeth Müller, „Vers gegen Vers. Stichomythien und verwandte Formen des schnellen Sprecherwechsels in der mittelhochdeutschen Epik“, in: Miedema/Hundsnurscher (wie Anm. 2), S. 117–137, hier S. 123. 6 Monika Unzeitig, „Die Kunst des ironischen Sprechens. Zu den Keie-Szenen in Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein“, in: Unzeitig/Miedema/Hundsnurscher (wie Anm. 2), S. 255–272, hier S. 271. 7 Zumthor (wie Anm. 4), S. 36. 8 Ebd., S. 77. 9 Zu den Redeszenen speziell bei Hartmann von Aue vgl. Herta Zutt, „Die Rede bei Hartmann von Aue“, in: Deutschunterricht 14, 6 (1962), S. 67–79; Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Struktur-

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Im Vergleich zu seiner Vorlage erweitert Hartmann die Dialoge, insbesondere die stichomythischen, und verwendet sie gerade an Stellen, an denen Chrétien in indirekter Rede erzählt.10 Meist handelt es sich hierbei um stark emotional aufgeladene Passagen, wie etwa den Dialog, den Erec vor dem Kampf mit dem riesenhaften Ritter Mabonagrin führt (Erec, v. 9028–9048).11 An dieser Textpassage, in der die Sprecherrollen (teils sogar innerhalb des Verses) ohne inquit-Formel unentwegt wechseln, wird der Zwang zur Performanz deutlich, dem der Vortragende unterworfen gewesen sein muss. Dieser Dialog kann für einen Zuhörer nur unter der Bedingung verständlich gewesen sein, dass der Vorlesende seine Stimme moduliert hat – ein performativer Akt, den Hartmann offenbar voraussetzt, denn im Vorfeld des Dialoges geht er ausführlich auf Mabonagrins Stimme ein, erläutert sowohl die Intonation (starc unde grimme, / diu lûte sam ein horn dôz, Erec, v. 8993f.) als auch den Habitus, mit dem Mabonagrin spricht, nämlich gelîch einem übelen man (Erec, v. 9026).12 Weder diese plastische Charakterisierung von Mabonagrins Tonfall noch die stichomythische Form des Dialoges hat bei Chrétien eine Entsprechung. Auch an zahlreichen anderen Stellen gibt Hartmann vor, wie die stimmliche Qualität der Rede bei der Darbietung im Vortrag zu realisieren sei.13 Weiterhin konkretisiert er das verbum dicendi mit speziellen Zusätzen und Erweiterungen, die sich auf die Interpretation der entsprechenden Textstelle mitunter gravierend auswirken. Beispielhaft hierfür möchte ich vorab auf die Szene verweisen, in der Erec dem Zwergenkönig Guivreiz erstmals gegenüber steht und dieser ihn zum Zweikampf herausfordert. Entgegen allen Erwartungen bittet Erec darum, Guivreiz möge ihn mit gemache lân (Erec, v. 4360), da er ihm nichts getan habe, || element in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 10). 10 Vgl. hierzu auch Wiehl (wie Anm. 9), S. 51 und S. 130f.; Nine Miedema, „Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen Epik“, in: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S. 263–281, hier S. 271–273; Müller (wie Anm. 5); Anja Becker, Poetik der ‚wehselrede‘. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200, Frankfurt a.M. 2009 (Mikrokosmos 79), insbesondere S. 116–131; Nikolaus Henkel, „Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts. Das Modell der Dramen des Terenz und Seneca“, in: Unzeitig/Miedema/Hundsnurscher (wie Anm. 2), S. 139–164. 11 Der Erec Hartmanns von Aue wird im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Hartmann von Aue, Erec. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg. von Volker Mertens, Stuttgart 2008. 12 Vgl. zu dieser Szene ausführlicher Tina Terrahe, „‚Nu lerne, waz sterben si!‘ Zum höfischen Umgang mit drô und spot am Beispiel der kampfeinleitenden Reizreden bei Hartmann und Wolfram“, in: Ironie, Polemik und Provokation im Artusroman, hg. von Cora Dietl, Christoph Schanze und Friedrich Wolfzettel, Berlin/Boston 2014 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft: Sektion Deutschland, Österreich 10), S. 133–161, hier S. 146–148. 13 Zwar konnten im Rahmen dieser Untersuchung nicht alle Textbeispiele mit Erec et Enide bzw. Yvain von Chrétien de Troyes abgeglichen werden, aufgrund von Stichproben kann man aber feststellen, dass Hartmann sich nicht streng an seiner Vorlage orientiert, sondern besonders in den Redeszenen eine eigenständige Bearbeitung verfasst.

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müde sei und nicht kämpfen wolle. Seitens der Forschung wurde in Bezug auf diese Szene ausführlich über ein konfliktvermeidendes Verhalten Erecs spekuliert, der im Sinne eines Mediators den Kampf vermeiden wolle bzw. den Konflikt scheue, da er ängstlich oder mangels Kampfübung nicht zum Sieg in der Lage sei.14 Überlesen wurde dabei aber, dass Erec auf Guivreiz’ Herausforderung hin explizit durch sînen spot (Erec, v. 4348) antwortet – eine redequalifizierende Erweiterung der inquitFormel, die offenbar beim lauten Lesen den inhärenten Sinn deutlicher transportiert: Erecs Worte sind ironisch gemeint, er verspottet Guivreiz regelrecht und besiegt den kleinen Ritter anschließend ja auch mühelos.15 Hartmann scheint in seinen Werken also präzise zu codieren, wie die schriftlich fixierte Rede in der Vortragssituation mündlich umgesetzt werden soll, indem er sowohl die Stimmen der sprechenden Figuren in ihren typischen Eigenschaften darstellt als auch den performativen Ausdruck der sprachlichen Äußerung definiert. Ich möchte dies im Folgenden an der Charakterisierung der stimme und den redequalifizierenden Erweiterungen der inquit-Formel darstellen und anschließend die Gießener Iwein-Handschrift (Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 97, siehe Abb. 1) als einen Textzeugen vorstellen, der Dialogpartien im Text graphisch markiert und performative Aspekte im Schriftbild wiedergibt. Dies unternimmt der Schreiber einerseits mittels Initialen, die aus narratologischer Sicht an Schlüsselstellen positioniert sind und überwiegend wörtliche Rede von Figuren kennzeichnen. Weiterhin markiert er mit Zirkumflexen Reime innerhalb der Verse. Diese graphischen Verfahren scheinen auf den Akt des Vortragens zu verweisen und lassen im Zusammenhang mit den entsprechenden textuellen Signalen Rückschlüsse auf eine intendierte Aufführungspraxis zu.

2 Hartmanns grimme stimme Die stimme hat bei Hartmann ein auffälliges Reim-Faible zu grimme. Die Suche nach dem Lemma stimme ergibt in der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank insgesamt 22 Treffer aus Erec, Iwein und Gregorius, von denen 13 auf grimme reimen, was ei|| 14 Vgl. Martin H. Jones, „Chrétien, Hartmann, and the Knight as Fighting Man: On Hartmann’s Chivalric Adaption of Erec et Enide“, in: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium, ed. with an Introduction by Martin H. Jones and Roy Wisbey, Cambridge 1993 (Arthurian Studies 26), S. 85–109, hier S. 105f.; Will Hasty, Art of Arms. Studies of Aggression and Dominance in Medieval German Court Poetry, Heidelberg 2002, S. 34; Sandra Linden, „Im Dialog mit dem Aggressor. Mediation als ritterliches Handlungsideal?“, in: Unzeitig/ Miedema/Hundsnurscher (wie Anm. 2), S. 117–136, hier S. 130f. 15 Vgl. Terrahe (wie Anm. 12), S. 143f.; zum ironischen Sprechen vgl. vor allem Unzeitig (wie Anm. 6); Fritz Peter Knapp, „Offene und verdeckte Ironiesignale in mittelalterlichen Erzählungen“, in: Dietl/Schanze/Wolfzettel (wie Anm. 12), S. 3–16.

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nerseits sicherlich der Form geschuldet ist, andererseits aber durchaus Hartmannspezifisch zu sein scheint, denn bei Wolfram von Eschenbach etwa findet sich keine einzige mit grimme gereimte stimme. Die Reimbindung dient bei Hartmann aber nicht immer direkt der Charakterisierung der Stimme, sondern variiert je nach Kontext, in dem die stimme thematisiert wird: Sie kann als Hilferuf fungieren, die Bedrohlichkeit des Gegners verstärken oder das gegenseitige Erkennen ermöglichen. Am häufigsten tritt die erste Situation ein, das heißt, eine Stimme erklingt und ruft um Hilfe bzw. alarmiert denjenigen, der sie hört; sie macht also auf eine Notsituation aufmerksam und ruft einen Helfer herbei. Erstmals vernimmt in dieser Form Erec die Stimme von Cadocs Frau im Wald (Erec, v. 5296, 5316), reitet ihr nach und rettet ihren gequälten Mann. Als Erec die verzweifelte Frau anspricht, kann sie kaum antworten, weil ihr das grimmige Leid fast die Stimme genommen hat und das Seufzen des Herzens ihre Worte zerbrechen lässt: nû hâte ir benomen diu bitter leides grimme vil nâch gar die stimme: ir herzen sûft daz wort zebrach daz si vil kûme gesprach. (Erec, v. 5345–5349)

Die ausführlichste Klage stimmt Enite im Erec an, als sie ihren Mann tot glaubt; Hartmann erwähnt ihre Stimme insgesamt an drei Stellen im Text (Erec, v. 5347, 6079, 6142). Ihre Totenklage ist zunächst so laut, dass der ganze Wald widerhallt (Erec, v. 5743–5747), dann teilt jâmers grimme / rehte enzwei ir stimme, / hôhe unde nidere (Erec, v. 6078–6080). Es scheint, als breche ihre Stimme vor Leid, überschlage sich gewissermaßen und schwanke zwischen hohen und tiefen Tönen, die aus dem Wald weiterhin als Echo zurückhallen. Auch macht Enite mit diesem Geschrei einen vermeintlichen Helfer auf sich aufmerksam, von dem sich dann aber bald herausstellt, dass es sich um den treulosen Grafen Oringles handelt. Die letzten beiden Belege, in denen eine Stimme auf eine prekäre Situation aufmerksam macht, finden sich im Iwein. Zunächst beschreibt Hartmann, wie Iwein Laudines Klage wahrnimmt, wie Gebärden und Stimme ihre Herzensqual offenbaren: es erzeigten ir gebærde ir herzen beswærde an dem lîbe unde an der stimme. von ir jâmers grimme sô viel si ofte in unmaht. (Iwein, v. 1321–1325)16

|| 16 Der Iwein Hartmanns von Aue wird im Folgenden zitiert nach Hartmann von Aue, Gregorius. Der Arme Heinrich. Iwein. Text und Kommentar, hg. und übersetzt von Volker Mertens, Frankfurt a.M. 2008 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 29).

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Die Klagende kann nur noch unkoordinierte Laute von sich geben und fällt vor Leid mehrfach in Ohnmacht. Ohne wörtliche Rede kommt auch die zweite Stelle im Iwein aus: Als der Protagonist nach seinem Waldaufenthalt wieder geheilt durch das Land reitet, wird er auf eine Stimme aufmerksam, die clägelîch unde grimme (Iwein, v. 3830) klingt und ihn zu dem Platz führt, auf dem der Löwe gegen den Drachen kämpft, woraufhin Iwein den Drachen erschlägt und dem edeln tiere (Iwein, v. 3864) das Leben rettet. Auch in diesem Fall wird die Stimme zwar in ihrer Qualität charakterisiert, es bleibt allerdings bei ihrer Umschreibung, da es sich um eine Tierstimme handelt, die schlecht in wörtliche Rede transferiert werden kann. Im Falle der Rede von Cadocs Frau wie auch bei Enites Totenklage ist hingegen durchaus anzunehmen, dass ein Vortragender diese ausführlichen Performanz-Hinweise nicht unbeachtet gelassen und entsprechend im lauten Vorlesen umgesetzt haben könnte. Der zweithäufigste Kontext, in dem Hartmann die Stimme erwähnt, betrifft Situationen, die an sich gefährlich sind, weil ein Kampf ansteht und der Kontrahent bereits durch seine Stimme besonders bedrohlich wirkt. Der erste namenlose Graf im Erec zeichnet sich etwa durch ausgesprochen unhöfisches Benehmen aus, das sich vor allem in seiner Sprechweise manifestiert (vil unritterlîch er sprach / mit ungezæmem grimme / nâch unvriuntlîcher stimme, Erec, v. 4169–4171), die von Erec umgehend als schelten (Erec, v. 4200) missbilligt wird. Nachdem der Graf in seiner zornigen Ansprache den geplanten Betrug an dem reisenden Paar offenbart und Erec drastisch beschimpft hat, stellt dieser fest, dass der Graf sich mit seiner Sprechweise selbst disqualifiziert habe: „ir enthöveschet iuch“, sprach Êrec, „an mir harte sêre. von wem habet ir die lêre daz ir scheltet einen man der ie ritters namen gewan? ir sît an swachem hove erzogen. nû schamet iuch: ir habet gelogen. ich bin edeler dan ir sît.“ (Erec, v. 4197–4204).

Auch wenn Erec sich von dessen Drohgebärden nicht beeindrucken lässt, so bringt doch der Graf sein unhöfisches Wesen insbesondere durch seine sprachliche Artikulation zum Ausdruck. Ähnlich funktioniert die oben erwähnte kampfeinleitende Reizrede mit Mabonagrin, der Erecs Aufmerksamkeit vor dem eigentlichen Dialog durch weit hörbares und lautes Gebrüll auf sich zieht: nû gehôrte er eine stimme starc und grimme, diu lûte sam ein horn dôz, wan im was der drozze grôz, von dem sie gie. diz was ir man. (Erec, v. 8992–8996)

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In dieser Passage betrifft die Beschreibung nicht nur den lauten und kräftigen Klang, sondern bezieht sogar auch den Schlund mit ein, dem die Stimme entströmt und der durch seine exorbitante Größe wiederum auf die außerordentliche Stimmgewalt des Gegners verweist. Dass Mabonagrins darauffolgende Ansprache heftig und wie von einem bösartigen Menschen artikuliert wird, gibt der Erzähler ebenfalls genau vor: er gruozte in ein teil vaste, / gelîch einem übelen man (Erec, v. 9025f.). Ebenso wie Mabonagrin kündigt sich auch der König Askalon im Iwein vor dem Kampf schon von Weitem durch lautes Gebrüll an und verstärkt mit diesem Imponiergehabe seinen bedrohlichen Auftritt Kalogreant gegenüber. Auch Askalons Stimme klingt lûte sam ein horn (Iwein, v. 701), woraus Kalogreant unzweifelhaft auf dessen Gemütslage schließt: ich sach wol, im was ûf mich zorn (Iwein, v. 702). Als Askalon den Eindringling dann erblickt, spezifiziert Hartmann die Qualität von dessen Kampfansage: vil lûte rief er unde sprach (Iwein, v. 710). Als letzter Beleg soll in dieser Kategorie auch der Kampf der wilden Tiere angeführt werden, den Kalogreant im Wald von Breziljan beobachtet, denn die besondere Gefahr, die von dem Geschehen ausgeht, wird auch in diesem Fall anhand der grauenhaften Laute vernehmlich, die der Ritter wahrnimmt: dâ vâhten mit grimme / mit griulîcher stimme / wisent unde ûrrinder (Iwein, v. 409–411). Dient die Beschreibung der furchtbaren tierischen Stimmen in diesem Fall lediglich der Intensivierung der Gefahr, so liegt in den beiden anderen Beispielen wiederum die praktische Umsetzung der Regieanweisungen auf der Hand: Ein Vortragender, dem an diesen Textstellen die Möglichkeit geboten wird, seine Virtuosität zur Schau zur stellen, wird die textinternen Signale kaum ignoriert haben; ein stimmlich nicht variierter Vortrag hingegen hätte der Handlungsstruktur in diesen Passagen jegliche Spannung und dem Publikum jegliches performative Vergnügen geraubt. Die Stimme dient bei Hartmann zuletzt auch der Anagnorisis, also dem Phänomen des gegenseitigen Erkennens, und zwar in mehrfacher Weise.17 Einerseits können sich Figuren gegenseitig erkennen, so wie Keie Erecs Stimme identifiziert, weil dieser viel zu ihm sagt (Erec, v. 4852–4857). Auf Limors erwacht Erec durch den Klang von Enites Stimme, erkennt sie und eilt ihr zu Hilfe (Erec, v. 6614–6616); auch Guivreiz erkennt das Paar an Enites Stimme, woraufhin er ihnen Unterstützung anbietet (Erec, v. 6957–6959). Bei dem Gerichtskampf, den Iwein und Gawein gegeneinander austragen, entfremdet andererseits aber auch des kampfes grimme (Iwein, v. 7519) ihrer beider Stimmen derart, dass sie sich gegenseitig nicht erkannt hätten, wenn sie sich nicht ihre Namen genannt hätten (Iwein, v. 7519–7522).

|| 17 Wie in der Dialogforschung üblich fasse ich Anagnorisis etwas weiter; vgl. zu diesem Komplex vor allem Ulrich Mölk, „Das Motiv des Wiedererkennens an der Stimme im Epos und höfischen Roman des französischen Mittelalters“, in: Romanistisches Jahrbuch 15 (1964), S. 107–115.

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Zum gegenseitigen Erkennen gehört schließlich auch das Wissen darüber, in welcher Absicht jemand spricht, die intrinsische Motivation und persönliche Einstellung, die oftmals nur anhand der stimmlichen Artikulation deutlich wird. Beispielhaft hierfür ist Erecs sogenannte erste Zwischeneinkehr am Artushof, wo ihm Keie zunächst ins Zaumzeug greift und ihn unfreundlich anspricht. Die Reaktion Erecs ist Keies aggressiver Geste angemessen, woraufhin Gawein auf Erec zukommt und ihn freundlich grüßt: Gâwein der tugentrîche gruozte in minneclîche nâch vriuntlîcher stimme unde niht mit grimme. dar an er im bescheinte daz erz in guot meinte. (Erec, v. 4898–4903)18

Mit seiner freundlichen Stimme, die jeglicher Boshaftigkeit entbehrt, zeigt Gawein seine ausschließlich guten Absichten und die heikle Situation kann ein friedliches Ende nehmen. Ebenso verhält sich im Iwein der Löwe, dem aufgrund seiner Tiernatur keine Worte zur Verfügung stehen und der seine innere Gesinnung deshalb ausschließlich mit Gebärden und Stimme zum Ausdruck zu bringen vermag: sich bôt der leu ûf sînen vuoz unde zeiget im unsprechenden gruoz mit gebærden unde mit stimme âne aller slahte grimme unde erzeicte im sîne minne als er von sînem sinne aller beste mohte. (Iwein, v. 3869–3875)

Wie schon bei dem Kampf der wilden Tiere im Wald und den verschiedenen Klageszenen wird hieran offensichtlich, dass Stimmen Informationen transportieren, selbst wenn sie ohne artikulierte Worte erklingen; die innere Einstellung des Gegenübers kann allein in der Stimmlage zum Ausdruck kommen.

|| 18 Diese Gesprächssituation – die zunächst aggressive Ansprache und Gaweins anschließend freundlicher Gruß – findet sich wenig später parallel im Parzival Wolframs von Eschenbach. In der sogenannten Blutstropfenszene wird Parzival von zwei Artusrittern zunächst unfreundlich bis aggressiv angesprochen, zuletzt erreicht aber Gawan mit einem freundlichen Gruß, dass er und Parzival sich gegenseitig erkennen und der Konflikt beigelegt werden kann: er wolde güetlîche ersehen, / von wem der strît dâ wære geschehen. / dô sprach er grüezenlîche dar / ze Parzivâl [...]. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin/New York 22003, 300, 9–12. Vgl. hierzu Terrahe (wie Anm. 12), S. 140f.

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3 Performatives Sprechen bei Hartmann Nicht nur die Qualität der Stimme, sondern auch die Art und Weise des Sprechens selbst wird bei Hartmann an zahlreichen Stellen sehr genau vorgegeben, wobei von den insgesamt 693 Belegen für das Lemma sprechen hier nur einige beispielhaft genannt werden können. Da auch diese Textpassagen – die Hinweise darauf enthalten, wie die anschließende wörtliche Rede performativ umgesetzt werden könnte – als Teil des Vortrages mit vorgelesen wurden, dürften sie beim zuhörenden Rezipienten eine Erwartungshaltung an die performative Umsetzung und die Virtuosität des Vortragenden hervorgerufen haben. Wenn der Protagonist etwa vil nâch weinende (Erec, v. 5337), mit guotem willen (Erec, v. 6991), vil manlîchen (Erec, v. 8838) oder durch schœnen list (Erec, v. 5664) spricht, so liegt es meiner Hypothese zufolge nahe, dass ein Vorlesender, der die Kunst des Vortrags versteht, diese Eigenschaften der Figurenrede durch stimmliche Anpassung zu realisieren versucht haben wird. Dies wird man auch im Besonderen für Stellen voraussetzen können, an denen jemand vil unwirdeclîchen (Erec, v. 691), unritterlîch (Erec, v. 4169), unsenfteclîche (Erec, v. 6539), vil lûte schrîende (Erec, v. 6084), mit unsiten (Iwein, v. 1974), schimpflîchen (Iwein, v. 2589) oder schalclîchen (Iwein, v. 6238) spricht. Weitere knappe Hinweise, die die Intention der folgenden Aussage erläutern, sind: mit zühten (Erec, v. 31), mit zwîvel (Erec, v. 301), vorhtlîchen (Erec, v. 3181) und jæmerlîchen (Iwein, v. 1889). In anderen Fällen geht der inquit-Formel aber auch eine eingehendere redequalifizierende Erweiterung voraus, in welcher die innere oder auch äußere bzw. körperliche Haltung des Sprechenden deutlich erläutert wird. Als Enite vor Angst weinend am Kampfplatz zusieht, wie der schlecht gerüstete Erec gegen Iders im Sperberkampf antritt, tröstet Erec sie über des schiltes rant (Erec, v. 803), was impliziert, dass ihm der Schild einen gewissen Schutz bietet (wie Hartmann darüber hinaus auch betont) und er daher zuversichtlich ist, den Kampf bestehen zu können. Auf eine laut und intensiv artikulierte wörtliche Rede verweisen Zusätze wie vil lûte rief er unde sprach (Iwein, v. 710) und ruofte sêre unde sprach (Iwein, v. 1366). Ein trauriger Ton wird meist genauer vorbereitet: daz was im leit, unde sprach (Iwein, v. 4826) und er siufte sêre unde sprach (Iwein, v. 6408). Noch differenzierter verfährt Hartmann bei der Beschreibung von Redehaltungen, die nur zum Schein eingenommen werden. Als Lunete nämlich Iwein darauf vorbereitet, dass er nun erstmals ein Gespräch mit Laudine führen soll, gibt sie sich nur traurig und täuscht durch ihre Mimik vor, dass sie mit schlechten Nachrichten käme, um dem Gespräch die erhoffte Wendung zu geben: dô gebârte si gelîche durch ir gemlîche, als sie mit bœsem mære zuo im gesendet wære.

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si hienc daz houbet unde sprach trûreclîchen, dô si in sach. (Iwein, v. 2217–2222)

Auch Iweins Verwunderung beim Anblick seiner neuen Kleider, die ihm nach seinem Waldaufenthalt ohne sein Wissen zur Verfügung gestellt werden, könnte in seiner Rede Ausdruck gefunden haben, wenn Hartmann diese mit den Worten einleitet: des wundert in sêre unde sprach (Iwein, v. 3586). Geradezu zynisch oder auch komisch-ironisch muss bei einem gut inszenierten Vortrag die Szene um den Raub der Königin gewirkt haben, die im Iwein als kurze Episode eingeschoben wird. Als der fremde Ritter von Artus dessen Frau fordert und der König vor Zorn darüber außer sich ist, tröstet dieser den König mit der Ankündigung, die Königin fortzubringen und sie gegen alle Angreifer zu verteidigen. Da Artus in seinem Heer ja die besten Ritter versammele, könnten diese die Königin leicht wieder zurückerobern (Iwein, v. 4593–4607). Angesichts der Unnötigkeit dieser Komplikation ist dies sicherlich kein Trost, sondern vielmehr eine weitere Schmach für Artus, besonders wenn sie ironischerweise als Trost artikuliert wird. Setzt der Vorlesende diesen performativen Hinweis um, so kann die Szene einerseits eine zusätzliche Brisanz und Komik entwickeln, andererseits die Dreistigkeit und den Spott des fremden Ritters verstärken. Spott ist ein Faktor, der eine genauere Betrachtung verdient, denn sofern die zugrundeliegende Intention ironisch ist, wird die tatsächliche Aussage einer Rede radikal umgekehrt. Dass Keie Kalogreant ironisch anspricht, macht Hartmann deutlich, indem er vorausschickt: nû was der herre Keiî vrô / daz er ze spotten vant. / er sprach (Iwein, v. 2454–2456). Auch die spöttische Rede, die der Riese Harpin an Iwein richtet, wird klar als solche gekennzeichnet: daz was sîn spot, unde sprach (Iwein, v. 4992). Wie oben schon erwähnt, hat das Gespräch zwischen Erec und Guivreiz zu Diskussionen innerhalb der Forschung geführt, da man in Erecs Antwort gegensätzliche Aussagen hineinlesen kann, je nachdem ob man Hartmanns Performanz-Hinweis (sus antwurte im durch sînen spot / Êrec, Erec, v. 4348f.) beachtet oder überliest. Die ausführlichste Angabe zur Redegestaltung macht Hartmanns Text bei Iweins Ankunft auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer in Bezug auf die Ansprache, mit der ihn der Pförtner empfängt: der schalc dô schalclîchen sprach. Als er gein dem tor gienc, der schalc in schalclîch enpfienc, er sprach ûz schalkes munde sô er schalclîchest kunde. (Iwein, v. 6238–6242)

Natürlich bleibt bei 693 Belegen für das Lemma ‚sprechen‘ seine Verwendung in einem sehr großen Teil der Redeszenen im Werk Hartmanns ohne erläuternde Zusätze, doch kann anhand der beispielhaft aufgeführten performativen Anweisungen

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definitiv festgehalten werden, dass Hartmann sprachliche Äußerungen an Stellen, die ihm wichtig erscheinen, sehr detailliert charakterisiert. Teils gibt er nur anhand einer kurzen Erweiterung der inquit-Formel eine gewisse Sprechhaltung vor, teils kann man aber von regelrechten dramaturgischen Angaben sprechen, wenn etwa von einer gesenkten Kopfhaltung die Rede ist oder vor Schluchzen die Stimme bricht und der Sprechende kaum ein Wort herausbringt. Da die performativen Hinweise schon vom Autor in den Text eingeschrieben wurden, ist davon auszugehen, dass sie Teil des Vortrages waren. Insofern liegt nahe, dass sie im Vortrag in irgendeiner Form aktualisiert werden sollten. Sie könnten den Vortragenden angeregt haben, die angegebene Sprechweise zum Ausdruck zu bringen, um eine Kohärenz zwischen der angekündigten Redeweise und deren praktischer Umsetzung im Vortrag herzustellen. Wie ich eingangs bereits an dem Dialog zwischen Erec und Guivreiz gezeigt habe, ist die Realisierung dieser Hinweise an einigen Stellen evident für das Textverständnis und kann bei Nichtbeachtung zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen führen. Im Gegenzug meine ich davon ausgehen zu können, dass ein monotoner und stimmlich nicht variierter Vortrag diese textinternen Regieanweisungen konterkarieren und zumindest eintönig, wenn nicht sogar unlogisch und komisch absurd wirken würde. In Anbetracht der oben aber schon erwähnten Aporie des Mediävisten können diese Textstellen natürlich lediglich als indirekte Indizien für eine mögliche Vortragsinszenierung verstanden werden, über deren tatsächliche Performanz uns keine Erkenntnisse vorliegen.

4 Reflexe von Performanz in der Gießener IweinHandschrift Angesichts der in den Text eingeschriebenen Performanzhinweise liegt die Annahme nahe, diese könnten in der handschriftlichen Überlieferung auf irgendeine Weise codiert und im Schriftbild sichtbar gemacht worden sein. Soweit ich die Forschung überblicke, sind derartige Codierungen von wörtlicher Rede in Handschriften bislang nicht bekannt, allerdings konnte Birgit Zacke für die Kölner TristanHandschrift B ein Auszeichnungssystem vorstellen, das offenbar bewusst eingesetzt wurde, um Zusammenhänge im Erzählen oder poetologische Aspekte zu betonen.19 Ein ähnliches Codierungssystem verwendet die Gießener Iwein-Handschrift, die der Edition von Volker Mertens zugrunde liegt.20 Sowohl Beginn als auch Ende von

|| 19 Vgl. den Beitrag von Birgit Zacke in diesem Band. 20 Digitalisat: http://digisam.ub.uni-giessen.de/diglit/hs-97 (Stand: 21.02.2017); Hartmann von Aue, … Iwein (wie Anm. 16); Literatur (in Auswahl) zur Handschrift vgl. Iwein. Eine Erzählung von

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wörtlichen Reden bzw. Redeszenen werden in der Handschrift durch Initialen markiert, deren Positionierungen von denen anderer Iwein-Handschriften abweichen. Mertens hat die Initialen (bzw. den für sie freigelassenen Platz) in seiner Ausgabe eingerückt, sodass die folgenden Beobachtungen sowohl am Digitalisat als auch an der Ausgabe bequem zu überprüfen sind. Eine Besonderheit der Gießener Handschrift ist ihre uneinheitliche Qualität, die einerseits das Pergament, andererseits den Buchschmuck betrifft. Die erste Hälfte der Handschrift ist sehr aufwändig und präzise gearbeitet, die Initialen bis Vers 4102 sind vollständig ausgeführt und mit langen Schmuckschäften versehen. Im hinteren Teil des Codex allerdings sind sie nur sporadisch in die vom Schreiber vorgesehenen Lücken eingefügt, das Pergament ist von wesentlich schlechterer Qualität und die Verzierungen fehlen oder sind auf einfache Federstriche reduziert.21

|| Hartmann von Aue, hg. von Georg F. Benecke und Karl Lachmann, 7. Auflage bearbeitet von Ludwig Wolff, Bd. 2: Handschriftenübersicht, Anmerkungen und Lesarten, Berlin 71968, S. 2f.; Lambertus Okken, Hartmann von Aue, ‚Iwein‘. Ausgewählte Abbildungen und Materialien zur handschriftlichen Überlieferung, Göppingen 1974 (Litterae 24), S. VII; Peter Jörg Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Eneide, Tristrant, Tristan, Erec, Iwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1977, S. 55f.; Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, Bd. 1: Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Text- und Tafelband, Wiesbaden 1987, S. 147–149; Thomas Klein, „Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittelhochdeutscher Epik“, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 110–167, hier S. 148f.; Stephan Müller, „‚Erec‘ und ‚Iwein‘ in Bild und Schrift. Entwurf einer medienanthropologischen Überlieferungs- und Textgeschichte ausgehend von den frühesten Zeugnissen der Artusepen Hartmanns von Aue“, in: PBB 127 (2005), S. 414–435, hier S. 416; Nigel F. Palmer, „Manuscripts for reading: The material evidence for the use of manuscripts containing Middle High German narrative verse“, in: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green, ed. by Mark Chinca und Christopher Young, Turnhout 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12), S. 67–102, hier S. 100; Hartmann von Aue, Iwein or The Knight with the Lion. Edited from Manuscript B, Gießen, Universitätsbibliothek Codex Nr. 97, ed. and translated by Cyril Edwards, Woodbridge (Suffolk) 2007 (Arthurian Archives XVI. German Romance III), besonders S. XVIII– XXIII und Abb. vor S. 1; Ulrich Seelbach, Katalog der deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Gießen, Gießen 2007, Preprint: http://geb.uni-giessen.de/geb/ volltexte/2007/4869/ (Stand: 21.02.2017); ders., „Ein mannigfaltiger Schatz. Die mittelalterlichen Handschriften“, in: Aus mageren und aus ertragreichen Jahren. Streifzug durch die Universitätsbibliothek Gießen und ihre Bestände, hg. von Irmgard Hort und Peter Reuter, Gießen 2007 (Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek und dem Universitätsarchiv Gießen 58), S. 38–81, hier S. 56, 60–63, Digitalisat: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2010/7374/pdf/UB_Festschrift_2007_ 38_81.pdf (Stand: 21.02.2017); Handschriftencensus, http://www.handschriftencensus.de/1102 (Stand: 21.02.2017). 21 Zur Entstehung und Herkunft der Gießener Iwein-Handschrift vgl. demnächst Jürgen Wolf, „Hartmannlektüre einmal anders – der ‚Iwein‘ zwischen Roman und Gebetbuch?“, in: Hartmann von Aue 1230–1400–1517. Kulturgeschichtliche Perspektiven der handschriftlichen Überlieferung, hg. von Margreth Edigi, Markus Greulich und Marie-Sophie Winter (erscheint voraussichtlich 2017).

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Was allerdings die Arbeit des Schreibers betrifft, kann von einer schlechteren Ausführung zum Ende der Handschrift hin keine Rede sein. Das Schriftbild variiert nicht, die ersten Buchstaben der abgesetzten Verse sind stets herausgerückt und der vorgesehene Platz für die zwei- bis vierzeiligen Initialen wurde systematisch freigehalten. Insofern ist zwar die uneinheitliche Ausstattung der Handschrift auffällig, betrifft allerdings (abgesehen von der abnehmenden Pergament-Qualität) erst eine spätere Stufe der Buchherstellung. Die Position der Initialen hat der Schreiber selbst nach einem bestimmten Prinzip festgelegt und dieses von Anfang bis Ende konsequent umgesetzt. Insgesamt trägt die Handschrift 216 Initialen, von denen 88 unabhängig von einer Redeszene positioniert sind. 128 Initialen stehen im Kontext einer wörtlichen Rede, davon 80 am Beginn, 42 am Ende und weitere 6 an Übergängen innerhalb einer Rede.22 Dass 88 Initialen keine Redeszenen, sondern im weitesten Sinne Erzählabschnitte markieren, steht den folgenden Überlegungen nicht entgegen, denn der Iwein enthält neben Passagen, in denen häufig die wörtliche Rede verwendet wird, auch längere Abschnitte ohne Dialoge und Redeakte. Da die Initialen grundsätzlich inhaltliche und erzähltechnisch zusammenhängende Abschnitte strukturieren, erfüllen sie auch an den Positionen, wo sie keine wörtliche Rede markieren, eine handlungslogische Gliederungsfunktion. Dies zeigt sich schon zu Beginn, wo nach der Eingangsinitiale Hartmanns Selbstpräsentation (Ein rîter, der gelêrt was, Iwein, v. 21) mit einer Initiale abgesetzt wird, woraufhin dann der Abschnitt zu König Artus’ Pfingstfest (Iwein, v. 31) und der eigentliche Erzählanfang wiederum als neue Passagen präsentiert werden (Iwein, v. 59). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Markierung in Vers 529, als Kalogreant mit dem Waldmenschen über âventiure disputiert. Kurz vor der Definition dessen, was âventiure sei, findet sich keine Initiale, doch genau dort, wo Kalogreant zur eigentlichen Beschreibung ausholt (Nû sich wie ich gewâfent bin: / ich heize ein rîter, Iwein, v. 529f.), markiert die Initiale den Beginn dieser inhaltlich zentralen Stelle. Auch verschiedene Sentenzen werden anhand von Initialen hervorgehoben, so etwa in der Beschreibung des Gerichtskampfes zwischen Iwein und Gawein, den Hartmann mit der Metaphorik des Geldleihens beschreibt: [S]wer gerne giltet, daz ist guot: / wan hât er borgens muot, / sô mag er wol borgen (Iwein, v. 7147– 7149).23 Die Positionierung der Initialen ist im Vergleich zu den beiden anderen äl-

|| 22 Die Initialen der Iwein-Handschrift B wurden von der Forschung bisher nicht untersucht; lediglich Mertens nimmt an, dass sie „nicht grundsätzlich Lese- (oder Vorlese-)abschnitte“ angeben, sondern „sicherlich auch von der mise-en-page bestimmt“ sind, Hartmann von Aue, Iwein (wie Anm. 16), S. 967. 23 Vgl. Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts, hg. von Manfred Eikelmann und Tomas Tomasek, Bd. 1: Einleitung und Artusromane bis 1230, bearbeitet von Manfred Eikelmann und Silvia Reuvekamp, Berlin/New York 2012, S. 110.

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testen Textzeugen A und C24 sehr ausgefeilt und strukturiert den Text inhaltlich an markanten Stellen oder verdeutlicht Wechsel in der Erzählsituation. Insgesamt 128 Initialen stehen auf irgendeine Weise im Zusammenhang mit Redeszenen: Sie können entweder den Beginn, das Ende einer wörtlichen Rede oder auch einen Perspektivwechsel innerhalb der Rede markieren. Insofern scheint das Markierungssystem ähnlich wie das der Kölner Tristan-Handschrift angelegt zu sein, in der Initialen oder auch Paragraphenzeichen auf Figurenrede oder Dialogpartien aufmerksam machen.25 Den größten Anteil machen mit 80 von 128 Belegen die Stellen aus, an denen die Initialen den Beginn einer Rede markieren.26 Freilich steht die Initiale aus Layout-technischen Gründen stets am Zeilenanfang und somit nicht an der Stelle, wo moderne Editionen Anführungszeichen setzen würden, sondern schon zu Beginn der inquit-Formel oder einer entsprechenden Textpassage, welche die Rede ankündigt: Si sprach [...] (Iwein, v. 137); Keiî den zorn niht vertruoc, / er sprach [...] (Iwein, v. 159f.); Sus antwurte Kâlogrêant [...] (Iwein, v. 189). Ab Vers 223 folgt jedoch eine Passage, in welcher der einleitende Satz noch nicht markiert wird und die Initiale tatsächlich den direkten Beginn der Rede kennzeichnet. Es handelt sich hierbei um den Streit zwischen Keie und der Königin (Iwein, v. 137–242), die erste intensive Dialogszene im Werk, auf die der Schreiber möglicherweise besondere Aufmerksamkeit richtete. Betrachtet man die Gestaltung der Initialen, so drängt sich zunächst der Eindruck auf, die Redepartien seien abwechselnd mit roten (für die Aussagen der Königin) und blauen (für die Aussagen von Keie und Kalogreant) Initialen gekennzeichnet. In der sich anschließenden langen Erzählung Kalogreants von seinem Abenteuer am Gewitterbrunnen, die zunächst überwiegend in indirekter Rede wiedergegeben wird, wechseln die Farben hingegen wieder unsystematisch. Generell sind die Initialen, die den Beginn einer Rede markieren, teils direkt am Redeanfang positioniert, teils beziehen sie aber auch noch die inquit-Formel mit ein

|| 24 Die Handschrift A: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 397; Digitalisat: http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/cpg397 (Stand: 21.02.1017) und das Fragment C: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 191; Digitalisat: http://daten.digitale-sammlungen.de/0009/bsb00094575/images/ index.html?fip=193.174.98.30&id=00094575&seite=1 (Stand: 21.02.2017) setzen beide die Verse nicht ab und bieten zwar Initialen, verfahren hierbei jedoch halbwegs unsystematisch und ohne erkennbaren Zusammenhang zur erzähltechnischen Struktur des Werkes. 25 Vgl. den Beitrag von Birgit Zacke in diesem Band. 26 Dies betrifft meiner Zählung zufolge die Verse 137, 160, 189, 223, 231, 243, 506, 529, 543, 803, 837, 855, 1169, 1367, 1381, 1819, 1889, 1917, 2073, 2101, 2291, 2340, 2600, 2663, 2739, 2935, 2971, 2995, 3111, 3419, 3563, 3625, 3655, 4102, 4211, 4275, 4303, 4337, 4435, 4507, 4547, 4555, 4635, 4767, 4956, 5007, 5216, 5229, 5239, 5263, 5465, 5471, 5507, 5533, 5819, 5831, 5855, 5971, 6062, 6159, 6239, 6257, 6319, 6407, 6555, 6587, 7523, 7567, 7579, 7588, 7653, 7671, 7717, 7848, 7894, 7925, 8051, 8075, 8097, 8121.

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und in einigen Fällen auch die Sprechsituation: Ze gote huop diu vrouwe ir zorn. / si sprach (Iwein, v. 1381f.); Dô sprach der si dâ trôste, / der rîter der des leun pflac (Iwein, v. 4956f.). Manchmal umfasst die Einleitung der folgenden Rede fünf bis sechs Verse, lenkt aber auch in diesen Fällen die Aufmerksamkeit des Vortragenden darauf, dass nun ein neuer Abschnitt beginnt, dem eine sprachliche Äußerung folgt: [M]orgen, dô ez tac wart unde er sîne êrste vart dem heiligen geiste mit einer messe leiste, dô wolder urloup hân genomen. dô sprach der wirt [...]. (Iwein, v. 6587–6592)

Nicht minder interessant sind diejenigen Stellen, an denen das Ende einer Rede graphisch gekennzeichnet wird, da der Schreiber ein recht planmäßiges Prinzip zugrunde gelegt zu haben scheint. Diese Fälle treten immer dann auf, wenn auf die Rede ein längerer erzählender Abschnitt ohne Dialoge folgt. Damit wird auf diese Weise die Dialogpartie von der folgenden Passage abgesetzt und dies auch dem Vortragenden graphisch signalisiert. Zahlenmäßig kommen diese Initialen nur etwa halb so häufig vor wie diejenigen, die den Beginn einer Rede anzeigen;27 ganz scharf sind beide Fälle aber nicht voneinander zu unterscheiden, denn auch bei den hierzu gezählten Beispielen kommen Stellen vor, die nicht ausschließlich das Ende einer Rede hervorheben, sondern gleichzeitig eine neue Rede einleiten. Als Lunete ihrer Herrin Laudine auseinandersetzt, dass derjenige, der Askalon getötet hat, doch zwangsläufig der Bessere von beiden sein müsse, folgt ein Einschub, in dem zunächst Laudines innere Reaktion geschildert wird: Diz war ir ein herzeleit, / daz si deheiner vrümcheit / iemen vür ir herren jach (Iwein, v. 1971–1973). Im Anschluss gibt Hartmann Laudines Antwort indirekt wieder und beschreibt ihr Gesprächsverhalten genau: mit unsiten si ir zuo sprach / unde hiez si ir wec strîchen: / sîne wolde si næmlîchen / niemer mêre gesehen (Iwein, v. 1974–1977). Wenn Initialen das Ende einer Rede markieren, dient dies oftmals dazu, dass der Erzähler dem Leser bzw. Zuhörer anschließend aus seiner auktorialen Perspektive die innere Reaktion einer literarischen Figur erläutert. Ein weiteres Beispiel für dieses Verfahren lässt sich bei dem Gerichtskampf beobachten, den die Schwestern vom Schwarzen Dorn veranlasst haben. Als König Artus gegen Ende die Einigung herbeigeführt hat, spricht er zu der älteren Schwester und fordert sie auf, der jüngeren Schwester den ihr zustehenden Anteil zu überlassen. Nach dieser wörtlichen Rede ist Platz für eine Initiale freigelassen, die dann die folgende Passage einleiten

|| 27 Diese Initialen betreffen die Verse 731, 1257, 1439, 1519, 1691, 1756, 1863, 1971, 2072, 2177, 2245, 2371, 2529, 2683, 2913, 3020, 3386, 3595, 3695, 4011, 4348, 4579, 4611, 4667, 4835, 4914, 5127, 5663, 5715, 5737, 5891, 6073, 6125, 6569, 7114, 7703, 7727, 7805, 7821, 7973, 8017, 8137.

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sollte, in der Artus’ Motive und Überlegungen ausführlich dargelegt werden, die ihn zu seiner Aussage geführt hatten: [D]iz redt er, wander weste ir herze alsô veste an hertem gemüete, durch reht noch durch güete het siz niemer getân. si muose gewalt unde vorhte hân: sus gewan si vorhte von der drô [...]. (Iwein, v. 7703–7709)

Als letztes Beispiel soll in diesem Zusammenhang noch die Passage angeführt werden, in der Laudine erklärt, dass sie nun die Edlen ihres Landes in die Entscheidung über ihre Hochzeit mit einbeziehen müsse: „die suln wir an der rede hân: deiswâr ez vüeget sich deste baz.“ nû tâten si ouch daz. Dô si sich ze handen viengen unde in den palas giengen, [...]. (Iwein, v. 2368–2372)

Diese Initiale markiert zwar das Ende der Redeszene, allerdings nicht direkt nach dem Ende der wörtlichen Rede, sondern genau an der erzähltechnischen Schnittstelle, an der ein neuer Handlungsabschnitt einsetzt. In der darauf folgenden Textpassage, die durch die Initiale eingeleitet wird, schildert Hartmann den Empfang Iweins unter den Fürsten des Landes; es hat also ein Ortswechsel stattgefunden und einige Zeit ist zwischen der vorherigen und dieser Szene verstrichen. Hieran zeigt sich erneut, wie planvoll der Schreiber den Text eingerichtet hat: Zwar scheint er in besonderem Maße auf Dialogpassagen geachtet zu haben, brachte die entsprechenden Markierungen jedoch mit großem Bedacht an handlungslogisch signifikanten Punkten an. Abschließend sei noch auf einige Textstellen hingewiesen, an denen sich die Position der Initiale keiner dieser drei Kategorien zuordnen lässt, der Schreiber sie aber aus anderen Gründen offenbar für notwendig gehalten hat. Lunetes Auftritt am Artushof und ihre lange Rede, in der sie Iwein verflucht, trägt eine solche Initiale genau dort, wo die Perspektive ihrer Rede wechselt: in dûhte des schaden niht gnuoc daz er ir den man sluoc, ern tæte ir leides mêre unde benæme ir lîp unde êre. Herre Îwein, sît mîn vrouwe ir jugent, ir schœne, ir rîcheit unde ir tugent, niht wider iuch geniezen kan, wan gedâht ir doch dar an waz ich iu gedient hân unde het si mîn genozzen lân [...]. (Iwein, v. 3133–3142)

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Hatte sie zu Beginn ihre Anklage direkt an die Hofgesellschaft gerichtet und über Iweins Verhalten in der dritten Person berichtet, so spricht sie ihn ab Vers 3137 persönlich an. Da eine solche Positionierung der Initiale innerhalb einer wörtlichen Rede kein Einzelfall ist, ist es unwahrscheinlich, dass der Schreiber sie an dieser Stelle irrtümlich eingesetzt hat, weil er möglicherweise die vorherige Redepassage als Erzählerbericht verstanden hatte, denn auch innerhalb anderer Redeszenen werden perspektivische Scharnierstellen oder aus anderen Gründen bedeutsame Textteile durch Initialen gekennzeichnet und somit besonders hervorgehoben. Ein ähnlicher Fall wie bei Lunetes Anklagerede liegt in Iweins Monolog vor, den er anlässlich seines Erwachens aus dem Wahnsinn im Wald hält. Durch die Behandlung mit der Salbe geheilt erkennt er sich selbst, monologisiert zunächst in der ersten Person und spricht dann den Traum direkt an: Troum, wie wunderlîch dû bist! / dû machest rîche in kurzer vrist / einen alsô swachen man (Iwein, v. 3549–3551). Auch dieser Perspektivwechsel innerhalb der Rede wird durch eine Initiale gekennzeichnet. Man könnte mutmaßen, dass der Schreiber aufgrund des plötzlichen Wechsels in die zweite Person irrtümlich von einer einsetzenden wörtlichen Rede ausgegangen sei. Allerdings handelt es sich bei den zwei vorhergehenden Versen um eine Sentenz, der durch die darauffolgende Initiale ebenfalls ein gewisses Gewicht beigemessen wird: swer sich an troume kêret: / der ist wol gunêret (Iwein, v. 3547f.).28 Gegen die These eines unaufmerksamen Schreibers sprechen weitere Beispiele, in denen Initialen innerhalb von wörtlichen Reden erscheinen. Das erste betrifft wiederum eine Sentenz, die in der Klage Iweins hervorgehoben wird. Er ist sich angesichts der Gewitterquelle, auf die er zufällig wieder gestoßen ist, dessen bewusst geworden, dass er Laudines Huld verloren hat, ist daraufhin vor Kummer vom Pferd gesunken und hat sich versehentlich an seinem Schwert verletzt. Der Löwe glaubt ihn tot, will sich ebenfalls das Leben nehmen, doch Iwein hält ihn von diesem Suizidversuch ab und beklagt erneut sein eigenes Schicksal, wobei er sich selbst in der zweiten Person anspricht: der unsæligest bistû / der ie zer werlde wart geborn [...] (Iwein, v. 3962f.). Die folgende Sentenz, die Iwein zitiert und über die er im Anschluss reflektiert, wird durch eine Initiale von der übrigen Klage abgehoben: Noch ist er baz ein sælec man, der nie nâch êren muot gewan danne der êre gewinnet unde sich sô niht versinnet daz er si behalten künne. (Iwein, v. 3969–3973)

Iweins anschließende Reflexion über seinen eigenen Ruhm erfolgt dann wiederum in der ersten Person: êren unde wünne, / der het ich beider als vil / daz ichz got clagen wil (Iwein, v. 3974–3976).

|| 28 Eikelmann/Tomasek (wie Anm. 23) Bd. 1, S. 88.

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Ebenso wird innerhalb einer Rede von Keie ein neuer Abschnitt markiert. Eigentlich handelt es sich um das Gespräch, das Iwein mit dem vom Riesen Harpin bedrohten Burgherrn führt, als dieser ihm erklärt, weshalb er am Artushof keinen Kämpfer für sich und seine Sache finden konnte. Der Burgherr berichtet dann ausführlich über die Entführung der Königin und gibt das Geschehen am Artushof mehrfach in wörtlicher Rede wieder – so auch Keies Reaktion auf den großen Tumult, der am Artushof unter den Rittern ausbricht, als der fremde Ritter die Königin tatsächlich mit sich wegführt. Keie verweist zunächst auf seine Position als Truchsess des Hofes, schwört anschließend, dass er die Königin retten wolle, und beteuert sofort aufzubrechen, um die Königin zurückzuholen. Graphisch abgesetzt ist die folgende Passage, in welcher er den zurückbleibenden Artusrittern konkrete Handlungsanweisungen gibt: Nû solt iu versmâhen / diz gemeine nâch gâhen. / waz sol der ungevüeger schal (Iwein, v. 4651–4653). Eine durch Initiale hervorgehobene Sentenz erscheint in Keies Rede, als die Artusgesellschaft am Brunnen angelangt ist und Keie über Iwein spottet: Ez swachet manec bœse man / den biderben swâ er iemer kan (Iwein, v. 2485f.).29 Insgesamt kann also festgehalten werden, dass ausnahmslos jede Initiale, die der Schreiber innerhalb des Werkes positioniert hat, einen inhaltlich, handlungslogisch und/oder sprechperspektivisch bedeutsamen Punkt kennzeichnet. Meist handelt es sich dabei um den Beginn, oft auch um das Ende einer wörtlichen Rede oder Redeszene; und wenn nicht, so markieren die Initialen inhaltliche Zusammenhänge, Perspektivwechsel, Scharnierstellen im Handlungsgefüge oder bedeutsame Passagen wie Sentenzen oder etwa die Stelle, an der Kalogreant im Iwein erklärt, was âventiure sei (Iwein, v. 529–542). Auch wenn die Initialen zahlenmäßig in den meisten Fällen den Beginn einer wörtlichen Rede markieren, kommt ihnen freilich nicht unmittelbar die Funktion unserer Anführungszeichen zu – demgegenüber stehen auch zu viele Stellen, an denen der Beginn von wörtlicher Rede lediglich durch das verbum dicendi angezeigt wird. Für die Frage nach der Performanz sind die Initialen in jedem Fall äußerst aufschlussreich und gegen die Annahme, sie seien bloß der mise en page geschuldet, spricht ihre ungleichmäßige Verteilung. Schon in der ersten Dialogszene, dem Streit zwischen Keie, Kalogreant und der Königin, treten sie sehr gehäuft auf, in langen und zusammenhängenden Erzählabschnitten hingegen werden sie nicht gesetzt, vermutlich um den Erzählfluss nicht zu unterbrechen. Sie sind durchgehend an Positionen angebracht, an denen ein ambitionierter Vortragender auf irgendeine Art und Weise seinen Vortrag variieren könnte, um den erzählten Inhalt bestmöglich zu präsentieren. Da auch sonst – wie in den handschriftlichen Überlieferungszeugen dieser Zeit üblich – außer Reimpunkten keine Interpunktion vorliegt, markieren die Initialen gewissermaßen Zäsuren, an denen der Vorlesende möglicherweise eine

|| 29 Ebd., S. 70.

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kurze Pause eingelegt hat, um der darauffolgenden Passage besondere Betonung zu verleihen. Es gibt aber noch eine weitere Besonderheit der graphischen Codierung von performativen Aspekten in der Gießener Handschrift: „Der Schreiber akzentuiert reichlich und setzt schrägliegende Zirkumflexe auf betonte Längen und Dipthonge [sic!], häufig auf das Reimwort“.30 Hierbei wird allerdings nicht nur das Reimwort am Ende der Zeile betont, sondern oftmals markieren die Akzente auch Reime innerhalb der Zeilen, am Beginn oder in der Mitte, die durch eine betonte Aussprache dann ebenfalls zum Klingen gebracht werden können, ohne diese Hinweise des Schreibers aber möglicherweise nicht auffallen würden. Es ist natürlich denkbar, dass die Gießener Handschrift (Abb. 1) auch zum Lesen – also Selbstlesen – gedacht und konzipiert wurde; für diesen Gebrauchskontext allerdings wären gerade die Akzentuierungen innerhalb der Zeilen unzweckmäßig und würden meines Erachtens keinerlei Funktion erfüllen. Es scheint eher naheliegend, dass der Schreiber mit diesen Zirkumflexen eine weitere performative Hilfestellung bieten wollte.31

5 Schlussbemerkung Dass Dialogpassagen, wörtliche Reden insgesamt, aber auch deren konkrete Umsetzung im mündlichen Vortrag für Hartmann von Aue eine besondere Rolle gespielt haben, steht außer Frage. Auch der Stimme selbst misst er große Bedeutung bei, thematisiert stimmliche Äußerungen sogar dann, wenn sie nicht in einen Redeakt übergehen, und definiert sowohl die Intonation als auch den Habitus, mit dem eine Aussage erfolgt. Die Hauptfunktionen, die der Stimme in seinem Werk zugewiesen werden konnten, sind der Apell (meist konkret der Ruf um Hilfe), die Drohung (Einschüchterung eines Gegners) und die Identifizierung (Anagnorisis anhand der stimmlichen Merkmale). Für die performative Darbietung der Reden liefert Hartmann ausführliche Informationen, die auch als dramaturgische Anweisungen begriffen werden können. Mittels redequalifizierender Erweiterungen der inquit-Formel gibt er genaue Hinweise darauf, mit welcher inneren oder äußeren Haltung, in welcher emotionalen Konstitution oder auch mit welcher lautlichen Intensität die folgende Rede vorgetragen werden kann. Da diese Performanzhinweise in den Text eingeschrieben und mit ihm

|| 30 Schneider (wie Anm. 20), S. 148. 31 Ein ähnliches vom Autor selbst gesetztes Akzentuierungssystem im Hinblick auf die Vortragssituation verwendet bereits Otfrid von Weißenburg in der Wiener Handschrift (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2687 Han). Wäre es am Ende sogar denkbar, dass die Gießener Iwein-Handschrift vom Autor selbst gesetzte Vortragsanweisungen weitertradiert?

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vorgelesen werden, ist es naheliegend, dass sie beim Publikum eine gewisse performative Erwartungshaltung hervorgerufen und den Vorlesenden zur Präsentation seiner Vortragskunst regelrecht herausgefordert haben werden. Auch für interpretative Fragen sollte der performative Aspekt in Hartmanns Werken daher stets mitgedacht und berücksichtigt werden. Mit der Gießener Iwein-Handschrift 97 liegt ein Textzeuge vor, der einige dieser performativen Aspekte graphisch codiert wiederzugeben scheint. In exzellenter Qualität niedergeschrieben hat der Schreiber den Text nicht nur sorgsam tradiert, sondern auch inhaltlich intensiv bearbeitet, indem er die Initialen an erzähltechnisch neuralgischen Punkten einfügte. Passend zu Hartmanns Schwerpunkt auf den Redeszenen setzt er Initialen überwiegend am Beginn, häufig aber auch am Ende von wörtlichen Redepassagen und bietet somit einem Vortragenden Orientierung innerhalb der Erzählung, macht auf Perspektivwechsel innerhalb einer Rede aufmerksam und setzt markante Einschnitte an handlungslogischen Scharnierstellen. Möglicherweise dienen auch seine systematischen Akzentuierungen (sowohl von Reimen als auch von Diphthongen innerhalb der abgesetzten Verse) einem Vorlesenden als Hinweise zur Betonung des Textes. Da auch die Kölner Tristan-Handschrift B – wie Birgit Zacke zeigen konnte – performative Aspekte graphisch darstellt, könnten sich umfassendere Untersuchung zur sprachlichen Performanz und deren graphischer Codierung in der handschriftlichen Überlieferung als lohnenswert erweisen.

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Abb. 1: Hartmann von Aue, Iwein, Gießen, Universitätsbibliothek, Hs 97, fol. 17r

Birgit Zacke

Die Markierung der Figurenstimmen in der Kölner Tristan-Handschrift B 1 Einleitung Die folgenden Überlegungen zur Kölner Tristan-Handschrift B1 kreisen um das Layout der Handschrift und dessen möglicher Unterstützung des (Vor-)Lesens, d.h. einer in den Text eingeschriebenen Performanz. Das Wort lesen, das in den beiden folgenden Zitaten aus dem Tristan-Prolog2 Gottfrieds von Straßburg mehrfach gebraucht wird, kann verschiedene Bedeutungen haben. Ich weiz wol, ir ist vil gewesen, die von Tristande hânt gelesen; und ist ir doch niht vil gewesen, die von im rehte haben gelesen. (Tristan, v. 131–134) waz aber mîn lesen dô wære von disem senemære, daz lege ich mîner willekür, allen edelen herzen vür, daz sî dâ mite unmüezic wesen: ez ist in sêre guot gelesen. (Tristan, v. 167–172)

Das einschlägige Wörterbuch3 gibt als Übersetzungsmöglichkeit für lesen sowohl ‚lesen‘ als auch ‚erzählen‘, ‚berichten‘ oder ‚sagen‘ an. Für den Übersetzer des Textes – aber wohl auch für den Rezipienten des Romans – stellt bereits der Prolog eine Herausforderung dar: Wie soll er die Worte Gottfrieds verstehen und welche Handlungen damit verbinden? Er muss sich entscheiden, je nach Kontext, in dem das

|| 1 Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7020 (W*) 88. Vgl. zur Beschreibung: http://www.handschriftencensus.de/3203 (Stand: 04.01.2017). Die Handschrift ist als Digitalisat des Mikrofilms einsehbar: http://historischesarchivkoeln.de/de_DE/lesesaal/verzeichnungseinheit/ 172973/Best.+7020+88+Tristan+und+Isolde?limit=&page=12 (Stand: 04.01.2017). 2 Ich zitiere im Folgenden nach der Ausgabe von Marold, da sie noch immer die einzige ist, die einen kritischen Apparat bietet: Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. von Karl Marold, unveränderter fünfter Abdruck nach der dritten mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten Apparat von Werner Schröder, 2 Bde., Berlin/New York 2004 (de Gruyter Texte). 3 „lësen bis lessenzîn“, in: Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Sp. 1888f., http://woerterbuchnetz.de/Lexer/?sigle=Lexer&mode=Vernetzung&lemid=LL01134 (Stand: 04.01. 2017). Vgl. Franz Lebsanft, „Hören und Lesen im Mittelalter. (Besprechungsaufsatz)“, in: ZFSL 91 (1982), S. 52–64, hier S. 54.

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Wort lesen gebraucht wird.4 Ähnlich ergeht es dem modernen Rezipienten, wenn er sich über die mittelalterlichen Handschriften beugt und versucht, ihren Rezeptionsweisen auf die Spur zu kommen: Standen sie im Zentrum des mündlichen Vortrages, bei dem jemand aus ihnen den fixierten Text laut vorlas oder zog man sich mit ihnen doch lieber in die Kemenate zurück, um für sich selbst darin zu lesen? Christopher Young geht von einer „spezifischen Vortragssituation“5 aus, die Gottfried in seinen Text einschreibt, und bezieht sich dabei auf die Verse wan swâ man noch hœret lesen (Tristan, v. 230) und wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt (Tristan, v. 235), letzterer fehlt in der Kölner Tristan-Handschrift B. Drei Bedeutungen von lesen macht Young in Gottfrieds Werk aus: „vorlesen“, „privat oder allein lesen“ sowie „erzählen, sagen“.6 Er zeigt, dass Gottfried sich gerade diese Ambivalenz des Verbes zunutze macht: „[I]m Akt des Lesens verwandelt sich die Geschichte der Protagonisten in ein lebendes, real zu erlebendes Ereignis“.7 So argumentiert auch Dennis H. Green, der das Zusammentreffen von hœren und lesen im Vers wan swa man hœret oder list (Tristan, v. 177) dahingehend deutet, dass Gottfried bewusst beide Formen der Rezeption mitdenkt: „Die Verwendung von hœren als Alternative deutet darauf hin, daß lesen hier nicht den Vortrag eines schriftlichen Textes bedeutet, sondern die Privatlektüre“.8 Deutlich wird, wie wichtig die Performanz Gottfried bereits beim Verfassen des Textes war und es ist durchaus nicht die Regel, dass diese ‚performative Qualität‘ des Tristan in der Kölner Handschrift B eine eigenständige Umsetzung9 in der Textgestaltung erfuhr. Im Folgenden will ich die Kölner Tristan-Handschrift B auf ihre Funktionalität für die Performanz untersuchen, denn sie scheint aufgrund ihres Layouts ganz besonders dazu geeignet, den in ihr aufgezeichneten Text in den lauten Vortrag zu || 4 Rüdiger Krohn entscheidet sich, „je nach Kontext“ zu übersetzen. Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort versehen von Rüdiger Krohn, Bd. 3: Kommentar, Stuttgart 9 2012 (RUB 4473), S. 32. Ebenso verfährt Peter Knecht in seiner Übersetzung zur Edition von Marold (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 4f. 5 Christopher Young, „Literaturtheorie bei Gottfried von Straßburg: Fiktion, Religion und Rhetorik“, in: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996, hg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson und Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1998 (Wolfram-Studien 15), S. 195–210, hier S. 201. 6 Ebd., S. 205. 7 Ebd. 8 Dennis H. Green, „Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschen Literatur des Mittelalters. Drei Rezeptionsweisen und ihre Erfassung“, in: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag, hg. von Ludger Grenzmann, Göttingen 1987, S. 1–20, hier S. 13. 9 Die Kölner Tristan-Handschrift B scheint in ihrem Layout wohl ein Einzelfall zu sein, wie sowohl die Diskussion des Vortrages auf der Greifswalder Tagung als auch Nachfragen bei Jürgen Wolf, Nigel F. Palmer und Henrike Lähnemann ergeben haben, denen ich für ihre Informationen und Hilfe dankbar bin.

Die Markierung der Figurenstimmen in der Kölner Tristan-Handschrift B | 57

überführen. Wichtig ist dabei, dass es sich beim Layout einer Handschrift um eine unabhängig vom jeweiligen Verfasser eines Textes, nachträglich installierte Strukturierung handelt, die dem Leser der Handschrift die Navigation durch den Text erleichtert.10 Um dem möglichen Gebrauch der Handschrift als Vorleseexemplar nachzuspüren, werde ich zunächst den Codex selbst und seine Materialität11 vorstellen. Daran schließt sich ein Überblick zum Lesen im Mittelalter und zur Einrichtung mittelalterlicher Codices durch Schreiber/Redaktoren an, um anschließend exemplarisch die Textgestaltung und die damit einhergehende Markierung von Figurenrede für den (Vor-)Leser durch das eigens für diese Handschrift installierte Markierungssystem zu untersuchen.

2 Die Kölner Tristan-Handschrift B Die Niederschrift der Kölner Tristan-Handschrift B, die den Text Gottfrieds von Straßburg und Ulrichs von Türheim enthält, wurde, so ihr Schreiber Willekin, am 23. August 1323 beendet: wuenschent dat der schriuer willekin beschirmet mueze iemer sin vor der hellen gruonde wan er ist ein suendich buove gewesen uf van kinde dat er die sere minde die uf in ahte kvme ein drec es were er wal ein seyuerbec ¶ finita sunt hec anno domini Millesimo Trecentesimo vicesi mo tertio in vigilia sti bartho lomei apostoli (p. 263)12

Damit gibt es ein Datum, das den Abschluss der Schreibarbeit nennt. Zugleich nennt sich ein Schreiber, der für den Text der Handschrift verantwortlich zeichnet und dessen Dialekt mittelfränkisch ist. Der Codex besteht aus 132 zusammengebundenen || 10 Vgl. Lebsaft, „Hören und Lesen“ (wie Anm. 3), S. 60f. 11 Grundlegend zur Material Philology: Speculum 65 (1990); Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte, hg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel, Berlin 1997 (ZfdPh 116, Sonderheft). 12 Ich zitiere im Folgenden den Text der Handschrift. Die Unterscheidung zwischen Schaft- und rundem S wurde stillschweigend aufgelöst, der Text wird normalisiert wiedergegeben, diakritische Zeichen und Kürzungen werden aufgelöst. Zur Wiedergabe von Fleuronné-Initialen, Majuskeln und Paragrafenzeichen in den Zitaten aus der Handschrift vgl. Anm. 62. Die Seiten der Handschrift sind paginiert, die Zitierweise erfolgt entsprechend.

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zum Teil recht dünnen Pergamentblättern.13 Mit einer Blattgröße von 215 × 135 mm und einem Schriftraum von 165 × 100 mm handelt es sich um einen handlichen Codex. Jürgen Wolf geht davon aus, dass man bei volkssprachigen Handschriften dieses kleine Format und „häufig auch mindere Pergamentqualitäten“14 bevorzugte, „um die Kosten zu minimieren“.15 Auch die Tatsache, dass der Text in zwei Spalten zu je 40 Zeilen präsentiert wird, spricht dafür, dass nicht verschwenderisch gearbeitet wurde.16 In den Text sind neun kolorierte Federzeichnungen eingefügt, deren Existenz bisher das größere Interesse der Forschung auf sich gezogen hat.17 „Es handelt sich um wohlüberlegte und sorgfältige Kompositionen, die einen gewissen künstlerischen Anspruch bezeugen und als dekorative wie auch als sinnstiftende Elemente der Handschrift eine nicht unbedeutende Rolle spielen“.18 Aber auch der Text der Handschrift ist in den Blick der Forschung geraten, denn er geht über Zwischenstufen auf die Münchener Handschrift Cgm 51 zurück und enthält viele ver-

|| 13 So auch schon Marold: „Das Pergament ist besonders dünn.“ (wie Anm. 2), S. XLI. 14 Jürgen Wolf, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert, Tübingen 2008 (Hermaea 115), S. 127. 15 Ebd. 16 Kössinger sieht in der Zweispaltigkeit des Schriftraums ein Zitat des französischen Typs volkssprachiger Handschriften und überlegt, ob diese Einrichtung nicht bereits auf Gottfried selbst zurückgeht, was wohl hypothetisch bleiben muss: „Die frühe Tristan-Überlieferung mit ihrem regionalen Fokus im Westen und Südwesten scheint hier ihren eigenen, unabhängigen Weg gegangen zu sein, und zwar so, dass die ‚Geschichte‘ schon vom Buchtyp her für Rezipienten des 13. und 14. Jahrhunderts als eine französische identifizierbar bleibt. […] Möglicherweise orientiert sich Gottfried also nicht nur dem Inhalt nach an Thomas, sondern auch der Form der Textaufzeichnungen nach an jenen französischen und lateinischen Büchern, von denen er selbst im Prolog spricht […].“ Norbert Kössinger, „Text und Buch. Anlässlich von Jürgen Wolfs literatur- und kulturhistorischen Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert. Mit einem Abdruck des Wiesbadener Fragments von Gottfrieds Tristan“, in: PBB 135 (2013), S. 244–260, hier S. 258. 17 Vgl. Elke Brüggen und Hans-Joachim Ziegeler, „Der Tristanstoff in der Manuskriptkultur des Mittelalters. Text und Bild in der Kölner Tristan-Handschrift B“, in: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposium Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000, hg. von Christoph Huber und Victor Millet, Tübingen 2002, S. 23–74; Elke Brüggen und Hans-Joachim Ziegeler, „Tristan am ‚Niederrhein‘. Die Tristan-Handschrift W* kl.F° 88 des Historischen Archivs der Stadt Köln“, in: Schnittpunkte. Deutsch-Niederländische Literaturbeziehungen im späten Mittelalter, hg. von Angelika Lehmann-Benz, Urban Küsters und Ulrike Zellmann, Münster u.a. 2003 (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 5), S. 237–267; Elke Brüggen und Hans-Joachim Ziegeler, „Textual Worlds – Pictural Worlds. Interpreting the Tristan Story in Illuminated Manuscripts“, in: Visuality and Materiality in the Story of Tristan and Isolde, hg. von Jutta Eming, Ann M. Rasmussen und Kathryn Starkey, Notre Dame, Indiana 2012, S. 223–268; Stephanie C. Van D’Elden, „Discursive Illustrations in Three Tristan Manuscripts“, in: Word and Image in Arthurian Literature, hg. von Keith Busby, New York u.a. 1996, S. 284–319. 18 Brüggen/Ziegeler, „Tristan am ‚Niederrhein‘“ (wie Anm. 17), S. 249.

Die Markierung der Figurenstimmen in der Kölner Tristan-Handschrift B | 59

mutlich wohlüberlegte Kürzungen.19 Martin Baisch vergleicht den Textbestand beider Handschriften und zeigt, dass der Schreiber von B wohl mit mehreren Vorlagen gearbeitet haben muss: Es zeigt sich auch, dass sich der Schreiber von B gegenüber der von M stammenden gekürzten Fassung der Tristan-Erzählung unterschiedlich verhält. Während B in weiten Teilen des Textes die gleichen Fehlstellen aufweist wie M, präsentiert B in der ersten großen Textlücke nach fol. 71 einen ungekürzten Text. Andererseits folgt B am Ende des Gottfriedtextes nicht den Eingriffen, die der Redaktor der Münchner Handschrift seinem Text beibrachte. Ulrichs Fortsetzung liegt in B hingegen in der gleichen gekürzten Fassung wie M vor. Aber auch bei der Fertigstellung dieses Teils der B-Handschrift ist mit mindestens zwei Vorlagen gearbeitet worden.20

Elke Brüggen und Hans-Joachim Ziegeler sind die ersten, die eine umfassende Übersicht der Kürzungen und Lesarten für den Text Gottfrieds bereitstellen,21 eine Interpretation nehmen sie jedoch nicht vor. Die Eigenständigkeit des Erzählens der Handschrift B durch das Eingreifen des Redaktors/Schreibers manifestiert sich vor allem in der Kaedin-Kamele-Handlung in Ulrichs Fortsetzung, wie Baisch zeigt: „Es scheint, als habe der Redaktor die schwankhafte Ausgestaltung der Episode zurückgedrängt“.22 Über den Gebrauch der Handschrift durch ihre mittelalterlichen Nutzer lässt sich insofern etwas anmerken, als dass sie wenige Randbemerkungen aufweist, die entweder Fehlstellen nachtragen oder ausgewählte Verse markieren.23 Sie „sind in ihrer Zahl und in ihrer Aussagekraft zu begrenzt, um als Grundlage zu einem umfassenden Kommentar zu Gottfrieds Werk aus der Sicht mittelalterlicher

|| 19 Vgl. Brüggen/Ziegeler, „Tristan am ‚Niederrhein‘“ (wie Anm. 17); Alan R. Deighton, „Zur handschriftlichen Überlieferung des Tristan Gottfrieds von Straßburg“, in: ZfdA 112 (1983), S. 199–207; Martin Baisch, Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft. Tristan-Lektüren, Berlin/New York 2006 (Trends in Medieval Philology 9); ders., „abbrevatio im Spannungsfeld von Textkritik und Hermeneutik. Zur Kurzfassung der höfischen Erzähltexte Gottfrieds von Straßburg und Ulrichs von Türheim im cgm 51“, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann und Anne Simon, Berlin/New York 2006 (Trends in Medieval Philology 7), S. 101–120. Allerdings sieht Wolf in den Kürzungen nicht nur eine sinnstiftende Bearbeitung der Erzählungen von Gottfried und Ulrich, sondern gibt zu bedenken, dass Textkürzungen auch immer mit einem Einsparen von Material und damit einer Kostensenkung im Bereich der Produktion einer Handschrift einhergehen können. Vgl. Wolf (wie Anm. 14), S. 130. 20 Baisch, Textkritik (wie Anm. 19), S. 286. 21 Vgl. Brüggen/Ziegeler, „Tristanstoff“ (wie Anm. 17), S. 46–59. Die Kürzungen in Ulrichs Text sind im Apparat von Kerth nachvollziehbar dokumentiert. Ulrich von Türheim, Tristan, hg. von Thomas Kerth, Tübingen 1979 (ATB 89). Nach dieser Edition werde ich im Folgenden zitieren. 22 Baisch, Textkritik (wie Anm. 19), S. 292. 23 Vgl. Alan R. Deighton, „Die Randbemerkungen in den Handschriften des Tristan Gottfrieds von Straßburg“, in: Euphorion 78 (1984), S. 266–274. Doch auch Eberhard Groote hat in der Handschrift Spuren hinterlassen, als er sie erwarb und für seine Edition des Tristan benutzte. Vgl. Brüggen/Ziegeler, „Tristan am ‚Niederrhein‘“ (wie Anm. 17), S. 239f.

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Leser dienen zu können“,24 belegen aber, dass der Codex tatsächlich gelesen wurde. Wie man sich dieses Lesen vorzustellen hat, zeigen sie nicht, weshalb ich mich zur Beantwortung dieser Frage im Folgenden auf die Einrichtung des Handschriftentextes durch ihren Schreiber Willekin stützen werde. Die Forschung hat zwar bereits darauf hingewiesen, dass der Text optisch für den Leser gegliedert ist, indem mit „roter oder blauer Auszeichnungstinte“25 Majuskeln oder Paragrafenzeichen an ausgewählte Versanfänge gesetzt wurden. Dies merkt etwa Karl Marold an, jedoch ohne diese Auszeichnungen in seiner Edition wiederzugeben: „Die Leseabschnitte sind mit roten oder blauen Initialen versehen, kleinere Abschnitte durch ein vorgesetztes Kapitelzeichen […] in rot und blau markiert; dasselbe Zeichen steht bisweilen bei stichomythischem Dialog vor jeder Zeile“.26 Thomas Kerth verzeichnet sie für Ulrichs Text im Apparat und vermerkt in seiner Handschriftenbeschreibung: „Abschnittsgliederung durch abwechselnde blaue und rote Unzialen, kleinere Einschnitte durch Absatzzeichen markiert, die auch als Anführungszeichen dienen“.27 Brüggen und Ziegeler betonen, dass durch diese Texteinrichtung „ein ausgesprochen ruhiger und harmonischer Gesamteindruck“28 entsteht. Niemand hat sich bislang jedoch daran gesetzt, diese Texteinrichtung und die damit einhergehende ‚Betonung‘ ausgewählter Verse, Sentenzen, Handlungs- und Dialogpartien näher zu untersuchen. Diese Lücke in der Interpretation will ich im Folgenden schließen, indem ich an drei Beispielen die Texteinrichtung durch den Schreiber ernst nehme und auf ihre Überführbarkeit in die Performanz prüfe. Zunächst will ich aber kurz erläutern, wie Willekin bei der Einrichtung seines Textes vorgeht. FleuronnéInitialen und Majuskeln stehen innerhalb des Schriftraums, sodass er beim Schreiben an den entsprechenden Stellen für diese ein Spatium lässt. Interessant ist hierbei, dass er den dort einzuschreibenden Initial-/Majuskel-Buchstaben nicht vorgibt, sodass der Rubrikator diesen sich selbst erschließen muss.29 Neben dem Schriftraum verortet er die Paragrafenzeichen und die Majuskel I. Hierfür setzt er am Rand des Textes, vor dem entsprechenden Vers einen doppelten Schrägstrich30 für ein auszuführendes Paragrafenzeichen und ein einfaches I für die entsprechende Majuskel.31 || 24 Deighton (wie Anm. 23), S. 272. 25 Brüggen/Ziegeler, „Tristan am ‚Niederrhein‘“ (wie Anm. 17), S. 248. 26 Marold (wie Anm. 2), S. XLII. 27 Kerth (wie Anm. 21), S. X. 28 Brüggen/Ziegeler, „Tristan am ‚Niederrhein‘“ (wie Anm. 17), S. 248. 29 Der Schreiber musste üblicherweise dem unabhängig von ihm arbeitenden Rubrikator Anweisungen für die weitere Ausgestaltung der Handschrift hinterlassen. Vgl. Karin Schneider, Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, Tübingen 1999 (Sammlungen kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B, 8), S. 150. Ob dieser Befund für die Kölner Tristan-Handschrift B Aussagen darüber zulässt, dass der Schreiber Willekin zugleich auch die Rubrizierung vorgenommen hat, kann ich an dieser Stelle nicht weiter verfolgen. 30 Schrägstrich/Virgel und Punkt/Punctus sind in der Kölner Tristan-Handschrift B schwer zu unterscheiden, da sie beide nur eine Federbreite messen und die Schrift – auf Grund der geringen

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3 Die Schrift und das Lesen im Mittelalter Darüber, ob im Mittelalter laut oder leise gelesen wurde, vor einer Gruppe oder für sich selbst, besteht kaum Einigkeit in der Forschung.32 „There were few books destined for an exclusively reading or an exclusively listening public; rather vernacular books were written both for a reading public […] and for reading aloud to a listening public”.33 Dass man so wenig darüber sagen kann, wie genau die Rezeption vonstattenging, verwundert allerdings nicht, denn es handelt sich um eine lange Zeitspanne und vor allem eine recht heterogene Gruppe von möglichen Handschriftenbenutzern. Man muss unterscheiden, ob man es mit einem Kleriker zu tun hat oder mit einem Adligen.34 Zu fragen ist auch, was der Anlass der Benutzung einer Handschrift, der Rezitation, des Vorlesens und Selbstlesens eines Textes war. Nicht zuletzt gilt es, auf die Handschriften selbst zu blicken, und zu bestimmen, welches Angebot sie ihrem Nutzer unterbreiten.35 Paul Zumthor geht in seiner Vortragsreihe zu Stimme und Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft,36 die vor allem auf der Interpretation der Heldenepik, also vornehmlich in mündlicher Tradition stehender Texte beruht, auch auf die bereits schriftlich verfassten Texte sowie die Problematik der Schriftlichkeit und damit verbunden ihrer Rezeption durch den mittelalterlichen Leser ein. Diese Punkte seiner Überlegungen sind besonders interessant, denn Gottfrieds Tristan und Ulrichs || Größe der Handschrift – recht klein ausfällt. Ich werde im Folgenden eine Unterscheidung auf Grund ihrer Funktion im Text vornehmen. Den Begriff ‚Schrägstrich‘ benutze ich, wenn es um die Vorgaben für den Rubrikator geht; ‚Punkt‘ in jenen Fällen, wo es um die Interpunktion und die Markierung von Sprech-/Atempausen im Text selbst geht. Zum Setzen von Punkten in mittelalterlichen Manuskripten vgl. Nigel F. Palmer, „‚Simul cantemus, simul pausemus‘. Zur mittelalterlichen Zisterzienserinterpunktion.“ In: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, hg. von Eckart C. Lutz, Martina Backes und Stefan Matter, Zürich 2010 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 11), S. 483–569. 31 In den im Folgenden exemplarisch untersuchten Textbeispielen aus der Handschrift ist eine solche Markierung für ein nicht ausgeführtes Paragrafenzeichen auf 157b vor v. 17 zu sehen; für die Majuskel I ebd. vor v. 40 (vgl. Abb. 1). 32 Vgl. Nigel F. Palmer, „Manuscripts for Reading. The Material Evidence for the Use of Manuscripts Containing Middle High German Narrative Verse“, in: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of Dennis H. Green, hg. von Mark Chinca und Christopher Young, Turnhout 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12), S. 67–102, hier S. 77. 33 Mark Chinca und Christopher Young, „Orality and Literacy in the Middle Ages“, in: Orality and Literacy in the Middle Ages (wie Anm. 28), S. 1–15, hier S. 7. 34 Vgl. Lebsanft (wie Anm. 3), S. 61. 35 Vgl. Green (wie Anm. 8), S. 8. 36 Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, aus dem Französischen von Klaus Thieme, München 1994 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 18).

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Tristan-Fortsetzung – um deren Präsentation in einer spezifischen Handschrift es im Folgenden gehen soll – zeigen alle Merkmale eines schriftlich konzipierten Textes.37 Die Wirkung eines Textes auf den Rezipienten variiert abhängig von der Rezeptionsweise, die sich als selbständiges Lesen, als Zuhören oder auch als Sehen gestalten kann.38 Zumthor kann sich nur bedingt vorstellen, dass laut aus einem Codex vorgelesen wurde, „wegen der Schwierigkeiten und der anzunehmenden Langsamkeit beim Entziffern der Schreibarten“.39 Hinzu treten seiner Meinung nach Probleme, die sich aus der Schriftlichkeit selbst ergeben.40 Auch Nikolaus Henkel geht von einer gewissen Schwierigkeit für das direkte und unvorbereitete Vorlesen aus den Manuskripten aus, verweist aber darauf, dass mit Vorlesern zu rechnen ist, die sowohl rhetorisch als auch literarisch so weit geschult sind, dass sie etwa Wechselrede auf Grund der etablierten semantischen und syntaktischen Strukturen erkennen und sie deshalb „richtig und vor allem sinnerschließend vortragen können“.41 Es gibt in der Forschung zwei divergente Ansätze, wie diese von Zumthor problematisierten Hemmnisse mit Blick auf die Schrift durch den mittelalterlichen Leser zu bewältigen sind. Der erste, den ich hier nur der Vollständigkeit halber nennen will und der vor allem auf dem Ansatz von Mary Carruthers’ The Book of Memory42 beruht, geht davon aus, dass das in den Handschriften etablierte Layout dem Zweck der Memorierbarkeit des Textes dient. Das Layout und die Gliederungselemente einer Handschrift werden demnach nicht für die Unterstützung des Lesens und zum schnelleren Nachschlagen von Textstellen genutzt, sondern um sich den Text in der auf der Handschriftenseite präsentierten und fixierten Form besser einprägen zu können. „Die Ausstattung sollte also nicht beim Blättern anleiten, sondern beim Auswendiglernen helfen“.43 Eine auffällige Gliederung der Handschriftenseite trägt dazu bei, den Text schneller und besser ins Gedächtnis zu überführen, denn sie dient als Gedächtnisstütze.44 Auch Horst Wenzel betrachtet die Rolle der Hand-

|| 37 Vgl. Franz H. Bäuml, „Autorität und Performanz. Gesehene Leser, gehörte Bilder, geschriebener Text“, in: Verschriftung und Verschriftlichung. Aspekte des Medienwechsels in verschiedenen Kulturen und Epochen, hg. von Christine Ehler und Ursula Schaefer, Tübingen 1998 (ScriptOralia 94), S. 248– 273, hier S. 266. 38 Vgl. Zumthor (wie Anm. 36), S. 46. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 51. 41 Nikolaus Henkel, „Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts. Das Modell der Dramen des Terenz und Seneca“, In: Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven, hg. von Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1), S. 139–164, hier S. 158. 42 Vgl. Mary Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 2 2008. 43 Christine Jakobi-Mirwald, Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung, Stuttgart 2004 (RUB 18316), S. 191. 44 Vgl. Carruthers (wie Anm. 42), S. 117.

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schrift als Mittlerin: „In der mittelalterlichen Gedächtniskultur fungiert das Buch […] als Medium der Memoria neben den Techniken und Mitteln der oralen Tradierung“.45 Die Handschrift als Träger des Textmaterials dient demnach nicht dazu, den Text für eine stets mögliche Vergegenwärtigung durch das Vorlesen des schriftlich Fixierten bereitzustellen, sondern ihre Aufgabe ist es, den Text für die Überführung ins individuelle Gedächtnis aufzubewahren, aus dem heraus dann die Vergegenwärtigung des Erzählten, die Performanz, stattfindet. Die hier genannten Überlegungen sind für die Frage nach der Performanz der Kölner Tristan-Handschrift B nicht von Belang, denn das dort installierte Layout bewirkt etwas anderes: nämlich die Unterstützung des Vorlesens. Die in alternierenden Farben gehaltene Markierung von Versanfängen ist weit davon entfernt, dem Auge und damit der Memoria einen Fixpunkt zu geben, wie er für das Auswendiglernen notwendig wäre, etwa „eine auffällige Ausstattung, wie zum Beispiel eine besonders skurrile Initiale“.46 Einzig die Bildseiten bieten in der Kölner Tristan-Handschrift B eine solche ‚Abweichung‘ vom installierten Standardlayout des Codex. Ihre Anzahl ist mit neun Federzeichnungen aber so gering, dass man sie nicht mit der Funktion von Memorialzeichen im genannten Sinne in Verbindung bringen kann. Andere – und denen will ich mich im Folgenden anschließen – sehen im Manuskript die Möglichkeit, den Text und damit die in ihm enthaltene Stimme durch das erneute Lesen zur Aufführung zu bringen. Die Einrichtung des Textes auf Grundlage seiner semantischen und syntaktischen Struktur, wie es in der Kölner Handschrift der Fall ist, dient dann gerade nicht dem Auswendiglernen, sondern der leichteren Zugänglichkeit für den Leser, mithin den Vorleser.47 Dies kann nur geschehen, weil die Schriftmedien selbst die Funktion der memoria übernehmen: „Alle Medien, die textuelle Botschaften anders als in unmittelbarer mündlicher Interaktion transportieren, das Manuskript, das Druckwerk und die Datenbank, sind Formen des Gedächtnisses“.48 Die Schrift ist es, die unterschiedliche Formen der Rezeption erst ermöglicht. Das Layout des Schriftträgers schafft dann den Raum für verschiedene Möglichkeiten der Rezeption, „aber das Neue besteht im Vorhandensein eines fest-

|| 45 Horst Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 40. 46 Jakobi-Mirwald (wie Anm. 43), S. 193. 47 Vgl. Barbara Frank, „Zur Entwicklung der graphischen Präsentation mittelalterlicher Texte“, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 47 (1993), S. 60–81, hier S. 60; die ebenfalls eine umfangreiche Studie zur Einrichtung der Handschriftenseite und der damit einhergehenden Leserfreundlichkeit bietet: dies., Die Textgestalt als Zeichen. Lateinische Handschriftentradition und die Verschriftlichung der romanischen Sprachen, Tübingen 1994 (ScriptOralia 67). 48 Peter von Moos, „Über pragmatische Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. von Barbara Frank, Thomas Haye und Doris Tophinke, Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 313–321, hier S. 316.

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gefaßten schriftlichen Textes, den man erst unabhängig vom öffentlichen Vortrag auch mit dem Auge rezipieren kann“.49 Im Gegensatz zur mündlichen Dichtung, die im Vortrag stets reproduziert wird und sich auf den gemeinsamen Wissenshorizont und Wertekanon der Zuhörer – das kulturelle Gedächtnis – verlassen muss,50 handelt es sich bei der schriftsprachlichen Erzählung, bei der Handschrift, um ein Medium, das sowohl die isolierte Lektüre durch einen Einzelnen zulässt, zugleich aber auch den Vortrag vor einer Gruppe von Zuhörern ermöglicht. Wenn es ein literarischer Text ist, der durch den Vorleser gewissermaßen ‚aufgeführt‘ wird, kann und muß der Verfasser mit anderen ästhetischen Mitteln arbeiten als in einem Text, der für die individuelle Lektüre bestimmt ist.51

Ästhetische Mittel können bestimmte Stilmittel sein, die eine Ansprache an den Leser oder Hörer ermöglichen oder dessen Aufmerksamkeit erhöhen – etwa deiktische Verfahren, Trennung von Erzähler- und Figurenrede, Alliteration etc. Solche Mittel – vor allem Figurenrede und Dialogpassagen – stellen aber eine Hürde für den (Vor-)Leser dar, denn er muss diese identifizieren können, um ihre Wirkung zu erfassen. Der Vorleser muss sie gar angemessen in seine Performanz überführen können. Wir müssen die mittelalterlichen Texte, vor allem die literarischen Werke, in eine Vorlesesituation mit ihren phonischen, gestischen, körperlichen, situationellen Dimensionen zurückversetzen, um sie richtig beurteilen zu können.52

Das Vorlesen im Mittelalter ist keine Routine, sondern benötigt Vorbereitung durch den Leser, aber auch durch den Textproduzenten.53 Die Handschrift, die gelesen, ja, die vorgelesen werden soll, benötigt ein unterstützendes Layout, um das angemessene Vorlesen, die Performanz, erst zu ermöglichen. Zumthor beschreibt die Rolle, die der Produzent einer Handschrift einnimmt, folgendermaßen: „Die Herstellung des Manuskripts führt […] zwischen die zu übermittelnde Botschaft und ihren Rezipienten Filter ein […]“.54 Johann Gumbrecht sieht in der Wahl des Layouts die entscheidende Macht der Schreiber, denn ihnen „stehen Möglichkeiten der Gestaltung,

|| 49 Green (wie Anm. 8), S. 8. 50 Vgl. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 28f. 51 Maria Selig, „‚Mündlichkeit‘ in mittelalterlichen Texten“, in: Alte und neue Philologie, hg. von Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebsanft, Tübingen 1997 (Beihefte editio 8), S. 201–225, hier S. 216. 52 Vgl. ebd., S. 217. 53 Vgl. Palmer (wie Anm. 32), S. 77. 54 Zumthor (wie Anm. 36), S. 47.

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der Ordnung und der Gliederung offen, die anders sind als jene, über die der Sprecher verfügt“.55 An dieser Stelle muss ich betonen, dass die Texteinrichtung der Kölner TristanHandschrift B keine Auskunft darüber gibt, ob sie dem Vorlesen oder dem Selbstlesen dient. Barbara Frank geht davon aus, dass gerade ein Layout wie das, das die Kölner Tristan-Handschrift B mit ihrer Textgliederung durch Miniaturen, Initialen und Majusklen bzw. Paragrafenzeichen bietet, auch dem individuellen Lesen dient: „Erst mit diesen Entwicklungen ist auch für die mittelalterliche laikale Gesellschaft der Eintritt in die Schriftkultur vollzogen, die sich aus der Abhängigkeit von der mündlichen Realisierung schriftlicher Texte gelöst hat“.56 Das Layout des Schreibers Willekin ermöglicht ganz wesentlich das Erkennen von Wechseln in der Erzählsituation, denn es markiert Erzählabschnitte durch Paragrafenzeichen oder Majuskeln und setzt diese auch als ‚Anführungszeichen‘ in Dialogpartien ein.57 Damit wird der Zugriff auf diese Textpassagen für den Leser, aber auch für den Vorleser, erleichtert, sieht er doch auf den ersten Blick, dass die aufgeschlagene Textpassage aufgrund ihrer strikten Gliederung und Markierung einen hohen Anspruch an die Rezitation stellt. Willekin war offenbar bewusst, dass die Performanz seines Textes, das Lesen, im Wesentlichen daran gemessen wird, ob es gelingt, wörtliche Rede, aber auch den Beginn neuer Erzählabschnitte deutlich werden zu lassen. „The material evidence for such preparation is largely lacking, but it is occasionally apparent that scribes anticipated the needs of readers and intervened in passages where special help was needed“.58 Wie im Folgenden zu sehen ist, trägt das Layout der Handschrift entscheidend dazu bei, dem (Vor-)Leser zu zeigen, welche Stellen wichtig sind und wo Veränderungen in der Modulation der Stimme, in der Form des Vortrages oder in der Imagination des Selbstlesers59 notwendig werden, um sowohl den Text richtig vortragen als auch den Inhalt angemessen vermitteln zu können. Willekin steuert die Wahrnehmung des Rezipienten, indem er durch seine Gliederung des Textes in

|| 55 Johann P. Gumbert, „Zur ‚Typographie‘ der geschriebenen Seite“, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen (Akten des Internationalen Kolloquiums 17.–19. Mai 1989), hg. von Hagen Keller, Klaus Grubmüller und Nikolaus Staubach, Münster 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 283–292, hier S. 283. 56 Frank, „Entwicklung der graphischen Präsentation“ (wie Anm. 47), S. 73. 57 Zumindest für einige Dialogpassagen der Berliner Eneide-Handschrift, Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 282, macht Henkel folgende Beobachtung: „Hier werden die Sprecherwechsel jeweils durch innerhalb der Zeile gesetzte Zeichen genau markiert. Der Schreiber hat sichtlich die Dialogführung durchschaut und mit den wenigen ihm zu Gebote stehenden Mittel interpungierend strukturiert.“ Henkel (wie Anm. 41), S. 158. Vgl. zur Beschreibung der Handschrift: http://www.handschriftencensus.de/1062 (Stand: 04.01.2017) 58 Palmer (wie Anm. 32), S. 77. 59 „Da wahrgenommene (auch imaginierte) Stimme, Gebärden und situierender Kontext Teil jeder rezipierten (auch schriftlichen) Aussage sind, bestimmt ihre Wahrnehmung weitgehend deren semantischen Gehalt.“ Bäuml (wie Anm. 37), S. 250.

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Form von Paragrafenzeichen und Majuskeln deutlich macht, an welchen Stellen des Textes ein Wechsel in der Erzählsituation, ein neuer Abschnitt in der Erzählung sowie bei Dialogpartien gar der jeweilige Sprecherwechsel stattfindet – mit all diesen Textphänomenen muss unweigerlich eine Veränderung der Stimme des Vorlesenden oder in der Imagination des Selbstlesers einhergehen, da der semantische Gehalt des Textgeschehens sonst nur schwer erschlossen werden kann. An drei Beispielen werde ich im Folgenden herausstellen, dass das Layout der Handschrift die Möglichkeit eröffnet, vor allem die Dialogpartien – also die direkte Figurenrede –, die nicht oder nur zum Teil durch inquit-Formeln eingeleitet werden, angemessen zu rezipieren und zu rezitieren. Ob dieses Angebot Willekins vom mittelalterlichen (Vor-)Leser angenommen wurde, lässt sich heute nicht mehr beantworten: So wie der Stadtplan mögliche Wege zwischen zwei Punkten, nicht aber den tatsächlichen Weg eines einzelnen Menschen zu einem bestimmtem Zeitpunkt beschreibt, kann die Analyse von Buchlayout und Seitengestaltung Aufschluss darüber geben, welche Lesepraktiken als dem Text geeignet empfunden wurden, aber nicht über den eigentlichen Gebrauch eines Codex.60

4 Die Markierung der Figurenstimmen in der Kölner Tristan-Handschrift B Der Text der Kölner Tristan-Handschrift B wird optisch durch Fleuronné-Initialen, Majuskeln und Paragrafenzeichen61 gegliedert 62, hinzu treten neun Federzeichnungen. Meist am Ende eines Erzählabschnitts stehend, zeigen sie die Geburt Tristans (p. 22a), Tristan als Harfner vor Marke (p. 47a), den Moroltkampf (p. 89a), den Drachenkampf (p. 112b), die Einnahme des Minnetranks (p. 242b), Isoldes Befreiung aus den Händen Gandins (p. 164b), den Urgankampf (p. 197b), Pleherins Schlag gegen Tristan (p. 254a) und die Särge der beiden Liebenden (p. 263a). Der Fokus für die Bebilderung der Handlung liegt auf dem „männlichen Protagonisten, in seiner

|| 60 Sonja Glauch und Jonathan Green, „Lesen im Mittelalter. Forschungsergebnisse und Forschungsdesiderate“, in: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, hg. von Ursula Rautenberg, Berlin/Boston 2013, S. 361–410, hier S. 387. 61 Zu Funktion von Paragrafenzeichen als Gliederungselemente: Nigel F. Palmer, „Kapitel und Buch. Zu den Gliederungsprinzipien mittelalterlicher Bücher“, in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), S. 43–88, hier S. 46. 62 Die Majuskeln werden im Folgenden in Fettdruck wiedergegeben, Paragrafenzeichen durch das entsprechende Sonderzeichen. Die Fleuronné-Initialen werden zusätzlich zum Fettdruck unterstrichen wiedergegeben. Die bei nicht ausgeführten Paragrafenzeichen doppelten Schrägstriche sowie die Punkte, die das Versende markieren, werden als Virgel /; die Punkte innerhalb von Versen, die eine Pause bzw. einen Sprecherwechsel markieren durch • wiedergegeben. Die Versabgrenzung innerhalb von Blockzitaten bzw. bei Zitaten innerhalb des Fließtextes erfolgt durch geraden Strich |.

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kämpferisch-militärischen Überlegenheit […], seinem musikalischen Können […] und in seiner mit Mut und Liebe gepaarten Intellektualität“.63 Die Bildmotive gehen ausdrücklich auf den Handschriftentext zurück, setzen zum Teil aber andere Akzente als dieser.64 Eine über fünf Zeilen reichende Fleuronné-Initiale schmückt den Vers GEdehte man ir zuo guote nicht (p. 1a, Tristan, v. 1) und damit zugleich die erste Strophe des Prologs. Der Fleuronnéstab dieser Initiale, der in Keilform65 gehalten ist, verläuft bis zum letzten Vers der ersten Spalte und hebt durch seine Form und die alternierende Farbgebung den strophischen Prolog optisch hervor.66 Allerdings unterläuft die Größe der einzelnen Keile die Strophenlängen von je vier Versen, da sie stets nur über zwei oder drei Verse67 reicht; dadurch unterbleibt eine Markierung und Abgrenzung der einzelnen Strophen. Gottfrieds Text wird durch drei weitere über zwei Zeilen reichende FleuronnéInitialen gegliedert. Eine markiert den Übergang vom Prolog zum Erzähltext Ein herre in permenie was (p. 3b, Tristan, v. 243), mit der zweiten beginnt die Erzählung um die ‚Elternschaft‘ Ruals und Floraetes, sie steht am Anfang der Sentenz Sich dreit der werlte sache | vil ofte zuo vngemache (p. 23b, Tristan, v. 1863f.) und auf die dritte, die einen Erzählerkommentar markiert Ob uch nu lieb is vernuomen | vmb dieser herren willekuomen (p. 65a, Tristan, v. 5175f.), folgt Ruals Bericht am Markehof über Tristans wahre Identität. Alle drei durch die Fleuronné-Initialen markierten Verse und Textpartien handeln von der ‚Identität‘ Tristans, denn sie berichten über die beiden Vaterfiguren und über das Schicksal seiner Eltern und Adoptiveltern. Diesen Initialen ‚antworten‘ dann die jeweils folgenden, mit Majuskeln und Paragrafenzeichen eingeleiteten Verse: Wie er genennet were | daz kvendet vns dit mere (p. 4b, Tristan, v. 317f.) bezieht sich auf Ein herre in permenie und gibt diesem Herrn nunmehr einen Namen. Dieser Erzählabschnitt wird durch eine Majuskel hervorgehoben. Ruals Anweisung an Floraete, eine Schwangerschaft zu inszenieren, ¶ der getruwe marschalck foitenant | vuor heym vnd gesprach sin selich wib (p. 24a, Tristan, v. 1892f.), wird mit einem Paragrafenzeichen am Versanfang markiert und somit betont. Diese Stelle ist die nächste unmittelbar auf die Sentenz Sich dreit der werlte sache (Tristan, v. 1863) folgende Markierung eines Verses im Text der Handschrift. Ähnlich verhält es sich mit dem Erzählereinschub Ob uch nu lieb is vernuomen (Tristan, v. 5175), der zu Ruals Willkommen am Markehof und zur Offenlegung von Tristans wahrer Identität überleitet; ihm folgt die Markierung von Tristans verzweifeltem Monolog Wie nu wie || 63 Brüggen/Ziegeler, „Tristan am ‚Niederrhein‘“ (wie Anm. 17), S. 260. 64 Vgl. Brüggen/Ziegeler, „Tristanstoff“ (wie Anm. 17), S. 38. 65 Vgl. Christine Jakobi-Mirwald, Buchmalerei. Ihre Terminologie in der Kunstgeschichte, vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Berlin 1997, S. 91. 66 Vgl. Brüggen/Ziegeler, „Tristanstoff“ (wie Anm. 17), S. 34f. 67 Markiert sind die Versanfänge Tristan, v. 5, 8, 11, 13, 16, 19, 21, 24, 27, 30, 32 und 35.

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ist mir geschien | ich han mich selben vebersien (p. 65b, Tristan, v. 5225f.), dessen Beginn wiederum durch eine Majuskel besonders heraussticht.68 An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass Paragrafenzeichen und Majuskeln bewusst von Willekin gesetzt werden, um Verse aufeinander zu beziehen oder poetologische Mittel zu betonen. So findet in den drei hier gezeigten Fällen ein Wechsel in der Erzählperspektive statt, der dem Leser durch die Markierung deutlich vor Augen gestellt wird. Der Text wird optisch durch die Gliederungselemente unterbrochen; er erhält eine bestimmte Struktur. Die beiden Fleuronné-Initialen auf p. 23b und p. 65a markieren zudem Textpartien, die in Strophenform geschrieben sind und könnten somit einen ‚Überrest‘ der Markierung der Akrosticha69 darstellen. Den Beginn von Ulrichs Tristan-Fortsetzung markiert ebenfalls eine über zwei Zeilen reichende FleuronnéInitiale Uns ist ein grozer schade geschehen (p. 234a, Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 1). Damit wird der erste Prologvers besonders betont und ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass es sich um einen wichtigen Wechsel im Erzählen handelt. Ob damit auch die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt werden soll, dass es sich hier um den Text eines anderen Autors handelt, kann nicht abschließend geklärt werden.70 Die Gliederung des Textes durch Initialen, Majuskeln und Paragrafenzeichen folgt nicht nur poetologischen Kriterien, zur Markierung von Sentenzen oder Exkursen, sondern ebenso narratologischen Prinzipien, wenn neue Erzählabschnitte beginnen oder ein Wechsel in der Erzählperspektive zu verzeichnen ist. Das Besondere an der Kölner Tristan-Handschrift B ist, dass diese Gliederungselemente auch an Stellen stehen, an denen der Text Figurenrede und Dialogpartien aufweist. Die in den Gesprächssequenzen angebrachten Markierungen sind für die deutschsprachigen profanen Handschriften singulär.71 Drei Dialogpartien der Handschrift sollen im Folgenden beispielhaft untersucht werden. Es lässt sich in der Handschrift kein hierarchischer Unterschied zwischen Paragrafenzeichen und Majuskeln ausmachen. Obwohl sie vom Schreiber planvoll eingesetzt werden,72 unterscheiden sie sich nicht in ihrer Funktion: Sie markieren beide in gleicher Weise herausgehobene Textpassagen. So etwa die Verse aus Gottfrieds || 68 Diese Beobachtungen zum Zusammenspiel und zur gegenseitigen Bezugnahme markierter Verse im Layout der Handschrift aufeinander kann ich im Folgenden nicht weiter beachten, da sich mein Interesse auf die Markierung der Dialoge durch den Schreiber der Handschrift richtet. Es ist nicht auszuschließen, dass sich diese Alternanz für wichtige Aussagen im Text durch die gesamte Handschrift zieht. 69 Vgl. Bernd Schirok, „Zu den Akrosticha in Gottfrieds Tristan“, in: ZfdA 113 (1984), S. 188–213; Gesa Bonath, „Nachtrag zu den Akrosticha in Gottfrieds Tristan“, in: ZfdA 115 (1986), S. 101–116. 70 Ulrichs Text schließt in der Handschrift jedenfalls direkt – ohne Seiten- oder Spaltenwechsel – an Gottfrieds Text an. 71 Vgl. Anm. 9. 72 Dass der Schreiber für die Texteinrichtung verantwortlich ist, zeigt sich daran, dass er für die Majuskeln – die in die jeweilige Zeile hineinragen – eigens Raum freiließ und für die Paragrafenzeichen, die neben dem Schriftspiegel stehen, Markierungen setzte; vgl. Anm. 29.

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Prolog, die am Beginn unserer Betrachtung stehen: Ich weiz wol ir es vil gewesen | die van tristan hant gelesen (p. 2b, Tristan, v. 131f.) und Waz aber min lesen da were | van diesem senedemere (p. 3a, Tristan, v. 167f.). An diesen beiden Beispielen ist zu sehen, worauf die Markierung bestimmter Verse durch Willekin hinausläuft: Dem Leser werden Passagen ins Bewusstsein gerufen, die essenziell sind für das Erzählen der Geschichte. Es handelt sich bei diesen beiden Stellen um die Auseinandersetzung des Erzählers mit seinen Quellen und das Herausstreichen der Besonderheit des eigenen Erzählens.73 Die Geschichte wird in ihrer vorliegenden Form anders erzählt als zuvor: Ich weiz wol und min lesen werden betont. Beides, das ich und das min repräsentieren je nach Form der Rezeption unterschiedliche Instanzen. – Wird der Text laut vorgelesen, spricht hier der Erzähler vermittelt durch den Vortragenden. Wird der Text für sich selbst gelesen, geht der Akt der Verschmelzung von Erzählerfigur mit dem Vortragenden verloren.74 Es bekommt aber jemand eine Stimme: nämlich derjenige, der sich für die schriftlich niedergelegte Erzählung verantwortlich zeigt. Willekin waren beide Passagen so wichtig, dass er sie für den Leser markierte, sodass dieser – durch die Majuskeln alarmiert – diese angemessen in die Performanz überführen konnte. Sowohl Gottfried als auch Ulrich geben nicht nur dem Erzähler, sondern auch ihren Figuren eine eigene Stimme. Dies gelingt durch Dialoge,75 die in die Handlung eingefügt sind. „Direct speech by the characters provides the most direct access to the core of the story, since it is in dialogues […] that the figures can represent the fictional space they inhabit without the mediation of the narrator“.76 Dass die Stimme der Figuren für den Rezipienten erfahrbar wird, stellt eine Herausforderung für den Leser, vor allem aber für den Vorleser dar. „Ein (Vor-)Leser innerhalb der Vortragssituation um 1200 musste zusätzlich zu einer genauen Kenntnis des Textes und seiner dialogischen Strukturiertheit auch über die Fähigkeit verfügen, unterschiedliche Stimmregister anzuwenden […].“77 Ja, er muss überhaupt erst einmal ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass hier in verteilten Rollen gesprochen wird. „A particular problem for those whose task was to recite Middle High German verse was || 73 Vgl. Walter Haug und Manfred G. Scholz, „Kommentar zu Gottfried“, in: Gottfried von Straßburg. Tristan und Isold, hg. von dens., mit dem Text des Thomas, hg., übersetzt und kommentiert von Walter Haug, 2 Bde., Berlin 2012, Bd. 2, S. 259 und S. 263. 74 „Bei der Frage, ob und inwiefern sich der Vorleser von der textuellen persona in der Performanz unterscheiden ließ, steht man wieder vor dem Wettbewerb zwischen schriftlichen und mündlichen Autoritätsansprüchen, dem des Textes und dem des Vorlesers, da es ja der Vorleser nicht zuletzt ist, der [sic!] textuellen persona ihre Präsenz verleiht.“ Bäuml (wie Anm. 37), S. 260. 75 Zur Funktionsweise von Dialogen in der mittelalterlichen Literatur vgl. Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36). 76 Kathryn Starkey, Reading the Medieval Book. Word, Image, and Performance in Wolfram von Eschenbach’s Willehalm, Notre Dame 2004, S. 77. 77 Henkel (wie Anm. 41), S. 159.

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posed to direct speech and dialogue […]“.78 Ohne Interpunktion gelingt eine angemessene Rezitation solcher Textstellen nur, wenn der (Vor-)Leser mit dem Text soweit vertraut ist, dass er um den Sprecherwechsel im Voraus weiß. Genau das ist aber problematisch. Das erste Beispiel (Abb. 1) handelt zu dem Zeitpunkt, als Isolde von den gedungenen Mördern darüber informiert wird, dass sie Brangäne ermordet hätten. Die beiden stellen Isolde auf die Probe, denn in Wirklichkeit lebt Brangäne, und sie wollen anhand der Reaktion Isoldes herausfinden, ob sie durch das Nichtbefolgen des Mordauftrages richtig gehandelt haben: ¶ sus seiten diese zwene man ysoten der mortreden dat si den mort deden mit jamer vnd mit leide si sageden ir ouch beide die zuonge die were ir Ysot sprach nv saget mir wat meren sagede uch die maget sie seiten ir als in was gesaget al van ende ir rede her dan vnd verswiegen nit niht da van // ja sprach si seite si niht me79 ¶ nein vrouwe • ysot die rief owe80 vnd wafen dure mere ir vnseligen mordere wat hat ir begangen ir muozet beide hangen Vrouwe sprachen jene do wie ludent diese meren so vil wuenderliche vrouwe ysot ir hat vns doch mit maniger not ervlehet vnd ernoedet dat wir si han gedoedet ¶ ich enweiz wat ir van vlehen saget ich beval uch mine maget in vr huode vnd in vr plege dat ir plegit uf dem wege dat si mir solde bringen ein deil zuo minen dingen

|| 78 Palmer (wie Anm. 32), S. 77. 79 Vor dem Vers befindet sich eine Markierung für ein Paragrafenzeichen, das nicht ausgeführt wurde; vgl. Anm. 30. 80 Hier und an anderer Stelle sind kleine Virgeln in der Handschrift enthalten, die als Punkt verstanden werden; vgl. Anm. 30 und Anm. 83.

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die muozet ir mir wieder geuen oder id geit uch an dat leuen ir veigen mortslangen ir werdet beide erhangen oder uf einer huort verbrant In truwen sprachen jene zehant vrouwe vr zunge vnd vr muot die sint luter vnde guot vr zunge is harde manichvalt vrouwe vristet diese gewalt e • wir verliesen dat leuen81 wir willen si uch • e • wieder geuen schone vnde wal gesunde Ysot sprach sa zuo stunde weinende harte sere nu lieget mir niht mere leuet prangane oder is si dot ¶ si leuet noch wuenderliche ysot ¶ owe so bringet mir si her den worten dat ich uch gewer dat ich uch gelouet han ¶ vrouwe ysot dat si gedan ¶ ysot behaluete ir einen da der ander reit dannen sa hin wieder da er pranganen lie ir vrouwen ysoten braht er sie (p. 157b–158a, Tristan, v. 12876–12930)

Die beiden vorgeblichen Mörder eröffnen das Gespräch. Eingeleitet durch ein Paragrafenzeichen und ¶ sus seiten (Tristan, v. 12876), wird dem Leser signalisiert, dass hier eine neue Erzählsituation beginnt. Isoldes Antwort wird durch eine Majuskel am Versanfang markiert: Ysot sprach nv saget mir (Tristan, v. 12882). Auch in diesem Fall liegt sowohl eine Markierung der Sprecherrolle als auch das inquit-Verb sprach vor; die Erzählerrede wird in die mündliche Rede der Figuren überführt. Isoldes Frage sollte mit einem Paragrafenzeichen abgegrenzt werden, das nicht ausgeführt ist82: // ja sprach si seite si niht me (Tristan, v. 12887). Die Markierung für dieses Zeichen ist in der Handschrift deutlich erkennbar und es ist davon auszugehen, dass es vom Vorleser wahrgenommen wird. Die Frage Isoldes wird umgehend von den Bei-

|| 81 Der hier eingesetzte Punkt betont das Lexem e als eigenständiges Wort. Seit dem späten 13. Jahrhundert werden solche Punkte unter anderem benutzt, um kurze Worte oder auch Zahlen als eigenständige Lexeme zu markieren und dem Leser dadurch deutlich zu machen, dass er diese isoliert zu lesen hat und sie nicht pro- oder enklitisch an die nachfolgenden oder vorhergehenden Wörter anfügen darf. Willekin markiert etwa das Wort e, indem er es immer zwischen zwei Punkte setzt, wie auch in dieser und der folgenden Textpassage. Vgl. Schneider, Paläographie und Handschriftenkunde (wie Anm. 29), S. 91. 82 In der Handschrift sind nicht alle Majuskeln/Paragrafenzeichen ausgeführt; vgl. Anm. 30.

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den beantwortet: ¶ nein vrouwe (Tristan, v. 12888). Da es keine Überleitung gibt, die den Sprecherwechsel einleitet, markiert Willekin diesen durch ein Paragrafenzeichen am Versanfang – das diesmal auch ausgeführt ist. Dadurch signalisiert er dem Leser, dass dieser mit einem neuen Redner konfrontiert ist. Innerhalb dieses Verses erfolgt ein weiterer Sprecherwechsel: ysot die rief owe (Tristan, v. 12888). Um diesen für den Leser kenntlich zu machen, fügt Willekin einen Punkt83 zwischen die beiden Redepartien ein. Der nächste Sprecherwechsel erfolgt ohne inquit-Formel oder andere Überleitung, weshalb Willekin wiederum eine Majuskel an den Versanfang setzt: Vrouwe sprachen jene do (Tristan, v. 1289384). Auch Isoldes Entgegnung setzt ohne Einleitung oder Übergang ein, deshalb wird sie mit einem Paragrafenzeichen am Versanfang versehen: ¶ ich enweiz wat ir van vlehen saget (Tristan, v. 12899). Die Antwort der beiden Gesellen: In truwen sprachen jene zehant (Tristan, v. 12910) wird ebenso wie Isoldes Erwiderung: Ysot sprach sa zuo stunde (Tristan, v. 12918) durch eine Majuskel markiert. Dass nun wieder in Erzählerrede gewechselt wird, zeigt ein weiteres Paragrafenzeichen an: ¶ ysot behaluete ir einen da (Tristan, v. 12927). Diese Dialogpartie konfrontiert den (Vor-)Leser mit zum Teil langen Redeanteilen der jeweiligen Figuren; Willekin markiert die Wechsel in den Sprecherrollen stets offensichtlich: unabhängig davon, ob in Erzählerrede durch ein sprach, vragete oder ähnlich übergeleitet wird oder ein direkter Wortwechsel stattfindet. Damit erleichtert er dem (Vor-)Leser den Zugriff auf diese Dialogsequenz erheblich, denn der kann schon beim ersten Blick auf die Seite der Handschrift erkennen, dass diese Textpassage einen erhöhten Anspruch an die Rezeption und Rezitation stellt. Bei genauerem Hinsehen wird er dann feststellen, dass er mit wechselnder (wörtlicher) Rede konfrontiert ist. Dies gilt auch für das zweite Beispiel (Abb. 2), das Ulrichs Textpartie entstammt. Um eine Rückkehr zur blonden Isolde zu ermöglichen, wird Kurvenal ausgesandt, die Überfahrt zu organisieren. Dieser findet sogleich einen Schiffsmann, den er um die

|| 83 Der Punkt hat in etwa die Größe, die der Federkiel breit ist. Willekin setzt solche Punkte auch dort, wo er aus Platzmangel Verse in die Folgezeile ziehen muss. Dort markiert der Punkt dann das Versende, so etwa im Prolog, wo die Fleuronné-Initiale stark in den Schriftraum hineinragt: GEdahte man ir zuo guote / nicht / van den er wirlte / guot geschicht / so were / id allez alse nicht / swaz / guotes in der wirlte geschicht (p. 1a, Tristan, v. 1–4). Solche Punkte werden auch als Metrik-Zeichen benutzt und signalisieren dem Leser, dass er eine (Atem-)Pause einlegen soll. Diesen Hinweis verdanke ich Henrike Lähnemann. 84 Der Text der Handschrift weist an dieser Stelle eine Varianz auf. Nur in B und N steht an dieser Stelle vrouwe, in den anderen Handschriften hêrre. Vgl. den Apparat der Tristan-Edition Karl Marolds (wie Anm. 2), S. 217. Aus einen Ausruf des Erstaunens, der sich an Gott richtet, wird also eine direkte Ansprache an Isolde.

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Möglichkeit der Überfahrt bittet. Der Mann ist ein schwieriger Verhandlungspartner; erst als Tristan hinzukommt und mit ihm spricht, stimmt er der Überfahrt zu. ¶ nu bat er kueruenalen in die schiffungen varn er sprach du salt dat bewarn sage niemanne wer wir sin owe lieuer herre min ich erkenne vr dinc nv lange wol wat ich duon vnd miden sol Als er an dat mer quam guot geluecke man sich nam einen schiffman er da vant der enwas im niht bekant ¶ als in der marnere sach harte vroelichen er sprach sit gode wilkuome vnd mir ¶ Got lone uch • wanne vart ir selich man dat solt ir sagen ¶ ich vuor in diesen sehs dagen van der stat zuo tyntalyone da leuent mit vrouden schone der kuenenc vnd die kuenengin ich sach manigen liehten schin van wiuen vnd van mannen kouflude vuorte ich dannen mit in hartte richez guot nu duon ich als der werbende duot ich beide ob ieman queme dem min dienst were geneme ich vuerte in dar oder her swa hin were sins willen ger Nv saget mir herre meister guot steit hin wieder iht vr muot van dannen ir gevaren sit min hant uch druembe zuo lone git vil guote sterlinge swere vnd nuege ceringe ich han da riche mage ¶ mit vorlobe ich uch vrage ist vwer geselleschaft iht me ¶ enruechet wie id dar vmbe ste ob ich uch wal mit guode duo ¶ herre da sicht selue zuo vngerne ich uch bedinge swie mir dar an gelinge An vre genade wil ich id lan nu quam gerieden her tristan vnd vragede wie id da stuonde

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kuruenal wat bistu duonde has du den marner gewert ¶ der marner hat niht an vns gegert wan als ich im gerne giebe kurvenal • e • id beliebe ich geue im • e • dusent marc ¶ der marner sprach mit witzen karc ir gelonet mir herre wol Got vns mit lieue helfen sol dat wir kuomen an dat stat dat duet ir minen gebresten mat ir edele bescheliere nu vueret her an schiere ros vnd swaz dar uffe lit wil got ir si in kurzer zit mit miner hende helfe braht swar vr wille hat gedaht nu saget zuo welichen enden sal ich den segel wenden Aber sprach duo tristan meister wiszet ir lytan rehte des endis keret als vwer sin uch beste leret ¶ lytan weiz ich lange wol ich geue des jars da manigen zol ¶ is dat war sprach tristan ¶ ja herre • so schiffet an ¶ der meister dede als man in hiez in godes namen er an stiez ¶ in kurzer zit er kuomen was zuo lytan da was tynas an dat stat geseszen (p. 239b–240b, Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 848–945)85

Ein Paragrafenzeichen am Anfang des Verses markiert den Beginn der Textpassage. Die kurze Wechselrede zwischen Tristan und Kurvenal wird nicht eigens auf ihre Sprecherrolle hin markiert: du salt dat bevarn | sage niemant wer wir sin (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 850f.). Tristans Aufforderung wird mit der inquit-Formel er sprach eingeleitet; aus der Formulierung selbst ist ersichtlich, dass es sich um wörtliche Rede handelt. Kurvenals Antwort owe lieuer herre min (Ulrich TristanFortsetzung, v. 852) ist nicht gesondert ausgewiesen, was vermutlich ein Versehen Willekins war. Die Injektion owe wird sowohl von Gottfried von Straßburg als auch von Ulrich von Türheim in wörtlicher Rede benutzt. Oft steht sie dann nicht nur am Satzanfang,

|| 85 In der Kölner Tristan-Handschrift B fehlen die Verse 909–914, 921f., 925f., 933–938.

Die Markierung der Figurenstimmen in der Kölner Tristan-Handschrift B | 75

sondern zugleich am Anfang der direkten Rede einer Figur.86 Für die Kölner TristanHandschrift B wird ein owe in stichomythischem Dialog mit direktem Sprecherwechsel, ohne vorangestellte inquit-Formel von Willekin in der Regel mit einem Paragrafenzeichen vor dem Vers markiert, um den Sprecherwechsel an dieser Stelle augenfällig zu machen; hier unterbleibt es aber, was verschiedene Gründe haben kann. Zunächst kann Willekin schlichtweg vergessen haben, die Markierung vorzunehmen. Eine weitere Möglichkeit ist, dass die direkt auf das owe folgende Anrede Tristans min herre für den geschulten Leser Ausweis genug ist, um einen Sprecherwechsel zu erkennen. Nicht zuletzt zeigt eine Durchsicht aller Stellen mit der Interjektion owe zu Beginn wörtlicher Figurenrede in der Kölner Tristan-Handschrift B, dass Willekin zumeist auch dann keine Markierung der entsprechenden Verse vornimmt, wenn ihr eine inquit-Formel vorangeht oder folgt.87 Der Ortswechsel Kurvenals wird mit einer Majuskel eingeleitet: Er befindet sich nun im Hafen und trifft den Schiffsmann, den er anspricht. Auch hier findet ein Wechsel der Sprecherrolle innerhalb eines Verses statt – zumindest sieht das Willekin so, der diesen Wechsel durch ein zusätzliches Interpunktionszeichen markiert. In dieser Situation ist nicht eindeutig ersichtlich, wem welche Worte zugeschrieben werden können. Die Passage wird temporal als in der marnere ersach (Ulrich TristanFortsetzung, v. 863) eingeleitet, dann wird aber nicht deutlich, wer von den beiden zu sprechen anfängt, denn der Erzähler nennt den Sprecher nicht. Willekin legt die Sprecherrollen folgendermaßen fest: Kurvenal grüßt zuerst: ¶ als in der marnere

|| 86 Die Suche nach owê in der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (MHDBDB-Projekt: http://mhdbdb.sbg.ac.at/mhdbdb/App?action=TextQueryModule; Stand: 04.01.2017) ergab drei Treffer in dieser Satzstellung für Gottfrieds Text: „owî!“ sprach sî, „daz selbe glas“ (Tristan, v. 12491, p. 152b, v. 25), „owê, war umbe? sagt mir!“ (ebd., v. 12789, p. 136a, v. 39), „owê, sô bringet mir si her“ (ebd., v. 12923, p. 158a, v. 13) und sieben Treffer für Ulrichs Text: „owê, lieber herre mîn“ (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 852, p. 239b, v. 22), „owê, lieber herre mîn“ (ebd., v. 1434, p. 245a, v. 12), „ouwê, ich armer Kâedîn“ (ebd., v. 1824, p. 247b, v. 20), „ouwê, vrouwe künegîn“ (ebd., v. 1978, p. 248b, v. 22), „owê, lieber herre mîn,“ (ebd., v. 2305, p. 249b, v. 11), „ouwê, daz küneginne amîs“ (ebd., v. 2612, p. 252a, v. 10), „ouwê mir iemer ouwê!“ (ebd., v. 3454, p. 261b, v. 12). 87 So bei folgenden Versen in Gottfrieds Text: und sprach vil dicke wider sich: | „owê got hêrre, wie leb ich!“ (Tristan, v. 979f., p. 12b, v. 21f.), „ach“, sprach si, „hiute und iemer ach, | ôwe daz ich ie wart geborn!“ (ebd., v. 1282f., p. 16b, v. 4f. – Willekin ändert hier das ach in v. 1282 in ein ouwe), „owê!“ sprach si vil lange „owê!“ (ebd., v. 1934, p. 17b, v. 36), „â“, sprach si, „sældelôse Îsôt, | owê mir unde wâfen!“ (ebd., v. 10096f., p. 123b, v. 40f.–p. 124a, v. 1 – Willekin ändert hier das â in v. 10096 in ein owe), „owe!“ sprach si „nu hœre ich wol“ (ebd., v. 10344, p. 127a, v. 4), siuftende sprach si wider in: | „owê mir, inneclîche owê“ (ebd., v. 13884f., p. 220b, v. 26f.) und für Ulrichs Text: Tristan gedâhte: „owê Ýsôt“ (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 253, p. 236a, v. 11) sowie ohne inquit-Formel aber mit Selbstnennung: „ouwê, ich saeldelôsez wîp!“ (ebd., v. 1984, p. 248b, v. 28). Für alle diese Belegstellen unterlässt Willekin die Markierung des Sprecherwechsels durch Paragrafenzeichen oder Majuskel, wahrscheinlich, weil aus dem Zusammenspiel mit den inquit-Formeln bzw. den Selbstnennungen/ -bezeichnungen die Situation des Sprecherwechsels für den rhetorisch geschulten (Vor-)Leser erkenntlich wird – vgl. Henkel (wie Anm. 77).

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sach | harte vroelichen er sprach | sit gode wilkuome vnd mir (Ulrich TristanFortsetzung, v. 863–865). Dass Kurvenal spricht, ergibt sich für Willekin wohl aus dem temporalen Aspekt: Der Schiffsmann wird auf Kurvenal aufmerksam, deshalb grüßt Kurvenal ihn. Daraufhin erwidert der Schiffsmann seinen Gruß: ¶ Got lone uch (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 866) und dann erst fragt Kurvenal ihn aus: wanne vart ir | selich man dat solt ir sagen (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 866f.). Die Zuschreibung, die Willekin an dieser Stelle vornimmt, erleichtert dem Leser die Identifizierung der Sprecherrollen. Thomas Kerth entscheidet sich in seiner Edition für eine andere Interpretation dieser Textstelle: als in der marnaere ersach, | harte vroelîche er sprach: | „got willekomen unde mir!“ | „got lône iu: wannen varnt ir? | saelic man, daz sult ir sagn.“ (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 863–867). Diese Interpretation der Situation erscheint auch mir wahrscheinlicher, doch hat auch die Deutung Willekins ihre Logik: Kurvenal reagiert in Willekins Umsetzung der Szene auf das Anblicken/Aufblicken durch den Schiffsmann. Durch den Blickkontakt erkennt Kurvenal, dass er die Aufmerksamkeit des Gegenübers auf sich gezogen hat und spricht ihn demzufolge an. Das Gespräch geht aber noch weiter. Der Schiffsmann will sich nicht so recht auf ein Abenteuer einlassen, bei dem er nicht weiß, wen er überhaupt transportiert. Als Tristan zum Gespräch hinzukommt, merkt er, dass Kurvenal noch nichts ausrichten konnte. Deshalb bespricht er sich erst einmal mit ihm. Tristans Worte an Kurvenal werden wiederum mit der inquit-Formel vnd vragede (Ulrich TristanFortsetzung, v. 897) eingeleitet; zusammen mit dem im vorhergehenden Satz erfolgten Hinweis auf den Wechsel der Gesprächssituation – nv quam gerieden her tristan (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 896) – wird hier aus der Formulierung deutlich, dass wörtliche Rede folgt. Kurvenals Antwort wird durch ein Paragrafenzeichen markiert: ¶ der marner hat niht an vns gegert (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 900). In dieses Gespräch zwischen Tristan und Kurvenal mischt sich der Schiffsmann ein, was wiederum durch Willekin markiert wird. In diesem Fall liegt sowohl eine Markierung durch das Layout als auch die Markierung auf Textebene durch die inquit-Formel vor: ¶ der marner sprach mit witzen karc (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 904). Es gibt zwei Gründe für das Setzen des Paragrafenzeichens durch Willekin, trotz der eindeutigen Markierung der Sprecherrolle in der Erzählerrede: Dass der Schiffsmann sich einmischt, erweitert die Gesprächssituation und kompliziert für den (Vor-)Leser dadurch die Zuweisung der Redeanteile an die einzelnen Figuren. Denn je mehr Figuren an einem Gespräch teilhaben, desto komplexer wird die Situation. Willekins Markierung der Figurenrede trotz der vorhandenen inquit-Formel ist ein zusätzliches Signal, das die Aufmerksamkeit des (Vor-)Lesers auf sich zieht und die Komplexität der Situation – die durch das Hinzutreten einer dritten Person erzeugt wird – zugleich augenfällig werden lässt und abschwächt: Der (Vor-)Leser erkennt am Paragrafenzeichen, das in der Handschrift unter anderem als ‚Anführungszeichen‘ bei direkter Rede dient, dass er es mit direkter Rede einer Figur zu tun hat; er muss eben nicht erst die inquit-Formel lesen, um die Figurenrede zu identifizieren.

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Was ebenfalls zur Auszeichnung des Verses veranlasst haben kann, ist die Tatsache, dass dieser wortgleich mit der letzten wörtlichen Rede Kurvenals beginnt: der marner (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 900). Willekin schafft in diesem Fall durch sein Layout Eindeutigkeit; dem Leser wird bereits durch das Paragrafenzeichen auffällig vor Augen gestellt, dass sich an der Gesprächssituation etwas ändert. Das Gespräch nimmt nun eine positive Wendung: Der Schiffsmann berichtet, dass er das Ziel der Gesellen kennt: ¶ lytan weiz ich lange wol (Ulrich TristanFortsetzung, v. 931). Diese kurze Wechselrede erfolgt stichomythisch, entsprechend markiert Willekin jeden Redewechsel eindeutig durch ein Paragrafenzeichen am Versanfang. Auch in dieser Textpassage gibt es einen Sprecherwechsel innerhalb einer Zeile, der wiederum durch einen Punkt gekennzeichnet wird: is dat war sprach tristan | ja herre • so schiffet an | der meister dede als man in hiez | in godes namen er an stiez (Ulrich Tristan-Fortsetzung, v. 939–942). Eine andere Möglichkeit, diese Form der Interpunktion innerhalb eines Verses zu nutzen, zeigt sich im letzten Beispiel (Abb. 3). Brangäne klärt Tristan und Isolde über den Minnetrank auf. Der Wechsel der Sprecherrollen ist auch in diesem Fall am Versanfang durch eine Majuskel oder durch ein Paragrafenzeichen markiert. Ysot sprach zuo pranganen do stolze nyftel sage mir wat meines du • wat wirret dir mich wundert sere wat du clages ¶ vrouwe da warf ich andirs dages vz dem schiffe ein glase vaz ¶ so dede du wat wirret daz ¶ owe sprach si dat selbe glas vnd der dranc der drinne was der ist vwer beider dot ¶ war vmb nyftel sprach ysot wie is diesem mere / im ist also prangane seite in beiden do die rede gar van ende her dan (p. 152b, Tristan, v. 12484–12497)

In diesem Beispiel findet sich zweimal ein Punkt innerhalb einer Zeile. In den bisher betrachteten Dialogen nutzte Willekin diese Punkte, um einen Sprecherwechsel zu markieren. In diesem Dialog ist dies auch der Fall, und zwar als Isolde Brangäne fragt: war vmb nyftel sprach ysot / wie is diesem mere (Tristan, v. 12494f.). Die Antwort Brangänes beginnt noch im selben Vers und so fügt Willekin, um diesen Rednerwechsel zu signalisieren, den Punkt zwischen die beiden Rednerpartien ein. Brangänes Antwort lautet also: im ist also (Tristan, v. 12495). Am Beginn dieser Passage intendiert der von Willekin gesetzte Punkt innerhalb des Verses aber etwas anderes: Ysot sprach zuo pranganen do | stolze nyftel sage mir | wat meines du • wat wirret dir | mich wundert sere wat du clages (Tristan, v. 12484–

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12487). Ich denke, hier geht es Willekin darum, deutlich zu machen, dass es sich um die rhetorische Figur der Anapher handelt: wat [...] wat.88 Der (Vor-)Leser, der ob der gleichlautenden Satzanfänge nicht ins Stocken geraten soll, wird durch den Punkt beim Lesen irritiert. Dieser Punkt markiert keinen Sprecherwechsel, erfüllt aber trotzdem die Funktion der Aufmerksamkeitslenkung und Vereindeutigung: Indem Willekin ihn setzt, verhindert er zunächst, dass die zweite Frage überlesen wird – weil man sie etwa fälschlicherweise für eine Wiederholung halten könnte – und er gibt dem (Vor-)Leser die Möglichkeit, diese rhetorische Figur der Anapher mit besonderer Dramatik zu verbinden.

5 Zusammenfassung Die hier untersuchten Beispiele zeigen, dass der Schreiber Willekin seinen Text nicht ‚unkommentiert‘ in die Hände eines potenziellen (Vor-)Lesers verabschiedet. Er schreibt seine Intention des richtigen Lesens in den Text ein; „[…] the writer’s mind is fixed forever in the words on the page“.89 Er nutzt die einfachen Möglichkeiten der Markierung von Textstellen durch Majuskeln, Paragrafenzeichen und Punkt, um seinen Text zu gliedern und zugleich dem (Vor-)Leser eine wertvolle Hilfestellung zu geben, die ihm anzeigt, wann er mit besonderer Aufmerksamkeit zu lesen hat. Dank der Texteinrichtung durch Willekin kann es dem (Vor-)Leser gelingen, nicht nur einzelne Erzählabschnitte auseinanderzuhalten, sondern er kann – und das ist seine zentrale Leistung – anhand der markierten Verse Wechsel in der Erzählsituation ausmachen und diese angemessen in seine Performanz überführen. Willekin nutzt für jegliche Form der Textgliederung die gleichen Mittel: Majuskel oder Paragrafenzeichen in alternierender Farbgebung sowie den Punkt. Auch wenn sie beim Betrachten der Handschriftenseite sofort augenfällig werden, so verraten sie auf den ersten Blick doch nicht, das betrifft zumindest die Majuskeln und Paragrafenzeichen, was die semantische Ebene dieser Markierung des jeweiligen Verses ausmacht. Erst wenn man den Text liest, wird deutlich, ob damit ein Wechsel in der Erzählsituation, wörtliche Rede oder gar ein neuer Erzählabschnitt markiert werden. Das Gliederungssystem bleibt also recht einfach und ist nur ein erster optischer Hinweis darauf, dass an die Performanz bestimmte Anforderungen gestellt werden – sie erschließen sich in ihrer vollen Wirkung dem Rezipienten erst, wenn er sich eingehend mit ihnen vertraut gemacht hat.

|| 88 Marold setzt hier ein Komma zwischen die beiden Fragen: waz meinest dû, was wirret dir? (Tristan, v. 12486). Ebenso entscheidet Ranke (wie Anm. 4): waz meinstû, waz wirret dir? (v. 12482). 89 Laurel Amtower, Engaging Words. The Culture of Reading in the Later Middle Ages, New York 2000 (The New Middle Ages), S. 39.

Die Markierung der Figurenstimmen in der Kölner Tristan-Handschrift B | 79

Die von mir hier detailliert untersuchten Textstellen stellen keine Ausnahme in der Kölner Tristan-Handschrift B dar. Ganz im Gegenteil: Willekins Gliederungssystem durchzieht den ganzen Text, sodass ich anhand der Gliederungselemente Majuskel und Paragrafenzeichen allein keine Aussage über herausgehobene Textpartien machen kann. Dabei scheint ihm besonders wichtig, dass die Wechsel in der Figurenrede bei stichomythischem Dialog eindeutig voneinander unterschieden werden können. Wenn wörtliche Rede mit inquit-Formeln einhergeht, verzichtet Willekin häufig auf die gesonderte Markierung der Redeteile. Der rhetorisch geübte (Vor-)Leser erkennt anhand solcher Formeln vermutlich den Sprecherwechsel: „Es bedurfte also innerhalb der adligen Vorlesekultur um 1200 eines literarisch versierten Kenners, der sich genau in den argumentativen Ablauf eines Dialogs vertieft hatte und im Stande war, solch eine Aufzeichnung zu durchschauen […].“90

Vor dem Vortrag, so steht zu vermuten, sollte der Vorleser sich bereits mit der Handschrift vertraut gemacht haben, sonst konnte er den Text kaum angemessen in die Performanz überführen; eine Entschlüsselung des Layouts aus dem Stegreif, also das sofortige Erfassen, ob er mit einem neuen Erzählabschnitt, mit wörtlicher Rede oder gar mit mehr als zwei Rednern konfrontiert ist, scheint unmöglich. Und doch zeigt sich, dass Willekins Layout gerade in den Dialogpartien zum Tragen kommt. Hier entlastet er den (geschulten) (Vor-)Leser, indem er ihm die Entscheidung, wem welche wörtliche Rede zuzuordnen ist, abnimmt. Er markiert die einzelnen Sprecherrollen im stichomythischen Dialog oder wenn die wörtliche Rede nicht durch eine inquit-Formel eingeleitet wird. Ebenso markiert er Sprecherwechsel innerhalb der Zeilen durch einen Punkt, sodass auch hier eine Zuordnung zu den einzelnen Figuren möglich ist. Durch diese optischen Signale kann er den Vorleser auf die notwendige Modulation seiner Stimme in der Performanz hinweisen. Für denjenigen, der den Text für sich selbst liest, stellt sein Markierungssystem ebenfalls eine Erleichterung dar, weil er dadurch bei der Zuordnung der Redeanteile der einzelnen Figuren eine Hilfestellung erfährt und beim Selbstlesen den Figuren die eigenen Redeanteile zuordnen kann. Die durch Willekin markierten Verse im Prolog können vielleicht auch noch in eine andere Richtung gedeutet werden: Sein lesen und seine Überführung der Erzählung in ein eigenes Layout ermöglicht es erst, den Figuren im Text eine eigene Stimme zu geben; den Text im Wortsinn richtig zu lesen. Ob dieses lesen nun laut oder leise, für sich selbst oder für eine Gruppe von Zuhörern stattfand, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Trotzdem würde ich denken, dass die Einrichtung durch Willekin durchaus dafür spricht, dass der Text laut vorgelesen werden sollte.

|| 90 Henkel (wie Anm. 41), S. 157f.

80 | Birgit Zacke

Abb. 1: Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7020 (W*) 88, p. 157b–158a (Ausschnitte)

Die Markierung der Figurenstimmen in der Kölner Tristan-Handschrift B | 81

Abb. 2: Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7020 (W*) 88, p. 239b–240 (Ausschnitte)

82 | Birgit Zacke

Abb. 3: Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7020 (W*) 88, p. 152b (Ausschnitt)

Elke Koch und Nina Nowakowski

Sprechen in Kurzerzählungen Zur poetischen und visuellen Reflexion mündlicher Kommunikation in Beichterzählungen des Cgm 714

1 Die kleineren Reimpaardichtungen bilden eine Familie vermöge der Gemeinsamkeit ihrer äußeren Form. Deshalb muß sich ein Klassifizierungsversuch wie der folgende als Mittel zu einer feineren Differenzierung vorwiegend der Kriterien des Inhalts bedienen. Sie stellen auch den wichtigen grundsätzlichen Aspekt zur Verfügung, der, in der Forschung längst bekannt, aber nie genügend aktiviert, im Prinzip eine Zweigliederung des ganzen Textmaterials ermöglicht, ich meine die Unterscheidung von ‚Reden‘ (oder ‚Sprüchen‘) und ‚Erzählungen‘. Diese beiden ‚Grundarten‘ sind charakterisiert durch das Vorherrschen entweder des Räsonnements, der stagnierenden Erörterung, die Gedankenfolgen in lediglich logischer Verknüpfung reiht (es wird etwas ‚beredet, besprochen‘), oder des bewegten Vorgangs, dessen Einzelgeschehnisse in irgendeiner Form der zeitlichen Sukzession ablaufen (es wird etwas ‚erzählt, berichtet‘).1

Als Hanns Fischer den narrativen Charakter hervorhob, um das Märe als Gattung aus dem Feld der kleineren Reimpaardichtungen herauszuschälen, war das, wie er selbst anmerkt, noch nicht selbstverständlich. Denn noch Mitte des 20. Jahrhunderts wurde diskutiert, inwiefern Verserzählungen mit hohem Anteil an Figurendialog durch dramatische Traditionen geprägt seien oder gar dramatischen Charakter aufweisen würden.2 So formulierte beispielsweise Otmar Werner: „Auf dem Boden der mhd. Erzählkunst wird hier also auf einem Gebiet gesiedelt, das benachbart zu dem liegt, was wir als dramatische Bühnenkunst kennen“, und dabei werde teilweise „fast bis an die Grenze epischen Erzählens gegangen“.3 Dem Figurendialog galt bis in die 1960er Jahre hinein viel Aufmerksamkeit: Schon 1929 hatte Hans Mast etwa Strickermären aufgrund ihres hohen Gehalts an Figurenrede explizit als

|| 1 Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, Tübingen 1968, S. 33f. 2 Aufschlussreich ist vor allem eine Debatte über die Frage, ob der Meier Helmbrecht ein dramatischer Text sei. Vgl. Herbert Kolb, „Der ‚Meier Helmbrecht‘ zwischen Epos und Drama“, in: ZfdPh 81 (1962), S. 1–23; Karl-Heinz Schirmer, Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle, Tübingen 1969 (Hermaea N.F. 26). Eine dazu kritische Position im Sinne Fischers vertritt HansJoachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen, München/Zürich 1985 (MTU 87), S. 54. 3 Otmar Werner, „Entwicklungstendenzen in der mittelhochdeutschen Verserzählung zur dramatischen Form. Studien zum Stricker: ‚Das heiße Eisen‘“, in: ZfdPh 85 (1966), S. 369–406, hier S. 393.

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„Sprechdichtungen“4 bezeichnet. In der jüngeren Forschung ist der Blick wieder zunehmend auf Figurendialoge gerichtet worden und die frühere Einsicht, dass mittelhochdeutsche Kurzerzählungen vielfach ein besonderes Gewicht auf das Sprechen legen, wurde unter neuen Perspektiven bestätigt:5 Darstellungen des Sprechens auf der Figurenebene werden häufig in Bezug zum Erzählen gebracht und die Dialogkunst der Mären poetologisch gelesen. Im folgenden Beitrag soll es darum gehen, diese Ansätze um eine Perspektive zu erweitern, die im erzählten Sprechen nicht Reflexionen auf das Erzählen sucht, sondern auf das Sprechen selbst, als soziales Phänomen in alltäglichen oder institutionellen Rahmungen mit ihren spezifischen historischen Bedingungen. Es geht um die Frage, wie mündliche Kommunikation in Mären thematisiert und problematisiert wird. Sprechen ist nach unserer Auffassung nicht bloß ein häufiges, letztlich aber unspezifisches Mittel der narrativen Gestaltung in Mären; es ist kein rein quantitativer, sondern ein qualitativer Faktor. Dies zeigen diejenigen Texte, in denen das Sprechen struktur- und pointenbildend ist. Indem in ihnen gesprochen wird, können Kurzerzählungen Bedingungen, Mechanismen und Wirkweisen auch des außerliterarischen, alltäglichen Sprechens zur Darstellung bringen, sodass darüber eine kulturelle Verständigung erfolgen kann. Dies lässt sich allerdings nicht als Behauptung eines gattungstypologischen Merkmals belasten. Nicht jedes Märe inszeniert und reflektiert das Sprechen in dieser betonten Weise. Allerdings lässt sich die Akzentuierung des Sprechens als konstitutive Möglichkeit der kleinen Form beschreiben. Sie ergibt sich aus der textsortentypischen Reduktion, die neben der Kombination die Erzählweise prägt. Vor allem Schwankmären sind durch ein reduziertes Personal geprägt,6 dessen Interaktion oftmals in charakteristischer Weise über Sprechhandlungen organisiert ist.7 Dies gilt besonders für die frühen Vertreter: Strickers Ehe-

|| 4 Hans Mast, Stilistische Untersuchungen an den kleinen Gedichten des Strickers mit besonderer Berücksichtigung des volkstümlichen und des formelhaften Elementes, Basel 1929, S. 22. 5 Vgl. folgende Auswahl: Udo Friedrich, „Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen“, in: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung im Mittelalter, hg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider und Franziska Wenzel, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 227–249; Mireille Schnyder, „Schreibmacht vs. Wortgewalt. Medien im Kampf der Geschlechter“, in: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, hg. von Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber und Christopher Young, Berlin 2006 (ZfdPh, Beihefte 13), S. 108–120; Christian Kiening, „Verletzende Worte – verstümmelte Körper. Zur doppelten Logik spätmittelalterlicher Kurzerzählungen“, in: ZfdPh 127 (2008), S. 321–335; Susanne Reichlin, „Gescheiterte Liebeserziehung, gelungene Beschriftung. Sprache und Begehren im Märe ‚Des Mönchs Not‘“, in: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, hg. von Mireille Schnyder, Berlin 2008 (Trends in Medieval Philology 13), S. 221–241. 6 Vgl. Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, S. 81; Friedrich (wie Anm. 5), S. 228. 7 Vgl. ebd., S. 234.

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scheidungsgespräch8 etwa besteht beinahe ausschließlich aus Figurendialog. Doch auch später in der Gattungsentwicklung bleibt die Akzentuierung des Sprechens eine Option des Texttyps der mittelhochdeutschen Kurzerzählung. Es gilt erst noch auszumessen, wie weitreichend und differenziert diese Möglichkeit von den Verfassern mittelhochdeutscher Novellistik exploriert worden ist. Die Anfangsvermutung besteht, dass die Akzentuierung von Sprechhandlungen durch Reduktion und Kombination sich besonders dort anbietet, wo Skripte oder gar Formulare alltäglichen Sprechens in mehr oder weniger stark geregelten sozialen Interaktionstypen thematisch werden. Ist im institutionellen Zusammenhang das Sprechen bis in den Wortlaut geregelt, wie beispielsweise im Bereich der Sakramente, kann mit Wiedererkennen gerechnet werden und es lassen sich leicht Versatzstücke für Plotverläufe und Pointenbildung isolieren. Solche Ensembles konventionalisierten Sprechens, die wir als ‚kommunikative Formate‘ bezeichnen, können daher auch thematische Klammern für Textreihen bilden, in denen unterschiedliche Probleme und Perspektiven durchgespielt werden. Wir möchten in diesem Beitrag auf drei Ebenen ansetzen: 1. textintern bei der narrativen Gestaltung und Reflexion mündlicher Kommunikation in einzelnen Mären, 2. textübergreifend bei einer Reihe von Texten, die sich durch die thematische Klammer einer bestimmten Kommunikationssituation aufeinander beziehen lassen, 3. überlieferungsbezogen, indem wir eine solche Textreihe nicht selbst bilden, sondern sie in einer Sammelhandschrift nachweisen. Auf der Ebene der Überlieferung schließen wir eine weitere Frage an, die sich darauf richtet, ob das Sprechen bei der Herstellung der Sammlung nur thematisch eine Rolle gespielt hat, oder ob auch in der Anlage der Handschrift, d.h. in deren mise en page, Reflexe darauf zu finden sind, dass das Sprechen als Element der Poetik und Ästhetik von Mären gewürdigt wurde. Hans-Joachim Ziegeler hat zuletzt gezeigt, dass der in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrte Codex germanicus 714, eine Sammelhandschrift kleinerer Reimpaardichtungen und Fastnachtspiele, einen hohen Grad an transtextueller Vernetzung aufweist.9 Mit Blick auf den ersten Teil der Handschrift || 8 Der Stricker, Das Ehescheidungsgespräch, in: ders., Verserzählungen I, hg. von Hanns Fischer, 2., neubearbeite Auflage, Tübingen 1967 (ATB 53), S. 22–27. 9 Hans-Joachim Ziegeler, „Themen und Organisationstendenzen in spätmittelalterlichen Sammelhandschriften kleinerer Reimpaardichtung am Beispiel zweier Sammelhandschriften, der Wolfenbüttler Handschrift 2.4. Aug. 2˚ und des Münchner Codex Cgm 714“, in: Die Kunst der brevitas. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters, hg. von Franz-Josef Holznagel und Susanne Köbele, Berlin (Wolfram-Studien 24) (im Erscheinen). Zum Codex Bayerische Staatsbibliothek Mün-

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hat Ziegeler nachgewiesen, wie der Schreiber thematische Cluster und Rekurrenzen von Motiven bildet und so dafür sorgt, dass die Texte einander bespiegeln und kommentieren, indem sie dieselben Themen von verschiedenen Seiten beleuchten. Diese Konstellationen verlaufen über die Unterschiede zwischen narrativem oder redehaftem Texttyp hinweg: Erzählungen spielen kasuistisch Modellfälle für Probleme durch, die in den redehaften Texten diskursiv behandelt werden. Die kurze Form und das äußere Format der Reihung in der Sammlung gehen dabei Hand in Hand. Eine der thematischen Klammern, die Bezüge zwischen Texten verschiedenen Typs im Cgm 714 herstellt, ist die Beichte. Diese Klammer umfasst neben weltlichen und geistlichen Kurzerzählungen auch Reden und reicht bis in den zweiten Teil der Handschrift zu den Fastnachtspielen hinüber. Die Beichte bildet ein kommunikatives Format im oben dargelegten Sinn, das in der christlichen Kultur des Spätmittelalters von großer Bedeutung war. Am Beispiel des Corpus von Beichttexten im Cgm 714 sollen im Folgenden auf den genannten drei Ebenen der narrative Umgang mit dem Sprechen in einem kommunikativen Format und die Potentiale transtextueller Sinnkonstitution in der Konstellation der Sammlung (Abschnitt 2) sowie die visuelle Aufbereitung in Hinblick auf das Sprechen (Abschnitt 3) untersucht werden. Ausführlich interpretierende Textanalysen beschränken wir dabei auf zwei der Kurzerzählungen, da im Unterschied zu Reden und Fastnachtspielen der spezifische Bezug der narrativen Form zum Sprechen erst (wieder) freizulegen ist.

2 Im Cgm 714, der 46 kleinere Reimpaardichtungen und 50 Fastnachtspiele enthält, spielt in zwölf Texten das Thema der Beichte eine mehr oder minder große Rolle. Genannt nach der Reihenfolge im Codex und mit den Titelangaben des Registers bzw. der Überschriften in der Handschrift10 finden sich im ersten Teil das schwankhafte Märe Der Gardian (Der Guardian), die geistlichen Kurzerzählungen Der Ritter mit den ſeln (Der Württemberger) und Der Ritter in der cappelln (Der Ritter in der Kapelle), die schwankhaften Mären Dÿ zwu peicht (Die zwei Beichten B) und Dÿ falſch peicht (Der Mönch als Liebesbote A) sowie die lehrhaften Reden Dÿ Beÿcht (Die Beichte) und Dÿ sechs ercʒt (Die sechs Ärzte) des Hans Rosenplüt. Im zweiten Teil

|| chen, Cgm 714, siehe unten, Abschnitt 2 und 3. Die Handschrift ist online einsehbar in der Digitalen Bibliothek des Münchener Digitalisierungszentrums: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/ 0002/bsb00024106/images/index.html?seite=00001&l=de (Stand: 09.03.2017). 10 Die in der Forschung üblichen Titel bzw. Bezeichnungen sind in Klammern nachgestellt.

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kommen die Fastnachtspiele Vom aſcher mitwoch peichten (K[eller Nr.] 71)11, Vom Aſcher mittwoch faſten und vaſnaht reht (K 72), Der vaſnaht und vaſten reht von ſulcſʒen (K 73) sowie Von der plinten sew (K 90) und Dÿ macköcken pus (K 92) hinzu. Fünf der Texte werden schon durch die Titel als themenrelevant ausgewiesen; sie lassen sich also auf Anhieb durch Benutzer der Handschrift als Textreihe aufsuchen. Die beiden Kurzerzählungen, die den ritter im Titel führen, folgen direkt aufeinander.12 Ein weiteres Paar bilden Dÿ zwu peicht und Dÿ falſch peicht. Die Fastnachtspiele K 71, K 72 und K 73 schließen ebenfalls direkt aneinander an; zwischen K 90 und K 92 steht ein Fastnachtspiel, das ebenfalls auf Geistliches anspielt. Betrachtet man diese Texte, dann fällt auf, wie im Kontext der Handschrift mittels des kommunikativen Formats der Beichte unterschiedliche Aspekte wie Minne, Lust und literarisches Spiel einerseits und Seelenheil, Sündenbewusstsein und religiöse Praxis andererseits verschaltet werden. So wird die Beichte im Guardian zum Instrument für falsche Minne, im Mönch als Liebesboten A dient sie hingegen als Vehikel für ehebrecherische, aber echte Minne. Der Württemberger thematisiert die Notwendigkeit von Beichte und Buße als Reinigung von Ehebruch. Der Ritter in der Kapelle geht zu den spezifischen Problemlagen der Beichte als religiöser Praxis über und spielt durchaus schwankhaft das Thema Beichthandel und Bußtarif durch. In den Fastnachtspielen wird mit dem Ritual der Beichte die Schwierigkeit des Übergangs von der Fastnacht zur Fastenzeit verhandelt und das Büßen im Modus der verkehrten Welt vorgeführt. Die Beichte Rosenplüts belehrt darüber, wie beim Auskehren der Seele systematisch Vollständigkeit zu erreichen ist. Das Thema der Vollständigkeit kommt auf schwankhafte Weise auch in den Zwei Beichten B zum Tragen. Die Beichte ist Teil des Bußsakramentes; sie hat im Mittelalter „als Sündenbekenntnis […] ihren pragmatisch-funktionalen Ort im Zusammenhang des Pönitentialwesens. Sie stellt die initiale Bedingung für den Vollzug der Buße und die Erlangung der Absolution […] dar“.13 Kulturhistorisch bildete das Sündenbekenntnis seit der Einführung der jährlichen Beichtpflicht durch das 4. Laterankonzil (1215) eine allgemein bekannte Praxis im Rahmen christlicher Lebensführung.14 Die Fastenzeit

|| 11 Adelbert von Keller, Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, 3 Teile, Stuttgart 1853 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 28–30). 12 In der Sammlung bilden sie gemeinsam mit Frauentreue und Konrads von Würzburg Herzmære eine Gruppe von vier aufeinander folgenden Texten mit ritter als Titelstichwort. 13 Ernst Hellgardt, „Zur Pragmatik und Überlieferungsgeschichte der altdeutschen Beichten (achtes bis zwölftes Jahrhundert)“, in: Volkssprachig-lateinische Mischtexte und Textensembles in der althochdeutschen, altsächsischen und altenglischen Überlieferung. Mediävistisches Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 16. und 17. November 2001, hg. von Rolf Bergmann, Heidelberg 2003 (Germanistische Bibliothek 17), S. 61–95, hier S. 65. 14 Vgl. Isnard W. Frank, Art. „Beichte II“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 5, Berlin/New York 1980, S. 414–421.

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galt vielerorts als die übliche Zeit für die jährliche Pflichtbeichte.15 Daher war die Beichte mit der rituell verankerten Opposition von Fastnacht und Fastenzeit assoziiert. Für den literarischen Umgang mit diesem Format ergeben sich dadurch Bezüge zu den Logiken der Buße ebenso wie zu Formen der Transgression. Mit Michel Foucault lässt sich die Institution der Beichte als Versuch der „Auslöschung der gesagten Sache eben durch ihre Aussage“16 charakterisieren. Zugleich ist schon im Bekenntnis selbst neben der Auslöschung auch die Ausschmückung der Sünden strukturell angelegt. Vor diesem Hintergrund scheint es durchaus plausibel, dass im Cgm 714 das Sündenbekenntnis sowohl erbaulich-lehrhaft perspektiviert, als auch in komischer und karnevalesker Weise dargestellt wird. Die als Mären beschreibbaren Texte des Cgm 714 kennzeichnet eine komisch-karnevaleske Darstellung des Beichtens. Als kommunikatives Format besteht die Beichte aus einem Interaktionsskript, das bestimmte Rollen und sprachliche Formeln für die Beteiligten festlegt. Die Kurzerzählungen, welche die Beichte thematisch aufgreifen, aktualisieren dieses Formular nicht wort- und regelgetreu, sondern isolieren Inhalte, situative Elemente oder Aussageweisen und verwenden diese als Bausteine für je unterschiedliche Plots und Sinnzusammenhänge. Dabei öffnen die literarischen Texte den Rahmen. Sie können Bezug auf das Sprechen im Formular nehmen, müssen aber nicht dessen strenge Regulierung aufweisen, sondern können beispielsweise in parodistischer Weise zu erkennen geben, nach welchen Logiken das Formular funktioniert, oder die Bedingungen beleuchten, die das Formular dem Sprechen auferlegt. In diesem Abschnitt wollen wir anhand von zwei Textbeispielen, die diese Bezugnahme unterschiedlich ausgestalten, der Frage nachgehen, wie im Cgm 714 das Sprechen vor dem Hintergrund der thematischen Klammer ‚Beichte‘ die narrativen Entwürfe prägt. Die zwei Beichten B und Der Mönch als Liebesbote A, die in Cgm 714 zusammengestellt sind und über die Titel Dÿ zwu peicht (fol. 209v–214v) und Dÿ falſch peicht (fol. 214v–222r) ein leicht zu identifizierendes Paar von Beichterzählungen bilden, sollen im Folgenden genauer untersucht werden. Beide Erzählungen sind auch in anderen Versionen überliefert;17 die Versionen, die sich im Cgm 714 finden, sind

|| 15 Vgl. Alois Hahn, „Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse. Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 407–434, hier S. 409–413. 16 Michel Foucault, „Das Leben der infamen Menschen“, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 2003, S. 314–335, hier S. 325. 17 Von den Zwei Beichten A sind inzwischen vier Textzeugen bekannt: Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Mgo 1430; Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 104; Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. 408; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3027. Vom Mönch als Liebesboten existiert auch in der Version B (Heinrich Kaufringer,

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allerdings unikal. In beiden Texten wird die Institution der Beichte komisch gebrochen, doch dies geschieht in unterschiedlicher Weise: Die Zwei Beichten B sind durch den Modus der Verschiebung gekennzeichnet. Die Erzählung verlagert die Beichthandlung in ein anderes als das institutionelle pönitentiale Setting, indem sie eine Laienbeichte inszeniert und somit ohne die Figur eines Geistlichen auskommt. Die zur Beichte gehörigen Sprechhandlungen und ihre Logiken werden in diesem neuen Kontext gewissermaßen auf die Probe gestellt und mit ihnen verbundene Probleme akzentuiert. Im Mönch als Liebesboten A ist die Institution der Beichte durch den Modus der Verkehrung geprägt. Die Beichte wird hier nicht retrospektiv ausgerichtet und dient dem Bekenntnis vergangener Sünden, sondern prospektiv funktionalisiert, um sündhaften Ehebruch erst zu arrangieren. Nicht die Sprechhandlungen, die das Beichten kennzeichnen, rücken dabei narrativ in den Fokus, sondern die zeitliche Ausrichtung sowie die performative Dimension der Beichte werden invertiert: Die institutionelle Funktion der Beichte wird unterwandert. Zu beobachten ist, dass die in den beiden Erzählungen zur Geltung kommenden unterschiedlichen Modi der Verkehrung und der Verschiebung mit verschiedenen Akzentuierungen der kommunikativen Logiken des Beichtens einhergehen. In den Zwei Beichten B18 wird davon erzählt, wie sich ein Ehepaar gegenseitig die Beichte abnimmt. Das Bußsakrament wird verunsichert, indem die Beichte aus ihrem institutionellen Kontext herausgelöst wird. Doch wie bereits Ann Marie Rasmussen herausgearbeitet hat, finden sich alle wesentlichen Merkmale des kommunikativen Formats in der Erzählung wieder.19 Es wird fast ausschließlich im Modus des Figurendialogs erzählt und dabei ist das Beichtgespräch handlungstragend. Die für das Beichten konstitutiven sprachlichen Elemente sind das Bekennen der Sünden, das Auferlegen der Bußleistung und der Akt des Lossprechens. Bekennen und Lossprechen werden gleich zweimal narrativiert und die Spannungen im Verhältnis von Bekenntnis, Buße und Lossprechung werden damit ausgestellt. Erzählt wird zunächst die umfangreichere Beichte der Ehefrau, die in 120 Versen ausgestaltet wird. Nach und nach bekennt die Frau, mit insgesamt zwölf Liebhabern Ehebruch begangen zu haben. Besonders delikat sind diese Bekenntnisse, weil ihr Ehemann als Beichtiger agiert. Auf die sich fast schon formelhaft wiederholenden Nachfragen des Beichtvaters, ob sie ihn mit einem (weiteren) Mann betrogen habe, bekennt die Frau in singulativer Reihung erst einen, dann auf erneute Nach-

|| München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 270) und der Version C (Hans Schneeberger, München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5919) jeweils ein Textzeuge. 18 Im Folgenden zitiert nach: Die zwei Beichten B, in: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. von Hanns Fischer, München 1966 (MTU 12), S. 268–273. 19 Die Ohrenbeichte besteht aus Reue, Bekenntnis, Absolution und Buße. Vgl. Ann Marie Rasmussen, „Gender und Subjektivität im Märe ‚Die zwei Beichten‘ (A und B)“, in: Inszenierungen der Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hg. von Martin Baisch, Jutta Eming, Hendrikje Haufe und Andrea Sieber, Königstein/Taunus 2005, S. 271–287.

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frage des Mannes den zweiten Liebhaber usw. Der Modus des Dialogs erlaubt es ihr, stets Argumente anzubringen, weshalb es auch für ihren Mann von Nutzen sei, dass sie mit dem jeweiligen Liebhaber geschlafen habe. So werde etwa der Pfarrer nun bei Gott für das Ehepaar ein gutes Wort einlegen und der Richter, im Falle einer Klage gegen sie oder ihren Mann, von Strafen absehen. Der Mann lässt sich von diesen mehr oder weniger plausiblen Rationalisierungen20 ein ums andere Mal überzeugen. Nachdem seiner Frau schließlich keine weiteren Liebhaber einfallen wollen, spricht er ohne große Umschweife die Absolution aus und verlangt keine Buße: er sprach: „nach genad setz ich dir (das scholtu fürwar glauben mir, dir sei nu ain urkünd), das du fürpaß nimer tust sünd. von gots gewalt sei dir vergeben; nu pehalt die puß gar eben.“ (v. 141–146)

Das vollständige Bekenntnis bildet im kommunikativen Format der Beichte die Voraussetzung für die Lossprechung, und das umfangreiche Bekennen der Frau erfüllt diese Voraussetzung im besonderen Maße, sodass die Absolution formal richtig erscheint. Auch der Verzicht auf die Bußforderung lässt sich nachvollziehen: Die Worte, mit denen der Frau ihre Sünden vergeben werden, erinnern an die Worte, mit denen Jesus der Ehebrecherin ihre Sünden nachsieht (Joh 8,11). Die bedingungslose Vergebung fußt also auf einem wirkmächtigen Modell, doch im Kontext der Figurenkonstellation der Erzählung, in der der Beichtiger zugleich der Betrogene ist, wird sie in besonderem Maße strapaziert. Das Beichtsakrament tritt in ein Spannungsverhältnis nicht nur zum Sakrament der Ehe, sondern auch zur Ehe als sozialer Konstellation. Zwar kommt es zu einer reibungslosen Auslöschung der Sünden der Frau durch ihre Aussage,21 doch indem die jesuanische Logik der Vergebung hier vom vielfach betrogenen Ehepartner vertreten wird, wird die Frage nach einer angemessenen Bußökonomie evoziert. Damit ist eine Problematik aufgeworfen, die auch an anderer Stelle im Cgm 714, im Zusammenhang mit einem Beichthandel in der geistlichen Erzählung Der Ritter in der Kapelle (fol. 127r–137v), thematisch wird.22 Anders als in diesem Text, der vor allem auf die Frage nach der Berechnung der Bußdauer bzw. auf die Möglichkeiten des Beichthandels ausgerichtet ist, wird in den Zwei Beichten B allerdings ein deutlicherer Schwerpunkt auf die Relation von Buße und Absolution gelegt und damit der sprachliche Akt des Lossprechens akzen-

|| 20 Vgl. Friedrich (wie Anm. 5), S. 236. 21 Vgl. Foucault (wie Anm. 16), S. 325. 22 Zur Thematik der Buße in dieser Erzählung vgl. Nicole Eichenberger, Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters, Berlin u.a. 2015 (Hermaea N.F. 136), S. 382– 402.

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tuiert. Dies wird vor allem in der zweiten Beichte deutlich, in der wie auch in der ersten Beichte ein Missverhältnis zwischen dem Bekenntnis und der Buße besteht. Der Mann hat im Gegensatz zu seiner Frau nicht viel zu beichten. Ganze sechs Verse reichen entsprechend für sein harmloses Bekenntnis aus: er sprach: „lieber peichtiger mein, du scholt mir auch genedig sein. ich gieng mit unser mait aufs velt (das sei dir in der peicht gemelt), do graif ich ir an di hant, davon mir lust ward pekant.“ sie sprach mit ungedult: „schlach ab die hant für di schult!“ (v. 149–156)

Mit ihrer Bußforderung rekurriert die Frau auf die sakramentale Funktion der Bußleistung, die zwischen Bekenntnis und Lossprechung vermitteln und dabei helfen soll, die Spannung zwischen Artikulation und Auslöschung der Sünden in der Beichte zu reduzieren. Ihr Handeln als Beichtiger erscheint damit formal richtig. Für die sündhaften Gedanken, die ihr Mann beichtet und die vor allem in Anbetracht der vielen Verfehlungen der Ehefrau als Lappalie erscheinen, fordert die Frau aber – gerade im Vergleich dazu, dass ihr deutlich sündhafteres Verhalten ohne Bußforderung vergeben wurde – eine ausgesprochen harte Buße. Nachdem sie aufgrund der Beteuerung des Mannes, ohne böse Hintergedanken gesündigt zu haben, ihre drastische Bußforderung nur recht wenig abmildert, bittet der Mann dezidiert um Gnade: „genad, liebe fraue mein, was du wilt, das muß sein.“ – „für das kreuz leg dich dimütiklich nacket, so wil ich schlahen dich.“ er sprach: „auf genad knie ich für dich, und schlach und rauf und mörde mich, seit es nit anders mag gesein. es laid Jhesus auch für di sünde mein.“ sie sprach: „wol hin, mein lieber knecht, die genad ist pesser denn das recht. vor got sei dir vergeben. halt fürpaß paß dein eelichs leben, wenn du pißher hast getan, so wil ich dir abschlahen den pan in gotes namen alsus, o filius et spiritus sanctus.“ (v. 189–204)

Über die deutlichen Bezüge zum Passionsgeschehen werden hier ganz verschiedene Bußlogiken entworfen: Die Gnadenlogik, auf die der Mann verweist, indem er an

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das Sündenopfer erinnert (vgl. v. 196), steht im Kontrast zur Logik der Schuldhaftigkeit, welche die Bußforderung der Frau begründet (vgl. v. 156). Die im letzten Vers anklingende lateinische Vergebungs- bzw. Segensformel (vgl. v. 204) lässt sich als Indiz dafür verstehen, dass das Gnadengesuch des Mannes letztlich erfolgreich ist. Allerdings bleibt in der Schwebe, ob die Bußforderung der Frau damit ebenfalls aufgehoben ist oder aber eine Vergeltung folgt: Das abschlahen (v. 202) des Bannes kann als Absolution verstanden werden. Es erinnert aber auch an das Handabschlagen (vgl. v. 156) und die Geißelung (vgl. v. 192) und kann folglich einen Akt körperlicher Züchtigung implizieren. Es ist unklar, ob der Mann von seiner Frau hier ohne weitere Bußforderung losgesprochen wird oder ob er seine Sünde büßen soll, indem er von ihr geprügelt wird. Das abschlahen (v. 202) kann beide Modelle – das jesuanische der ersten Beichte wie auch das bußökonomische der zweiten Beichte – implizieren. Durch die Amalgamierung der zwei getrennten Sphären Ehe und Beichte, durch die der Text zugleich als Ehestands- wie Beichtmäre charakterisiert werden kann,23 entwickelt er, das hat Rasmussen bemerkt, eine spezifische Komik.24 Darüber hinaus ergibt sich daraus auch eine besondere Perspektive auf die Beichte: Indem das Beichten in einen ehelichen Kontext verschoben wird, wird die mit dem religiösen Kommunikationsformat verbundene Unklarheit, wie bzw. nach welcher Logik Buße und Lossprechung in der Beichte jeweils relationiert werden, besonders akzentuiert. Sie stellt sich hier besonders drastisch dar, weil das sakramentale Handeln unmittelbar mit einer sozialen Beziehung korreliert ist. Die Vergebung ist nicht in erster Linie eine Voraussetzung für die heilsbezogene Reinigung und die Rekonziliation mit der kirchlichen Gemeinschaft, sondern ganz konkret auf den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft ausgerichtet. Der Text zehrt, wie Udo Friedrich betont, „von einer Logik des Kontrastes: Promiskuität – Keuschheit, Nachsicht – Zorn“.25 Die mit den zwei Beichthandlungen assoziierten, in dieses Kontrastverhältnis einzuordnenden Modelle – die Logik der Nachsicht einerseits und die Logik der Vergeltung andererseits – werden als gegenläufige Optionen, die im Format der Beichte gleichermaßen realisiert werden können, vorgeführt. In der Doppeldeutigkeit des ‚Abschlagens‘ wird schließlich akzentuiert, dass aus diesem Spektrum Ungewissheit hinsichtlich des im Kontext des Beichtformats zu erwartenden Bußmaßes resultiert. Abhängig von der jeweiligen theologischen Fundierung kann, so wird deutlich, eine Beichte ganz unterschiedlich verlaufen. Dabei muss ausgerechnet die Schwere der Sünden keine Rolle dafür spielen, wie hart die Buße || 23 Vgl. Klaus Grubmüller, „Schein und Sein. Über Geschichten in Mären“, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration im Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 19), S. 243–257, hier S. 247. 24 Vgl. Rasmussen (wie Anm. 19), S. 284f. 25 Friedrich (wie Anm. 5), S. 236.

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ausfällt. In den beiden kontrastierenden Beichtverläufen zeigt sich aber auch, dass die Bedingungen, zu denen im Beichten die „Auslöschung der gesagten Sache“26 möglich wird, nicht nur von dem durch den jeweiligen Beichtvater vertretenen theologischen Modell abhängig sind, sondern dass durch geschicktes kommunikatives Agieren Einfluss darauf genommen werden kann. So wird in den Zwei Beichten B deutlich, dass durch rhetorisches Geschick beeinflusst werden kann, ob die Reaktion des Beichtigers eher durch Vergebung oder durch Vergeltung geprägt sein wird. Im Mönch als Liebesboten A27 sind die Sprechhandlungen der Beichte nicht in derselben Weise strukturbildend wie in den Zwei Beichten B. Doch werden hier grundlegende performative und zeitliche Strukturen der Beichtkommunikation akzentuiert, indem sie unter den Vorzeichen einer Listlogik für den Zweck der Anbahnung eines außerehelichen Liebesverhältnisses eingesetzt und dabei verkehrt werden. Anders als etwa im – ebenfalls im Cgm 714 überlieferten – Märe Der Guardian (fol. 49r–57r), in dem die Beichtthematik insofern gleichfalls an eine Listhandlung gebunden ist, als ein Mönch die Beichte ausnutzt, um einer naiven Frau als Bußleistung aufzuerlegen, mit ihm zu schlafen, ist im Mönch als Liebesboten A der Beichtvater Opfer der Manipulation: Eine verheiratete Römerin sucht einen Barfüßermönch zur Beichte auf und instrumentalisiert diesen geschickt, um in aller Heimlichkeit ein sexuelles Verhältnis mit einem jungen Mann anzubahnen. Der naive Mönch lässt sich, ohne dies zu bemerken, als Postillon d’Amour einspannen. Die Frau, deren Ehemann sich auf Reisen befindet, kommt unter dem Vorwand zum Beichtiger, ein junger Mann habe ihr Avancen gemacht und sie wisse nicht, wie sie den Verehrer abwehren solle. Im Gegensatz zu den Rezipienten weiß der Beichtvater nicht, dass nicht etwa nur der junge Mann eine Auge auf die Beichtende geworfen hat, sondern diese den Verehrer ebenfalls begehrt. Das Handeln der Frau ist, so wird für die Rezipienten durchsichtig gemacht, von Beginn an strategisch ausgerichtet; ihr Gang zur Beichte dient ausschließlich dem taktischen Zweck, ein heimliches Treffen mit dem jungen Mann zu arrangieren: nu stund der hübschen römerin herz, mut und all ir sin neur nach dem jungen man, und sie fast in der minne pran. […]

|| 26 Vgl. Foucault (wie Anm. 16). 27 Im Folgenden zitiert nach: Der Mönch als Liebesbote A, in: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, hg., übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller, Frankfurt a.M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 524–543. Auf das Verhältnis zu den Versionen B und C der Erzählung sowie zu den Versionen der Erzählung Der Schüler von Paris oder auch zu Boccaccios Decameron (III,3) kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht eingegangen werden.

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behent liste vand si do. dasselb clug weip zuhant sie gieng, da sie ainn parfußer münch vant, und sagt im in falscher peicht ain wort. der gut münch ir zu hört und gedaht, wie er ir geb rat. sie sprach: „herr, ain junckher hat mir gesant ainn schönn güldein rink, ein junger, tumer, töreter jünglink, und pegeret meiner minne. nu hab ich meinen sinne also treu und also stete, und das er von gold hete, mer denn dreu tausent fuder, das nem ich nit, traut lieber pruder, das ich mich an meinen ern scholt also schentlich verkern […].“ (v. 54–77)

Die Frau weist einen Ring als Beweisstück vor, der ihr von dem jünglink (v. 69) angeblich geschenkt worden sei, zeigt sich darüber empört und bittet den Mönch um Hilfe. Er möge die Liebesgabe zurückgeben und den aufdringlichen Verehrer in die Schranken weisen: der gut ainfeltig münch nam den rink und gedacht nu nichtz auf dise dink und sucht den selben jungen mit guter red seiner zungen, da er in allain vant. er nam in pei seiner hant und sagt im alle die wort, die er von der frauen het gehort. (v. 100–107)

An dieser Stelle wird das Beichtgeheimnis im Sinne der Sündenprophylaxe umgangen und damit kann aus der Zweier-Konstellation der Beichte eine DreierKonstellation hervorgehen, die ein Liebesverhältnis ermöglicht. Der vom Mönch Beschuldigte weist zunächst alle Vorwürfe von sich, beim Anblick des ‚zurückgebrachten‘ Rings aber schwenkt er schließlich ein. Er versteht, dass die Frau ihm einen strik gelait (v. 129) hat und knüpft an ihre liste (v. 61) an, indem er behauptet, nicht nur er habe der Frau einen Ring geschenkt, auch sie habe ihm einen Ring zukommen lassen. Er wolle aber nun, da der Mönch ihn zur Vernunft gebracht habe, dieses nicht mehr wie bisher als Zeichen ihrer Liebe deuten und sich die Frau fortan aus dem Kopf schlagen. Der Mönch kehrt zur Frau zurück und berichtet, dass seine Mission erfolgreich gewesen sei. Zudem fragt er nach, warum sie ihm nicht davon erzählt habe, dass sie dem Verehrer ebenfalls einen Ring geschenkt habe. Damit ist ein wichtiger Schritt zu einer indirekten Verständigung zwischen den Liebenden getan. Die vom Mann hinzuerfundene Liebesgabe kann die Frau nämlich

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als Hinweis deuten, dass dieser sich auf ihr Listhandeln einlässt. Durch die gegenseitige Unterstellung der Gabe wird in verschlüsselter Form das gegenseitige Interesse markiert. Im Rahmen der mündlichen Kommunikation wird mittels der vermeintlich konkreten Liebeszeichen eine Listkommunikation entworfen: Der Frau ist nun deutlich gemacht, dass der Mann bereit dazu ist, den Mönch als ahnungslosen Vermittler für diese heimliche Kommunikation zu nutzen. Sie ‚gesteht‘ dem Mönch, dem Verehrer ebenfalls einen Ring geschenkt zu haben und begründet dies damit, dass sie so verhindern wollte, dass dieser ihre Ehre beschädigt. Dafür führt sie an, dass eine Gabe nach einer Gegengabe verlange. Daraus gewinnt die indirekte Kommunikation an Komplexität, denn die Frau lässt dem Verehrer nun auf noch geschicktere Weise als zuvor eine Nachricht zukommen. Sie berichtet dem Mönch, dass der Verehrer einen an einem Gürtel befestigten Beutel durch ein Fenster in ihren Schoß geworfen habe, in dem sich neben dem Ring auch ein Liebesbrief befunden habe. Diesen habe sie nach der Lektüre aus Zorn über die darin enthaltenen Schamlosigkeiten sofort verbrannt. Der Verehrer habe nämlich geschrieben, dass er sie noch in derselben Nacht aufsuchen wolle und zwar, indem er durch ein morsches Brett in der Wand zu ihr ins Schlafgemach eindringe. Mit gespielter Sorge über den vermeintlichen Plan des Verehrers überreicht die Frau daraufhin dem Mönch einen Gürtel, den sie als denjenigen ausgibt, den sie zuvor vom Verehrer erhalten haben will.28 Ihr Plan geht auf: Der Mönch reagiert empört und verspricht, den vermeintlich Zudringlichen mit seinen unverschämten Plänen zu konfrontieren und davon abzuhalten, sie nachts aufzusuchen. Eben dadurch macht der Mönch sich allerdings unwissentlich zum Wegbereiter für ein Stelldichein, denn indem er den Verehrer mit den Vorwürfen konfrontiert, schildert er diesem, auf welchem Weg die Geliebte aufgesucht werden kann: sie macht, das der gut ainfeltig man, der münch wurd ain rüffian, das er süst wenig het getan, het er die frauen reht kunnen verstan. Der münch gieng zuhant, da er seinen junckherrn vant, den frechen seins leibs. er sagt im den willn des weibs ganz pis auf das ort und gab im den gürtel dort. (v. 253–262)

Der Mönch bewirkt damit genau das, was er mit guter red seiner zungen (v. 103) vermeiden will. Weil seine Reden einen verschlüsselten Sinn enthalten, der seiner Intention entgegenläuft, wird er unwissentlich zum rüffian (v. 254), zum Kuppler. Der junge Mann deutet die Nachricht erneut richtig, indem er die Warnung des Mönchs || 28 Vgl. Reichlin (wie Anm. 5), S. 237, Anm. 54.

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als Anweisung versteht, die das Stelldichein ermöglicht. Über das morsche Brett findet er in der Nacht tatsächlich Zutritt zur Frau. Die Erzählung endet mit der Schilderung der Liebesnacht, durch die die Liebenden vereint sind und sich die List als erfolgreich erweist. Der schwankhafte Kontrast zwischen den listenreichen Liebenden und dem begriffsstutzigen Mönch29 ist entscheidend für die Erzählung, und Kommunikation ist insofern für die Erzeugung dieses Kontrasts von Bedeutung, als Überlegenheit und Unterlegenheit auf Kompetenz oder eben Unfähigkeit in Bezug auf das Deuten von Zeichen bezogen werden. Dabei kommen den vermeintlichen Liebesgaben, den Ringen, dem Gürtel und dem Brief für die Handlungslogik wichtige Funktionen zu. Mit der „Umkehrung des Liebesgabenmotivs“,30 bei der die vermeintlichen Gaben, so hat Friedrich herausgearbeitet, nicht als Treuezeichen, sondern als „kalkuliertes Instrument der wechselseitigen Werbung“31 eingesetzt werden, geht ein spezifisches Kommunikationskonzept einher, das sich als ‚Kommunikation über Bande‘ beschreiben lässt. Im Modus dieser indirekten Kommunikation wird der Sinn bzw. die Funktion der Beichte auf den Kopf gestellt und der Mönch als Beichtvater der Lächerlichkeit preisgegeben. Dabei spielen verschiedene Ebenen eine Rolle: So wird die zeitliche Ausrichtung der Beichte durch die „Beschwerden, die stets vorwegnehmen, was noch gar nicht geschehen ist“,32 maßgeblich verkehrt. Mit der handlungsinitiierenden Beschwerde der Frau, die zwar im Kontext der Beichte verortet ist, aber nur im begrenzten Maße als Bekenntnis verstanden werden kann, weil nicht eine zurückliegende, sondern die Gefahr einer bevorstehenden Verfehlung angesprochen wird, weicht der Text vom Beichtformular ab. Damit wird auch die Logik von Sünde und Reinigung narrativ verkehrt, denn die Beichte ermöglicht hier gerade erst den Ehebruch: „Indem der Mönch dem […] Umworbenen seine erst noch bevorstehenden ‚Schandtaten‘ in allen Einzelheiten vorhält, bereitet er den Weg dafür, daß sie tatsächlich geschehen“.33 Zur Verkehrung der Zeitstruktur tritt eine Verkehrung der performativen Logik des Beichtens. Die Beichtsituation wird nicht als Möglichkeit zur Reinigung von zurückliegenden Sünden durch deren Versprachlichung vorgeführt, sondern bringt die Sünde erst performativ hervor. Es kommt gerade nicht zur „Auslöschung der gesagten Sache eben durch ihre Aussage“,34 sondern die gesagte Sache wird durch

|| 29 Vgl. Ziegeler (wie Anm. 2), S. 334. 30 Udo Friedrich, „Zur Poetik des Liebestodes im ‚Schüler von Paris‘ (B) und in der ‚Frauentreue‘“, in: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Margreth Egidi, Ludger Lieb, Mireille Schnyder und Moritz Wedell, Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 239–253, hier S. 241. 31 Ebd., S. 242. 32 Grubmüller (wie Anm. 23), S. 250. 33 Ebd. 34 Foucault (wie Anm. 16), S. 325.

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die Aussage erst Wirklichkeit.35 Zur Verkehrungslogik trägt auch bei, dass das Beichtgeheimnis vom Mönch unterwandert wird, Heimlichkeit aber für die Planung und gelungene Durchführung des Stelldicheins, also für die sündhafte Handlung, von zentraler Bedeutung ist. Statt des Mönchs, der als Beichtvater eigentlich die Kommunikationssituation und die sich aus ihr ergebenden Folgen gestalten sollte, agiert die Frau hier als Regisseurin, indem sie die red (v. 103) des Mönchs geschickt nutzt, um geheime Botschaften auszutauschen. Der Mönch, der als Beichtiger agieren will, agiert eigentlich als Werbungshelfer. Das Geschehen entfernt sich dadurch stark vom Handlungsmodell der Beichte, die allein als Vorwand genutzt wird. Die Inversion der Beichtlogik, welche das Verhältnis von Sünde und Bekenntnis in mehrfacher Hinsicht auf den Kopf stellt, trägt aber wesentlich zur Pointenbildung des Textes bei. Die Handlungslogik hat einen doppelten Boden: Das Beichtgeschehen steht auf der Grundlage des Listarrangements von Beginn an unter den Vorzeichen eines Werbungsgeschehens, das der Beichte genau entgegenläuft. Das gesamte Erzählen ist durch diesen doppelten Fokus und die damit einhergehende Verkehrungslogik geprägt und auch die Darstellung der Kommunikation ist davon beeinflusst. Nicht die einzelnen Sprechhandlungen des Kommunikationsformats Beichte stehen im Fokus der Erzählung, aber sehr wohl die der Beichte zugrundeliegende Vorstellung, durch Versprachlichung etwas auslöschen zu können. Diese wird ad absurdum geführt, und die Handlungslogik ist dementsprechend nicht durch die für die Ohrenbeichte konstitutiven Elemente der Reue und Buße geprägt, sondern durch List und Lust. An die Stelle des zur Beichte gehörenden Sprechakts des Bekennens tritt ein taktisch platzierter Vorwurf der Frau, und die Absolution hat gar keinen Platz in der Erzählung. Statt zu einer Lossprechung führt das Geschehen, ganz im Sinne der Verkehrung, nämlich zum sündhaften Liebesakt, der die Handlung beschließt. Dÿ falſch peicht läuft konsequenterweise auf das zu, was einer ‚richtigen Beichte‘ vorausgeht. Dÿ zwu peicht und Dÿ falſch peicht lassen ein Interesse an den kommunikativen Logiken des Beichtens erkennen und machen diese in unterschiedlicher Weise für die Plot- und die Pointenbildung produktiv. Während in den Zwei Beichten B das Erzählen im Modus der Verschiebung ganz auf das Sprechen im Formular der Beichte bezogen ist und durch die Deinstitutionalisierung des Formats zum einen dessen Abhängigkeit von unterschiedlichen theologischen Konzepten wie Vergebung und Vergeltung und zum anderen dessen Manipulierbarkeit in besonderem Maße herausgehoben wird,36 stehen die mit der Beichte verbundenen Sprechhandlungen bei der Verkehrung der handlungsinitiierenden Beichtsituation in ein Werbungsge-

|| 35 Vgl. Grubmüller (wie Anm. 23), S. 251. 36 Die Annahme, in den Zwei Beichten werde „das religiöse Kommunikationsmuster der Beichte [...] pervertiert“ (vgl. Eichenberger [wie Anm. 22], S. 64), kann aus dieser Perspektive durchaus differenziert werden.

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schehen im Mönch als Liebesboten A nicht im Vordergrund. Dennoch spielt die für die Beichte charakteristische kommunikative Spannung zwischen Artikulation und Auslöschung auch für diese Erzählung eine entscheidende Rolle, doch werden diese Aspekte im Modus der Inversion für den Plot relevant. Im Rahmen der komischen Brechungen, die für beide Texte kennzeichnend sind, wird das kommunikative Format der Beichte strapaziert und dadurch können Bedingungen seines Funktionierens und seiner Geltung besonders gut beleuchtet werden. So zeichnen sich beide Erzählungen nicht nur durch eine parodistische Darstellung, sondern auch durch eine spezifische „Poetik der Kommunikativität“37 des Beichtens aus.

3 Zur Rolle des Sprechens für die Poetik und Ästhetik von mittelhochdeutschen Kurzerzählungen hatte Fischer ausführliche Überlegungen angestellt. In seinen „Studien“ bestimmte er als wichtigsten literarischen Lebensraum der Mären die gesprochene Sprache: Wie kamen die Mären ‚unter die Leute‘? Der moderne Betrachter, der sich diese Frage vorlegt, ist geneigt, dabei in erster Linie an die schriftliche Verbreitung zu denken. Unter den mittelalterlichen Kulturbedingungen – und das gilt in besonderem Maße für die kleinen Gattungen – spielt sie aber nur die zweite Rolle. Auf unseren Gegenstand bezogen heißt das: Die Märendichtung wird weit mehr das Ohr als das Auge ihres Publikums gefunden haben.38

Die von Gestik, Mimik und stimmlicher Modulation begleitete ‚monodramatische‘ Rezitation stellte Fischer sich als charakteristische Darbietungsweise vor.39 Während es ihm um ein umfassendes Bild der Produktion und Rezeption von Mären ging,

|| 37 Diese Formulierung geht auf Michael Schilling zurück, der damit die viele Verserzählungen des Strickers kennzeichnenden Kommunikationsangebote an Rezipienten beschreibt. Vgl. Michael Schilling, „Poetik der Kommunikativität in den kleineren Reimpaartexten des Strickers“, in: Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme, hg. von Emilio González und Victor Millet, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 199), S. 28–46. Die Beobachtungen Schillings ließen sich u.E. ausweiten und könnten grundsätzlicher auf verschiedene Formen der Akzentuierung von Kommunikation in einer größeren Zahl mittelhochdeutscher Kurzerzählungen bezogen werden. 38 Fischer (wie Anm. 1), S. 255. Fischer stellt in Kap. 6 seiner „Studien“ noch umfangreiche, wenn auch als vorläufig ausgewiesene, Überlegungen zu Sprechertypen vor, die er teils als produzierende Verfasser und teils als reproduzierende Performer dieser Literatur annahm. 39 Vgl. ebd., S. 268f. Dabei geht er auf den Figurendialog explizit ein: „Es ist sicher nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, die monodramatisch-mimische Vortragsart lag bei einer in der Regel so stark dialogisierten Gattung wie der Märendichtung nahe und dürfte unter Umständen von den Autoren von vornherein als die ideale Darbietungsweise ins Auge gefaßt worden sein“.

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legte Arend Mihm Vorstellungen über eine mündliche Tradierung zugrunde, um Textvarianz in der Überlieferung von Mären zu erklären.40 In jüngerer Zeit hat Klaus Grubmüller sowohl Fischers Thesen zur mündlichen Verbreitung von Mären und seine Indizienargumente als auch Mihms Modell der Textvarianz durch mündliche Überlieferung zurückgewiesen.41 Grubmüller untersucht zur Untermauerung schriftlicher Tradierungsprozesse die Varianz in der Überlieferung des Striegels. Dabei kommt er zu dem Befund, dass die Karlsruher und Wiener Fassungen sich hinsichtlich ihrer Nähe zum Vortrag unterscheiden: Während der Schreiber des Karlsruher Codex 408 sich darum bemüht habe, den Text für die Erfordernisse des Textverstehens bei der Lektüre anzupassen, weise die Fassung des Wiener Codex 2885 eine deutlich größere Nähe zur Mündlichkeit auf: wi enthält Elemente (bes.: fehlende Sprechereinleitung), die auf mündlichen Vortrag verweisen und auch solche, die zu den Hilfsmitteln mündlicher Produktion (oder den Stilmitteln, mit denen sie suggeriert werden kann) gehören. Sollte das Märe doch schriftlich konzipiert worden sein, dann jedenfalls im Blick auf den Vortrag, in Kenntnis seiner Regeln und seiner Lizenzen, nahe an der Mündlichkeit.42

Grubmüller hält fest, dass es nicht die mündliche Tradierung, sondern die „gattungsprägende Kombinationslust“43 ist, auf welche die (Fassungen bildende) Varianz in der Kleinepik vorrangig zurückzuführen sei: „Die europäische (schwankhafte, exemplarische) Kleinepik lebt aus der irgendwie geregelten, vielleicht durch rahmenhafte Bedingungen bestimmten Kombinierbarkeit fester Erzählelemente“.44 Fischers und Grubmüllers Beobachtungen zum unterschiedlichen Umgang der Schreiber mit Sprecherwechseln deuten darauf hin, dass gerade dieses Element für die Performanz und Rezeption des literarisierten Sprechens von Schreibern bearbeitet wird. Da unser Interesse der Frage gilt, ob der Cgm 714 darüber Auskunft geben kann, inwiefern das Sprechen im Märe als Teil seiner Poetik und Ästhetik erfasst und zur Geltung gebracht worden ist, soll der Umgang mit Sprecherwechseln in diesem Codex betrachtet werden. Im Unterschied zu anderen Sammelhandschriften wie beispielsweise dem Wiener Codex 2885 lassen sich im Cgm 714 außerdem besondere Bemühungen des Schreibers um die visuelle Aufbereitung einzelner Texte

|| 40 Vgl. Arend Mihm, Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter, Heidelberg 1967 (Germanische Bibliothek Dritte Reihe). An Mihms Arbeit schließt Heinz Mundschau, Sprecher als Träger der ‚tradition vivante‘ in der Gattung ‚Märe‘, Göppingen 1972 (GAG 63), an. 41 Vgl. Klaus Grubmüller, „Erzählen und Überliefern. ‚Mouvance‘ als poetologische Kategorie in der Märendichtung?“, in: PBB 125 (2003), S. 469–493. 42 Ebd., S. 485. Zur Ergänzung von Sprecherbezeichnungen als Indiz für einen „Lesetext“ vgl. Fischer (wie Anm. 1), S. 269. 43 Grubmüller (wie Anm. 41), S. 493. 44 Ebd.

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feststellen, die auch die Kennzeichnung von Sprechereinsätzen betrifft.45 Wir untersuchen im Folgenden daher diese Aspekte; die Frage nach dem Zusammenhang von Mündlichkeit und Varianz stellen wir nicht. Ungewöhnlich ist im Cgm 71446 die strikte Trennung der Fastnachtspiele von den anderen Textsorten. In der ersten Sektion der Handschrift findet sich eine Mischung von kleineren Reimpaardichtungen, die für spätmittelalterliche Sammelhandschriften typisch ist: Minnereden, Ehebruchschwänke, Lehrdichtung und geistliche Erzählungen, Gebetsparodien, Tierdichtung und anderes mehr. Die zweite Sektion enthält ausschließlich Fastnachtspiele, die im Register Schneper zugeschrieben werden; bekannt ist der Codex daher als wichtiges Überlieferungszeugnis der frühen Nürnberger Tradition. Die Handschrift wurde Karin Schneider zufolge im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts im Raum Nürnberg geschrieben; ein inzwischen verlorener Eintrag nannte Michel Geyswürgel (oder Geyswurgel) als Besitzer. Er besaß in Nürnberg ein Haus, gehörte nicht zur Oberschicht, führte einen Nachbarschaftsstreit wegen baulicher Fragen vor Gericht und starb im Jahr 1499.47 In Hinsicht auf die Anzahl der Schreiber herrscht Uneinigkeit. Sicher ist, dass ein Fastnachtspiel von einer sonst nicht vertretenen und vielleicht späteren Hand eingetragen wurde. Für den gesamten restlichen Textbestand nehmen Tilo Brandis und Thomas Habel48 zwei schwer unterscheidbare Schreiber an. Gerd Simon49 wie auch Karin Schneider50 gehen hingegen von nur einem Schreiber aus, der die Handschrift auch rubriziert und das Register erstellt hat. Wir folgen ihnen in dieser Annahme. Der Schreiber bereitet die Texte seiner Sammlung unterschiedlich stark visuell auf. Die erste Sektion enthält 46 Texte, gezählt nach den Texteinheiten, die in der Handschrift unter einem Titel erscheinen (so sind etwa das Märe Der Schüler von Paris C

|| 45 Vgl. Tilo Brandis, Der Harder. Texte und Studien 1, Berlin 1964 (QF N.F. 13, 137), S. 62: „Im 1. Teil werden Sinneinschnitte und Beginn einer direkten Rede mit einem q-Zeichen oder einer größeren Initiale (schwarz) bezeichnet.“ 46 Zur Handschriftenbeschreibung vgl. ebd., S. 58–76; Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691–867, Wiesbaden 1984 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,5), S. 79–89. 47 Vgl. Brandis (wie Anm. 45), S. 58f.; Thomas Habel, „Vom Zeugniswert der Überlieferungsträger. Bemerkungen zum frühen Nürnberger Fastnachtspiel“, in: Artibus. Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Festschrift für Dieter Wuttke zum 65. Geburtstag, hg. von Stephan Füssel, Gert Hübner und Joachim Knape, Wiesbaden 1994, S. 103–134, hier S. 126– 128. 48 Vgl. Brandis (wie Anm. 45), S. 61. 49 Vgl. Gerd Simon, Die erste deutsche Fastnachtspieltradition. Zur Überlieferung, Textkritik und Chronologie der Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts (mit kurzen Einführungen in Verfahren der quantitativen Linguistik), Lübeck/Hamburg 1970 (Germanistische Studien 240), S. 13. 50 Vgl. Schneider (wie Anm. 46), S. 79.

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und die Minnerede Der Minne Kraft unter dem Titel Der mit der grossen mÿnne kraft zusammengezogen). Einen erhöhten Gestaltungsaufwand weisen davon rund ein Drittel der Texte auf. Der Schreiber nutzt dabei drei Gestaltungselemente: Initialen bzw. vergrößerte Lombarden, Alinea-Zeichen und die Rubrizierung von Wörtern im Fließtext. Der Umstand, dass nicht alle Texte gleichermaßen in dieser Weise ausgestattet wurden, lässt bereits darauf schließen, dass es sich nicht um reine Zierelemente handelt, sondern dass ihnen textbezogene Funktionen zukommen. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit dem Gestaltungselement der Lombarde. Von den fünfzehn Texten, die mehr als fünf vergrößerte und mit Zierelementen versehene Lombarden aufweisen, sind zehn Texte Erzählungen weltlichen und geistlichen Charakters. Da die Sammlung der ersten Sektion insgesamt nur dreizehn narrative Texte umfasst,51 kommt – auf die Textsorte gesehen – den narrativen gegenüber den redehaften Texten ein weitaus höherer Gestaltungsaufwand zu. Die Hälfte dieser zehn Fälle stellen die fünf Kurzerzählungen mit Beichtthematik; anders gesagt: Der Schreiber hat bei allen Beichterzählungen visuelle Elemente der Hervorhebung verstärkt eingesetzt. Im ersten Text der Sammlung, der hier unikal überlieferten Minnerede Das plümleingertlein (Das Herz als Garten der Liebe), dem Ziegeler auch thematisch eine Schlüsselfunktion für die Sammlung zuerkennt,52 setzt der Schreiber ein differenziertes Initialensystem ein. Es dient dem klassischen Zweck, die innere Gliederung des Textes in Sinnabschnitte zu verdeutlichen und deren Hierarchie zu visualisieren.53 Durch die Größe und den Verzierungsgrad der Buchstaben werden (mindestens) zwei Ebenen markiert. Beispielsweise werden in einer längeren Passage, in der es um Farballegorien geht, die Abschnitte zu den einzelnen Farben mit größeren, zweizeiligen Initialen abgesetzt; die Binnengliederung dieser Abschnitte wird mit leicht vergrößerten Lombarden angezeigt, die mit Schnörkeln in den äußeren Rand ausgezogen werden. Solche gliedernde Funktionen erfüllen die vergrößerten Lombarden, oft kombiniert mit Alinea-Zeichen, auch in anderen Texten. Allerdings verfährt der Schreiber nirgends mehr so systematisch wie beim plümleingertlein am Auftakt seiner Sammlung. Möglicherweise hat gerade das systematisch-funktionale Initialensystem hier auch eine schmückende Funktion als Entrée. Während in diesem ersten Text im eigentlichen Sinne von einer Abschnittsgliederung durch Lombarden gesprochen werden kann, ist in anderen Texten zu beobachten, dass eher

|| 51 Mitgezählt ist neben dem Schüler von Paris B auch die mit dem Rat der Vögel amalgamierte Erzählung Der Zaunkönig. 52 Vgl. Ziegeler (wie Anm. 9). 53 Zur Textgliederung vgl. Nigel F. Palmer, „Kapitel und Buch. Zu den Gliederungsprinzipien mittelalterlicher Bücher“, in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), S. 43–88; Malcolm B. Parkes, „The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio on the Development of the Book“, in: ders., Scribes, Scripts and Readers. Studies in the Communication, Presentation and Dissemination of Medieval Texts, London/Rio Grande 1991, S. 35–70.

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punktuell Einschnitte markiert oder wichtige Erzählzüge hervorgehoben werden. Diese inhaltlich hervorhebende Funktion ist für die Verwendung des Gestaltungsmittels in den Beichterzählungen typisch. Im Märe Der Guardian überredet die Titelfigur eine Witwe, ihre Tochter mit ihm ins Kloster zu schicken, wo er sie unter dem Vorwand sexuell gefügig macht, dies sei ihr als Bußleistung auferlegt. Der Schreiber markiert den Vers, der mit dem Ortswechsel ins Kloster einen neuen Handlungsabschnitt einleitet: Alſo fürt ſie der Gardian hin (fol. 51v). Für solche Platzierungen ließen sich eine Reihe von weiteren Beispielen anführen. Da die Interaktionen in den Erzählungen häufig sprachliche Akte sind, kennzeichnen diese hervorhebenden Markierungen oftmals Sprecherwechsel, wenn die folgende Rede eine neue Wendung im Verlauf der Handlung einleitet oder einen Inhalt transportiert, der für die Pointenbildung von Bedeutung ist. So hebt im Guardian der Schreiber die Sprecherwechsel im Gespräch zwischen dem Guardian, der Mutter und der Tochter hervor, jedoch nicht von Beginn des Gespräches an, sondern erst ab dem Einsatz der Rede, in welcher der Guardian seinen betrügerischen Appell, die Tochter ins Kloster zu geben, direkt an die Mutter richtet (fol. 50r). Für noch eine weitere Funktion der vergrößerten Lombarden gibt Der Guardian ein Beispiel: Die visuelle Hervorhebung kann Emphase zum Ausdruck bringen. Sie wird verwendet für Beschimpfungen: Sie ſprach ſchweig du arge hawt (fol. 53v) oder einen Befehl: Sie ſprach ſchweig und red nÿmer (fol. 54r). Die Lombarde hat hier die Funktion eines Ausrufungszeichens in der modernen Interpunktion. Die Hervorhebung markiert dabei im nicht-metaphorischen Sinne Betonung: Es geht nicht um Bedeutung, sondern um Intonation. Die im Vortrag stimmlich zu realisierende Emphase des Sprechaktes wird in die visuelle Gestaltung hineingenommen. Die Visualisierung stimmlicher Qualität ist möglicherweise auch als Funktion des Lombardensystems im Württemberger anzunehmen. Hier verfährt der Schreiber ungewöhnlich systematisch in der Markierung von Redepartien einer bestimmten Figur. Der Württemberger handelt von der Begegnung eines Ritters mit einer Gesellschaft von Wiedergängern. Eine Dame, die aufgrund eines ungebüßten Ehebruchs dieses quälende Dasein fristen muss, erregt sein Mitleid und das Fest, das die Gesellschaft gleichsam unter Zwang feiern muss, seine Faszination. Als er jedoch gegen alle Warnungen die Speise der Verdammten berührt, verbrennt seine Hand. Erschüttert sucht der Ritter den früheren Geliebten der Dame auf und bewegt ihn zur Sündeneinsicht und Buße. In diesem Text erscheinen vielfach vergrößerte Lombarden, in der Mehrzahl kombiniert mit Alinea-Zeichen, für die keine eigenständige Funktion zu differenzieren ist. Die Lombarden haben zum einen gliedernde Funktion; so werden beispielsweise der Einsatz der Erzählhandlung nach der Exposition (fol. 109r) und der Beginn des Epilogs (fol. 126v) hervorgehoben. Zum zweiten werden mehrfach Sprecherwechsel markiert, die im Figurendialog aufeinander folgen, und zwar auch dann, wenn sie mit inquit-Formeln eingeleitet sind und ein Handlungsabschnitt oder besondere Sinnschwere nicht erkennbar ist (Do ſprach der ritter

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pehagen, fol. 109v; Do ſprach der maister nu tut, fol. 110r). Auffällig ist, dass bis auf drei Ausnahmen alle Redepartien der Dame durch Lombarden ausgezeichnet sind, auch dort, wo Redeeinsätze des Ritters unmarkiert bleiben.54 Es ist denkbar, dass dies mit der Besonderheit der Figur als Untoter zusammenhängt. In der Erzählung wird ausdrücklich thematisiert, dass die Dame nicht durch ihr Äußeres als Wiedergängerin erkennbar ist: Ir ſeÿt tötlicher varb freÿ (fol. 113v). Soll die Stimme ihren Zombie-Status vermitteln, und ist dies als Niederschlag eines im Vortrag erzielten Effekts, als Imaginationshilfe oder als strategischer Hinweis für eine spätere mündliche Performanz der Erzählung vorgesehen? Klären lassen sich diese Fragen nicht, dennoch scheint die Annahme gerechtfertigt, dass die eigentümliche Sprechweise der ungewöhnlichen Figur durch die visuellen Mittel angezeigt wird. Der Initialenschmuck von Sprechereinsätzen ist in der Sektion der Fastnachtspiele durchgängiges Gestaltungsmittel. Dort hat er insofern dekorative Funktion, als durch die mittig gesetzten Sprecherbezeichnungen, die den Text in Redepartien gliedern, kein visueller Informationsbedarf über den Sprecherwechsel besteht. In der ersten Sektion des Cgm 714 lässt sich eine ähnliche Gestaltungsweise bei dialogischen Texten wie dem Rat der Vögel,55 der mit der Erzählung Der Zaunkönig amalgamiert ist, oder bei Der wucherische Wechsler und der Fromme feststellen. Die Kennzeichnung von Sprecherwechseln bei den narrativen Texten erweist sich hingegen als sehr viel weniger konsequent. Hier reicht das Spektrum des Schreibers vom punktuellen Einsatz bis zur häufigen Verwendung. Wird die Handlung durch den Figurendialog getragen und umfassen die einzelnen Figurenreden nur wenige Verse, scheinen häufiger vergrößerte Lombarden und Alinea-Zeichen eingesetzt zu werden als in Passagen, in denen Redeeinsätze vereinzelt stehen oder Sprecherwechsel mit niedriger Frequenz erfolgen. Dies lässt sich zum Beispiel in Der Ritter in der Kapelle beobachten. Die Unterhaltung des Ritters mit seinem Hofgesinde über den Einsiedler weist keine Initialen auf (fol. 128r mit einfachem Sprecherwechsel), die Beichte des Ritters, die sechzehn Verse einnimmt, ebenfalls nicht, wie auch die Antwort des Einsiedlers mit der ersten Bußauflage. Erst die Replik des Ritters, die das Verhandeln des Bußtarifs initiiert, erhält eine vergrößerte Lombarde mit AlineaZeichen: Der Ritter ſprach Siben Jar / mag ich nicht gepüſſen zwar (fol. 129r). Die folgenden schnellen Sprecherwechsel des Dialogs, in dem der Ritter den Beichtvater schrittweise von sieben Jahren auf eine Nacht herunterhandelt, werden durchgän-

|| 54 Nicht markiert ist die erste Figurenrede, der Gruß der Dame sowie die Redeeinsätze Do ſprach das frewdenreiche weib, fol. 120r, und die Sprechernennung in Zwischenstellung Also ſprach die fraw zu dem man, fol. 123v. Dem stehen achtzehn markierte Redeeinsätze gegenüber. 55 Der aus dem Rat der Vögel und dem Zaunkönig gebildete Text Das vogelgeſprech ist gestört, da die Lagen 3=c und 4=b bei der Buchbindung vertauscht wurden. Der Schreiber beginnt auf fol. 41v, von epischen Redeeinleitungen zu abgesetzten Sprecherbezeichnungen überzugehen, wobei er zunächst nicht ganz konsequent verfährt. Den ersten Vers der Reden stattet er, wie es für die Fastnachtspiele kennzeichnend ist, mit stark vergrößerten Initialen aus.

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gig auf diese Weise gekennzeichnet. Dabei wird auch eine kurze Gedankenrede eigens per verzierter Lombarde markiert: Der vater gedaht in ſeim mut / laſʒ ich ÿn on puſʒ das iſt nit gut (fol. 130r). Im zweiten Handlungsteil, in dem der Ritter in der Kapelle den Angriffen der Teufel ausgesetzt ist, sind ebenfalls viele Lombarden gesetzt, jedoch werden nicht alle Sprecherwechsel akribisch markiert. Vielmehr scheinen die Hervorhebungen eher so vorgenommen zu sein, dass die Binnenstruktur der Handlungssequenz angezeigt wird: Markiert werden jeweils der Beginn eines neuen Handlungsabschnittes (erster Teufel, zweiter Teufel usw.), einige Sprecherwechsel zwischen dem Teufel in veränderter Gestalt und dem Ritter, der Abzug des gescheiterten Teufels und mindestens ein Sprecherwechsel zwischen Teufeln und Luzifer in der Hölle. Dies deutet darauf hin, dass auch im ersten Handlungsteil das äußere Kriterium der Häufigkeit von Sprecherwechseln nicht allein die Kennzeichnung motiviert. Vielmehr scheinen in Der Ritter in der Kapelle Lombarden und Alinea-Zeichen gezielt dort verwendet zu werden, wo in der Erzählung der Dialog eine schwankhafte Dynamik besitzt, sei es beim Herunterhandeln des Beichttarifs, das Parallelen zum Ehescheidungsgespräch des Strickers aufweist, sei es bei der sich steigernden Serie von Wortgefechten zwischen den listigen Teufeln und dem standhaften Ritter. Die zwei Beichten B erreicht in der Kennzeichnung von Sprecherwechseln einen Spitzenwert. Im handlungstragenden Dialog zwischen den Eheleuten finden 44 Sprecherwechsel statt. Über die Hälfte dieser Sprecherwechsel ist gekennzeichnet, sodass partienweise ein recht unruhiger Schriftspiegel am Außensteg entsteht (siehe Abb. 1: fol. 210v). Im Unterschied zu den anderen Beichterzählungen ist die Figurenrede in den Zwei Beichten B häufig uneingeleitet. Zur Frage der Redeeinleitungen gilt es an dieser Stelle, kurz auf andere Texte zurück- bzw. vorauszublicken. Im Guardian lässt eine Streichung am Zeilenanfang darauf schließen, dass der Schreiber eine Vorlage verwendet, die im betreffenden Vers Figurenrede ohne Redeeinleitung aufweist.56 Hier findet ein Dialog statt zwischen einem neuen Guardian (der alte hat das Kloster verlassen müssen) und der Schwester des getäuschten Mädchens, das inzwischen schwanger geworden ist. Der neue Guardian versucht, die Schwester für das Leben als Braut Christi zu gewinnen. Der Dialog scheint in der Vorlage stichomythisch gewesen zu sein. Der Schreiber beginnt den Vers, wohl mechanisch, mit dem ersten Wort der Figurenrede (Iſt), streicht dieses Wort aber dann und schreibt stattdessen den Vers mit Redeeinleitung nieder: Sie ſprach iſt der Jhs mer denn eiń (fol. 52v). Der Vers passt so nur unter Verwendung von Abbreviaturen in die Zeile; auch wird das Metrum durch die Ergänzung der Redeeinleitung gestört. Ein vergleichbarer Fall begegnet in Der Mönch als Liebesbote A (fol. 218v). Nach dem Vers: Sie ſprach Ja es iſt geweſen mein hat der Schreiber in der folgenden Zeile

|| 56 Auf diese und Parallelstellen im Guardian verweist schon Fischer (wie Anm. 1), S. 269, Anm. 79.

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den Vers versehentlich wiederholt, allerdings ausschließlich die Figurenrede ohne Redeeinleitung. Das Element scheint ergänzt worden zu sein gegenüber einer Vorlage, in der es fehlte. Eine weitere Auffälligkeit in derselben Passage legt die Vermutung nahe, dass mindestens noch eine weitere Redepartie des Dialogs in der Vorlage ohne Redeeinleitung bestand. Hier findet sich in einem Vers mit Sprecherwechsel eine metrisch nur schwer zu integrierende verkürzte inquit-Formel: Sie was guter mer pringt Ir mir (fol. 218v). Es ist möglich, dass der Schreiber ein in der Vorlage vorhandenes ſprach übersehen oder übersprungen hat. Wenn die inquit-Formel allerdings ergänzt worden ist, was aufgrund der metrischen Störung anzunehmen ist, erstaunt es, dass der Schreiber die Redeeinleitung nicht vollständig ergänzt hat. Kaum plausibel ist, dass das Verb beim Ergänzungsprozess vergessen wurde. Die auf das Pronomen verkürzte Redeeinleitung ist kein Einzelfall (s.u.) und lässt sich wohl zutreffender als in Vers und Zeile integrierte Sprecherbezeichnung beschreiben. Der Schreiber hat offenbar zwar den Sprecherwechsel verdeutlichen wollen, sich aber nicht die Mühe einer textlichen Anpassung im Rahmen der epischen Konvention gemacht. In dieser Passage ist die Identifikation der Sprecherwechsel ohne Einleitungen besonders schwierig, denn der Dialog zwischen dem Mönch als Beichtvater und der Dame, die ihn als Überbringer geheimer Botschaften funktionalisiert, vollzieht sich aufgrund der verdeckten Agenda der Dame ja gerade nicht entsprechend dem erwartbaren Skript eines Beichtgesprächs. Grubmüller hat in der Karlsruher Fassung des Striegels ebenfalls Ergänzungen von Redeeinleitungen beobachtet.57 Er erkennt darin ein Bemühen der Schreiber, „Gestaltungsmittel, die dem mündlichen Vortrag angehören, durch solche zu ersetzen, die die Aufnahme eines geschriebenen Textes erleichtern“.58 Im Cgm 714 ist jedoch bemerkenswert, dass mit der hinzugefügten Sprecherbezeichnung keine Glättung in Hinblick auf die Versstruktur einhergeht, wie sie in Grubmüllers Textbeispiel zu erkennen ist. Die Anzeige des Sprechers allein durch das Personalpronomen ist ein Verfahren, das erst viel später im Prosaerzählen eingesetzt wird.59 Das verkürzte Signal könnte eine Zwischenform darstellen, die einerseits die fehlende mündliche Information der Intonation in der Schrift ergänzt, andererseits aber auch keinen allzu großen Aufwand für eine lesegerechte Umgestaltung bedeutet. Darüber, ob diese Zwischenform auf eine ‚Zwischenlagerung‘ des Textes in der Schrift hindeutet, die mit dem mündlichen Wiedergebrauch der Erzählung rechnet, lässt sich nur spekulieren.

|| 57 Vgl. Grubmüller (wie Anm. 41), S. 484. 58 Ebd., S. 486. 59 Vgl. die Beispiele aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert bei Käte Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik, Leipzig 1910 (Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte 7), S. 161.

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Da zumindest punktuell die uneingeleiteten Sprecherwechsel vom Schreiber des Cgm 714 Aufmerksamkeit erfahren haben, ist die Frage zu stellen, ob er sein Initialensystem genutzt hat, um neben textuellen auch visuelle Informationen zum Sprecherwechsel bereitzustellen. Am Beispiel der Zwei Beichten B lassen sich dazu Beobachtungen anstellen, da in dieser ganz vom Figurendialog getragenen Handlung uneingeleitete Sprecherwechsel häufiger vorkommen. Der Befund ist negativ: Unter den Sprecherwechseln, die ohne Kennzeichnung bleiben, sind auch solche, die nicht durch inquit-Formeln eingeleitet werden. Folglich besteht die Funktion der Initialen nicht darin, das Erkennen von Sprecherwechseln durch ein visuelles Signal zu erleichtern. Wie auch in den anderen Beichterzählungen ist in den Zwei Beichten B das Initialensystem polyfunktional. Gekennzeichnet werden Sprecherwechsel, zugleich werden auch Handlungsabschnitte markiert. Der Wendepunkt, der für die Übersetzung der Schwankdynamik in das Beichtformat von besonderer Bedeutung ist, nämlich der Wechsel der Rolle des Beichtvaters, erhält eine aufwändigere Auszeichnung als die nur leicht vergrößerten Lombarden, die meist den Sprecherwechsel markieren (vgl. fol. 213r). Ebenfalls durch Graduierung sowie die Kombination mit dem Alinea-Zeichen wird Emphase neben dem Sprechwechsel indiziert. Dies zeigt das folgende Verspaar mit Figurenrede der Frau: Sie warümb haſtus denn gethan / Du rehter ſchnöder pöſer man (siehe Abb. 2: fol. 213v). Die s-Majuskel des ersten Verses ist vergrößert, sodass der Sprecherwechsel markiert wird, den die verkürzte inquitFormel einleitet. Die d-Majuskel des folgenden Verses ist mit einem auffälligeren, deutlich größeren Zierelement auf dem Außenrand versehen. Dieser Vers trägt die Emphase der Rede: Die Frau beschimpft ihren Ehemann. Insgesamt entsteht jedoch nicht der Eindruck einer konsequent durchgeführten Initialenhierarchisierung. Möglicherweise hat die Erzählung, in der die Handlung beinahe vollständig von Figurendialog mit vielfachen Sprecherwechseln getragen wird, den polyfunktionalen Initialengebrauch an eine Grenze stoßen lassen. Resümierend lassen sich die Charakteristika des Layouts, das der Schreiber des Cgm 714 für die erste Sektion der Sammlung verwendet, wie folgt zusammenfassen: 1. Der Grad der Ausschmückung variiert nach Texten. Denkbar wäre, dass dies auf die Vorlagen zurückgeht. Die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme sinkt jedoch mit dem Grad, in dem übergreifende Funktionen und Verwendungsweisen der Gestaltungsmerkmale erkennbar sind, die sich als textbezogen, texttypenbezogen und themenbezogen einordnen lassen. 2. Der Schreiber verfügt über das Gestaltungsmittel einer Hierarchisierung durch Initialen, die durch Abstufung der Größe, Auszierung und Kombination mit Alinea-Zeichen erzielt werden kann. Es ist erkennbar, dass er dieses Mittel systematisch gebrauchen kann, doch führt er einen vollständig systematischen Gebrauch nur in Ausnahmefällen konsequent durch. Von einem Initialensystem lässt sich daher nur im eingeschränkten Sinne eines offenen Systems sprechen.

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3.

Der Initialengebrauch ist polyfunktional. Damit können herkömmliche Gliederungszwecke erfüllt werden; er dient zur Hervorhebung von inhaltlicher Relevanz, zum Signalisieren von Betonung (Emphase in der Intonation), möglicherweise sogar zur Kennzeichnung einer außergewöhnlichen Figurenstimme, und zur Markierung von Sprecherwechseln. Keine dieser Funktionsebenen ist mit absoluter Vollständigkeit durchgeführt. Für einzelne Texte lassen sich aber individuelle, wenn auch wiederum im vorgenannten Sinne offene, Systeme feststellen.

Aus diesem Befund lassen sich keine zwingenden Schlüsse ziehen, die es erlaubten, den Codex den Alternativen ‚Lesehandschrift‘ oder ‚Archiv von Vortragsfassungen‘ zuzuordnen. Die Verwendung der Gestaltungsmittel für die Kennzeichnung von Sprecherwechseln, zur visuellen Markierung von Aspekten der Stimme sowie der schlicht quantitative Befund des Aufwandes, der auf Figurenrede bezogen ist, lassen aber doch eine Schlussfolgerung zu: Das Sprechen hat den Schreiber beschäftigt. Es geht in seine Wahrnehmung und in seine Bemühung um die Gestaltung der Texte mit ein. Der Cgm 714 bietet Material für die These, dass die Ästhetik der dort versammelten Reimpaardichtungen als Kunst, die sich im Sprechen entfaltet, erfasst und in die Aufzeichnung hineingenommen worden ist. Dies gilt insbesondere für das Sprechen in Mären.

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Abb. 1: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 714, fol. 210v

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Abb. 2: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 714, fol. 213v

| Modellierungen von Stimme

Angela Schrott

Modellierungen von Stimme und Mündlichkeit Echofragen in altspanischen Texten

1 Warum Echofragen? Echofragen sind als intonatorisch markierte interrogative Strukturen engstens an die Mündlichkeit und damit an die Stimme gebunden und stellen daher ein sprachliches Mittel dar, das für die Modellierung fingierter Mündlichkeit und Lebendigkeit in Dialogen literarischer Texte ideal geeignet ist. Mit dieser Eignung kontrastiert allerdings die weitgehende Absenz von Echofragen in altspanischen literarischen Texten. Ziel meines Beitrags ist es, den Gründen dieser Aussparung nachzugehen und zu klären, warum die Modellierung von Stimme und Mündlichkeit durch die Echofrage so geringen Eingang in Schrift und Schriftlichkeit altspanischer Texte gefunden hat. Auf der Basis einer Beschreibung der wesentlichen Charakteristika, die Echofragen in ihren sprachlichen Strukturen und ihren Funktionsprofilen auszeichnen, werden die wenigen Echofragen analysiert, die in einem altspanischen Korpus literarischer Texte unterschiedlicher Gattungen enthalten sind. Verwendungskontexte und Funktionen dieser Echofragen werden aus Sicht der historischen Dialogforschung untersucht. Die textbasiert erarbeiteten Traditionen der Dialoggestaltung verdeutlichen, weshalb Echofragen nur in einem einzigen Text des altspanischen Korpus in Erscheinung treten.

2 Echofragen: Strukturen und Funktionen Untersucht man Strukturen und Funktionen von Echofragen in Gesprächskontexten, dann wird schnell klar, dass dieser Fragetyp bereits durch die Positionierung im Dialog eine Sonderstellung einnimmt. Denn Frageakte fungieren in den allermeisten Fällen als initiative Sprechakte, die im Adjazenzpaar von Frage und Antwort die erste Position besetzen: Die Frage eröffnet die Interaktionseinheit und die Antwort schließt die Einheit ab. Echofragen dagegen sind eine Reaktion auf eine vorangegangene Äußerung, die sie echoartig wiederaufnehmen. Das folgende Beispiel illustriert diese namengebende Grundstruktur: Paul: Fritz ernährt sich jetzt vegan. Peter: Fritz ernährt sich jetzt vegan?

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Echofragen sind als Fragetyp dadurch definiert, dass sie die Äußerung des Gesprächspartners im unmittelbar vorausgehenden turn anaphorisch als ‘Echo’ wieder aufnehmen. Die Echofrage ist formal als zitathafte Wiederaufnahme markiert, die weitgehend die Satzgliedanordnung der Vorgängeräußerung wiederholt, diese Wiederholung jedoch mit einem anderen illokutionären Wert verbindet.1 Eine der häufigsten Umwertungen besteht darin, dass eine Assertion zu einem Frageakt umgewandelt wird. Die entscheidende Markierung dafür sind die über die Zitation gelegten interrogativen Intonationskonturen, die die Wiederaufnahme als Frageakt und als Zitat der Rede eines anderen markieren. Formen der Echofrage signalisieren damit, dass die Worte auf einen vom Sprecher zu trennenden Urheber zurückgehen und dass der Sprecher für diese Worte keine kommunikative Regresspflicht übernimmt. In der Dialogstruktur hat die zitathaft-fragende Wiederholung den Effekt, dass die ursprüngliche Äußerung auf Distanz gerückt und zu einem Frageakt umgeformt wird, der seinerseits eine Reaktion des Gesprächspartners fordert. Damit erfüllen Echofragen eine Scharnierfunktion: Sie sind eine Reaktion auf den unmittelbar vorangehenden turn des Gesprächspartners und sie fordern ihrerseits eine Antwortreaktion ein. Aus diesem Grund sind Echofragen eine Struktur, die in kompakter Weise Reaktion und Initiative vereint und damit eine Technik darstellt, die Gesprächen Tempo und Dynamik verleiht. Auf der Ebene der funktionalen Profile können Echofragen unterschiedliche Funktionen erfüllen. Stellen wir uns zum eingangs genannten Beispiel eine Situation vor, in der Peter und Paul gemeinsam kochen und sich unterhalten. Da gleichzeitig das Radio läuft und Töpfe klappern, ist sich Peter nicht ganz sicher, ob er Paul richtig verstanden hat, und formuliert die Echofrage Fritz ernährt sich jetzt vegan? || 1 Grundlegende Strukturen und Funktionen von Echofragen beschreiben folgende Forschungsbeiträge: Franz Lebsanft, „Quien te mostro esto? – Quien? Ellas. Untersuchungen zur Echofrage und zu ihrem Gebrauch in der Celestina“, in: Navicula Tubingensis. Studia in honorem Antonii Tovar, hg. von Francisco J. Oroz Arizcuren, Tübingen 1984 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 230), S. 277–289, hier S. 279f., 284; Dieter Wunderlich, „Echofragen“, in: Studium Linguistik 20 (1986), S. 44–62, hier S. 44–46; Jörg Meibauer, „Zur Form und Funktion von Echofragen“, in: Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1986, hg. von Inger Rosengren, Lund 1987 (Lunder germanistische Forschungen 55), S. 335–356, hier S. 335–340, 346, 349, 352; Hans Altmann, „Zur Problematik der Konstitution von Satzmodi als Formtypen“, in: Satzmodus zwischen Grammatik und Pragmatik, hg. von Jörg Meibauer, Tübingen 1987 (Linguistische Arbeiten 180), S. 22–56, hier S. 49; Domniţa Dumitrescu, „Función pragma-discursiva de la interrogación ecoica usada como respuesta en español“, in: Aproximaciones pragmalingüísticas en español, hg. von Henk Haverkate, Kees Hengeveld und Gijs Mulder, Amsterdam 1993 (Diálogos hispánicos 12), S. 51–85, hier S. 52–55; María Victoria Escandell Vidal, „Interrogaciones polifónicas“, in: Retórica y lenguajes 1 (1990), S. 367–375, hier S. 370f.; dies., „Los enunciados interrogativos. Aspectos semánticos y pragmáticos“, in Gramática descriptiva de la lengua española, Bd. 3, hg. von Ignacio Bosque und Violeta Demonte, Madrid 1999, S. 3929–3991, hier S. 3979f.; Claudia Schmitz, „Echo-Fragen in der Gegenargumentation“, in: Dialogizität in der Argumentation. Eine multidisziplinäre Betrachtung, hg. von Daniela Pirazzini und Anika Schiemann, Frankfurt a.M. 2013 (Bonner romanistische Arbeiten 108), S. 263–280, hier S. 263–265.

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zur Verständnissicherung. In diesem Fall bezieht sich die Echofrage auf den propositionalen Gehalt der Äußerung; so könnte Peter etwa sichergehen wollen, ob es tatsächlich um Fritz geht, der bis vor kurzem noch mit Vorliebe deftige Steaks verzehrt hat. Ein weiterer möglicher Kontext wäre, dass Peter die Äußerung akustisch problemlos wahrgenommen hat, aber eine Ergänzung zur Sache wünscht, etwa weil ihm das Wort vegan nicht vertraut ist. In beiden Fällen bezieht sich der Frageakt auf den propositionalen Gehalt und damit auf die Referenz der wiederaufgenommenen Äußerung. Charakteristisch für diesen Typ ist, dass die Echofrage auf die Proposition zielt, allerdings mit einer gewissen Unschärfe, so dass erst der Kontext eines Gesprächs (zusammen mit der Intonation) präzisiert, auf welchen Aspekt des propositionalen Gehalts der Echofrager abhebt. Der Bezug auf Proposition und Referenz ist jedoch nur eine Möglichkeit. Eine weitere frequente Verwendung von Echofragen geht über die Proposition hinaus. Auch dazu ein Beispiel, bei dem sich zwei Doktorandinnen in einem Café über den aktuellen Stand ihrer Promotionsprojekte austauschen: Paula: Reichst du bald ein? Petra: Ob ich bald einreiche?

In diesem Fall wäre es zwar denkbar, dass der propositionale Gehalt wegen lebhafter Gespräche am Nachbartisch nicht eindeutig rezipiert wird, doch erscheint die Lesart wahrscheinlicher, dass die Echofrage nicht der Proposition gilt, sondern dem vom Gesprächspartner vollzogenen Sprechakt der Frage nach dem Einreichen der Promotion. Dieser Bezug der Echofrage auf den vollzogenen Sprechakt findet sich häufig als Reaktion auf Fragen (und andere Äußerungen), die potenziell sensible oder konfliktäre Themen berühren und bei denen der Akt der Thematisierung vom Gesprächspartner kritisch rezipiert wird. Da eine Frage nach dem Abschluss der Dissertation durchaus in die Kategorie sensibler Gesprächsthemen fällt, bezieht sich die Echofrage auf die von der Gesprächspartnerin vollzogene Illokution und kommentiert deren Dialogverhalten kritisch. Dabei ist auch für Echofragen dieses Typs eine relativ große Offenheit und Unterdeterminierung typisch, die in aller Regel erst durch den Gesprächskontext oder den gemeinsamen Wissensstand (common ground) der Gesprächspartnerinnen präzisiert wird. So wäre etwa denkbar, dass Petras Arbeit exzellente Fortschritte gemacht hat und dies auch Paula wohl bekannt ist. In diesem Fall wäre bspw. die Lesart Was für eine Frage – die Arbeit ist längst eingereicht! plausibel, mit der Petra die Annahme, sie sei immer noch nicht fertig, selbstbewusst zurückweist. Möglich wäre aber auch ein Kontext, in dem Petra wegen diverser privater Kalamitäten schon seit Monaten nicht mehr gut vorankommt und Paula dies auch sehr gut weiß. In diesem Kontext könnte man die Echofrage mit

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Was für eine Frage, du weißt doch genau, wie schlecht es für mich in letzter Zeit gelaufen ist! paraphrasieren.2 Wie die einleitende Beispieldiskussion zeigt, fungieren Echofragen als Technik der distanziert-fragenden Wiederaufnahme, die sich entweder auf die Referenz oder auf den Sprechakt beziehen kann. Darstellend-referentielle Echofragen zielen auf die Gegenstände und Sachverhalte ab, die in der Proposition versprachlicht werden. Mittels der Echofrage kann der Sprecher weitere Informationen einfordern oder um eine Bestätigung der bereits gegebenen Informationen bitten. Echofragen dienen hier als eingeschobene Nachfragen der Verständnissicherung. In der illokutionären Funktion dagegen nimmt die Echofrage Bezug auf den unmittelbar zuvor geleisteten Sprechakt des Gesprächspartners und signalisiert eine distanzierte Haltung des Fragestellers, der zusätzliche Argumente, Begründungen oder Erklärungen einfordert und in vielen Fällen eine vom Gesprächspartner abweichende Einschätzung oder Meinung vertritt. Darstellend-referentielle Funktion und illokutionäre Funktion von Echofragen nutzen dabei zwei Grundwerte von Frageakten. Zum einen setzen sie die appellativaktivierende Energie von Frageakten ein: So wie Fragen eine fehlende Information als Antwort einfordern, so fordern auch Echofragen eine Antwortreaktion ein. Die Echofrage hat daher in jeder Hinsicht die illokutionäre Qualität eines Frageaktes. Zum anderen profitieren Echofragen von der Semantik der Nicht-Faktizität, die Frageakten anhaftet. Frageakte wie Kommt Peter morgen? oder Wann kommt Peter an? beinhalten ein mit Unsicherheit behaftetes Faktum und sind daher ideale Signale einer begrenzten kommunikativen Garantie des Sprechers. Bei Echofragen wird diese Einschränkung der Sprecherverantwortung genutzt, um eine Semantik der Distanzierung zu erzeugen. Als distanziert-fragende Redewiederaufnahme sind Echofragen Teil umfassenderer sprachlicher Techniken, die in der Forschung als ‚Polyphonie‘ oder ‚interpretative Rede‘ behandelt werden. Da der Sprecher zitathaft die Worte eines anderen wiederholt, sind Echofragen im Sinne von Oswald Ducrot3 eine Form polyphonen

|| 2 Zur Typisierung von Echofragen mit einer Differenzierung der Bezugnahme auf Proposition und Illokution vgl. Domniţa Dumitrescu, The Grammar of Echo Questions in Spanish and Romanian: Syntax, Semantics, Pragmatics, Dissertation, University of Southern California 1990, hier S. 271, 273f.; dies., „General Considerations about Echo Questions in Spanish and Romanian. Towards Defining the Concept“, in: Revue Roumaine de Linguistique 36 (1991), S. 141–167, 279–315, hier S. 280f., 290–293, 298, 314f.; dies., „Preguntas con multiconstituyentes interrogativos en español“, in: Hispania 75 (1992), S. 164–170, hier S. 166. 3 Oswald Ducrot, Le dire et le dit, Paris 1984, hier S. 224–226, 117–119, 192–194. Zur Polyphonie von Echofragen vgl. ebenfalls Gemma Herrero, „Las construcciones eco: exclamativas-eco en español“, in: El español coloquial. Actas del I simposio sobre análisis del discurso oral, hg. von Luis Cortés Rodríguez, Universidad de Almería 1995 (Universidad de Almería, Servicio de Publicaciones 3), S. 125–145, hier S. 126f., 130f., 134, 144.

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Sprechens, die dadurch definiert ist, dass der Sprecher die Äußerung eines anderen – häufig interpretierend oder wertend – wiederholt und damit nicht der kommunikativ verantwortliche Urheber der Äußerung ist. Diese Polyphonie ist auch bei Echofragen gegeben, da der Sprecher nicht der auctor der Äußerung ist, sondern diese lediglich zitathaft wiederaufnimmt und daher nicht die kommunikative Verantwortung für Formulierung oder Wortwahl trägt. Dabei wirkt die Echofrage ihrerseits aktivierend zurück auf den Urheber der Äußerung, da der Sprecher im Frageakt an ihn appelliert, zu seiner unmittelbar vorausgehenden Äußerung noch Klärungen oder Erklärungen nachzuliefern. Das Funktionieren von Echofragen kann ferner durch die Unterscheidung von deskriptiver und interpretativer Rede nach Dan Sperber und Deirdre Wilson4 präzisiert werden. Während das deskriptive Sprechen eine Äußerung und ein Faktum in der außersprachlichen Welt verbindet, stellt das interpretative Sprechen eine Relation zwischen zwei Äußerungen her. Da Echofragen Äußerungen anderer wiederholen und kommentieren, sind sie eine Form interpretativen Sprechens. Als interpretative Rede signalisieren Echofragen, dass der Sprecher eine Haltung einnimmt, die auf Distanz zur ursprünglichen Äußerung des Gesprächspartners geht. Die Ausprägung dieser Distanz – von der bloßen Markierung des Zitathaften bis zur kritischen Reprise – bleibt dabei offen und wird erst durch den Kontext präzisiert.5 Darstellend-referentieller und illokutionärer Typ sind nicht immer klar zu trennen, denn eine Bitte um Klärung kann auch ein Weg sein, um eine Äußerung in Frage zu stellen. Diese graduellen Übergänge zwischen Klären und Erklären stellen ein strategisches Potenzial von Echofragen dar, das in Gesprächen entsprechend genutzt werden kann, um Akte der Kritik und der Distanzierung mit einer gewissen Unschärfe vorzubringen, die im Kontext verbaler Höflichkeit durchaus (auch) als Technik der Gesichtswahrung zu sehen ist, denn Echofragen vermeiden explizit kritische Kommentierungen und überlassen es zu einem nicht unwesentlichen Teil dem Angesprochenen, die Echofrage zu kontextualisieren und auf die kritische Haltung des Echofragers zu schließen. Diese Unbestimmtheitsstelle ist kein Defizit der Echofrage, sondern macht deren Qualität aus: Ein Sprecher, der Kritik, Erstaunen oder Befremden über eine Echofrage signalisiert, kann explizit kritische Kommentierungen vermeiden und spielt zugleich dem Gesprächspartner die Aufgabe zu,

|| 4 Dan Sperber und Deirdre Wilson, Relevance. Communication and Cognition, Oxford/Cambridge, Mass. 21995, S. 87. Zu Interrogativsätzen als Form interpretativen Sprechens vgl. auch María Victoria Escandell Vidal, „Sintaxis y uso interpretativo“, in: Palabras. Víctor Sánchez de Zavala in memoriam, hg. von Kepa Korta und Fernando García Murga, Bilbao 2000, S. 219–259, hier S. 244, 249–251, 253. 5 Vgl. Lebsanft (wie Anm. 1), S. 284. Zur implizit kritischen Anreicherung von Echofragen vgl. auch Eun-Jo Noh, „Echo Questions: Metarepresentation and Pragmatic Enrichment“, in: Linguistics and Philosophy 21 (1998), S. 603–628, hier S. 616f.

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konkretere Schlussfolgerungen aus dem Kontext zu ziehen und gegebenenfalls nachzufragen. Beide Typen von Echofragen haben gemeinsam, dass sie eine Äußerung – unverändert oder mit leichten Variationen – wieder aufnehmen und mit einer Intonationskontur kombinieren, die interrogative Strukturen kennzeichnet und die wiederholte Äußerung damit als Frageakt markiert. Ganz ähnlich wie im Deutschen haben Echofragen im Spanischen die Besonderheit, dass über die konservierte segmentale Struktur der Vorgängeräußerung interrogative Intonationskonturen gelegt werden, die die Wiederaufnahme als Echofrage markieren.6 Der Befund, dass EchoInterrogativsätze spezifische Interrogativsatztypen sind, bestätigt sich für das Neuspanische. Im Spanischen der Gegenwart, das für die Rekonstruktion von Echofragen im Altspanischen natürlich von besonderer Bedeutung ist, haben Echofragen verschiedene syntaktische Grundstrukturen, weshalb der gemeinsame Nenner der Echofragen nicht in der Syntax, sondern vielmehr in der Intonation liegt.7 Dabei finden sich in der Forschung unterschiedliche Beschreibungen der intonatorischen Profile. Nach Escandell Vidal ist für Echo-Interrogativsätze die Intonationskontur des „esquema entonativo circunflejo“ typisch,8 bei der die Kontur ansteigt, auf hohem Stimmniveau verweilt und gegen Ende der Äußerung absinkt. Während eine steigende Kontur markiert, dass der Inhalt des Interrogativsatzes dem Sprecher zuzuordnen ist, zeigt die steigend-fallende Zirkumflex-Kontur an, dass der Sprecher die Worte eines anderen wiederholt und die Äußerung damit polyphon ist.9 Die Sichtung der Forschung zum Spanischen der Gegenwart weist also deutlich auf die zentrale Rolle der Intonation hin, und damit auf ein Kriterium, das in den altspanischen Texten nicht überliefert ist. Die zentrale Rolle der Intonation impliziert, dass die Technik des Echofragens ihren natürlichen Ort in der Mündlichkeit und damit im dialogischen Wechselspiel von Anrede und Erwiderung hat. Die Echofrage ist in ihrer Materialität und Funktion damit an die Stimme und an die Einheiten dialogischer Interaktionen gekoppelt.

|| 6 Zum Deutschen vgl. Altmann (wie Anm. 1), S. 49. Auch im Spanischen liegt der gemeinsame Nenner der Echofragen in der Intonation, vgl. Escandell Vidal, Gramática descriptiva (wie Anm. 1), S. 3945f., 3979; vgl. ferner: María Victoria Escandell Vidal, „Intonation and Procedural Encoding: The Case of Spanish Interrogatives“, in: Current Issues in Relevance Theory, hg. von Villy Rouchoto und Andreas H. Jucker, Amsterdam/Philadelphia 1998, S. 169–203 (Pragmatics & beyond, New Series 58), hier S. 178, 180–182, 192f. 7 Escandell Vidal (wie Anm. 6), S. 186f., 191. 8 Ebd., S. 192. 9 Ebd., S. 178, 180–182, 193.

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3 Ein Wort gibt das andere – Echofragen in altspanischen Texten Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist eine von mir durchgeführte historisch-pragmatische Untersuchung von Frageakten und ihren Diskurstraditionen in altspanischen literarischen Texten.10 Das untersuchte Korpus setzt sich aus folgenden Texten zusammen: Cantar de mio Cid; Auto de los Reyes Magos; Poema de Fernán González; Vida de Santa María Egipciaca; Gonzalo de Berceo, Vida de San Millán, Vida de Santo Domingo und Milagros de Nuestra Señora; Libro de Alexandre; Libro de Apolonio; Libro de Buen Amor. Untersucht wurden Fragen in fiktionalen Dialogen, aber auch Frageakte in der Erzählerrede. Die Inventarisierung der Fragetypen ergab hinsichtlich der Echofragen ein überraschendes Ergebnis: Die Echofrage ist der einzige Fragetyp, der in nur einem einzigen Text belegt ist, der zugleich der jüngste Text des Korpus ist, nämlich das 1330 und 1443 verfasste Libro de Buen Amor.11 Da Echofragen in der Alltagskommunikation in vielen Sprachen sehr präsent sind und als genuin mündliches Phänomen ihren natürlichen Ort in der gesprochenen dialogischen Interaktion haben, scheint es erwartbar, dass sie auch in mimetisch repräsentierten Interaktionen als Mündlichkeitssignale Verwendung finden. Die folgenden Ausführungen wollen ergründen, weshalb Echofragen, die einfach strukturierte und wirkungsvolle Instrumente dialogstrategischer Interaktionen sind, in einem Korpus literarischer Texte, das zentrale Gattungen und Diskurstraditionen erfasst, nahezu völlig absent sind und sich exklusiv im Libro de Buen Amor finden. Grundsätzlich sind für dieses Faktum zwei Erklärungen möglich. Eine Erklärung ist, dass die Echofrage als polyphon-interpretative Technik erst im Spätmittelalter entsteht und daher erst im jüngsten Text des Korpus auftaucht. Die zweite Möglich-

|| 10 Zum Textkorpus vgl. Angela Schrott, Fragen und Antworten in historischen Kontexten. Ein Beitrag zur historischen Dialoganalyse und zur historischen Pragmatik am Beispiel altspanischer literarischer Texte, Habilitationsschrift, Ruhr-Universität Bochum 2006. 11 Eine Einführung in das Libro de Buen Amor bieten folgende Beiträge: María Rosa Lida de Malkiel, Dos obras maestras españolas: El ‚Libro de Buen Amor‘ y ‚La Celestina‘, Buenos Aires 1968; Hans Ulrich Gumbrecht, „Literarische Technik und Schichten der Bedeutung im Libro de Buen Amor“, in: Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de Buen Amor, übersetzt und eingeleitet von dems., München 1972, S. 9–56; Raymond S. Willis, „Introduction“, in: Juan Ruiz, Libro de Buen Amor, ed., with an Introduction and English Paraphrase by Raymond S. Willis, Princeton 1972, S. XIX–XCIII; Hans Flasche, Geschichte der spanischen Literatur, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts, Bern/München 1977, hier S. 204–229; José Luis Girón Alconchel, „Caracterización lingüística de los personajes y polifonía textual en el Libro de Buen Amor“, in: Epos 2 (1986), S. 115– 123; Manfred Tietz, „Mittelalter und Spätmittelalter“, in: Spanische Literaturgeschichte, hg. von Hans-Jörg Neuschäfer, Stuttgart 1997, S. 1–68, hier S. 44–46; John Dagenais, The Ethics of Reading in Manuscript Culture. Glossing the Libro de Buen Amor, Princeton 1994.

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keit ist, dass die Echofrage zur Entstehungszeit der älteren Texte bereits in der gesprochenen Sprache des Mittelalters existierte, aber aus bestimmten Gründen keinen bzw. kaum Eingang in die Schriftlichkeit fand. Um diesen möglichen Gründen auf die Spur zu kommen, werden im folgenden Abschnitt die drei im Korpus belegten Verwendungen im Libro de Buen Amor analysiert. Die Dialoge im Libro de Buen Amor, in denen Echofragen auftreten, haben gemeinsam, dass in ihnen die Kupplerin Trotaconventos agiert, sei es mit der jungen Endrina, sei es mit deren Mutter. Die erste Illustration dieser polyphonen Technik findet sich in einem Dialog zwischen Trotaconventos und Endrina (Str. 736–738), in dem Trotaconventos versucht, die junge Frau mit Don Melón zu verkuppeln (Edition und Übertragung ins Englische von Raymond S. Willis, der die meines Erachtens beste Übersetzung des Libro vorgelegt hat):12 „Agora, señora fija, dezid vuestro coraçón: esto que vos he fablado si vos plaze o si non; guardarvos he poridad e celaré vuestra razón, sin miedo fablad comigo todas quantas cosas son.“ (Libro de Buen Amor, Str. 736) Respondióle la dueña con mesura e bien: „Buena muger, dezidme quál es ésse, o quién, que vos tanto loades, e tantos de bienes tien’; yo pensaré en ello si para mí convién’.“ (Str. 737) Dixo Trotaconventos: „¿Quién es, fija señora? Es aparado bueno que Dios vos traxo agora, mancebillo guisado, en vuestro barrio mora: don Melón de la Huerta: quereldo en buena ora.“ (Str. 738) „Now, lady, my child, tell me your true feelings: whether what I have said to you pleases you or not; I will keep your secret, I will conceal your words; tell me without fear everything there is.“ The lady answered her courteously and well: „Good woman, tell me which one he is, or who it is, that you praise so highly and who has so many virtues: I will meditate on it and see if he is appropriate for me.“ Said Convent-trotter: „Who he is, my lady, daughter? He is a fine offering that God has brought to you now, a suitable young fellow, he lives in your neighborhood, Sir Melon of the Garden: love him, good luck be with you.“

|| 12 Juan Ruiz: Libro de Buen Amor (wie Anm. 11).

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Trotaconventos, die sich als Tandlerin bei Endrina eingeschlichen hat und ihr in den vorangegangenen Strophen bereits ausführlich die Vorteile eines – von ihr vermittelten – Liebhabers angeboten hat, will zunächst wissen, ob Endrina an ihren Diensten interessiert ist. Endrina vermeidet es jedoch, Farbe zu bekennen, und will ihrerseits, dass Trotaconventos ihr die Identität des von ihr hochgelobten Mannes enthüllt – eine Bitte, die explizit als Aufforderung zur Wissensweitergabe formuliert ist (dezidme quál es ésse, o quién). Trotaconventos antwortet auf diese Bitte mit einer Echofrage (¿Quién es, fija señora?) und lobt den Kandidaten nochmals zwei Verse lang, bevor sie nach diesem retardierenden Element endlich den Namen des Mannes nennt. Die Echofrage erfüllt hier mehrere Funktionen. Zunächst dient die Wiederaufnahme der thematischen Anknüpfung an Endrinas Bitte, die Identität des Prätendenten preiszugeben. Diese thematische Kontinuität ist jedoch nicht die primäre Funktion der Echo-Konstruktion, zentral ist vielmehr der dialogstrategische Wert. Denn durch die Echo-Konstruktion nimmt Trotaconventos Endrinas Redeakt – die Aufforderung, die Identität des Mannes zu nennen – distanziert-kritisch auf und leistet eine Infragestellung dieses Dialogaktes. Endrinas Bitte wird in ihrer Gültigkeit gemindert und erscheint als unangemessen. Diese Unangemessenheit hat nun zwei Gründe. Zum einen hat Trotaconventos im Laufe des ausführlichen Dialogs mit Endrina – der Dialog beginnt in Strophe 723 – bereits den Namen ihres Herrn einleitend in Strophe 727 genannt, sodass die kritische Distanziertheit der Vergesslichkeit Endrinas gelten kann, die sich nicht mehr an die Namensnennung zu erinnern scheint. Mit dieser Kritik vermischt sich jedoch eine weitere Strategie. Durch die Infragestellung der Bitte als Sprechakt suggeriert Trotaconventos, dass Endrinas Ersuchen auch deshalb kritikwürdig ist, weil solch hohes Lob nur einem einzigen Mann zukommt, dessen Qualitäten alle kennen – nämlich Don Melón. Damit impliziert die Echofrage nicht allein Kritik an der Vergesslichkeit Endrinas, sondern leistet abschließend noch einmal eine Steigerung der viele Strophen langen Elogen auf Don Melón. Den zweiten Beleg einer Echofrage liefert der folgende Dialog zwischen Trotaconventos und Doña Rama, der Mutter Endrinas, die Trotaconventos misslicherweise antrifft, als sie die junge Endrina erneut aufsuchen will: Fuése a casa de la dueña; dixo: „¿Quién mora aquí?“ Respondióle la madre: „¿Quién es que llama y?“ „Señora doña Rama, yo (qué por mi mal vos vi, que las mis hadas negras non se parten de mí).“ (Libro de Buen Amor, Str. 824) Díxole Doña Rama: „¿Cómo venides, amiga?“ „¿Cómo vengo, señora? Non sé cómo lo diga; corrida e amarga, que me diz’ toda enemiga uno, non sé quién es, mayor es que aquella viga.“ (Str. 825) She went to the lady’s house and said: „Who lives here?“ My lady’s mother answered: „Who is calling there?“

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„Lady Branch, it’s me (by my bad luck I have found you here; my bad fairies won’t leave me!)“ Lady Branch said to her: „How are things with you, my friend?“ „How are things with me, lady? I don’t know how to say it: I am insulted and embittered, because I am told all sorts of hateful things by someone – I don’t know who he is – who is bigger than that beam yonder.“

Die Passage beginnt mit einem raschen Replikenwechsel zwischen Trotaconventos und Doña Rama. Da Trotaconventos in geheimer und delikater Mission unterwegs ist, erfragt sie dialogeröffnend (vermutlich durch die noch geschlossene Tür), mit welcher der beiden Bewohnerinnen – Mutter oder Tochter – sie es zu tun hat. Zu ihrem Pech gerät die Kupplerin an die Mutter, die nach der Identität der Besucherin fragt, worauf Trotaconventos knapp mit dem deiktischen Personalpronomen yo antwortet, das aber offensichtlich die Identifizierung der Sprecherin ermöglicht, denn Doña Rama erkennt die Kupplerin und begrüßt sie mit der Frage ¿Cómo venides, amiga?, die dann von Trotaconventos in einer Echo-Konstruktion wieder aufgenommen wird. Diese dialogeröffnende Frage Doña Ramas kann zwei Lesarten haben. Sie kann als Grußfrage oder Wohlergehensfrage gelesen werden; so übersetzt Willis in seiner ausgezeichneten Übertragung ins Englische diesen Vers als Grußfrage How are things with you, my friend?, die dann von der Kupplerin als Echo wiederholt wird.13 Allerdings erlaubt ¿Cómo venides, amiga? auch eine kausale Lesart nach dem Grund des Kommens, die mit Weshalb kommst du? zu paraphrasieren wäre.14 Beide Interpretationen sind möglich, implizieren jedoch seitens der antwortenden Trotaconventos unterschiedliche Dialogstrategien. In der Lesart der Wohlergehensfrage nimmt Trotaconventos die kommunikative Routine zum Anlass, ausführlich über ihre Lebenssituation zu klagen. Dabei wird die Wohlergehensfrage nicht allein als Routineformel behandelt, sondern zugleich als Informationsfrage aufgefasst und entsprechend beantwortet. Auf die zitathafte Übernahme (¿Cómo vengo, señora?) folgt eine Variante des Unsagbarkeitstopos (Non sé cómo lo diga), der als Einleitung für heftige Klagen über ihre schlechte Verfassung dient, die Doña Ramas Mitleid wecken sollen.15 Noch raffinierter erscheint Trotaconventos’ Dialogstrategie, wenn man annimmt, dass Doña Rama nach dem Grund des Kommens fragt – immerhin ist

|| 13 Ebd., S. 220. 14 Auf diese Lesart zielt die Übersetzung von Gumbrecht (wie Anm. 11), S. 243, ab, der ein wenig sperrig mit „Wie ist es, dass du kommst, Freundin?“ übersetzt. 15 Zum Topos der Unsagbarkeit vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel 111993 [1948], S. 168. Zum Unsagbarkeitstopos in Gesprächen vgl. Elisabeth Gülich, „Unbeschreibbarkeit: Rhetorischer Topos – Gattungsmerkmal – Formulierungsressource“, in: Gesprächsforschung. Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 6 (2005), S. 222–244, hier S. 223.

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Trotaconventos eine stadtbekannte Kupplerin und die Hausherrin hat eine Tochter im heiratsfähigen Alter. In diesem Fall wären die wortreichen Klagen der Kupplerin als Ablenkungsmanöver zu deuten, denn indem Trotaconventos die ambige Fragestellung als Wohlergehensfrage auffasst, kann sie der für sie wesentlich unangenehmeren Frage nach dem Grund ihres Besuchs ausweichen und auch eventuelle Nachfragen abblocken, indem sie in wortreiches Klagen ausbricht. Beide Deutungen haben jedoch gemeinsam, dass die Echofrage sich nicht auf den propositionalen Gehalt, sondern auf die Ebene der Illokution bezieht. In beiden Lesarten deutet Trotaconventos die Dialogeröffnung als Wohlergehensfrage und realisiert mit ihrer Echofrage einen kritischen Kommentar zur Frage nach ihrem Befinden: Trotaconventos insinuiert, dass ihr ihre schlechte Verfassung derart ins Gesicht geschrieben steht, dass sich Fragen nach dem Wohlergehen erübrigen. Auf diese Weise nutzt sie die Wohlergehensfrage als Sprungbrett für Mitleid heischende Klagen. Der dritte und letzte Beleg für eine Echofrage findet sich in der Fortsetzung des in Strophe 824 begonnenen Dialogs. Nachdem Trotaconventos zunächst auf Doña Rama gestoßen ist, gelingt es ihr im Folgenden, die Mutter loszuwerden, sodass sie ungestört mit der Tochter sprechen kann: Diz’: „Ya levasse el diablo a la vieja riñosa, que por ella convusco fablar omne non osa. ¿pues qué?, fija señora ¿cómo está vuestra cosa? Véovos bien loçana, bien gordilla, fermosa.“ (Libro de Buen Amor, Str. 828) Preguntóle la dueña: „Pues, ¿qué nuevas de aquél?“ Diz’ la vieja: „¿Qué nuevas? ¿Qué sé yo qué es d’él? Mesquino e magrillo, non ay más carne en él que en un pollo ivernizo después de Sant Miguel.“ (Str. 829) She said: „May the Devil take that grumpy old woman, because, on account of her, nobody dares talk to you: well, now, lady, my child, how is your affair going? I see that you are good and spry, nice and plump, and pretty.“ The lady asked her: „So, what news is there of him?“ Said the old woman: „What news? How do I know what his trouble is? Wretched and skinny, there is no more flesh on him than on a winter-born chicken after St. Michael’s day.“

Nachdem Trotaconventos ihrem Ärger über die zunächst störende Mutter Luft gemacht hat (Str. 828), wendet sie sich der Tochter zu, und erkundigt sich – ohne die Dinge beim Namen zu nennen – nach Endrinas Meinungsbildung in Sachen Don Melón. Endrina weicht den Fragen der Kupplerin ¿pues qué?, fija señora ¿cómo está vuestra cosa? (Str. 828) durch die Gegenfrage Pues, ¿qué nuevas de aquél? (Str. 829) aus und spielt den Ball zurück: Bevor sie die Karten auf den Tisch legt, soll Trota-

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conventos erst von Don Melón berichten. Diese ausweichende Gegenfrage pariert die Kupplerin ihrerseits mit der Echofrage ¿Qué nuevas? (Str. 829). Durch diese Echofrage der Kupplerin wird Endrinas Sprechakt des Fragens als unangemessen beurteilt, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen hat Endrina die gestellte Frage nicht kooperativ beantwortet, sondern – ein wenig schnippisch – mit einer Gegenfrage reagiert. Dazu kommt, dass diese Gegenfrage in den Augen der durchaus auf Respekt für ihr Metier bedachten Kupplerin nicht nur unhöflich, sondern auch inhaltlich unangemessen ist: Denn wer um die Wirkungen der Liebeskrankheit weiß, der kann sich vorstellen, dass der liebeskranke Don Melón nur noch Haut und Knochen ist. Dabei kontrastiert Trotaconventos das Konterfei des abgemagerten Don Melón mit dem Bild Endrinas (Str. 828), deren wohlgenährte Schönheit den liebeshungrigen Don Melón heilen soll. Die in den altspanischen Texten auf das Libro de Buen Amor begrenzte Technik der Echofrage taucht innerhalb des Libro exklusiv in Dialogen mit der Kupplerin Trotaconventos auf, wobei die Echofrage allein der Kupplerin in den Mund gelegt wird. Entscheidender als diese Konzentration auf einen Protagonisten ist die Tatsache, dass alle drei Echofragen in Gesprächsabschnitten vorkommen, deren Komposition einen temporeichen Alltagsdialog abbildet, in dem sich Schlagfertigkeit und Wortgewandtheit der Kupplerin spiegeln. Die Echofragen erzeugen im Dialog eine Dynamik, die dem komischen Potenzial der Protagonisten und der (ebenfalls in der Tradition der Komödie wurzelnden) Personenkonstellation Nahrung gibt.16 Diese Bindung an einen nähesprachlichen Duktus ist der Ausgangspunkt für die sich anschließende Frage, ob Echofragen als sprachliche Strukturen erschöpfend beschrieben sind oder ob sie sich nicht vielmehr erst im Rahmen von Dialogformen und ihren Traditionen erschließen.

4 Echofragen zwischen einzelsprachlichen Traditionen und Diskurstraditionen Da Echofragen eine genuin mündliche, dialogische Praxis des Sprechens darstellen, erscheint es in hohem Maße wahrscheinlich, dass diese Technik auch in früheren Zeiten zum sprachlichen Repertoire des Altspanischen zählte. Die seltenen und späten Belege von Echofragen im Libro de Buen Amor bilden damit nicht den Zeitpunkt

|| 16 Das komische und parodistische Potenzial des Libro de Buen Amor behandeln folgende Beiträge: Alan D. Deyermond, „Some Aspects of Parody in the Libro de Buen Amor“, in: Libro de Buen Amor Studies, hg. von Gerald B. Gybbon-Monypenny, London 1970, S. 53–78; John K. Walsh, „Juan Ruiz and the mester de clerecía. Lost Context and Lost Parody in the Libro de Buen Amor“, in: Romance Philology 33 (1979), S. 62–86.

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der Entstehung dieser Technik ab, sondern eine Phase, in der diese Technik Aufnahme in die schriftliche Überlieferung findet. Zu fragen ist daher, weshalb diese Technik erst so spät mit der Stimme der Trotaconventos in der literarischen Schriftlichkeit repräsentiert wird. Um diese Frage zu klären, greife ich auf das romanistische Modell der Traditionen des Sprechens zurück, das auf Eugenio Coserius System der Sprachkompetenz basiert.17 Relevant für unsere Fragestellung ist die Coseriu’sche Unterscheidung dreier in das Sprechen und Schreiben eingehender Wissensbestände, die den drei Ebenen des Sprechens – der universellen, der historisch-einzelsprachlichen sowie der individuellen Ebene der Diskurse und Texte – zugeordnet werden. Das folgende Schema fasst die drei Wissenstypen zusammen und gibt zudem in der dritten Zeile eine Kurzcharakteristik der drei Wissensbestände zwischen Sprache und Kultur: 18 Ebene

(1) universelle Ebene

(2) historisch-einzelsprachliche Ebene

(3) individuelle Ebene

Regeln und Traditionen

allgemeine Regeln und Prinzipien des Sprechens

einzelsprachliche Traditionen

Diskurstraditionen

Charakteristika der Wissenstypen

allgemein-universell sprachbezogen

historisch sprachlich

historisch kulturell und sprachbezogen

Tab. 1: Die Regeln und Traditionen des Sprechens nach Coseriu

Den auf der universellen Ebene des Sprechens situierten Wissenstyp bilden die allgemein-universellen Regeln und Prinzipien des Sprechens. Sie leiten das Sprechen in allen Sprachen und Kulturen an. Zu ihnen zählt etwa das Grice’sche Kooperationsprinzip mit seinen Maximen. Diese Regeln gehören keiner Sprache an, son-

|| 17 Eugenio Coseriu, Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens, bearbeitet und hg. von Heinrich Weber, Tübingen 1988 (UTB 1481), hier S. 70, 95f., 121–125; zum Konzept der Diskurstraditionen vgl. Brigitte Schlieben-Lange, Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung, Stuttgart/Berlin 1983, insbesondere S. 104–106; Peter Koch, „Diskurstraditionen: zu ihrem sprachtheoretischen Status und ihrer Dynamik“, in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. von Barbara Frank, Thomas Haye und Doris Tophinke, Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 43–79, hier S. 45–47; Franz Lebsanft, „Kommunikationsprinzipien, Texttraditionen, Geschichte“, in: Historische Pragmatik und historische Varietätenlinguistik in den romanischen Sprachen, hg. von Angela Schrott und Harald Völker, Göttingen 2005, S. 25–44, hier S. 30f.; Angela Schrott, „Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft aus romanistischer Sicht: Das Beispiel der kontrastiven Pragmatik“, in: Romanische Forschungen 126 (2014), S. 3–44, hier S. 5–11. 18 Schrott, „Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft“ (wie Anm. 17), S. 10.

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dern folgen aus allgemeinen Prinzipien verbaler Interaktion, die Parameter wie Kooperation, Kohärenz oder die Dialogizität des Sprechens umfassen. Es geht hier also nicht um die Frage nach universellen sprachlichen Strukturen, die in allen Sprachen auftreten, sondern um Regeln des Sprechens, die man in allen Epochen im Sprachgebrauch aller Kulturen findet. Den zweiten Wissensbestand, der auf der historisch-einzelsprachlichen Ebene lokalisiert ist, formen die einzelsprachlichen Traditionen des Sprechens als das Wissen, das die Sprecher dazu befähigt, sich in verschiedenen historischen Einzelsprachen, seien es Muttersprachen oder erlernte Fremdsprachen, auszutauschen. Der dritte Wissensbestand der Diskurstraditionen, der der individuellen Ebene der Diskurse und Texte zugeordnet ist, umfasst das kulturelle und auf das Sprechen bezogene Wissen, das ebenfalls in alle verbalen Interaktionen eingeht. Die Diskurstraditionen liefern den Akteuren kulturelle Leitfäden für ein in den unterschiedlichen Kommunikationssituationen angemessenes und erfolgreiches Sprechen und prägen dabei Distanzsprache und Nähesprache gleichermaßen. So gibt es Diskurstraditionen, die distanzsprachliche Textsorten wie Predigten, Eidesformeln oder wissenschaftliche Traktate anleiten, doch sind auch nähesprachliche Interaktionsformen diskurstraditionell ausgeformt: Wenn Sprecher ein Gespräch eröffnen oder jemanden um einen Gefallen bitten, dann folgen sie kulturellen Diskurstraditionen, die sich mit der Zeit verändern und auch zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen variieren. Diese drei Wissenstypen sind der Ausgangspunkt für die Differenzierung dreier Felder und Perspektiven der linguistischen Pragmatik:19 (1) Regeln und Traditionen

allgemeine Regeln und Prinzipien des Sprechens

einzelsprachliche Traditionen

Diskurstraditionen

(2) Felder der Pragmatik

allgemein-universelle Pragmatik

einzelsprachliche Pragmatik

Pragmatik der Diskurstraditionen

(3) Perspektiven

universelle Perspektive

einzelsprachliche Perspektive

kulturelle Perspektive

Tab. 2: Die drei Felder und Perspektiven der linguistischen Pragmatik

Ausgehend von den drei Wissenstypen (Tabelle 1) ergeben sich – je nach Fokussetzung – drei Felder der Pragmatik (Tabelle 2). Die allgemein-universelle Pragmatik konzentriert sich auf die allgemeinen Regeln des Sprechens, die einzelsprachliche Pragmatik widmet sich einzelsprachlichen Strukturen und ihren funktionalen Profi-

|| 19 Schema nach Schrott, „Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft“ (wie Anm. 17), S. 10-12.

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len in der Sprachverwendung und die Pragmatik der Diskurstraditionen fokussiert kulturelle Traditionen und Normen, die das Sprechen in konkreten Kommunikationssituationen anleiten. Diese drei Felder der linguistischen Pragmatik beinhalten ihrerseits drei verschiedene Perspektiven auf Sprache und Sprechen. Ausgangspunkt ist die Definition der linguistischen Pragmatik als eine Perspektive, die Sprache und sprachliche Strukturen unter dem Gesichtspunkt der Sprachverwendung und des Sprechens in Umfeldern und Kontexten deutet.20 Ausgehend von den genannten drei Feldern lassen sich drei Perspektiven differenzieren. Dabei steht die allgemein-universelle Pragmatik, die das Sprechen der Menschen als universales Phänomen betrachtet, zwei historischen Sichtweisen gegenüber, die entweder die Einzelsprachen als historisch veränderliche Sprachsysteme analysieren oder untersuchen, wie sich die Diskurstraditionen als kulturelles, das Sprechen anleitendes Wissen in der Zeit verändern. Die in den Modellen aufgezeigte Trias der Wissensbestände und der Perspektiven linguistischer Pragmatik ist eine äußerst nützliche Systematik, wenn man einen Verwendungstyp wie die Echofrage näher beschreiben und im Spannungsfeld von Sprache und Kultur lokalisieren will. Da die Echofrage eine an einzelne Sprachen gebundene Struktur darstellt, kann sie keine universelle Regel des Sprechens sein – der universelle Wissenstyp scheidet daher aus. Zu klären ist vielmehr, ob Echofragen zu den einzelsprachlichen Traditionen oder zu den Diskurstraditionen zu zählen sind. Wie die einleitenden Beispiele aus dem Deutschen und die altspanischen Textausschnitte belegen, werden Echofragen durch interrogative Strukturen realisiert, die zum sprachlichen Repertoire des Deutschen oder Altspanischen gehören und damit zu den einzelsprachlichen Traditionen zählen. Die entscheidende Frage ist allerdings, wie es um die Echofrage als Technik der zitathaften Reprise steht. In der Forschung werden Echofragen als sprachliche Strukturen einzelner Sprachen und als Strategien der Dialoggestaltung beschrieben. An diese Beschreibungen der Echofrage schließt sich jedoch vor der Folie der drei Ebenen der linguistischen Pragmatik die Frage an, auf welcher Ebene des Sprechens diese Technik der Rede letztlich zu verankern ist. Zu klären ist also, ob Echofragen zu den einzelsprachlichen Traditionen spezifischer Sprachen zählen und im einzelsprachlichen Wissen aufgehen, oder ob sie eine Diskurstradition darstellen, die auf einzelsprachliche Strukturen zurückgreift, um eine kulturelle Technik der Interaktion zu realisieren.

|| 20 Zur linguistischen Pragmatik als Perspektive vgl. Andreas Gardt, Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Berlin/New York 1999, S. 353; Anita Fetzer, „Pragmatics as a linguistic concept“, in: Foundations of Pragmatics, hg. von Wolfgang Bublitz und Neal R. Norrick, Berlin/New York 2011 (Handbook of Pragmatics 1), S. 23–50, hier S. 25– 31; Jef Verschueren, „Introduction: The pragmatic perspective“, in: Key notions for Pragmatics, hg. von Jef Verschueren und Jan-Ola Östman, Amsterdam/Philadelphia 2009 (Handbook of Pragmatics Highlights 1), S. 1–27, hier S. 14–18.

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Wie die Forschung zu Echofragen in verschiedenen Sprachen zeigt,21 sind Echofragen kein auf eine historische Einzelsprache beschränktes Phänomen, sondern vielmehr eine sprachübergreifende Technik der zitathaften Reprise, die sich in unterschiedlichen Einzelsprachen findet. Dieser sprachübergreifende, nicht an eine einzelne historische Sprache gebundene Charakter der Echofrage ist ein wichtiges Argument für das Vorliegen einer Diskurstradition. Denn Diskurstraditionen sind als kulturelles Wissen unabhängig von Einzelsprachen und ihre Grenzen fallen nicht mit Sprachgrenzen zusammen. So umgreifen einige Diskurstraditionen, wie zum Beispiel Techniken des höflichen Bittens (Können Sie mir bitte die Wasserflasche herübergeben?), eine große Gruppe von Sprachgemeinschaften und reichen damit weit über eine einzelne Sprache hinaus. Die für die Technik des Echofragens in verschiedenen Sprachen verwendeten Mittel gehören in diesen Sprachen zum Repertoire der interrogativen Strukturen, die eine sehr ausgeprägte Affinität zur Versprachlichung von Frageakten haben. Als dialogische Technik sind Echofragen jedoch eine Diskurstradition der zitathaften Reprise, für die in den jeweiligen Einzelsprachen als sprachliche Mittel interrogative Strukturen selegiert werden. Damit sind Echofragen kein idiomatisches Wissen der deutschen oder spanischen Sprache, sondern gehören vielmehr zu einem kulturellen Wissen, über das Mitglieder verschiedener Sprachgemeinschaften verfügen.22 Die Echofrage ist demnach als Diskurstradition eine kulturelle Technik, die dem Sprecher dazu dient, die Rede des anderen distanzierend wiederaufzunehmen. Da diese distanzierte Wiederaufnahme eine beschränkte kommunikative Regresspflicht impliziert, liegt es nahe, dass in den verschiedenen Einzelsprachen auf interrogative Strukturen als präferierte Techniken des Fragens zurückgegriffen wird. Denn da Frageakte durch Appellkraft und begrenzte kommunikative Garantie charakterisiert sind, sind sie prädestiniert für interpretative Rede, die den Gesprächspartner um eine Klärung bittet und dabei zugleich die kommunikative Verantwortung minimiert. Diese Eignung erklärt das Faktum, dass Echofragen in verschiedenen Sprachen mit Interrogativsatzstrukturen als den zu Frageakten affinen sprachlichen Kodierungen realisiert werden. Die Tatsache, dass im Bereich der Echofrage einzelsprachliche Traditionen und Diskurstraditionen schwer trennbar erscheinen, liegt auch daran, dass der Terminus Echofrage eine Verwechslungsgefahr birgt. Denn der Begriff der Frage ist natürlich eng mit den Interrogativsatzstrukturen verknüpft, mit denen diese Technik realisiert || 21 Vgl. etwa Altmann (wie Anm. 1), S. 49; Wunderlich (wie Anm. 1), S. 44–46; Dumitrescu (wie Anm. 2), The Grammar of Echo Questions, S. 15–127; zu den romanischen Sprachen ebd., S. 107–127 und zum Spanischen ebd., S. 109–123. 22 Coseriu (wie Anm. 17), S. 172f., deutet Echofragen nicht als idiomatisches Wissen, sondern als Teil des expressiven Wissens. Nach Coseriu ist das Wiederholen der Frage zur Vergewisserung, dass man richtig verstanden hat, allerdings ein Grenzfall bei der Zuordnung zu den beiden Wissenstypen.

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wird. Und da Interrogativsatzstrukturen stets einzelsprachlich sind, erscheint die Echofrage fälschlich als einzelsprachliche Technik des idiomatischen Wissens. Zutreffender wäre es daher, von einer Technik des Echo f r a g e n s zu sprechen, da so der Status einer Diskurstradition des Sprechens deutlicher wird. Dieser Terminus verdeutlicht auch, dass diese Technik der distanzierenden Redewiederholung zugleich die Qualität eines Frageaktes hat: Der Sprecher stellt eine Äußerung distanznehmend ‘in Frage’ und zeigt an, dass die von ihm wiederholend aufgenommene Äußerung einer Klärung oder Erklärung bedarf. Dabei verbindet er mit diesem Fingerzeig einen Appell an den Gesprächspartner, eine entsprechende Klärung bzw. Erklärung zu liefern. Dieser mit (kritischer) Distanznahme angereicherte Fragecharakter ist der Grundwert des Echofragens. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von einzelsprachlichen Traditionen und Diskurstraditionen können Echofragen als mit einzelsprachlichen Strukturen realisierte sprachübergreifende Diskurstradition des interpretativ-polyphonen Sprechens präzise von anderen Fragetypen abgegrenzt werden. Analysiert man die sprachliche Gestalt von Echofragen – die segmentalen Strukturen, die Intonationskonturen – dann liegt der Fokus auf den einzelsprachlichen Traditionen und damit auf der Perspektive der einzelsprachlichen Pragmatik. Beschreibt man Echofragen dagegen als Techniken polyphon-interpretativen Sprechens und als Dialogstrategien, dann untersucht man die Echofrage als Diskurstradition und bewegt sich damit primär im Feld der kulturellen und diskurstraditionellen Pragmatik. Vor der Folie der drei Felder und Perspektiven der linguistischen Pragmatik wird auf diese Weise deutlich, dass Echofragen eine Diskurstradition des polyphon-interpretativen Sprechens sind, für die in den jeweiligen Einzelsprachen geeignete sprachliche Mittel selegiert werden.

5 Diskurstradition, Dialogmodell, Gattung Die drei Verwendungen der Echofrage stammen aus zwei Dialogen, die im Libro de Buen Amor eine Nachahmung lebendiger, spontaner Sprache leisten. Die Schnelligkeit der Repliken, die Aussparung von verba dicendi und die genuin mündliche Technik des Echofragens erwecken zunächst den Anschein, dass der literarische Text den Blick auf spontane Mündlichkeit und vielleicht sogar auf authentische gesprochene Sprache freigibt. Entscheidend ist jedoch, dass es sich in den Dialogen um eine fingierte Mündlichkeit und Lebendigkeit handelt. Denn literarische Texte bilden Mündlichkeit immer durch den Filter der mimetischen Repräsentation ab, sodass Spontaneität und Lebendigkeit keine Kopie der Sprachwirklichkeit, sondern eine literarische Komposition darstellen, in der sich Strukturen der gesprochenen Sprache mit Elementen verbinden, die im sprachlichen Alltag nicht vorkommen. Ein Element der Trotaconventos-Dialoge, das einen Sitz im Leben und im sprachlichen

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Alltag hat, sind die Echofragen, die den Dialogen nähesprachliche Mündlichkeit verleihen. Der Charakter der Inszenierung zeigt sich dagegen sehr deutlich im dritten und vierten Vers der Strophe 824. Diese Verse beinhalten eine Aparte-Rede der Kupplerin und geben pointiert das Dilemma wieder, dass die Kupplerin die für sie äußerst störende Doña Rama freundlich behandeln muss und ihrem Ärger nur hinter vorgehaltener Hand Luft machen kann. Die hier angewendete Aparte-Technik des Dramas ist eine Konvention, die es erlaubt, auf der Bühne die Gedanken einer Figur für den Rezipienten – nicht aber für die anderen dramatis personae – hörbar zu machen. Die unmittelbare Kombination des artifiziellen Aparte-Sprechens mit der Echofrage ist ein deutliches Indiz dafür, dass die spontane Lebendigkeit der Trotaconventos-Dialoge das elaborierte Resultat literarischer Gestaltung und damit ein Beispiel fingierter Mündlichkeit ist. Der im Aparte besonders deutliche Charakter der Inszenierung ist Beleg dafür, dass die drei Echofragen im Libro de Buen Amor keine Überreste authentischer gesprochener Sprache sind, die gleichsam zufällig den Übergang in den literarischen Text geschafft haben. Vielmehr sind es Elemente der Mündlichkeit, die gezielt eingesetzt werden, um Lebendigkeit und Spontaneität zu suggerieren. Das Libro de Buen Amor belegt damit die Feststellung von Wolf-Dieter Stempel, dass die Erzeugung von Mündlichkeit ein intentionaler Akt mit einer sprachreflektorischen Dimension ist.23 Nach Stempel ist die in literarischen Texten repräsentierte gesprochene Sprache kategoriell von ihrem natürlichen Status in alltagssprachlicher Mündlichkeit zu unterscheiden, da sie keine materielle Wiederholung der Sprachwirklichkeit darstellt, sondern vielmehr Bestandteil eines rhetorisch-stilistischen Verfahrens ist. Die literarische Simulation von Lebendigkeit zielt dabei nicht darauf ab, eine täuschend echte Kopie gesprochener Sprache zu liefern, sondern funktioniert vielmehr als Nachahmung, die sich zugleich als literarisch-rhetorisches Verfahren decouvriert. Wenn Elemente der gesprochenen Sprache in ein literarisches Werk überführt werden, dann werden sie nach Stempel zu „Zeichen zweiten Grades“,24 deren Aufgabe es ist, als einzelne Komponenten der Mündlichkeit pars pro toto die Gesamtheit mündlicher, dialogischer Interaktion im Text zu evozieren. Ein solches „Zeichen zweiten Grades“ bilden auch die Echofragen im Libro de Buen Amor.

|| 23 Wolf-Dieter Stempel, „Zur Frage der Repräsentation gesprochener Sprache in der altfranzösischen Literatur“, in: Mimesis und Simulation, hg. von Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Freiburg i.Br. 1998 (Rombach Wissenschaft, Reihe Litterae 52), S. 235–254, hier S. 237–239, 253; zum Problemfeld konzeptioneller Mündlichkeit in schriftlich überlieferten Texten vgl. Peter Koch, „Court Records and Cartoons. Reflections of Spontaneous Dialogue in Early Romance Texts“, in: Historical Dialogue Analysis, hg. von Andreas H. Jucker, Gerd Fritz und Franz Lebsanft, Amsterdam/Philadelphia 1999 (Pragmatics & Beyond, New Series 66), S. 399–429. 24 Stempel (wie Anm. 23), S. 238.

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Das Ziel, die Lebendigkeit gesprochener dialogischer Interaktionen wiederzugeben, ist dabei keine Konstante der Literatursprache, sondern eine historische Erscheinung, die nur bestimmte Gattungen und literarische Traditionen charakterisiert.25 Die zitierten Dialoge im Libro de Buen Amor sind durch literarische Traditionen geformt, die eine Nachahmung von Mündlichkeit und Lebendigkeit anstreben. Diese Zielsetzung charakterisiert nicht alle im Libro repräsentierten Gespräche, die sehr unterschiedlichen Dialogmodellen folgen und damit die im Libro omnipräsente, absichtsvolle Diversität rhetorischer Traditionen und Textgattungen abbilden. Die Dialoge mit Trotaconventos jedoch sind nach einem Dialogmodell gestaltet, das Lebendigkeit und Spontaneität simulieren soll. Dabei ist es kein Zufall, dass Trotaconventos die Konstante dieser Dialoge ist und dass sämtliche Echofragen aus ihrem Munde kommen. Denn das Geschäft der Trotaconventos sind nicht nur flinke Botengänge zwischen Mann und Frau, sondern auch die Kunst der schnellen Replik, mit der sie zögernden Männern und misstrauischen Frauen ihre Dienste aufzuschwatzen versteht. Die komödiantische Figurenkonstellation – die alte Kupplerin und die noch zögernde junge Frau – hat entscheidenden Anteil daran, dass in diesen Dialogpartien ein temporeicher, lebhafter Dialogstil gewählt wird. Dieses Profil der Technik des Echofragens bestätigt auch die Untersuchung Franz Lebsanfts zum Gebrauch der Echofrage in der Celestina, wo ebenfalls das komödiantische Potenzial dieser Reprise-Technik ausgeschöpft wird, und zwar interessanterweise ebenfalls in Dialogen, in denen die wortgewandte Kupplerin agiert.26 Die Analysen der Echofragen im Kontext der Dialoge und der sie prägenden Diskurstraditionen sind bereits ein deutlicher Fingerzeig darauf, dass das späte Auftreten dieser Reprise-Technik seine Erklärung nicht in der Sprachgeschichte hat, sondern vielmehr in der Geschichte der Diskurstraditionen der Dialoggestaltung wurzelt. Der Grund, weshalb sich keine Echofragen in den anderen literarischen Texten des Korpus finden, liegt nicht in den einzelsprachlichen Traditionen des Altspanischen begründet, sondern in den literarischen Diskurstraditionen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Denn die für die mittelalterliche Literatur zentralen Gattungen haben nicht das Ziel, in ihren Dialogen lebendig-spontane Rede zu imitieren, sondern verfolgen andere Zwecke. So geht es in einem altspanischen Heldenepos wie dem Cantar de mio Cid darum, die Protagonisten im Wechsel von Anrede und Erwiderung als dem vasallitischen System verpflichtete Rollenträger abzubilden; in den volkssprachlichen Heiligenviten eines Gonzalo de Berceo dienen die Dialoge dazu, christliche Wertesysteme zu thematisieren und heiligmäßiges Leben mimetisch zu repräsentieren. Die Texte des mester de clerecía wiederum, wie das Libro de Apolonio oder das Libro de Alexandre, illustrieren in den dialogischen Interaktionen höfische Normen und mögliche Konflikte im höfischen Wertesystem.

|| 25 Ebd., S. 237. 26 Lebsanft (wie Anm. 1), S. 278f., 283f., 286–289.

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In den prägenden Gattungen haben Dialoge also nicht das Ziel, lebendige Mündlichkeit zu repräsentieren, und zwar weder im Sinne einer alltagssprachlichen, der Natürlichkeit verpflichteten Gesprächsgestaltung, noch zum Zweck der Komisierung. Die Konsequenz ist, dass lebendig-spontane Rede, die dann auch Quellpunkt für genuin mündliche Strategien wie die Echofrage sein könnte, in den literarischen Gattungsmustern ganz überwiegend ausgespart wird. Das späte Auftreten der Technik der Echofragen in literarischen Texten des Mittelalters bildet damit keinen Prozess des Sprachwandels ab, sondern erklärt sich über einen Wandel im Bereich literarischer Gattungsmuster und ihrer Dialogmodelle. Da in Gattungen wie Heldenepos oder höfischer Roman das lebendig-dialogische Sprechen kein Ziel literarischer Gestaltung ist, finden Diskurstraditionen, die eine solche Dynamik transportieren, keinen Eingang in die fiktionalen Dialoge dieser Gattungen. Erst veränderte Gattungsmuster, die sich der Imitation spontaner Mündlichkeit öffnen, selegieren für die Dialoggestaltung Diskurstraditionen, die wie die Echofrage nähesprachliche Dynamik vermitteln und den Dialogen Tempo und Witz geben. Zusammenfassend gesagt: Die Seltenheit von Echofragen in altspanischen literarischen Texten ist nicht einzelsprachlich oder sprachgeschichtlich bedingt. Die Beleglage im altspanischen Textkorpus bildet keine sprachgeschichtliche Entwicklung in der von den Texten abgedeckten Zeitspanne ab. Auch lassen sich aus den spärlichen Belegen keine Rückschlüsse auf eine entsprechend geringe Verwendung dieser Technik im sprachlichen Alltag ziehen. Der Grund für die späten, auf einen Text begrenzten Belege der altspanischen Echofrage liegt vielmehr in den Gattungsmustern der mittelalterlichen spanischen Literatur und den von ihnen favorisierten Dialogmodellen. Aus diesen dominanten Maximen der Dialoggestaltung folgt, dass einzelsprachliche Mittel und Diskurstraditionen nähesprachlicher Mündlichkeit lange Zeit nicht für die Diskursdomäne der Literatur selegiert werden. Die Echofrage gehört damit zu denjenigen Diskurstraditionen der Mündlichkeit, die in der Alltagssprache verbleiben und nicht in die fiktionale Dialoggestaltung eingehen. Da das Libro de Buen Amor seine Ästhetik wesentlich aus der Engführung vielfältiger Gattungen und Diskurstraditionen bezieht, öffnet es sich auch der Rhetorik einer kunstvoll simulierten Lebendigkeit und verschafft der Echofrage auf diese Weise Zutritt zum von der Alltagssprache lange Zeit kategoriell abgegrenzten Bereich der Literarizität.

Elisabeth de Bruijn

Das Spiel der Stimmen Performative Verspassagen in einigen niederländischen Prosaromanen (ca. 1500–1540) In einer Vielzahl der zwischen ca. 1500–1540 hauptsächlich in Antwerpen gedruckten niederländischen Prosaromane finden sich eingeschobene versifizierte Passagen.1 Obwohl ein Vergleich mit Verserweiterungen in anderssprachigen Prosaromanen – etwa mit gereimten Prologen und Epilogen oder mit dem Phänomen der Prosimetren2 – naheliegt, sind die Grundformen der niederländischen Verspassagen sowie die Häufigkeit der Anwendung einzigartig. || Mein herzlicher Dank gilt Bart Besamusca, Frank Willaert und den Herausgebern dieses Bandes für ihre wertvollen Anmerkungen. 1 In der Forschungsliteratur findet sich eine Liste von Prosaromanen mit refreinen oder dramatischen Versen, von denen feststeht bzw. für die plausibel gemacht wurde, dass sie dem genannten Zeitraum zugeordnet werden können (die mit * gekennzeichneten Titel sind erschlossene Druckausgaben): Destructie van Troyen (Antwerpen: Roland van den Dorpe, ca. 1497–1500; Neuausgaben ca. 1508–1515 und 1541); *Strijt van Roncevale, ca. 1500 (Antwerpen: Roland van den Dorpe); Buevijn van Austoen (Antwerpen: Jan van Doesborch, 1504; Neuausgabe Adriaen van Berghen, 1511); Jan van Beverley (Brüssel: Thomas van der Noot, ca. 1512); Helias ([Antwerpen: Van Doesborch, ca. 1512– 1520]); Margarieta van Limborch (Antwerpen: Willem Vorsterman, 1516; Neudruck 1544); Floris ende Blanceflour (Antwerpen: Van Doesborch, ca. 1517); Peeter van Provencen (Antwerpen: Vorsterman, ca. 1517); Alexander van Mets (*Antwerpen: Van Doesborch, ca. 1516; ältester bekannter Druck 1645); Frederick van Jenuen (*Antwerpen: Van Doesborch, ca. 1518; einzig bekannter Druck: Antwerpen: Vorsterman, 1531); Mariken van Nieumeghen (*Antwerpen: Van Doesborch, vor ca. 1515; Antwerpen: Vorsterman, ca. 1515); Strijt van Roncevale (Antwerpen: Vorsterman, ca. 1520); Hughe van Bordeus (Antwerpen: Vorsterman, ca. 1540); Merlijn (Antwerpen: Symon Cock, ca. 1540); Verloren sone (Antwerpen: Vorsterman, 1540). Daneben gibt es Texte, die wegen ihres anekdotischen oder moralistischen Charakters nicht den Prosaromanen zugeordnet werden können, jedoch auch solche Versinterpolationen enthalten, wie Broeder Russche (Antwerpen: Van Berghen, ca. 1520); Pastoor te Kalenberghe (*Antwerpen: Van Doesborch, ca. 1521; älteste bekannte Ausgabe 1613) und Van den .x. esels (*Antwerpen: Van Doesborch, ca. 1531). Mit Bezug auf die Borchgravinne van Vergi (Antwerpen: Witwe Jacob van Liesveldt, 1558–1560) gibt es nach der Forschung von Rob Resoort keinen Grund mehr, eine Existenz im Forschungszeitraum zu unterstellen, doch die interpolierten refreinen (die sich teilweise in Van Doesborchs ca. 1528–1530 gedruckten refrein-Sammlung finden) machen den Text auch für ein Bild vom Zeitraum interessant, vgl. Rob Resoort, Een schoone historie vander borchgravinne van Vergi. Onderzoek naar de intentie en gebruikssfeer van een zestiendeeeuwse prozaroman, Hilversum 1988 (Middeleeuwse studies en bronnen 9). Auch im später überlieferten Malegijs (ältester bekannter Druck: Antwerpen: Jan van Ghelen, 1556) und in der Helena van Constantinopel (Antwerpen: Jan Gooswin, 1640) kommen Verse vor. 2 Der Begriff bezieht sich auf Texte, die teilweise in Versen, teilweise in Prosa geschrieben sind. Siehe für das Phänomen der Prosimetren im Allgemeinen: Prosimetrum. Cross-Cultural Perspectives

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Bei den Grundformen handelt es sich einerseits um interpolierte Lyrik, insbesondere um den refrein: eine Dichtform, die von den in städtischen Literaturgesellschaften vereinten rederijkers praktiziert wurde. Andererseits gibt es tatsächliche Versdialoge, die nicht nur wegen der Verwendung der direkten Rede, sondern vielmehr wegen der Präsentation in Rollentexten, manchmal sogar mit Sprecherangaben, besondere Beachtung verdienen. Wenngleich für die Versinterpolationen in einzelnen Werken in der Forschung verschiedene Erklärungen gegeben wurden, wie das Veranschaulichen von Emotionen, das Ausschmücken der Geschichte und das Appellieren an ein gebildetes Publikum, bleiben die Gründe für das Phänomen im Allgemeinen weitgehend im Dunkeln. Die meisten Prosaromane mit interpolierten Versen sind in das Forschungskorpus des flämisch-niederländischen Projekts The Changing Face of Medieval Dutch Literature in the Early Period of Print (1477–c. 1540) aufgenommen, in dessen Rahmen dieser Beitrag entstanden ist.3 Die Mehrzahl der niederländischen gedruckten Romane ist entweder auf eine in den nideren landen bereits in Handschriften bekannte handschriftliche Quelle oder auf eine anderssprachige, manchmal aus dem Ausland ‚importierte‘, gedruckte Quelle zurückzuführen. Gerade für die Erforschung der dramatischen Verse ist ein Vergleich mit den anderssprachigen Quellentexten – die diese Verse nicht enthalten – interessant. Wenn man die interpolierten Stellen genauer betrachtet, gelingt es vielleicht, die Gründe für die Interpolationen aufzudecken (siehe Tabelle 1).

|| on Narrative in Prose and Verse, ed. by Joseph Harris and Karl Reichl, Cambridge 1997. Ausgenommen des Strijt van Roncevale (Vorsterman, ca. 1520), dessen Erstdruck um 1500 bei Roland van den Dorpe angesetzt wird und dessen Prosimetrum das Resultat der Mischung von einer Versquelle mit einer Prosaquelle ist, handelt es sich bei den mittelniederländischen Versen sonst nicht um Relikte der Versromane, wie etwa bei einer Reihe von französischen Prosabearbeitungen „qui conserve[nt] des vers de l’original“, vgl. Georges Doutrepont, Les mises en prose des épopées et des romans chevaleresques du XIVe au XVIe siècle, Brüssel 1939, Nachdruck Genf 1969, S. 348–351, hier S. 348. Es gibt nur zwei Texte, die als reine Vertreter des Prosimetrums im Mittelniederländischen gelten können, und zwar die von Gheraert Leeu gedruckten Van den drie blinden danssen (1482) und Doctrinael des tijts (1486), die nach den französischen La dance des aveugles bzw. Doctrinal du temps von Pierre Michault übersetzt wurden, siehe: Peter J.A. Franssen, Tussen tekst en publiek. Jan van Doesborch, drukker-uitgever en literator te Antwerpen en Utrecht in de eerste helft van de zestiende eeuw, Amsterdam 1990, S. 104. 3 Es handelt sich um ein Kooperationsprojekt zwischen der Nederlandse Organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek (NWO) und dem Fonds Wetenschappelijk Onderzoek – Vlaanderen (FWO), das 2013–2017 an den Universitäten Utrecht und Antwerpen durchgeführt wird: http://changingface.eu/ (Stand: 24.02.2017).

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Destructie van Troyen

Antwerpen: R. van den Dorpe, [ca. 1497–1500]

P+V

Buevijn van Austoen

Antwerpen: J. van Doesborch, 1504

P+V+L

Helias

[Antwerpen: J. van Doesborch, ca. 1512–1520]

P+L

Peeter van Provencen

Antwerpen: W. Vorsterman, [ca. 1517]

P+V+L

Frederick van Jenuen

Antwerpen: W. Vorsterman, 1531

P+V

Verloren sone

Antwerpen: W. Vorsterman, 1540

V+P

Merlijn

[Antwerpen: S. Cock, ca. 1540]

P+V

Tab. 1: Übersicht über jene Texte aus dem Forschungskorpus, die auf eine anderssprachige Quelle zurückgreifen und deren Prosatext (P) mit Versen (V) oder Lyrik (L) abwechselt

In der ca. 1497–1500 bei Roland van den Dorpe gedruckten Destructie van Troyen zeigt sich erstmals die Tendenz, Verspassagen an mehreren Stellen in einen Prosatext einzufügen.4 Die Destructie van Troyen ist eine Anthologie aus Guido de Columnis’ Historia destructionis Troiae, deren wissenschaftlich-historiographischer Gehalt durch die eingeflochtene populäre Liebesgeschichte von Troylus und Briseda abgeschwächt wurde. Dieser Eingriff war vermutlich der Grund dafür, dass sie als einzige der drei niederländischen Troja-Erzählungen aus dem späten 15. oder frühen 16. Jahrhundert nachweislichen Erfolg hatte.5 Die Troylus und Briseda-Geschichte ist vermutlich eine Übersetzung des französischen Roman de Troïlus, der Pierre de Beauvau (ca. 1380–ca. 1436) oder seinem Sohn Louis de Beauvau (1418–1462) zugeschriebenen wird und der seinerseits auf Boccaccios Il Filostrato (ca. 1337–1339) zurückgeht.6 Im Gegensatz zum französischen Prosatext bestehen jene niederländischen Passagen, die von der Liebe zwischen Troylus und Briseda handeln, überwiegend aus Reimpaarversen. Die hier zitierten Abschnitte des französischen Prosatexts und des niederländischen Verstexts folgen auf die Passage, in der Troylus von seinem Vertrauten Pandaro/Pandro gebeten wird, ihm mitzuteilen, in wen er sich || 4 Die 1487 bei Geraerdt Leeu erschienene, in Reimpaarversen geschriebene Hystorie van Reynaert die vos enthält Kapitelüberschriften in Prosa, womit es in formalem Sinne auch einen Wechsel von Versen und Prosa gibt. Es handelt sich allerdings noch nicht um die für dieses Genre kennzeichnenden Interpolationen in Versen. Auch Coigneau betrachtet die Destructie van Troyen als das älteste Beispiel eines dramatisierten Romans, vgl. Dirk Coigneau, „Drama in druk, tot circa 1540“, in: Spel en spektakel. Middeleeuws toneel in de Lage Landen, hg. von Hans van Dijk und Bart Ramakers, Amsterdam 2001 (Nederlandse literatuur en cultuur in de Middeleeuwen 23), S. 201–214 und 352– 359, hier S. 208. 5 Wilma Keesman, „Troje in de middeleeuwse literatuur. Antiek verleden in dienst van eigen tijd“, in: Literatuur 4 (1987), S. 257–265, hier S. 264. 6 Siehe für diese Zuschreibung: Willem Kuiper, „Briseïda. De identiteit van een ‚middeleeuws‘ romanpersonage“, in: Simulacrum, het eigentijdse tijdschrift voor kunst en cultuur, themanummer Identiteit 12:3 (2004), S. 17–19. Auch online verfügbar: http://cf.hum.uva.nl/dsp/scriptamanent/ bml/Destructie_van_Troyen/Briseida_in_Simulacrum.pdf (Stand: 24.02.2017).

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verliebt habe. Da Briseda allerdings die Nichte von Pandaro/Pandro ist, traut Troylus sich zunächst nicht, ihren Namen zu nennen. Im Folgenden werden die französische Fassung und die niederländische Übersetzung vergleichend gegenübergestellt: Aucunement se demeure Troylus en souspens, et, depuis qu’il eut gecté ung grant souppir amer, t o u t l e v i s a g e d e h o n te l u y d e v i e n t r o g e c o m m e f e u ; p u i s l u i respondit: „A m y c h i e r , j e n ’ a y o s é n e e n d u r é j u s q u e s y c y , p o u r o c c a s i o n assez honneste, vous dire ne declairer ma grant ardeur, pour ce q u e c e l l e q u i m ’ a e n c e s t e s t a t c o n d u i t e s t v o u s t r e p a r e n t e.“ Lors se teut sans plus riens dire, mais sur le lit recheut adens, en musant le visage et en plorant de plus belle, à qui Pandaro dist: „O c o r d i a l a m y , d e f i a n c e v o u s a m i s a u c u e u r c e s t e s o u s p e ç o n e n v e r s m o y. Et laissez ses doloureux pleurs que vous faictes, car en puissé je mourir, si c’estoit ma propre seur, si vous en feroye je jouir à mon povoir! Levez vous tost et me dictes qui est ceste cy, affin que je m’en aille pour donner aucun remede à voustre desconfort, car je ne vouldroie autre chose, et, si la dame demeure à mon hostel, despeschez vous. Dictes le moy: car, si cest celle que voys pensant, ne croyez qu’il passe six jours que je ne vous oste hors ceste grande douleur.“ (Livre de Troïlus, 15. Jh.)7 T r o y l u s : O v r i e n t g h e t r o u w e. Jc en derfse niet noemen doer scaempten roede bi causen: sy is van uwen bloede ende herde na / elazen dus S o he e l d i c t g h e e r n e Pandro: O troylus / Hoe cleynen betrouwen hebdi op mij. Troylus: Jc kenne v secreet en vrij […]8 (Destructie van Troyen, ca. 1497–1500, fol. B6ra)9

|| 7 Nouvelles Françoises en prose du XIVe siècle, publiées d’après les manuscrits avec une introduction et des notes par MM. L. Moland et C. D’Héricault, Paris 1858, S. 139. Die Textausgabe folgt der Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale de France, Français 1467, Anc. 7546. ‚Also blieb Troylus in Gedanken versunken dasitzen, und nachdem er einen tiefen, bitteren Seufzer ausgestoßen hatte, wurde sein Gesicht vor Scham rot wie Feuer. Dann antwortete er: „Lieber Freund, ich habe es bis jetzt weder gewagt noch aufbringen können, aus einem höchst ehrenvollen Grund, Ihnen meine große Leidenschaft zu sagen oder zu erklären, denn diejenige, die mich in diesen Zustand gebracht hat, ist Ihre Blutsverwandte.“ Dann schwieg er und sagte nichts mehr. Doch sein Gesicht versteckend und stärker weinend, fiel er auf das Bett zurück. Pandaro sagte zu ihm: „O Herzensfreund, Argwohn hat Ihnen diesen Verdacht gegen mich ins Herz gelegt. Und lassen Sie die schmerzvollen Tränen, die Sie vergießen. Selbst wenn ich dadurch sterben könnte, wenn es meine eigene Schwester wäre, ich würde alles tun, damit Sie sich an ihr erfreuen könnten. Stehen Sie schnell auf und sagen Sie mir, wer diese ist, sodass ich Ihnen ein Remedium für Ihr Unglück geben kann, denn ich möchte nichts anderes; und, wenn diese Dame sich in meiner Wohnung aufhält, beeilen Sie sich. Sagen Sie es mir: denn, wenn Sie diejenige ist, an die Sie denken, glauben Sie nicht, dass sechs Tage vergehen werden, bevor ich Sie aus diesem großen Schmerz befreie.“‘ (Übersetzung E. de B.). 8 ‚Troylus: / „Ach getreuer Freund, / ich traue mich nicht, sie zu nennen, rot vor Scham; / deswegen: sie ist von Ihrem Blute / und Euch sehr nahe, ach! also / deswegen würde ich es gerne verheim-

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Die gesperrt markierten Zeilen zeigen, wie die französische Quelle in der Übersetzung durchschimmert. Ein Erzählerkommentar, etwa, dass Troylus’ Gesicht rot vor Scham wird (tout le visage de honte luy devient roge comme feu), ist in der niederländischen Übersetzung in den Sprechtext von Troylus selbst verarbeitet: Ic en derfse niet noemen doer scaempten roede (‚Ich traue mich nicht, sie zu nennen, rot vor Scham‘). Es fällt weiterhin auf, dass die Übersetzung verkürzt ist, was übrigens auch auf die Passagen in Prosa zutrifft. Doch das Auffälligste ist, dass der Inhalt der dramatischen Passagen im Quellentext auch schon in Dialogform steht, sodass der französische Text die Umsetzung in Reimpaarverse an diesen Stellen leicht auslösen konnte. Die Versinterpolationen können auch nicht aus der Übersetzung weggelassen werden; dafür sind sie zu eng mit der Geschichte verknüpft, wie es Luc Debaene auch für die Verse im Buevijn van Austoen festgestellt hat.10 Die Geschichte der zu Unrecht der Untreue beschuldigten Kaufmannsfrau des Frederick van Jenuen, deren Stoff es auch schon in Boccaccios Dekameron gibt, ist in den nideren landen nur durch einen 1531 bei Willem Vorsterman in Antwerpen gedruckten Prosaroman bekannt. Die englische, 1518 bei Jan van Doesborch erschienene Übersetzung Frederycke of Jennen, die auf einer niederländischen Vorlage beruht, bietet allerdings einen terminus ante quem für den Erstdruck des niederländischen Texts.11 Frederick van Jenuen hat eine niederdeutsche Quelle, die der ca. 1495 bei Simon Koch gedruckten Historie van twen kopluden am nächsten steht.12 Die eingeschobenen Verspassagen im niederländischen Druck sind unterschiedlichen Charakters: Es gibt getreue Wiedergaben des Quellentexts, Ausarbeitungen von Monologen oder Gedankenreden aus der Vorlage, und sogar freie, d.h. von der Vorlage unabhängige Einschübe.13 Ein Beispiel eines solchen freien Einschubs findet sich auf Blatt B1v des Frederick. An dieser Stelle versucht der Kaufmann Johann mithilfe einer bösen alten Frau den guten Namen der Gattin des Kaufmanns Ambrosius zu entehren. Die alte Frau bittet die Gattin, ihren Schatz in ihrem Schlafzimmer aufzubewahren. Dies verspricht die gutherzige Ehefrau ihr freundlich, nicht ahnend, dass Johann sich in || lichen.“ / Pandaro: / „Ach Troylus! / Wie wenig Vertrauen hast du in mich.“ / Troylus: / „ich kenne Sie als eine diskrete und großzügige Person.“‘ (Übersetzung E. de B.). 9 Online-Textausgabe: Diplomatische editie van het oudste exemplaar van ‚Die Hystorye vander Destrucyen van Troyen‘ gedrukt door Rolant vanden Dorpe te Antwerpen omstreeks 1500, hg. von Willem Kuiper, Amsterdam 2004; http://cf.hum.uva.nl/dsp/scriptamanent/bml/Destructie_van_ Troyen/Troylus_ende_Briseda_diplomatisch.pdf (Stand: 24.02.2017). 10 Luc Debaene, „Rederijkers en prozaromans“, in: De gulden passer 27 (1949), S. 1–23, hier S. 6. 11 Franssen (wie Anm. 2), S. 26. 12 Siehe auch für die Textausgabe: Rita Schlusemann, „Wechselseitige niederdeutsch/niederländische Literaturbeziehungen in der frühen gedruckten Erzähldichtung. Mit einer Edition des Magdeburger Drucks der Historie van twen kopluden (um 1495)“, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 125 (2002), S. 97–130, hier S. 113. 13 Textausgabe: Van heer Frederick van Jenuen, hg. von Willy L. Braekman, Sint-Niklaas 1980, S. 8.

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der Schatztruhe versteckt hat und somit intime Details erfahren und später preisgeben kann, die ihre Ehrbarkeit verletzen könnten. Der niederländische Redetext der Gattin steht dem niederdeutschen sehr nahe, enthält aber einen zusätzlichen Erzählerkommentar (‚Dann war das böse alte Weib in ihrem Herzen außer sich vor Freude, und sagte [...]‘). Überflüssigerweise wird danach eine Sprecherangabe, Dat oude wijf, mit Paragraphenzeichen hinzugefügt, worauf die alte Frau in Monologversen erzählt, wie froh sie ist, dass sie durch die List 300 Gulden erworben hat. Um die böse Tat der Frau zu verurteilen, wird ausnahmsweise ein actoer aufgeführt. Die Figurenrede der Frau und der Kommentar des actoers bilden gemeinsam ein strophisches Gedicht mit dem Reimschema aabaabbbcc, was den unabhängigen und formal geschlossenen Charakter des Einschubs unterstreicht. De frowe sede vth gotliker leue / dat wyl ick gerne dn / Vnde wilde noch in mine eygen slapkamer settē. vppe dat se deste beth bewaret sy. (Historie van twen kopluden, ca. 1495, fol. A5v)14 Dat wil ic gheerne doen sprac ambrosius wijf met goeder hertē e ic salse stellē in mijn slaepcamer op datse te badt bewaert mach zijn. Doen was dat valsche oude wijf wter maten seer van herten verblijt e seyde. ¶ Dat oude wijf. Mijn herte en soude niet meer vruechden hebben connen Tis wel gheclapt ghelopen geronnen Door mijn bepeysen. Ic heb immer drie hondert gulden ghewonnen Tis beter dan gesponnen hi salse my wel ionnen Vvant sonder vereysen Sal hi comen tot goeder reysen Na zijn begheerten wat willen wi ons veysen Tis wel bestiert tis dat mi vromen mach Mijn leefdaghe lanc bi datter arger af comen mach ¶ Die actoer15 O iudas bloet wat broudi dangieren O valsche verraetschap wat condi bestieren Ouer eender vrouwen. Och oude bacpanne hoe condijt hautieren16 Soo eerbaer herten met valscheyt scoffieren Och wat condi brouwen Ach sduyuels ketsmerye vol ontrouwē Dits v bedrijf door die penningē root van gouwen

|| 14 ‚Die Frau sprach aus Freundlichkeit: „Das will ich gerne machen. Und ich will sie sogar noch in mein eigenes Schlafzimmer setzen, sodass sie noch besser bewahrt bleibe.“‘ (Übersetzung E. de B.). 15 Im Druck steht die Bezeichnung Die actoer rechts neben dem Vers O iudas bloet wat broudi dangieren. In der Edition wird dieser Vers als Schlusssatz des üblen Weibes angesehen, vgl. Braekman (wie Anm. 13), S. 27. Reimschema und Stil sprechen allerdings dafür, den Vers O iudas bloet wat broudi dangieren als Redetext des actoers zu betrachten. 16 hantieren (Druckfehler in Vorlage).

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Arger dan die duyuel int helsch verstringhen Dat niet in zijn macht is kondi toe brengen Och valsch wijf waerom gaet ghi bedrieghen17 Een goede vrou die duyuel sal v noch wiegen Dit doet dat ghelt. Hoe gaedi dus god e v selvē lieghen Lazen die viant sal noch met v siel gaen vlieghen Die v nv quelt. Tis māmoen dye duyuel der ghiericheyt helt Die die gierige in groot dangier stelt Ghi waert beter verbrant verblaect aen staken Dan een goede vrouwe dus ter schanden maken. (Frederick van Jenuen, 1531, fol. B1v–B2r)18

Es gibt weiterhin einige Stellen, in denen die Sprechakte der Figuren rasch aufeinander folgen, etwa wenn der Verrat ans Licht gekommen ist, Ambrosius und seine Frau wieder vereint sind und sie sich vom König von Genua verabschieden. Die von mir mit Klammern markierten Reimwörter zeigen das – hier zwar nicht konsequent durchgeführte – Phänomen der Reimbrechung, ein Stil- und Hilfsmittel, das man auch im Drama des Spätmittelalters häufig antrifft, wobei der Sprechtext eines Schauspielers sich mit dem letzten Satz des vorigen Spielers reimt. Daneben finden sich zahlreiche Wortkulissen (Ortsbeschreibungen in der Figurenrede, in der folgenden Textpassage gesperrt markiert), wie ‚ich sehe den Steuermann‘ und ‚Innerhalb von einem Tag / Segle ich so wohl dreihundert Meilen‘.

|| 17 Wegen des Reimschemas sollte hier ein neuer Absatz beginnen. 18 ‚„Das will ich gerne machen“, sprach Ambrosius’ Eheweib gutherzig „ich werde ihn [den Schatz] in mein Schlafzimmer stellen, damit er besser aufbewahrt sein wird.“ Da war das böse alte Weib in ihrem Herzen außer sich vor Freude und sagte: / ¶ Das alte Weib / „Mein Herz könnte nicht mehr Freude haben, / es hat wohl geklappt, ist gut gelaufen, gut ausgegangen / durch meinen Plan. / Ich habe ja dreihundert Gulden gewonnen; / es ging besser als gedacht, er wird sie mir wohl gönnen. / Denn unbekümmert / wird er seine Absicht erreichen, / so wie er will; wieso sollten wir heucheln? / Es ist wohl so gelenkt; das, was aus diesem Übel herauskommen wird, soll mir mein Leben lang nützen.“ / ¶ Der Actor / „O Judas’ Blut, was stiftest du Gewalt! / O, falscher Verrat, was konntest du erreichen / mit Hilfe einer Frau? / Ach, alte Bratpfanne, wie hast du so vorgehen können, / ein so ehrenhaftes Herz mit Falschheit zu missbrauchen? / Ach, was hast du anrichten können, / ach, teuflisches Hetzen, voller Untreue? / Das ist Ihr Werk, um der rot-goldenen Pfennige willen / schlimmer als der Teufel in höllischen Intrigen. / Was nicht in seiner Macht ist, hast du zustande bringen können. / Ach falsches Weib, warum wollten Sie eine gute Frau betrügen? Der Teufel wird Sie noch wiegen; / das macht das Geld. / Wie konnten Sie so Gott und sich selbst verleugnen? / O weh, der Feind, der Sie jetzt in die Enge treibt, wird noch mit Ihrer Seele davon fliegen! / Es ist Mammon, der Teufel, der Held des Geizes, / Der den Geizhals in große Gefahr führt. / Sie wären besser verbrannt, versengt an einer Stange / als dass Sie eine gute Frau so zur Schande machen.“‘ (Übersetzung E. de B.).

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¶Ambrosius Wi willen tschepe ic sie den stierman. hi bereet hem om varen ¶die vrouwe Soo vraecht hem schier dan Oft hi ons wil verurachten ¶Ambrosius Hoort schipper hoort wilt ons berechten Vvaer dat ghi vaert ons dat verclaert ¶die schipper. Ic waer gheerne tot italien waert. ¶Ambrosius Vvilt ons dan vueren wi bidden daeromme Vvi sullen v gheven van ghelt een somme. Ghi wordes te beter wel seuen iaren ¶die schipper. Vvel aen sonder sparen Treet in laet ons gaen varen. het wayt wayt van storme een groote vlage. Laet driuen tschip voor wint voor waghe Binnen eenen daghe. Seyl ic dus wel drie hondert milen. Wi sullen l a n d e n i n c o r t e r w i l e n Lof heb god van sueten lauene ic sie hier van ienuen een hauene Van italien isse een schoone stadt. ¶Ambrosius. W i w i l l e n t e l a n d e h o u t s c h i p p e r d a t. Ende ist te luttel twert noch verschoont. ¶Die schipper Ic segghe duysentfout god loont. Noyt reyse en moecht mi badt betaelt zijn ¶Ambrosius Lief laet besien hoe sullen wi onthaelt zijn Van vrienden van magen want niemant van v sal weten. Men seyt v lange door verrot vergheten Men sal wonderlic toe sien (Frederich van Jenuen, 1531, fol. E3r–E3v)19

|| 19 ‚¶Ambrosius: „Wir wollen ins Schiff, ich sehe den Steuermann. Er macht sich bereit, um zu fahren.“ ¶Die Frau: „Also, frage ihn dann schnell, ob er uns verfrachten möchte.“ ¶Ambrosius: „Hört, Schiffer, hört, wollen Sie uns berichten, wohin Sie fahren, erzählen Sie uns das.“ ¶Der Schiffer: „Ich fahre bis Italien hin.“ ¶Ambrosius: „Wollen Sie uns dann mitnehmen, wir bitten darum, wir werden Ihnen eine Summe Geld geben. Sie werden damit wohl sieben Jahren besser leben können.“ ¶Der Schiffer: „Wohlan, ohne zu zögern, tretet ein, lasst uns fahren. Es weht, weht von Sturm ein kräftiger Stoß. Lass das Schiff treiben vor dem Wind, auf den Wellen. Innerhalb von einem Tag segle ich so wohl dreihundert Meilen. Wir werden in Kürze anlanden. Gott sei gelobt für die süße Labung. Ich sehe hier einen Hafen, von Genua von Italien, es ist eine schöne Stadt.“ ¶Ambrosius:

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Sollten solche dramatischen Einschübe darauf hinweisen, dass wir es ursprünglich mit einem Schauspiel zu tun haben? Der actoer – als auctor (Autor) und nicht als Akteur zu verstehen – ist eine kommentierende Stimme, die nicht unbedingt mit dem formellen Kontext eines Schauspiels verbunden ist, sondern auch in anderen textuellen Kontexten auftreten kann, wobei das ‚Auftreten‘ eines actoers dann zu einer Dramatisierung des Textes führt.20 In anderen Texten aus dem frühen 16. Jahrhundert finden sich ebenfalls actoers, etwa im Vanden jongen geheeten Jacke, in dem sogar der Erzählertext (vgl. ‚„möge Gott Ihnen lohnen“, sagte der alte Mann‘) mit Sprecherangaben (‚Der alte Mann:‘) versehen wurde. Hinzu kommt, dass sich die Verse Vvel aen sonder sparen bis ic sie hier van ienuen een hauene im zweiten Beispiel nahezu wörtlich im Roman Alexander van Mets finden lassen, wo sie laut Debaene ursprünglich herstammen.21 Die Tatsache, dass solche Passagen offensichtlich austauschbar sind, wäre eher ein Indiz für die schriftliche Tradierung dramatischer Verse. Überdies ist man sich in der Forschung darüber einig, dass die Versdialoge eine ‚dramatische Lesart‘ bewirken sollten, wobei das Publikum angeregt wurde, die Geschichte auf eine Weise zu lesen, als ob sie sich auf der Bühne abspiele.22 Jedoch ergibt das Inventar der Prozessionsgesellschaft Sint-Kathelijne ter Hoeyen aus Gent aus dem Jahre 1532 einen möglichen Spielbeleg des Stoffs: Neben Möbeln und Kostbarkeiten werden 21 Spiele aufgelistet, von dem das letzte als Item het spel van II cooplieden angedeutet wird (Abb. 1).23 Dieser Titel entspricht dem des niederdeutschen Drucks. Auch wenn wir den Inhalt des Spiels nicht kennen, handelt es sich vermutlich um den gleichen Erzählstoff. Dies wird ebenfalls durch die Chronologie nahegelegt, denn der Vorsterman-Druck ist ein Jahr zuvor, 1531, erschienen und es ist in der Forschung plausibel gemacht worden, dass es schon 1518 bei Van Doesborch einen Druck gegeben haben muss.24

|| „Wir wollen an Land, Schiffer, nimm dies. Und wenn es zu wenig ist, wird es noch erhöht werden.“ ¶Der Schiffer: „Ich sage, Gott lohne es tausend Mal. Niemals wurde mir eine Reise besser bezahlt.“ ¶Ambrosius: „Lieb, lass uns sehen, wie wir empfangen werden sollen von Freunden und Kumpanen, denn niemand wird von Ihnen wissen. Man sagt, dass Sie durch die lange Zeit ganz und gar vergessen sind. Man wird erstaunt schauen.“‘ (Übersetzung E. de B.). 20 Anneke Fleurkens, Stichtelijke lust. De toneelspelen van D.V. Coornhert (1522–1590) als middelen tot het geven van morele instructie. Hilversum 1994. 21 Luc Debaene, De Nederlandse volksboeken. Ontstaan en geschiedenis van de Nederlandse prozaromans, gedrukt tussen 1475 en 1540, Antwerpen 1951, Nachdruck 1977, S. 31. 22 Vgl. Bart Ramakers und Hans van Dijk, „Spel en spektakel. Ter inleiding“, in: van Dijk/Ramakers (wie Anm. 4), S. 27; und Coigneau (wie Anm. 4), S. 213. 23 Frank G. van der Riet, Le théâtre profane sérieux en langue flamande au moyen âge, Den Haag 1936, S. 136. 24 Franssen (wie Anm. 2), S. 26.

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Abb. 1: Inventar der Prozessionsgesellschaft Sint-Kathelijne ter Hoeyen, Gent 1532, Gent, Universiteitsbibliotheek, Hs. 2471, fol. 7v–8r

Es gibt eine Anzahl weiterer Spielbelege, wobei bereits festgestellt wurde, dass deren Titel denen der gedruckten Romane entsprechen.25 Man muss dazu anmerken,

|| 25 Einige Beispiele gibt Resoort (wie Anm. 1), S. 171. Siehe für einen ausführlichen Überblick von weltlichen Schauspielbelegen: Dieuwke van der Poel, „De voorstelling is voorbij. Vermeldingen van wereldlijk toneel en de casus van Strasengijs“, in: van Dijk/Ramakers (wie Anm. 4), S. 111–132 und 332–339, hier S. 115–122. Einige von diesen Spielen stimmen mit den Titeln von gedruckten Romanen überein: 1444 wurde von den ‚ghesellen van der Kercken‘ in Deinze (Flandern) ’t Spel van den wijghe van Ronchevale aufgeführt (entspricht Strijt van Roncevale); für 1450 ist ein Lübecker Fastnachtspiel wo koningk Karl steken vor mit Ollegaste belegt (entspricht Karel ende Elegast, vgl. Elisabeth de Bruijn, „Steken, stelen of spelen? Een pleidooi voor een dramatische lezing van de Middelnederlandse Karel ende Elegast“, in: Madoc. Tijdschrift over de Middeleeuwen 22 (2008), S. 2–11); 1484 haben die ‚gheselle van Deinze‘ in Tielt een groet spel van Florijsse ende van Blanchefloere auf die Bühne gebracht (entspricht Floris ende Blanceflour; in der Forschungsliteratur findet man häufig die Jahreszahl 1483, doch aus der Quelle geht hervor, dass das Spiel erst 1484 aufgeführt wurde, vgl. Elisabeth de Bruijn, „Give The Reader Something to Drink: Performativity in the Middle Low German Flos unde Blankeflos“, in: Neophilologus 96 (2012), S. 81–101, hier S. 94); 1498 führten die ‚ghesellen van rethorijke van Petegem‘ in Deinze (Flandern) een scoen spel van Gryselle auf; ein anderes Griseldis-Spiel wurde 1556 von der rederijkerskamer ‚De Groyende‘ in Lier (Brabant) vorgeführt; von

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dass es um einen sehr populären Erzählstoff geht und dass es daher nicht unbedingt eine direkte Verbindung zu den gedruckten Romanen geben muss. Es liegt auf der Hand, dass Drucker vor allem populäre Geschichten druckten. Allerdings kann man, gerade im Falle von Frederick van Jenuen, doch nähere Beziehungen zwischen dem Drucker und den Spielgesellschaften annehmen. Es lässt sich plausibel vermuten, dass die Verfasser dramatischer Verspassagen in den Kreisen der hier als ‚ghesellen‘ angedeuteten Spielgesellschaften gesucht werden müssen, die sich als rederijker einen großen Namen machten. Es gab in den nideren landen des 15. und 16. Jahrhunderts – vor allem in den südlichen Regionen – städtische Gesellschaften oder Gilden von Dichtern, die als rederijkers bekannt geworden sind – nach dem französischen Vorbild des rhétoriqueur. Sie vereinten sich in rederijkerskamers, in denen hauptsächlich Lyrik (vor allem sog. rederijkersrefreinen) und Theaterstücke produziert und aufgeführt wurden. Es ist daher naheliegend, dass die Verfasser der dramatischen Versdialoge rederijkers gewesen sind. Auch die zwei berühmtesten gedruckten dramatischen Texte, Mariken van Nieumeghen und Elckerlijc, sind von rederijkers verfasst worden.26 Elckerlijc besteht vollständig aus mit Rollenangaben versehenen Versen wie auch Mariken (mit Ausnahme der manchmal ziemlich ausführlichen ProsaÜberschriften). Während es sich bei Elckerlijc tatsächlich um ein Schauspiel (genauer: eine dramatisierte Moralität) handelt, ist die communis opinio bezüglich Mariken allerdings, dass der Text wegen der Präsentation wie ein Prosaroman als ein sogenanntes ‚Lesedrama‘ gelten darf (d.h., dass der Text nicht im Hinblick auf eine Aufführung verfasst wurde, sondern auf eine Weise gelesen werden sollte, als ob sich das Geschehen vor den Augen der Zuschauer abspiele).27 Diese Beispiele zeigen, dass es ein breites Spektrum an Dramatisierung gibt: von einigen dramatischen Einschüben bis hin zu einem nahezu vollständig dramatischen Text.

|| 1502 bis 1563 führte die rederijkerskamer ‚Het Vreuchdendal‘ in Breda außerdem fast jährlich das Spel van Aymynskinderen (entspricht Heemskinderen) auf, vgl. Jan te Winkel, De ontwikkelingsgang der Nederlandsche Letterkunde II. Geschiedenis der Nederlandsche letterkunde van Middeleeuwen en Rederijkerstijd, Bd. 2, Haarlem 1922, S. 393. 26 Siehe für eine deutsche Übersetzung von Elckerlijc und Kommentar zur rederijker-Kultur: Elckerlijc–Jedermann, hg. und übersetzt von Clara Strijbosch und Ulrike Zellmann, Münster 2013 (Bibliothek mittelniederländischer Literatur 6), S. 89. Da Elckerlijc (Erstdruck ca. 1495/1496) anders als Mariken van Nieumeghen überhaupt keine Prosapassagen enthält und somit wie Lansloet ende Sandrijn (Erstdruck ca. 1486) zur Gattung Drama gehört, ist er nicht in das Korpus des Projekts aufgenommen. Das Fehlen der Prosapassagen erklärt Debaene damit, dass es vor dem Jahre 1500 noch nicht die Tradition gab, Verse und Prosa abzuwechseln, vgl. Debaene (wie Anm. 10), S. 23. 27 Mariken van Nieumeghen & Elckerlijc. Zonde, hoop en verlossing in de late Middeleeuwen, vertaald door Willem Wilmink, met een inleiding en een teksteditie door Bart Ramakers, Amsterdam 1998 (Nederlandse klassieken 13), S. 29–33. Siehe für den Gattungsbegriff ‚dramatisierte Moralität‘ die Edition Elckerlijc–Jedermann (wie Anm. 26), S. 88f.

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Eine Wechselbeziehung zwischen den Druckern bzw. Verfassern von Prosaromanen und den rederijkers wird in der Forschung vorausgesetzt, und zwar nicht nicht nur wegen der dramatischen Verspassagen, die ihre Kulmination in dem den rederijkers zugeschriebenen Lesedrama Mariken van Nieumeghen und dem Theatertext Elckerlijc fanden, sondern auch wegen der lyrischen Interpolationen. Im lyrischen Genre widmeten die rederijkers sich hauptsächlich den refreinen, strophischen Gedichten mit jeweils der gleichen Schlusszeile, deren letzte Strophe an den princen, den Vorsitzenden einer rederijkerskamer gerichtet ist. Eine dieser refreinSammlungen wurde ca. 1528–1530 von Jan van Doesborch (dem Herausgeber vieler Prosaromane) gedruckt.28 Rederijkers-Texte erschienen ebenfalls bei den Druckern Willem Vorsterman und Thomas van der Noot, wenn auch, paradoxerweise, grundsätzlich nur wenig rederijkers-Texte in die Druckerpresse gelangten: Die rederijkers bevorzugten Handschriften, da das Drucken von Texten laut ihrer poetologischen Auffassungen ein Indiz für flüchtigen, vergänglichen Ruhm und Eitelkeit war.29 Umgekehrt finden sich in einigen – größtenteils handschriftlich überlieferten – rederijkersrefreinen viele Namen der aus Prosaromanen bekannten Hauptfiguren, wie Troylus und Briseda, Paris und Vienna, Floris und Blanceflour, Lansloot und Sandrine.30 Drucker und rederijkers schöpften offenbar aus denselben literarischen Quellen. Herman Brinkman hat darauf hingewiesen, dass eine Querverbindung zwischen den beiden Gruppen auch durch archivalische Quellen gestützt wird. Der Brüsseler Drucker Thomas van der Noot, der Texte einiger namentlich belegter rederijkers

|| 28 Erst im letzten Jahrzehnt hat Johan Oosterman auf ein 1495 vermutlich beim Antwerpener Drucker Govaert Bac erschienenes Gebetbuch mit fünf refreinen hingewiesen, das das früheste Zeugnis einer rederijkersrefrein-Sammlung darstellt, siehe: Johan Oosterman, „De bakermat van Anna Bijns. Literatuur in Antwerpen omstreeks 1493“, in: Literatuur 13 (1996), S. 155–160. Auffälligerweise kommt einer dieser refreinen, ein Lobgedicht auf Maria, wörtlich in Frederick van Jenuen vor. Siehe für die Beziehung zwischen rederijkers und Druckern auch: Herman Brinkman, „De const ter perse. Publiceren bij de rederijkers voor de Reformatie“, in: Geschreven en gedrukt. Boekproductie van handschrift naar druk in de overgang van Middeleeuwen naar moderne tijd, hg. von Herman Pleij, Joris Reynaert u.a., Gent 2004, S. 157–175, hier S. 159f. 29 Vgl. Herman Pleij, „De betekenis van de beginnende drukpers voor de ontwikkeling van de Nederlandse literatuur in Noord en Zuid“, in: Spektator 21 (1992), S. 227–263, hier S. 234. Laut Pleij ist die Existenz der rederijkers die Ursache für die späte Entwicklung (d.h. erst am Anfang des 16. Jahrhunderts) des südlichen volkssprachig-literarischen Buchmarkts. Dass rederijkerskamers geschlossene Gesellschaften waren, zeigt sich zum Beispiel auch daran, dass das Theaterrepertoire verschlossen aufbewahrt wurde und Spielrollen nachher wieder eingesammelt wurden; außerdem war es den Schauspielern verboten, vorher Informationen über die Spiele preiszugeben, vgl. Coigneau (wie Anm. 4), S. 207. 30 Siehe Cornelis H.A. Kruyskamp, De refreinenbundel van Jan van Doesborch, 2 Bde., Leiden 1940 (Leidsche drukken en herdrukken. Kleine Reeks 2), Bd. 1, S. XVI. Vgl. für die Namen etwa die refreinen LVI, LXII und LXVIII in: ders., Bd. 2, S. 106–110, 116–118, 125–127.

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herausgab, war Mitglied der lokalen rederijkerskamer ‚Den Boeck‘.31 An einem 1488 erschienenen Dokument hat Brinkman demonstriert, dass es ein Vertrauensverhältnis zwischen den berühmten Druckern Gheraert Leeu und Christiaen Snellaert, wie auch zwischen beiden Druckern und dem rederijker Jan Casus gegeben hat.32 Alle waren zur gleichen Zeit Mitglied der Antwerpener St.-Lucasgilde. Wenn der Drucker Christiaen Snellaert mit einem gewissen Kerstiaen, de printere identifiziert werden darf, dessen Name ein Jahr später als Leeu in die Antwerpener Lucasgilde eingetragen wurde, erklärt dies möglicherweise zugleich, warum der erste Druck des rederijker-Spiels Elckerlijc schon 1494–1495 bei Snellaert in Delft erschien.33 Ein Neudruck des Spiels wurde von Godevaert Bac herausgegeben, der Mitglied der gleichen Gilde war.34 Die literarischen Spuren der rederijkers sind also nicht konkret dokumentiert, doch scheinen sie sich vorwiegend verdeckt in der gedruckten Literatur zu finden, zum Beispiel im Schauspiel Elckerlijc, wo in der Mitte der dramatischen Reimpaarverse ein rederijker-Gedicht eingeflochten wurde35. Bei den Romanen finden sich vorwiegend die charakteristischen refreinen in unterschiedlicher Anzahl. Neben den anfangs genannten übersetzten Romanen Buevijn, Helias und Peeter van Provencen enthalten auch Floris ende Blanceflour, Alexander van Mets und Borchgravinne van Vergi refreinen.36 Aus Platzgründen wird hier nur der Helias als Beispielfall besprochen. Die Geschichte vom Schwanenritter Helias ist in dem hier berücksichtigten Zeitabschnitt nur in einem Fragment überliefert, das die Reste eines refreins enthält (Abb. 2). Der Text dieses Fragments ist dem eines späteren Drucks aus dem Jahr 1651, der elf refreinen enthält, sehr ähnlich. Wir können uns deshalb ziemlich sicher sein, dass es diese elf refreinen schon in dem frühen Druck gegeben hat. Auch für einen Vergleich mit dem Quellentext können wir diesen späteren Druck heranziehen. In der Forschung findet man unterschiedliche Ansichten über die Rolle der refreinen. Es handle sich um überflüssige Abschweifungen des Figurentexts37,

|| 31 Es handelt sich um Texte der Autoren Jan Smeken, Jan van den Dale und Jan Pertcheval, siehe Brinkman (wie Anm. 28), S. 159. 32 Ebd., S. 162. 33 Ebd., S. 163. 34 Ebd., S. 164. 35 Die ältere Forschung betrachtet das Gedicht als ein refrein. Nach Auffassung der jüngeren Forschung ist es zu kurz, um als refrein gelten zu können und der Terminus ‚Ballade‘ wäre besser geeignet, vgl. den Kommentar zu den Versen 535–563 in der Edition Elckerlijc–Jedermann (wie Anm. 26), S. 46. Außerdem sind am Ende des Elckerlijc zwei Rondelle eingeflochten worden, vgl. den Kommentar zu den Versen 823–830 und 831–838 auf S. 70f. 36 Siehe für die Angaben zu den Quellen Anm. 1. 37 Debaene (wie Anm. 21), S. 81.

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Monologe, in denen Figuren ihre Emotionen ausdrücken38 oder Monologe, die der Geschichte einen moralischeren und religiöseren Anstrich verleihen.39

Abb. 2: Fragment des Helias, Antwerpen: Van Doesborch, ca. 1512–1520, Gent, Universiteitsbibliotheek, BIB.ACC.025068

Von den elf refreinen sind sieben direkt an Gott gerichtet. Es handelt sich um sogenannte refreinen int vroede, d.h., dass sie ein ernstes, religiöses Thema haben. Wenn man sich diese sieben refreinen näher ansieht, zeigt sich, dass sie sich alle von der

|| 38 Franssen (wie Anm. 2), S. 47. 39 Geert H.M. Claassens, De Middelnederlandse kruisvaartromans, Amsterdam 1993 (Thesaurus 4), S. 332.

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direkten Rede im englischen oder französischen Quellentext inspirieren ließen.40 In den meisten Fällen handelt es sich um Gebete, etwa beim neunten refrein. In dieser Passage ist Helias gerade in einem Kampf verletzt worden. In einem Gebet fleht die Königin Beatris Gott an, ihrem Sohn Helias beizustehen. Es ist auffällig, dass manche Wörter aus dem Quellentext in die niederländische Übersetzung wörtlich eingearbeitet sind (vgl. die gesperrt wiedergegebenen Sätze mit dem englischen Text). And whan the quene sawe that, she was ryght sory at her herte. Wherfore she prayed mekely vnto God and His holy moder that it wolde please them to socour her poore chylde, that susteyned veryte, and proclamed her voyce, saynge, „Souerayne God of paradyse, That gaue vyctory vnto the chyldren of Israhell agaynst the frowarde Pharaon that vniustly helde them in captyuyte: I praye The, yf it please The, to gyue vyctory to my sone, the whiche it hath pleased The to sende hyder for to delyuer me out of pryson, and reproue the treason and falsenesse that wyckedly and with wronge was propenced agaynst me, as Thou knowest the trouthe.“ (Helyas, knight of the Swanne, ca. 1512) 41 Als dat Beatris sach, werdt sy vervaert, ende badt Godt dat hy h a r e n s o n e w i l d e b y s t a e n , e n d e h e l p e n h e m d i e d e r e c h t e sa e c k e h a d d e , e n d e s e y d e : / „Vader, Sone, heyligh Geest, een waerachtich G o d t , Die victorie ghaeft den kinderen van Israel Teghen Pharao diese onrechtveerdich hiel in slot A l s g h e v a n g h e n , v e r l e e n t der gratien lot / V a n v i c t o r i e n m i j n e n z o n e , int ghequel / Den verrader te brenghen, wiens valsch opstel, / Teghen my oppeneert om mijn diffamatie, / Ghy hebt [hem] my g h e s o n d e n uyt liefden snel, / Dus bid ick u Heer te deser spatie, / Om victorie te krijghen, jont hem gratie.“ (Helias, ca. 1512–1520)42

|| 40 Franssen (wie Anm. 2), S. 44–47 meinte, dass der niederländische Druck auf eine englische Quelle zurückzuführen ist, die ihrerseits wieder eine Übersetzung aus dem Französischen darstellt. Der Druck London: Wynkyn de Worde, ca. 1512 steht dem niederländischen sehr nah. Doch Franssens Beispiele sind philologisch nicht zwingend: Die These der älteren Forschung, dass Helias auf eine französische Quelle zurückführt (editio princeps Paris, Jean Petit, ca. 1500) ist immer noch plausibel. Eine Publikation über die Quellenfrage habe ich in Vorbereitung. 41 Zitiert nach: Wynkyn de Worde and his 1512 edition of helyas, knight of the Swanne, hg. von Stanley Lombardo, Indiana University 1976, S. 75. ‚Und als die Königin das sah, tat es ihr von Herzen sehr Leid. Deswegen bat sie demütig zu Gott und seiner heiligen Mutter, dass es ihnen belieben möge, ihr armes Kind – das das Recht auf seiner Seite hatte – zu beschützen. Und sie erhob ihre Stimme und sagte: „Allerhöchster Gott im Paradies, der den Kindern von Israel zum Sieg verhalf gegen den hartherzigen Pharao, der sie unrechtmäßig eingesperrt hatte: Ich bitte euch, wenn es euch beliebt, verleiht meinem Sohn den Sieg. Es hat euch beliebt, ihn hierher zu senden, um mich aus dem Gefängnis zu befreien und den Verrat und die Falschheit zu beweisen, die boshaft und zu Unrecht vorsätzlich gegen mich geplant war, da ihr die Wahrheit kennt.“‘ (Übersetzung E. de B.). 42 Zitiert nach: Historie van den ridder metter swane, hg. von Gerrit Jacob Boekenoogen, Leiden 1931, S. 47f. ‚Als Beatris das sah, bekam sie es mit der Angst zu tun und bat Gott, dass er ihrem Sohn beistehen möge, und ihm, der das Recht auf seiner Seite hatte, helfen möge, und sagte: „Vater, Sohn und Heiliger Geist, ein wahrer Gott, der den Kindern von Israel zum Sieg half gegen den Pharao, der sie unrechtmäßig eingesperrt hatte wie Gefangene; verleiht meinem Sohn das gnädige

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Bei den anderen refreinen findet sich ein vergleichbares Prinzip. Der Kern des Gebets aus dem anderssprachigen Sprechtext ist jeweils in die erste Strophe des niederländischen refreins wörtlich eingearbeitet, sodass man unterstellen kann, dass die refreinen für die Geschichte angefertigt wurden (wie es in der Forschung auch für den Buevijn festgestellt wurde).43 Die anderen Strophen wiederholen manchmal mit anderen Worten den Inhalt der ersten Strophe. Durch das wiederholte Anrufen von Gott scheint der religiöse Aspekt vielleicht etwas mehr Gewicht zu bekommen, jedoch unterscheidet sich der Text inhaltlich nicht von der anderssprachigen Quelle. Die Wiederholung erklärt möglicherweise auch, warum man in der Forschung so oft das negative Urteil der Weitschweifigkeit findet. Faktisch haben wir es aber nur mit einer Änderung im formalen Sinn zu tun. Die refreinen im Helias entsprechen den Konventionen eines rederijkersrefreins: Die zweite, dritte und vierte Strophe sind dort schlichtweg Variationen eines Themas. Dies ist zugleich die literarische Legitimation dieses Phänomens. Die Wiederholungen gehören zum Genre. Ein Exzess dieser mit refreinen versehenen Prosaromane findet sich im Peeter van Provencen, in dem wohlgemerkt 28 vorkommen. In fast allen Fällen handelt es sich um Monologe, die die Emotionen der Figuren hervorheben und verstärken.44 Trotz der sonst wörtlichen Übersetzung aus dem Französischen haben die Monologe keine wörtlichen Parallelen im Quellentext, werden dort aber wohl von bestimmten Wörtern ausgelöst, wie il disoit oder pensoit en soy mesmes (‚er sagte‘ oder ‚er dachte sich‘). Obwohl es solche Auslöser gibt, scheinen die refreinen doch einigermaßen arbiträr eingeschoben zu sein. Dies ruft die Frage hervor, ob es vielleicht einen Vorrat von refreinen gegeben hat, aus dem die Verfasser der Prosaromane frei schöpfen konnten. Es sind allerdings nur ein paar Romane bekannt, für deren refreinen es Parallelen gibt. Von 30 Versen aus dem Frederick van Jenuen ist bekannt, dass sie mit denen in einer refrein-Sammlung des rederijker Jan van Stijevoort übereinstimmen (unbekannt ist, in welche Richtung die Übernahme geschah).45 Des Weiteren gibt es einen refrein aus dem Roman Floris ende Blanceflour, der bei Van Doesborch erschien und mit einem Gedicht aus dessen eigener, ca. 1528–1530 gedruckten refrein-Sammlung identisch ist. Es gibt nur einen Druck, in dem sowohl zwei refreinen aus der genannten Sammlung von Jan van Stijevoort als auch 13 refreinen aus der refrein-Sammlung von Van Doesborch vorkommen, und zwar die Borchgravinne van Vergi.

|| Geschick eines Sieges, den Verräter in Bedrängnis zu bringen, dessen böse Absicht gegen mich ist, mich zu diffamieren. Ihr habt ihn mir schnell aus Liebe zugesandt, deshalb bitte ich Euch, Herr, zu dieser Zeit, verleiht ihm Gnade, um den Sieg zu erlangen.“‘ (Übersetzung E. de B.). 43 Debaene (wie Anm. 10), S. 6. 44 Coigneau (wie Anm. 4), S. 212. 45 Debaene (wie Anm. 21), S. 60.

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Der Borchgravinne-Druck ist ca. 1558–1560, also erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschienen. Rob Resoort hat für die lyrischen Interpolationen in diesem Text plausibel gemacht, dass der Bearbeiter auf bereits vorhandene refreinen zurückgriff.46 Dies hatte zur Folge, dass manche refreinen keinen richtigen Bezug zum Text haben, in manchen Fällen sogar mit diesem in Widerspruch stehen. Dieser Druck scheint allerdings eine Ausnahme zu sein: Für die bereits genannten Drucke können wir eher feststellen, dass die refreinen in einer direkten Beziehung zum Text stehen und in manchen Fällen für den Roman selbst geschrieben sein müssen. Die Interpolationen in der Borchgravinne dagegen, scheinen eine Nachblüte einer Kultur gewesen zu sein, in der dieser Eingriff geläufig war, und sind in diesem Fall nicht dem Geist eines bei der Anfertigung des Romans aktiv beteiligten rederijkers entsprungen. Vielleicht lässt sich die Aufnahme der refreinen daraus erklären, dass in der Offizin der Witwe von Liesveldt einige wichtige rederijkers-Texte erschienen, unter diesen ein Neudruck der refrein-Sammlung von Van Doesborch.47 Es erscheint im Rahmen dieser Überlegungen sinnvoll, die Eigenheiten der Borchgravinne vorerst nicht weiter zu verfolgen: Die Situation nach 1540 muss noch weiter erforscht werden, wenn sich auch aufgrund der Sekundärliteratur vermuten lässt, dass die Tradition von Versinterpolationen zu dieser Zeit weitgehend erloschen war. Es hat den Anschein, dass Versinterpolationen die literarische Kultur vor 1540 bedeutend stärker geprägt haben als in der Folgezeit. Das Publikum war offenbar mit dieser Präsentationsart derart vertraut, dass es gewisser Kunstgriffe bedurfte, um seinen Erwartungen zu entsprechen. Dies zeigt sich sehr deutlich am Beispiel der niederländischen Merlin-Geschichte. Der englische Quellentext dieses Merlijn ist ein Verstext, der 1510 von Wynkyn de Worde gedruckt wurde.48 Die niederländische Übersetzung ist in Prosa, nur sind – konventionshalber? – wieder dramatische Verspassagen eingefügt worden. Am Anfang der englischen Merlin-Geschichte wird erzählt, wie der böse Vortiger König von England wird. Er wird von König Angis von Dänemark unterstützt und heiratet dessen Tochter. Im englischen Quellentext wird der heidnische Hintergrund der Tochter betont: That was a hethen sarasyn und So that the cure of Englonde / Was loste in the fendes honde:49

|| 46 Resoort (wie Anm. 1), S. 155–161. 47 Ebd., S. 25f. 48 Pierre N.G. Pesch, „Het Nederlandse volksboek van Merlijn: bron, drukker en datering“, in: Liber amicorum Leon Voet, hg. von Francine de Nave, Antwerpen 1985, S. 303–328 [Sonderausgabe De Gulden Passer 61–63 (1983–1985)]. 49 Zitiert nach: An Edition of the Middle English Romance ‚A Lytel Treatyse of Ye Byrth & Prophecye of Marlyn‘, hg. von David G. Cylkowski, Michigan 1980, S. 19. Übersetzung E. de B.: ‚König Angis, wahrlich, hatte eine schöne und graziöse Tochter, die eine heidnische Sarazenin war. Und Vortiger hatte sie, ihm zuliebe, direkt zur Frau genommen, und war sein ganzes Leben verflucht. Rasch heiratete er sie dort, und vermischte ihr beider Blut in Verbundenheit, sodass das Wohlergehen von

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Kynge angys veramente Hadde a doughter fayre and gente That was a hethen sarasyn And Uortyger for loue of hym Toke her anone to his wyfe And was accorded50 all his lyfe. Soone he wedded her there And menged theyr blode bothe in fere So that the cure of Englonde Was loste in the fendes honde. He helde no better goddes lawe Than dooth an hounde and his felawe Thus they lyued many a yere. (A lytel treatyse of ye byrth & prophecye of Marlyn, 1510, v. 458–470)

Im niederländischen Text heißt es, dass König Vortiger sich in Angis’ Tochter wegen ihrer Schönheit verliebt. Die Passage ist viel ausführlicher. Im eingeschobenen Versdialog erhält die Tochter außerdem eine aktive Rolle:51 Aldus heeft Angis zijn dochter ontboden dat se bi hem comen soude in Enghelant / datse dede. ende seyde aldus „Heer vader coninck wt reuerencien Met diligencien c o m e i c k t u w a e r t v a e r d i c h Wats v begheeren wat is v intencie“ Die vader „S i e t l i e u e d o c h t e r waerdich H i e r s t a e n nv veel heeren fier Ende dese abbassaet die coninck sendtse hier. Van enghelant die Vortigher heet blikelijcke Hi doet v soecken te huwelijcke N v s i e t oft ick daer consent toe dede Oft ghi wilt houwen in kerstenhede Aen den conick voorseyt van vromer daet“ (Merlijn, ca. 1540, fol. B3v)

|| England in den Händen des Feindes verloren ging. Er unterwarf sich dem Gesetz Gottes nicht besser als ein Hund und sein Kumpan das machen würden. So lebten sie viele Jahre.‘ 50 Vermutlich ist accursed gemeint, wie in der früheren handschriftlichen Tradition. 51 Zitiert nach: Maria E. Kronenberg, „Een onbekend volksboek van Merlijn (ca. 1540)“, in: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 48 (1929), S. 18–34. Online verfügbar: http://www. dbnl.org/tekst/_tij003192901_01/downloads.php (Stand: 24.02.2017). ‚Also hat Angis seine Tochter zu sich nach England gerufen, was sie tat, und sie sprach wie folgt: „Herr Vater, König, aus Ehrfurcht komme ich unverzüglich und rasch zu Ihnen. Was ist Ihre Bitte, was ist Ihre Absicht?“ Der Vater: „Siehe, liebe ehrwürdige Tochter. Hier stehen jetzt viele stolze Herren und dieser Gesandte. Der König von England, der bekanntlich Vortiger heißt, hat sie hierher gesandt. Er hat Ihnen einen Heiratsantrag gemacht. Nun seht, ob ich Erlaubnis geben sollte, dass Sie im christlichen Glauben den genannten kühnen König heiraten.“‘ (Übersetzung E. de B.).

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Die gesperrt markierten Verse zeigen, dass es, wie bei Frederick van Jenuen, auch in diesem Fall zahlreiche Beschreibungen physischer Handlungen gibt, wie ‚ich komme zu ihnen‘, ‚siehe, liebe Tochter‘, ‚hier stehen viele Herren‘ usw. Durch die relativ große Anzahl der Ankunfts- und Aufbruchsformeln wird wieder der Eindruck geweckt, dass es sich um eine imaginierte Vorstellung handle, die sich vor den inneren Augen der Zuschauer abspiele. Es ist aber merkwürdig, dass gerade eine relativ unwichtige Szene dadurch Nachdruck bekommt. Im englischen Text wird nur kurz erwähnt, dass es eine Hochzeit gibt, im niederländischen Text wird ein ganzer Versdialog eingeschoben. Auch der Tenor ist anders. Im englischen Text heiratet der König eine Sarazenin, was den Untergang von ganz England zur Folge hat, während die Ehe mit der Sarazenin im Niederländischen Grund für eine Hochzeitsfeier ist. Es hat den Anschein, dass nur die Tatsache, dass es eine Hochzeit gibt, ein Anlass ist für eine Erörterung, auch wenn es um die Hochzeit des Feindes geht. Dieses Beispiel zeigt, dass auch hier die Interpolation nicht durch die Quelle oder den Inhalt ausgelöst wird, sondern eher form- oder sogar motivbedingt ist. Der formale, vielleicht sogar konventionsmäßige Wechsel zwischen Prosa und Versen zeigt sich auch in der ähnlichen Präsentation von Prosaromanen und Romanen, die zum Spieltext neigen. Dass etwa der in Reimpaarversen geschriebene Vanden jongen geheeten Jacke (Antwerpen: Michiel Hillen van Hoochstraten, 1528) mit Sprecherangaben versehen ist, ist eine reine Sache der Präsentation, da die ‚Spieler‘ ebenso für den Erzählertext verantwortlich sind. Rob Resoort spricht deshalb von einer ‚dramatischen Einkleidung‘.52 Die Texte Jan van Beverley (Brüssel: Thomas van der Noot, ca. 1512) und Verloren sone (Antwerpen: Vorsterman, ca. 1540) können wegen der Wechsel von überwiegend dramatischem Text mit Prosapartien der Textgruppe von Mariken van Nieumeghen zugeordnet werden. Der Quellentext vom Verloren sone ist bekannt: Es handelt sich um eine ebenfalls in dramatischen Versen geschriebene französische Vorlage par personnaiges, einen Text also, in dem Rollenverteilungen aufgenommen sind. Auffälligerweise sind in die gekürzte niederländische Übersetzung gerade Prosapassagen eingeschoben worden, die zum Ziel haben, den Übergang zwischen Szenen zu vereinfachen.53 Es hat also den Anschein, dass in erster Linie die Wechsel zwischen Prosa und Versen positiv bewertet wurden. Obwohl die Prosaromane eine weitgehend einheitliche Erscheinungsform aufweisen, sind die zugrunde liegenden Bearbeitungsstrategien je nach Quellentext andere. Es gibt kurze dramatische Versinterpolationen, wobei Prosa überwiegt (Fre-

|| 52 Rob Resoort, „Het raadsel van de rijmdrukken“, in: Nederlandse Letterkunde 3 (1998), S. 327– 344, hier S. 336. 53 An Faems, „De verloren sone: een parabel int langhe”, in: Vechten met de engel. Herschrijven in de Nederlandstalige literatuur, hg. von Ben van Humbeeck, Valerie Rousseau und Cin Windey, Antwerpen 2009 (Literatuur in veelvoud 22), S. 185–206, hier S. 193f.

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derick van Jenuen, Buevijn van Austoen), längere dramatische Versinterpolationen, wobei Verse dominieren (Troylus ende Briseda), überwiegend dramatischen Text (Schauspiele oder Lesedramen wie Mariken van Nieumeghen), wie auch umgekehrt Prosa-Interpolationen in einem Verstext (Verloren sone), und schließlich sogar dramatische Interpolationen in einer Prosa-Übersetzung eines Verstexts (Merlijn). Es finden sich wörtliche Verarbeitungen des Quellentexts, sowohl bei den refreinen als auch bei den Versdialogen (Helias, Destructie van Troyen), freie Interpolationen von refreinen und Versdialogen, die die Geschichte ausschmücken, wobei es etwa durch Wiederaufgreifen der Namen der Protagonisten noch einen Bezug zum Text gibt (Buevijn, Peter van Provencen, Frederick van Jenuen), und freie Vers- bzw. refreinInterpolationen, wobei es keinen Bezug zum Text gibt (Borchgravinne van Vergi). Die Borchgravinne scheint jedoch eher eine (späte) Ausnahme zu sein, da es in den meisten Fällen wohl einen mehr oder weniger ausgeprägten Bezug der refreinen zum Text gibt. Doch auch wenn die Übersetzungsstrategien stets jeweils unterschiedlich sind, haben die Drucker/Autoren sich offenbar bemüht, ein ähnliches Produkt abzuliefern. Die Form der Romane ist also nicht durch das Angebot der anderssprachigen Vorbilder, sondern durch die Nachfrage in den nideren landen bestimmt worden. Dass die Kombination von Versen und Prosa ein spezifisch niederländisches Phänomen ist, zeigt sich auch daran, dass die Verspassagen in der englischen Übersetzung von Frederick van Jenuen, dem 1518 von Jan van Doesborch gedruckten Frederyke of Jennen, als gekürzte Prosa erscheinen. Das trifft auch zu auf Mary of Nemmegen (ca. 1515), die Übersetzung von Mariken van Nieumeghen, die ebenfalls von Van Doesborch gedruckt wurde: Obwohl die niederländische Fassung sogar überwiegend aus Versen besteht, ist die englische Übersetzung in Prosa.54 Von einigen Werken druckte Van Doesborch nahezu gleichzeitig eine niederländische und eine englische Ausgabe. Dass er sich in den zwei genannten Beispielen dieser ‚Doppelproduktionen‘ dazu entschlossen hat, den niederländischen Text anders – d.h. mit Versen – zu gestalten, zeigt, dass er im niederländischen Raum einen anderen Markt bediente.55 Es lässt sich mit einiger Sicherheit annehmen, dass die literarische Tendenz, Romane mit Versen auszuschmücken, eng mit der Existenz der rederijkerKultur zusammenhängt. Die Romanform mit dramatischen Interpolationen war offenbar eine literarische Prägung der südlichen Drucker, die dem Erwartungshorizont des niederländischen Publikums entsprochen hat.56 Genauer betrachtet haben || 54 Der älteste bekannte Druck von Mariken van Nieumeghen erschien ca. 1515 bei Willem Vorsterman. Es wurde allerdings plausibel gemacht, dass es vor 1515 bereits einen Druck bei Jan van Doesborch gegeben hat, vgl. Franssen (wie Anm. 2), S. 61. 55 Siehe für die Doppelproduktionen ebd., S. 25–27. 56 Der Gedanke, dass die Verse vor allem schmückendes Beiwerk gewesen sind, um ein niederländisches Publikum anzusprechen, ist auch von Franssen (wie Anm. 2), S. 107; und Debaene (wie Anm. 10), S. 22, geäußert worden.

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wir es eigentlich nicht nur mit einem niederländischen, sondern mit einem spezifisch Antwerpener Phänomen zu tun, das sich auf die Person Jan van Doesborch konzentriert. Wie sich aus Tabelle 2 ablesen lässt, wurde die Tradition der Versdialoge mit dem Druck der Destructie van Troyen von Roland van den Dorpe initiiert. Nach seinem Tod ca. 1500 wurde seine Druckerei 1501 oder kurz danach von Jan van Doesborch übernommen, der offenbar auch die Arbeitsweise, Verse zu interpolieren, weiterführte. Die meisten Texte, in denen sich dieses Phänomen findet, können auf die eine oder andere Weise mit ihm verbunden werden. Dies trifft zu auf Buevijn van Austoen (1504), einen Nachdruck von Destructie van Troyen (ca. 1508–1515), einen mutmaßlichen Druck des *Merlijn (ca. 1511–1515), Helias (ca. 1512–1515), Floris ende Blanceflour (ca. 1517) und einige nicht erhaltene Drucke wie *Mariken van Nieumeghen (vor 1515), *Alexander van Mets (ca. 1516) und *Frederick van Jenuen (ca. 1518).57 Bei Vorsterman finden sich ähnliche Romane erst später, wobei es sich zudem in einigen Fällen um Nachdrucke handelt: Mariken van Nieumeghen (1515) und Frederick van Jenuen (1531) erschienen zuerst bei Van Doesborch und für den Erstdruck des Strijt van Roncevale (ca. 1520), der als Vertreter eines niederländischen Prosimetrums gilt,58 war vermutlich Roland van den Dorpe verantwortlich. Obgleich die Versinterpolationen noch immer ein rätselhaftes Phänomen bleiben, kann man davon ausgehen, dass ihre literarische Begründung eher form- als inhaltsbedingt ist. Dies zeigt sich an den Versübersetzungen von Prosapassagen wie auch an den unterschiedlichen Bearbeitungsstrategien, die jedoch zu einem vergleichbaren Wechsel von Prosa und gereimten Partien geführt haben. Der ‚niederländische‘ Aspekt der Interpolationen mag einerseits wegen der blühenden rederijker-Kultur hervorgehoben werden, bedarf andererseits einer Nuancierung: Das Hinzufügen von (dramatischen) Verspassagen erfolgte hauptsächlich in den Drucken von Jan van Doesborch, der als Galionsfigur der gedruckten narrativen Literatur betrachtet werden darf.

|| 57 Die Existenz der nicht erhaltenen Drucke ist von Franssen (wie Anm. 2), S. 26f., 42f., 63 plausibel gemacht worden. 58 Vgl. Anm. 2.

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Roland van den Dorpe Destructie van Troyen, ca. 1497–1500 *Strijt van Roncevale, ca. 150059

Jan van Doesborch Buevijn van Austoen, 1504 Symon Cock

Destructie van Troyen, ca. 1508–1515

Merlijn, ca. 1540

*Merlijn, 1511–1515 Helias, ca. 1512–1520

Willem Vorsterman

Cornelis Dircksz. Cool

*Mariken van Nieumeghen, wolte für v. 22425.

Stimme – Argument – Wirkung | 345

Gawein und Gyremelanz reagieren prompt: Von ietwederm teile / Wart der eyt also genomen. (v. 22431f.) So undeutlich ist, was Ygerne sie schwören lassen will, so energisch tun sie es, und sie tun es einzig und allein, um an der Ausführung genau dieses Eides gehindert zu werden: Das wart aber wol vnderkomen, / Das sin icht geschehe. (v. 22433f.) Der Erzähler nimmt die beiden in Schutz: Würde seine Vorlage etwas anderes behaupten, er würde es ungeschminkt erzählen, im Übrigen solle niemand die beiden für Feiglinge halten, da sie sich tüchtig auf den Kampf vorbereitet hatten und zumal ihnen die Gewalt, die man nun über sie ausüben sollte, zu Herzen ginge, wäre es nicht Clarisanz selbst gewesen, die es vnder jne […] vnderfing (v. 22444f.): Die gie beydenthalben hin Vnd batt sie laszen den strijt. Also zerfůrte sie den nijt: Wijbes gúte vil gůtes gijt. (v. 22446–22449)

Damit ist die Sache erledigt, sofort rüstet man zum Aufbruch, um bald danach zu Karidol ein großes Hoffest zu begehen. Im Vergleich zu den beiden vorherigen Krone-Beispielen ist dieses noch drastischer: Ygerne lässt Gawein und Gyremelanz öffentlich auf ihren Kampfesmut schwören, und dann geschieht nichts, wird nicht gekämpft. Die Argumentationsführung ist absurd, zumal es den Anschein hat, als würde unmittelbar vor dem Kampf auf dessen Unerbittlichkeit geschworen, nur damit dieser dann umso pompöser abgesagt werden kann, ohne dass für diese Absage je ein deutlicher Grund genannt würde. Logischer Lückenbüßer ist die weibliche Güte der Clarisanz, die sich derlei Spielverderberei offenbar leisten kann, ohne dass man es ihr oder den beiden Männern, wenn sie ihrem Vorschlag folgen, übel nehmen würde.16 Abermals versandet der Diskurs mit großen Worten und macht gerade dadurch den Weg frei für allumfassende Versöhnung.17 Wie bei den beiden anderen Krone-Fällen tritt erneut eine unerhörte Elastizität des höfischen Argumentierens zutage, eine Forcierung der Scheinargumente, die sich in gegenseitiger Hypostase auflösen und damit genau jene Konfliktherde zersetzen, die sie eigentlich konstituieren. Je intensiver die Konflikte bedacht, je länger ihre lösungsresistente Konfiguration ausgeleuchtet wird, desto mehr versinken sie im Schwall der Worte, die nur oberflächlich die Konflikte zu schärfen vorgeben, || 16 Die wîbes güete wird auch schon bei der Doppelhochzeit als entscheidendes motivierendes Moment genannt (v. 13888–13897), wenngleich dort nicht deutlich wird, ob sie nur die Festfreude oder die gesamte Versöhnung begründet. In jedem Fall stärkt es nochmals die intratextuelle Bindung der Szenen aneinander. 17 Gegen Felder (wie Anm. 7), S. 576, glaube ich daher nicht, dass Heinrich die Versöhnung oberflächlich erzähle, weil das Publikum sie aus seiner Vorlage – Chrétiens Perceval – gekannt habe. In der Lakonik liegt vielmehr der ganze dialogische Witz.

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tatsächlich aber die Rechtssachen so lange zerreden, dass sie unfasslich werden. Immer ist die Strategie an eine konkrete Agenda gebunden, denn so eifrig auch argumentiert wird, so wenig interessiert ein argumentatives Ergebnis. Was sie erreichen wollen, wissen die Parteien, die sich dieser Strategie bedienen, immer schon im Vorhinein.18 Alleine die Vermittlung ist das Problem. Für die ersten beiden Beispiele war dies nur zwischen den Zeilen zu vermuten; im dritten Beispiel zeigt es der Erzähler unumwunden, weil die Lösung durch Artus Vorrang hat und Ygerne erst nach dem gefassten Beschluss einen Weg sucht, wie sich dieser ohne Gesichtsverlust für Gawein und Gyremelanz umsetzen lässt.

3 Wirkung Den oben analysierten Dialogszenen aus Nibelungenlied und Krone ist, bei aller Verschiedenheit, gemeinsam, dass sie auf durchaus unkonventionelle Weise auf eine Konfliktsituation reagieren. Anstatt den Konflikt durch logisch stringente Argumentation auf ein Ergebnis hinzuführen oder ihn in Gewalthandlung eskalieren zu lassen, gelingt es, durch eine Art Zerreden des jeweiligen Problems, den Konflikt für den Moment oder auch dauerhaft zu beruhigen. Charakteristisch für Redeszenen dieser Art ist, dass die Botschaft (die Proposition, der Informationsgehalt) denkbar weit in den Hintergrund rückt und an ihre Stelle performative Strategien treten, mit deren Hilfe es den Figuren möglich ist, diskursiv unheilbaren Konfliktkonstellationen Herr zu werden bzw. ihnen zu entgehen; mit Roman Jakobson wäre hier eine primär ‚phatische‘ Funktion des Sprechens anzusetzen.19 Dieser Strategien gibt es zwei Typen. Der eine Typus setzt auf schiere Stimmgewalt, insofern sich die Dimension des Akustischen in den Vordergrund drängt und Sprache ganz in ihrer klanglichen Wirkung aufgeht (Nibelungenlied). Der andere vollführt eine paradoxe Bewegung: Er besteht in einer absurden Schichtung diskursiver Argumente, die, weil sie von gegensätzlichen Standpunkten aus gegeneinander geführt werden, so weit ins Aporetische hinein gesteigert werden, bis es in der Hypostase der Argumentation zu einer Art logischer Implosion kommt (Krone). Be-

|| 18 Vgl. Felder (wie Anm. 7), S. 355, zum Dialog zwischen Gawein und Sgoydamur, die vermutet, dass „klärende Gespräche während der Zeit stattgefunden haben, die die Schwestern mit Ginover verbracht haben“. 19 Roman Jakobson, „Linguistik und Poetik“ [1960], in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921– 1971, hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M. 1979 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 262), S. 83–121, hier S. 91. Den Begriff übernimmt er von Bronisław Malinowski, „The Problem of Meaning in Primitive Languages“, in: Charles K. Odgen und Ivor A. Richards, The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism, New York 81946 (A Harvest Book 29), S. 296–336, hier S. 315 u.ö. (phatic communication).

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merkenswert ist deren Folge: Sie bewirkt nicht nur die (erwartbare) Aufhebung und (Zer)Störung des Diskurses, sondern diese Auflösung entwickelt ihrerseits eine performative Wirkung, indem die Tilgung des Diskurses effektiv eine Tilgung des ursprünglichen und argumentativ ausgetragenen Konflikts zeitigt. Man könnte auch sagen: Je mehr der argumentative Streit verhärtet, desto eher löst er sich auf. Die beiden skizzierten Strategien formieren ein Gegensatzpaar: Sie schlagen, ausgehend von einem spannungsgeladenen Konflikt, jeweils die entgegengesetzte ‚dialogische‘ Richtung ein, treffen sich aber in ihrer (intradiegetischen) Wirkung, die in beiden Fällen darauf baut, dass im (im weiteren Sinne) persuasiven Sprechen Sprache (‚Logik‘) performativ überwunden wird. Stimme bzw. Sprache dienen dann weder dem Transport von Information noch der Aushandlung diskursiver Probleme, sondern sie werden zu Mitteln, um ganz bestimmte, schon vorab feststehende Interessen (Rettung Kriemhilds und Etzels, Abweisung Gasoeins, Verheiratung Sgoydamurs, Versöhnung Gaweins und Gyremelanz’) – in den hier behandelten Fällen – deeskalierend durchzusetzen. Die Texte geben nicht zu erkennen, ob oder inwieweit die Figuren diese Strategien mit Absicht einsetzen oder ob sie diese gar durchschauen. Doch die Handlungsgänge machen klar, dass sie funktionieren. Nibelungenlied und Krone zeigen wohl nicht zuletzt auch deshalb verschiedene Spielarten dieses Prinzips, weil sie verschiedenen generischen Linien entspringen. Das Nibelungenlied als Heldendichtung setzt die Strategie nicht zufällig als eine affektlogische ein, die ganz auf der Position des Individuums – Dietrichs – in einer heldischen Sozietät aufbaut. Dietrich muss seine Mitfiguren als Held überragen, damit seine Strategie Erfolg hat; wäre er ein Schwächling, könnte er brüllen, soviel er will; die anderen Figuren nähmen davon keine Notiz, es würde wohl schlicht nicht erzählt. Damit bleibt das ‚Lied‘ auf einer vergleichsweise niedrigen Komplexitätsstufe: Wer am lautesten schreit, setzt sich durch. Anders der höfische Musterroman, als den Heinrich von dem Türlin seine Krone verstanden haben wollte. Dort ist alles durch subtile Interaktionsformen geregelt, ein heroischer Ausbruch wie jener Dietrichs verbietet sich den Figuren streng. Damit die Strategie greift, muss sie sich den Gesetzen der Hofpolitik fügen, das heißt, sie muss Probleme nicht affektiv und stimmgewaltig lösen, sondern die Konfliktherde kaschieren und überspielen. Darum bietet sie sich hier auch als Handlungslöser an (alle drei Beispiele sind Zäsuren des Romans), während die gewaltige Deeskalation Dietrichs im Kontext einer Heldendichtung, die am Ende immer auf Gewalt setzt, nur Überbrückung sein kann. Denn es liegt an der Konfliktdisposition des höfischen Erzählens, dass Versöhnung nur über labile Kompromisse möglich ist. Wo alle gleich, gleichrangig, gleichwert sind, ist Versöhnung nur über das Ausbalancieren des êre-Gleichgewichts zu haben. Für ein Happy End muss es Gewinner geben, aber

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keine Verlierer – das ist das Problem.20 Der Text erreicht dieses aporetische Äquilibrium, indem er die Figuren einen intensiven, rationalen Diskurs über das Problem führen lässt, diesen Diskurs aber einer mise en abyme aussetzt, als ließen sich Probleme desto besser aus der Welt reden, je intensiver man sie zum Thema macht. Immer wird die Sache – ähnlich einer Rechtssache, einmal tatsächlich in deren Rahmen (Gasoein und Sgoydamur) – in Figurenrede ‚breitgetreten‘, damit sie dann umso sprunghafter aus der Welt geschwiegen wird. So tritt zur narratologischen Aporie ein dialogisches Paradoxon, weil es doch eigentlich einfacher sein müsste, Konflikte stillschweigend zu ‚kompromittieren‘, wenn man sie nicht zuerst zerredet, sondern gleich totschweigt. Die Krone – dies nur nebenbei – ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Sie ist allenfalls dadurch speziell, dass sie diese poetische Strategie besonders häufig und besonders elaboriert einsetzt. Im Grunde aber begegnet derlei im höfischen Erzählen immer wieder. Ich erinnere etwa – ein beliebig herausgegriffenes Beispiel – an das Finale des Lanval der Marie de France, konkret an die handlungsschließende Gerichtsverhandlung, bei der die von Ginover behaupteten Avancen Lanvals ihr gegenüber, damit aber auch Ginovers Aufrichtigkeit, auf dem Prüfstand stehen. Dann aber verschieben die rechtssprechenden Barone die Sache auf einen Schönheitswettbewerb zwischen Ginover und der Fee, sodass der Rechtsstreit über ein Seitenargument entschieden wird. Am Ende kommt in der Rede der Fee zwar kurz zur Sprache, dass Lanval nie auf die Liebe der Königin bedacht war, aber auch das bleibt marginal. Der paradoxe Effekt ist, dass Lanval von Schuld freigesprochen, Ginover aber – die dann automatisch schuldig wäre und ja auch tatsächlich schuldig ist – nicht beschuldigt wird. Ich hatte bislang so getan, als würde sich die literarische Erzählung in den hier analysierten Aspekten nicht von einer alltäglich-wirklichen unterscheiden; als könne, was Dietrich in der 33. Aventiure des Nibelungenlieds tut oder was Ginover, Gawein und Ygerne in der Krone betreiben, genauso gut in der ‚Realität‘ – die natürlich ihrerseits nur eine Erzählung ist, allerdings eine sehr spezielle – geschehen. Und tatsächlich, wenn man allen mittelalterlichen Firnis von den traktierten Szenen abzieht, landet man sehr rasch bei Phänomenen, die aus der eigenen ‚Realität‘ vertraut sind: Auch heute noch kann man jemanden oder eine Sache niederschreien, wenn man in der rechten Position dafür ist, und die heutige Tagespolitik, vor allem die zwischenstaatliche Diplomatie ist überreich an jenen hofpolitischen Interaktionen, die Konflikte und Probleme eher wortreich kaschieren, als sie in letzter Konsequenz auszuhandeln, die Harmonie stiften, indem offensiv an Sachen vorbeigeredet wird, deren Illokution darauf beruht, dass Lokution und Perlokution in maximaler

|| 20 Davon ausgenommen sind natürlich Siege über ‚echte‘ Bösewichte, zum Beispiel – in der Krone – Fimbeus und Gyramphiel oder gar über den bösen Riesen Assiles; aber in diese Kategorie gehören der edle Gasoein, die schöne Sgoydamur und der verliebte Gyremelanz nicht.

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Spreizung zueinander stehen. Insofern könnte man die beschriebenen Phänomene gewöhnlich nennen. Wechselt man aber die Perspektive und schaut die Beispiele nicht von der Warte der ‚Wirklichkeit‘, sondern der Literatur an, wandelt sich das Bild. Dann nämlich wird das, was unauffällig ‚realistisch‘ anmutet, poetisch deviant. Die Beispiele aus Nibelungenlied und Krone heben sich in ihrer Konfiguration weit von dem ab, was Dialoge in mittelalterlichen Erzähltexten andernorts leisten: Informationsaustausch zwischen Figuren und, indirekt, zwischen Figuren und Rezipienten, daneben Reizreden und Streitigkeiten im allerweitesten Sinne – ihnen allen ist, soweit ich sehe, gemeinsam, dass häufig schlicht im Grunde das gesagt wird, was auch gemeint ist. Die oben besprochenen Fälle hingegen sind auf der Ebene des Gesagten klar dysfunktional, können aber gerade deshalb eine entscheidende Wendung der Handlung einleiten oder bewirken. Was nämlich der ‚Realität‘ gewöhnlich ist – die abgründige, aporetische Grunddisposition menschlichen Sprachhandelns –, ist der Idealität der Literatur, die sich tendenziell gegen Logik-Fehler aller Art sträubt, in der Regel unerträglich. Folge ist, dass jenes dialogische Sprachhandeln, das auf Figurenebene, wie gesehen, eine enorme Wirkung entfaltet, auch bei den Rezipienten einen tiefen ästhetischen Eindruck hinterlässt: als unhintergehbarer ‚Realitätseffekt‘ der poetischen Gestaltung.

Stephan Müller

‚Cliffhanger‘ Mittelhochdeutsche Epik als Serie am Beispiel der Aventiure-Enden des Nibelungenlieds in Handschrift C ‚Cliffhanger‘ gehören zum Alltag jedes Serienfreundes und zwar oft zum eher unerfreulichen. Historisch rührt der Begriff von einem Roman Thomas Hardys her: 1873 ließ er Henry Knight, eine Figur seines Romans A Pair of Blue Eyes, einen Monat lang an einem Grasbündel an den Steilhängen des Bristol Channel sich festhalten und machte damit die Leserinnen und Leser des Fortsetzungsroman darauf gespannt, ob und wie eine Rettung gelingen könne. Von diesem Beispiel ausgehend zeichnen einen ‚Cliffhanger‘ also folgende Grundkomponenten aus: Es handelt sich um einen „abrupten Handlungsabbruch“1 an einer „besonders spannenden Stelle“, um die Handlung dann später wieder aufzunehmen. Erreicht wird damit die „Aufrechterhaltung der Zuschauer-Text-Beziehung“, die im Idealfall eine ganze Serie oder einen ganzen Text über erhalten bleibt. Entscheidend ist dabei, dass die Rezeption tatsächlich unterbrochen und zu einem anderen Zeitpunkt wieder aufgenommen wird. Eine solche medientechnische Unterbrechung war bei Hardys ‚UrCliffhanger‘ möglich, weil es sich um einen Fortsetzungsroman handelte. ‚Medientechnisch‘ meint dabei eine zeitlich erhebliche Unterbrechung der tatsächlichen Rezeption; dies im Unterschied zu konzeptionellen Formen der Unterbrechung, wie Formen der Gliederung oder Formen des Wechsels von Schauplatz, Zeit oder der Protagonisten. Heutzutage sind es vor allem Fernsehserien oder Serien von Kinofilmen, die zwischen dem Ende einer Folge und dem Anfang der nächsten eine medientechnische Unterbrechung für die Inszenierung eines ‚Cliffhangers‘ nutzen. Im Kern geht es also darum, Spannung und vor allem Neugierde aufzubauen, die es wahrscheinlicher machen, dass man die kommende Folge, den nächsten Film, das nächste Romankapitel oder das nächste Buch einer Reihe auch wirklich ansieht oder liest. Natürlich kann man Spannung und Neugierde auch in sukzessiv, ohne festgelegte Unterbrechung ablaufenden Rezeptionsformen erzeugen. Und sicher kann man auch Unterbrechungen des inhaltlichen Verlaufs in einen Text einbauen, bei mehrsträngigen Texten, wie dem Parzival, geschieht dies fast zwangsläufig. Von ‚Cliffhanger‘ will ich aber nur sprechen, wenn tatsächlich eine medientechnische

|| 1 Die Zitate zur Definition von ‚Cliffhanger‘ stammen von Martin Jurga, „Der Cliffhanger. Formen, Funktionen und Verwendungsweisen eines seriellen Inszenierungsbausteins“, in: Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, hg. von Herbert Willems und Martin Jurga, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 471–488, hier S. 472.

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Unterbrechung vorliegt. Grund dafür ist, dass – nach meiner Ansicht – inszenierte Unterbrechungen (nach dem Muster: ‚Gebt dem Vortragenden Wein, sonst erzählt er nicht weiter‘),2 abrupt endende Texte (wie dies etwa Fragmente immer sind) oder einfache Vorverweise auf kommende interessante Ereignisse dem ‚Cliffhanger‘ im engeren Sinne zwar strukturell ähnlich sind, aber eben nicht identisch mit ihm. Das sage ich wohl wissend, dass ein metaphorischer Gebrauch des Begriffs, der all diese genannten Varianten einbezieht, erfolgreich angewendet wird und das auch in der Mediävistik.3 Vor allem in der Mediävistik scheint man gar keine andere Wahl zu haben, denn über die tatsächlichen medientechnischen Abläufe von Aufführung und Rezeption mittelalterlicher Werke sind wir kaum informiert.4 Wenn ich trotzdem darauf beharre, einen Unterschied zu machen zwischen tatsächlichen ‚Cliffhangern‘, also jenen mit medientechnischer Unterbrechung, und den metaphorischen ‚Cliffhangern‘, also Formen inszenierter Unterbrechung und Spannungsaufbau innerhalb eines Werks, dann aus folgenden Gründen: Zunächst erhoffe ich mir, durch diese Hintertür doch etwas näher an die Aufführungspraxis heranzukommen, und, zweitens, definiert die medientechnische Unterbrechung eine spezifische Wirkung und Form eines ‚Cliffhangers‘, die sich von den genannten Techniken des (inszenierten) Erzählabbruchs unterscheiden. Dies kann man im Umkehrschluss überprüfen, indem man die medientechnische Unterbrechung tilgt. Hardys ‚Cliffhanger‘ verschwindet, wenn man den Roman nicht als Fortsetzungsroman liest, sondern Kapitel für Kapitel; man muss nicht warten, sondern liest einfach weiter. So auch in den modernen Medien: Wenn ich eingangs sagte, dass ‚Cliffhanger‘ zu den oft unerfreulichen Erfahrungen der Serien-Rezeption gehören, dann bezog sich das auf meine eigene Rezeptionspraxis, denn ich schaue Serien en bloc und mag es nicht, zwischendurch Wochen oder auch nur Tage warten zu müssen. Also aufzeichnen, DVD-Box kaufen, Netflix, Snap, Amazon prime usw.; es gibt inzwischen vielerlei Möglichkeiten, die medientechnische Unterbrechung zu unterlaufen und dadurch wird – nach meiner Erfahrung – die sehr einfache und eigentlich fade Struktur von ‚Cliffhangern‘ durchsichtig. An einer spannenden Stelle abzubrechen ist eine triviale Angelegenheit und die Auflösung ist meistens nicht sehr komplex, weil die Folgeepisode damit erzählerisch durch Rückblicke belastet

|| 2 Zu diesen Passagen Matthias Däumer, Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane, Bielefeld 2013 (Mainzer historische Kulturwissenschaften 9), S. 458–464. 3 Sehr inspirierend und methodisch grundlegend dazu Däumer (wie Anm. 2) und ders., „Der Held an der Klippe. Sinnesregie an den Bruchstellen des höfischen Romans“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 51 (2010), S. 25–43; ich danke Matthias Däumer für weiterführende Gespräche am Rande der Greifswalder Tagung. 4 Siehe dazu Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, hg. von Ludger Lieb und Stephan Müller, Berlin/New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20 [254]).

‚Cliffhanger‘ | 353

wäre und man sich nicht darauf verlassen kann, dass man die vorhergehende Episode auch kennt. Wenn man zu voraussetzungsreich weitererzählt, würden ‚Cliffhanger‘ aus einer Serie diejenigen ausschließen, die eine Episode versäumt haben – und das will man ja gerade nicht. So laufen die Lösungen von ‚Cliffhangern‘ meistens auf die Inszenierung eines einfachen ‚ach so‘ hinaus, um die Handlung dann schnell weiterzuspinnen, so wie Serien oftmals schnell und vorantreibend erzählen. Unerwartete Rettungen, simple Auswege, darauf laufen ‚Cliffhanger‘ oft zu und das ist bei einer durchgehenden Rezeption der Episoden nicht wirklich befriedigend. Das Entscheidende eines ‚Cliffhangers‘ spielt sich zwischen technischem Abbruch und Wiederaufnahme ab, die Neugierde, Formen der Anschlusskommunikation, das (oft gemeinsame) Grübeln und Diskutieren über Lösungsmöglichkeiten: Dabei entfaltet der ‚Cliffhanger‘ seine Wirkung nicht in den Serien selbst. Musterbeispiel war vor einiger Zeit der ‚Cliffhanger‘ am Ende der zweiten Staffel der BBC-Serie Sherlock, die wunderbar nach Conan Doyles Texten gemacht ist.5 Die letzte Episode der zweiten Staffel heißt The Reichenbach Fall – nach der Geschichte, die für Conan Doyle die letzte Holmes-Geschichte sein sollte (The Final Problem von 1893) und in der Holmes in den Reichenbachfall in den Tod stürzt. Bei Doyle war dieser Tod zunächst verbindlich, erst als er nach dem großen Erfolg von The Hound of the Baskervilles (1901–1902) wieder Holmes-Geschichten schreiben wollte, beschrieb er 1903 in The Empty House, wie Holmes den Sturz überlebte und zwar ‚Cliffhanger‘-spezifisch, einfach durch einen japanischen Kampfkunsttrick. Aus dem finalen Todessturz wurde also ein ‚Cliffhanger‘ – spätestens als sich herumsprach, dass Doyle neue Holmes-Geschichten plant. In der Fernsehserie war der Sturz von Anfang an ein ‚Cliffhanger‘ und die BBC ließ die Fans – nach dem Vorbild von Conan Doyle – recht lange, aber immerhin nur zwei ganze Jahre warten (vom 15.01.2012 bis zum 01.01.2014), bis die Auflösung erfolgte, die dann erschreckend banal war. In der Zwischenzeit aber entstanden zahlreiche Foren, wurde an verschiedensten Theorien gebastelt, wurde der Todessturz immer und immer wieder analysiert. Diese Zwischen-Zeit macht den ‚Cliffhanger‘ aus, aber diese Zwischen-Zeit ist narratologisch schwer zu fassen. Die Konstellation erinnert etwas an das, was Ezra Pound zur Harmonielehre beizusteuern versuchte, indem er sagte, dass zwischen Tönen keine Disharmonie wahrgenommen werden kann, wenn nur der Zeitraum zwischen dem Beginn ihrer Äußerungen lange genug sei.6 Mit der Rezeption einer Serie als ganzer, ohne medientechnische Unterbrechung, stehe ich nicht alleine. Mir scheint, als setzen die Serien gerade auf solche Serienwochenenden oder lange Serientage,

|| 5 Michael Rohrwasser, „Die Neue Serie, serielle Momente in der Literatur und in Sherlock (Holmes)“, in: Serielle Formen, hg. von Stephan Müller, Wien 2015 (Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik 2013), S. 20–38. 6 Ezra Pound, Wort und Weise. ‚motz el son‘, Frankfurt a.M. 1981 (Bibliothek Suhrkamp 279), S. 127 (Anfang des Essays Von der Harmonik, der 1927 erschien).

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weshalb die aktuellen „Neuen Serien“ – wie sie Michael Rohrwasser nennt7 – weit weniger mit ‚Cliffhangern‘ arbeiten, sondern als eine neue epische Großform zu verstehen sind. Für mittelalterliche Epen ist die Sache anders zu bewerten. Zwar betonte ich, dass man nicht weiß, wie und in welchen Zeitrhythmen vorgetragen wurde, aber sicher weiß man, dass ein Epos nicht in einem Zug vorgetragen werden konnte, dazu sind die meisten schlicht und einfach zu lang. Geht man vom Vortrag aus – was indes nicht die einzige denkbare Rezeptionsform ist8 – muss es Unterbrechungen gegeben haben und es liegt nahe, daran zu denken, dass die Autoren ihre Texte darauf vorbereiteten. Bei den Unterbrechungen, in denen der Erzähler mit dem Publikum scheinbar Kontakt aufnimmt und um Wein bittet oder das Interesse des Publikums am Folgenden rhetorisch hinterfragt (Muster: ‚Wollt ihr nun hören?‘), fehlt der Hinweis auf eine medientechnische Zäsur. Selbst wenn der Vortragende Wein bekommen haben sollte, würden sich die Zuhörer sicher bedanken, wenn er danach nicht weitererzählt. Auch die Untersuchungen zur internen Gliederung etwa von Hartmanns Werk9 oder der Gliederungsfunktion der viel diskutierten Dreireime10 helfen nicht weiter. Im Gegenteil, die Dreireime etwa im Wigalois, die Abschnitte von 9 bis zu 117 Versen markieren, ermöglichen das Setzen von „Zäsuren an ganz beliebigen Stellen“11. Auch die Dreißiger und die Buchgliederung in Wolframs Parzival sind in der Überlieferung, in der sie variieren, nicht das Gliederungsmittel, das sie erst durch Lachmanns Ausgabe geworden sind – und das auch nur scheinbar. Als sich bei Wolfram ein wortwörtlicher ‚Cliffhanger‘ findet – als Parzival bei der Tjost gegen den Gralsritter selbst einen Abhang hinunterstürzt und sich nur an eins zêders ast (v. 444,30) festhalten kann –, lässt Wolfram ihn dort nicht eine Weile baumeln. In Lachmanns Ausgabe geht mitten durch den Satz Parzivâl eins zêders ast / Begreif mit sînen handen (v. 444,30–445,1) eine Dreißigergrenze, die von den Handschriften nicht nahegelegt wird. Die Szene hätte ein ‚Cliffhanger‘ sein können

|| 7 Rohrwasser (wie Anm. 5). 8 Nigel F. Palmer, „Manuscripts for reading: The material evidence for the use of manuscripts containing Middle High German narrative verse“, in: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D.H. Green, hg. von Mark Chinca und Christopher Young, Turnhout 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12), S. 67–102. 9 Hansjürgen Linke, Epische Strukturen in der Dichtung Hartmanns von Aue. Untersuchungen zur Formkritik, Werkstruktur und Vortragsgliederung, München 1968. 10 Wolfgang Achnitz, „Ein rîm an drîn worten stêt. Überlegungen zu Verbreitung und Funktion von Mehrreimen in mittelhochdeutscher Reimpaardichtung“, in: ZfdA 129 (2000), S. 249–274. 11 Christoph Fasbender, Der ‚Wigalois‘ Wirnts von Grafenberg. Eine Einführung, Berlin/New York 2010, S. 30. Anders als Däumer (wie Anm. 2), S. 450, glaube ich nicht, dass markierte Vortragsanfänge und -enden bei der Durchsetzung der „Skripturalität“ verschwunden sind. Auch Fasbenders Beobachtungen sprechen eher dafür, dass die Handschriften und die textinternen Gliederungssysteme den Vortragenden einen Spielraum ließen und es institutionelle Gliederungsvorgaben, die den Vortragsrhythmus festlegten, nie wirklich gab.

‚Cliffhanger‘ | 355

und die banale Lösung, dass Parzival einfach nach oben klettert, wäre nicht ungewöhnlich für die Auflösung eines ‚Cliffhangers‘, aber ohne medientechnische Unterbrechung, die hier nicht ansatzweise markiert ist, funktioniert er eben nicht.12 Die von mir geforderte medientechnische Unterbrechung kann man also kaum historisch festmachen. Ein Kompromiss scheint es mir aber zu sein, nach historischen Gliederungsprinzipien von Vortragstexten zu fragen, die in der Überlieferung einigermaßen stabil sind und die mit möglichen Vortragsabschnitten zusammenhängen könnten. Mein Beispiel dafür ist das Nibelungenlied, das in seiner breiten Überlieferung eine recht konsequente Einteilung in markierte Sinnabschnitte, eben in die Aventiuren, aufweist. Nun kann man einwenden, dass die Aventiuren ungleich lang und oft sehr kurz sind, aber immerhin handelt es sich konsequent um inhaltlich gut begründbare Einschnitte mit oft als solche markierten Erzähleingängen, weshalb sich der Text für eine Suche nach ‚Cliffhangern‘ doch zu eignen scheint. Eine erste Durchsicht ergab dabei nichts Spektakuläres. Die Aventiuren enden so, wie inhaltlich geschlossene Abschnitte eben enden; nicht selten zwar mit Vorausdeutungen, aber die sind so vage wie die zahllosen anderen Vorausdeutungen des Liedes, haben also kaum ‚Cliffhanger‘-Potenzial. Es fehlt der überraschende Abbruch mitten in einer Szene und die Aventiure-Enden scheinen eher zu ermöglichen, die Abschnitte auch für sich alleine vortragen zu können und weniger Einzelepisoden zu einem Serientext zu verdichten. Man kann es sich gut vorstellen: Ein Abend mit der Isenstein-Werbung (mit Hochzeitsnacht als Zugabe) oder mit Rüdegers Tod, die Handlung als Ganze dabei jeweils als Wissenshorizont vorausgesetzt. ‚Cliffhanger‘ würden den Vortrag von Einzelaventiuren dagegen unterlaufen. Auffällig indes ist beim Vergleich der Handschriften, dass sich in C13 sehr oft gerade an den Aventiure-Enden Zusatzstrophen finden,14 und genau diese sollen der

|| 12 Erwähnt werden muss, dass Wolfram durchaus suspense – also eine Spannung, die durch die Unsicherheit in Bezug auf die zu erwartenden Folgeereignisse entsteht – auf verschiedenen Ebenen aufbaut. Nur einige Beispiele: Parzivals Aufbruch und der Tod Herzeloydes. Die Rezipienten erfahren hier etwas, das Parzival nicht weiß (wie so vieles), und der suspense besteht darin, dass man sich fragt, wann und wie Parzival dies erfahren wird. Als er im Text später mehrfach die Absicht äußert, zu seiner Mutter zurückkehren zu wollen, wartet man mit Spannung darauf, wann er erfährt, dass dies nicht mehr möglich ist. Suspense ist das, aber kein ‚Cliffhanger‘, denn es fehlt die Unterbrechung. Auch der Wechsel der Protagonisten zwischen Gahmuret-, Parzival- und GawanBüchern lässt keine ‚Cliffhanger‘ entstehen, denn an den Enden der Gahmuret-, Parzival- und Gawan-Bücher, an denen Unterbrechungen im Vortrag recht wahrscheinlich wären, hängt gerade niemand an der Klippe. 13 Ich beschränke mich auf den Vergleich der Handschriften C und B, da ich meine Studie exemplarisch verstehe. Der Unterschied zu den anderen Handschriften und das grundsätzliche Verhältnis der Fassungen und dabei vor allem der Stellenwert von *C wären für weitergehende Untersuchungen mit einzubeziehen. Zum Forschungsstand zur Fassung *C vgl. Florian Schmid, „Erzählen von den Nibelungen. Narrative Strategien der Fassung *C von ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘“, in: Studies and New Texts of the ‚Nibelungenlied‘, Walther, Neidhart, Oswald, and Other Works in Medieval

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Gegenstand der folgenden Untersuchung sein.15 Ich beginne ganz am Ende mit den letzten Strophen, wobei an dieser Stelle gerade kein ‚Cliffhanger‘ zu erwarten ist, denn das Lied endet in der Katastrophe und es wird nicht weitererzählt. In B ist das so formuliert:16 Ine kan iu niht bescheiden, waz sider dâ geschach, wan ritter unde vrouwen weinen man dâ sach, dar zuo di edeln knehte, ir lieben friunde tôt. dâ hât daz mære ein ende. diz ist der Nibelunge nôt. (B 2376)

Anders in C: Ine kann iuch niht bescheiden waz sider dâ geschach: wan kristen unde heiden weinen man dô sach, wîbe unde knehte und manige schne meit: die heten nâch ir friunden diu aller grzisten leit. (C 2439) Ine sage iu nu niht mêre von der grôzen nôt (die dâ erslagen wâren, die lâzen ligen tôt), wie ir dinc an geviengen sît der Hiunen diet. hie hât daz mære ein ende: daz ist der Nibelunge liet. (C 2440)

Das Ende von B und C, als Vertreter der Not- und Liedfassung, unterscheidet sich doch deutlich. C lässt die Handlung nicht einfach auslaufen, sondern deutet die Folgen an, auch wenn sie darüber dann nichts erzählt: Was haben die Hunnen nach der Katastrophe gemacht? B expliziert dagegen das Unvermögen, Weiteres zu sagen, endet mit dem großen Weinen und lässt die Szene in dieser Gegenwart stehen. Die Lied-Fassung, für die hier C steht, dagegen deutet an, dass es eine Zukunft gibt und diese wird dann ja mit der Nibelungenklage erzählt werden. Kann man das als ‚Cliffhanger‘ bezeichnen? Das wäre sicher übertrieben, aber immerhin konfigurieren B und C den Schluss verschieden und genau solche Unterschiede sollen im Folgenden exemplarisch erhoben werden.

|| German Literature. In Memory of Ulrich Müller II (Kalamazoo Papers 2014), hg. von Sibylle Jefferis, Göppingen 2015 (GAG 780), S. 161–208. 14 Dies am Ende der Aventiuren 2, 5, 12, 13, 15, 16, 17, 19, 20, 25, 27, 29, 31, 32, 33, 38, wobei C gegenüber den 39 Aventiuren nur 38 aufweist. Einen Unterschied in der Zählung gibt es ab Aventiure 34, da in C die B-Aventiuren 33 und 34 zusammengefasst sind. 15 Ich zitiere den Text von C nach der Ausgabe: Das Nibelungenlied nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg. und übersetzt von Ursula Schulze, Düsseldorf 2005. 16 Ich gebe den Text von B wieder nach der Ausgabe: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B, hg. von Ursula Schulze, ins Neuhochdeutsche übertragen von Siegfried Grosse, Stuttgart 2010. Es kommt mir nicht auf den konkreten Wortlaut der Handschrift B an, sondern nur um den Textbestand im Vergleich zu C.

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Dazu zuerst ein Überblick über die Ergänzungen an den Aventiure-Enden in Handschrift C: – 2. Aventiure, C 43: Siegfrieds Stärke sei immer und überall bekannt. – 5. Aventiure, C 328: Gunther betont in direkter Rede, dass er eine Frau suchen will, dabei Rat in Anspruch nimmt und diese Frau bekannt werden wird. – 12. Aventiure, C 784: Auch die frouwen bereiten sich auf die Ankunft Kriemhilds und Siegfrieds in Worms vor. – 13. Aventiure, C 821: Brünhild denkt sich, dass sie Kriemhild endlich fragen muss, warum sie keinen zins zahlt, obwohl Siegfried ja ihr eigen ist. C 822: Vorausdeutung, dass ihr das der Teufel riet und es zu viel jâmers führen wird. – 15. Aventiure, C 923 – ersetzt B 912: Auch Giselher und Gernot waren in den Plan zur Ermordung Siegfrieds eingeweiht. Warum haben sie Siegfried nicht gewarnt? – 16. Aventiure, C 1013: Lokalisierung des Brunnens, der noch heute in Otenhein im Otenwald fließe. – 17. Aventiure, C 1082: Beschreibung der Trauer Kriemhilds und Sigmunds. C 1083: Sigmund wird von seinen Männern geraten, Worms zu verlassen. – 19. Aventiure, C 1158–1165: Kloster Lorsch. – 20. Aventiure, C 1314–1315: Die Belohnung der Boten, die Etzel melden sollen, dass Kriemhild die Werbung angenommen hat. – 25. Aventiure, C 1621–1625, ersetzt B 1582: Dialoge zwischen Hagen und dem kappelân, der Hagen verflucht, und zwischen Gunther und dem kappelân, der ihn zu besänftigen versucht. – 27. Aventiure, C 1755–1757, ersetzen B 1713–1714: Statt der Freude des König Etzel betont C stärker, dass Kriemhild auf Rache sinnt. – 29. Aventiure, C 1859–1861: Erzählung vom Palast und der Hofhaltung Etzels. – 31. Aventiure, C 1972: Konkreter Vorverweis auf die Ermordung Ortliebs. – 32. Aventiure, C 2004: Erneuter Vorverweis auf die Ermordung Ortliebs. – 33. Aventiure, C 2083: Die Exilhelden denken über Volkers Reizrede nach und Iring entscheidet sich zum Kampf. – 38. Aventiure, C 2440: Frage nach der Zukunft der Hunnen, von der aber nichts erzählt wird. Viele dieser Strophen an den Aventiure-Enden runden die Episode einfach nur ab: Das Lob Siegfrieds nach Aventiure 2, der verzückte Gunther, der in direkter Rede am Ende von Aventiure 5 seine Werbung plant, die frouwen, die sich am Ende der 12. Aventiure für die Ankunft Kriemhilds schön machen, der Botenlohn am Ende von Aventiure 20, der Palast Etzels am Ende von Aventiure 29. Dabei werden die Aventiuren in sich geschlossener und deutlicher zu Ende erzählt, als dies in B der Fall ist. Das gilt auch für die bekannten Lokalisierungen in C an den Enden von Aventiure 16 (Otenhein) und 19 (Lorsch). Ein ausführliches Episoden-Ende bilden die Dialoge zwischen Hagen, Gunther und dem kappelân am Ende der 25. Aventiure:

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An dieser Stelle findet sich ein letztes Mal eine Begründung des Untergangs, der Fluch des kappelâns, der dann aber ganz souverän von Gunther beschwichtigt wird und auf diese Weise nicht ganz so abrupt aus dem Text entlassen wird, wie das in B der Fall ist. Auch der Erzählerkommentar am Ende von Aventiure 15 über die Untätigkeit Giselhers und Gernots deutet in diese Richtung, wobei hier einerseits die Episode bewertend abgeschlossen wird, andererseits aber auch die Frage nach den Konsequenzen dieser Bewertung für die Folgehandlung aufkommt. Mehrfach tragen diese erweiterten Aventiure-Schlüsse in C die Folgehandlung in sich und konkretisieren die Vorverweise gegenüber den B-Schlüssen. Deutlich ist dies am Ende von Aventiure 13, als Brünhild sich explizit entschließt, Kriemhild die provozierende Frage zu stellen, was auch noch als teuflischer Plan beschrieben wird. Dieser Schluss macht klar, was in der Folge-Aventiure seinen Anfang nehmen wird, und so beginnt in C die Folgeszene konsequenter Weise ganz ohne Wertung (C 823,1): Vor einer versperzîte man ûfem hove sach, während B mit einer Vorausdeutung anhebt, dass es gleich ungemütlich werden wird (B 811,1): Vor einer vesperzîte huop sich grôz ungemach. Eine Konkretisierung des Vorverweises liegt auch deutlich am Ende von Aventiure 27 vor. In B freut sich Etzel über die Ankunft und lacht sogar vor Freude. Auch Kriemhild beteuert ihre Freude, jedoch mit einer hintersinnigen Einschränkung: Sie freut sich über die schönen Schilde und Rüstungen ihrer Verwandten und setzt dann eine Art Kopfgeld aus (B 1714,3bf.): swer nemen welle golt, / der gedenke mîner leide, und wil im immer wesen holt. In der angeblichen Freude wird auf Kriemhilds großes Leid hingewiesen – wer daran denkt, wird belohnt werden. Es ist dies jener Schmerz, über den Dietrich von Bern wenige Strophen später die Burgunden warnend informieren wird. In C findet sich der konkrete Hinweis auf ihn schon am Ende der vorhergehenden Aventiure. Auf diese Weise tragen die Aventiure-Enden in C oft schon die Folgeaventiuren in sich und leiten sie ein. Am deutlichsten ist das vielleicht bei den Aventiuren 17 und 33: Am Schluss von 17 erzählt B, dass viele um Siegfried Trauernde drei Tage nichts gegessen und getrunken haben, aber dass sie sich von ihrem Kummer schließlich erholten. In C werden hier zwei Strophen angeschlossen: Kriemhild unversunnen in unkreften lac den tac und den âbent unz an den andern tac. swaz iemen sprechen kunde, daz was ir gar unkunt. in den selben nten lag ouch der künic Sigemunt. (C 1082) Vil kûme wart der herre wider ze sinnen brâht. von den starken leide kranc was gar sîn maht; daz enwas niht wunder. dô sprâchen sîne man: „herre, ir sult ze lande, wir mugen niht langer hie bestân“. (C 1083)

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Wie von Sinnen liegen Kriemhild und Siegmund darnieder, aber schließlich kommt zumindest er zu Bewusstsein und sofort wenden sich seine Gefolgsleute an ihn und verlangen, dass er ze lande solle. Und genau mit diesem Wunsch auf den Lippen tritt Siegmund am Anfang der 18. Aventiure auf, wenn er zu Kriemhild sagt (C 1084,2; B 1070,2): wir suln in unser lant. Der Plan zum Aufbruch findet sich in C am Ende von 17 und am Anfang von 18. Siegmund nimmt die Bitte seiner Gefolgsleute auf und trägt sie Kriemhild vor. Ähnlich am Ende der 33. Aventiure in C, die in B die 34. Aventiure ist. Erzählt wird hier, wie Kriemhild versucht, die Exilhelden in den Kampf zu treiben. Sie bietet für den Kopf Hagens so viel Gold, wie in Etzels Schild passt und darüber hinaus noch bürge unde lant (C 2079,4; B 2022,4). Dies ist ein reizvolles Angebot, gerade für Exilanten, aber niemand sagt spontan zu. Deshalb packt Volker eine Reizrede darauf, in der er die Helden verhöhnt, die Etzels Brot essen, also sich von ihm versorgen lassen, und jetzt nicht zum Kampf bereit seien; so in B 2023f. In C 2081 tritt in einer Zusatzstrophe innerhalb der Reizrede noch der bitterlich klagende Etzel auf, was Volkers Rede zweiteilt. Tabellarisch veranschaulicht sieht das so aus: B 2023 – B 2024 –

= = = =

C 2080 C 2081 C 2082 C 2083

Der erste Teil der Reizrede Volkers, also C 2080, spielt auf das Geldangebot Kriemhilds an, der zweite, also C 2082, auf den klagenden Etzel, der in C 2081 auftritt und der in B fehlt. Die Reaktion auf die Reizrede folgt dann in C: Dô gedâhten in die besten: „er hât uns wâr geseit.“ doch enwas ez dâ niemen sô herzenlîche leit als ouch Îringe, dem helede ûz Tenelant; daz man in kurzen zîten mit der wârheit wol bevant. (C 2083)

Damit wird schon am Ende dieser Aventiure Irings Reaktion gezeigt, in B geschieht das erst am Anfang der nächsten Aventiure. Die Aventiure wird also, wie oben schon öfter vorgeführt, abgeschlossen, trägt aber auch den Anfang der nächsten Aventiure in sich. Auch ohne die Folgeaventiure zu hören, weiß man, dass sie in die Iringgeschichte mündet, man weiß, dass die Reizrede nicht verklingt, sondern Folgen haben wird. Für diese kann man sich interessieren und weiterlesen, man muss es indes nicht. In B dagegen endet die Aventiure mit einem losen Faden, den die Folge-Aventiure aufnimmt, wenn man sie denn liest oder hört. In B muss man weiterlesen oder zuhören, um von der Reaktion auf die Reizrede zu erfahren. In C kann man das tun, oder eben auch nicht, ohne dass der Effekt der Schlussszene verloren geht. Denkt man zusätzlich daran, dass in C die kurze Aventiure B 34 von der Aventiure C 33 geschluckt wird, deren Ende wir eben beobachteten, spricht das

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deutlich dafür, dass C hier sehr geplant in die Aventiure-Gliederung eingreift. Was scheinbar ein Gegenmodell zu dem ist, was ich als Abschluss bezeichnet habe, also zu jenen oben genannten Szenen und Details, die die Aventiuren potenziell besser für sich erzählbar machen, erweist sich hier als doppeltes Spiel zwischen Abschluss und Vorverweis: Der konsistente Schluss in C, der die Folge der Reizrede nennt, macht die Rezeption der Folge-Aventiure möglich, aber nicht nötig. ‚Cliffhanger‘ sind das nicht, aber immerhin Spuren dafür, dass in Handschrift C das Verhältnis der Aventiuren zueinander genauer austariert wird; und die Schlüsse zeigen auch, ob eine Aventiure eher für sich alleine stehen kann, oder ob sie eher in einem Zug mit der Folgeaventiure gelesen werden soll. Otenhein (Aventiure 16), das Kloster Lorsch (Aventiure 19), Hagens und Gunthers Dialog mit dem kappelân (Aventiure 25), das scheinen mir Schlüsse zu sein, die am Ende eines Vortrags gut passen würden, andere wiederum, wie die eben gezeigte Iring-Strophe am Ende der 33. Aventiure in C, reizen eher zum Weitererzählen. Aber es gibt in C auch Ergänzungen an den Aventiure-Enden, die nicht in dieses Bild passen, nämlich die Enden der Aventiuren 31 und 32. Am Ende der 31. Aventiure, also nach dem Kirchgang und dem tödlichen Turnier, kommt Ortlieb ins Spiel. Etzel bittet die Burgunden, ihn mit an den Rhein zu nehmen, um ihn auszubilden. Das hält Hagen an sich für eine gute Idee, nur mit der Einschränkung, dass Ortlieb nicht erwachsen werden würde, da er so veiclich getân (B 1915,3; C 1969,3) sei, also ‚zum Tode bestimmt‘. Dies hören Etzel und seine Gefolgsleute nicht gern, aber sie wissen nicht, was noch kommen wird. In C wird dieses Wissen allerdings den Zuhörern explizit mitgegeben: sît tet im Hagene mêre: er sluogen vor sînen ougen tôt (C 1972,4). Einen konkreteren Vorverweis auf Ortliebs Tötung kann man nicht geben. Und dieser ist nicht der einzige. Am Ende von Aventiure 32 – bevor in C die Aventiure 33 die Aventiure B 34 inkorporieren wird, also in einer Passage, in der die Arbeit an der Aventiuren-Gliederung mit Händen zu greifen ist – unterscheiden sich C und B wieder. Es ist die Szene, als Dankwart, nachdem er überfallen wurde, sich den Weg zur Halle, zu Hagen erkämpft. In B wird sein blutiger Weg zur Halle beschrieben. Die Aventiure 33 beginnt in B damit, dass der küene Dancwart under di tür getrat (B 1948,1). C zieht die Grenze anders und beginnt die Aventiure damit, dass Dankwart in der Halle [v]il lûte rief (C 2005,1; B 1949,1) und mit seinem Bruder Hagen spricht. Das ist vielleicht nur eine Nuance, aber immerhin trennt C konsequent den Weg zur Halle und die Szene in der Halle, aber vielleicht kann man die Ankunft an der Tür der Halle auch schon zur Hallenszene zählen, so wie das B anscheinend tut. Wichtiger ist die Zusatzstrophe in C: Ez was reht in der wîle dô Dancwart kom für die tür, daz man Ortlieben truoc wider unde für von tische ze tischen, den fürsten wol geborn. von disen starken mæren wart daz kindelîn verlorn. (C 2004)

‚Cliffhanger‘ | 361

Ein zweites Mal wird Ortliebs Tod vorausgesagt und zwar am Ende der Aventiure, die vor seiner Ermordung steht. Die genaue Korrelation der Zusammenhänge – das Erscheinen Dankwarts vor der Tür und der kommende Tod Ortliebs – zeigt übrigens, dass C wohl tatsächlich zwischen den im Halleninnern und den davor stattfindenden Ereignissen unterscheidet: (1) Dankwart kommt an, (2) Ortliebs Tod wird vorausgesagt und (3) erst am Beginn der neuen Aventiure in C spricht Dankwart mit seinem Bruder und reizt ihn zu jenem Kampf, den Hagen mit der Ermordung Ortliebs irreversibel beginnen wird. Deutlich aber scheint mir an dieser Stelle, dass diese Korrelation zweier Ereignisse, Dankwarts Ankunft in der Halle und Ortliebs spätere Tötung, nicht ins Konzept der bislang beschriebenen Aventiure-Schlüsse in C passt. Was hat das eine mit dem anderen zu tun, wie wird sich das zusammenfügen? Das kann man sich fragen. Die Aventiure wird dezidiert auf die Folgehandlung hin geöffnet und die Arbeit an der Aventiure-Gliederung in der ganzen Passage deutet auf ein Kalkül in C hin. Hier würde ich am ehesten von einem ‚Cliffhanger‘ sprechen: eine Unterbrechung mitten in einer tobenden Handlungssequenz, mit einem expliziten Vorverweis, nicht nur auf ein Ereignis, sondern auch auf den Zusammenhang verschiedener Ereignisse. Das Problem bleibt, ob und wie man die von mir eingeforderte medientechnische Unterbrechung ansetzen kann. Das muss hypothetisch bleiben, aber an dieser Stelle werden drei Aventiuren, die auf den Tod Ortliebs hinauslaufen, zusammengesehen. Es wird eine kleine Serie initiiert, die mit dem Tod des Kindes endet. Sagen wir es in der Sprache der Serien, dann haben wir eine Ortlieb-Staffel vor uns, eine Folge von drei Episoden innerhalb der großen Serie Nibelungenlied. Ich fasse zusammen: B organisiert lockere Anschlüsse zwischen den Aventiuren, die eher einen kontinuierlichen Vortrag voraussetzen. Handlungsstränge brechen oft ab und werden erst verständlich, wenn man die Folgeaventiure hört oder liest. C greift in diese Aventiure-Grenzen erstaunlich oft und kalkuliert ein und folgt dabei verschiedenen Prinzipien: Viele Aventiure-Schlüsse machen die Aventiuren besser einzeln vortragbar. Die Zusatzstrophen runden die Aventiuren ab und wirken wie Ankergewichte, nach dem Muster: Dieser Brunnen im Odenwald bei otenhein (C 1013) fließt noch heute.17 Andere Aventiure-Schlüsse schlagen dabei auch Brücken zwischen den Aventiuren. Muster: Iring reagiert direkt auf Volkers Reizrede (C 2083), die zwar einerseits die Handlung der Aventiure abschließt, aber auch auf die Folge-Aventiure neugierig macht, ohne dass man sie indes lesen oder anhören muss. Einen anderen Typ der Zusatzstrophen am Aventiure-Ende bilden die Vorausdeutungen auf Ortliebs Tod (C 1972 und C 2004). Sie ergeben sich vor allem bei C 2004 nicht aus der Handlungslogik, sondern benennen eine folgende Handlung,

|| 17 So auch Schmid (wie Anm. 13), S. 177, der dabei ein „Verständnis von Aventiuren als Handlungs- und Vortragseinheiten“ annimmt.

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auf deren Gründe und Ablauf man neugierig gemacht wird. Hier treibt C die Rezeption an, man muss weiterlesen und weiter zuhören, ob nun sofort oder am nächsten Tag. Zwischen den Aventiuren schwebt die Frage nach dem ‚Wie‘ und ‚Warum‘ und das gleicht einem ‚Cliffhanger‘ mehr, als das die anderen Aventiure-Schlüsse in C tun. Über die Aufführungspraxis können wir daraus vielleicht nicht viel lernen, wohl aber über die Organisation und das Verhältnis der Einzelaventiuren in C, die man genauer daraufhin untersuchen könnte. In C wechselt die Perspektive der Bearbeitung: Mal ist sie auf die einzelne Aventiure gerichtet, mal auf die Verbindung zur nächsten, mal auf eine Reihe von Aventiuren, die in einen Zusammenhang gerückt werden. Die Frage nach ‚Cliffhangern‘ war dabei in einem medientechnischen Sinn nicht zu beantworten; vielleicht kann man an der einen oder anderen Stelle eine Unterbrechung plausibler machen, aber gerade da fehlen ‚Cliffhanger‘. Dort, wo wir die Funktion als ‚Cliffhanger‘ beobachten konnten – wie bei den Ortlieb-Fortsetzungen –, wird man wohl eher gleich weiter vorgetragen haben. Die Spannung und Neugierde, die aufgebaut werden, führen zum Weitererzählen und wohl kaum zu einem gespannten Warten über einen längeren Zeitraum hinweg. Das bedeutet aber, dass es sich zwar inhaltlich, aber nicht medientechnisch um ‚Cliffhanger‘ handelt. Von der Pragmatik des epischen Vortrags aus betrachtet, geht es wohl mehr um ein Buhlen um Aufmerksamkeit, und dies ist in Konkurrenz zu vielen Formen der höfischen Unterhaltung zu denken. Vortragen heißt auch, sich gegen diese anderen – oft sicher recht lautstarken – Formen durchzusetzen, wie das etwa Walther von der Vogelweide in seiner Thüringer Hofschelte anklingen lässt.18 Die ‚Cliffhanger‘ des Mittelalters entfalten ihre Wirkung in einem ganz anderen Kontext als in der Moderne. Geht es dort um eine Verdauerung einer konzentrierten Rezeption eines Kunstwerks, legt man im Mittelalter wohl überhaupt erst den Grundstein für eine solche konzentrierte Rezeption. Insofern führt die Suche nach ‚Cliffhangern‘ hinein in die Praktiken der Institutionalisierung von Literatur im Kontext der höfischen Kultur. Aber über diese pragmatische Dimension hinaus könnten die vorgelegten Beobachtungen auch helfen, das Verhältnis von Epos und Episode, das Verhältnis von syntagmatischer und paradigmatischer Kohärenz besser beschreiben zu können, was ich freilich nur andeuten konnte. Am Ende kommt man wohl nur durch die Verbindung der genannten pragmatischen Dimension mit diesen textuellen Dimensionen zu einem historisch adäquaten Blick auf das Epos – aber mehr als einen Vorschlag wollte ich dazu auch nicht machen.

|| 18 Vgl. dazu Peter Strohschneider, „Fürst und Sänger. Zur Institutionalisierung höfischer Kunst, anläßlich von Walthers Thüringer Sangspruch V,9 [L. 20,4]“, in: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen, hg. von Ernst Hellgardt, Stephan Müller und Peter Strohschneider, Köln u.a. 2002, S. 85–107.

Maryvonne Hagby

Vox sancti Beobachtungen zur Stimmlichkeit der volkssprachigen Legenden des Hoch- und Spätmittelalters

1 Einleitung Paul Zumthor stellte in seinen Vorlesungen zu Stimme und Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft fest, dass „der eigentliche Zweck der mittelalterlichen Schrift die vokale Kommunikation ist“,1 der es weniger um Belehrung oder Wissensvermittlung gehe, als darum, „die lebendige und feierliche Erinnerung an das zu bewahren, was die Einheit und den Zusammenhalt der Gruppe stiftet“.2 Damit sprach er einen Grundsatz an, der in funktionaler Hinsicht die Gattung der Heiligenlegende mindestens zum Teil definiert: Durch vokale Kommunikation „das zu bewahren, was die Einheit und den Zusammenhalt der Gruppe stiftet“, ist mit Sicherheit eine ihrer ersten Aufgaben. Romanautoren wie Hartmann, Reinbot von Durne oder Konrad von Würzburg erinnern in den Prologen ihrer Legenden ausdrücklich daran, dass selbst in ihren höfischen Formen diese Gattung im Mittelalter stets die Aufgabe bekommt, die Gemeinschaft der Rezipienten durch mehr oder weniger paraliturgische Texte zu fördern.3 Die Legende „begründet [...] die Gemeinschaft im selben Moment, wo [sie] gesprochen und vernommen wird, indem [sie] die Gesamtheit der Anwesenden körperlich in die Performance einbezieht und – zumindest potentiell – in ein kollektives Handeln mündet“.4

|| 1 Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 18), S. 80. 2 Ebd., S. 81. 3 Vgl.: Der heilige Georg Reinbots von Durne, hg. von Carl von Kraus, Heidelberg 1907 (Germanische Bibliothek 1), v. 59–61: daz es in werde werde bekannt / und reiche übr alliu tiutsche lant / von Tyrol rehte unz an Bremen; Pantaleon von Konrad von Würzburg, hg. von Winfried Woesler, Tübingen 2 1974 (ATB 21), v. 2133–2139: Pantaleôn der reine, / den al diu werlt gemeine / solt êren unde prîsen. […] / [er] mac die nôt geswachen / des wîbes und des mannes; Gregorius von Hartmann von Aue, hg. von Hermann Paul, 12. Auflage besorgt von Ludwig Wolff, Tübingen 1973 (ATB 2), v. 36–40: ze sprechenne die wârheit / daz gotes wile wære / und daz diu grôze swære / der süntlîchen bürde / ein teil ringer würde. 4 Zumthor (wie Anm. 1), S. 29. Zur Gattung der Legende in der Forschung vgl. grundlegend: Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20); Alain

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Entsprechend ist die Kenntnis der konkreten Rezeptionsformen bzw. der Aufführungspraxis der Heiligenlegenden etwas genauer als diejenige der anderen Formen mittelalterlicher erzählender Literatur: Bereits die älteste überlieferte Heiligenlegende, die Chanson de Sainte Foy d’Agen (um 1050) sollte Prosper Alfaric zufolge ausdrücklich auf den ersten Ton, d.h. in alternierender Psalmodie, gesungen werden. Auch die Formen der Rezeption der einzelnen hoch- und spätmittelalterlichen Legenden oder Legendare sind weitgehend bekannt: Die Viten der Heiligen wurden zur Erbauung ‚privat‘ gelesen; vorgesehen war jedoch meistens ein mündliches Vortragen. Manche Verslegenden wurden am Hof öffentlich vorgetragen; weitere Versoder Prosalegenden wurden in den Gottesdienst integriert, zur Feier eines gleichnamigen Zuhörers, im Kapitel oder als Tischlesung im Kloster vorgelesen bzw. vorgesungen.5 In diesen rezipientenbezogenen Vermittlungssituationen wurden Produktion, Bewahrung und Weiterleitung der Texte schriftlich vollzogen, während die Verbreitung der Texte meist durch den öffentlichen Vortrag (mit Gesangstimme in frei akzentuierender Form), also mündlich-auditiv geschah. Diesem rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund entsprechend greift die literarisierte Heiligenlegende einerseits auf Elemente gelehrten, historisch-wissenschaftlichen Erzählens zurück – sie soll wahr und historisch sein und wird entsprechend oft datiert, geographisch zugeordnet, quellenkritisch geprüft usw.6 Andererseits ist sie göttliche narratio und betont ihre Nähe zum rituellen Erzählen, indem sie ihren paraliturgischen Charakter bewusst unterstreicht (zum Beispiel durch die Erwäh-

|| Boureau, L’événement sans fin. Récit et christianisme au Moyen-Âge, Paris 1993 (Histoire 22); Werner Williams-Krapp, Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte, Tübingen 1986 (Texte und Textgeschichte 20); ders., Geistliche Literatur des späten Mittelalters. Kleine Schriften, hg. von Kristina Freienhagen-Baumgardt und Katrin Stegherr, Tübingen 2012 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 64); Ulrich Wyss, „Legenden“, in: Epische Stoffe des Mittelalters, hg. von Volker Mertens und Ulrich Müller, Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe 463), S. 40–60. 5 Diese Rezeptionsformen werden unter anderem durch Untersuchungen zum Bestand von Bibliotheken belegt. Vgl. Hans-Jochen Schiewer, „Literarisches Leben in dominikanischen Frauenklöstern des 14. Jahrhunderts: das Modell St. Katharinental bei Dießenhofen“, in: Studien und Texte zur literarischen und materiellen Kultur der Frauenklöster im späten Mittelalter. Ergebnisse eines Arbeitsgesprächs in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. 24.–26. Februar 1999, hg. von Falk Eisermann, Eva Schlotheuber und Volker Honemann, Leiden/Boston 2004 (Studies in Medieval and Reformation Thought 99), S. 285–309, hier S. 290f.; Volker Mertens, „Verslegende und Prosalegendar. Zur Prosafassung von Legendenromanen in ‚Der Heiligen Leben‘“, in: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Kolloquium 1978, hg. von Volker Honemann, Kurt Ruh und Bernhard Schnell, Tübingen 1979, S. 265–289, hier S. 288f. 6 Zur historisierenden Wissenschaftlichkeit der Legende durch Datierungen, Ortsangaben u.a. vgl.: Maryvonne Hagby, „niunzic und zwei hundert jâr wârn von Krists gebürte her […]: Beobachtungen zu den Datierungsbezeichnungen historischer Inhalte in der hochmittelalterlichen Legendenliteratur“, in: exemplar. Festschrift für Kurt Otto Seidel, hg. von Rüdiger Brandt und Dieter Lau, Frankfurt a.M. 2008 (Lateres. Texte und Studien zu Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit 5), S. 201–224.

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nung alt- oder neutestamentlicher Figuren, durch Zitate aus liturgischen Gebeten, durch gemeinschaftliche Gebete am Ende der narratio usw.). Schließlich ist die Legende materia, die von den Autoren in rezeptions- und funktionsorientierten Texten bearbeitet bzw. wiedererzählt wird, deren Besonderheit jedoch darin liegt, dass ihr Stoff als von Gott gegeben betrachtet wird. Nicht der Autor oder ein Erzähler sprechen in den Legenden zu den Rezipienten, sondern Gott selbst, der sie und die Heiligen inspiriert – in der konkretesten Form dieser Besonderheit der Legende erscheint in der Margaretenlegende eine Taube, die als Stimme Gottes die Handlung bestätigt.7 Eine Folge dieses heilsversprechenden Hintergrundes der Legende ist ihre einfache, finale Strukturform, ihre „Tendenz zum Schematismus“, die diese materia genauso wie ihre „elementare Symbolfunktion“ und ihr „unbedingte[r] Wahrheitsanspruch“8 charakterisieren. Die materia und mit ihr alle Viten erfüllen grundsätzlich drei Funktionen: Sie sollen „Präsentation der göttlichen Heilsordnung [sein], die Imitabilität der menschlichen Heilsaneignung [bestätigen und die] Kultwürdigkeit des Heiligen“ garantieren.9 Entsprechend werden die Texte meist als lineare biographische Berichte konzipiert, die an die Erzählweise der Bibel erinnern und ihre Nähe zu liturgischen Modellen des Erzählens deutlich zeigen.10 In diesem Rah-

|| 7 Vgl. hierzu Franz Josef Worstbrock, „Wiedererzählen und Übersetzen“, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. von Walter Haug, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142. Worstbrock definiert die materia generell als Stoff – und zwar wie er dem Autor bekannt ist bzw. zur Verfügung steht, bevor dieser zum artificium greift. Dieser Definition entsprechend wird in diesem Aufsatz die Gattungsbezeichnung ‚Legende‘ als materia verstanden: Die einzelne Bearbeitung einer Legende durch einen Autor ist eine ‚Vita‘; die materia bzw. der Stoff und das Korpus aller den Autoren zur Verfügung stehenden Viten bilden gemeinsam die ‚Legende‘. Diese Begrifflichkeit überschneidet sich zum Teil mit derjenigen Jolles’, der in seinen Studien die Legende als ‚einfache Form‘ mit der Geistesbeschäftigung der imitatio verbindet und „die Vergegenwärtigung tätiger Tugend und bestätigender Wunder, die in Form von Sprachgebärden gestaltet werden,“ als Grundprinzipien der Legende definiert (Maria E. Müller, „Die heilige Margarete, der Teufel und André Jolles“, in: Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende, hg. von Nine Miedema, Angela Schrott und Monika Unzeitig, Berlin 2012 [Historische Dialogforschung 2], S. 127–144, hier S. 131). Jolles, der „intuitiv die performative Energie der Sprache“ erkennt, entwirft ein „heuristisches Modell, das zur Analyse des legendarischen Wiedererzählens unverzichtbar ist“ (beide Zitate ebd., S. 144). Seine Begrifflichkeit klingt an einigen Stellen dieses Aufsatzes an; sie wurde jedoch nicht grundsätzlich gewählt, weil ‚Geistesbeschäftigung‘ und ‚Sprachgebärde‘ nicht-literarische Kategorien bilden und daher bei der Analyse der Stimmlichkeit in ihrer literarischen Ausformung für Unklarheiten gesorgt hätten. André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Studienausgabe der 5., unveränderten Auflage, Tübingen 1974 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15). 8 Susanne Köbele, „Die Illusion der ‚einfachen Form‘. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende“, in: PBB 134 (2012), S. 365–404, hier S. 377. 9 Ebd., S. 377f. 10 Vgl. Mertens (wie Anm. 5), S. 287.

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men erweist sich die Legende jedoch im Hinblick auf die Rezeptionssituation der einzelnen Werke und Sammlungen als sehr flexibel: Die Viten der Heiligen werden, je nach Kommunikations-, Funktions- und Rezeptionszusammenhängen, unterschiedlich narrativiert. So wird die Legende der heiligen Margarete zum Beispiel von Wetzel in einem „höfischen Kommunikationsrahmen […] in der Art einer auentúr“11 erzählt; im Werk von Hartwig von dem Hage, der seine Bearbeitung als „gewissenhafter Seelsorger, der belehren und trösten will“, dichtet, erlebt die Handlung als „Wiederholung der Glaubensgrundlagen“ eine „didaktische Perspektivierung und Rationalisierung des Geschehens“; im Passional wird, dem anzunehmenden klösterlichen Gebrauchskontext entsprechend,12 der Akzent „stärker auf inneren Mitvollzug gesetzt“,13 während in der Elsässischen Legenda Aurea die Etymologie des Namens der Heiligen zu Beginn erklärt wird, bevor die Handlung bis auf ihr minimales Gerüst zusammengefasst und weitgehend ohne artificium erzählt wird.14 Diese aus einer „differenzierten publikums- und situationsspezifischen Aufbereitung resultierende Verschiedenartigkeit“15 ist bereits für die frühen Verslegenden charakteristisch, die im Hochmittelalter als höfische Versepen bearbeitet wurden.16 Legenden stellen ihren Autoren eine große Anzahl flexibler Möglichkeiten zur Verfügung, um die jeweiligen Texte rezeptionsorientiert zu literarisieren – daraus entsteht eine Vielfalt der Formen und Funktionen, die einerseits die Beliebtheit der Gattung durch das gesamte Mittelalter hindurch gesichert haben wird, andererseits Edith Feistner in ihrer Typologie dazu zwingt, nicht nur zwischen hochmittelalterlichen höfischen Verslegenden und Legenden in spätmittelalterlichen Legendaren zu unterscheiden, sondern auch zwischen „paradigmatischen“ Bekennerlegenden und „syntagmatischen“ Märtyrerlegenden, zwischen „Legenden für Literaturkenner“ und „volkssprachliche[n] Prosa[-legenden] als Stellvertretung offizieller Latinität“ und anderem mehr.17 Die diesem Beitrag zugrunde liegende Überlegung thematisiert diese Vielseitigkeit der mittelalterlichen Legende indirekt: Feistners Typologie der Legende listet produktions- und rezeptionsspezifische Diskursmerkmale auf, die es ihr ermöglichen, die literarischen Formen des mittelalterlichen Legendenerzählens in ihrer Unterschiedlichkeit zu klassifizieren. Sie lässt jedoch spiegelbildlich weitere Dis-

|| 11 Feistner (wie Anm. 4), S. 109. 12 Ebd., S. 226, Anm. 498. 13 Ebd., S. 269. 14 Weiter ebd., S. 91–116. 15 Ebd., S. 115. 16 Volker Mertens beobachtet, dass die Elemente, die in dieser Primärrezeption eine große Rolle gespielt haben (höfische Aktualisierung, Repräsentation usw.), in den Legendarien eliminiert werden; sie waren offensichtlich „für Redaktor und Publikum nicht [mehr] von Bedeutung [...]“. Mertens (wie Anm. 5), S. 277f. 17 Feistner (wie Anm. 4), unter anderem S. VI-VIII.

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kursmerkmale vermuten, die umgekehrt alle Viten eines Heiligen erzähltechnisch vereinen und als Zeichen der Bearbeitung einer göttlich inspirierten materia die Akzeptanz der jeweiligen Texte als Legende gesichert haben werden: Werden die Legenden lediglich anhand ihrer biographisch geordneten Motive definiert oder weist die Analyse der Texte tatsächlich auf weitere konstituierende, formale und stilistische Merkmale hin, die eine Ausformung der Texte im Sinne der legendarischen imitatio und aedificatio18 voraussetzte bzw. die daher der Kohärenz der Gattung dienten? Die hagiographische Konvention, die die Heiligen zum absoluten Gottesgehorsam und daher zur Reaktions- und Gewaltlosigkeit verpflichtet, können die Autoren literarisierter Viten (jenseits der Darstellung der sich stets wiederholenden grausamen Martern) nur erfüllen, weil die geistigen Waffen dieser Helden (ihre Glaubensstärke, ihre Heilsgewissheit und ihr Gebet) aus ihnen sprechende (bzw. lehrende) Missionare machen; die Grundzüge der dazu gehörenden Vokalität müssen entsprechend zu jenen Elementen der materia gehören, die gemeinsam und verbindlich das Leben des Heiligen erzählen und alle Viten entsprechend vereinen. Wie konzipieren und funktionalisieren die Autoren der mittelalterlichen Legenden die Stimmen der Figuren in den Texten konkret, um im Rezeptionsprozess die Heiligkeit der Helden und der materia erkennbar werden zu lassen und sie adäquat zu beschreiben? Ist es möglich, in den mittelalterlichen Viten eine Vox sancti, eine alle oder die meisten Bearbeitungen der jeweiligen Legende charakterisierende Vokalität zu erkennen, die dem heiligen Helden eine einheitliche Stimme verleiht? Die folgende Untersuchung der ‚Vokalität‘ in der Legende muss sich im Rahmen dieses Aufsatzes darauf beschränken, bei der Analyse der Stimmlichkeit mittelalterlicher Viten den Schwerpunkt auf die Funktionalisierung der Stimme der Helden zu setzen, d.h., konkret die strukturelle Gestaltung der Texte in der Figurenrede zu analysieren.19 Dazu muss als Grundlage für die Analyse eine Vita ausgesucht wer-

|| 18 Während André Jolles die Legende als Ausdruck der ‚Geistesbeschäftigung‘ der imitatio darstellt, bemerkt Albert Gier zu Recht, dass die Imitabilität der Legende die Gattung nur in Verbindung mit der aedificatio definiert: „Der Heilige soll nicht nur Tugend verkörpern und zur Nachahmung bewegen, sondern auch die Macht Gottes in sich erweisen, die Zuhörer im Glauben stärken und zur Verehrung führen“. Albert Gier, Der Sünder als Beispiel. Zu Gestalt und Funktion hagiographischer Gebrauchstexte anhand der Theophiluslegende, Frankfurt a.M. u.a. 1977 (Bonner romanistische Arbeiten 1), S. 16f. 19 Diese Perspektive reduziert das Untersuchungsfeld der Stimmlichkeit im Sinne Zumthors (wie Anm. 1) grundlegend: So geraten zum Beispiel Überlegungen über Gestaltung oder Wirkung der weiteren vermittelnden Stimmen (Erzähler, Vortragender usw.) bzw. über Spuren mündlich-auditiver Rezeptionsformen, aber auch die lexikologische oder syntaktische Analyse der Texte (zum Beispiel Einsatz von verba dicendi, von Modalangaben, von prosodischen Mitteln), wie Zumthor sie bei der Analyse der Stimmlichkeit eines Textes selbstverständlich voraussetzt, in den Hintergrund. In diesem Aufsatz wird dieser Einschränkung der Definition Zumthors dadurch Rechnung getragen, dass im Folgenden der Begriff ‚Vokalität‘ bevorzugt wird, um den reduzierten untersuchten Gegenstand zu kennzeichnen. ‚Vokalität‘ weist also auf das Konzept bzw. die Spuren einer physischen

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den, die die materia so wenig wie möglich ausschmückt bzw. auf die meisten Elemente des artificium, auf Zeichen der Historisierung, der Heroisierung sowie der Höfisierung der Legenden weitgehend verzichtet. Im Folgenden wurde hierzu die Legende der heiligen Margarete gewählt; aus dem Korpus ihrer Viten wird die deutsche Bearbeitung aus Der Heiligen Leben ausgesucht. In einem ersten Schritt wird das Konzept der Vokalität der Figurenrede in diesem Text vorgestellt, indem die stimmlichen Formen der Dialoge, Monologe und Gebete der Helden beschrieben werden. Im zweiten Schritt wird untersucht, wie und mit welchen Mitteln diese Vokalität funktionalisiert wird: Bekommt die Stimme der Heiligen die Aufgabe, die Wahrheit und die Kohärenz der Vita zu stiften oder mitzutragen? Schließlich muss die Studie prüfen, ob die vorrangig strukturell definierte Vokalität für andere Fassungen der Legende verbindlich ist; hierzu werden die Ergebnisse der Untersuchung der Vita in Der Heiligen Leben durch einen kurzen Vergleich mit der französischen Fassung von Wace, Hartwigs von dem Hage Vita der Heiligen Margaret, der Vita aus der Elsässischen Legenda Aurea und der Vita aus dem Passional ergänzt.

2 Vokalität in der Vita Margaretes in Der Heiligen Leben Die heilige Margarete von Antiochien gehört zu den vierzehn Nothelfern und zu den ‚Märtyrern von unzerstörbarem Leben‘.20 Der Margareten-Kult war besonders ab dem 13. Jahrhundert weit verbreitet, die Anzahl ihrer Viten außergewöhnlich groß. Dass die Stimme in der Wirkung und Rezeption dieser Viten (und im Kult der Heiligen) bis ins Spätmittelalter hinein eine wichtige Rolle spielte, beweist ein außergewöhnliches Merkmal – die Tatsache, dass die Stimme der heiligen Margarete zu jenen gehört, die Johanna von Orleans (neben den Stimmen des heiligen Michael und der heiligen Katharina) hörte und die ihr konkret befahlen, gegen die Engländer zu kämpfen und den französischen König an seine Macht zurückzuführen.21 Die Erwähnung von Margarete und Katharina in diesem Kontext ist aufschlussreich: Beide Heilige sind nicht nur virgines capitales, sondern vor allem ‚diskutierende‘ Märtyrerinnen, die besonders verehrt werden, weil sie in wortstarken disputationes die Heiden zum christlichen Glauben bekehren. Margarete diskutiert sowohl mit || Präsenz der heiligen Helden hin, die sich in deren Rede (und Stimme) direkt artikuliert; ‚Stimmlichkeit‘ nimmt dagegen auf die allgemeinere Definition Zumthors Bezug. 20 Zur Einführung vgl. Werner Williams-Krapp, „Margareta von Antiochien“, in: ²VL, Bd. 5, Berlin/New York 1985, Sp. 1239–1247; und Edith Feistner, „Margarete H.“, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 9, Berlin/New York 1999, Sp. 312–317. 21 Vgl. u.a. Philippe Contamine, „Jeanne d’Arc“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München 1991, Sp. 342–344.

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ihrem Gegner, dem adligen Olibrius, mit dem Volk als auch mit dem Teufel selbst: Es ist zu erwarten, dass die Vokalität in ihren Viten einen besonders hohen Stellenwert erhält. Wie bereits erwähnt wurde in diesem Korpus die Bearbeitung der Legende der heiligen Margarete im Legendar Der Heiligen Leben gewählt.22 Das Werk wurde von einem Dominikaner um die Wende des 14. zum 15. Jahrhundert verfasst, vermutlich zur Tischlesung für die Schwestern des Nürnberger Katharinenklosters; rezipiert wurde es in allen literaturfähigen Schichten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Es handelt sich um eine Prosakompilation, die „in einem sehr aufwendige[n] Mosaikverfahren“23 zahlreiche Quellen kürzt, um die Viten der Heiligen „in einem [...] auf vertraute Gleichförmigkeit abzielenden Formelstil“24 kalendarisch zu erzählen. In diesem Legendar sammeln die einzelnen Viten alle Fakten, die die bekannten Fassungen der Legenden bieten: Die Forschung spricht von „Abbau von individualisierenden Darstellungsmomenten“ und von einer „Tendenz zur syntaktischen Reihung mit Nivellierung komplexer Abhängigkeitsverhältnisse“.25 Die Vita der heiligen Margarete in Der Heiligen Leben bietet ein typisches Beispiel der Bearbeitungstechnik dieses Legendars: Die Erzählung ist kurz; sie entspricht etwa einem Sechstel der Margaretenlegende Hartwigs von dem Hage und ungefähr der Hälfte des Textes im Passional. Ihr Autor tilgt alle „ausgreifende[n] Deskriptionen, alle aufwendig gefeilte[n] Redeteile oder lange[n] Kommentare“;26 er reduziert konsequent die Erzählung auf ihren legendarischen Kern. Der Heiligen Leben setzt direkt mit der Erzählung ein. Wie alle anderen Legenden der Sammlung enthält diese keinen Prolog, keine Einführung durch einen Erzähler: Sand Margreta di heilig ivnkfrav di ist geporn von der stat Anthiochia, vnd waz ir vater ain patriarch vnd hiez Theodosius vnd waz gar edel vnd waz ain haiden vnd waz gewaltig ber di haiden in dem selben lant. Vnd waz wenig kristen, wann di haiden vingen si vnd toten si. (S. 230, Z. 4–7).27

|| 22 Zu Der Heiligen Leben vgl. Feistner (wie Anm. 4), S. 271–292; und Mertens (wie Anm. 5). Das Legendar ist das meist verbreitete Werk der deutschsprachigen Legendenliteratur (200 erhaltene Handschriften, 41 Drucke). 23 Feistner (wie Anm. 4), S. 289. 24 Ebd., S. 272. 25 Ebd., S. 274. 26 Ebd., S. 282. Die Katechese-Strategie in Der Heiligen Leben erinnert an die Legenda Aurea (Enthistorisierung, Entrhetorisierung, Verzicht auf Etymologie der Namen, Quellenkritik oder Kommentare). Sie appelliert „an tiefe [...] Sehnsüchte nach Schutz und Geborgenheit“; ebd., S. 290. 27 Ausgabe: Der Heiligen Leben, Bd. 1: Der Sommerteil, hg. von Margit Brand, Kristina FreienhagenBaumgardt, Ruth Meyer und Werner Williams-Krapp, Tübingen 1996 (Texte und Textgeschichte 44), S. 230-233.

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Wie in diesem ersten Satz sind im gesamten Text alle Hinweise gestrichen, die in anderen Viten dem gelehrten Anspruch mancher Legendare verpflichtet sind: keine Zitate kirchlicher Autoritäten, kein Quellennachweis, keine Quellenkritik, keine Datierungen, vor allem keine Erzählerfigur, keine Überleitungen, keine Aufforderungen zum Zuhören oder Mitfühlen, keine Anreden. Die „Ereignisse erscheinen in einem [einfachen] zeitlichen Kontinuum, das interpretatorischer Zäsuren nicht bedarf“.28 Die ausgesprochen knappe geographische Situierung (Anthiochia) korrespondiert mit der schablonenhaften historischen ‚Datierung‘, die auf die Zeit der Verfolgung der Christen hinweist. Diesen minimalen Angaben folgt die Schilderung der Kindheit der Heldin: Z den zeiten bvhs der kristen glavben. Do liez man sand Margrett z ainer ammen, di waz ain kristeinn. Do starb ir ir mter schier. Do lernt di lieb ivnkfrav sand Margret den kristen glauben von der ammen vnd hort auch, wi ser got di keuschait minnet. Do enczvnt der heilig gaist ir hercz vnd ir sinn, daz si ganczev lieb z kristen glavben gewan vnd ward haimleichen getavft. Dez ward ir vater inen. Do waz im gar zorn vnd drot ir ser. Dez ahtet di lieb ivnkfrav niht, wan si het z frnt den edeln vnd den schnen vnd den gten got, dem di engel mit dinst berait sein. Vnd kvm auch oft z ir ammen, wan di het si liepleich erzogen. Vnd do di ivnkfrav pei funfzehen iarn waz, do ht si ir ammen der schof durch kurczweil. Do kvm Olibrivs, der herr geritten, der waz ain gewaltiger herr vnd rihter ber vil haiden. Vnd er sah di schon ivnkfravn. Do geviel si im gar wol vnd gewan grossev lieb z ir, wann si waz gar schon, vnd traht, wi si im z ainer fraven moht werden. Vnd sand noch ir sein diner vnd enpot ir, er wolt ir vil gtz geben, daz si in z der e nem. (S. 230, Z. 7–22)

In diesem ersten Abschnitt wird die Biographie ausschließlich auf jene Informationen reduziert, die durch den heilsgeschichtlichen Zusammenhang der Heiligenlegende einen Sinn bekommen. Dabei fällt die Syntax auf: Der Autor wählt eine sehr schlichte Parataxe und vereinfacht die Beschreibungen inhaltlich und lexikologisch extrem – selbst die Schönheit der Heldin wird erst dann erwähnt, wenn sie die Liebe des jungen Richters erklären soll. Ein heidnischer Vater, seine von einer Amme zum Christentum bekehrte Tochter, ein verliebter, mächtiger Heide: Im ersten Abschnitt der Erzählung wird ein starres, final begründetes Bild gemalt, das Helden und Handlungsmotive einführen soll und in dem weder Dialogisierung noch Gestik oder Mimik zugelassen werden, auch nicht als der Vater erfährt, dass seine Tochter den ‚falschen‘ Glauben gewählt hat. Knappheit und Stimmlosigkeit der Erzählung unterstreichen, dass die Hörer sich „nicht durch die Geschichte selbst fesseln“29 lassen dürfen. Der einzige, dessen Kennzeichnung aus diesem syntaktischen und lexikologischen Rahmen fällt, ist Gott; er wird mit Hilfe von drei Adjektiven qualifiziert: wan si het z frnt den edeln vnd den schnen vnd den gten got. (S. 230, Z. 14f.)

|| 28 Mertens (wie Anm. 5), S. 269f. 29 Feistner (wie Anm. 4), S. 112.

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Mit dem folgenden Abschnitt fängt die eigentliche Handlung der Legende an: Margarete, die herangewachsen ist, wird von einem mächtigen Herrn begehrt, der sie von ihrem Glauben abbringen will. Diese Passage wird zum Vergleich erneut vollständig zitiert: Vnd do sand Margrett di potschaft vernam, do erschrak si gar ser vnd rft got an vnd sprach: „Herr, hilf mir vnd beht mir mein sel vnd meinen leip vnd loz mich dir enpfolhen sein vnd sent mir deinen heiligen engel, daz er mir peiste, vnd gib mir deinen heiligen gaist, daz er mir meinen mt kreftig, vnd hilf mir, daz ich mich verantwort noch dem pesten, vnd hilf mir, daz ich von dem herren erlost werd!“ Dor noch sah sand Margret avf z himel vnd sprach z den poten: „Jch ger evrs herren niht, wan ich wil vndern herren Ihesus Cristus z ainem gemaheln haben. Dem hon ich mich ergeben vnd wil sein gepot alzeit halten, wann er mag mich der eren vnd dez gtz wol ergeczen in dem himelreich mit der frevde, di niemer zerget ewigkleichen.“ Do sagten di poten dem herren, daz di ivnkfrav ain kristen waz vnd daz si got an gerft het. Do waz dem herren zorn vnd hiez im die ivnkfravn mit gewalt pringen vnd sprach z ir: „Wi haist du vnd wer pist du von gesleht vnd an wen glavbst du?“ Do sprach di ivnkfrav: „Jch haiz Margreta vnd pin von edelm gesleht geporn vnd pet Cristum an, den almehtigen got, vnd pin sein dirn vnd pin getavft.“ (S. 230, Z. 22–S. 231, Z. 7)

In dem Moment, in dem Margaretes Heiligkeit ihre ersten konkreten Auswirkungen zeigt, bekommt die Heldin eine Stimme (und Emotionen). Nach der Darstellung der ‚stummen‘ Kindheit der Heldin wird dieser Abschnitt stilistisch und formal kontrapunktiv gestaltet: Es sind alle auktorialen Entscheidungen, alle narratologischen Gestaltungselemente und Erzählmotive erkennbar, die die Vokalität in der Figurenrede der gesamten restlichen Erzählung beeinflussen. Auf der lexikologischen Ebene dominieren Lexeme, die direkt oder indirekt auf vokale Auseinandersetzungen hinweisen (erschrak, waz zorn, hiez, gewalt usw.), sowie formelhafte Sätze, die durch ihre Wiederholungen die Erzählung in ihrem weiteren Verlauf strukturieren werden (waz dem herren zorn und hiez, rft got an vnd sprach, sah sand Margret avf z himel vnd sprach). Außerdem sind die ersten Ausdrücke expressiver Gestik zu erkennen (Gebetshaltung, Schreie, Zorn), die die beiden Kontrahenten in der ganzen Vita kennzeichnen: Margaret sah [...] avf z himel, Olibrius lässt sie mit gewalt pringen. Zusätzlich vermitteln die Dialoge zwischen den beiden durch die hohe Anzahl der elokutiven Verbformen (vernam, rft, sprach [viermal], sagten, angerft het, hiez, eventuell bet an), aber auch durch ihre Syntax und den Echo erzeugenden Parallelismus der Fragen und Antworten (an wen glavbst du? / Jch […] pet Cristum an, den almehtigen got) einen plakativen Eindruck der Gewalt des jungen Herrn und der Unerschrockenheit des Mädchens. In diesem zweiten Abschnitt wirkt die Figurenrede stilistisch einfach: Es lassen sich kaum rhetorische Figuren, Sentenzen, Apostrophen (abgesehen von der Anrede Gottes in Margaretes Gebet) oder Synonymie entdecken; die Komplexität des Geschehens wird syntaktisch in einfacher Parataxe ausgedrückt bzw. mit Hilfe kurzer, gereihter Aussagen wiedergegeben (vgl. die zahlreichen, semantisch neutralen Konnektoren vnd und do). Die erkennbaren Zeichen von Vokalität sind also zahlreich,

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doch schemenhaft, nicht zuletzt weil eine Erzählerfigur fehlt, die gelehrt auf diese Erzählelemente hinweisen könnte. Trotz der wenigen Ausrufe und imperativischen Wendungen bleiben der Rhythmus der gesprochenen Rede brüsk, die beschriebenen Kontraste holzschnittartig, die Sprecher- und Perspektivenwechsel eingeschränkt und knapp. Allerdings unterstreicht der Autor die Vokalität der Figurenrede durch ein interessantes Spiel von Wiederholungen und parallelen Stellen, das die Mechanismen der Legendenhandlung deutlich macht (so in den Wiederholungen durch den Bericht der Boten oder im strengen Parallelismus zwischen den Fragen des Olibrius und der Antworten Margaretes: Wi haist du vnd wer pist du von gesleht vnd an wen glavbst du? versus Jch haiz Margreta vnd pin von edelm gesleht geporn vnd pet Cristum an, S. 231, Z. 5f.). Dadurch werden kausale Zusammenhänge unterstrichen und durch die Stimme des Vortragenden markiert. Die hier skizzierte Vokalität ist sprachhandlungstechnisch mit der persuasio der Legende eng verbunden, in der die stimmlichen Ausdrücke darauf hinzielen, „eine spontane affektive Nähe zwischen dem Publikum und der Heiligen zu etablieren“,30 um die Imitabilität der Heldin zu erhöhen. Inhaltlich entsprechen Margaretes Aussagen in den Gesprächen in direkter Rede in Der Heiligen Leben zwei Sprechhandlungen: Die Heilige nutzt ihre Stimme ausschließlich, um zu bekennen und/oder zu streiten.31 Viermal befragt der Richter die Heilige; viermal antwortet sie durch ein missionarisches Bekenntnis ihres Glaubens: „[...] ich wil vndern herren Ihesus Cristus z ainem gemaheln haben. Dem hon ich mich ergeben vnd wil sein gepot alzeit halten, wann er mag mich der eren vnd dez gtz wol ergeczen in dem himelreich mit der frevde, di niemer zerget ewigkleichen.“ (S. 230, Z. 29–S. 231, Z. 2) „Ez ist ain groz bvnder, daz du glavbst, daz mein got Ihesus Cristus geliden hot vnd tot ist, vnd niht glavbst, daz er von dem tod erstanden ist vnd z himel gefarn ist vnd seinen frevnten do ist ewigkleich ain frevde.“ (S. 231, Z. 11–14) „Jch wil den an peten, der dez himels vnd der erden gewaltig ist, wan dem got hon ich mich ergeben vnd durch den wil ich gern mein leben geben. Wan er ist durch vns tot, dor vm daz er vns von dem ewigen tod erlost.“ (ebd., Z. 18–21) „Jch erparm mich vber di schn meiner sel, dor vm daz ich icht verliz daz pild der gothait.“ (ebd., Z. 25f.) „Herr, almehtiger got, jch pit dich durch dein gt, daz du mich behtz, wan ich glavb vestkleich an dich vnd volg deiner ler.“ (S. 232, Z. 7–9)

Das Bekenntnis bildet in der Legende einen speziellen Kultdiskurs, der das Wesen der Gattung bestimmt: Alle Formen legendarischen Erzählens sind primär bekennende Lobreden. Wenn bzw. weil die heilige Margarete als Auserwählte Gottes nicht

|| 30 Ebd., S. 277. 31 Dieser Beitrag konzentriert sich aus Platzgründen auf die Untersuchung der Instrumentalisierung des heiligen Bekennens – die Entscheidung für diese Sprechhandlung wurde nicht zuletzt deshalb getroffen, weil das Bekennen in allen Legenden konstituierend ist, während zahlreiche Heilige, anders als die disputierende Margarete, nur gelegentlich streiten.

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eigenständig handelt, zeigen die zitierten Auszüge aus ihren Antworten, dass sie sich, selbst in diesem stilistisch einfachen Text, verhältnismäßig rederîch32 ausdrückt. Dabei erfüllen ihre Aussagen sowohl textinhärente (Handlungsfortschritt) als auch didaktische Aufgaben (Katechese). Gerade diese Bekenntnisreden machen aus ihrer Person eine kanonische, kult- und literaturfähige Heilige: Ihre Vita ist, der Wichtigkeit dieses Kultes entsprechend, eher bekennender Diskurs als literarischer Text. Sie soll preisen und loben, aber auch Grenzen zwischen den Heiden und den Christen zeichnen, um die Gemeinschaft der Gläubigen zu festigen. Selbst in der kurzen Vita in Der Heiligen Leben erfüllen die Äußerungen Margaretes alle inhaltlich zentralen Funktionen des apostolischen Glaubensbekenntnisses, die Hans Schwarz in der Theologischen Realenzyklopädie33 auflistet: Sie sind „Selbstdefinition“ (ich wil vndern herren Ihesus Cristus z ainem gemaheln haben, S. 230, Z. 30), bekommen eine „Gemeinschaftsfunktion“ (seinen frevnten do ist ewigkleich ain frevde, S. 231, Z. 14), eine „Abgrenzungsfunktion“ (daz du […] niht glavbst, daz er von dem tod erstanden ist vnd z himel gefarn ist, S. 231, Z. 12f.), eine „Verkündigungsfunktion“ (Jch wil den an peten, der dez himels vnd der erden gewaltig ist, S. 231, Z. 18f.), eine „doxologische Funktion“ (ich […] wil sein gepot alzeit halten, wann er mag mich der eren vnd dez gtz wol ergeczen, S. 230, Z. 30–S. 231, Z. 1) und eine „katechetische Funktion“ (durch den wil ich gern mein leben geben. Wan er ist durch vns tot, dor vm daz er vns von dem ewigen tod erlost, S. 231, Z. 19–21). Dieser inhaltlichen Funktionalisierung entsprechend erweisen sich die bekennenden Reden als ein mehrfachadressierter Sprechakt; sie sind sowohl Teil der (biographischen) Handlung als auch Ausdruck einer (rezeptionsbedingten) religiösen persuasio. Dazu vertreten sie alle sprechakttheoretischen Funktionen des Bekenntnisses als Sprechhandlung:34 die kognitive Sprachfunktion, die „in der Selbstreflexion und der Besinnung auf die Inhalte des Glaubens“35 erkennbar ist (hier wird die Sprache zum Beispiel in Gedankenrede als Mittel des Ausdruckes von persönlichem Glauben benutzt, als Bekräftigung desselben, als Ausdruck von momentanen Empfindungen u.a.m.);36 die phatische Funktion, bei der die interaktiv konzipierte „In-

|| 32 Dieser mittelhochdeutsche Ausdruck stammt aus einer Legende Konrads von Würzburg und kennzeichnet die Redegewandtheit des heiligen Sylvester. Er erinnert daran, dass in der mittelalterlichen hagiographischen Konvention die Heiligen sich als Sprachrohr Gottes grundsätzlich gelehrt und redegewandt ausdrücken. Zitiert nach Köbele (wie Anm. 8), S. 369. 33 Hans Schwarz, „Glaubensbekenntnis(se). IX. Dogmatisch“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13, Berlin/New York 1984, Sp. 437–441, hier Sp. 441; zitiert nach: Andreas Wagner, „Bekennen. Zur Analyse eines religiösen Sprechaktes“, in: Satz–Text–Diskurs. Akten des 27. Kolloquiums Münster 1992, hg. von Peter-Paul König und Helmut Wiegers, Bd. 2, Tübingen 1994 (Linguistische Arbeiten 313), S. 117–124, hier S. 117. 34 Vgl. ebd., S. 119–122. 35 Ebd., S. 119. 36 Vgl. ebd.

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tention des Redenden […] sich auf die Herstellung oder Aufrechthaltung des Kontakts zwischen den Kommunikationspartnern richtet“37 und die Sprecherin appellativ dem Rezipienten zu verstehen gibt, dass es ihr um eine personale Beziehung zu Gott und zum Rezipienten geht; die kommissive Funktion (bei der die Bekennende sich Gott gegenüber verpflichtet, als Gläubige zu leben, d.h., auch die dazugehörigen Sorgen, Gebote und Pflichten zu verinnerlichen) und die deklarative Funktion, bei der die Bekennende „in das religiöse Sprachspiel ein[tritt]“38 und lehrt. Allerdings fällt auf, dass die Heilige in ihren Antworten die „spezifische[n], von der Illokution des [initialen Sprechaktes] abhängigen Regeln, die bestimmen, welche Sprechakte als wohlgeformte Reaktion […] gelten können“,39 nicht anerkennt: Margarete reagiert weder inhaltlich noch im sprechakttheoretischen Sinn kaum auf die konkreten Fragen des ihr gegenüber stehenden Partners, sondern auf die Stimme Gottes, die sie als Aufforderung zum Bekenntnis in der Frage heraushört, und verletzt dadurch gewöhnliche Dialogstrukturen. Dennoch verleihen die bekennenden Passagen dem Text einen klaren Rhythmus: Das in dieser Figurenkonstellation sich ergebende kommunikative Handlungsmuster bekommt durch die redundante Integration des Bekenntnisses in die Handlung repetitive Züge. Interessant ist die Kontinuität dieses wiederholten Bekenntnisses: Margarete äußert sich zwar im Anschluss an die Fragen des Olibrius, doch sie bekennt ihren Glauben mit Hilfe einander ergänzender, katechetischer Sätze, die einen Großteil der dialogischen Anteile des Textes bilden, ohne handlungsfördernd zu sein, und die wesentlich hypotaktischer gestaltet werden als die Berichte. Ihr Bekenntnis verleiht „der Heiligen [hier wie] in allen Versionen Sprachgewalt“:40 Wie bereits in der oben zitierten Auflistung deutlich wird, bilden ihre Aussagen einen geschlossenen, von der Handlung zum Teil unabhängigen Text; ein jenseits der biographischen Handlung greifendes Bekenntnis, das die am Ende der Vita sich äußernde Stimme Gottes anerkennt, indem sie verspricht, auch in Zukunft das Zusammenwirken der sich zu Margarete bekennenden Anrufungen der Rezipienten und der Vermittlung der Heiligen (intercessio) zu belohnen.41 || 37 Ebd. 38 Ebd., S. 120. 39 Götz Hindelang, „Sprechakttheoretische Dialoganalyse“, in: Handbuch der Dialoganalyse, hg. von Gerd Fritz und Franz Hundsnurscher, Tübingen 1994, S. 95–112, hier S. 106; zitiert nach: Jörg Kilian, Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen 2005 (Germanistische Arbeitshefte 41), S. 94. 40 Müller (wie Anm. 7), S. 137. 41 In diesem Rahmen bekommen die Elemente der Gestik in der Erzählung (wiederholter Blick in den Himmel, Kniefall, Hinreichen des Halses bei der Enthauptung u.a.), die die Stimmlichkeit unterstützen, eine konkrete Rolle: Sie werden eingesetzt, um das Bekenntnis zu ‚vergegenständlichen‘ (vgl. Jolles [wie Anm. 7]), indem sie es bildhaft unterstreichen – mit ihm gemeinsam „zerbr[echen sie] das ‚historische‘ in seine Bestandteile, sie erfüll[en] diese Bestandteile mit dem Wert der Imitabilität und bau[en] sie in einer von dieser bedingten Reihenfolge wieder auf“ (ebd., S. 46). Die Vita

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Die Analyse der Textpassagen in direkter Rede zeigt, warum die Fassung der Vita Margaretes in Der Heiligen Leben, die den Stoff auf dessen innerste facta reduziert, für die Analyse der Vokalität der Legende in ihrer primären Instrumentalisierung geeignet ist: In diesem Text werden beinahe alle Elemente des Textes unmittelbar vokalisiert – die als Gespräch konzipierte Einführung der (selbst kaum beschriebenen) Marter und der Streit mit dem Teufel, aber auch die Bekehrung und Ermordung der Volksmenge, die himmlische Stimme als Antwort auf die Fürbitte der Heiligen und die Wunder. Einerseits werden alle Motive und Detailelemente zu stimmlich markierten Handlungen, die trotz der extremen Reduktion der Erzählung Margaretes gesamte Biographie darstellen. Andererseits kommt die Botschaft durch den bekennenden Aufruf zur imitatio in dieser Instrumentalisierung der materia unmittelbar zum Tragen: In dieser Vita verbinden sich Sprache, stimmlich markierte Handlung und die darauf bauende Vokalität des Textes zu einer literarischen Form – und zwar mit sicherem Erfolg, denn der Hörer oder Leser muss bei einer erzähltechnisch ‚gelungenen‘ Legende diesem Faden der imitatio folgen; eine Ablehnung der intendierten aedificatio würde ihn sofort als Sünder entlarven. In dieser literarischen Form bestimmt die Vokalität in den Passagen direkter Rede die Intensität des Erzählens, die Orte der Fokalisierung des Erzählten, aber auch den Rhythmus der Sprache oder die Wiederholungen.42 Die dazu gewählte Erzählart, die dem genus humile verpflichtet bleibt, baut ein plakatives, doch klares Verhältnis zwischen der Stimmlichkeit des gesamten Textes und dem Imaginären bzw. den Erwartungen der Hörer und Leser (Spannung, Mitleid, Angst usw.) auf. Dieses System ist schlicht, aber wirksam: Obwohl aufgrund der auktorialen Erzählhaltung in der Margareten-Vita in Der Heiligen Leben die Monologe, die Dialoge und die Gebete auf den wesentlichsten (d.h. nicht unbedingt den knappsten, doch den minimalen) Informationsgehalt reduziert werden,43 unterstreicht die poetische Vokalität des Textes alle Handlungselemente, die einerseits für den Ablauf der Handlung, andererseits für den Aufbau der emotionalen Verbindung zwischen Heiligen und Hörer/Leser unentbehrlich sind. Dieses Konzept verleiht der Stimme der Heiligen in der Legende eindeutig Autorität und suggestive Intention – selbst wenn die eben beschriebene ‚Grammatik der Vokalität‘, die in der Figurenrede aufgebaut wird, aufgrund ihrer Einfachheit nicht oder kaum der Ausschmückung des Textes dient, sondern der aedificatio als der wichtigsten Funktion der Legende.

|| entwickelt in der Kombination von Vokalität und Gestik eine quasi-rituelle, dem Kult nahe Form des Erzählens, die die Rezipienten anerkennen und die deren Performanz im Rezeptionsprozess steuert. Die Legende bestätigt dazu die Heiligkeit der Heldin, indem das Bekenntnis zur imitatio und aedificatio sprachlich und gestisch ins Zentrum der Erzählung gesetzt wird. 42 Vgl. Zumthor (wie Anm. 1), S. 36. 43 Vgl. Mertens (wie Anm. 5), S. 277.

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3 Struktur der Vita Margaretes in Der Heiligen Leben Die Handlung der Vita Margaretes in Der Heiligen Leben entspricht in ihrem Verlauf den Biographien bekannter Märtyrerlegenden: Nach ihrer Weigerung, den Götzen zu dienen, sperrt Olibrius Margarete in ein Gefängnis ein. Am nächsten Morgen befragt er sie erneut ohne Erfolg und veranlasst daraufhin die erste Folter: Margarete wird an den Händen aufgehängt und blutig geschlagen. Als sie sich danach noch immer weigert, den Willen des jungen Herrn zu erfüllen, wird sie zurück ins Gefängnis geworfen. Dort bittet sie Gott darum, ihren teuflischen Widersacher persönlich zu sehen. Erst erscheint ein Drache in ihrer Zelle, den sie mit dem Kreuzzeichen verscheucht (Do sah si ainen grossen traken, der tet ainen weiten mvnt gegen ir avf, sam er si als pald verslicken wolt. Do tet si daz heilig kreucz fr sich. Do verswant der veint., S. 231, Z. 30–32), dann der Teufel selbst, den sie im Zweikampf besiegt und zu einem (kurzen) theologischen Gespräch zwingt. Am folgenden Tag wird Margarete erneut von Olibrius befragt und nach ihrer Verweigerung, die heidnischen Götter anzuerkennen, gefoltert – diesmal indem sie erst mit Fackeln verbrannt, dann in ein Fass kochenden Wassers geworfen wird. Als ihre Fesseln sich im Wasser lösen und ein Erdbeben die Menschen erschreckt, bekehren sich 5000 Männer (plus Frauen und Kinder), die der Richter sofort töten lässt. Margarete wird in die Stadt gebracht, um enthauptet zu werden. Sie befiehlt im Gebet ihrem Gott alle an, die ihre Marter verschuldeten sowie die Menschen, die ihres Martyriums mit Kerzen, Almosen oder Kirchenbau gedenken werden. Eine Engelsstimme bestätigt, dass sie erhört wurde; die Heilige wird getötet und begraben. Die Legende endet mit dem Gebet eines zum ersten Mal hörbaren Sprechers: N slle wir di lieb ivnkfrav piten, daz si vns vm got erwerb, daz er vns beht vor ttleichen snden vnd vor werntleichen schanten […]. Dez helf vns got vnd sein mter Maria vnd di liebev ivnkfravn sand Margareta (S. 233, Z. 4–8).

Nach der Schilderung der Kindheit der Heldin nehmen die Dialoge in der Legende mehr als die Hälfte des Textes in Anspruch. Dabei werden drei Gebete Margaretes trotz der Kürze der Vita als konstituierende Handlungselemente in voller Länge wiedergegeben; auch die Dialoge zwischen der Heiligen und ihrem Peiniger werden in direkter Rede geschildert. Olibrius beginnt als Herrscher alle Dialoge. Seine Gesprächspartnerin antwortet mit einem Bekenntnis auf die gestellten Fragen und redet dabei ausführlicher als er. Diese Konstellation wiederholt sich viermal (vor dem Kerkeraufenthalt und den drei Martern) und wird grundsätzlich in einem Dialog in direkter Rede erzählt: Olibrius wird zornig, weil er Margarete nicht überzeugen kann; er bestraft sie, indem er sie in den Kerker werfen oder foltern lässt, und fordert sie anschließend immer wieder vergeblich dazu auf, ihren Glauben aufzugeben. Der Parallelismus dieser vier Szenen wird durch Wortwiederholungen unterstrichen: Olibrius gibt vor jeder neuen Befragung in seinem (als Strukturelement zu

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betrachtenden) Zorn einen die Handlung weiter führenden Befehl (vgl. Do waz dem herren zorn vnd hiez [S. 231, Z. 3]; Do ward Olibrivs zornig vnd hiez [S. 231, Z. 15]; Do ward der rihter zornig vnd hiez [S, 231, Z. 21]; Do waz dem rihter zorn vnd gepot [S. 232, Z. 16]); parallel dazu wiederholt Margarete dieselben ritualisierten Gesten, bevor sie betet (vgl. Dor noch sah sand Margret avf z himel vnd sprach [S. 230, Z. 28f.]; Vnd sah do mit andaht z himel vnd sprach [S. 232, Z. 7]; Do rft si vndern herren an vnd kniet nider vnd sprach [S. 232, Z. 28f.]). Diese Strukturierung ist Teil des erwähnten, für Legenden konstitutiven Konzepts der aedificatio: In den Viten sind die einzelnen Episoden (trotz der Steigerung der Gefahr) austauschbar, weil die Helden während des gesamten Martyriums gleich leiden (bzw. nicht leiden, wenn Gott an ihre Stelle tritt) und ihr Reden und Beten stets auf ihre finale, bei Gott in Gehorsam erbetene Erlösung gerichtet ist. Die dazu gehörenden stilistischen Merkmale des Parallelismus und der variatio werden sowohl in der strukturellen als auch in der lexikalischen Gestaltung des Textes realisiert; das mechanische Wechselprinzip von Weigerung und Strafe, aber auch von Bitte und Erhörung wird dadurch mit großer Prägnanz theatralisiert. Diese Vokalität der Figurenrede in Der heiligen Leben unterstreicht sowohl die für Legenden konstitutive Poetik der repetitio, die das mehrfache Martyrium und dadurch die Unendlichkeit der Macht Gottes unterstreicht, als auch den ‚regelmäßigen‘ Atmosphärenumschwung (Zorn, Strafe, Befragung, unerschütterliche Zuversicht des Glaubens), der durch die Unvereinbarkeit der Positionen der Protagonisten provoziert wird. Dabei sind selbstverständlich die Antworten der Heiligen wichtiger als die Fragen und Gefühle des heidnischen Herrschers und werden entsprechend ausführlicher gestaltet. Schließlich wird dieses Prinzip durch zahlreiche weitere Handlungselemente punktuell ergänzt und variiert, die zur Stimmlichkeit der Legende beitragen: Zum Zorn des Gegners kommen die Schreie der zuschauenden Menge, die Aussagen der heiligen Taube oder der Chor der Engel. All diese Details bauen die Stimmung der Erzählung auf und verbinden „rhythmische und memorielle Formen“;44 selbst wenn diese Effekte unkommentiert bleiben, feiert die Stimme hier zustimmend die Gemeinschaft.45 Dabei wird das beschriebene Prinzip, das die Formel ‚wiederkehrende dialogische Rede und/oder Gebet = final gerichteter Handlungsfortschritt‘ immer wieder konkretisiert, zum konstituierenden Merkmal bzw. zum Strukturzeichen der Legende.46

|| 44 Zumthor (wie Anm. 1), S. 89. 45 Vgl. ebd., S. 91. 46 Interessanterweise wird das Leiden der Heiligen überhaupt nicht vokalisiert: Da die Heiligen auch vor dem Schmerz von Gott oder Jesus immer wieder ausdrücklich geschützt werden, kann dieses Element nicht strukturierend funktionalisiert werden – selbst wenn die Berichte über die Marter immer wieder deren grausamen Charakter betonen. Hier reflektiert die (fehlende) Vokalität der Legende religiöse bzw. hagiographische Topoi.

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Das zweite Strukturmodell, das wie die Dialoge zwischen Margarete und ihrem Gegner in direkter Rede wiedergegeben wird, basiert auf den Gebeten der Heiligen; die Fassung der Margaretenlegende in Der Heiligen Leben enthält wie erwähnt drei in direkter Rede vollständig wiedergegebene Gebete.47 Diese Gebete werden äußerlich genauso inszeniert wie die Dialoge: Auch sie werden durch ritualisierte und wiederkehrende gestische Elemente eingeleitet und fangen mit einer direkten Anrufung (Herr / Herr, almehtiger got / Herr Ihesu Criste) an. Allerdings zeigen ihre Konsequenzen in der Handlung, dass sie anders als die Dialoge nicht austauschbar sind bzw. nicht linear aufgefasst werden sollen, sondern dass sie vielmehr ein Prinzip der Steigerung in die Handlung einbauen: Gefolgt werden sie durch das (sie als Auserwählte definierende) allererste Bekenntnis der Heiligen (vnd sprach z den poten: Jch ger evrs herren niht, wan ich wil vndern herren Ihesus Cristus z ainem gemaheln haben, S. 230, Z. 28–30), durch ein Wunderzeichen, das als Antwort Gottes auf die Heiligkeit der Heldin versinnbildlicht wird (Vnd do si daz gesprach, do erschain ain lieht pei ir vnd in dem lieht sah si ain kreucz, daz ging auf in den himel, vnd saz ain tauben oben avf dem kreucz, S. 232, Z. 9–11) und schließlich durch die konkrete göttliche Antwort auf das Fürbitte-Gebet (Vnd do ir gepet ain ende het, do erhal ain stimme avs dem himel, di sprach: „Margreta, piz fro, wan got hot dein gepet erhort vnd wil all di gewern, di dich eren vnd an rfen, di zimleicher ding piten.“, S. 232, Z. 34–37). Die Gebete leiten also steigernd einen konstituierenden Handlungsfortschritt ein. Dennoch werden sie genau so schlicht wie die Dialoge gestaltet – auch sie werden auf die minimale Information reduziert: Es sind sehr einfache Bitt- bzw. Fürbitte-Gebete, die neben der Anrede und der bekennenden Bitte weder Klage, Erklärung der Not noch selbstverpflichtende Aussagen beinhalten.48 Aufgrund dieser Reduktion können die Gebete kaum als exemplarisch oder als paraliturgisch betrachtet werden, doch dafür scheint ihre strukturierende Stellung und Funktion umso deutlicher überlegt worden zu sein. Tatsächlich rahmen die Gebete Margaretes Leben bzw. Wirken als Gottes Auserwählte ein: Die Heilige betet, als sie

|| 47 Über eine weitere Gebetssituation wird lediglich berichtet, nämlich als erwähnt wird, dass Margarete Gott darum bittet, ihren Gegner persönlich kennenzulernen. 48 Die drei Gebete lauten: 1. Herr, hilf mir vnd beht mir mein sel vnd meinen leip vnd loz mich dir enpfolhen sein vnd sent mir deinen heiligen engel, daz er mir peiste, vnd gib mir deinen heiligen gaist, daz er mir meinen mt kreftig, vnd hilf mir, daz ich mich verantwort noch dem pesten, vnd hilf mir, daz ich von dem herren erlost werd! (S. 230, Z. 24–28). 2. Herr, almehtiger got, jch pit dich durch dein gt, daz du mich behtz, wan ich glavb vestkleich an dich vnd volg deiner ler (S. 232, Z. 7–9). 3. Herr Ihesu Criste, jch bevilh dir meinen gaist vnd pit dich, daz du allen den vergebst, di an meiner marter schuldig sein. Vnd pit dich auch, daz du allen den z hilf kvmst, di mich vnd mein marter eren mit kirchgang, mit lihten vnd mit almvsen. Jn welher not si sein, so solt du si durch meinen willen gewern vnd solt in ir svnd vergeben. Vnd wer ain kirchen in meiner er pavt, dem gib daz himelreich dor vm (S. 232, Z. 29–34).

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zum ersten – und einzigen – Mal versucht wird und um ihr Keuschheitsgelübde fürchten muss; das zweite Mal in der Mitte des Textes, als sie in der zentralen Szene den Teufel in ihrem Kerker erkennt und ihn besiegt; das letzte Mal kurz vor ihrer Enthauptung. Damit weisen die Gebete auf die drei Hauptelemente in der Vita der Heiligen hin, die ihren Kult festigen: ihre Eigenschaft als virgo Christi, als Drachenkämpferin und als Fürsprecherin der Notleidenden. Diese doppelte Strukturierung des Erzählten durch Elemente, die der Vokalität der Legende zuzuordnen sind, führen dazu, dass in der Vita der heiligen Margarete zwei Strukturmodelle miteinander zu konkurrieren scheinen. Das erste setzt die Befragung (und die Bekenntnisse) der Heiligen und die folgenden Marter in den Mittelpunkt: Erzählabschnitt

Folge/Handlung

Margaretes Kindheit

Stelle

Umfang

S. 230, Z. 4–22

19 Z.

Erstes Gespräch

Kerker I

S. 230, Z. 22–S. 231, Z. 15

25 Z.

Zweites Gespräch

Marter I

S. 231, Z. 15–24

9 Z.

Drittes Gespräch

Kerker II (Kampf gegen den Teufel)

S. 231, Z. 24–S. 232, Z. 13

26 Z.

Viertes Gespräch

Marter II (Massenbekehrung)

S. 232, Z. 13–25

13 Z.

S. 232, Z. 26–S. 233, Z. 4

16 Z.

Tod der Heiligen

Tab. 1: Vita in Der Heiligen Leben, erstes Strukturmodell

Das zweite Strukturmodell zentriert die Handlung um den (in den meisten Bearbeitungen der Legende hauptsächlich aus einer langen disputatio zwischen Margarete und dem Teufel bestehenden) Kampf der Heiligen gegen den Teufel, der zunächst als Drache, dann als junger Mann erscheint. Es gestaltet die Vita der Heiligen symmetrisch um ihre Gebete und baut wie erwähnt ein Steigerungsprinzip in die Handlung ein:

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Erzählabschnitt

Strafe/Marter

Stelle

Umfang

Kindheit

S. 230, Z. 4–22

19 Z.

Gebet I (Margarete als virgo christi)

S. 230, Z. 23–28

6 Z.

Marter I

(vnd hiez di ivnkfrav in ainen kerker legen)

S. 230, Z. 28–S. 231, Z. 15

19 Z.

Marter II

(vnd hiez si nakt abzihen […] vnd schlg simit gerten vnd mit scharpfen gaiseln, daz daz plt von ir floz)

S. 231, Z. 15–26

11 Z.

S. 231, Z 26–S. 232, Z. 13

24 Z.

Drachenkampf + Gebet II (Margarete als Drachenkämpferin) Marter III

(vnd habten ir prinent fackeln an irn leip)

S. 232, Z. 13–19

7 Z.

Marter IV

(seczt man si in ain haiz wazzer pad)

S. 232, Z. 19–25

7 Z.

Gebet III (Margarete als Fürsprecherin der Notleidenden)

S. 232, Z. 26–37

16 Z.

Tod

S. 233, Z. 1–4

4 Z.

Tab. 2: Vita in Der Heiligen Leben, zweites Strukturmodell

Das im Prinzip gleichwertige Nebeneinander dieser beiden Modelle ist in der Biographie der heiligen Margarete darauf zurückzuführen, dass sie zwei Gegner hat: Olibrius, der zum ‚weltlichen‘ Feind ihrer Keuschheit wird, als er sich in sie verliebt, und den Teufel selbst, der als ihr ‚höllischer‘ Feind diese Versuchung verursacht und den sie verstehen möchte. Dabei deutet die Zahl vier (und die flache Linearität des ersten Modells) bei den Gesprächen symbolisch auf den irdischen Gegner; die Zahl drei (wie auch die Steigerung der Folgen der Gebete) weist im zweiten Modell auf den transzendentalen Gegner hin, der nur durch die Kraft Gottes (bzw. der Heiligen) besiegt werden kann. Die Grundform der Legende der heiligen Margarete erweist sich damit als ein geschicktes Konstrukt, das durch das funktionale Zusammenwirken der beiden Modelle, die gemeinsam eine Biographie bilden, definiert und durch

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die Vokalität der Vita vergegenständlicht wird. Margarete ist in ihrer Legende aus eigenem Wunsch sowohl eine geduldig leidende virgo Christi (Vierer-Modell) als auch eine entschiedene Drachenkämpferin (Dreier-Modell). In Der Heiligen Leben wird das erste Modell besonders herausgearbeitet. Der Drachenkampf wird kaum zu einer disputatio zwischen Margarete und dem Teufel gestaltet; der Autor blendet wie erwähnt das ikonographisch verbreitete Motiv des Sieges über den sie beinahe verschlingenden Teufel fast aus. Dennoch ist das funktionelle Zusammenspiel der beiden Modelle deutlich erkennbar, das regelmäßige, lineare Finalität und Steigerung kombiniert: Selbst wenn er den Schwerpunkt auf einige Aspekte des Kults der Heiligen setzte, die hier zur Reduzierung des Drachenkampfes führten, konnte der Autor davon ausgehen, dass die Rezipienten diese doppelte Struktur und ihre Symbolik erkennen und akzeptieren würden. Die Analyse der Äußerungen Margaretes zeigt, dass die Stimme der Heiligen in Der Heiligen Leben eindeutig strukturierend eingesetzt wird und dass die dabei erzeugte Vokalität des Textes durchaus die Aufgabe bekommt, die Wahrheit der Legende zu stiften bzw. (mit den hagiographisch-biographisch geordneten Motiven) deren gesamte Kohärenz zu tragen.

4 Vergleich mit weiteren Viten der heiligen Margarete Das Zusammenspiel zwischen Struktur und Vokalität in der Fassung der Vita in Der Heiligen Leben scheint in der Handlung bzw. in der Biographie Margaretes so klar verankert zu sein, dass es die Frage aufwirft, ob diese Besonderheit der Erzählung tatsächlich zu jenen Elementen der Legende zählt, die alle Viten der Heiligen einen und (genauso wie Handlungsmotive, Datierungen oder Ortsangaben) verbindlich tradiert wurden, sodass den Autoren die damit verbundenen Entscheidungen im Hinblick auf die strukturelle Gestaltung ihrer Bearbeitung abgenommen wurden. Um diese Frage zu beantworten, werden im Folgenden vier weitere Viten nach einem eventuellen Verhältnis zwischen Handlungsstrukturierung und Vokalität befragt: die Fassungen Hartwigs von dem Hage und Waces sowie diejenigen des Passional und der Elsässischen Legenda Aurea.49 Allerdings soll darauf hingewiesen || 49 Eine so eingeschränkte Analyse ist im Rahmen dieses Beitrags insofern möglich, als die Hypothese, dass die Vokalität zu jenen Elementen gehört, die die Viten in ihrer ‚einfachen Form‘ bestimmen, die Untersuchung in gewisser Hinsicht in den Bereich der materia verlagert – d.h. an einen Punkt, an dem das artificium der Autoren in ihrer Bearbeitung noch nicht ‚greift‘, sodass die rezeptionsorientierte Funktionalisierung der einzelnen Viten nicht vorrangig berücksichtigt werden muss. Ausgaben der vier Texte: Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts, zum ersten Male hg. und mit einem Glossar versehen von Friedrich Karl Köpke, Quedlin-

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werden, dass der folgende Vergleich der Viten in keiner Weise versucht, ein Quellen- oder gar Vorlagenverhältnis zwischen den Texten anzunehmen bzw. festzulegen: Dieser Beitrag geht von der Vorstellung Worstbrocks einer materia aus, die die Bearbeiter in ‚kunstreicher Arbeit‘50 und „eigene[m] dire“51 wiedergeben, wobei sie (funktions- und rezeptionsorientiert) sowohl konkreten narrativen Verpflichtungen gerecht werden müssen als auch die Freiräume nutzen dürfen, die Stoff und Gattungstradition bereit stellen.52 Das Passional ist, wie die Legenda Aurea, eine kalendarisch geordnete Legendensammlung; es wurde im 13. Jahrhundert gedichtet. Auffallend ist in diesem Werk der historisch-wissenschaftliche Anspruch des Autors, der in der Vita Margaretes zum Beispiel die Unsicherheit im Hinblick auf die wârheit seiner Quellen anspricht.53 Margaretes Vita ist im Passional relativ kurz (582 Verse); dennoch ergibt die Auflistung der Stellen in direkter Rede ein im Vergleich zur Fassung in Der Heiligen Leben grundlegend unterschiedliches Bild: Stationen der direkten Rede

Folge/Handlung

Stelle

Sprecherwechsel54

Gespräch I

Gespräch mit Olibrius (zum Teil indirekt)

Kerker

v. 327,47–328,73

5

Gespräch II

Gespräch mit Olibrius (Betonung des Zorns des Olibrius)

Marter (Aufhängen, Schläge)

v. 328,92–329,37

4

Gespräch III

Gespräch mit dem heidnischen Volk, Anrede zu Olibrius

[Kerker]

v. 329,11–329,85

3

|| burg/Leipzig 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 32), Nachdruck Amsterdam 1966, S. 326–332; Jacobus de Voragine, Die Elsässische Legenda Aurea, Bd. 1: Das Normalkorpus, hg. von Ulla Williams und Werner Williams-Krapp, Tübingen 1980 (Texte und Textgeschichte 3), S. 423–425; Die Dichtungen des Hartwig von dem Hage. Untersuchungen und Edition, hg. von Wolfgang Schmitz, Göppingen 1976 (GAG 193); Wace, La Vie de sainte Marguerite, édition avec introduction et glossaire par Hans-Erich Keller, commentaire des enluminures du ms. Troyes 1905 par Margaret Alison Stones, Tübingen 1990 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 229). 50 Vgl. Worstbrock (wie Anm. 7), S. 137: „Die Kunst des Dichters wird ausschließlich als Arbeit an einer gegebenen Materia betrachtet“. 51 Ebd., S. 135. 52 Vgl. hierzu auch Boureau (wie Anm. 4). 53 Vgl. einführend Hans-Georg Richert, „Passional“, in: ²VL, Bd. 7, Berlin/New York 1989, Sp. 332– 340. 54 DHL steht in den Tabellen für Der Heiligen Leben.

Vox sancti | 383

Stationen der direkten Rede

Folge/Handlung

Gespräch mit dem Teufel (inklusive direkte Rede des Teufels)

Stelle

Sprecherwechsel54

v. 330,77–330,80; v. 330,93–331,66

[Gespräch IV]

[Statt Gespräch IV: Gespräch mit den Heiden – knappe Zusammenfassung in indirekter Rede]

Marter (Fackeln und kaltes Wasser)

Gebet

Fürbitte-Gebet

v. 332,44–332,61

Letzte Worte Margaretes: Nu slach, die zit ist kumen.

v. 332,67

Tab. 3: Vita in Das Passional

Die Elsässische Legenda Aurea ist die älteste überlieferte deutschsprachige Übersetzung der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine; sie entstand vor 1350 und ist ebenfalls relativ kurz (knapp drei Seiten Prosa in der Ausgabe von Williams-Krapp). Die Tabelle, die die Elemente direkter Rede in dieser Vita der heiligen Margarete auflistet, liefert (genauso wenig wie eben im Passional) kein Strukturschema. Es fällt auf, dass diese beiden Legendare eine ähnliche, sehr vereinfachte Form der Strukturmodelle präsentieren, die schon die Erzählung in Der Heiligen Leben charakterisierte: Stationen der direkten Rede

Folge/Handlung

Stelle

Sprecherwechsel

Gespräch I

Gespräch mit Olibrius (z.T. indirekt)

Kerker

v. 423,24–424,5

4

Gespräch II

Gespräch mit Olibrius

Marter (Aufhängen und Schläge)

v. 424,6–424,12

4

Gespräch III

Gespräch mit dem heidnischen Volk (Anrede zu Olibrius)

v. 424,15–424,21

3

Kampf/Gespräch mit dem Teufel (zum Teil indirekt)

v. 424,31–425,12

5

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Stationen der direkten Rede

Folge/Handlung

Stelle

Stimme Gottes (Wissest Margareta daz din gebet erhoret ist)

v. 425,26f.

Letzte Worte Margaretes: Hab uf din swert vnd schlach mich.

v. 425,27f.

Sprecherwechsel

Tab. 4: Vita in Die Elsässische Legenda Aurea

In beiden Texten fällt der geringere Anteil der direkten Rede auf (Passional: 216 von 582 Versen; Legenda Aurea: ca. 22 von 79 Zeilen), selbst wenn (besonders im Passional) die Mehrheit der Äußerungen der Heldin noch der Sprechhandlung des Bekennens zuzuordnen sind. Beide Viten übernehmen die Struktur der Legende, die die materia ihnen zur Verfügung stellt und die den vier Begegnungen von Margarete und Olibrius in Der Heiligen Leben entspricht: In beiden Texten wird Margarete nach dem ersten Gespräch mit Olibrius in den Kerker geworfen und danach mehrfach gefoltert. Während die beiden ersten Treffen zwischen den Protagonisten wie in Der Heiligen Leben in direkter Rede wiedergegeben werden, geben beide Autoren allerdings ab der Mitte des Textes diese Form der Vokalisierung der Handlung auf: Die beinahe mechanisch vokalisierbare Handlungsfolge ‚Gespräch (Zorn des Herrn/der Ungläubigen, Bekenntnis der Heiligen) / Marter‘ wird im Passional danach nur noch in indirekter Rede erwähnt (vgl. […] die lute vleten / daz si geruchte vurbaz leben […] / so was ot ir ein galle, / swaz man ir sulcher rede bot., v. 331,90–95). In der Elsässischen Legenda Aurea geht die Vereinfachung soweit, dass die Gespräche nach dem Kampf gegen den Teufel vollständig verschwinden, sodass nur noch über die Marter berichtet wird. Der Grund dieser Änderung liegt vermutlich darin, dass die Autoren die weitere Darstellung der Gespräche in direkter Rede für überflüssig hielten, nachdem das Muster in der ersten Hälfte der Handlung klar festgelegt wurde. Dadurch fallen allerdings die bekennenden und belehrenden Reden der Heldin vollständig aus; die dritte und die vierte Marter verlieren zum Teil ihre Begründung – an diesen Stellen konnte der Rezipient die Lücken in seinem Imaginären selbst füllen, weil er die Eigenschaften der Heiligen als streitende Missionarin bzw. die Handlungsfolge ‚erfolgloser Bekehrungsversuch durch die Heiden / Strafe‘ (er-)kannte. Auch die (in Der Heiligen Leben dreifache) Vokalisierung der Steigerung der Heiligkeit Margaretes durch die Wiedergabe ihrer Gebete wird in beiden Viten kaum realisiert. Lediglich das Fürbitte-Gebet wird am Ende der Vita im Passional in direkter Rede wiedergegeben; die Legenda Aurea reproduziert überhaupt keine Gebete der Heldin und berichtet über ihre Fürbitte indirekt: Do bat sú got fúr iren durcheter

Vox sancti | 385

vnd fúr alle die sú iemer angerieffent, súnderliche wele frowe besweret were mit eime kinde vnd sú an rieffe, die sollte ire fruht sicher sin one grossen smerzen (S. 425, Z. 23– 26). Insgesamt wird die Stimmlichkeit der Legende in diesen beiden Fassungen (vermutlich rezeptionsbedingt) auf das Notwendigste reduziert;55 sie ist wesentlich weniger ausgeprägt als in der späteren Fassung in Der Heiligen Leben. Entsprechend vorsichtig sollte die anfangs gestellte Frage beantwortet werden: Selbst wenn im Passional und in der Legenda Aurea die strukturierende Rolle der Marter deutlich ist, werden die Gespräche zwischen Margarete und Olibrius nur inhaltlich instrumentalisiert. Die besondere Funktion der Vokalität in den Passagen in direkter Rede wurde von den Rezipienten des Passional und der Elsässischen Legenda Aurea vermutlich erkannt und auf die ganze Vita projiziert, aber kaum gehört oder gar theatralisiert. Die nächste Vita, an der die Ergebnisse der Untersuchung der Vokalität in der Legende der heiligen Margarete geprüft werden sollten, ist die Vie de Sainte Marguerite.56 Dieser Text wurde um 1130–1140 in Versform von Wace am englischen Hof gedichtet (748 Verse) und ist wesentlich länger als die Vita in Der Heiligen Leben.57 Er gehört zur frühen höfischen Tradition der Margaretenlegende und unterscheidet sich entsprechend unter zahlreichen Perspektiven von der Vita in den eben vorgestellten Legendaren oder in Der Heiligen Leben. Der Versuch, die Vokalisierung der Struktur des altfranzösischen Werkes mit Hilfe der Gespräche zwischen Olibrius und Margarete und den Gebeten der Heldin zu systematisieren, zeigt zunächst, dass Margarete in dieser Bearbeitung der materia zusätzliche Gesprächspartner bekommt, sodass die Anzahl der sprechenden Protagonisten wesentlich erhöht wird (dilatatio). Die Heilige unterhält sich in direkter Rede mit Olibrius, den sie einen Hund nennt (chiens, v. 231); mit dem heidnischen Volk, als es Mitleid mit ihr empfindet; mit dem Teufel; mit der Taube, die Gott zweimal zu ihr sendet und die ausdrücklich eine Stimme bekommt (Devers le ciel vint une croiz, / Une colombe a une

|| 55 Im Passional wird an den nicht in direkter Rede erzählten Stellen das Zusammenspiel von imitatio und aedificatio meist durch lexikalisch und syntaktisch anspruchsvolle Formeln unterstrichen, die der direkten emotio weniger Platz einräumen und stilistisch dem vornehmen, gelegentlich gelehrten Erzählen zugeordnet werden sollen (vgl. stellvertretend: Margareta wart gebeten, / daz si den iungen lichamen / nicht enlieze in sulchen schamen / iamerlich verterben hie, v. 329,54–57). Diese Maßnahmen sind Ausdrücke desselben funktionalen Konzepts wie die Quellenkritik, die verstärkten Erwähnungen von Datierungen und Ortsangaben u.a.m., die das Legendar charakterisieren. In der Legenda Aurea wird die narrative Ausschmückung der Vita weitgehend neutralisiert, um die (wesentlich deutlicher) exegetisch funktionalisierten Erzählungen dem Kontext dieses „légendier dominicain de vulgarisation“ anzupassen. Vgl. hierzu: Alain Boureau, La Légende dorée. Le système narratif de Jacques de Voragine († 1298), Paris 1984, S. 11. 56 Grundinformationen zu diesem Werk liefert die Einleitung zu der Ausgabe der Vita (Wace [wie Anm. 49, S. 5-52]). 57 Der französische Text zählt ca. 4000 Wörter, der deutsche ca. 1300.

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voiz; / La colombe sur li s’asist / Et endementres li a dit […], v. 669–672; ‚Aus dem Himmel erschienen ein Kreuz und eine sprechende Taube; die Taube setzte sich auf sie nieder und sagte ihr […]‘); schließlich mit dem Henker, der sich am Ende der Erzählung zum christlichen Glauben bekehrt. Hans-Erich Keller, der die französische Legende 1990 kommentierte und herausgab, schlägt ein Strukturmodell vor, das hier leicht verändert reproduziert wird:58 Prolog

v. 1–18

Kindheit

v. 19–84

Religionsdisput

v. 85–172

Erste und zweite Marter

v. 173–278

Drachenkampf

v. 279–506

Dritte und vierte Marter

v. 507–578

Tod

v. 579–719

Epilog

v. 720–748

Tab. 5: Vie de Sainte Marguerite, Strukturmodell nach Hans-Erich Keller

Diese Aufstellung zeigt, dass in der altfranzösischen Vita die Marter und die sie stimmlich unterstützenden Gespräche in direkter Rede ähnlich wie in Der Heiligen Leben als strukturierende Kernelemente der Handlung instrumentalisiert und vokalisiert werden – das Vierer-Strukturmodell wird (trotz der Einführung zahlreicher Gesprächspartner) klar realisiert. Allerdings verdeutlicht Kellers Schema die unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Handlungselemente bei Wace und in Der Heiligen Leben: Die französische Vita stellt den Drachenkampf ins Zentrum der Legende und räumt ihm mit 227 Versen (knapp ein Drittel der Erzählung) einen sehr großen Platz ein; in diesen Versen werden die beiden teuflischen Gegner bzw. die Überwindung des Teufels erst symbolisch, dann diskursiv ausführlich dargestellt.59 Diese Passage enthält drei Gebete in direkter Rede (insgesamt 39 Verse) und ein Gespräch (116 Verse), bei dem der Teufel eine lange Rede hält (95 Verse). Auffallend im Hinblick auf die Vokalität des Textes ist, dass in dieser Szene die Rollen wesentlich deutlicher als in der späteren Vita in Der Heiligen Leben getauscht werden: Der Teufel jammert vor Angst vor der jungen Frau, die sich zwar in den Gesprächen mit dem sie verfolgenden Olibrius passiv und geduldig verhält, hier jedoch siegesgewiss ihren Fuß auf den Kopf des am Boden liegenden Gegners hält und diesen lautstark dazu zwingt, ihre Fragen zu beantworten. Dadurch wird die Kraft der Heiligkeit im Kampf gegen das Böse ins Zentrum der Erzählung gestellt (und entsprechend voka-

|| 58 Wace (wie Anm. 49), S. 41. 59 Vgl. Müller (wie Anm. 7), S. 134.

Vox sancti | 387

lisiert); zu dieser besonderen Schwerpunktsetzung in der höfischen Legende gehört auch die mehrfache, gewaltsame Darstellung des ‚Kampfes‘ gegen die versuchenden Heiden. Wace gestaltet die materia dem Prinzip der dilatatio, aber auch seiner katechetischen Absicht entsprechend noch komplexer: Der lehrhaften Rede, die der Teufel in diesem Rahmen hält, entspricht zu Beginn der französischen Fassung eine vergleichbar lange Passage, in der die missionarisch bekennende Margarete im Gespräch mit Olibrius in einer ersten disputatio die Grundsätze ihres Glaubens ausführlich darstellt (vgl. Strukturmodell unter ‚Religionsdisput‘): Das Gespräch mit dem Präfekten, das die Heilige im Text des Der Heiligen Leben vor und nach ihrem ersten Gefängnisaufenthalt in zwei Etappen führt, ist von Wace zu einer langen, bekennenden und katechetisch missionierenden Rede geformt – diese Besonderheit der französischen Vita baut an dieser Stelle eine sekundäre strukturelle Verbindung in die Erzählung ein (Rede der Heiligen – Rede des Teufels).60 Den größten Unterschied im Hinblick auf die Vokalität der Figurenrede bildet jedoch die hohe Anzahl der Gebete: Margarete betet (grundsätzlich in direkter Rede) insgesamt neun Mal – das heißt wesentlich öfter als in Der Heiligen Leben (vgl. im folgenden Schema DHL 1, DHL 2, DHL 3):61 1.

v. 109–120

Gebet bei der Ankunft der Boten

2.

v. 178–186

Gebet während der ersten Marter

3.

v. 241–250

Gebet während der zweiten Marter

4.

v. 284–296

Bitte/Kennenlernen des Feindes

= DHL 1

= DHL 2

5.

v. 321–330

Gebet vor dem Kampf gegen den Drachen

= DHL 2

6.

v. 347–361

Gebet nach dem Kampf gegen den Drachen

= DHL 2

7.

v. 527f.

Gebet während der dritten Marter

= DHL 2

8.

v. 549–562

Gebet während der vierten Marter

9.

v. 617–662

Fürbitte-Gebet vor der Hinrichtung

= DHL 3

|| 60 Margarete wird bei Wace (als erste Strafe) nicht ins Gefängnis geworfen; dagegen wird sie nach ihrer Rede zweimal blutig geschlagen, sodass der Rhythmus der vier Gespräche bzw. der vier Martern erhalten bleibt. Die Tatsache, dass manche Autoren von Viten der heiligen Margarete den ersten Kerkeraufenthalt nicht als Marter betrachten wollen und die erste Marter doppeln, um auf die Zahl der Gespräche zu kommen, unterstreicht, wie verbindlich die strukturierende Folge vier Gespräche/vier Strafen in all ihren Variationen gewesen sein muss. 61 Ähnlich wie in Der Heiligen Leben kommt ein Stoßgebet dazu, das in indirekter Rede knapp wiedergegeben wird.

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Diese Aufstellung liefert mehrere Informationen: Erstens rhythmisieren die Gebete des altfranzösischen Textes die Handlung anders als in Der Heiligen Leben, jedoch ähnlich deutlich; die strukturierende Wirkung der wichtigsten Gebete ist im spätmittelalterlichen deutschen Text wie auch in der Vie de Sainte Marguerite genauso erkennbar wie die Marterfolge. Die Konsequenzen dieses Nebeneinanders mehrerer Strukturmodelle für die Funktion der Vokalität werden im Rezeptionsprozess der beiden Werke ähnlich gewesen sein. Zweitens ist die Folge der Gebete der heiligen Margarete im höfischen Text zwar komplizierter als in der auf die engste Grundform der materia reduzierten deutschen Fassung, doch die Gebete in direkter Rede unterstreichen sowohl das Vierer-Modell der Marter als auch das Dreier-Modell der bekennenden Gebete: Unter den drei Gebetssituationen, die die Handlung des Martyriums einrahmen (Gebete 1, 4–6 und 9), bildet die mittlere Gruppe einen Höhepunkt, der daran erkennbar ist, dass einzig das 6. Gebet mit einer liturgischen Formel endet.62 Außerdem sind die beiden dazwischen liegenden Gebetsgruppen (2–3 und 7–8) parallel konzipiert: An diesen Stellen betet die Heilige um Beistand während der Marter, sodass die für die altfranzösische Vita charakteristische Motivfolge ‚Darstellung der Marter – Gebet – Fortsetzung der Marter‘ der Folge ‚Gespräch – Zornausbruch – Marter‘ in Der Heiligen Leben entspricht. Dass der Einfluss der Vokalität dieser Passagen auf die Rezeption der beiden Viten vergleichbar war, ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass die Reden und die Gebete der Heiligen in den beiden Viten auch aus sprechakttheoretischer Perspektive sehr ähnlich konzipiert sind: Während die Gebete, die Margarete in Verbindung mit den Martern ausspricht, hauptsächlich Bitten (bzw. Hilferufe, so zum Beispiel: De mei, bels Sire, aies merci, v. 183; ‚Guter Herr, sei mir gnädig‘) enthalten, bestehen diejenigen, die bei der Ankunft der Boten, im Kampf gegen die Teufelsgestalten und vor der Enthauptung gesprochen werden, vorrangig aus deklarativen oder kommissiven Glaubensgrundsätzen (vgl. Que tuz tens te puisse aorer, / Que ma fei ne seit empiree / Ne la meie ame cunchïee / Ma sainteé ne seit müee / Ne la chasteé que t’ai vöee., v. 114–118; ‚Dass ich dich zu jeder Zeit anbeten könne; dass mein Glauben nicht geschwächt, meine Seele nicht verdreckt, meine Heiligkeit oder die Keuschheit, die ich dir versprochen habe, nicht verändert werden.‘, Übersetzung M.H.). In Waces Vie de Sainte Marguerite erweisen sich die stimmliche Markierung der durch die Legende vorgegebenen Diskurse und die Strukturmodelle als genauso regelhaft und mechanisiert wie in der späteren Vita in Der Heiligen Leben: Selbst wenn Wace bei der Literarisierung der materia mit den (sekundären) Erzählelementen und techniken, die die Legendentradition zur Verfügung stellt, öfter spielt, werden in seiner Fassung der Appellcharakter der Passagen in direkter Rede sowie deren Mar-

|| 62 Vgl. In secula seculorum. AMEN (v. 362); durch diese Formel weist der Text deutlich auf die zentrale Stellung des Drachenkampfes hin.

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kierung durch vokale Elemente und besonders deren strukturierende Wirkung ähnlich wie im jüngeren deutschen Text konzipiert. Wie Wace dichtet Hartwig von dem Hage vermutlich noch im 13. Jahrhundert eine weitere höfische Version der Legende der heiligen Margarete. Sein Text ist mehr als doppelt so lang wie derjenige von Wace (1738 Verse); dieser Umstand führt unter anderem zu weiteren Momenten der dilatatio.63 Die schematische Darstellung der gesprochenen Handlung zeigt jedoch, dass der hochmittelalterliche Autor die Strukturmodelle kennt, die an den bisher untersuchten Viten herausgearbeitet wurden. Stationen der direkten Rede

Folge/Handlung

Stelle

Sprecherwechsel

Gebet bei der Ankunft der Ritter

v. 297–340

Vorgespräch mit den Rittern (zum Teil indirekte Rede)

v. 343–364

1

Erstes Gespräch mit Olibrius

Kerker

v. 381–434

6

Zweites Gespräch mit Olibrius

Marter I (Schläge)

v. 452–538

6

Gebet während Marter I Drittes Gespräch mit Olibrius und den Heiden

v. 549–566 Marter II (Erhängen)

Gebet während Marter II Viertes Gespräch mit Olibrius

3

v. 691–726 Kerker

Gebet während des Kerkeraufenthalts Gebet vor dem verschlingenden Teufel

v. 571–680

v. 743–774

2

v. 781–822

Sieg über den Drachen

Gebet vor dem Kampf mit dem Teufel

v. 870–897

v. 933–960

Gespräch mit dem Teufel (+ Aussage der Taube)

Verschwinden des Teufels

v. 968–1304

9

Fünftes Gespräch mit Olibrius

Marter III (Fackeln)

v. 1321–1344

2

Gebet während Marter III

v. 1351–1356

|| 63 Zu Hartwig von dem Hage vgl. Schmitz (wie Anm. 49), S. 211–236; Feistner (wie Anm. 4), S. 100– 102.

390 | Maryvonne Hagby

Stationen der direkten Rede

Folge/Handlung

Stelle

Sprecherwechsel

Sechstes Gespräch mit Olibrius

Marter IV (Wasser)

v. 1357–1368

2

Gebet während Marter IV + göttliche Antwort (Taube)

Massenbekehrung

v. 1383–1438

Gespräch mit dem Henker I

v. 1463–1473

Gebet (Fürbitte) + göttliche Antwort (Taube)

v. 1479–1562

Missionsrede Margaretes

v. 1566–1608

Gespräch mit dem Henker II

v. 1611–1640

Gebet vor dem Tod

v. 1643–1649

Lied der Engel

v. 1663–1670

Klage der Teufel

v. 1675–1688

Schlussgebet des Erzählers

v. 1721–1738

4

Tab. 6: Hartwigs Margaretenlegende

Der Umfang dieses Beitrags erlaubt es nicht, ausführlich auf die vielfältige Konzeption der Stimmlichkeit in dieser Vita einzugehen. Doch Tabelle 7 zeigt, dass der Text durch Passagen in direkter Rede genauso vollständig vokalisiert wird wie bei Wace und in Der Heiligen Leben. Hartwig nutzt die Länge seiner Bearbeitung vorrangig aus, um durch zusätzliche Wiederholung einiger Erzählmotive und -elemente (zum Beispiel des Gesprächs der Heiligen mit dem heidnischen Volk; vgl. auch die Doppelung des ersten Gespräches mit Olibrius) verschiedene Formen der emotio sowohl bei den Heiden als auch bei der Heldin auszudrücken; die lange, hinzugefügte bekennende Rede, die Margarete zu den Heiden hält, als diese versuchen, sie von ihrer Beständigkeit abzubringen (v. 597–680), dient der religiösen aedificatio. Außerdem gestaltet Hartwig das Ende der Vita durch die zusätzliche Handlung um den Henker neu, wobei er diese Episode im Hinblick auf die Vokalität des Textes genauso wie die traditionellen Momente der Biographie der Heiligen erzählt (lange Passagen direkter Rede, Gebete usw.). Hartwig kennt die vierfache Struktur der Vita, die die Erzählung um die MarterEpisoden baut – er verdeutlicht sogar die Vierer-Reihe, indem er die erste Marter doppelt. Die zentrale Position des physischen Kampfes mit dem Teufel realisiert er außerdem genau, indem diese Szene tatsächlich die Mitte des Werks bildet und durch die Anwesenheit eines später tradierenden Zeugen beglaubigt wird (v. 839–

Vox sancti | 391

924).64 Auch sind Margaretes Äußerungen durchgehend entweder Bitten oder Bekenntnisse und der Anteil der direkten Rede wie erwähnt extrem hoch (insgesamt 1120 Verse). Die Eigenständigkeit dieser Vita besteht darin, dass jede Szene von einem Gebet in direkter Rede begleitet wird. Margarete handelt nie, ohne gleich mit Gott zu reden – und Gott antwortet ihr mehrfach durch die Stimme der Taube, sodass Margaretes Gebete gelegentlich Züge von dialogisierten Gesprächen bekommen. Die Verbindung der Gebete mit den vier Martern, den beiden Gefängnisaufenthalten, dem Kampf gegen den Teufel und der Episode der Bekehrung des Henkers erhöht deren Anzahl sehr (zehn insgesamt) und strukturiert die gesamte Vita anders als in Der Heiligen Leben. Doch sie vokalisiert sie sehr ähnlich, nicht zuletzt weil diese Gebete alle in direkter Rede wiedergegeben werden: In Hartwigs Vita wird nicht der straffe, symmetrische Aufbau der Handlung mit Hilfe der Gebete markiert, sondern die Selbstverständlichkeit von Margaretes ‚Sprechen mit Gott‘. Entsprechend wird die materia genauso prägend durch Passagen in direkter Rede vokalisiert wie in Der Heiligen Leben, selbst wenn die beiden Werke literarisch kaum vergleichbar sind.

5 Ergebnis Der Vergleich zeigt, dass alle vorgestellten Viten Repräsentationen christlicher Heiligkeit sind, in denen mehr oder weniger ritualisierte Mechanismen der Heiligkeit vokalisiert werden, die in der Rezeption des Textes zur aedificatio und imitatio führen sollen. Im Rahmen dieser Imitabilität bestimmen in der Aufführungssituation nicht die Äußerungen eines menschlichen Vortragenden die ‚richtige‘ Rezeption des Textes, sondern die ‚heiligenden‘ Reden und Gebete Margaretes, die gleichzeitig die Vorbildhaftigkeit der Heiligen konstruieren und bestätigen, d.h. die Handlung beglaubigen. Besonders durch die Sprechhandlung des Bekennens (sowie durch die hier nicht untersuchte Sprechhandlung des Streitens) bauen die vorgestellten Viten ihre performativen Realisationsmöglichkeiten in diesem Sinn auf; diese Sprechhandlungen finden ihren Ausdruck meistens in direkter Rede, gelegentlich in wiedergegebenen Worten und Sätzen und den sie begleitenden visuellen Elementen (Donner

|| 64 Theotimus, ein Schriftgelehrter, der Margarete mit ihrer Amme im Gefängnis besucht, schaut beim Drachenkampf ausdrücklich zu, sodass er später berichten und das Geschehen (in Verbindung mit den zitierten Vergleichen aus dem Alten Testament [Jonas und Daniel]) als Augenzeuge beglaubigen kann (vgl. Theotimus […] durch ain enges venster sach […] / Und schraib es [ir gebet] an besunder. / dô sus der guot sîn ampt begie, / ain krak ûs ainem winkel gie, v. 834–840). Er bekommt dieselbe Rolle wie der Bischof Turpin im Pseudo-Turpin, der anders als in der Rolandslied-Tradition in diesem Werk den Kampf gegen die Heiden überlebt und darüber berichten kann.

392 | Maryvonne Hagby

und Blitze, Erdbeben, Taube, Kreuzzeichen). Aufgrund dieses poetischen Prinzips, das alle Viten (trotz gelegentlicher abbrevatio) anerkennen, bilden die Äußerungen Margaretes die Stimme der Heiligen: Sie sind die Vox sanctae, die Stimme der Heiligen und des Glaubens, die besonders in den stärker literarisierten Viten (aber auch in Der Heiligen Leben) die den hagiographischen Sinn vermittelnde Struktur der Texte tragen. Dass diese Stimme des Glaubens tatsächlich die Stimme der Legende ist, postuliert Hartwig von dem Hage ausdrücklich in seiner Vita; dort wirft die Heilige dem Teufel vor: ia bist du sîn dehain wîs wert, / daz du mîn stimm hoerest, / Wan du zu hell gehoerest (v. 1152–1154).65 Selbst wenn die aus diesem Prinzip resultierende Vokalität sehr unterschiedlich realisiert (meist durch direkte Rede narrativiert, zum Teil lediglich als bekannt vorausgesetzt) wird, gehört sie in den untersuchten Viten zu jenen wesentlichen Elementen, die die funktionelle Konzeption der Legende tragen. Die Analyse hat gezeigt, dass mit Hilfe der Stimme der Heldin nicht nur konkrete Momente ihrer Biographie, sondern auch Ausdrücke ihrer heiligen Präsenz artikuliert werden, sodass die daraus entstehende Vokalität handlungskonstitutiv wird: Die Gespräche und Gebete in direkter Rede, die mit deren Hilfe markierte, legendarischen Sinn vermittelnde Struktur sowie die höchst konventionellen Sprechhandlungen, die dieses Konzept voraussetzt, sind der Ort bzw. die Bedingung für das ‚Miterleben‘ der ‚tätigen Tugend‘66 und des heiligen Bekenntnisses. Dazu knüpfen die Texte an den hagiographischen Diskurs stimmlich an und weben „ein immer dichteres Netz von Entsprechungen […], Wieder-Spiele, Variationen über ein festgelegtes Thema [und] Mannigfaltigkeit im Rahmen desselben“;67 zusätzlich wird auch die in der performativen Rezeption aufgebaute (affektive) Nähe zwischen dem Publikum und der Heiligen sowohl innertextlich (in der Massenbekehrung oder in der Bekehrung des Henkers) als auch außertextlich (im Rezeptionsprozess) postuliert und konstruiert. Besonders die heilige Margarete ist „eine durch die Geistesbeschäftigung der ‚imitatio‘ sprachlich [und emotional] hervorgebrachte Heilige“.68 Allerdings muss die anfangs gestellte Frage, ob die Vokalität zu jenen Elementen der Legende zählt, die alle Viten Margaretes vereinen, differenziert beantwortet werden. Die durch die Passagen in direkter Rede erzeugte Vokalität der Legende dient nicht in allen Bearbeitungen der Markierung der Handlungsstruktur: Die Analyse der Texte zeigt, dass die Rolle der Stimme und der Stimmhaftigkeit in der Legende Margaretes durchaus bindend ist (alle Viten stellen die Stimmlichkeit des Textes ins Zentrum des Erzählten und übernehmen die Streitigkeiten zwischen den

|| 65 Später antwortet Margarete Olibrius erneut in diesem Sinne: dîn valsch goett sint / Stummen tôren unde blint. / Dâmit trîbe sîn gauggelspil / Der arg vâlant, wie er wil (v. 1361–1364). 66 Vgl. Jolles (wie Anm. 7). 67 Zumthor (wie Anm. 1), S. 71. 68 Müller (wie Anm. 7), S. 133.

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Protagonisten, die bekennenden Aussagen Margaretes oder die klangvollen Handlungsdetails wie Donner, Erdbeben usw.), nicht jedoch deren Funktionalisierung bzw. die Verknüpfung von Vokalität und Struktur der Handlung. Gerade Wace und Hartwig, die wie der Autor in Der Heiligen Leben die Grundstruktur der Handlung durch Passagen in direkter Rede vokalisieren, beweisen in ihren Viten, dass der Freiraum, der jenseits der naheliegenden, symbolischen Strukturmerkmale der Handlung den Autoren zur Verfügung gestellt wird, groß ist und dass er sehr unterschiedlich genutzt wird. An dieser Stelle sollte auf die Definition der Stimmlichkeit von Zumthor zurückgegriffen werden, wonach „die Allgegenwart der Stimme […] durch ihre pure Materialität an der Sinngebung des Textes teilhat und damit für uns in gewisser Weise die Regeln seiner Lektüre festlegt“.69 Tatsächlich baut die Stimme der Heiligen (bzw. die vokalisierten Stellen in ihren Viten) Räume der Wahrnehmung auf, die die Autoren für literarisierende und/oder performative Maßnahmen bevorzugt nutzen, sodass durchaus behauptet werden darf, dass die Stimme der Heiligen die ‚Regeln der Lektüre‘ in der Performanz bestimmt und damit die Texte überhaupt zu hagiographischen Werken werden lässt. Die untersuchten Viten zeigen aber auch, dass die Vokalität im Literarisierungsprozess die Stimme der Heldin und dadurch die zu imitierende Heilige selbst ‚verkörpert‘. Die narrationes senden durch die Stimme der Heiligen Signale, die jeder Bearbeiter, aber auch jeder Rezipient hört, erkennt und verfolgt, und zwar bis in den kultischen Bereich hinein (vgl. Margaretes FürbitteGebet): In diesem Wechselspiel liegt eine Besonderheit der Legende als religiöse literarische Gattung. Dabei kennzeichnet diese Signale, dass sie (ganz besonders im Fall der disputierenden Margarete) meist dem Bereich des Bekenntnisses zuzuordnen sind. Wenn Zumthor allgemein behauptet, dass die mittelalterlichen „Texte [...] sämtlich aus einer und derselben Instanz hervor[gehen]: aus der durch die Stimme übermittelten, angereicherten und verkörperlichten Gedächtnis-Tradition“,70 sollten im Fall der christlichen Legende an dieser Stelle Bekenntnis und Gedächtnis verbunden werden: Margaretes Viten ‚konstruieren‘ in ihrer Literarisierung die Biographie der Heiligen, indem sie ihre Bekenntnisse (unterschiedlich, doch) systematisch vokalisieren und die entsprechenden Passagen als strukturierende Elemente ihres Lebens – aus dieser Perspektive als ‚verkörperlichtes Gedächtnis‘ – instrumentalisieren.

|| 69 Zumthor (wie Anm. 1), S. 33. 70 Ebd., S. 93.

Almut Suerbaum

Zwischen Stimme und Schrift Rhythmische Strukturen im Repertoire der Jenaer Liederhandschrift am Beispiel von Frauenlobs ‚Zartem Ton‘

1 Stimmloser Sang? Mittelhochdeutsche Lyrik stellt für Überlegungen zum Status von Stimme und Performanz eine besondere Herausforderung dar. Zwar gibt es inzwischen Konsens in der Forschung darüber, dass es sich um Aufführungskunst und nicht um Lesetexte handelt, doch methodisch gibt es angesichts der Überlieferungslage kaum einen Weg, aus den in Handschriften fixierten Texten zu den ursprünglich vorgetragenen Liedern vorzudringen.1 Zugleich sind einige der bisher als gegeben angenommenen Kategorien ins Schwanken geraten, denn galt der älteren Forschung der Gegensatz zwischen Singen und Sprechen, also zwischen den Text-Melodie-Ensembles des Minnesangs einerseits und der gesprochen rezitierten Spruchdichtung andererseits, als fundamental, wird neuerdings postuliert, dass diese Grenzen durchaus nicht so hart sind, wie angenommen – weswegen Horst Brunner den Begriff ‚Spruchsang‘ einführt und damit die Musikalität oder doch Liedhaftigkeit auch der Spruchformen in den Vordergrund stellt.2 Andererseits hat zuletzt Hartmut Bleumer in einem wich-

|| 1 Grundlegend noch immer Paul Zumthor, La lettre et la voix. De la littérature médiévale, Paris 1987, und für die mittelhochdeutsche Literatur der Band ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17); vgl. Timo Reuvekamp-Felber, „Fiktionalität als Gattungsvoraussetzung. Die Destruktion des Authentischen in der Genese der deutschen und romanischen Lyrik“, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Kultur 1150–1450, hg. von Ursula Peters, Stuttgart 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 377–402; Mireille Schnyder, „Minnesang (um 1200)“, in: Literarische Performativität. Lektüre vormoderner Texte, hg. von Cornelia Herberichs und Christian Kiening, Zürich 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 3), S. 121–136; Almut Suerbaum, „Paradoxes of performance: Autobiography in the songs of Hugo von Montfort and Oswald von Wolkenstein“, in: Aspects of the Performative in Medieval Culture, hg. von Manuele Gragnolati und Almut Suerbaum, Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 18), S. 143–164. 2 Horst Brunner und Karl-Günther Hartmann, Spruchsang. Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jahrhunderts, Kassel u.a. 2010 (Monumenta monodica Medii Aevi 6); vgl. Horst Brunner, „Sangspruchdichtung“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 8, Kassel u.a. 2 1998, Sp. 931–939; Nachweis des gesamten Tönerepertoires im Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger, 16 Bde., Tübingen 1986–2009.

396 | Almut Suerbaum

tigen Beitrag hervorgehoben, wie stark lyrischer Klang im Minnesang schriftlich konzeptualisiert wird.3 In diesem Dilemma bietet die Jenaer Liederhandschrift wichtige Anhaltspunkte, auch oder gerade weil sie außer dem Leich des ‚Wilden Alexander‘ und Liedern Witzlavs keinen Minnesang überliefert und daher lange im Schatten der Forschung gestanden hat. Erst seit der von Jens Haustein und Franz Körndle 2007 veranstalteten Tagung, die anlässlich der umfassenden Restaurierung der Handschrift kodikologische Untersuchungen möglich machte, sind kodikologischer Bestand und historisches Umfeld der Handschrift näher untersucht.4 Es handelt sich, so wird man sagen dürfen, um die vielleicht spektakulärste Handschrift mit Notenüberlieferung aus dem deutschsprachigen Raum – wenn man zögert, den Superlativ ohne jede Qualifizierung zu gebrauchen, dann nur, weil es unter den lateinischen liturgischen Handschriften aus dem deutschsprachigen Raum natürlich atemberaubende Exemplare gibt, nicht zuletzt die Handschriften aus dem Paradieskloster in Soest, deren ungeheuer komplexen Umgang mit Phänomenen von liturgischer Stimme Jeffrey Hamburger und Susan Marti in ihren neueren Publikationen ins Auge gerückt haben.5 Im Bereich der volkssprachigen Überlieferung dagegen sind Germanisten es gewohnt, mit etwas Neid auf die prachtvolle Ausstattung französischer Codices und die Fülle von Handschriften mit Melodieüberlieferung zu blicken und die kulturellen Unterschiede zu konstatieren. Hier stellt die Jenaer Handschrift als volkssprachiger Überlieferungsträger mit vollständig notiertem Repertoire im deutschsprachigen Raum daher eine wichtige Ausnahme dar. Mittelhochdeutsche Liebeslyrik des hohen und späten Mittelalters thematisiert immer wieder den Akt des Singens, und so kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass sie nicht nur prinzipiell sangbar, sondern wohl auch für den Gesangsvortrag konzipiert war. Dennoch muss die Minnesangforschung in der Regel mit Bedauern auf das fast völlige Fehlen von zeitgenössischen Melodien verweisen. Selbst wenn die Texte für eine Aufführung intendiert und ursprünglich stark an Stimme und Präsenz des Dichter-Sängers gebunden waren, ist es methodisch problematisch, diese nur im Vortrag, nicht aber in den Handschriften fixierte Stimme zu rekonstru-

|| 3 Hartmut Bleumer, „Minnesang als Lyrik? Desiderate der Unmittelbarkeit bei Heinrich von Morungen, Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadlaub“, in: Transformationen der Lyrik im 13. Jahrhundert. Wildbader Kolloquium 2008, hg. von Susanne Köbele u.a., Berlin 2013 (WolframStudien 21), 165–201; vgl. auch Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius, „Generische Transgressionen zwischen Lyrik und Narrativik“, in: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von dens., Berlin/New York 2011 (Trends in Medieval Philology 16), S. 1–39. 4 Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘. Codex – Geschichte – Umfeld, hg. von Jens Haustein und Franz Körndle unter Mitarbeit von Wolfgang Beck und Christoph Fasbender, Berlin/New York 2010. 5 Leaves from Paradise. The Cult of John the Evangelist at the Dominican Convent of Paradies bei Soest, hg. von Jeffrey Hamburger, Cambridge, Mass. 2008.

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ieren.6 Für Aussagen über mögliche musikalische Strukturen ist man auf die wenigen prominenten Ausnahmen wie etwa Walthers Palästinalied angewiesen, für das es außerhalb der Manessischen Liederhandschrift eine Parallelüberlieferung mit Melodie gibt.7 Auch dort, wo Handschriften nur Texte überliefern, gibt es natürlich Versuche, die sicher ursprünglich vorhandenen Melodien zu rekonstruieren, indem man auf mehr oder weniger überzeugende Annahmen von Kontrafakturen französischer Melodien zurückgreift – Musikwissenschaftler sind da allerdings oft vorsichtiger als Germanisten, da einige der sogenannten Kontrafakturen erhebliche Lizenzen erfordern und es andererseits methodisch nicht ohne Weiteres zulässig ist, aus der Ähnlichkeit metrischer Strukturen auf identischen Melodieverlauf zu schließen. Letztendlich ist man also in den meisten Fällen allein auf das im mittelhochdeutschen Text überlebende sprachliche ‚Skelett‘ der metrischen Struktur angewiesen.8 Angesichts dieses Dilemmas wird dieser Beitrag es unternehmen, anhand der Jenaer Liederhandschrift Phänomene der Stimme und ihrer Verschriftlichung zu untersuchen, denn mit ihrer reichen Melodieüberlieferung bietet sie einen Gegenpol zu der im Wesentlichen ‚stimmlosen‘ Überlieferung des Minnesangs. Am Anfang steht ein Blick auf die Materialität der Handschrift, bei der neben den kodikologischen Befunden vor allem auch die Ergebnisse der neuesten musikwissenschaftlichen Untersuchungen zum Status von Text- und Melodieensembles berücksichtigt werden. Anschließend sollen in drei Schritten Phänomene des Klangs untersucht werden: die Rolle der Stimme in der Spruchdichtung, die Frage nach rhythmischen Strukturen und schließlich die Bedeutung von Stimme als literarischer Kategorie.

|| 6 Suerbaum (wie Anm. 1); Horst Brunner, Formgeschichte der Sangspruchdichtung des 12. bis 13. Jahrhunderts, Wiesbaden 2013 (Imagines Medii Aevi 34). 7 Henry Hope, „Miniatures, Minnesänger, music: the Codex Manesse“, in: Manuscripts and Medieval Song. Inscription, Performance, Context, hg. von Helen Deeming und Eva Elizabeth Leach, Cambridge 2015, S. 163–192. 8 Zur Problematik der von Friedrich Gennrich, „Sieben Melodien zu mittelhochdeutschen Minneliedern“, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 7 (1924), S. 65–98; und ders., Die Kontrafaktur im Liedschaffen des Mittelalters, Langen 1965 (Summa Musica Medii Aevi 12), entwickelten Hypothese der verschiedenen Formen von Kontrafaktur vgl. Ivana Pelnar Szabo, „Deutsche Liedkontrafaktur im 15. Jahrhundert“, in: Lyrik des ausgehenden 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von Franz Viktor Spechtler, Amsterdam 1984 (Chloe 1), S. 161–172; Ursula Aarburg, „Melodien zum frühen deutschen Minnesang“, in: Der deutsche Minnesang, hg. von Hans Fromm, Darmstadt 1963 (Wege der Forschung 15), S. 378-423; und Ewald Jammers, „Der Vers der Trobadors und Trouvères und die deutschen Kontrafakten“, in: Medium Aevum vivum. Festschrift für Walther Bulst, hg. von Hans Robert Jauss und Dieter Schaller, Heidelberg 1960, S. 147–160, stellen dagegen in Frage, ob aus der Vergleichbarkeit der metrischen Struktur auch auf gleiche Melodie geschlossen werden darf. Kritisch zur musikwissenschaftlichen Debatte um Kontrafaktur Henry Hope, Constructing Minnesang Musically, D.Phil. thesis Oxford 2014.

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2 Text und Melodie: die Jenaer Liederhandschrift und ihr Repertoire Angesichts der Überlieferungslage mittelhochdeutscher lyrischer Texte ist es einigermaßen erstaunlich, wie wenig bekannt die Jenaer Liederhandschrift trotz ihrer umfangreichen Melodieüberlieferung ist. Die Handschrift stammt aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts; nach dem Urteil von Gisela Kornrumpf und Karin Schneider ist sie im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts, wohl um 1330 entstanden. Beim Beschreibstoff handelt es sich um Pergament; die Handschrift ist sehr sorgfältig geschrieben, vor allem aber mit 820 × 560 mm ungewöhnlich groß und in den Worten von Gisela Kornrumpf „raumverschwenderisch“ beschriftet. Zwar ist sie nicht bebildert, doch deuten alle Indizien ihrer Materialität darauf, dass sie nach Ausweis des Formats und der Ausstattung als Prachthandschrift konzipiert wurde.9 Das ursprünglich geplante Textprogramm ist nicht ohne Weiteres rekonstruierbar, da nicht nur im Inneren der Handschrift, sondern sicher auch am Anfang und Ende des Bandes Blattverluste aufgetreten sind, ohne dass sich der Umfang dieser Verluste völlig sicher erschließen ließe.10 Möglich ist es, dass wir es mit dem Rest einer ursprünglich zwei Bände umfassenden Sammlung zu tun haben. Ich komme auf das Ausmaß der Verluste noch einmal zurück. Die Handschrift war um 1540 auf Holzdeckeln neu gebunden worden, doch sind Reste einer Bindung aus dem 14. Jahrhundert erhalten, zudem Reste einer Kette, wohl aus dem Zeitraum der Neubindung – was auf die Bedeutung der Handschrift noch im 16. Jahrhundert deutet.11 Format, Material, Layout und die spätere Ausstattung mit einer Kette deuten also auf eine Prachthandschrift hin, die über ihre Materialität auf den Status ihres Auftraggebers verweist (Abb. 1).12 Thematisch bietet die Handschrift das Werk von dreißig Autoren, wobei die Ordnung nach Autorennamen zugleich eine nach Tönen ist: Dort, wo (wie im Fall des Frauenliedkorpus) Strophen mit unterschiedlichen Melodien zusammengestellt werden, sind sie nach Tönen geordnet. Anders als in der Manesseschen und der Weingartner Liederhandschrift, bei denen allein der Autor-

|| 9 Zur Kodikologie Gisela Kornrumpf, „Der Grundstock der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ und seine Erweiterung durch Randnachträge“, in: Haustein/Körndle (wie Anm. 4), S. 39–79, die die Handschrift ebenso wie Karin Schneider, Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, Tübingen 1999 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B8), S. 94, auf um 1330 datiert (S. 39); die Signifikanz des Großformats untersucht Lorenz Welker, „Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ im Kontext großformatiger liturgischer Bücher des 14. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum“, in: Haustein/Körndle (wie Anm. 4), S. 137–147. 10 Kornrumpf (wie Anm. 9), S. 39. 11 Christoph Fasbender, „Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ und ihr Umfeld im 16. Jahrhundert – Mit einem Rückblick auf das 15. Jahrhundert“, in: Haustein/Körndle (wie Anm. 4), S. 163–179. 12 Welker (wie Anm. 9), S. 141f.

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name Strukturkriterium ist, bietet die Jenaer Liederhandschrift also ein Layout, in dem die Melodie neben der Autorschaft ordnungsstiftend ist. Mit dem Œuvre von dreißig Autoren bietet die Handschrift insgesamt 88 Melodien beziehungsweise Töne – spektakulär in Umfang und Präsentation. Warum also ist die Handschrift so wenig im Blick der Forschung? Die Antwort ist relativ einfach: Für Germanisten erscheint sie randständig, da sie so gut wie keinen Minnesang, sondern hauptsächlich Spruchdichtung enthält, zudem sicher aus dem norddeutschen Raum stammt, der als Literaturlandschaft erst seit einigen Jahren allmählich in den Blick rückt.13 Da sie zudem einstimmige Melodien überliefert, erscheint sie Musikwissenschaftlern im Vergleich zum zeitgleich in Frankreich entstehenden mehrstimmigen Repertoire der Ars Nova altmodisch und wenig komplex. Schon Johann Gottfried Herder war 1793 wenig beeindruckt und bezeichnete die Melodien als „schätzbares Hülfsmittel“, das er nicht sonderlich goutierte: „so dünkt uns oft doch […] die Minnesinger-Weise langweilig“.14 Die anlässlich der Restaurierung und Faksimilierung der Handschrift in Jena veranstaltete Tagung von 2007 und der daraus resultierende Band von Haustein und Körndle haben eine Wende eingeleitet, sodass wir die kodikologische Verfasstheit und Besonderheit des Bandes jetzt sehr viel besser verstehen. Zu den Besonderheiten der Materialität dieser Handschrift gehört neben Format und Layout die Tatsache, dass sie durchgängig notiert ist. Damit scheinen die Verhältnisse auf den ersten Blick einfacher und klarer als bei der Manesse-Handschrift zu sein, da die Melodieüberlieferung ein integraler Bestandteil der Handschriftenkonzeption ist und somit auf ihre Gebrauchsfunktionen zu deuten scheint. Musikwissenschaftler hatten zudem darauf hingewiesen, dass auch die Art der Notenschrift unter Umständen Rückschlüsse auf den Gebrauch zulässt, denn die Jenaer Handschrift verwendet Quadrat- statt Hufnagelnotation (Abb. 2 und 3).15 Anfangs war daher die Vermutung geäußert worden, dass die Handschrift zum Gebrauch im Chor gedient haben könnte.16 Doch das ist nach neueren Einsichten zu einfach und

|| 13 Vgl. zur Bedeutung des norddeutschen Raums als Literaturlandschaft A Companion to Mysticism and Devotion in Northern Germany in the Late Middle Ages, hg. von Elizabeth Andersen, Henrike Lähnemann und Anne Simon, Leiden/Boston 2014 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 44); Welker (wie Anm. 9), S. 138–140; Hamburger (wie Anm. 5). 14 Zitiert bei Oliver Huck, „Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ‚Jenaer Liederhandschrift‘“, in: Haustein/Körndle (wie Anm. 4), S. 99–120, hier S. 99. 15 Zu den Unterschieden zwischen der Jenaer Handschrift mit Quadratnotation und den Basler Fragmenten, die Hufnagelnotation verwenden, erstmals Karl Bartsch, Untersuchungen zur Jenaer Liederhandschrift, Leipzig 1923 (Palaestra 140); vgl. Robert Lug, „Drei Quadratnotationen in der Jenaer Liederhandschrift“, in: Die Musikforschung 53 (2000), S. 4–40; und, mit anderem Ergebnis zu den stemmatischen Beziehungen, Franz Körndle, „Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ und das Basler Fragment. Aspekte notenschriftlicher Traditionen“, in: Haustein/Körndle (wie Anm. 4), S. 121–135. 16 So zum Beispiel Peter Wagner, Neumenkunde. Paläographie des liturgischen Gesanges, nach den Quellen dargestellt und an zahlreichen Faksimiles aus den mittelalterlichen Handschriften veran-

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wohl zu kurz gedacht, sowohl was die Bedeutung des Formats angeht wie auch in der Funktionszuweisung der Notation. Schon lange ist bekannt, dass das Vorhandensein oder Fehlen von Noten keinen direkten Rückschluss auf die musikalische Aufführung erlaubt: Die ManesseHandschrift etwa demonstriert einen Überlieferungstyp, in dem Melodien als so selbstverständlich vorausgesetzt werden können, dass sie keiner Aufzeichnung bedürfen. Andererseits ist das Vorhandensein von Notierung kein Beweis dafür, dass eine Handschrift zum Singen gedacht war. Die Funktion der Notenschrift und ihr Bezug zum Text bedarf daher genauerer Analyse: In der Jenaer Handschrift stammt die Quadratnotation von anderer Hand als die Texte, was zu erwarten ist, da Notenschrift zu den Spezialarbeiten gehört, die – ebenso wie Rubrizierung und Illustrierung – bei hochwertigen Handschriften in der Regel nicht von der Texthand ausgeführt werden, sondern von einem speziell geschulten Schreiber.17 Notation deutet also durchaus nicht primär auf Gebrauch, sondern vor allem auf das Ausstattungsniveau und die Ansprüche des Auftraggebers. Körndle hat zudem über einen Vergleich mit den Basler Fragmenten herausgearbeitet, dass die um diese Zeit im deutschen Raum einzigartige Verwendung von Quadratnotation interpretationsbedürftig ist. Er weist darauf hin, wie ungewöhnlich es ist, dass die sowohl in der Jenaer Handschrift wie in den Basler Fragmenten überlieferten Melodien Note für Note übereinstimmen, was für die große Sorgfalt bei der Produktion der Jenaer Handschrift und für das Vorhandensein einer gemeinsamen Vorlage spricht.18 Körndle weist nach, dass sowohl die Jenaer als auch die Basler Handschrift nach dem Modell von Plenar-Missalien hergestellt worden sind und vermutet ein Skriptorium aus dem Kontext der Zisterzienser.19 Auch Lorenz Welker, der die Handschrift im Kontext anderer großformatiger liturgischer Bücher untersucht, kommt zu dem Schluss, er sehe „die Zweckbestimmung von J nicht primär in Überlieferung und Vortrag der erhaltenen Texte und Melodien, sondern vielmehr in der Präsentation eines besonderen Buchs und womöglich im Rahmen einer Schenkung“.20 Damit wäre die Handschrift als Repräsentationsobjekt zwar ein Zeichen im Rahmen der kulturellen Funktion von Büchern, aber sozusagen ‚stumm‘, wenn die Notation tatsächlich primär Ausweis der Kostbarkeit ist und damit auf den hochrangigen Stifter verweist. Dennoch bleibt festzuhalten, dass das Layout der Handschrift über die aufwändig und mit Präzision eingerichtete Notierung auf die imaginierte Möglichkeit von || schaulicht, Leipzig 1912 (Einführung in die gregorianischen Melodien. Zweiter Teil: Neumenkunde); vgl. Welker (wie Anm. 9), S. 137. 17 Schneider (wie Anm. 9), S. 94. 18 Körndle (wie Anm. 15), S. 125. 19 Ebd., S. 134. 20 Welker (wie Anm. 9), S. 147; vgl. auch ders., „Die Musik des Mittelalters als Gegenstand einer Kulturwissenschaft“, in: Das Mittelalter 4 (2000), S. 101–121.

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Gesang hinweist. Zwar wird man nach den Ergebnissen musikwissenschaftlicher Untersuchungen nicht mehr einfach behaupten können, dass jede Handschrift, die Noten enthält, zum Gesangsvortrag bestimmt war.21 Doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Handschrift dennoch eine Kategorie von ‚Stimme‘ enthält; ihre Konturen zu ermitteln, setzt sich der folgende Beitrag zur Aufgabe. Die Einrichtung der Handschrift, in der die jeweils erste Strophe eines Tons sorgfältig notiert ist, wobei den Melodiezeilen sehr exakt die Silben des Textes zugeordnet werden, stellt über das Layout eine direkte Beziehung zwischen Melodie und Text her. Im Folgenden soll untersucht werden, wie diese Relationen genau aussehen und auf welche Weise sie strukturtragend für die Handschrift insgesamt genutzt werden.

3 Spruchdichtung Wenn ich zunächst zu den Texten der Handschrift zurückkehre, so scheint deren Auswahl die Hypothese einer ‚stummen‘, wenn auch visuell eindrucksvollen Sammlung zu unterstützen. Die Jenaer Handschrift ist als Textkorpus, wie Gisela Kornrumpf konstatiert hat, „Umsetzung eines festgefügten Plans“, trotz und wegen der zahlreichen Randnachträge. Sie verweist auf die Anzahl der erschließbaren Zusatzquellen, „Indizien einer dichten Lied- bzw. Sangspruch-Tradierung“, auch wenn sie für uns der einzige erhaltene Zeuge ist.22 Mit Ausnahme der am Beginn der Handschrift erhaltenen Kontrafaktur auf Walthers Leich sowie des Leichs des ‚Wilden Alexander‘ und des am Ende ebenfalls unvollständig erhaltenen, hier Wolfram zugeschriebenen Wartburgkriegs enthält sie Spruchstrophen von 28 verschiedenen Dichtern, sowie ein Korpus von Sprüchen des Witzlav von Rügen im Nachtrag, wohl nach einer norddeutschen Vorlage. Sowohl die Auswahl der Autoren als auch die Erwähnung von Namen machen einen Interessenschwerpunkt im Norden wahrscheinlich. Ebenso wichtig im Kontext dieses Tagungsbandes ist die Fokussierung auf die sogenannte Spruchdichtung – politische und didaktische Sprüche, die zu mehrstrophigen Liedern zusammengefasst oder lose gereiht werden. Im Vergleich mit der aus dem 15. Jahrhundert stammenden Kolmarer Liederhandschrift hat Johannes Rettelbach gezeigt, dass sich die in der Jenaer Liederhandschrift vorkommenden Melodien nach zwei Großtypen unterscheiden: einerseits Kanzonen, die bestimmte Blöcke wiederholen, andererseits solche, die diese Melodie frei weiterentwickeln, ohne Einzelblöcke zu wiederholen.23 Dabei nimmt J in ihrer Bevorzugung immer wieder variierter melodischer Grundformen eine Sonderstellung ein,

|| 21 Welker (wie Anm. 9), S. 137. 22 Kornrumpf (wie Anm. 9), S. 79. 23 Johannes Rettelbach, „Die Bauformen der Töne in der ‚Jenaer‘ und in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ im Vergleich“, in: Haustein/Körndle (wie Anm. 4), S 81–97, hier S. 82.

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deren Artifizialität sich weniger in dramatischem Tonumfang oder in textbezogenen Melismen, sondern vielmehr in der kunstvollen Handhabung von Wiederholung und Variation erweist. Ihre Kunstfertigkeit liegt, wenn man Rettelbach folgt, damit weniger auf der paradigmatischen Ebene der semantischen Hervorhebung von Zentralbegriffen durch ungewöhnliche Melismen, sondern vielmehr auf syntaktischer Ebene. Auf Textebene bietet die Handschrift neben den zwei Leichs ein breites Spektrum an mehr oder weniger komplexen Strophenformen, unter denen Kanzonenformen und ihre Variationen dominieren. Die im Wesentlichen dreiteilige Struktur der Kanzone mit doppeltem Stollen und deutlich markiertem Abgesang erschließt sich aus der metrischen Form der Texte und ihrer Zeilengliederung, die in der Regel durch den Reim markiert ist.24 Mich interessieren hier allerdings genau die Merkmale, die Rettelbachs Analyse ausklammert: „Melodiebildung, Fragen der Vergleichbarkeit von Tonalität, Melismatik, Motivschatz, also die Art und Weise, wie solche Zeilenbildungen auf der Wortebene sich zu melodischen Strukturierungselementen verhalten“.25 Untersucht werden soll also, wie innerhalb der Zeile textgliedernde Elemente syntaktischer wie klanglicher Art sich zu melodiegliedernden Elementen verhalten. Wie die Abbildung der Melodieüberlieferung von Frauenlobs ‚Zartem Ton‘ auf fol. 110v (Abb. 4) demonstriert, ist die Zeilenunterteilung des Textes durchaus nicht das einzige Gliederungsprinzip, nach dem sich die Strophen unterteilen und präsentieren. Musikalische Melismen, also längere Abfolgen von Noten zu einer einzigen Textsilbe, machen dies augenfällig. Sie heben bestimmte Zeilen sowohl optisch wie auch akustisch hervor, denn da die Handschrift die notierte Melodie jeweils mit dem Text der ersten Strophe eines Tons unterlegt, erlaubt sie uns eine Zuordnung von Silben und Melodieelementen. Dabei fällt auf, dass Text und Notenschrift sehr sorgfältig aufeinander abgestimmt sind: Mit ganz wenigen Ausnahmen kennt der Textschreiber offenbar den Verlauf der Melodie so gut, dass er bei längeren Melismen genug Raum für die Notenschrift lässt.26 Das Beispiel des ‚Zarten Tons‘ lässt dies erkennen, auch wenn wir uns nicht mit den technischen Details der Notierung befassen: Hervorgehoben ist in der ersten Strophe des Tons das Wort gelucke, das allein auf den ersten beiden Silben des Wortes ein mehrtoniges Melisma bietet (sie-

|| 24 Grundlegend zu metrischen Strukturen der Kanzonenform und ihrer Variationen in der Spruchdichtung Brunner (wie Anm. 6), zu Frauenlob S. 149–164; wichtig außerdem immer noch Silvia Ranawake, Höfische Strophenkunst. Vergleichende Untersuchungen zur Formtypologie von Minnesang und Trouvèrelied an der Wende zum Spätmittelalter, München 1976 (MTU 51). 25 Rettelbach (wie Anm. 23), S. 83. 26 Elizabeth Randell Upton, „Aligning Words and Music: Scribal Procedures for the Placement of Text and Notes in the Chantilly Codex“, in: A Late Medieval Songbook and its Context: New Perspectives on the Chantilly Codex (Bibliothèque du Château de Chantilly, Ms. 564), hg. von Yolanda Plumley und Anne Stone, Turnhout 2010, S. 115–132.

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he Abb. 4). Auch wenn also die Notierung ähnlich wie die Rubrizierung in einem späteren Arbeitsschritt vorgenommen worden ist, bestimmt sie maßgeblich die Anlage der Handschrift – was nach Ausweis der Untersuchungen von Elizabeth Randall Upton nicht selbstverständlich ist und auf die enge Verbindung zwischen Text und Melodie in dieser Handschrift deutet.27 Zudem dürfte deutlich sein, dass dem Textschreiber die Melodien im Detail bekannt waren. Solche Beobachtungen erlauben zwar keine Rückschlüsse auf die spätere Verwendung der Handschrift, bedeuten aber, dass die Handschrift schon in ihrem Verschriftlichungsprozess sehr wohl Zeichen eines Vortrags birgt, auch wenn für uns nicht mehr nachvollziehbar ist, ob diese Performanz real oder imaginiert war. Zu klären wäre allerdings in einem zweiten Schritt, wie sich musikalische und sprachliche Strukturierung zueinander verhalten. In den Literaturwissenschaften, aber auch in der Musikwissenschaft war lange Zeit die Annahme dominant, dass wie im Minnesang die Melodie allein der Akzentuierung eines im Text vorgegebenen Sinns diene.28 In der Spruchdichtung dagegen gilt die Annahme, dass Töne den Texten vorhergehen – entweder, wenn zu einem bestehenden Lied neue Strophen hinzugedichtet werden, oder aber, wenn Töne, die mit einem bekannten Dichternamen assoziiert werden, über lange Traditionsreihen auch von späteren Autoren benutzt werden, weil sie dadurch am Prestige der mit Autorität behafteten Melodie partizipieren.29 Jenseits der Frage nach der Priorität wird darüber hinaus in jüngster Zeit diskutiert, ob – und auf welche Weise – auch Melodien Bedeutung vermitteln können, die über die ‚Ausmalung‘ der Texte hinausgehen, vor allem aber, ob auch über die Melodie intertextuelle Bezüge zu anderen Liedern hergestellt werden, was besonders für die losen Strophenreihen des Spruchsangs von Interesse ist.30

|| 27 Ebd., S. 132; sie konstatiert, dass Schreiber in der Regel eine Harmonisierung zwischen Notierung und Text allein am Abschnitt- oder gelegentlich Zeilenende anstreben. 28 So Horst Brunner, Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1975 (MTU 54); zu dieser Tradition und ihrem Ursprung in den Studien des Musikwissenschaftlers Friedrich Gennrich vgl. Henry Hope, „Musical Meaning in Frauenlob’s Songs“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, hg. von Horst Brunner und Freimut Löser [in Vorbereitung]; ich danke Henry Hope für die Einsicht in das Vortragsmanuskript. 29 Vgl. zum Gebrauch der Frauenlobtöne Brunner (wie Anm. 24), S. 149–163. 30 Eva Elizabeth Leach, Sung Birds. Music, Nature, and Poetry in the Later Middle Ages, Ithaca/ London 2007, hier S. 11–54, zur Frage nach musikalischer Semantik und Intertextualität; vgl. Hope (wie Anm. 28).

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4 Rhythmische Strukturen Einstimmige Melodien lassen stärker als mehrstimmige Kompositionen die Frage danach stellen, wie sich melodische und sprachliche Strukturen zueinander verhalten oder, anders formuliert, auf welche Weise natürlicher Sprachakzent, Metrik und musikalische Akzentsetzungen als Rhythmus miteinander konkurrieren. Auf der sprachlichen Seite gilt als vorausgesetzt, dass natürlicher Akzent und metrische Struktur zwar gelegentlich gegeneinanderstehen, doch gilt der natürliche Wortakzent in einer akzentuierenden Sprache wie dem Deutschen als Schlüssel zur Metrik. Wie es sich mit dem Zusammenspiel von sprachlicher Akzentuierung, semantischer Sinnsetzung und Melodieführung verhält, ist dagegen umstritten. Wo immer Musikwissenschaftler Fragen des Rhythmus in mittelalterlichen Melodien diskutieren, gibt es lebhafte Auseinandersetzungen, die vor allem dann aufbrechen, wenn es um die Frage der konkreten Realisierung notierter Melodien geht. Weder Neumierung noch Quadrat- oder Choralnotation erlauben eine einfache Aussage über die relative Länge von Notenwerten. Da mittelalterliche Melodien zudem kein festes Taktsystem haben, ist strittig, ob ein solches anachronistisch rückprojiziert werden darf; es macht zwar die Rekonstruktion für musikalische Laien einfacher, entspricht aber, so der Konsens der neueren Forschung, nicht mittelalterlicher Aufführungspraxis. Editionstechnisch bedeutet dies, dass Melodien in der Regel fortlaufend und ohne Taktmarkierung transkribiert werden.31 Aber auch auf der Ebene kleinerer musikalischer Elemente ist es nicht ohne Weiteres möglich, methodisch handfest Aussagen über die rhythmische Strukturierung zu machen. Ligaturen, in denen zwei oder mehr Noten auf eine einzelne Textsilbe kommen, lassen sich zwar nach ihren Notenwerten und damit nach der Richtung der Tonhöhe auflösen, doch ist umstritten, wie sich die einzelnen Notenwerte rhythmisch zueinander verhalten – ob sie alle gleichwertig und damit gleich lang sind, oder ob es Mensurationen gibt, nach denen einer Note je zwei oder drei Noten einer Ligatur entsprechen.32 Dennoch gibt es nachweisbare Gliederungssysteme, wie sie zuerst in der Strukturierung von Psalmtönen entwickelt wurden. In direkter Entsprechung zur metrischen bzw. prosodischen Struktur der Psalmverse hat jeder Psalmton eine Eröffnungsformel, die nur für den ersten Vers gebraucht wird. Der Hauptteil der Zeile ist zweigeteilt, wobei die auf den Mittelteil folgende Schlussformel (differentia) das

|| 31 Zusammenfassend dazu Huck (wie Anm. 14), S. 99f.; vgl. Brunner (wie Anm. 24), S. 12. 32 Brunner (wie Anm. 24), S. 12f.; unter Verweis auf Burkhard Kippenberg, Der Rhythmus im Minnesang. Eine Kritik der literar- und musikhistorischen Forschung, München 1962 (MTU 3); aus neuerer musikwissenschaftlicher Sicht Huck (wie Anm. 14), S. 102, zum Fehlen rhythmischer Markierungen in der Jenaer Liederhandschrift; allgemein Margot Fassler, Music in the Medieval West. Western Music in Context, New York/London 2014, S. A8–A19 (Appendix: „A Medieval Music Primer“).

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Zeilenende markiert.33 Bei besonders langen Mittelteilen kann eine eingeschobene kurze Zwischenpassage (flex) zur Binnengliederung dienen. Margot Fassler vergleicht daher diese drei Teile des Psalmtons mit Interpunktionszeichen in Analogie zu Komma, Semikolon und Punkt. Zu verstehen wären sie somit als hörbar gemachte Gliederung, eine musikalische Syntax, die in Psalmtönen zunächst unmittelbar den syntaktischen Strukturen des Textes entspricht. Zwar gibt es keine direkten musikalischen Beziehungen zwischen dem liturgischen Psalmtonrepertoire und den einstimmigen volkssprachigen Melodien; dennoch wird damit zu rechnen sein, dass die liturgischen Muster weit verbreitet waren und damit als Muster zur Verfügung standen – vor allem, wenn wir es mit einem lateinkundigen Autor wie Frauenlob zu tun haben.34 Selbst wenn es also auf der Mikroebene der aktualisierten Aufführung mehr als eine Realisierung rhythmischer Strukturen gibt, bleibt für die in der Handschrift repräsentierte Verschriftlichungsstufe zu klären, wie sich die in Ligaturen deutlich erkennbaren melodischen Strukturelemente zu denen des Textes verhalten. Damit die konkrete Fragestellung deutlich wird, möchte ich im Folgenden anhand eines Einzelbeispiels darüber reflektieren, was die neueren Forschungsergebnisse für die Frage nach der ‚Stimme‘ einer Handschrift bedeuten. Ich wähle aus dem Repertoire der Jenaer Liederhandschrift eine Strophe in Frauenlobs ‚Zartem Ton‘, zu dem außer der Jenaer Liederhandschrift auch die Kolmarer Liederhandschrift (ca. 1460) eine Melodie überliefert; zudem gibt es spätere Melodiefassungen in Handschriften des 16. und 17. Jahrhunderts.35 Während die Göttinger Ausgabe die Melodie zu Frauenlobs Leichdichtungen ediert, werden dort die Sprüche ohne Melodie geboten, sodass das Augenmerk allein Frauenlobs komplexer Textstruktur gilt.36 Mir wird es im || 33 Vgl. ebd., S. 64f. 34 Eva Elizabeth Leach, „Grafting the Rose: Machaut, the Ars Subtilior and the Cyprus Balades“, in: Borderline Areas in Fourteenth and Fifteenth-Century Music/Grenzbereiche in der Musik des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von Karl Kügle und Lorenz Welker, Münster/Middleton 2009 (Musicological Studies and Documents 55), S. 195–207, hier S. 196f., zur Beschreibung von intertextuellen Bezügen unterhalb der Ebene eines direkten Zitats; vgl. Fassler (wie Anm. 32), S. 135–137, zur Bedeutung solch musikalischer Bezüge im Sequenzenrepertoire der Viktoriner. Fassler, ebd. S. 147f., prägt den Begriff der ‚singing communities‘, deren gemeinsame Praxis ihren Umgang mit musikalischen Formen bestimmt; zur Situierung Frauenlobs in solchen Netzwerken ebd., S. 248f. 35 Brunner/Hartmann (wie Anm. 2), S. 47–54. Spätere Melodiefassungen finden sich in der sogenannten ‚Handschrift des Valentin Vogt‘ von 1558 (Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, El. f. 100) und dem ‚Singebuch des Adam Puschmann‘ von 1588 (Wrocław/Breslau, Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Ms. 1009, seit 1945 verschollen) sowie in einer Handschrift des frühen 17. Jahrhunderts (Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Mgf 24) und einer Nürnberger Handschrift um 1700 (Nürnberg, Stadtbibliothek, Will III). 36 Zitiert nach der kritischen Ausgabe Frauenlob (Heinrich von Meißen), Leichs, Sangsprüche, Lieder, 2 Bde., hg. auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas von Karl Stackmann und Karl Bertau, Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse III, 119–120) [GA], Bd. 1.

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Gegensatz zu dieser Präsentation als ‚reinem‘ Text darum gehen, auf welche Weise das in der Jenaer Handschrift gebotene Layout von Text und Melodie Aufschluss über das komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher ästhetischer Strukturierungsweisen gibt.37 Die Jenaer Handschrift benötigt für die erste Strophe des ‚Zarten Tons‘ fast ein ganzes Blatt, was die Länge, aber auch die Komplexität der Strophenform förmlich in den Blick rückt.38 Der Text dieser letzten, von der Haupthand eingetragenen Frauenlobstrophe in J lautet wie folgt: Swa blic an blicke vint sin art schone unbewart zuhant der blic sich zu dem herzen schart; dem blicke jaget liebe nach. die wile die dri sich vreuwen, so komt der minnen schach in twalmes vart, den drin wil sie an gesigen. Eines reinen wibes wunniclich munt swem der tut kint ein lecheliches suchen, kusses vunt, sich, wie zertlich das gebert, wol unde wol im, swem das honic ist beschert. herze ist enzunt, gelust ist ingestigen. Da klaget daz herze denne über sin selbes blicken, und claget daz blicken uf der liebe stricken. lieb wil sich entzwicken und klaget uf minne. Amor, der voget, komt ingezogen. swa hin er broget, da muz ir kraft geligen. (GA VIII,15)39

Metrisch handelt es sich um eine Rundkanzone, also eine Kanzonenform AAB mit Wiederholung der Stollenschlusszeile, wie sie die Jenaer Liederhandschrift nicht nur im Frauenlob-Korpus (Ton V, ‚Flugton‘, und Ton III, ‚Grüner Ton‘), sondern auch in Sprüchen von Rumelant, Stolle, Wernher und Zilies von Sayn benutzt.40 Die Jenaer Handschrift macht diese metrische Struktur sichtbar, indem sie den Stollen mit roten und blauen Initialen markiert (Abb. 2).41 Verglichen mit den uns vom Min-

|| 37 Vgl. zu solchen Korrespondenzen Hope (wie Anm. 28). 38 Vgl. ebd. 39 GA (wie Anm. 36), S. 501f. 40 Rettelbach (wie Anm. 23), S. 86f. 41 In der Verwendung eines solchen kolometrischen Systems steht die Jenaer Liederhandschrift nicht nur den Basler Fragmenten nahe, sondern auch den Münsteraner Walther-Fragmenten, die

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nesang her geläufigeren Formen ist also der Abgesang den Stollen sehr ähnlich, auch wenn er sich im Reimschema unterscheidet und durch die Wiederaufnahme des Reims der letzten Stollenzeile eng an den Aufgesang gebunden ist. Die so variierende Wiederaufnahme einer durch mehrfache Bezüge gekennzeichneten metrischen Form entspricht der Melodiestruktur, wie sie Henry Hope analysiert: Er verweist darauf, dass die in der ersten Zeile zusammengebrachten zwei Melodieelemente im Verlauf des Tons immer wieder aufgegriffen werden, zum Teil als direktes Zitat, zum Teil transponiert. Melodisch unterscheidet sich der Abgesang durch den Kontrast im Tonumfang; er umfasst die Oktav von G bis a und liegt damit hörbar tiefer als die beiden Stollen, deren Umfang H bis c’ umspannt.42 Wegen der immer wieder aufgegriffenen motivischen Variationen des Grundelements wirkt die Zeilengrenze fließend, sodass oft eine Spannung zu den Abschlussmarkierungen durch Reim zu beobachten ist. Zugleich verweist die Variationskunst der ineinander verschränkten Melodieelemente und Schlusssignale auf die Kunstfertigkeit der Struktur. Der musikalischen Dreiteilung entspricht die thematische, in der die Strophe eine Triade von Herz, Blick und Liebe entwickelt. Karl Stackmann hat dies als Reflexion über die Ovidischen Stufen der Liebe verstanden, nach denen Liebe vom Blick (visus) über den Kuss als Berührung (tactus) zum Liebesvollzug (actus) fortschreitet.43 Burghart Wachinger argumentiert, dass in dieser Strophe die Liebe aus dezidiert männlicher Perspektive vorgeführt werde.44 Auffällig sind die vielfachen Allusionen und Verschiebungen, denn die Strophe ruft nicht nur die bei Walther und Reinmar zentralen Elemente der Liebeskonzeption im Austausch der Blicke hervor, sondern auch deren Gebrauch von Metaphern – vor allem in den Anspielungen auf das Schachspiel. Anders als bei Walther und Reinmar ist das Kräfteverhältnis zwischen Mann und Frau allerdings sehr viel weniger eindeutig. Zwar wird im zweiten Stollen, wie bei Walther, der Mann als Opfer der Frau dargestellt, doch im Abgesang modifiziert Frauenlobs Strophe dieses Bild, indem sie den Blick interiorisiert und auf die männliche Perspektive zuspitzt: Das personifizierte männliche Herz beklagt die Folgen seines eigenen Blicks, während der ebenfalls personifizierte Blick die Fesseln der Liebe verantwortlich macht. Binnenreime wie mythologische Anspielungen, aber auch der in einer Ovidsentenz kulminierende Strophenschluss stecken somit den literarischen Horizont der Strophe ab.

|| ungefähr zeitgleich und in ebenfalls mitteldeutscher Schreibsprache verfasst sind; siehe: http://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/receive/HisBest_cbu_00008634 (Stand: 27.01.2017). 42 Vgl. Hope (wie Anm. 28). 43 GA (wie Anm. 36), Bd. 2, S. 922. 44 Lyrik des späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger, Frankfurt a.M. 2006 (Bibliothek des Mittelalters 22), S. 880.

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Zusammenfassend sind somit drei Ebenen zu unterschieden. Als Text ist die Strophe gekennzeichnet durch die Interferenz zwischen den syntaktischen Einheiten auf Satzebene einerseits und den über den Reim klanglich markierten Zeilenenden andererseits. Das ebenfalls über variierende Identitäten definierte Klangphänomen Reim korrespondiert dabei mit der Spannung der melodischen Form, in der auf analoge Weise die über die Tonalität markierten Melodieabschnitte und -schlüsse gegen die oft über solche Endsignale hinausgreifenden variierenden Korrespondenzen von Melodieelementen gesetzt werden. Zugleich thematisiert die Strophe über den Begriff der süeze nicht nur die „rhetorische Geschmücktheit der Sprache, sondern ihren Klang“.45 Artifizialität ist daher auf allen Ebenen sowohl Thema wie Charakteristikum der Strophe – Liebe und ihre Komplexität spiegeln sich in der musikalischen wie der poetischen Struktur, und das semantische Spiel zwischen subjektiver Identitätskonstitution und deren Absprechung in passiver Gefangenschaft stellt eine weitere Modulierung dieser Thematik auf grammatischer Ebene dar.

5 ‚Stimme‘ als abstrakte Kategorie Was am Frauenlobbeispiel deutlich geworden sein sollte, ist die hochgradige Artifizialität – das ist für Frauenlob natürlich keine Überraschung. Worauf es mir aber ankam, war zu zeigen, dass diese Kunstfertigkeit über den reinen Text hinausgeht und damit Charakteristikum der Handschrift und nicht nur des Autors Frauenlob ist. Musikwissenschaftler haben immer wieder darauf hingewiesen, dass der Gegensatz zwischen Minnesang und Spruchdichtung im Verhältnis von Text und Melodie liege. Wo wir beim frühen Minnesang bis auf wenige und daher bedeutsame Ausnahmen davon ausgehen, dass Textdichter auch für die Melodie verantwortlich sind und die Melodie zudem je unikal ist, also nicht von Lied zu Lied wiederverwendet wird, gilt in der Spruchdichtung, dass in der Regel die Melodien den Texten vorausgehen, dass also Autoren ihre Texte einer bereits bestehenden Melodie anpassen. Zugleich müssen wir davon ausgehen, dass musikalische und poetische Strukturen zwar aufeinander bezogen sind, durchaus aber spannungsvoll gegeneinander ste-

|| 45 Almut Schneider, „er liez ze himel tougen erhellen sîner stimme dôn. Sprachklang als poetische Fundierung normativen Sprechens“, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. AngloGerman Colloquium, hg. von Elke Brüggen, Franz-Josef Holznagel, Sebastian Coxon und Almut Suerbaum, Berlin/New York 2012, S. 199–216, hier S. 202f.; vgl. Hartmut Bleumer, „Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Parodie“, in: PBB 130 (2008), S. 22–61.

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hen können, vor allem dann, wenn melodische Segmentierungen nicht mit verbalpoetischen übereinstimmen.46 Für die Jenaer Handschrift wäre also erstens zu fragen, wie sich das von mir beschriebene Variationsspiel, das Frauenlob selbst im Epitaph auf Konrad von Würzburg als geviolierte blüete kunst bezeichnet, in den tongleichen anderen Strophen der Handschrift darbietet und welche Bezüge es zwischen den Strophen gibt.47 Das kann hier nicht geleistet werden, wäre aber wichtig, vor allem in Bezug auf Brunners Konzept vom ‚Spruchsang‘.48 In einem zweiten Schritt müsste man verfolgen, wie sich die Konzeption der Handschrift (sofern diese zu rekonstruieren ist) von Autor zu Autor fortschreitend darstellt und dabei nicht nur nach der thematischen Abfolge, sondern auch nach der poetologischen Konturierung von ‚Stimme‘ in der Handschrift fragen, wie ich das an anderem Ort für eine Handschrift aus St. Katharinen getan habe.49 Klanglich unterstreicht das Beispiel des ‚Zarten Tons‘, dass auch einstimmige Melodien Ausweis dezidierter Kunstfertigkeit sind, in denen Musik als Kunstform höher steht als der natürliche Gesang der Vögel und damit an Zuhörer und Rezipienten gleiche Ansprüche stellt wie an den Autor.50 Während literarische Diskurse im Mittelalter in der Tradition des Alanus ab Insulis oft ästhetische und ethische Qualität an die Naturhaftigkeit knüpfen, steht Frauenlob damit einer Position näher, wie sie in musiktheoretischen Schriften seiner Zeit vertreten wird: Die Musik der menschlichen Stimme ist derjenigen von Tieren überlegen, weil sie sprachbezogen und damit rational ist.51

|| 46 Zur Bedeutung von musikalischen Pseudo-Reimen und der Konstituierung musikalischer Intertextualität vgl. Leach (wie Anm. 34); Kevin Brownlee, „Literary Intertextualities in 14th-Century French Song“, in: Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung, Freiburg im Breisgau 1993, hg. von Hermann Danuser und Tobias Plebuch, Kassel 1998, S. 295–299. 47 GA (wie Anm. 36), VII,26. 48 Brunner (wie Anm. 6); vgl. demnächst Almut Suerbaum, From Song to Lyric. Die hier vorgeschlagene Methode eines Vergleichs strukturstiftender Elemente unterscheidet sich dabei von bisherigen Ansätzen, in denen aus den Texten Aufschluss über Aufführungsmodalitäten gesucht wird; vgl. dazu Michael Baldzuhn, „Die Aufführung als Argument. Zur Funktionalisierung sängerischer Präsenz in Frauenlob GA XIII,5 und einigen verwandten Sangsprüchen“, in: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. Festschrift für Karl Stackmann zum 80. Geburtstag, hg. von Jens Haustein und Ralf-Henning Steinmetz, Freiburg/Schweiz 2002 (Scrinium Friburgense N.S. 15), S. 81–102, hier S. 87–92; und Suerbaum (wie Anm. 1). 49 Almut Suerbaum, „Schreiben, lehren, beten: zu einer Poetik geistlicher Sammelhandschriften am Beispiel von Yale, Beinecke Library, Ms. 968“, in: Brevitas. Kleine Formen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Franz-Josef Holznagel (Wolfram-Studien 24) [im Druck]. 50 Leach (wie Anm. 30), S. 62–70. 51 Ebd., S. 62: „[…] [t]he element that makes the music of the human voice most worthy is not its display of discrete pitches taught by the art of music, but its capacity to perform language, which is indicative of the rational, understanding agent who is producing the song“.

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Das Frauenlobbeispiel markiert damit exemplarisch die besondere Rolle, die das Phänomen Stimme in der Konzeption einstimmiger Liedrepertoires im deutschen Sprachraum spielt. Was kann ‚Stimme‘ in diesem Kontext bedeuten? Allein der Begriff deutet auf einen fundamentalen Unterschied zwischen mittelalterlicher und moderner Musiktheorie und zugleich auf eine Forschungskontroverse: Bei Augustinus und Boethius bezeichnet musica Praktiken, die prinzipiell intellektuell und nicht sinnlich sind, sodass sinnlich wahrnehmbare Klänge fast völlig hinter dem rationalen Charakter mathematisch definierter Relationen zurücktreten.52 Mittelalterliche Musiktheorie umfasst daher, wie Eva Elizabeth Leach gezeigt hat, nicht allein hörbare Formen von Aufführung, sondern vor allem Harmonien, die klanglos sind. Die bei Boethius entworfenen Kategorien der musica mundana, also der kosmischen Harmonie der sich bewegenden Himmelskörper, und der musica humana, das heißt der harmonischen Verbindung zwischen Seele und Körper, sind daher nach mittelalterlicher Auffassung genauso Teil der Musik wie die hörbaren Formen der musica instrumentalis.53 Andererseits sind Klang und Hörbarkeit kein notwendiges Kriterium für Musik. Denn in der Klassifizierung des Grammatikers Priscian, auf den die hochmittelalterliche Musiktheorie zurückgreift, unterscheidet sich Musik als vox vom Gesang der Vögel dadurch, dass sie rational und verschriftlicht ist, vom ebenfalls rational-zeichenhaften Stöhnen oder Seufzen dadurch, dass sie sich niederschreiben lässt.54 Differenzierungskriterium ist ihre Rationalität, die es möglich macht, sie schriftlich festzuhalten; ob sie als Klang mit den Ohren oder als Aufzeichnung mit den Augen wahrgenommen wird, macht in dieser Taxonomie keinen Unterschied.55 Wenn wir also Stimme vor dem Hintergrund mittelalterlicher Musiktheorie als vox verstehen, so wie sie als Unterscheidungsvermögen für in der ars ausgebildete Sänger notwendig ist, dann ist sie als Kategorie nicht an den tatsächlich realisierten Klang gebunden, sondern allein an ihre Intelligibilität. Daraus folgt dann aber, dass auch eine Handschrift wie die Jenaer Liederhandschrift nicht ‚stimmlos‘ ist, selbst wenn wir davon ausgehen, dass sie nicht primär für den unmittelbaren Vortrag || 52 Vgl. dazu grundlegend ebd., S. 13f.; Bruce Holsinger, Music, Body, and Desire in Medieval Culture. Hildegard of Bingen to Chaucer, Stanford 2001, hier S. 6–12. 53 Leach (wie Anm. 30), S. 12–17, besonders S. 17 (Hervorhebungen im Original): „But sound is not coterminous with music. Music’s sounding manifestation is, in medieval terms, optional: the harmony of music – music’s fundamental music-ness – lies in numerical ratios, in proportion alone. For medieval minds, musica does not need to be embodied as sound; this is only one of its three species“. 54 Ebd., S. 36–40. 55 Vgl. ebd., S. 40–42, zur Debatte bei Augustin und in Dantes De vulgari eloquentia darüber, dass Elstern und andere Vögel zwar Laute hervorbringen können, die menschliche Wörter zu sein scheinen, dennoch aber im strengen Sinn nicht sprechen, sondern nur nachahmen. Zur daraus resultierenden Geringschätzung von Instrumentalmusik als rein mechanischer Kunst bei Guido von Arrezzo ebd., S. 43–54.

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hergestellt worden ist. Stimme ist, das wird im Kontext der Jenaer Liederhandschrift deutlich, nicht allein ein Klangphänomen, das die notierte Handschrift entweder zur Realisierung in einer Aufführung darbietet oder aber als funktionslose Gedächtnissplitter archiviert. Sie ist vielmehr Teil der menschlichen Kunstfertigkeit: So wie dem Schreiber der Melodieverlauf offensichtlich im Detail nicht nur aus der Vorlage mit den Augen präsent war, sondern auch als Melodie im Ohr, so dürften den Benutzern der Handschrift die in ihnen abgebildeten Melodiestrukturen und ihre komplexen Querstände zur linearen Textlektüre akustisch imaginiert im Ohr präsent gewesen sein. Dies ist für uns nicht mehr direkt nachvollziehbar, doch unterstreicht die Handschrift in ihrer Anlage damit, was auch sonst aus etwa zeitgleichen musiktheoretischen Debatten deutlich wird: Nicht allein die Produktion von Liedern durch Dichter und Verfasser der Töne erfordert demnach Kunstfertigkeit, sondern auch das Lesen. Erst im Nachvollzug der komplexen Gliederungsstrukturen, von denen einige unmittelbar mit dem Auge wahrnehmbar sind, andere nur mit dem inneren Ohr, entfaltet sich das Liedrepertoire der Jenaer Handschrift in seiner ganzen Kunstfertigkeit. So reizvoll also der Versuch ist, die Sangspruchstrophen der Handschrift aufzuführen, wie dies Marc Lewon bei der Oxforder Tagung zur Jenaer Liederhandschrift getan hat, bleibt er doch ein Zugeständnis an die bei modernen Rezipienten nicht mehr vorauszusetzende Kunstfertigkeit.56 Wo dort die variierenden Überlagerungen von Text- und Melodiestrukturen im Klang erlebbar gemacht werden, insistiert mittelalterliche Musiktheorie darauf, dass entsprechend geschulte Rezipienten die Stimme der Handschrift auch stimmlos zu Gehör bringen können.

|| 56 Didacticism, Satire, and Song: Understanding the Jena Songbook, Tagung Universität Oxford 30.–31. Mai 2014; http://www.mod-langs.ox.ac.uk/didacticismsatiresong/ (Stand: 27.01.2017). Zum Status von Musik als ars, welche die Kunstfertigkeit von Rezipienten wie Produzenten erfordert, Huck (wie Anm. 14), S. 112f.; und Leach (wie Anm. 30), S. 55–107.

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Abb. 1: Einband mit Kette. Jenaer Liederhandschrift, Ms. El. f. 101 (Vorderdeckel außen); Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek; http://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/rsc/viewer/ HisBest_derivate_00001155/Ms-El-f-101_001_Vorderdeckel.tif (Stand: 27.01.2017)

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Abb. 2: Quadratnotation. Jenaer Liederhandschrift, Ms. El. f. 101, fol. 22r; Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek; http://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/rsc/viewer/HisBest_derivate _00001155/Ms-El-f-101_022r.tif (Stand: 27.01.2017)

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Abb. 3: Basler Fragment mit Hufnagelnotation. Kelin. Boppe. Fegfeuer. Wartburgkrieg, Mscr. N I 3: 14, fol. 1r; Basel, Öffentliche Bibliothek der Universität; http://archive.thulb.uni-jena.de/ hisbest/rsc/viewer/HisBest_derivate_00001082/Basel_Mscr.NI3_145_1r.tif (Stand: 27.01.2017)

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Abb. 4: Jenaer Liederhandschrift, Ms. El. f. 101, fol. 110v; Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek; http://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/rsc/viewer/HisBest_derivate_00001155/MsEl-f-101_110v.tif (Stand: 27.01.2017)

| Mystisches und magisches Sprechen

Julia Weitbrecht

mit kleiner wankels schricke Die Performanz der Vogelstimme zwischen Artikulation, Imitation und Inspiration

1 Beredte Tiere Tiere dienen dem Menschen auf die unterschiedlichsten Weisen als Projektionsfläche, die mittelalterliche Tierdichtung etwa ermöglicht die Identifikation mit ihren animalischen Akteuren und schafft zugleich eine reflexive Distanz. Tiere werden in diesen Texten selten im Wortsinne anthropomorph dargestellt, da sie als (mitunter einzige) Differenzmarkierung ihre Gestalt behalten, sie sind nicht einmal notwendigerweise sprachbegabt, doch sprechen sie stets zum und vom Menschen, ohne dabei den Eigensinn ihrer jeweiligen Spezies zu verlieren. Diese literarischen Inszenierungen von Mensch-Tier-Beziehungen sind durch Selbstverständigungsprozesse bestimmt, die sich in der menschlichen Perspektive auf das Tier wie auch im imaginierten Blick des Tieres auf den Menschen vollziehen. Indem die Erzählungen Menschen und Tiere miteinander interagieren lassen, reflektieren sie im Diskurs über Natur und Kultur, über Verwilderung und Zähmung, stets auch die für das humane Selbstverständnis konstitutive Abgrenzung vom Tier. Richtet man diese kulturanthropologische Perspektive nun auf den Zusammenhang von Stimme und Performanz, dann erscheinen die Inszenierungen von Mensch-Tier-Relationen auch in gattungspoetischer Hinsicht bedeutsam. Die Frage, wer spricht bzw. wer sprechen kann, scheint in Gattungen wie Fabel und Legende vordergründig leicht zu beantworten zu sein und damit zugleich den jeweiligen Realitäts- bzw. Fiktionalitätsgehalt des Erzählten festzulegen: Die Fabel unterliegt dem Fiktionalitätskontrakt, dass Tiere so zu sprechen und handeln in der Lage sind, als ob sie menschliches Bewusstsein besäßen. Interagieren dagegen die heiligen Protagonisten der Legende mit Tieren, liegt die diskursive Macht einzig bei Ersteren, und wird auch nur durch sie transzendente Macht wirksam.1 || 1 Das Tier kann jedoch, wie der Hirsch in der Eustachiuslegende, als Medium göttlicher Botschaft auftreten; dies wird aber in den verschiedenen Fassungen unterschiedlich pointiert, in einigen spricht Christus durch den Hirsch selbst, in anderen erscheint er als Bild in seinem Geweih. Vgl. Gordon Hall Gerould, „Forerunners, Congeners, and Derivatives of the Eustace Legend“, in: Publications of the Modern Language Association of America 19,3; N.S. 12,3 (1904), S. 335–448. Einen reizvollen Grenzfall, auch in generischer Hinsicht, bildet ein sprechender Rabe, der in der Oswaldlegendarik auftritt und im mittelhochdeutschen Münchner Oswald sogar als Brautwerber eingesetzt wird. Vgl. Stephan Müller, „Oswalds Rabe. Zur institutionellen Geschichte eines Heiligenattributs und

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Gattungsübergreifend jedoch erscheinen die Interaktionsmuster von Mensch und Tier in Fabel und Legende ganz ähnlich, und somit kann gerade die Sprachfähigkeit der Tiere als Indikator für generische Grenzüberschreitungen dienen. Das betrifft in besonderem Maße Vögel, denn diese spielen zum einen, als Sinnbild der menschlichen Seele wie des Heiligen Geistes, im Feld christlicher Transzendierungssymbolik eine wichtige Rolle.2 In der religiösen Erzählliteratur treten sie als Geschöpfe auf, an denen die Grenzen zwischen Tier, Mensch und Engel immer wieder neu vermessen werden. Dabei spielt insbesondere ihr Gesang eine Rolle, der auch einen wichtigen Bestandteil der ‚akustischen Einrichtung‘ des Paradieses und anderer amoener Orte bildet. Zum anderen aber erscheint bereits in der antiken Grammatik die Fähigkeit zur Artikulation und Imitation menschlicher Sprache, über die etwa Stare, Elstern, Krähen und Raben verfügen, als ein zeichentheoretischer Grenzfall.3 Das verleiht diesen ‚beredten‘ Spezies in Bezug auf die Performanz der Tierstimme eine Ambivalenz, die in verschiedenen Erzählzusammenhängen ganz unterschiedlich inszeniert wird. Im Folgenden werden zunächst die Mensch-Tier-Beziehungen und Domestizierungsphantasmen asketisch-monastischer Legenden im Kontrast zur Tierfabel skizziert. In diesen Erzählungen erscheinen Tiere entweder stumm oder ihre Beredtheit liegt auf einer anderen Ebene als derjenigen der Artikulation. Erst vor diesem Hintergrund wird aber die Spezifik der literarischen Inszenierungen sprechender Vögel deutlich, die im Anschluss daran entwickelt werden soll. Die Vogelstimme wird hier performativ in dem Sinne, dass sie im Spannungsfeld von Natur und Kultur die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Gott reflektiert, transgrediert und auch transzendiert.

2 Tiere in Asketen-Legenden Sowohl in der frühchristlichen apokryphen als auch in der asketischen und monastischen Literatur des Mittelalters treten häufig Tiere auf. Gerade die flugfähigen Spezies erscheinen als Vermittler zwischen Immanenz und Transzendenz, als Helfer und Boten Gottes, welche eremitisch lebende Menschen unterstützen, wie die Ra-

|| Herrschaftszeichens“, in: Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, im Auftrag des Sonderforschungsbereichs 537 hg. von Gert Melville, Köln u.a. 2001, S. 451–475. 2 Zu „Vögeln als Sinnbild der Seele, meist unspezifisch als Kleinvögel gedacht“ siehe Art. „Taube“, in: Sigrid und Lothar Dittrich, Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.–17. Jahrhunderts, Petersberg 2004 (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 22), S. 527; für die biblischen Bezüge siehe ebd., Art. „Schwalbe“, S. 471. 3 Vgl. Anm. 15.

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ben, die etwa den alttestamentlichen Propheten Elia (1 Kön 21,19) sowie die Wüstenväter Paulus eremita und Antonius mit Nahrung versorgen.4 In solchen Entwürfen eines friedlichen, gleichsam praelapsarischen Miteinanders der Spezies sind die Mensch-Tier-Beziehungen indessen auf Gegenseitigkeit ausgerichtet, denn noch häufiger erscheint das Motiv des hilfesuchenden Tieres, das sich vom in der Wildnis lebenden Heiligen vor Jägern beschützen oder einen Dorn aus der Pfote entfernen lässt. Über diese immanente Alltagsbewältigung hinausgehend wirken Heilige auch Wunder am Tier, wie der Wüstenheilige Macarius, der das Junge einer Hyäne von seiner Blindheit erlöst, und Bischof Moling, der einen toten Vogel wiederbelebt.5 In der Fabel dagegen verlaufen die stets naturalistisch begründeten, agonalen Mensch-Tier-Interaktionen meist nach dem Motto ‚fressen und gefressen werden‘, kommuniziert wird auf einer Ebene. Im Vergleich dazu erscheint in den legendarischen Erzählungen die Kommunikation von Mensch und Tier asymmetrisch: Die Grenze zwischen Mensch und Tier ist nicht zuletzt eine Sprachbarriere, die im transzendenten Aufgehobensein der Spezies Kommunikation freilich gerade nicht verhindert: Auf die verbale Ansprache durch den Heiligen reagieren die Tiere mimisch und gestisch, etwa der Fuchs, der sich vor Moling zu Boden wirft,6 oder der diebische Rabe, der reumütig zum Heiligen Kolumban zurückkehrt: ‚Er versuchte gar nicht, auf seinen Flügeln zu entkommen, sondern zahm, seiner Wildheit ganz vergessend, saß er vor aller Augen da und wartete auf seine Strafe, bis der Heilige ihm befahl, sich davon zu machen‘.7 Im Kontext asketisch-monastischer Disziplinierung, die bei Tieren ebenso wie bei menschlichen Gläubigen über die diskursive Belehrung funktioniert, zeigt sich auch das Tier bezähmt: Wolf und Bär lecken dem Heiligen Hände und Füße, alle Tiere des Waldes akzeptieren die Einhegung seines Gartens,8 und selbst die notori-

|| 4 Vgl. Laura Hobgood-Oster, Holy Dogs and Asses. Animals in the Christian Tradition, Urbana/ Chicago 2008, Kap. „Counted among the Saints: Animals in Medieval Hagiography“, S. 63–80; Janet E. Spittler, Animals in the Apocryphal Acts of the Apostles: The Wild Kingdom of Early Christian Literature, Tübingen 2008 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 247). 5 Tiere als Freunde im Mittelalter. Eine Anthologie, eingeleitet, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Gabriela Kompatscher zusammen mit Albrecht Classen, Badenweiler 2010, S. 57f. 6 Et postea iacuit super terram coram viro Dei, quasi petens indulgenciam. ‚Und dann legte [der Fuchs] sich vor dem Gottesmann auf den Boden, als ob er um Verzeihung bäte.‘, ebd., S. 58, 61. 7 […] nec se pennigera conatur eripere fuga, sed mitis ante omnium conspectum, oblitus ferocitatis, ultionem expectat, quem vir sanctus abire imperat. Vita Columbani I,15, in: Ionae Vitae Sanctorum Columbani, Vedastis, Iohanni, hg. von Bruno Krusch, Hannover/Leipzig 1905, S. 179,4–6. Übersetzung: Joseph Bernhart, Heilige und Tiere, München 1937, S. 111. 8 Dabei spielt auch der Schutz des in der Wildnis geschaffenen Kulturraumes eine Rolle. Nachdem ein Rudel Wildtiere den Garten des Heiligen Godrich verwüstet hat, rügt dieser die Tiere scharf. ‚Da zog das ganze Rudel mit gesenkten Köpfen ab, und was mit wildem Sprung hereingebrochen war, das ging jetzt artig mit sachtem Getrippel hinaus und verlor sich in die Tiefe des Waldes. Und was

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schen Diebe Fuchs und Rabe hören auf zu stehlen. Eine Amsel legt ihr Ei in die im Gebet ausgestreckte Hand des Heiligen Kevin, der daraufhin solange still stehenbleibt, bis das Junge ausgebrütet ist.9 Diese Erzählungen mögen ein an Walt Disney erinnerndes Natur-Idyll zeichnen, aber sie drücken auch etwas für die Asketen-Legende Fundamentales im MenschTier-Gott-Verhältnis aus, das in der Vita des Heiligen Guthlak diskursiviert wird: Wer in der Einfalt seines Geistes sich an Gott ergibt, mit dem schließt sich alles in Gott zusammen. Und wer von Menschen nicht gekannt sein will, den verlangt es, daß die Tiere ihn erkennen und die Engel ihn besuchen. Denn wer Besuch von Menschen hat, wird nicht Besuch von Engeln haben.10

Diese Mensch-Tier-Symbiosen können in völliger Abkehr von der menschlichen Kultur in eine asketische Vertierung des Menschen führen wie bei dem Heiligen Godrich, der, ‚a]n die rohe Kost aus dem Boden gewöhnt, wie ein Wurm ward], dem Tiere gleich zwar nicht dem Wesen nach, aber in der Herablassung zu einem Leben nach der Weise der armseligsten Kreatur‘.11 Zusätzlich werden speziesübergreifende monastische Gemeinschaften gestiftet wie das ‚Tierkloster‘ des Heiligen Kieran12 oder die ozeanüberspannende congregatio in der lateinischen Navigatio

|| müde noch zurückgeblieben war, das nahm er zärtlich auf den Arm und hob es über die Hecke. Fortan berührte kein Tier des Waldes die jungen Bäumchen, und keines wagte auch nur die Hegung zu betreten.‘ (Grex ille vero tunc totus demisso capite, moderatis incessibus egressus est, ac quid prius dissiliendo desævierat, et saltibus spatia longissima anticipare consueverat, modo vix pedetentim repressis vestigiis, repentibus ungulis procedebat. Cujus gregis turbam ipse ad interioria deserti minavit; et quæ lassa substiterant, brachiis blande complectens, citra sepis suæ septa elevando produxit. Exinde vero nunquam postea bestia aliqua silvestris arbores novellas quas inseruerat, attigit; sed neque limites quos prius illis præfixerat, transgredi præsumpsit.) Siehe Reginaldo Monacho Dunelmensi, Libellus de vita et miraculis S. Godrici, Heremitae de Finchale, hg. von Joseph Stevenson, London 1847 (The Publications of the Surtees Society 20), c. 39, § 87, S. 97. Übersetzung: Bernhart (wie Anm. 7), S. 181. 9 Giraldus Cambrensis, Topographia Hibernica, II 28, Nachweis bei Bernhart (wie Anm. 7), S. 118 und 227. 10 […] qui Deo puro spiritu copulabitur, omnia sibi in Deo conjunguntur; & qui ab hominibus cognosci denegat, agnosci a feris, & frequentari ab Angelis quærit? nam qui frequentatur ab hominibus, frequentari ab Angelis nequit. Vita eremitica S. Guthlaci II, in: Acta Sanctorum 11 (Apr. II), Paris 1866, n. 25, 44E. Übersetzung: Bernhart (wie Anm. 7), S. 137f. 11 Sic radicibus herbarum assuefactus, jam non homo sed vermis, non rationalis sed magis bellua pecualis est effectus, quod si non in rei ordine, at tamen studio et imitatione. Reginaldo, Libellus de vita et miraculis S. Godrici (wie Anm. 8), c. 10, § 29, S. 44. Übersetzung: Bernhart (wie Anm. 7), S. 169. 12 An dieser Stelle werden sowohl Parallele als auch Diskrepanz zum Fabelsujet besonders deutlich, denn der Fuchs wird vom Abt für seine Untat, ‚die sich für Mönche nicht geziemt‘ (quod non decet monachos agere), gerügt und lebt fortan als vulpes poenitens: ‚Da bat der Fuchs um Nachsicht und tat fastend Buße und aß nicht mehr, bis es ihm der Heilige befahl.‘ (Tunc vulpis, petens indul-

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Sancti Brendani, der auch ein Schwarm Vögel angehört. In diesem Kontext werden umfassende Domestizierungsphantasmen entwickelt, in denen etwa der Wolf als Schafhirte agiert, anders als in der aesopischen Fabel aber gerade nicht rückfällig wird, so in der Vita des Heiligen Norbert von Xanten. Zähmend wirkt hier ebenfalls der Sprechakt des Heiligen bzw. des vom Heiligen angeleiteten Hirtenknaben: ‚„Wohin fliehst du, nichtswürdiger Räuber, noch schneller als sonst? Leg das Schaf hin, sag ich Dir, leg’s hin! Das befehle ich dir im Namen meines Meisters“‘.13 Die solchermaßen diskursiv bezähmten Tiere der Legende indizieren somit nicht nur eine Transzendierung der Tierheit der Tiere, sondern auch die kulturschaffende Heiligkeit des Heiligen, der seine eigene Natur überwunden und selbst einen praelapsarischen Zustand erlangt hat, der ihn zwar von den Menschen entfernt, dem Tier aber annähert. Zugleich ist auf der Kommunikationsebene ein pastorales Verhältnis von Dominanz und Unterwerfung festgelegt, denn diese zahmen Tiere sind, anders als in der Fabel, gerade nicht sprachbegabt. Höchstens erwidern die Schafe dem Heiligen Franziskus ‚unter lautem Blöken den Gruß‘14 und erfreuen die Vögel das Ohr des Heiligen mit ihrem Gesang.

3 Die Vogelstimme zwischen Artikulation, Imitation und Inspiration Diese Szenarien gleichsam paradiesischer Mensch-Tier-Interaktion werden wiederum neu konturiert, wenn es um die Fähigkeit zur Imitation der menschlichen Stimme geht, wie sie einige Vogelspezies beherrschen. Dies hängt mit dem ambivalenten Status dieser Form stimmlicher Nachahmung zusammen. Bereits die antike Sprachphilosophie macht die Differenz von Mensch und Tier primär an der Sprachfähigkeit fest. Für den spätantiken Grammatiker Priscian steht Sprache – verkürzt dargestellt – in einem System von Artikulation und Bedeutung, innerhalb dessen die menschliche Sprache dadurch alleingestellt ist, dass sie artikuliert und signifikant ist. Von Tieren hervorgebrachte, nicht-artikulierte Laute wie das Bellen eines Hundes können dagegen zwar bedeutungstragend sein, aber nicht aufgrund kon-

|| genciam, ieiunando egit penitentiam, et non commedit donec sibi a sancto viro iussum est.); Tiere als Freunde (wie Anm. 5), S. 45, 47. 13 Quo fugis, ait, malignissime raptor, solito velocior? Depone ovem, depone, inquam, eam; hoc tibi praecipio ex parte magistri mei. Vita Norberti archiepiscopi Magdeburgensis, hg. von Roger Wilmans, Hannover 1856 (MGH.SS 12), S. 663–703, hier S. 692, 37f. Übersetzung: Bernhart (wie Anm. 7), S. 163. 14 […] et magnis balatibus salutationis rependentes applausum; Tiere als Freunde (wie Anm. 5), S. 198.

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ventionalisierter Zeichenverhältnisse.15 Modern gesprochen: Tiere können zwar kommunizieren, aber sprachfähig sind sie nicht. Was in diesen Diskussionen indessen keine Rolle spielt, ist die animalische Fähigkeit zur Imitation menschlicher Sprache.16 Diese steht gewissermaßen quer zum Raster von Artikulation und Bedeutung, denn sie ist zwar sowohl artikuliert als auch signifikant, aber, wie Dante in De vulgari eloquentia über die Imitationsgabe der Elstern befindet: ‚ein solcher Akt ist nicht Sprechen, sondern gleichsam eine Nachahmung des Klangs unserer Stimme‘.17 Der den Menschen imitierende Vogel ist, weil er nur sprech- und nicht sprachfähig ist, für die Grammatiker uninteressant. Als eine Art natürlicher Sprechautomat aber, und gerade weil er nicht versteht, was er nachahmt, ist er ein ideales Botenmedium. In diesem Sinne wird das Phänomen im Kontext christlicher Naturkunde und allegorischer Weltdeutung aufgenommen. Im Physiologus heißt es etwa über den Sittich: [Er] kann die Stimmen des Menschen nachahmen, er spricht auch selbst in gleicher Weise und unterhält sich wie ein Mensch. Der Heilige Basilius sagt: Ahme auch du, Mensch, die Stimme der Apostel nach, die Gott priesen, und preise auch selbst, ahme den Wandel der Gerechten nach, damit du gewürdigt werdest, ihre lichtglänzenden Sitze zu erreichen.18

|| 15 Vgl. Lia Formigari, A History of Language Philosophies, Amsterdam/Philadelphia 2004 (Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science 105), Kap. „Communication: Animal and Human“, S. 46–51, hier S. 48f. Zur Tierstimme in der Zeichenlehre des Augustinus vgl. Uwe Ruberg, „Signifikative Vogelrufe: Ain rapp singt all zeit ‚cras cras cras‘“, in: Natura loquax: Naturkunde und allegorische Naturdeutung vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit, hg. von Wolfgang Harms und Heimo Reinitzer, Frankfurt a.M. u.a. 1981 (Mikrokosmos 7), S. 183–204, hier S. 185f. Dahinter steht eine noch fundamentalere Diskussion, nämlich darüber, ob Tiere überhaupt Vernunft besitzen, die sich sprachlich äußern könnte. In den spätantiken Auseinandersetzungen mit diesem Thema lassen sich zwei grundsätzliche Haltungen unterscheiden: zum einen die graduelle Unterscheidung von Mensch und Tier, was Sprachfähigkeit und Intellekt angeht, wobei die Menschen höher entwickelt sind, zum anderen die eines qualitativen intellektuellen Unterschiedes zwischen Mensch und Tier, der sich nicht zuletzt an der Sprache festmacht, vgl. Formigari, S. 50. 16 Andrea Tabarroni, „On Articulation and Animal Language in Ancient Linguistic Theory“, in: Versus 50/51 (1988), S. 103–121, hier S. 107. 17 […] talis actus locutio non est, sed quedam imitatio soni nostre vocis; vel quod nituntur imitari nos in quantum sonamus, sed non in quantum loquimur. Dante, De vulgari eloquentia, hg. und übersetzt von Steven Botterill, Cambridge 1996 (Cambridge Medieval Classics 5), hier I,II,7, S. 4. So auch schon in den frühmittelalterlichen Scholia in Dionysii Thracis Artem Grammaticam, hg. von Alfred Hilgart, Leipzig 1901 (Nachdruck Hildesheim 1961) (Grammatici Latini 2), 175,5–20, vgl. Tabarroni (wie Anm. 16), S. 107. 18 Physiologus. Frühchristliche Tiersymbolik, übersetzt und hg. von Ursula Treu, Berlin 21981, S. 105f. Konrad von Megenberg schreibt über den Sittich: Psitacus haizt ein sitich. [...] Er hat ein groz prait zungen, vnd darvmb macht er auch gestuktew wort sam ein mensch, also schon, sæhst du sein niht, du wændst, ez wær ein mensch. Er grzzt den menschen vnd spricht: Aue chere, daz spricht wlhisch: Got grzz dich, lieber, oder grzzt mit andern worten, als er gelernt hat. Konrad von Megen-

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Uwe Ruberg hat darauf hingewiesen, dass hier „nicht so sehr die klangliche Eigenart der Tierstimme als bedeutungsstiftend angesehen [wird] als vielmehr die Fähigkeit der Nachahmung“.19 Diese kann, so Ruberg weiter, „bei negativ besetztem Kontext auch zu Deutungen in malam partem führen“, aber die qua Auslegung im Physiologus vorgenommene Analogie von imitatio vocis und imitatio sanctorum bzw. apostolorum macht das Phänomen offenbar im geistlichen Kontext grundsätzlich anschlussfähig.20 Die natürliche Medialität des sprechfähigen Vogels wird auf diese Weise in die christliche Mediologie überführt.21 Damit bleibt aber die Ambivalenz der Stimmenimitation bestehen, denn es ist gerade auch im christlichen Kontext trotz allem die Verbindung von Sprache und Intellekt, die den Menschen gegenüber den Tieren auszeichnet und erlösungsfähig macht. Dieses Privileg wird in den literarischen Verhandlungen von Transzendenz und Vogelstimme auch nicht in Frage gestellt, das Phänomen wird vielmehr in spezifischer Weise ästhetisch nutzbar gemacht: Gegenüber den im Vorangegangenen vorgestellten Legenden, die sich bei der Kultivierung der Wildnis insbesondere am stummen Tier abarbeiten, sind die Inszenierungen der artikulierten Vogelstimme davon gekennzeichnet, dass sie Szenarien von kultivierter Artifizialität bzw. transzendierter Naturhaftigkeit entwerfen. Im Ruodlieb, einem lateinischen Versepos des 11. Jahrhunderts, finden sich im Rahmen höfischer Unterhaltung und Prachtentfaltung auch die Beschreibungen zahlreicher gezähmter Tiere, die als Gastgeschenke dem rex maior, dem ‘Großen König‘ überreicht werden, darunter ‚zwei Papageien und zwei Raben, […] Dohlen und Stare, die gelernt hatten, menschliche Worte zu plappern, und sich Mühe gaben, alles nachzuahmen, was sie hörten‘.22 Auch Ruodliebs Mutter besitzt eine zahme Dohle, die sie als Botin einsetzt, was indessen dadurch erschwert wird, dass dieser Vogel, anders als menschliche Boten, nicht zwischen relevanten und irrele-

|| berg, Buch der Natur, Bd. 2: Kritischer Text nach den Handschriften, hg. von Robert Luff und Georg Steer, Tübingen 2003 (Texte und Textgeschichte 54), Kap. „Von dem sittich“, III.B, S. 247f. 19 Ruberg (wie Anm. 15), S. 186. 20 Zur Auslegung des Papageis in bonam partem (als Christus-Symbol) bei Ulrich von Lilienfeld vgl. Rudolf Suntrup, „Gottes Rede in den Concordantiae caritatis des Ulrich von Lilienfeld“, in: Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende, hg. von Nine Miedema, Angela Schrott und Monika Unzeitig, Berlin 2012 (Historische Dialogforschung 2), S. 67–85, hier S. 81f. 21 Vgl. Christian Kiening, „Mediologie – Christologie. Konturen einer Grundfigur mittelalterlicher Medialität“, in: Modelle des Medialen im Mittelalter, hg. von dems. und Martina Stercken, Berlin 2010 (Das Mittelalter 15/2), S. 16–32. 22 Ex genealogia volucrum regalia dona / Auxit cum psitachis binis corvisque gemellis, / Monedulis, sturnis doctis garrire loquelis, / Quicquid et audierint, imitari quae studuerunt. Ruodlieb, in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150, hg. von Walter Haug und Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a.M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1), S. 388–551; hier Fragment V, v. 134–137, S. 433–435. Vgl. ebd., v. 172f., S. 438: Quin ibi sunt et aves hominum sermone fruentes, / Psitachus et corvus, monedula, pica ve sturnus.

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vanten Botschaften unterscheiden kann. Durch seine Natur erscheint der ‚natürliche Sprechautomat‘ in seiner Funktionalität eben auch immer wieder eingeschränkt. Wie auch in zeitgenössischen naturkundlichen Texten liegt im Ruodlieb der Akzent darauf, dass Sprechen Resultat eines Lernprozesses, von Erziehung ist, und dass sich die natürlichen Anlagen dieser Vögel erst durch menschliche Anleitung ausbilden. Gleichzeitig steht ihre Natur diesem Lernziel auch entgegen und sind ihren Fähigkeiten Grenzen gesetzt, wie in einer weiteren Szene aus dem Fragment XI deutlich wird, in der die Hofgesellschaft eine Voliere mit jungen Staren besichtigt: Man wählte als kundige Meisterin eine Starenschwester aus, die über sie gesetzt wurde, um sie zu lehren, in unserer Sprache zu reden und das Paternoster aufzusagen bis hin zum „qui es in celis“, wobei sie, dreifach wiederholend, immer „lis, lis, lis“ sagten.23

Ausgerechnet in der direkten Ansprache an die Transzendenz fallen die Stare wieder in ihr eigenes Idiom zurück, weil sie zwar imitieren können, dabei aber den Sprechakt des Gebets nicht zu vollziehen in der Lage sind. Max Wehrli, bekanntermaßen kein großer Freund der Tierepik, bezeichnet das als „Klosterhumor“24, er weist aber auch auf die Bedeutung der Tiere im Ruodlieb für die Ausbildung eines christlich-ritterlichen Leitbildes hin, das die gesamte Schöpfung miteinbezieht: „Im Gegensatz zum späteren höfischen Roman umfaßt die gesellige, friedliche Heiterkeit des Lebens auch die tierische Kreatur“.25 Diese gesellige Heiterkeit kennzeichnet aber, und das bildet einen deutlichen Gegensatz zu den Kultivierungsphantasmen der Asketen-Legende, eine durch und durch domestizierte, verfeinerte ‚Natur‘, also eine gleichsam kultivierte Natur, in der Tiere weniger dem Menschen näher gebracht, als vielmehr bis an die Grenzen des Artifiziellen und Dekorativen dressiert werden. Im Ruodlieb wird also die Fähigkeit zur Imitation menschlicher Sprache in den Dienst höfischer zuht gestellt. Die Bedeutung dieser Züchtigung scheint über den reinen Unterhaltungswert hinauszugehen, da sie an der kultivierten Selbstbestimmung des Menschen im Sinne christlicher Ritterschaft offenbar einen entscheidenden Anteil hat. Das höfische Setting wird indessen als artifizielle Paradies-Simulation markiert, denn gerade die sprechenden Vögel erweisen sich als weit entfernt vom Ideal einer praelapsarischen Heilsgemeinschaft: Sie sind in ihrer Heilsfähigkeit eingeschränkt, weil sie nicht wissen, was sie sagen, wenn sie das Paternoster sprechen. Sie sind

|| 23 Eligitur sciola super hos doctura magistra / Nostratim fari „Pater“ et „noster“ recitare / Usque „qui es in celis“, lis lis lis triplicatis. Ruodlieb (wie Anm. 22), XI, v. 20–22, S. 506f. 24 Max Wehrli, „Ruodlieb und die Tiere“, in: ders., Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze, Zürich 1969, S. 127–139, hier S. 134. 25 Das entspricht „einer bestimmten Ethik des weltlichen Daseins“ und steht für Wehrli „im Geiste Clunys und des salischen Hofes“, ebd., S. 137.

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zwar sprech-, aber nicht sprachfähig – und somit als Medien für das Evangelium ungeeignet. Einen speziesübergreifenden Heilsraum entwirft dagegen die schon genannte Meerfahrt des Heiligen Brendan, die Navigatio Sancti Brendani (10. Jahrhundert): Brendan und seine Mönche befinden sich darin auf einer jahrelang währenden Suche nach der terra repromissionis sanctorum. In Kapitel 11 wird erzählt, wie sie eine Insel erreichen und einem Fluss bis zu seiner Quelle folgen. Dort erblicken sie einen großen Baum, der über und über mit weißen Vögeln bedeckt ist. Brendan fleht Gott an, ihm dieses Geheimnis seiner Schöpfung zu offenbaren. Daraufhin setzt sich einer der Vögel auf die Reling des Schiffes, woraufhin Brendan ihn als nuncius Dei identifiziert: ‚„Sage mir, wenn du Gottes Bote bist, woher diese Vögel kommen und warum sie hier versammelt sind“‘.26 Auch dieser sprechende Vogel ist ein Medium, das hier jedoch göttliche Botschaften übermittelt und daher nicht so fehleranfällig ist wie die Dohle im Ruodlieb. Der Vogel präsentiert sich Brendan zunächst, wie die Tiere der Asketen-Viten, durch Gesten (quasi signo leticie) und eine friedvolle Miene (placido uultu, S. 23,31), und erst auf die Anrede durch den Heiligen erhebt er die Stimme. Er erklärt Brendan, dass es sich bei den Vögeln um Geister (spiritus) handle, nämlich um die im Aufstand Luzifers neutral gebliebenen Engel, die sich nach dem Fall in sphärischen Zwischenwelten bewegen müssten und lediglich an Sonn- und Feiertagen ‚solche Körper verliehen‘ bekämen (accipimus corpora talia qualia nunc uides, S. 24,43). Den Geistern mit dem prekären Heilsstatus wird also temporär eine Stimme verliehen, um mit deren Wohlklang ihren Schöpfer zu ehren (commoramur hic laudamusque nostrum creatorem, S. 24,43f.) Im Gesang des Stundengebets sättigen sie die Seelen der Mönche mit diuina refectione, mit göttlicher Speise, denn ihnen erscheint ‚der Gesang und der Klang ihrer Flügel in seiner Süße wie ein rhythmisch geordnetes Lied‘.27 Diese Vögel fungieren als Klangkörper, als akustische Medien transzendenter Wirkmacht. Dass Gott hinter dem Stimmwunder steht, zeigt sich auch darin, dass Brendan zur Vigil in der Osternacht den Versikel Domine, labia mea aperies anstimmt, woraufhin die Vögel alis et ore, ‚mit Mund und Flügel‘ einfallen (S. 25,62f.): Laudate Dominum, omnes angeli eius, laudate eum, omnes uirtutes eius (S. 25,63f.). So verschmelzen die Geister-Vögel im Gesang einerseits mit den ebenfalls flugfähigen Engeln, andererseits wird mit dem auf den Psalm 50 zurückgehenden Ver-

|| 26 Si nuncius Dei es, narra mihi unde sint aues iste / aut pro qua re illarum colectio hic [sit]? Navigatio Sancti Brendani Abbatis from Early Latin Manuscripts, ed. with Introduction and Notes by Carl Selmer, Notre Dame/Indiana 1959, hier XI, S. 24,33f. Übersetzung: Brendans Inseln. Navigatio Sancti Brendani Abbatis, aus der Urfassung übertragen und hg. von Wolfgang Schlüter, Wien/Lana 1997, S. 32. 27 […] et uidebatur uiro Dei et illis qui cum eo erant illa modulacio et sonus alarum quasi carmen planctus pro suauitate. Navigatio Sancti Brendani (wie Anm. 26), S. 25,53–55; Übersetzung: Schlüter (wie Anm. 26), S. 33.

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sikel zugleich auf ein prominentes sprechendes Tier aus dem Alten Testament referiert, die Eselin Bileams (Numeri 22–24). Diese weicht einem zürnenden Engel Gottes dreimal aus und wird dafür von Bileam dreimal geschlagen. Daraufhin ‚öffnet Gott ihren Mund‘ (aperuit[] Dominus os asinae) und sie kann Bileam fragen, warum er sie so behandelt. Die Szene wird immer wieder als Urszene der Tierschutzbewegung gelesen, doch wird die Eselin insbesondere in frühmittelalterlichen Prologen als Inspirationstopos angeführt, etwa im Anegenge und in der mittelhochdeutschen ‚Reise‘-Fassung der Brendanlegende: der einer eselinne gab so getane sinne, daz sie menschlichen sprach […] der got entslieze ouch minen munt, der ir verlech sulche craft, daz si wart sus redehaft.28

In der Inspirationsbitte macht sich der Mensch dem Esel gleich, denn beiden kann nur im göttlichen Gnadenakt der Mund aufgeschlossen werden. In der Navigatio hingegen werden die Sprachbarrieren zwischen Mensch und Tier nicht durch inspirierte ‚Redehaftigkeit‘ durchlässig gemacht, sondern im Wohlklang des gemeinsamen Psalmodierens harmonisiert. Die Grenzen zwischen Engel, Vogel und Mönch zerfließen, da diese Kommunikation lediglich in eine Richtung verlaufen kann – himmelwärts. Als stimmgewaltiger, musikalischer Teil der Schöpfung verleihen die Vögel dem Lob ihres Schöpfers ihre Stimme, sodass im Mysterium des Vogelbaums und im Szenario einer umfassend transzendierten Natur Gottes Wirken in der Welt akustisch performativ gemacht werden kann.

4 Die Performanz der Vogelstimme Am und durch den Vogel, so hat sich gezeigt, wird Gottes Macht in besonderer Art und Weise wirksam. Diese Performanz ist jedoch stets auf den Menschen ausgerichtet, der als Bezähmer auftritt, als Belehrter oder als Beobachter von Versuchsanord-

|| 28 Brandan. Die mitteldeutsche ‚Reise‘-Fassung, hg. von Reinhard Hahn und Christoph Fasbender, Heidelberg 2002 (Jenaer Germanistische Forschung N.F. 14), v. 7–9, 14–16. Vgl. Christian Kiening, „Freiräume literarischer Theoriebildung. Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts“, in: DVjs 66 (1992), S. 405–449, hier S. 427; Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1985, S. 50f.; sowie Ulrich Ernst, Der ‚Liber Evangeliorum‘ Otfrids von Weißenburg. Literarästhetik und Verstechnik im Lichte der Tradition, Köln/Wien 1975 (Kölner Germanistische Studien 11), S. 53f., Anm. 172.

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nungen in der Voliere. Das letzte Beispiel im Rahmen dieser Untersuchung geht darüber hinaus, denn hier wird die Vogelstimme in spezifischer Weise performativ gemacht. Es handelt sich um eine in der Legenda Aurea überlieferte kurze Mirakelerzählung aus der Legende des Heiligen Thomas Becket. Im Rahmen einer Aufzählung von Wundern, die der Heilige posthum bewirkt haben soll, wird die folgende Begebenheit berichtet: ‚Ein Vogel, der sprechen gelernt hatte, ward von einem Sperber verfolgt, da rief er, wie er gelehrt war „Heiliger Thomas, steh mir bei“. Alsbald fiel der Sperber tot zur Erde und der Vogel war gerettet‘.29 Dieses Wunder mag nach den zahlreichen Beispielen von Heiligen, die sich für den Schutz von Tieren einsetzen, nicht weiter überraschen. Das für die Legendenheiligkeit konstitutive Prinzip der intercessio wird wirksam, sobald der Heilige angerufen wird – da fällt es wohl nicht weiter ins Gewicht, dass er von einem Tier angerufen wird, das gelernt hat, den Heiligen Thomas anzurufen, so wie die Stare im Ruodlieb gelernt haben, das Paternoster zu sprechen. Anders als bei den Staren, die das Gebet einüben und daran scheitern, wird hier der Sprechakt der Anrufung in der entsprechenden Kommunikationssituation der Bedrängnis korrekt ausgeführt und zeitigt die gewünschte Wirkung, also das Eintreten des Heiligen für den Vogel gegenüber dem Sperber. Wie sehr sich auch diese Erzählung an der Performanz der Vogelstimme abarbeitet, zeigt insbesondere ihre mittelhochdeutsche Bearbeitung im Passional (ca. 1400), denn dort heißt es:30 in den landen was aldort ein vogel, des wol wart gepflogen. er was bi luten gezogen von deme neste, und davon was er gelart und gewon, daz er die zunge nach in brach und sumeliche wort al offen sprach mit kleiner wankels schricke. man horte in sprechen dicke, wand er was gelert alda: hilf heiliger Thoma! (Passional, v. 61,18–28)

Auch dieser Vogel kann das, was man ihm vorgesagt hat, artikulieren, aber nicht korrekt imitieren, denn er spricht mit kleiner wankels schricke, also mit leichten bzw.

|| 29 Auis quedam docta loqui, cum nisus eam insequeretur, sicut didicerat cepit clamare: „Sancte Thoma adiuua me!“ et statim nisus mortuus cecidit et illa euasit. Iacopo da Verazza, Legenda aurea, hg. von Giovanni Paolo Maggioni, Florenz 21998, „De Sancto Thoma Cantvariensi“, Bd. 1, S. 103–107, hier S. 107. Übersetzung: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, mit einem Nachwort von Walter Berschin, Heidelberg 142004, S. 63. 30 Von sante Thoma einem bischove, in: Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts, hg. von Friedrich Karl Köpke, Quedlinburg/Leipzig 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 3), S. 53–62.

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fast ohne Abweichungen. Es liegt nahe, diesen Umstand ebenfalls als eine Einschränkung seiner Sprechfähigkeit zu verstehen, welche die Grenzen zwischen Mensch und Tier auch in Bezug auf ihre jeweilige Heilsfähigkeit festschreibt. Doch agieren diese hier nicht auf einer Ebene, denn der Heilige bleibt als Akteur auf der Handlungsebene absent. Auch dieser Vogel wird nun von einem Sperber angegriffen: sin gewonheit twanc des in do er den sperwer bi im sach, daz er vollen worten sprach, wand im die not trat ouch zu: hilf Thoma, hilf mir nu, hilfa, Thoma, hilfa! (Passional, v. 61,44–49)

In denkbar knapper Form wird hier das performative Potenzial der Vogelstimme aufgerufen und auf eine neue kommunikative Ebene überführt. Im Spannungsfeld von Artikulation, Imitation und Inspiration erscheint dieser Vogel, anders als die bisherigen Tiere, nicht als ein Medium. Er ist wohl in der Lage, die menschliche Stimme nachzuahmen und die richtigen Worte zu sagen. Doch erst indem er sie (wie auch der Vogel in der Legenda aurea) dem pragmatischen Kontext entsprechend korrekt gebraucht, kann sich der Sprechakt der Anrufung erfüllen. Das wird hier aber nicht als Resultat einer göttlichen Inspiration durch Lippenöffnen gezeigt – wenn dieser Vogel Medium einer göttlichen Botschaft ist, dann nicht im Sinne ihrer akustischen Wiedergabe. Vielmehr ist der Vogel in der Lage das Gelernte auf die spezifische Situation anzuwenden und zudem, durch wankels schricke, sinnvoll abzuwandeln, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen: hilf Thoma, hilf mir n u ! Dieser Vogel ist kein natürlicher Sprechautomat, sondern er ist sprachmächtig geworden und tritt dadurch in eine eigene Beziehung zum Heiligen. Das eigentliche Wunder in dieser Legende liegt in der Verschiebung von der Sprech- zur Sprachfähigkeit und vollzieht sich somit – im wörtlichen Sinne der Wunder-Bestimmung durch Augustinus – nicht contra naturam, sondern praeter bzw. supra naturam.31 Diese Transzendierung der avianischen Natur ist wiederum in auffälliger Weise räumlich konnotiert und auf die Grenze zwischen Natur und Kultur bezogen: In die Gefahrensituation ist der Vogel nur deshalb geraten, weil im sein hute was zustort / wand er zu verre trat hervur (v. 61,36f.). Nach seiner wunderbaren Errettung fliegt der Vogel [...] zu huse wider und genoz wol der art, daz er den namen was gelart,

|| 31 Augustinus, De civitate dei, 21,8,2, in: Patrologia Latina 41, hg. von Jacques-Paul Migne, Paris 1845, Sp. 721f.

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der ouch im half in rechter not, do ez im gienc an den tot. (Passional, v. 61,54–58)

Diese Legende thematisiert also – wie die asketischen Erzählungen – die im Rahmen der Domestizierung notwendigen Lernprozesse und privilegiert dabei das Leben in der hute, innerhalb der kulturellen Einhegung.32 Die Grenzen zwischen Mensch und Tier werden dabei weitgehend aufgehoben: Zumindest auf der Ebene der Erzählräume wird dieser zahme Vogel dem Menschen gleichgesetzt,33 was hier auch deshalb funktioniert, weil außer den eingangs genannten luten keine konkreten Interaktionen mit Menschen vorkommen und die gesamte Erzählwelt auf die Kommunikation mit der Transzendenz hin ausgerichtet ist. Eine Rückführung des Erzählten auf die Auslegungslogik der Fabel liegt hier nahe: ‚Wage auch du dich nicht zu weit außerhalb der hute, sonst wirst du von bösen Mächten angegriffen!‘ Diese Übertragung funktioniert aber nicht vollständig, denn anders als in der Fabel spricht hier nicht das Tier aus einem Fiktionalitätskontrakt heraus, als ob es menschliches Bewusstsein besäße, sondern sein aus existentieller Not heraus vollzogener Sprechakt greift über die Textgrenzen hinaus und manifestiert sich im Wunder, wenn der Sperber tot vom Himmel fällt. Mit der geringfügigen Abwandlung gegenüber der Vorlage erzählt das Passional gewissermaßen dieselbe Geschichte mit kleiner wankels schricke. Hier wird – und das erscheint gegenüber den bisher betrachteten Staren, Dohlen und Seelenvögeln als eine Radikalisierung – in der Darstellung der Performanz der Vogelstimme sowohl auf ihre naturalistische Fundierung als auch auf einen letztbegründenden Rückgriff auf die göttliche Inspiration gänzlich verzichtet. Das ist so sicherlich auch nur im transzendent behüteten Erzählraum der Legende möglich, doch darin erscheint dieser letzte Vogel nicht nur als eine vollkommene menschliche Projektion, sondern wird ihm, als sprach- und gnadenfähigem Geschöpf, zugleich auch eine animalische – oder vielmehr avianische – agency zugesprochen.

|| 32 Auch diese Vogeldarstellung ist wohl im Spannungsfeld unterschiedlicher christlicher Deutungen zu sehen, denn in der christlich-monastischen Ikonographie kann der Vogelkäfig sowohl Schutz vor Versuchung als auch Gefangenschaft der Seele im Körper symbolisieren, vgl. Dittrich (wie Anm. 2), Art. „Vogel im Käfig“, S. 547. 33 Man könnte sie somit als companion species im Sinne Donna J. Haraways betrachten, vgl. Donna J. Haraway, When species meet, Minneapolis/London 2007 (Posthumanities 3), S. 15–19. Interspezifische Gemeinschaften bestimmen indessen zahlreiche, nicht nur pastorale, mittelalterliche Mensch-Tier-Narrative, vgl. Julia Weitbrecht, „Feld, Wald und Wiese. Kontaktzonen und Interaktionsräume von Mensch und Tier in der Fabel und im Reinhart Fuchs“, in: Reflexionen des Politischen in der europäischen Tierepik, hg. von Michael Waltenberger, Jan Glück und Kathrin Lukaschek, Berlin/ Boston 2016, S. 44–59.

Annette Volfing

Verdoppelung und Verdrängung Simultane Diskurse in der mystischen Literatur Stimmführung ist in der mystischen Literatur ein komplexer Prozess. Dies erklärt sich zum Teil dadurch, dass die Mystik herkömmliche Rollen und Identitäten untergräbt: Die Proliferation und Verteilung der Stimmen, beispielsweise in Mechthilds Fließendem Licht der Gottheit, ist häufig mit Hinweis auf die Zerspaltung des erzählenden Ichs und auf seine enge Angleichung an andere Gestalten (zum Beispiel die sponsa aus dem Hohelied) erklärt worden.1 Typisch für mystische Literatur ist auch der plötzliche und anscheinend willkürliche Stimmenwechsel – zum Beispiel von der dritten zur ersten Person in der Nacherzählung mystischer Erfahrungen –, oder von der dialogisch ausgerichteten Stimme einer intradiegetischen Personifikation zu der homiletisch-erklärenden Stimme des Autors/Erzählers. An einer Stelle im Fließenden Licht wird der Gegensatz zwischen den vielen Stimmen der Schöpfung und der einen Stimme Gottes durch einen dialogischen Austausch thematisiert: Während Mechthilds Sprecher-Ich Gott als dú stimme aller worten anredet, beschreibt er Mechthilds Sprecher-Ich als ein stimme miner worten.2 Die Beziehung zwischen dem Einen und den Vielen wird im ‚Selbstlob‘ der Trinität unter Verwendung der Metapher des Fließens oder Ausströmens weiter entwickelt: Nu hre die allersssosten, die allerhhsten, die allerwunneklichosten stimme, wie dú helige drivaltekeit in ir selben singet mit einer ganzen stimme, da aller heligen sssen stimmen usge-

|| 1 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung hg. von Hans Neumann, Bd. 1: Text, besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München 1990 (MTU 100). Zur Vervielfachung der Sprecherpositionen im Fließenden Licht siehe Klaus Grubmüller, „Sprechen und Schreiben. Das Beispiel Mechthild von Magdeburg“, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. von Johannes Janota, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 335–348, besonders S. 342f.; Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volksprache, Tübingen/Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 71–84; Burkhard Hasebrink, „Spiegel und Spiegelung im Fließenden Licht der Gottheit“, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang: Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 157–174; Almut Suerbaum, „Dialogische Identitätskonzeption bei Mechthild von Magdeburg“, in: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999, hg. von Nikolaus Henkel, Martin H. Jones und Nigel F. Palmer unter Mitwirkung von Christine Putzo, Tübingen 2003, S. 239–255; Annette Volfing, „Dialog und Brautmystik bei Mechthild von Magdeburg“, in: ebd., S. 257–266; Elizabeth A. Andersen, The Voices of Mechthild von Magdeburg, Oxford/New York 2000. 2 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit (wie Anm. 1), III.2, S. 79.

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vlossen sint, die ie gesungen wurdent in himmelriche und in ertricht und noch sllent ewekliche.3

Der Text unterstreicht den Einklang der drei Stimmen (mit einer ganzen stimme), fährt jedoch sogleich fort, jeder der drei Personen andere Inhalte zuzuschreiben. Der Vater stellt sich als eine unerschöpfliche Quelle dar, der Sohn beschreibt sich als eine Art von Reichtum, an dem niemand festhalten könne, und der Heilige Geist bezeichnet sich als die unbesiegbare Macht der Wahrheit.4 Nach einer Auflistung dieser verschiedenen Aussagen bekräftigt der Text erneut den Gleichklang des Gesanges: Alsus singet dú ganze drivaltekeit: „Ich bin also stark an miner ungescheidenheit, das mich gescheiden nieman mag noch zerbrechen an miner ganzen ewekeit.“.5 Versteht man diese Stelle so, dass die drei Aussagen gleichzeitig gesungen werden, lässt sie sich als ein Indiz dafür sehen, dass Mechthild polyphonisch arbeitet, nicht nur im metaphorischen, Bakhtin’schen Sinne,6 sondern im ursprünglichen, musikologischen.7 Ein derartiges Verweben von individuellem und kollektivem Gesang ist besonders dazu geeignet, das Mysterium der Trinität darzustellen, wie zum Beispiel bei Dante im Paradiso: Quell’uno e due e tre che sempre vive e regna sempre in tre e ’n due e ’n uno, non circunscritto, e tutto circunscrive, tre volte era cantato da ciascuno di quelli spiriti con tal melodia, ch’ad ogne merto saria giusto muno.8

|| 3 Ebd., V.26, S. 185; V.26, S. 186: Ich bin ein uzvliessende brunne, den nieman mag verstoppfen, aber der mensche mag villihte sin herze selber mit eime unnútzen gedank verstoppfen, das dú ungerwige gotheit, dú imere mere arbeitet ane arbeit, nit in sin sele mag vliessen. 4 Ebd., V.26, S. 186: Ich bin ein widerkomende richtům, den nieman behalten mag, man alleine dú miltekeit, dú ie gevlos ind iemer gevliessen sol von gotte, die kumt alles wider mit sime sune. 5 Ebd.: Ich bin ein unúberwunden kraft der warheit; das vindet man an dem menschen, der loblich mit gotte bestet, swas in angat. 6 Vgl. Mikhail Mikhaĭlovich Bakhtin, Problems of Dostoevsky’s Poetics, hg. und übersetzt von Caryl Emerson, mit einem Vorwort von Wayne C. Booth, Manchester 1984 (Theory and History of Literature 8). 7 Vgl. Hans Heinrich Eggebrecht und Frieder Zaminer, Die mittelalterliche Lehre von der Mehrstimmigkeit, Darmstadt 1984 (Geschichte der Musiktheorie 5); Wolfgang Fuhrmann, „‚Englische‘ und irdische Musik im 15. Jahrhundert“, in: Den Himmel öffnen… Bild, Raum und Klang in der mittelalterlichen Sakralkultur, hg. von Therese Bruggisser-Lanker, Bern 2014 (Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft 56, Serie II), S. 85–131. 8 Dante Alighieri, La Divina Commedia, Bd. 3: Paradiso, hg. von Angelo Gianni im Zusammenarbeit mit Maria Gloria Eschini, Gino Gherardi und Marco Romanelli, Florenz 2001, XIV.28–33, S. 217. Übersetzung August Kopisch, Die Göttliche Komödie des Dante Alighieri, Berlin 1862, S. 379: ‚Der

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Zu dieser Stelle erklärt Francesco Ciabattoni: The three-part organum [...] provides the cue for a marvellous metaphor of God’s tripartite and yet unitarian essence, an intrinsically polyphonic rendering of the mystery of the Trinity expressed musically by the wise who are feasting in a double garland around Dante and Beatrice.9

Ein ähnlicher Zugang zur eben zitierten Mechthild-Stelle mag verlockend sein. Es ist indessen schwierig, definitive Aussagen über die tatsächliche Natur und Verbreitung der Polyphonie im Deutschland des 13. und 14. Jahrhunderts zu machen. Was Mechthild natürlich kannte, war das antiphonale Singen des Stundengebets und auch der Raumklangeffekt, der sich dadurch ergab, dass die Nonnen von der Empore in den Wechselgesang von Klerus und Gemeinde einstimmten. Sie dürfte aber nicht mit klanglichen Effekten vertraut gewesen sein, die auf einer implizierten oder tatsächlichen Simultanität verschiedener Texte basieren – von der Praxis, Melismen zu tropieren (d.h. mit Textstücken zu ergänzen) einmal abgesehen. Während Ciabattoni davon ausgeht, dass der gesamten Divina Commedia eine musikalische Struktur zugrunde liegt, von der Kakophonie der Hölle und dem monophonen Gesang des Fegefeuers bis hin zur Polyphonie des Himmels, findet sich in Mechthilds Werk keine äquivalente Entwicklung oder Progression. Stattdessen arbeitet Mechthild sowohl in ihrer Beschreibung des Himmels als auch der Hölle mit simultanen Äußerungen. Es ist vielleicht nicht überraschend, in der Hölle verschiedene Gruppen zu finden, die ihren Wehklagen auf unkoordinierte und möglicherweise wetteifernde Weise Stimme verleihen: Die heiden klagen alsust: „Owe, hetten wir gehabt ein e, so were úns nit eweklich sust grslichen we.“ Die juden klagent ch alsus: „Owe, hetten wir gotte gevolget an Moyses lere, so weren wir nit verdampnet alsus sere.“ Die cristan klagent noch mere, das si die grossen ere von můtwillen hant verlorn, do si Christus mit grosser liebi hette zů im erkorn […].10

Doch auch der Himmel besteht aus verschiedenen Scharen, die in diesem Fall die jeweilige Glückseligkeit einfordern: Alsust singent die predier: „O userwelter herre, wir han gevolget diner milten gtin in willeklichem armte und haben dinú wiselosen schaf getriben, die dine gemieteten hirten liessen gan

|| Eins und Zwei und Drei ist, immer lebet / und herrscht als Drei und Zwei und Eines / Selbst nicht umschränkt ist, Alles rings umschränket, / War dreimal dort besungen von jedwedem / Der Geister, in so holder, hoher Weise / Daß jeglichem Verdienst sie rechter Lohn wär‘. 9 Francesco Ciabattoni, Dante’s Journey to Polyphony, Toronto 2010, S. 159 (Hervorhebung im Original). 10 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit (wie Anm. 1), III.21, S. 101.

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usser dem rehten wege.“ Alsust singent die martyrer: „Herre, din unschuldiges blůt hat erfúllet únsern tot […].“11

Zugegebenermaßen präzisiert Mechthild, dass die geretteten Seelen nicht klagen, sondern singen – sie sind aber genauso wenig einstimmig wie die Insassen der Hölle. Während aus dem Kontext hervorgeht, dass die Interaktion von Predigern und Märtyrern in der Gesamtwirkung ästhetisch ansprechend ist, spricht die Verwendung von Reimprosa in der Beschreibung von beiden, Himmel und Hölle, gegen die Sichtweise, dass die Hölle nichts als Missklang sei und jeder Ästhetik entbehre. Diese potenzielle Grauzone in der Bewertung simultaner Aussagen im Fließenden Licht kann als Ausgangspunkt dienen, allgemeiner über die Darstellung konkurrierender Stimmen in der mittelhochdeutschen mystischen Literatur nachzudenken, und besonders über die Art und Weise, wie sich Texte mehrerer Stimmen bedienen, um mystische Erfahrungen darzustellen, die im Kontext von Messe und Hochamt angesiedelt sind: Was geschieht, wenn sich übernatürliche Stimmen mit den irdischen Gesängen von Chor und Priester vermischen, mit ihnen konkurrieren oder sie gar völlig übertönen? Obwohl viele der in diesem Aufsatz angeführten Beispiele mit Gesang in Bezug stehen, gilt das Interesse sowohl dem gesprochenen wie auch dem gesungenen Wort. So soll das letzte Beispiel dieses Aufsatzes das Spannungsfeld zwischen zwei gleichzeitig gehaltenen Predigten veranschaulichen – eine Predigt ist an die gesamte Gemeinde von Engelthal gerichtet, die andere an Adelheid Langmann persönlich. Bei der Analyse dieser Stelle wird Polyphonie als diskurspragmatischer Terminus zur Geltung kommen, der auf „one important dimension of the organization of dicourse, and also of utterances“ hinweist, nämlich „the fact that they can express and combine different voices“.12 Oswald Ducrot postuliert ein gespaltenes Subjekt in Anerkennung der möglichen Simultanpräsenz verschiedener verdeckter oder sich überlagernder Stimmen innerhalb einer einzigen Äußerung, wenn zum Beispiel ein Sprecher die Aussage eines anderen ironisch wiederholt oder stellvertretend für ihn spricht.13 In mancher Hinsicht ist dies die Umkehrung der ‚musikalischen‘ Polyphonie (wie sie in Mechthilds Passage über die Trinität veranschaulicht wird), in der mehrere verschiedene Äußerungen akustisch verschmelzen und deswegen als einzige Stimme aufgefasst werden. Unter den vielen Beispielen, die Ducrot anführt, ist das des Schauspielers, der eine Rolle in einem Theaterstück spielt, angesichts der

|| 11 Ebd., III.1, S. 76. 12 Eddy Roulet, „Polyphony“, in: Discursive Pragmatics, hg. von Jan Zienkowski, Jan-Ola Östman und Jef Verschueren, Amsterdam 2011 (Handbook of Pragmatics Highlights 8), S. 208–221, hier S. 208. 13 Marjut Johansson und Eija Suomela-Salmi, „Énonciation: French Pragmatic Approach(es)“, in: ebd., S. 71–101, hier S. 89, mit Hinweis auf Oswald Ducrot, Les Mots du discours, Paris 1980, besonders S. 44.

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theatralischen Dimension der Liturgie für die vorliegende Analyse besonders hilfreich. Antiphonen bestehen zum Beispiel aus kurzen gesungenen Bibelpassagen, die einen Psalm oder andere liturgische Stücke refrainartig umfassen. Bei dieser durch Parenthese erzeugten Polyphonie werden die Worte der Antiphonen aus ihrem Originalkontext herausgenommen,14 um als ‚Motto‘ für den Psalm dienen zu können, ohne dass die Relevanz des ursprünglichen Zusammenhangs verlorengeht. In der religiösen Filia Sion-Allegorie wird in ähnlicher Form biblisches Sprechen als eine zweite Stimme mitgeführt, wenn Oratio (die Personifikation des Gebets) eine Selbstaussage des Paulus parenthetisch in ihre Gedankengänge hineinzitiert: ex quo semel cœpi loqui ad dominam meam, veniam ad visiones. scio quandam (sum in corpore, sum extra corpus nescio, deus scit) raptam hujusmodi usque ad conspectum dei […].15 Das Pauluswort ist eindeutig in ihrer Äußerung präsent,16 geht aber über Rollenspiel oder intertextuellen Bezug hinaus, da innerhalb der Logik der Filia SionHandlung diese Aussage tatsächlich auf Oratio anwendbar ist. Ähnlich verhält es sich mit der Stelle in der Allegorie, als der Kontakt mit dem Pfeil der Caritas Jesus zu der Frage bewegt, quis me tetigit? (‚Wer hat mich berührt?‘)17 Jesu Stimme ist in der Äußerung zweifach präsent, d.h., seine augenblickliche und innerhalb der Allegorie handlungslogische Reaktion auf den Angriff der Caritas steht neben seiner vorangegangenen, im Evangelium dargestellten Reaktion auf die Berührung einer Frau in der Menge (Lk 8:45). Dasselbe gilt, wenn ein Chor Antiphonen wie Dilectus meus mihi et ego illi (‚Mein Freund ist mein und ich bin sein‘) (Hld 2:16) singt: Auch hier drücken die Worte nicht nur die Erfahrung der sponsa, sondern auch die der einzelnen Sänger und Sängerinnen aus.

|| 14 Zum Begriff der Parenthese siehe Henrike Lähnemann und Michael Rupp, „Parenthese“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 573–576. 15 Die W-Rezension der Filia Sion (mit dem Incipit Filia Sion a deo aversa, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 1997, fol. 47v–50r) wird zitiert nach der Transkription von Karl Weinhold, in: Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben und Tochter Syon, hg. von Karl Weinhold, Paderborn 1880, S. 285–291, hier S. 290. Übersetzung A.V.: ‚Von dem Moment an, als ich anfing, mit meiner Herrin zu sprechen, erhielt ich Visionen. Ich kenne eine Frau – ist sie im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist sie außer dem Leib gewesen? Ich weiß es auch nicht; Gott weiß es –, da wurde dieselbe entrückt bis zum Anblick Gottes [...]‘. Zu den lateinischen und deutschen Fassungen dieser Allegorie siehe Dietrich Schmidtke, „Tochter Sion-Traktat“, in: 2VL, Bd. 9, Berlin/New York 1995, Sp. 950–960. 16 Biblia sacra iuxta vulgatam clementinam. Biblioteca de autores cristianos, hg. von Alberto Colunga und Laurentio Turrado, Madrid 1982, 2. Kor 12:2: Scio hominem in Christo ante annos quatuordecim, sive in corpore nescio, sive extra corpus nescio, Deus scit, raptum huiusmodi usque ad tertium caelum. Übersetzung: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers mit Apokryphen, hg. von der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart 2011, S. 213: ‚Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es auch nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel‘. 17 Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben und Tochter Syon (wie Anm. 15), S. 289.

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Als Übergang zur diskurspragmatischen Polyphonie bei Adelheid Langmann soll aber zuerst der Frage nach dem Zusammenspiel akustisch unterschiedlicher Äußerungen (gesprochen oder gesungen) nachgegangen werden, vor allem im Kontext der Liturgie. In vielen Fällen sind überirdische Beiträge zur Liturgie mit den menschlichen Stimmen im Gottesdienst völlig kohärent. Der Lobgesang der Engel, der den Tod einer Nonne oder eines Märtyrers üblicherweise begleitet, bestätigt diese Regel. So führt Caroline Emmelius die Beschreibung des Todes von Elsbet von Waldek aus Engelthal ([…] da man ir die mess sank ‚Requiem‘, do horten etliche swester, daz die engel die messe uber sungen) als Beispiel dafür an,18 wie das in der Sterbemesse gesungene Requiem der Schwestern in einem „klangliche[n] Zeichen des guten Todes“ von Engelgesang geradezu übertönt wird.19 Ähnlich äußert sich Robert Mohr über Hugos von Langenstein Martina, wenn er schreibt, dass der Engelsgesang, der den Tod eines Märtyrers begleitet, „eine auditive Ergänzung des menschlichen Gesangs“ darstellt.20 Diese himmlischen Stimmen werden von einigen oder allen Mitgliedern der Gemeinde wahrgenommen, stehen aber nicht mit den irdischen Feierlichkeiten in Konflikt. Gewöhnlich wird die Audition jedoch nur von einem Einzelnen wahrgenommen, wobei die überirdischen Äußerungen sich inhaltlich von den Worten unterscheiden, die vom Chor gesungen oder vom Priester gesprochen werden. Die Beziehung von Überirdischem und Alltäglichem ist mitunter eng, wie im Fall von Mechthilt der Rittrin aus St. Katharinental, deren Audition aus einer Art Simultanübersetzung des gerade Gesungenen bestand: do man sang von einem confessor, vnd do man daz wort sang „Jntra in gaudium domini tui“, do hort si ein stimme, dú sprach: „Du muost ingn in die frd dins herren“.21 Aufgrund des Sprachunterschieds kann

|| 18 Christine Ebner, Der Nonne von Engelthal Büchlein von der Genaden Überlast, hg. von Karl Schröder, Tübingen 1871 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 108), S. 38. Zum religiösen Leben im Kloster Engelthal siehe Susanne Bürkle, Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen/Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38), besonders S. 105–316; Leonard Hindsley, The Mystics of Engelthal: Writings from a Medieval Monastery, Basingstoke 1998; Johanna Thali, Beten – Schreiben – Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal, Tübingen/Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 42). Zur Geschichte des Klosters siehe Gustav Voit, Engelthal. Geschichte eines Dominikanerinnenklosters im Nürnberger Raum, 2 Bde., Nürnberg 1977–1978 (Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft 26). 19 Caroline Emmelius, „süeze stimme, süezer sang. Funktionen von stimmlichem Klang in Viten und Offenbarungen des 13. und 14. Jahrhunderts“, in: LiLi 171 (2013), S. 64–85, hier S. 75. 20 Robert Mohr, Präsenz und Macht: Eine Untersuchung zur Martina Hugos von Langenstein, Bern 2009 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 23), S. 75. 21 Ruth Meyer, Das St. Katharinentaler Schwesternbuch: Untersuchung, Edition, Kommentar, Tübingen 1994 (MTU 104), S. 133. Eine entsprechende, ‚reale‘ Simultanübersetzung wurde von den Medinger Nonnen für die Laien geleistet, indem sie kommentierend die Liturgie ins Deutsche übersetzten,

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diese private Audition jedoch nicht einfach, wie der Engelsgesang des früheren Beispiels, als eine monophone Ergänzung des öffentlichen Diskurses bewertet werden.22 Auditionen, die in liturgischen Rahmen wahrgenommen werden, führen öfters zu privaten Dialogen zwischen dem religiösen Subjekt und mindestens einer himmlischen Figur. Ein kurzes Beispiel hierfür ist eine Stelle aus dem Gnaden-Leben von Friedrich Sunder, die davon handelt, wie er Schwester Gerdrut in Engelthal kennenlernt, die sich während der Eucharistie mit mehreren Gesprächspartnern unterhält: Da vand er nahen daby jn ainem dorf ain swester, mit der vnser herr als vil wunders tt vnd als vil vnzallicher gnden. Er [d.h. Christus] erschain ir oft jn dez priesters hand jn ains kindliß wiß vnd oft mit siner můtter, daz die swester rett mit jn vnd mit den engeln vnd mit den hailigen liplichen.23

Gespräche dieser Art mögen im Kontext großer Ekstase stattfinden (in der die Seele des religiösen Subjektes den Schauplatz der Kapelle weit hinter sich zurücklässt), oder alternativ in der tatsächlichen Kulisse des Konvents. Wenn zum Beispiel das Christuskind während der Eucharistie in Engelthal aus der Oblate hervortritt, redet und spielt Christine Ebner mit ihm auf eine Art, die an eine realistische Interaktion mit einem normalen, unruhigen Kind denken lässt: vnter der messe, do saz di selbe swester hinten in dem kör; vnd do man daz prefacio an hüb, do erschein ir vnser herre in eins cleinen kindeleins weise, vnd löf vorn vz dem kör, hin hinter zu ir, vnd stunt für di pank, vnd sahs an. Do sprach si: „Wiltu zu mir?“ Do sprach ez: „Ia, wiltu ez nit gesagen.“ Daz meint er, daz si nit uz breste mit vngeperden. Do ging ez ein cleines tritlein, hin auf do si do saz. Do tet ez, sam ez nit hin uf möhte. Si gedoht ir: „greif ich dir nidert an deine glidelein, so brich ich dirs ab,“ vnd greif im nach dem ehselein, vnd hüb es hin vf zu ir. Do viel ez ir in di schöz. Do deket si iren mantel vber ez. Do lag er ein weil; vnd do nam si in vnd setzt in her wider auf, vf iren mantel, zu der linken seiten; vnd do saz er piz der prister köm zu der wandelunge; vnd do sprach er: „ir schült sein all nit gesagen, datz ich hie sei gewesen,“ vnd verswant.24

|| zum Beispiel O mundi domina – O vrouwe der werlde, van konichliken stamme gheboren; siehe Elizabeth A. Andersen, „Das Kind Sehen. Die Visualisierung der Geburt Christi in Mystik und Meditation“, in: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009, hg. von Ricarda Bauschke, Sebastian Coxon und Martin H. Jones, London 2009, S. 290–310, hier S. 309. 22 Meyer (wie Anm. 21), S. 125. 23 Das Gnaden-Leben des Friedrich Sunder, Klosterkaplan zu Engelthal, hg. von Siegfried Ringler, in: ders., Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters: Quellen und Studien, München 1980 (MTU 72), S. 391–444, hier S. 393. 24 Christine Ebner, Offenbarungen; zitiert nach Nürnberg, Stadtbibliothek, Codex Cent. V., App 99, hier fol. 12v–13r. Die Interpunktion ist von mir. Zum Motiv der mystischen Begegnung mit dem Gotteskind während der Liturgie siehe Andersen (wie Anm. 21), besonders S. 292–295.

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Während Erlebnissen dieser Art ist Christine sowohl an- als auch abwesend: Sie ist anwesend auf derselben Realitätsebene wie etwa die Kirchenbänke und ist doch davon losgelöst, da ihre ganze Aufmerksamkeit anstatt der kollektiven Feier der Interaktion mit dem Kind gilt. Wenn, wie Fuhrmann nahelegt, die Funktion der weltlichen Liturgie doch genau die ist, das religiöse Subjekt in Kontakt mit dem Göttlichen zu bringen,25 ist Christines Verhalten an sich nicht problematisch. Darüber hinaus begegnen wir selbst in den idealisierten liturgischen Feiern, die auf einer rein mystischen Ebene stattfinden (d.h. ohne Verankerung in einem spezifischen realistischen Ereignis), einer positiv konnotierten Darstellung von Privatgesprächen, die die gesamte inszenierte Zelebration durchsetzen und dadurch das religiöse Subjekt auch von den anderen Teilnehmern am geistlichen Gottesdienst abgrenzen. In Mechthilds Darstellung der von Johannes dem Täufer gefeierten Messe verbringt das arme Mädchen, das als Hauptfigur dient, die gesamte Zeit damit, die Jungfrau Maria darüber zu befragen, was sie als Nächstes tun solle („Eya vrwe, mhte ich hie gottes lichamen enpfan […].“ […] „Ja liebú, tů din bihte!“ […] „Sol ich oppferen?“ […] „Ja […]“).26 Während der Eucharistie materialisiert sich dann ein Lamm aus der Oblate, welches sich seinerseits direkt an das Mädchen wendet. Dieses letzte Detail illustriert, dass selbst ein Star-Zelebrant wie Johannes der Täufer von einer übergeordneten Audition übertrumpft werden kann. Dies mag zu dem Schluss verführen, dass es eindeutig positiv ist, wenn Christine Ebner mit dem Jesuskind spricht oder wenn Heinrich Seuse einer himmlischen Messe beiwohnt, die simultan mit einer irdischen gefeiert wird: do man daz frlich gesang von dem veterlichen glanz der ewigen wisheit solt singen ze messe: L u x f u l g e b i t.27 In Seuses Fall gibt es klare Hinweise dafür, dass himmlische und irdische Liturgien miteinander in Verbindung stehen, und letztere eine imperfekte und unvollständige Reflexion der ersteren darstellen. Dagegen drückt der Text in der Christine Ebner-Episode ein gewisses Bedauern darüber aus, dass die beiden Liturgien miteinander konkurrieren. Christine braucht die irdische Liturgie, um die mystische Erfahrung auszulösen: Si köm oft in di sussikeit. Wer si zu mess nit gewesen, si moht dar nit komen sein.28 || 25 Wolfgang Fuhrmann, „Melos amoris: Die Musik der Mystik“, in: Musiktheorie 23 (2008), S. 23– 44, besonders S. 26: „Vorbild und Ziel der irdischen Liturgie und ihrer musikalischen Komponenten ist die Musik der neun Engelchöre, die immerwährend zelebrierte himmlische Liturgie“; ähnlich Fuhrmann (wie Anm. 7), S. 121–131 („Rechtfertigungen der Polyphonie [6]: Polyphonie als Jubilus zwischen Himmel und Erde“). Siehe auch Andersen (wie Anm. 21), S. 292: „Im Wechsel zwischen den Lesungen des Gotteswortes und dem Gesang ist die Liturgie darauf angelegt, Reaktionen auszulösen, die eine oratio hervorrufen können, eine unmittelbare Unterredung mit Gott oder den Heiligen; es wird ein liminaler Zustand erschaffen, in dem eine direkte Kommunikation und Kommunion mit dem Göttlichen möglich wird.“ 26 Das fließende Licht der Gottheit (wie Anm. 1), II.4, S. 43. 27 Heinrich Seuse, Briefbüchlein, in: Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 360–401, hier VIII. Brief, S. 385f. (Hervorhebung im Original). 28 Christine Ebner, Offenbarungen (wie Anm. 24), fol. 47v.

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Dennoch räumt der Text auch ein, dass diese Erfahrung dazu führt, dass sie etwas Wesentliches und Wertvolles versäumt: vnd do kom si zu ir selber, do waz di mess volbraht, vnd waz der prister enweck vz der cappellen. Vnd het nihtz gesehen noch gehört der mess, dor uf si sich sunderlich bereit vnd gefrewt het.29 Auch die Einbindung des Individuums in die Gemeinschaft (im weiteren Sinne) wird durch die mystische Erfahrung in Frage gestellt. Dies entspricht der objektiven Ordnung des Ritus: Denn nicht der einzelne ist Träger liturgischen Sprechens und Handelns, auch nicht die Gesamtzahl verschiedener Sonderwesen; das Subjekt der Liturgie ist vielmehr das Ganze der Gemeinschaft, die hier noch durch ihre privilegierte Lebensform eine zusätzliche Weihe erhalten hat. In systematischer Ausweitung und gesteigerter Konsequenz zu den sonstigen Verhaltensmustern dieser Sozietät wird dem Individuum als Sonderwesen in solchem ‚liturgischen Raum‘ kein Raum gelassen. Es muss auf seinen Eigensinn verzichten, seine Selbstverfügung aufgeben, um sich völlig der objektiven Ordnung des kollektiven Ritus anheimzugeben.30 Für Christine Ebner ist diese kollektive Dimension von größter Wichtigkeit und sie nutzt Privatgespräche mit Jesus, um Vergünstigungen für die ganze Gemeinschaft auszuhandeln (wie eine Befreiung vom Fegefeuer für alle Seelen der Nonnen von Engelthal). Eine Episode aus ihren Offenbarungen verdeutlicht die Spannung zwischen Christines Sonderstatus als Mystikerin und ihrem Sinn von Verbundenheit mit der Gemeinschaft. Während der Messe zu Mariä Himmelfahrt spürt Christine, dass dies eine gewerliche messe ist, d.h., eine Messe, während der alle angemessenen Gebete erhört werden würden. Bevor die totale Verzückung einsetzt, gelingt es ihr im letzten Moment, diesen günstigen Umstand einer Nachbarin mitzuteilen, sodass auch andere von ihrer Eingebung profitieren und ihre Gebete dahingehend formulieren können.31 Wenn ein religiöses Subjekt sich mystischen Äußerungen während der Messe hingibt, hat das bisweilen auch negative Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Obwohl Christine Ebners Dialog mit dem Christuskind für andere anscheinend nicht vernehmbar war, waren mystische Dialoge nicht immer so diskret. Christina von Hane erscheint ebenfalls das Christuskind während des Gottesdienstes. Doch anstatt eines normalen Gespräches, wie es zwischen Erwachsenen und Kindern durchaus vorkommt, ist ihre Interaktion mit ihm ausgesprochen liturgisch. Das Kind passt seine Stimme der ihren an, sodass beide in wunderbarem Gleichklang lesen und singen, ähnlich dem himmlischen Gleichklang von Engels- und Menschenstimmen in den bisher angeführten Beispielen:

|| 29 Ebd., fol. 10r. 30 Urban Küsters, Der verschlossene Garten. Volkssprachliche Hohelied-Auslegung und monastische Lebensform im 12. Jahrhundert, Düsseldorf 1985, S. 214f. 31 Christine Ebner, Offenbarungen (wie Anm. 24), fol. 8r–v.

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Da daz lyebe kyntgen vor yre vnd by yre wosche, als da vor gesprochen ist, was sie da sancke ader laiße, daz sancke vnd laiße daz kyntgen myt yr. O frolicher jubilo! Ach wie froelich yre hertze vnd sele da syngen moicht. Da sie daz seste responsorium syngn sult, da sach sie daz zarte kyntgen vff dem boiche sitzen vnd myt yre syngen, daz iß yre vnd sy yme jn synen mont sancke. Ich meynen, daz keynne zonge moge vß gelegen die soißicheit, den troiste vnd woillust, die die edel sele da haitte.32

Unglücklicherweise hört der Rest der Gemeinde nicht die himmlisch angereicherte Stimme Christinas, sondern eine recht lange Serie non-verbaler Ausbrüche: Dan van rechter zarter verwenter woilluste wart yre hertze vnd augen vber flyßen yn eym soißen lyeblich schryen, vnd daz schryen, daz werte die gantze metten durch.33 Unabhängig davon, wie soiß ihr Schreien oder Jauchzen gewesen sein mag – Christinas Ausbrüche müssen die anderen Schwestern abgelenkt und ihre Aussicht auf konzentrierte Andacht erheblich eingeschränkt haben. Racha Kirakosian argumentiert, dass die Gesamtstrategie des Christina-Textes darin bestehe, die Leser durch den von ihnen geleisteten Vorstellungsakt in eine performative Gemeinschaft mit Christina zu versetzen.34 Die doppelte Darstellung ihrer Stimme durch den Text zieht die Leser jedoch gleichzeitig in zwei entgegengesetzte imaginäre Richtungen – und wenn Monophonie auf Kakophonie trifft, ist das Gesamtergebnis immer und unvermeidbar ein Missklang. Da das mystische Schreien oder Jauchzen – besonders, aber nicht ausschließlich als Reaktion auf die Liturgie – ein relativ verbreitetes Phänomen ist,35 werden auch die problematischen Aspekte der Störungen regelmäßig in Viten angesprochen. Mezzi Sidwibrin aus Töß verband angeblich Lautstärke mit körperlicher Aggression: Sy lúff och etwenn in dem kor in der cumplet umb, recht als sy nit sinn hetty, so man das S a l v e r e g i n a sang, und schlůg denn an die schwestren von rechter gird und sprach: „Singent, singent: Gottes můtter ist hie!“36

In den Offenbarungen der Margaretha Ebner ist Lärmbelästigung ebenso ein zentrales Thema, da Margaretha nicht nur unter lauten, non-verbalen Ausbrüchen (zum Beispiel unbeherrschtem Lachen) litt, sondern auch unter garrulalia und unkontrollierbarer Rede, insbesondere unter dem Zwang, den Namen Jesu wieder und wieder

|| 32 Vita der Christina von Hane, in: Racha Kirakosian, Schrift- und Schreibmystik. Christina von Hane, DPhil Thesis, University of Oxford 2014, S. 272f. Die Veröffentlichung der Edition ist in Vorbereitung. 33 Ebd., S. 273. 34 Ebd., besonders S. 135–143, 152–160 und 232–258. 35 Beispiele von Schreien im Kontext des mystischen jubilus bei Wolfgang Fuhrmann, Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter, Kassel 2004 (Musiksoziologie 13), S. 292–317. 36 Das Leben der Schwestern zu Töß, beschrieben von Elsbet Stagel, samt der Vorrede von Johannes Meier und dem Leben der Prinzessin Elisabet von Ungarn, hg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1906 (DTM 4), S. 28 (Hervorhebung im Original).

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auszurufen: und diu red brach an mir als creftlich uz tag und naht, daz man mich hört vor der stuben in dem criuczgang.37 Rebecca Garber vergleicht Margarethas Ausbrüche mit dem mystischen roaring der Margery Kempe: While Ebner represents the lute ruefe as a form of empathy with and reaction to Christ’s suffering, the celebratory element of the resurrection appears inscribed on Margaretha’s physicality through bouts of uncontrollable laughter.38

Diese Ausbrüche manifestierten sich bei Margaretha zyklisch und waren vom Kirchenjahr abhängig – ein wichtiger Faktor, der dazu beitrug, sie als Gottes Fügung zu erkennen.39 Garber kommentiert die praktischen Vorkehrungen, die getroffen wurden, um diesem Aspekt von Margarethas Spiritualität entgegenzukommen: To insure [sic!] Margaretha’s continued participation in the corporate liturgy, they prepared a special cot for her in a room off the choir […]. The dividing walls reduced the disruptions caused by her symptoms, thus allowing the liturgical offices to proceed more smoothly.40

Häufig ist es der normale liturgische Zyklus, der ausschlaggebend bei der Auslösung mystischer Erfahrungen ist; doch manchmal wird der Spezialstatus des religiösen Subjektes auch dadurch signalisiert, dass die Liturgie variiert und ihm angepasst wird. Dies kann zu weiteren Spannungen zwischen dem zeitgleich stattfindenden öffentlichen und privaten Gottesdienst führen. Betrachten wir die rein praktische Ebene: Margaretha Ebners besondere Empfindsamkeit hatte als Konsequenz, dass sie in der Fastenzeit das liturgische Standardpensum nicht bewältigen konnte. Das bedeutet konkret, dass der Chor in der Kapelle eine Antiphon sang, während ihr an ihrer Schlafstätte eine andere vorgelesen werden musste.41 Obwohl ein direkter akustischer Konflikt durch die Trennwand verhindert wurde, erhöhte diese liturgische Abweichung Margarethas Segregation von der klösterlichen Gemeinschaft – und wie Garber erklärt, verursachte sie wahrscheinlich auch gewisse Probleme für die dominikanische Obrigkeit.42 Die Frage, ob die Gegenüberstellung dieser beiden Antiphonen als Kakophonie oder Polyphonie zu deuten ist, lässt sich nur schwer beantworten. Susanne Bernhardt spricht von einer äquivalenten „Individualisierung der Liturgie“ in Bezug auf Heinrich Seuse, diesmal auf der Ebene der privaten Audition. || 37 Margaretha Ebner, Offenbarungen, in: Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen: Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik, hg. von Philipp Strauch, Freiburg i.Br. 1882, S. 1–166, hier S. 29. 38 Rebecca Garber, Feminine Figurae: Representations of Gender in Religious Texts by Medieval German Women Writers 1100–1375, New York/London 2002, S. 116. 39 Ebd., S. 117. 40 Margaretha Ebner, Offenbarungen (wie Anm. 37), S. 41; Garber (wie Anm. 38), S. 122. 41 Margaretha Ebner, Offenbarungen (wie Anm. 37), S. 64; Garber (wie Anm. 38), S. 123. 42 Garber (wie Anm. 38), S. 121–123.

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Seuse hört den Introitus zur messe von der martern, aber am falschen Tag, zumindest wenn man den offiziellen Kalender als Bezugspunkt nimmt.43 Bezogen auf Seuses eigenes inneres Martyrium ist der Introitus allerdings überaus relevant. Angesiedelt irgendwo zwischen der rein innerlichen Variation in Seuses Audition und den realen Veränderungen, die erforderlich sind, um Margaretas besonderen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, finden wir im St. Katharinentaler Schwesternbuch das folgende Beispiel, das von der Erfahrung einer anonymen Schwester handelt.44 Diese Schwester schläft in ihrem Bett, als eine Stimme ihr sagt, sie solle aufstehen und in den Chor gehen, da die Messe des Evangelisten Johannes jeden Moment beginne. Sie weiß, dass dieser Tag nicht der Festtag des Evangelisten ist; die Stimme beharrt aber auf ihrer Anordnung und die Schwester gehorcht und geht zum Chor. Die Messe beginnt und ist in der Tat für einen anderen (nicht namentlich erwähnten) Heiligen, der allerdings mit dem Evangelisten den Introitus Jn medio gemeinsam hat. Da gerät der Zelebrant (der alt caplan brůder Burkart von Wangen) in Verwirrung und fährt fälschlicherweise (vnwissent) mit dem Text Ecclesiam fort, der allein in der Messe des Evangelisten gesungen wird. Also sang man die mess gar schon vs von sant Johannes.45 Impliziert in dieser Geschichte ist die Vorstellung, dass die Schwester (wie viele andere in St. Katharinental) dem Evangelisten besonders hingegeben ist und die Messe, die aus der Verwirrung des Priesters resultiert, als eine Art liturgischen Bonus betrachten würde. Darüber hinaus wird angedeutet, dass dieser Bonus eine Gnadenbezeigung an sie persönlich ist: Unabhängig davon, ob der Fehler eine Folge menschlichen Versagens oder göttlicher Fügung ist, weiß die himmlische Stimme schon vorher davon und sorgt dafür, dass die Nonne sich des glücklichen Resultates erfreuen kann. Wie Seuse wird auch diese Nonne als etwas Besonderes, der Norm nicht Entsprechendes dargestellt, und wie die Episode aus dem Leben von Margaretha Ebner arbeitet auch diese Erzählung mit der Gegenüberstellung von standardisiertem und nicht-standardisiertem liturgischen Diskurs. In Engelthal mag an diesem Tag nur eine – die falsche – Messe zelebriert worden sein, aber die richtige wird an anderen Orten gefeiert, und die Spannung zwischen dem Vorgeschriebenen und dem nicht Vorgeschriebenen ist genauso stark, als hätten die Messen in unmittelbarer Nähe zueinander stattgefunden. Das letzte Beispiel soll das Konzept der liturgischen Variation mit dem der diskursiven Polyphonie zusammenbringen. In den Offenbarungen der Adelheid Langmann || 43 Heinrich Seuse, Leben Seuses, in: Heinrich Seuse (wie Anm. 27), S. 7–195, hier Kap. 38, S. 117. Vgl. Susanne Bernhardt, „Die implizite Pragmatik der Gelassenheit in der Vita Heinrich Seuses“, in: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation, hg. von Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt und Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S. 115–142, hier S. 131. 44 Meyer (wie Anm. 21), S. 110. 45 Zur Liturgie für die Feiertage des Evangelisten siehe Annette Volfing, John the Evangelist and Medieval German Writing: Imitating the Inimitable, Oxford 2001, S. 60–97, besonders S. 83.

Verdoppelung und Verdrängung | 445

aus Engelthal wird beschrieben, wie Christus Adelheid während der Messe erscheint und ihr mitteilt, er halte eine Predigt nur für sie: An dem andern tag unter der predig do kom unser herre zu ir und sprach: „ich wil dir auch predigen.“46 Mit diesem Eröffnungszug unterstreicht Christus nicht nur Adelheids exklusiven Status, sondern stellt sich auch in direkten Wettbewerb mit dem lesmaister, der zu diesem Zeitpunkt dem Rest der Nonnen eine etwas öffentlichere Predigt hält. Die private Predigt für Adelheid ist allerdings nicht nach herkömmlichen homiletischen Prinzipien gestaltet. Sie beginnt mit Koseworten, die Formulierungen im Hohen Lied ähnlich, aber nicht mit ihnen identisch sind: dein munt smekt noch rosen und dein leip noch viol. du pist allenthalben schön und gepristet dir nihtes und davon pistu schon daz dir nihts geprist.47 Die Predigt entwickelt sich dann in eine erweiterte Analogie, in der Christus seine Beziehung mit Adelheid mit der eines junkherren vergleicht, der von einer schönen Frau gefangen genommen wurde: du hast mich gefangen als ein junkfrauwe die ein junkherren gefangen hat in einer kemnatten und daz si wol weiz, würden sein ir freunte innen, si töten si und in;48 und später: sich, also hostu mich gevangen in der kemnatten deins hertzen.49 Hier wird ein Szenarium heraufbeschworen, das nicht nur an das Hohelied (mit der leidenschaftlichen und eigensinnigen Braut) oder an Inkarnationsmetaphern (zum Beispiel das Bild des ungeborenen Christus, der im Schoß der Jungfrau eingeschlossen ist) erinnert, sondern auch an die Gattung des Tageliedes (mit den drohenden freunte[n], die bereit sind, die Liebenden zu töten).50 Die dialogische Natur der privaten Predigt ist von besonderem Interesse. Christus skizziert einen beispielhaften oder hypothetischen Dialog – in direkter Rede – zwischen dem gefangenen Mann und der Frau mit dem Schlüssel zu seinem Gefängnis: und sprech nu di junkfraw zu im: wer hat euch des getwungen daz ir her ein komen seit? so sprech er: daz hat eur schön, junkfrau. waz hat euch getwungen daz ir mich her ein habet gelazzen? so sprech si: daz hot di grozz libe di ich zu eu hon.51

Sowohl die Stimme des junkherren als auch die der junkfraw werden hier von Christus vermittelt, entsprechend dem Paradigma ‚Ich bin wie ein Mann, der x sagt, und

|| 46 Die Offenbarungen der Adelheid Langmann, Klosterfrau zu Engelthal, hg. von Philipp Strauch, Straßburg 1878 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 26), S. 26 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 27 50 Zum Motiv des Gefangenseins vgl. auch Lied 40 in Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst, hg. von Franz Viktor Spechtler, Göppingen 1987 (GAG 485), S. 341f., in welchem der Ritter gezwungen wird, sich den ganzen Tag lang in der Kemenate der Dame zu verstecken, weil er sie nicht rechtzeitig vor Sonnenaufgang verlassen hat. 51 Die Offenbarungen der Adelheid Langmann (wie Anm. 46), S. 26f.

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du wie eine Frau, die y sagt‘. Dieser anschauliche Dialog ist selbst in einen Dialog eingebettet, in dem Adelheid die Gelegenheit gegeben wird, der Predigt Christi zu antworten: do sprach ir sele: „herre, der himil ist mir zu nihte, daz ertrich ist mir zu swach, der engil trost deraht ich niht, der menschen trost wil ich nit. herre, hastu iht libe zu mir und hastu iht aht mein, so kum selber zu mir und send mir kein poten und küss mich mit dem kusse deins mundes.“ do si daz gesprach, so seig si hin als do vor.52

Der Satzteil küss mich mit dem kusse deins mundes bietet ein klares Beispiel für diskursive Polyphonie,53 indem die Stimme der sponsa mit der Adelheids zusammen erklingt und dadurch die Art und Weise unterstreicht, in der die Struktur des Hohen Liedes auf beiden Ebenen des Dialogs widergespiegelt wird – d.h. im Dialog zwischen Christus und Adelheid und in dem zwischen junkherre und junkfraw. Diese private Predigt verdrängt völlig die reale, öffentliche Predigt des lesmaisters, die Adelheid nicht hört und die dem Leser nicht vermittelt wird. Darüber hinaus lässt sich Adelheids Flehen, Christus möge immer direkt zu ihr kommen, anstatt einen Boten zu schicken, in diesem Zusammenhang als eine Ablehnung der normalen liturgischen Strukturen verstehen: Sie interessiert sich weder für die Worte des Priesters, noch für andere Vertreter der religiösen Hierarchie. Trotzdem erahnen wir, dass sich private und öffentliche Predigt thematisch überschneiden. Als Adelheid sich von ihrer Ohnmacht erholt hat, weist Christus sie an, den lesmaister über das Thema der Predigt, die sie nicht gehört hat, zu befragen. Doch selbst hier ist die öffentliche Predigt nicht um ihrer selbst willen von Interesse. Adelheids Nachfrage ist nicht vergleichbar mit der eines Studenten, der eine Vorlesung verpasst hat und um die Tischvorlage bittet, damit er den Stoff nachholen kann. Die Frage nach der öffentlichen Predigt hat lediglich den Zweck, die private zu validieren: Christus unterstreicht, sie solle die Frage stellen zu einer bewerung dirr gnoden.54 Die Antwort des Predigers liefert in der Tat eine Validierung, denn er behauptet – recht rätselhaft – er habe von unserm herren und von dir gepredigt.55 Es scheint kaum plausibel, dass er hier buchstäblich Privates öffentlich gemacht und den anderen Nonnen etwa eine Art von detaillierter Berichterstattung über die mystischen Erfahrungen Adelheids geliefert hätte – auch wenn es den Anschein hat, als sei ihm auf wundersame Weise Einblick in die Natur dieser Erfahrungen zu Teil geworden. Seine Antwort auf Adelheids Frage ergibt mehr Sinn, wenn man sie dahingehend versteht, dass seine Predigt die Liebe des sponsus für die sponsa im weiteren Sinne

|| 52 Ebd., S. 27. 53 Hld 1:1: Osculetur me osculo oris sui […]. Übersetzung: Die Bibel (wie Anm. 16), S. 666: ‚Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes‘. 54 Die Offenbarungen der Adelheid Langmann (wie Anm. 46), S. 27. 55 Ebd.

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zum Gegenstand gehabt hatte – oder mit anderen Worten, die Möglichkeit einer erotischen Beziehung, wie sie innerhalb der privaten Predigt thematisiert und gleichzeitig durch diese exemplifiziert wird. Wenn das der Fall ist, kann man in seiner Predigt in gewisser Weise eine ähnliche Funktion sehen, wie im MinneExkurs in Gottfrieds Tristan, in dem der Erzähler eine allgemeine Betrachtung über die Liebe genau an der Stelle liefert, an der Tristan und Isolde den Liebesakt vollziehen.56 Im Gegensatz zum Tristan, in dem die allgemeinen Ausführungen des Erzählers über die Liebe dazu dienen, einen Schleier des Anstandes über die private Vereinigung der Liebenden zu ziehen, ist die Situation in Adelheids Text jedoch invertiert: Hier ist es der private Diskurs, der den öffentlichen verbirgt, und wir bekommen nie zu hören, was der lesmaister denn nun zum Thema zu sagen hatte. Insgesamt äußern sich die in diesem Aufsatz untersuchten Texte positiv und sogar enthusiastisch zum Phänomen der simultanen Diskurse, wobei sie einräumen, dass es auch gewisse kommunikative Verluste mit sich bringt. Diese Art von Simultanität ist grundsätzlich von den Standard-Modellen der hermeneutischen Schriftauslegung (zum Beispiel dem vierfachen Schriftsinn) zu unterscheiden.57 Während es eine Grundlage der mittelalterlichen Hermeneutik ist, Texte oder einzelne Sätze als etwas zu sehen, was auf mehreren Ebenen interpretiert werden kann, hindert den Leser nichts daran, sie alle zu absorbieren: Die allegorische oder tropologische Ebene beeinträchtigt die wörtliche nicht, und der Exeget kann sich Zeit dafür lassen, sich nach eigenem Ermessen frei zwischen ihnen zu bewegen. Wenn jedoch die entscheidenden Aussagen gleichzeitig gesprochen oder gesungen anstatt in den Seiten eines Buches gelesen werden, wird Zeit zu einem entscheidenden Faktor: Stimme und Vortrag sind zeitliche Phänomene – wer jetzt eine Aussage versäumt, kann sie nicht später rezipieren. Dies führt dazu, dass Äußerungen, die einander ergänzen, was ihre Bedeutung betrifft, miteinander konkurrieren, wenn es um die Aufmerksamkeit der Zuhörer geht, wobei die ‚höheren‘ Diskurse die ‚niedrigeren‘ zwangsläufig übertönen. Den Lesern wird eine gewissermaßen privilegierte Position eingeräumt, wenn sie in den Besitz von Informationen kommen, auf die das religiöse Subjekt im Text keinen Zugriff hat: Den Lesern wird etwa gesagt, ‚Christus sagte x, während der lesmaister y sagte‘, Adelheid dagegen weiß nur, dass Christus x sagte.

|| 56 Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. von Rüdiger Krohn nach dem Text von Friedrich Ranke, Stuttgart 1980 (RUB 4471–4473), v. 12183–12357. 57 Zur mittelalterlichen Schriftauslegung siehe Hartmut Freytag, Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11. und 12. Jahrhunderts, Bern 1982 (Bibliotheca Germanica 24); Alastair J. Minnis, „Quadruplex Sensus, Multiplex Modus: Scriptural Sense and Mode in Medieval Scholastic Exegesis“, in: Interpretation and Allegory: Antiquity to the Modern Period, hg. von Jon Whitman, Leiden u.a. 2000 (Brill’s Studies in Intellectual History 101), S. 231–256.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die untersuchten Texte die Bedeutungseinbuße, die aus der Begrenztheit menschlicher Wahrnehmung und menschlicher Emotionen resultiert, ästhetisieren: Die Personen der Trinität mögen in der Lage sein, verschiedene Worte mit einer einzigen Stimme zu singen und diese Worte mit absoluter und ewiger Klarheit zu hören, aber für den Menschen sind Spiritualität und Gotteserlebnisse grundsätzlich an das Zeitliche gebunden, sodass es gerade das Hören und Nicht-Hören ist, das Wahrnehmen eines Diskurses und das Ausblenden eines anderen, das die Leser letztendlich in die Lage versetzt, zu verstehen, was es heißt, eine mystische Begegnung zu haben.

Jutta Eming

Sprechmagie und Sprechakttheorie Ein Versuch über Parzivals zweiten Aufenthalt auf der Gralburg Die entscheidenden Ereignisse in Wolframs von Eschenbach Parzival sind um zwei Besuche des Protagonisten auf der Gralburg gruppiert (224–248,16; 787,21–796,27). Seit jeher steht in der umfangreichen, mittlerweile unübersehbar gewordenen Parzival-Forschung der erste dieser Besuche im Zentrum des Interesses. Mit gutem Grund: Parzival begeht dabei einen verhängnisvollen, hinsichtlich seiner narrativen Motivation aber alles andere als leicht einsichtigen Fehler, dessen Inhalte und dessen Kompensation die Forschung bis heute beschäftigen. Mit gewissen Einschränkungen1 lässt sich sagen, dass der gesamte nun folgende Weg des Helden durch den Roman davon bestimmt ist, dieses Versäumnis zunächst anzuerkennen und sodann nach Wegen zu suchen, es auszugleichen. Für den zweiten Besuch ist damit im Verlaufe des Romans eine wesentliche Voraussetzung geschaffen worden: Parzival weiß inzwischen, wie er sich zu verhalten hat. Der epistemische Status dieser veränderten Haltung ist allerdings ebenfalls umstritten. Kontroversen dazu betreffen die Fragen, ob Parzival in der Zwischenzeit im emphatischen Sinne etwas erkannt oder gelernt hat, und von wem, ob er Schuld auf sich geladen hat, und wodurch, und ob er diese Schuld verbüßt hat. In jüngster Zeit haben sich die Schwerpunkte in diesen Fragen dahingehend verlagert, dass problematisiert wird, welche Möglichkeiten des Verständnisses er überhaupt hatte.2 Diese Diskussion ist hier zunächst nicht zu vertiefen. Parzival weiß beim zweiten Besuch auf der Gralburg genug, um seinen Fehler nicht ein weiteres Mal zu begehen. Genauer eingehen möchte ich hingegen auf die Inszenierung des entscheidenden Moments, in dem sich alles zum Richtigen wendet. Weil Parzival durch mehrere Figuren des Textes – Sigune, Kundrie und Trevrizent – nachträglich erfahren hat, dass während des ersten Besuchs von ihm erwartet worden war, nach dem Grund für das ostentative Leid des Gralkönigs zu fragen, ist er das zweite Mal auf diesen Punkt gut vorbereitet. Die erneute Begegnung mit dem Gralkönig läuft in dieser Hinsicht wie nach einem Skript ab. Doch hat sich die Szenerie gegenüber dem ersten Mal einschneidend verändert. Damals war auf der

|| 1 Erheblichen Erzählraum nimmt zum Beispiel der Weg des ‚zweiten Helden‘ Gawan ein, vgl. dazu den Überblick bei Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36), S. 142–154. 2 Vgl. insbesondere Bernd Schirok, „Die Inszenierung von Munsalvaesche. Parzivals erster Besuch auf der Gralburg“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 46 (2005), S. 39–78, mit ausführlicher Diskussion der Forschung. Einen Überblick über die Forschung zu dieser Problematik bis zum Jahr 2004 vermittelt Bumke (wie Anm. 1), S. 126–134.

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Gralburg eine opulente, in strahlenden Glanz getauchte, schier überwältigende Prozession um den Gral entfaltet worden, die durch den leidenden Gralkönig Anfortas und die Tränenstürze der Hofangehörigen angesichts der blutenden Lanze allerdings eine gewisse Kontrafaktur erfahren hatte und womöglich dadurch eine Frage Parzivals verhinderte.3 Beim zweiten Mal ist das Leiden dominant geworden, es beherrscht die gesamte Szene. Über viele Verse wird der beklagenswerte Zustand von Anfortas beschrieben. Er hält sich zwar immer noch in einem äußerst luxuriösen Ambiente auf – allein die Aufzählung der Edelsteine, die zu Heilzwecken an seiner Ruhestatt angebracht worden sind, nimmt 30 Verse in Anspruch. Doch über allem liegt eine schwüle Atmosphäre von Siechtum, schweren Düften und unerträglichem Schmerz. Anfortas’ Wunde riecht übel und peinigt ihn besonders unter bestimmten Planeten-Konstellationen so heftig, dass seine Schmerzensschreie durch die gesamte Burg zu vernehmen sind. Überall im Saal sind Gewürze und Kräuter verstreut, die zur Linderung beitragen und den Geruch der Wunde überlagern sollen. Selbst auf dem Fußboden liegen Kardamom, Nelken und Muskat, die, sobald man auf sie tritt, aufplatzen und wie ein olfaktorisches Gegengift gegen die schwärende Wunde ihre Wirkung entfalten sollen. Für Anfortas führt das alles aber kaum zu einer Linderung seiner schweren Leiden. Er hat deshalb bereits mehrfach versucht, sich dadurch das Leben zu nehmen, dass er seine Augen teils über mehrere Tage vor dem lebensspendenden Gral verschlossen hielt. Stets wird er zuletzt wieder vor ihn hin getragen, sodass er die Augen widerwillig öffnen und aus dem Anblick weitere Lebensdauer beziehen muss. Immer noch gilt, was bereits beim ersten Besuch auf der Gralburg festgestellt wurde: er lebte niht wan töude (230,20),4 sein Leben besteht aus nichts anderem als Sterben. Angesichts dieses Zustands wirkt es eigentlich folgerichtig, dass Parzival vom Gralkönig nicht um eine Heilung zum Leben, sondern um den Tod gebeten wird. Aber Parzival ist der Retter, der sehnsüchtig erwartet worden war: er sprach „ich hân unsanfte erbiten, wirde ich immer von iu vrô. ir schiet nu jungest von mir sô, pflegt ir helflîcher triuwe, man siht iuch drumbe in riuwe. wurde ie prîs von iu gesagt, hie sî rîter oder magt, werbet mir dâ zin den tôt und lât sich enden mîne nôt. sît ir genant Parzivâl,

|| 3 Diesen Zusammenhang diskutiert Schirok (wie Anm. 2) ausführlich. 4 Zitierte Textausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin/New York 1998.

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sô wert mîn sehen an den grâl siben naht und aht tage: dâ mite ist wendec al mîn klage. ine getar iuch anders warnen niht: wol iu, op man iu helfe giht. iwer geselle ist hie ein vremder man: sîns stêns ich im vor mir niht gan. wan lât irn varn an sîn gemach?“ (795,2–19)

Der ‚fremde Mann‘, dessen Präsenz von Anfortas angesprochen wird, ist Parzivals Halbbruder Feirefiz. Als Nicht-Christ stellt er einen Störfaktor dar, was Anfortas auch deutlich anspricht. Wie beim ersten Besuch auf der Gralburg wird Parzival jedoch nur in indirekter Weise darauf aufmerksam gemacht, was alle von ihm erwarten. Eigentlich wäre das nicht mehr nötig, denn Parzival ist gerade deshalb auf die Gralburg zurückgekehrt: zur feierlichen Wiedergutmachung seines Versäumnisses. Er unterwirft sich den Abläufen auch in betont ritualisierter Form und fällt in gestischer Nachbildung der Trinität (795,25) zunächst weinend dreimal vor dem Gral auf die Knie, bevor er die alles entscheidenden Worte spricht: œheim, waz wirret dier? (795,29). Diese leiten unmittelbar die Genesung von Anfortas ein. Vergleichbar der Auferstehung des Lazarus, so der Erzähler (796,1f.), verwandelt sich Anfortas vor aller Augen wieder in einen gesunden Mann von unvergleichlicher Schönheit, dessen Haut mit einem ganz besonderen Glanz versehen ist und an dem Gott seine künste (796,16) zur Erscheinung bringt. Ich möchte im Folgenden versuchen, die verschiedenen Wirkweisen in der Szene um die Transformation von Anfortas zueinander in Beziehung zu setzen. Es geht, genauer, um Relationierungen von Sprache, Performanz, religiösem Wunder und Magie. Meine Überlegungen berühren dabei einige Grundfragen der Inszenierung von Glaubensinhalten und ihrer Wirkweisen in der mittelalterlichen Literatur. Diese Wirkweisen sind in beträchtlichem Maße Redeweisen, dezidiert, wie in der gerade zitierten Szene, von gesprochener Rede. Mir geht es insbesondere um die Frage, wie viel Macht, oder, moderner formuliert, wie viel wirklichkeitskonstituierendes Potenzial dem gesprochenen Wort hier und an anderen Stellen in Wolframs Dichtung zugeschrieben wird, und was als Agens solcher Macht zu verstehen ist. Anders gefragt: Durch wen oder was werden die Vorgänge verursacht?

1 Transformation und Unverfügbarkeit Bei Parzivals erstem Besuch auf der Gralburg bestand das große Problem darin, dass er die Notlage des Anfortas intuitiv hätte erfassen und in eine Frage münden lassen müssen. Angesichts der Leiden des Anfortas – so der schwere Vorwurf von Kundrie, die ihm dafür in spiegelnder Strafe die Zunge aus dem Mund wünscht (316,1–6) –

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hätte sich diese Frage geradezu aufdrängen müssen. Möglicherweise hat er Anfortas’ Notlage sogar erfasst – die entsprechenden Textstellen werden in der ParzivalForschung wahrnehmungstheoretisch hin und her gewendet (siehe unten) – doch seine innere Haltung interessiert so lange nicht, wie sie sprachlich nicht manifest wurde. Nur Handeln oder – hier – Sprechhandeln lässt sich als Ausweis von Mitleid werten. Uta Störmer-Caysa zufolge ist dieser Anspruch auf die theologische Anforderung des tätigen Mitleids zu beziehen.5 Er trifft ihn mit Wucht, nachdem er die Gralburg erst einmal verlassen hat. Während sich für den ersten Aufenthalt nachträglich der hinsichtlich theologischer Normen immerhin nachvollziehbare Anspruch abzeichnet, Mitleid als (Sprech-)Handlung zu vollziehen, bleibt offen, warum Anfortas auch beim zweiten Aufenthalt in so auffälliger Weise nicht von dem spricht, was Parzival gleich zu sagen hat, nicht davon, was er von Parzival erwartet, nicht von der Aussicht auf Leben, sondern vom Tod. Allerdings gibt es einen Wink in 795,15f.: ine getar iuch anders warnen niht: / wol iu, op man iu helfe giht. Peter Knecht hat diesen Satz ingeniös übersetzt: ‚Es ist mir verboten, Euch auf das andere aufmerksam zu machen: Wohl Euch, wenn man nachher sagen kann, daß Ihr zu helfen wißt‘.6 Ich darf es nicht, es ist verboten. Doch weshalb? Warum nicht aussprechen, was in der Luft liegt? Was beim ersten Besuch auf der Gralburg wiederum plausibel war – dass Parzival eine Sensibilität für seine Aufgabe eignen musste, welche das richtige Verhalten gleichsam nach sich zieht – wirkt nun herangetragen an eine Szene, die an dieser Stelle des Romans zuvor bereits mehrfach antizipiert und analysiert worden war. Durch Parzivals dreifache Verbeugung wirkt sie außerdem in hohem Maße ritualisiert, ein Merkmal, auf das Stephan Fuchs-Jolie näher eingegangen ist. In seiner Sicht bezieht sich das Ritual, wenn es eines ist, auf den doppelten Vorgang der „Erlösung und Erwählung“, der durch ein Bußbekenntnis eingeleitet werde.7 Denn Parzival weiß nicht nur, dass er Anfortas erlösen kann, sondern auch, dass er danach zum Gralkönig berufen wird. Aber dafür hat er, als einleitenden Akt, zunächst kniefällig für seine Verfehlung um Vergebung zu bitten. Die Gnade wird dann in Form einer zweiten Chance inszeniert, für welche der ganze Vorgang gleichsam wiederholt werden muss. Deshalb wirkt der zweite Besuch auf der Gralburg nicht wie der Zielpunkt einer Entwicklung, sondern wie ein zyklisches Ritual,

|| 5 Dieser Zusammenhang wäre vielleicht mit Blick auf den Status von Innerlichkeit und fokalem Erzählen im Roman weiter zu reflektieren. Vgl. Uta Störmer-Caysa, „Mitleid als ästhetisches Prinzip: Überlegungen zu Romanen Hartmanns von Aue und Wolframs von Eschenbach“, in: Höfische Literatur & Klerikerkultur. Wissen – Bildung – Gesellschaft. Xth Triennial Conference der Internationalen Gesellschaft für höfische Literatur (ICLS), hg. von Ingrid Kasten und Andrea Sieber, Berlin 2002, S. 64–93. 6 Wolfram von Eschenbach, Parzival (wie Anm. 4), S. 799. 7 Stephan Fuchs-Jolie, „Von der Gnade erzählen. Parzival, Gottes hulde und die Gesetze des Grals“, in: Frühmittelalterliche Studien 40 (2007), S. 435–446, hier S. 445.

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so Fuchs-Jolie: „Parzival tritt im Grunde nicht ein zweites Mal als anderer und zum Besseren verwandelter vor Anfortas, sondern die Uhr wird zurückgedreht auf den Stand vor der Verfehlung“.8 Mit dieser Erklärung ist die Künstlichkeit des Arrangements gut erfasst, doch lässt sie unberücksichtigt, dass Anfortas’ Ansprache keineswegs das repetiert, was er bei der ersten Begegnung mit Parzival formuliert hatte. Vielmehr holt Anfortas mit seinen Worten – der Erinnerung daran, dass Parzival beim ersten Mal unverrichteter Dinge von ihm aufgebrochen war und der impliziten Frage nach der Konstitution seiner Ehre – die gesamte Zeitspanne, die seit dem ersten Besuch vergangen ist, in das Hier und Jetzt des zweiten Besuchs ein. Der zweite Besuch setzt all das erworbene Wissen um die Hintergründe der Geschehnisse beim ersten Mal zu seinem Gelingen voraus. Als Grund für Anfortas’ auffällig indirekte Benennung des zentralen Vorgangs ließe sich vielleicht ein Tremendum vor dem Numinosen annehmen,9 eine Scheu vor einer besonderen Sprechweise, die Parzival hier vorbehalten ist. Es liegt nahe, darin das Heilige zu sehen, konkret die Intervention Gottes, und das Sprechen selbst schon als Kontaktzone zum Heiligen zu begreifen. Eine Charakterisierung, die sich allerdings in der Forschung für Parzivals Redeform häufiger findet, ist die des Magischen10 und einiger Derivate, wie des Quasi-Magischen11 oder des minimalisierten Magischen. Von einer solchen Schwundstufe des Magischen geht Jan-Dirk Müller in einem Vergleich zwischen Chrétien und Wolfram aus: Zwar stellt die Frage wie durch Zauberwort Anfortas in seiner früheren Gesundheit und Schönheit wieder her und damit zugleich die zerstörte Ordnung, aber die Wirkung des Worts gründet auf einer inneren Haltung des Helden. Aus diesem Grunde müssen die latent magischen Züge minimalisiert werden.12

|| 8 Ebd., S. 446. 9 Vgl. einführend zur damit angesprochenen Ambivalenz des Heiligen und in Rückgriff auf Rudolf Ottos Kategorien Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 355–357; Roger Caillois, Der Mensch und das Heilige. Durch drei Anhänge über den Sexus, das Spiel und den Krieg in ihren Beziehungen zum Heiligen erweiterte Ausgabe, München/Wien 1988, S. 45f. 10 So bereits vor Längerem Peter Czerwinski, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter, Frankfurt a.M./New York 1989, S. 129. Vgl. dazu auch die differenzierte Kommentierung von Susanne Knaeble, Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs ‚Parzival‘, Berlin/Boston 2010 (Trends in Medieval Philology 23), S. 210f., Anm. 101. 11 Formulierung von Ulrich Ernst, „Wolframs Gral und der Schatz der Templer. Theokratie, Heterotopie und Imagologie im Parzival“, in: Artushof und Artusliteratur, hg. von Matthias Däumer, Cora Dietl und Friedrich Wolfzettel, Berlin/Boston 2010 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 7), S. 191–214, hier S. 194. 12 Jan-Dirk Müller, „Percevals Fragen – oder ein ‚Parzival‘ ohne Mitleidsfrage?“, in: Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext. Tübinger Kolloquium 2012, hg. von Klaus Ridder, Susanne Köbele und Eckart Conrad Lutz, Berlin 2014 (Wolfram-Studien 23), S. 21–49, hier S. 41.

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Ein zentrales Indiz für diese Minimalisierung des Magischen liegt für Müller darin, dass der Wortlaut der Frage, die Parzival beim zweiten Mal stellt, leicht abweicht von dem, den man beim ersten Besuch von ihm erwartet hatte. Bei Parzivals Frage handele es sich also nicht um eine Formel. Es gehe gerade darum, so Müller weiter, die Erlösungsfrage von einer magischen Formel abzusetzen. Bei dieser kommt es auf den ganz genauen Wortlaut an, damit die Wirkung eintritt, bei jener nicht [...]. Was Wolfram an Parzival erzählt, soll von keiner Magie [...] kontaminiert sein.13

Ich möchte im Folgenden versuchen, Müllers These der ‚inneren Haltung‘ weiter zu denken, gehe aber zunächst auf den Umstand ein, dass Müller das Magische zur Erklärung der Wirkung – weitgehend – zurückweist. Auffällig daran scheint, dass der Begriff des Wunders gar nicht in Betracht gezogen wird, obwohl es zweifellos ein Wunder ist, also ein von Gott verfügtes Wirken, das Anfortas heilt. Die augenblickliche Transformation des Anfortas, die durch Parzivals Frage ausgelöst wurde und die schon bei seinem ersten Besuch auf der Gralburg erhofft worden war, vollzieht sich mit Gottes Hilfe. Die religiösen Bezüge werden zudem durch den LazarusVergleich, die Bemerkung zu den Künsten Gottes und die dreifache Verneigung vergegenwärtigt. Parzival ist eine Erlöserfigur. Die Sprachmacht, die ihm dafür zugeschrieben wird und die dezidiert eine Macht der mündlichen Rede ist, wird jedoch kaum thematisiert oder konzeptualisiert. Das Problem scheint darin zu liegen, dass Parzival in eine Kontaktzone mit dem Heiligen tritt, wenn er die Worte ausspricht, die das Wunder initiieren. Indem Parzival scheinbar die Möglichkeit in der Hand hält, die Heilung von Anfortas durch einen Sprechakt anzustoßen oder nicht, könnte die prinzipielle Unverfügbarkeit Gottes im literarischen Text unterlaufen werden. Dass dies nicht sein könne, hat vor einiger Zeit Walter Haug betont, und zwar auch am Beispiel des Parzival: „Gnade ist narrativ nicht verfügbar, man kann nur so auf sie hin erzählen, daß diese Unverfügbarkeit zutage tritt“; „der Erzähler kann Gott nicht wie ein beliebiges Motiv in sein Schema einsetzen“.14 Das Problem der Unverfügbarkeit der Gottesinstanz und ihre Reflexion in literarischen Texten des Mittelalters ist ein sehr grundsätzliches, das sich aus verschiedenen Perspektiven stellt. Für den Parzival ist Unverfügbarkeit zuletzt von John Greenfield untersucht und auf die Häufung von Fragen des Protagonisten bezogen worden, die in den entscheidenden Punkten, so Greenfield, unbeantwortet blie-

|| 13 Ebd. 14 Walter Haug, „Die ‚Theologisierung‘ des höfischen Romans in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘ und in der ‚Queste del Saint Graal‘“, in: ders., Positivierung von Negativität. Letzte kleine Schriften, hg. von Ulrich Barton, Tübingen 2008, S. 157–171, hier S. 168.

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ben.15 Ein ähnliches Problem wie das für den Parzival skizzierte hat sich mit Blick auf den Armen Heinrich Hartmanns gestellt, in dem ebenfalls ein regelrechtes Rezept erläutert wird, um eine Wunderheilung zu erwirken.16 Um Parzival also vom Eindruck der Verfügung über göttliches Wirken zu lösen, wird auf den Magie-Begriff rekurriert, wenn auch tentativ, denn dieser ist problematisch und voraussetzungsreich genug. Die begriffliche Unentschiedenheit gibt den Anlass für den folgenden Versuch, den belasteten Magie-Begriff mit Ansätzen aus der Performativitätsforschung zu konfrontieren und zu fragen, ob mit letzteren eine Möglichkeit gegeben ist, die Vorgänge weiter zu differenzieren und präziser zu benennen. Dies scheint nicht zuletzt deshalb naheliegend, weil im Zuge der Konjunktur der sprach- und kulturwissenschaftlichen Performanzforschung der letzten Jahre die Rolle magischer Sprachauffassungen hervorgehoben worden ist. Ist mit Begriffen von Performanz und Performativität also vielleicht eine Möglichkeit gegeben, die offensichtlich schwierigen Probleme um die Bezeichnung von Parzivals Redeform zu vermeiden? Genauer: Vollzieht sich mit Parzivals Sprachmagie oder – da sie dezidiert mündlich vermittelt sein muss – seiner ‚Sprechmagie‘ nicht genau das, was in der Sprechakttheorie die ‚ursprünglichen Performativa‘ bezeichnen?17 Auf die Frage des religiösen Wunders werde ich am Ende zurückkommen.

|| 15 Vgl. John Greenfield, „sîner frâge maht and the Question in the Quest. Verfügbarkeit of the Grail in Wolfram’s Parzival?“ in: Unverfügbarkeit, hg. von Ingrid Kasten, Berlin 2012 (Paragrana 21/2), S. 132–147. 16 Vgl. Birgit A. Jensen, „Transgressing the Body: Leper and Girl in Hartmann von Aue’s Armer Heinrich“, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 61 (2006), S. 103–126, hier S. 114–118. Vgl. auch, mit Perspektive auf dem an der Wunderheilung beteiligten Mädchen, Dieter Kartschoke, „Der Herr von Schwaben und das Bauernmädchen im Armen Heinrich Hartmanns von Aue“, in: Paare und Paarungen. Festschrift für Werner Wunderlich zum 60. Geburtstag, hg. von Ulrich Müller und Margarete Springeth unter Mitwirkung von Michaela Auer-Müller, Stuttgart 2004 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 420), S. 213–218, hier S. 215f. 17 Von ‚ursprünglichen Performativa‚‘ spricht Sibylle Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Thesen über Performativität als Medialität“, in: Kulturen des Performativen, hg. von Erika FischerLichte und Doris Kolesch, Berlin 1998 (Paragrana 7/1), S. 33–57, passim; dies., „Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Uwe Wirth, Frankfurt a.M. 2002 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1575), S. 323–346, passim; in Austins Vorlesungen findet sich dagegen die Bezeichnung ‚explizit performative Äußerungen‘ (explicit performative), vgl. John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do Things with Words), deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, Stuttgart 21979 (RUB 9396), passim.

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2 Zum Begriff der Magie Eine einheitliche, für alle Epochen und Kontexte verbindliche Definition von Magie dürfte sich nicht erstellen lassen. Der Begriff ist komplex und für verschiedene Kulturen und Diskurse unterschiedlich festzulegen. Ich versuche deshalb im Folgenden nicht, ihn in irgend einer Weise definitorisch zu bestimmen, sondern konzentriere mich auf die Frage des Verhältnisses von Magie und Sprachlichkeit. Dies umgreift systematische und historische, auf das Mittelalter bezogene, Aspekte. Zu erwähnen ist grundsätzlich, dass Auffassungen, denen zufolge magisches Denken ein Weltverhältnis der Vormoderne definiert, das im Gegensatz zu wissenschaftlichem Denken oder zu Begriffen von Rationalität steht, zu kurz greifen.18 Als ebenso problematisch hat die Annahme zu gelten, dass magisches Denken im Mittelalter, als einer von der christlichen Religion geprägten Epoche, in archaischen Residuen weiter wirkt und damit gewissermaßen eine Vormoderne der Vormoderne bildet.19 Abhängig davon, welcher Begriff von Magie zugrunde gelegt wird, ist es möglich, auch für die Moderne die Existenz magischer Strukturen geltend zu machen, so in psychoanalytischer Perspektive für die kindliche Bewusstseinsphase von der Allmacht der Gedanken.20 Eine konventionelle Definition von magischem Denken, die ich für das Folgende zugrunde lege, besagt, dass Magie eine nach sympathetischen, aber zum großen Teil nicht offenbaren (okkulten) Strukturen organisierte Welt voraussetzt, die verschiedenste Bezugnahmen zwischen Mikro- und Makrokosmos ermöglicht.21 Diese Bezüge können zu unterschiedlichen Zwecken mittels verschiedener Praktiken, einschließlich Sprechweisen, aktualisiert und genutzt werden. Diese Praktiken werden unter anderem als Zauber bezeichnet, unter dieser Voraussetzung sind sie im Allgemeinen auch negativ konnotiert. Augustinus konzeptualisiert eine Form der magischen Kontaktaufnahme als Vertrag mit Dämonen und fundiert ihn in seiner Theorie der konventionellen Zeichen: Magische Wirksamkeit beruht demnach auf ‚einer Art Sprachvertrag‘ als einem Ensemble verabredeter Bedeutungen.22 Das ma-

|| 18 Dem Standardwerk von Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, 8 Bde., New York 1923–1958, liegt diese These zugrunde; ihre Zuspitzung, die sogenannte Yates-These, dass Magie als regelrechter Vorläufer moderner Wissenschaft zu sehen sei, hat sich nicht durchgesetzt, vgl. Frances A. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964. 19 So etwa Jacques Le Goff, „Das Wunderbare im mittelalterlichen Abendland“, in: ders., Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart 1990, S. 39–63. 20 Vgl. Sigmund Freud, Totem und Tabu, Frankfurt a.M. 61978 (Gesammelte Werke 9), S. 93–121. 21 Nach Christoph Daxelmüller, Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie, Zürich 1993, S. 25f. 22 So formuliert, im Rückgriff auf Dieter Harmening, Bernd-Christian Otto, Magie. Rezeptions- und diskursgeschichtliche Analysen von der Antike bis zur Neuzeit, Berlin 2011 (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 57), S. 319.

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gische Ritual oder die magische Sprechweise wirken nicht als solche, sondern indem sie den Kontakt zwischen Mensch und Dämon medialisieren.23 Oder, anders formuliert: „Die äußerliche Handlungsbeschreibung erfasst lediglich den sichtbaren Phänomenbereich“.24 Die Antwort auf die Frage, warum Parzival nicht nur nichts mit einem Wunder, sondern auch nichts mit Magie zu tun haben soll, ist mit Blick auf den Umstand ganz naheliegend, dass der Bereich des Magischen im Mittelalter als gefährlich und als gefährdend gilt – zumindest der Bereich der magia daemoniaca, und dies ist im Hochmittelalter der einzige, für den in klerikalen Diskursen der Magie-Begriff verwendet wird.25 Wer sich magisch betätigt, also zu Zauber greift, kann das dieser Lehre gemäß nur mit Hilfe von Dämonen. Daneben werden in Bereichen der ArtesCurricula auch Themen behandelt, die aus moderner Sicht klar im Kontext magischen Denkens zu verorten sind, wie die Astrologie. Dieser grenzgängerische Status wird in der theologischen Diskussion des Mittelalters jedoch ebenfalls gesehen, und er wird reflektiert.26 Magisches ist also riskantes Wissen, aber eines, das diskursiviert wird. Am Rande sei darauf hingewiesen, dass Wolframs Parzival von magischen, teilweise auch von alchemischen Vorstellungsinhalten nur so strotzt. Dies gilt insbesondere für die Schilderungen der Ereignisse auf der Gralburg, was anlässlich der eben besprochenen Passage etwa mit Blick auf die stellaren Einflüsse hervorzuheben ist, welche die Wunde des Anfortas schmerzen lassen, oder die Edelsteine, die eine heilsame Wirkung auf den Kranken ausüben können, und dies übrigens deshalb, weil sie als Medien für die positiven Einflüsse von Planeten gelten.27

|| 23 Zu diesem Zusammenhang vgl. ebd., S. 273–336. 24 Wolfgang Brückner, Bilddenken. Mensch und Magie oder Missverständnisse der Moderne, Münster u.a. 2013 (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 122), S. 18. Brückner geht es in diesem Zusammenhang um das Argument, dass keine Handlung als solche, sondern das ihr zugrunde liegende jeweilige Referenzsystem im Mittelalter den Unterschied zwischen Magie und Religion ausmacht. 25 Die einzig positiv besetzte, als solche auch höchst folgenreiche Variante des Magie-Begriffs, die das Mittelalter zulässt, ist die aus dem Neuen Testament bekannte Bezeichnung magi für die drei Weisen aus dem Orient, die sich nach Bethlehem aufmachen, nachdem sie den Stern gedeutet haben. Vgl. grundsätzlich Frank Fürbeth, „Zum Begriff und Gegenstand von Magie im Spätmittelalter. Ein Forschungsproblem oder ein Problem der Forschung?“, in: JOWG 12 (2000), S. 411–422. 26 Astrologie als prekäres Wissen zwischen Früh- und Hochmittelalter expliziert gut nachvollziehbar bei Valerie I. J. Flint, The Rise of Magic in Early Medieval Europe, Princeton 1991, S. 92–101 und 128–146. Vgl. auch den Überblick bei Richard Kieckhefer, Magie im Mittelalter, München 1995 (dtv 4651), S. 135–154. 27 Ausführlicher vgl. Jutta Eming, „Aus den swarzen buochen. Zur Ästhetik der Verrätselung von Erkenntnis und Wissenstransfer im Parzival“, in: Magia daemoniaca, magia naturalis, zouber. Schreibweisen von Magie und Alchemie in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Peter-André Alt, Jutta Eming, Tilo Renz und Volkhard Wels, Wiesbaden 2015 (Episteme in Bewegung 2), S. 75–99.

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Wer sich nach mittelalterlichen Vorstellungen der Magie bedient, nimmt also grundsätzlich einen Kontakt mit Dämonen auf und geht in letzter Konsequenz den Bund mit dem Teufel ein. Welcher Stellenwert kommt dabei dem gesprochenen Wort oder der Zauberformel zu? Offensichtlich ein großer. Noch das Faustbuch von 1587 – in einer Epoche, in der man allerdings von Zauberei geradezu besessen ist und in der sich längst eine Popularisierung der ursprünglich klerikalen Kreisen vorbehaltenen Zauberei-Diskurse vollzogen hat –28 verzichtet darauf, die Formeln, mit denen Faustus den Teufel beschwört, eigens abzudrucken. Wie obgemeldt worden / stunde D. Fausti Datum dahin / das zulieben / das nicht zu lieben war / dem trachtet er Tag vnd Nacht nach / name an sich Adlers Flgel / wolte alle Grnd am Himmel vnd Erden erforschen / dann sein Frwitz / Freyheit vnd Leichtfertigkeit stache vnnd reitzte jhn also / daß er auff eine zeit etliche zuberische vocabula / figuras / characteres vnd coniurationes / damit er den Teufel vor sich mchte fordern / ins Werck zusetzen / vnd zu probiern jm frname. Kam also zu einem dicken Waldt / wie etliche auch sonst melden / der bey Wittenberg gelegen ist / der Spesser Wald genandt / wie dann D. Faustus selbst hernach bekandt hat. Jn diesem Wald gegen Abend in einem vierigen Wegschied machte er mit einem Stab etliche Circkel herumb / vnd neben zween / daß die zween / so oben stunden / in grossen Circkel hinein giengen / Beschwure also den Teuffel in der Nacht / zwischen 9. vnnd 10. Vhrn.29

Der Grund dafür, dass die Zauberformeln selbst hier nicht wiedergegeben werden, ist zum einen darin zu sehen, dass die Leser nicht in die Versuchung geführt werden sollen, sich selbst willentlich mit dem Teufel einzulassen. Zum anderen ist die Möglichkeit zu bedenken, dass hier auch mit der Gefahr einer nicht willentlichen Teufelskommunikation gerechnet wird. Zur obsessiven Beschäftigung des 16. Jahrhunderts mit Teufelsversuchungen in allen Lebenslagen, selbst vergleichsweise banalen Alltagsverrichtungen, könnte diese Befürchtung zumindest passen.30 Ich spiele damit auf die zunächst von Thomas von Aquin ausgearbeitete Lehre vom pactus tacitus an, der gemäß es ausreichen könnte, die Formeln bei der Lektüre vor sich hin zu murmeln, um magische Wirksamkeit in Gang zu bringen. In diesem Falle löst sich die Formel oder die Praktik also vollkommen von der Intention desjenigen, der sie ausführt. Die Formen der Teufelskommunikation oder Divinationsformen wurden von Thomas allerdings differenziert: Vom pactus tacitus, der gleich-

|| 28 Vgl. dazu die Untersuchung von Daxelmüller (wie Anm. 21). 29 Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke, hg. von Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart 1988 (RUB 1516), S. 15,17–33. 30 Vgl. dazu insbesondere die als Theatrum Diabolorum bekannt gewordene, ab 1569 in mehrfacher Erweiterung bei Sigmund Feyerabend gedruckte Kompilation sogenannter Teufelsbücher, zu letzterer auch Günther Mahal, „Teufelsbuch“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/New York 2007, S. 592–594.

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sam automatischen Kontaktaufnahme mit Dämonen, sind in erster Linie Techniken wie Bleigießen, Losen, Sternbetrachtung usw. betroffen.31 Wie das Zitat zeigt, muss Faustus, damit die Teufelsbeschwörung wirksam wird, zu bestimmten Praktiken greifen. Er muss sich an einen bestimmten Ort begeben, in diesem Falle in den Wald, an einen Kreuzweg, und geometrische Figuren auf den Boden zeichnen. Darüber hinaus will er natürlich den Teufel beschwören. Das Zusammenspiel von Zauberformel, Praktiken und Intention erst führt zum gewünschten Erfolg. Letzterer Aspekt wird im Kontext von Fausts zunehmender Neigung zu den magischen Künsten auch durch das dort zitierte Sprichwort, dass ‚wer zum Teufel will‘, auch bei ihm landen wird, manifest.32 Exemplarisch an diesem aus der Theorie des Teufelspakts bekannten Zusammenhang scheint mir der Umstand, dass mit Sprache, Praktiken und einer bestimmten Intention mehrere Komponenten zusammen kommen müssen, um magisches Wirken zu verursachen. Diese lassen sich auch aus anderen Kontexten abstrahieren. Von der ‚inneren Einstellung‘, die Müller bei Parzival als Voraussetzung für den Erfolg von Anfortas’ Heilung sieht, ist man damit nicht mehr weit entfernt. Ich komme darauf zurück. Die Formelhaftigkeit magischen Sprechens und seine transformierende Kraft in bestimmten Kontexten ist es auch, die seine Nähe zu Sprechakten im Sinne John L. Austins ausmacht. Dies ist in der Performanz- und Sprechaktforschung bereits thematisiert worden. Vor allem die Philosophin Sibylle Krämer hat das wirklichkeitskonstituierende Potenzial von Sprechakten, insbesondere der sogenannten ‚ursprünglichen Performativa‘ in einem allgemeinen Sinne auf historische Konzepte von Magie bezogen.33 Auch diese, so ihr Argument, greifen direkt in Wirklichkeit ein und transformieren sie; Zeichen und Bezeichnetes fallen zusammen. Dazu folgt nun ein Exkurs zur Sprechakttheorie und ihrer kulturtheoretischen Rezeption.

3 Sprechakte, ursprüngliche Performativa und illokutionäre Akte Die Entwicklung der Theorie von Austin über Sprache als Handlungsvollzug verlief in mehreren Etappen. Sie begann mit der Entdeckung der sogenannten explizit performativen Äußerungen, d.h. Äußerungen, deren performative gegenüber der deskriptiv-konstativen Funktion in den Vordergrund tritt und mit denen im Moment der Äußerung genau die Handlungen vollzogen werden können, die sprachlich

|| 31 Vgl. zum gesamten Zusammenhang Daxelmüller (wie Anm. 21), S. 123–127. 32 Aber es ist ein wahr Sprichwort: Was zum Teuffel will / das lßt sich nicht auffhalten / noch jm wehren, Historia von D. Johann Fausten (wie Anm. 29), S. 14,26f. 33 Vgl. Krämer (wie Anm. 17).

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benannt sind. Beispiele sind: ‚Ich spreche Ihnen mein Beileid aus‘, ‚Ich empfehle Ihnen‘, ‚Ich erkläre mich dafür‘.34 Die Äußerungen treten in diesem Fall vollkommen an die Stelle von Handlungen bzw. sind diese Handlungen: ‚Ich grüße Dich‘.35 Dass Wirklichkeit durch Sprechakte nicht nur konstituiert, sondern auch transformiert wird, bezeugt auch das bekannte Beispiel: ‚Ich erkläre Euch zu Mann und Frau‘. Wer noch nicht verheiratet war, wird es durch diesen Satz. Wie das magische Ritual oder die magische Sprechweise nur unter der Voraussetzung wirken, dass sie auf verabredeten Zeichen beruhen, ist der Erfolg der gerade skizzierten Handlungen von Kontexten abhängig, innerhalb derer man sich über diese Redeweisen verständigt hatte und innerhalb derer sie allein funktionieren. In der Moderne sind das – darauf hat etwa Pierre Bourdieu hingewiesen36 – zum Beispiel staatliche oder kirchliche Institutionen, welche etwa einem Standesbeamten den Status verleihen, eine Heirat qua Sprechakt vollziehen zu können. Der Sprecherstatus kann unterschiedlich spezifisch ausgeprägt sein, bei der Äußerung: ‚Ich eröffne die Sitzung‘ wird kein spezifischer Status vorausgesetzt, hier muss der Sprecher allgemein primus inter pares sein. Äußerungen wie ‚Ich spreche Ihnen mein Beileid aus‘ sind dagegen an keinen Status gebunden, sondern – wie jede Äußerung – lediglich an einen bestimmten Kontext. In der weiteren Entwicklung seiner Theorie bzw. im Verlauf der Vorlesungsreihe, die sie expliziert, ist Austin dann zu der Auffassung gelangt, dass jede sprachliche Äußerung auch eine Handlung vollziehen oder eine nach sich ziehen muss, um nicht als ‚wahr‘, aber als im kommunikativen Sinne ‚geglückt‘ gelten zu können. Dies führt ihn zu der bekannten Unterscheidung von lokutionärem, illokutionärem und perlokutionärem Akt in ein und derselben Äußerung. In dieser Form hat sich Austins Ansatz als Theorie der Sprechakte in der ordinary language philosophy und darüber hinaus etabliert. In kritischer Rezeption Austins hat John R. Searle insbesondere die Rolle der illokutionären Akte mit Blick auf einen Aspekt weiter differenziert, der als ‚Kontext‘ bereits angesprochen worden ist. Searle machte geltend, dass ein und dieselbe Äußerung mehr als einen illokutionären Akt realisieren kann und dass illokutionäre Akte in der Alltagssprache – aber auch im literarischen, metaphorischen usw. Sprachgebrauch – oft implizit transportiert werden.37 Eine Frage wie ‚Kannst du mir das Salz reichen?‘, geäußert bei Tisch während einer gemeinsamen Mahlzeit, fragt nicht nach einer Fähigkeit des Hörers, sondern stellt eine höfliche Bitte dar, das Salzfass an den Sprecher weiterzureichen.38 Dass ein solcher ‚indirekter Sprechakt‘ auch als solcher verstanden wird, ist, so Searle, vermutlich || 34 Vgl. Austin (wie Anm. 17). 35 Ebd., S. 101. 36 Vgl. Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990. 37 Vgl. John R. Searle, Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts, Cambridge 1979. Für den Hinweis auf Searle danke ich Angela Schrott. 38 Ebd., S. 45–48.

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sprach- und kulturabhängig.39 Hinsichtlich des Besuchs auf der Gralburg lässt sich der Aspekt der Kontextabhängigkeit auf das implizite Vorverständnis aller Anwesenden beziehen, dass es Parzival nicht in erster Linie darum geht, sich nach dem Befinden des Gralkönigs zu erkundigen, sondern darum, seinen früheren Fehler wiedergutzumachen und diesmal den König zu erlösen. In der Kulturwissenschaft hat die Rezeption von Austins Entdeckungen weite Kreise gezogen, die hier nicht nachzuvollziehen sind. Es geht einzig um Aspekte, die zur Abgrenzung von oder Korrelierung mit magischen Sprachkonzepten relevant sein könnten. Auch in der Performativitätsforschung wird der Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache thematisiert, wobei sie sich allerdings deutlich mehr für erstere interessiert: „Gesprochene und geschriebene Sprache unterscheiden sich nicht nur in der Erscheinung, sondern auch in der Art von Handlungen, die wir mit ihnen vollziehen können“.40 Wie ein Zauberspruch für seine Wirksamkeit direkt an seine Aussprache gebunden ist, so auch manche Performativa (‚Ich erkläre Euch zu Mann und Frau‘), andere hingegen nicht (‚Ich entschuldige mich‘). Im Zuge der Entwicklung der kulturgeschichtlichen Performativitätsforschung hat Sybille Krämer vor gegenaufklärerischen Tendenzen in Theorien von Performanz und Performativität gewarnt.41 Sie hat in diesem Zusammenhang betont, dass die abendländische Kultur auch aus einer Überwindung magischen Denkens hervorgegangen sei,42 hinter welche ein gewisses „magisches Identifikationspotential“ der neueren Theorieansätze nicht wieder zurückfallen sollte.43 Allerdings begrenzte sie den Magie-Begriff auf den eben erläuterten Zusammenhang, den Zusammenfall von sprachlicher Äußerung und Handlung, insbesondere mündlicher Äußerung.44 Das ist, wie noch weiter ausgeführt wird, vermutlich nicht ausreichend. Die wirkmächtigste Adaption der Sprechakttheorie in der Kulturwissenschaft ist mit dem Namen Judith Butler verbunden. Butler vertritt eine Theorie der performativ konstruierten Geschlechtsidentität, welche heftige Diskussionen und nicht zuletzt viele Missverständnisse hervorgerufen hat, darunter – als besonders strittigen Punkt – hinsichtlich des Wirklichkeitsbezugs oder der wirklichkeitskonstituieren-

|| 39 Ebd., S. 50. 40 Krämer bezieht sich hier auf Christian Stetter, vgl. Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“ (wie Anm. 17), S. 331f. 41 Vgl. ebd., insbesondere S. 323f. und S. 346, mit ähnlichem Impetus auch Otto (wie Anm. 22), der an der inflationären Verwendung des Magie-Begriffs vor allem in der Alltagskultur Anstoß nimmt und betont, das Magie nicht ‚Wissen von etwas‘ sei, vgl. insbesondere ebd., „Einleitung“, S. 1–36. 42 Vgl. Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“ (wie Anm. 17), S. 323. 43 Ebd., S. 325. 44 Vgl. auch ihre Ausführungen zum Ritual, ebd., S. 334: „Ursprüngliche Performativa sind Rituale, Restbestände einer quasi-magischen Praktik im zeremoniellen Reden“.

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den und -transformierenden Kraft von Sprechakten. Butlers Auffassung, dass Geschlechtsidentität kulturell und sprachlich konstituiert wird, meint nicht, obwohl sie teils so verstanden worden ist, dass aus dem Wort Fleisch wird, dass also erst der Sprechakt das biologische Geschlecht erschafft oder dieses womöglich ignoriert.45 Was sie meinte, ist, dass es sich um den ersten Sprechakt in einer langen Kette von sprachlichen und kulturellen Zuschreibungen handelt, die am Ende das hervorbringen, was sich als Geschlechtsidentität verstehen lässt. Dieser Prozess wird als Performativität bezeichnet. Er ist wesentlich an die Bedingung der Iteration geknüpft, also an die langfristige Wirksamkeit von Sprache. Wie im Folgenden noch erläutert werden soll, ist die Möglichkeit einer langfristigen Transformation durch Iteration sehr viel besser geeignet, um Wirkweisen von Sprache im Parzival zu erhellen, als die Vorstellung einer an Sprache gebundenen, unmittelbaren magischen Veränderung. Für letztere muss – im Parzival – noch etwas hinzukommen. Dazu verweise ich hier auf Wolfgang Brückner, der kürzlich für eine sorgfältige Neu-Konzeptualisierung des Begriffs der Bildmagie plädiert und auf Basis einer Auswertung neuerer und älterer kultur- und sprachwissenschaftlicher Forschungen mögliche Analogien zwischen Sprachmagie und Sprechakttheorie diskutiert hat.46 Sprachmagie, so Brückner im Rekurs auf Jan Assmann, bedarf für ihr Funktionieren dreier Voraussetzungen. Diese sind „der richtige Ort, der richtige Zeitpunkt und die persönliche Bevollmächtigung“, ferner eine Form des Sprechens, die Assmann als „interventionistisch“ bezeichnet.47 Sie entspricht dem, was ich transformatives Sprechen nenne; nach Assmann beruht sie zum Beispiel im Neuen Testament auf Glauben, im alten Ägypten auf Analogiedenken. Unter dieser Voraussetzung ließe sich sagen, dass Parzivals Frage – am richtigen Ort, zur richtigen Zeit und dafür intentional vorgesehen – einerseits einen Sprechakt vollzieht, andererseits über diesen hinausgeht, weil sein Sprechen eine interventionistische Kraft ausübt, welche auf dem christlichen Glauben beruht. Ähnliches vollzieht sich, unter gleichsam umgekehrten Vorzeichen, bei der Teufelsbeschwörung des Dr. Faustus.

|| 45 Vgl. Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York/London 1990, S. 32: „The presumption here is that the ‚being‘ of gender is a n e f f e c t , an object of a genealogical investigation that maps out the political parameters of its construction in the mode of ontology“, Hervorhebung im Original. Vgl. in der deutschen Ausgabe dies., Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt a.M. 1991 (edition suhrkamp 1722 [N.F. 722]), S. 60. 46 Vgl. Brückner (wie Anm. 24). 47 Assmann, zitiert bei Brückner (wie Anm. 24), S. 47.

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4 Subjektivierung des Magischen Um den nächsten Rückbezug zum Parzival zu versuchen: Die Frage, ob Parzivals innere Einstellung, mit der Müller argumentiert, beim zweiten Besuch auf der Gralburg einen Lern- oder Erkenntnisprozess voraussetzt, ist äußerst umstritten.48 Auch die Mitleidsproblematik löst das Problem nicht, die Frage also, ob Parzival Emotionen wie Mitleid, compassio oder misericordia erst erwerben muss, oder ob er prinzipiell über sie verfügt, aber sie nicht artikuliert hat.49 So entsteht als Reaktion auf die Gralprozession bei Parzival ein Frageimpuls: wol gemarcte Parzivâl / die rîcheit und daz wunder grôz: / durch zuht in vrâgens doch verdrôz (239,8–10). Doch die Offenheit der Bezüge dieser Aussage gehört zu den Problemen des Textes, dem entsprechend gibt es unterschiedliche Ansichten zur Referenz von wunder grôz.50 Wonach genau möchte Parzival denn fragen, was empfindet er als Wunder? Die geheimnisvolle Prozession, das Leiden des Anfortas oder die Gleichzeitigkeit von höfischer vröude und offenkundigem Schmerz? Zumindest in den letzteren beiden Fällen brauchte er nicht Mitleid oder compassio als Emotionen zu erwerben, sondern Wissen um ihre adäquate Artikulation. Möglicherweise hilft es weiter, die verschiedenen Redeszenen, in denen Parzival von anderen Figuren auf sein Fehlverhalten aufmerksam gemacht wird – in der Begegnung mit Sigune, Kundrie und in langen Dialogen mit Trevrizent – als Sprechakte aufzufassen, die nicht je für sich, aber in der Iteration genau jenen Wandel instituieren, der die entscheidende Voraussetzung für den zweiten Besuch auf der Gralburg bildet. Alle drei erklären Parzival zu wiederholten Malen, in verschiedenen Perspektiven und – wird an Kundrie gedacht – in gleichsam unterschiedlicher Tonlage, dass er einen schweren Fehler begangen und Schuld auf sich geladen hat. Der Umstand, dass Parzival schließlich in der Lage ist, diese Schuld zu akzeptieren und wiedergutmachen zu wollen, ist ein Resultat dieser Begegnungen. Sprechakttheoretisch gewendet bedeutet dies, dass die Iteration ihn erreicht und Sprache somit langfristig eine Veränderung erwirkt hat. Ein solcher Rekurs auf die Sprechakttheorie bringt den Vorteil mit sich, dass Fragen, welche die Forschung bis heute beschäftigen – was genau sich in Parzivals Innerem in Reaktion auf diese Unterredungen abspielt, und ob die Fragen nach seiner Schuld und seiner Einsicht in diese Schuld

|| 48 Müller vertritt die These, dass Parzival von Beginn an von art geprägt sei, sich allerdings handelnd bewähren müsse. Problematisch sei das Leitbild der Ritterlichkeit, an dem Parzival sich orientiere, von dem er sich jedoch niemals lösen könne, was ihm im Text wiederum auch an keiner Stelle zum Vorwurf gemacht werde. Vgl. Müller (wie Anm. 11), S. 43f. 49 Vgl. auch Katharina Mertens Fleury, Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mit-Leidens im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, Berlin 2006 (Scrinium Friburgense 21). 50 Vgl. auch Schirok (wie Anm. 2), S. 59f.

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berechtigt sind – ausgeblendet werden können. Auch das zuletzt wieder viel diskutierte Problem, wieviel genau Trevrizent zu Parzivals Veränderungen beiträgt, kann unter dieser Voraussetzung unberücksichtigt bleiben. Manifest wird im Text nämlich vor allem eines: Sprechen, also mehrfache Zuschreibungen anderer Figuren (beginnend mit Sigune, die ihm seine Identität mitteilt), Dialoge und möglicherweise lehrhafte Unterweisungen erzeugen entscheidende Transformationen in Parzivals Leben. Alle Stufen, vom Kind über den defizitären jungen Ritter zum Gralkönig, werden über Sprechen, d.h. dezidiert über Dialoge mit anderen Figuren initiiert. Gerade nach dem ersten Besuch auf Munsalvaesche werden zentrale Stationen und Etappen seines Weges in Form von – im Einzelnen höchst unterschiedlich angelegten – Redeszenen durchlaufen. Am Ende von Parzivals Weg ist eine Veränderung eingetreten, welche ihn dazu befähigt, den Gral wieder zu finden und diesmal das Richtige zu tun. Damit sind die Bedingungen erfüllt, um seine Veränderung auf Sprechakte zurückzuführen, und zugleich kann die Frage ausgeschlossen bleiben, ob dieser Veränderung eine regelrechte innere ‚Läuterung‘,51 Einsicht oder Reflexion entspricht. Ein Zauberspruch entfaltet sich hingegen unmittelbar in Zeit und Raum. Ebenso unmittelbar ist seine transformierende Kraft, mit der er Materie verwandeln kann. Beides gilt selbstverständlich auch für das religiöse Wunder. Doch mit Performanz und Performativität hat es nichts zu tun. Die Parallele zwischen Sprechakttheorie und Magie scheint mir dort zu enden, wo für magische Wirksamkeit zusätzlich zur Sprache ein dieser vorausgesetztes Zeichensystem, eine Intention und eventuell Praktiken treten müssen. Die Disposition des Einzelnen, die subjektive Voraussetzung als Bedingung der Wirksamkeit magischer oder performativer Rede,52 wurde in der Magie-Forschung bislang erst wenig thematisiert. Allerdings bietet sich hier auch ein eher diffuses Feld dar. In der Dämonologie von Augustinus klingt dieses Bedingungsverhältnis insofern an, als Dämonen dort als Wesen gelten, welche grundsätzlich seelisch höchst affizierbar sind, von negativen Emotionen angezogen werden und diese anders als der Mensch auch nicht überwinden können. Aus diesem Grund bildet die Mäßigung von Affekten eine gute Voraussetzung dafür, dass man sich Dämonen

|| 51 Dieser Begriff ist von Parzival-Interpreten in Anspruch genommen worden, welche alchemische Verfahren – hier den Prozess der ‚Veredelung‘ natürlicher Substanzen, insbesondere von Metallen, dem eine spirituelle Entwicklung korreliere – in der Dichtung als weitreichende Strukturmuster verarbeitet sehen. Vgl. insbesondere Bernhard Dietrich Haage, Alchemie im Mittelalter. Ideen und Bilder – von Zosimos bis Paracelsus, Düsseldorf/Zürich 1996, S. 82f., passim. 52 Butler setzt voraus, dass die Wirksamkeit iterativer Akte nachhaltig gebrochen werden kann, wenn man sich zu ihrer angeblich konstitutiven Kraft subversiv verhält und Bezeichnungen wie Mann, Frau, Nigger nicht mehr akzeptiert, vgl. Judith Butler, Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York/London 1997; deutsch: dies., Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe, Frankfurt a.M. 2006 (edition suhrkamp 2414).

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vom Halse halten könne.53 Albertus Magnus hat sich im 13. Jahrhundert intensiv mit magischen (und alchemischen) Denkmustern auseinandergesetzt und manche davon, wie in theologischen Diskursen üblich, der Kommunikation mit Dämonen, andere der Naturerkenntnis zugewiesen.54 Obwohl Theologe, zeigt er Aufgeschlossenheit gegenüber magischen Denkweisen und Praktiken und setzt sich ebenfalls mit der Möglichkeit einer Korrelation von Affektdisposition und magischer Wirksamkeit auseinander, die sich unter anderem in ‚Faszination‘ niederschlage.55 Historisch hat ihm dies aber teilweise zweifelhaften Ruhm eingetragen; so bekommt er selbst Züge eines Magiers verliehen, im Spätmittelalter zunehmend eines Nigromanten und selbst eines Teufelsbündlers, ihm werden Zauberbücher und pseudomagische Schriften zugeschrieben. In Albertus Magnus einen frühen Vordenker für die moderne Vorstellung von der Allmacht des Psychischen zu sehen, wie die Psychoanalyse Carl G. Jungs dies wollte, ermangelt einer stichhaltigen textuellen Grundlage.56 Der Glaube daran, dass ein bestimmter Affektzustand die Anfälligkeit für Dämonen begünstigt, hält sich allerdings bis in die Lutherzeit, was insbesondere an Melancholie-Vorstellungen manifest wird.57 Auf der literarischen Ebene wird die Korrelation eines Affektzustandes mit einer Empfänglichkeit für Unverfügbarkeit auch in Konzeptualisierungen des Wunderbaren manifest, und zwar dort, wo es – wie bei Parzival – eine gewisse Disposition voraussetzt, um erkannt, erfahren, bewältigt oder abgewehrt werden zu können. Offenbar setzt die Begegnung mit dem Wunderbaren nämlich geeignete, für dieses bestimmte Subjekte voraus.58 Im höfischen und frühhöfischen Roman ermöglicht diese

|| 53 Vgl. Otto (wie Anm. 22), S. 312–315. 54 Vgl. das Kapitel über Albertus Magnus in der Darstellung von Thorndike (wie Anm. 18), Bd. 2, New York/London 61964 (zuerst 1923), S. 517–592. Genau die letztere Richtung interessiert Thorndike besonders, ihm geht es seinem Ansatz gemäß darum, diejenigen Aspekte von Alberts Schriften hinauszuarbeiten, welche in die Richtung eines neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses weisen. 55 Vgl. ebd., S. 557f. 56 Die Schrift De mirabilibus mundi, auf die Jung sich dafür bezieht, ist aus dem 15. Jahrhundert überliefert und wurde Albertus Magnus fälschlich zugeschrieben. In ihr finden sich Ausführungen zur Kraft der seelischen Vermögen, verändernd auf die Wirklichkeit einzuwirken. Dieser Gedanke wird auf Avicenna zurückgeführt: Im Zustand großer Erregung, im Affekt, etwa bei großer Liebe oder in großem Hass, im Exzess solcher Gefühle, habe schon dieser geurteilt, könne die Seele manipulierend wirken, und zwar bis hin zu Zauberei. Jung zitiert eine einschlägige Passage in Übersetzung in Carl G. Jung, „Die Dynamik des Unbewußten“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, Olten/ Freiburg i.Br. 1982, S. 488. 57 Vgl. nach dem grundlegenden Aufsatz von Maria E. Müller, „Der andere Faust. Melancholie und Individualität in der ‚Historia von D. Johann Fausten‘“, in: DVjs 60 (1986), S. 572–608; mit besonderem Akzent auf Luthers Einstellung zur Melancholie jetzt Marina Münkler, Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts, Göttingen 2011 (Historische Semantik 15), S. 294–326. 58 Vgl. Elisabeth Schmid, „Da staunt der Ritter, oder der Leser wundert sich: semantische Verunsicherungen im Wald der Zeichen“, in: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, hg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 2003, S. 79–94.

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Disposition eine Verknüpfung mit Heldenprofilen und Inszenierungen von Aventiuren und ist überwiegend positiv besetzt. Ein eher negatives, spätes Beispiel bildet wiederum das Faustbuch mit dem Zusammenhang von Teufelsverfallenheit und Melancholie, den es exponiert.

5 Fazit Ich kehre zur Parzival-Stelle zurück und versuche, die bisherigen Ausführungen ergebnisorientiert und thesenförmig zu resümieren: 1. Die Heilung des Anfortas wird nicht durch einen performativen Akt im Sinne der ursprünglichen Performativa Austins erzeugt. Performative Wirklichkeitskonstitution meint niemals eine unmittelbare Verwandlung von Materie durch Sprache. 2. Die Entscheidung gegen die Charakterisierung von Parzivals Frage als ‚magisch‘ ist nicht aus dem Umstand abzuleiten, dass Parzival beim zweiten Besuch auf der Gralburg in der Frage an Anfortas einen anderen Wortlaut verwendet als denjenigen, der ihm früher von anderen nahegelegt worden war. Er führt Anfortas’ Heilung auch nicht nur durch seine innere Einstellung herbei. Das Prädikat des Magischen ist nicht deshalb für Parzival abzuweisen, weil er nicht die identischen Worte spricht, sondern weil seine Worte nicht auf einem Zeichensystem zwischen Mensch und Dämon beruhen und weil die Kraft, die Parzival evoziert, nicht von einem Dämon herrührt. Der ‚Sprachvertrag‘, im Sinne einer Verabredung von Zeichen und Bedeutungen, ist entscheidend, seine Ausformulierung hingegen sekundär. ‚Sprechmagie‘ ist in letzter Instanz ‚Sprachmagie‘. 3. Was sich beim zweiten Besuch auf der Gralburg vollzieht, ist ein (religiöses) Wunder. Damit es sich vollziehen kann, muss auf Seiten Parzivals und Anfortas’ dennoch eine bestimmte Voraussetzung gegeben sein, die sich als indirekter illokutionärer Akt im Sinne Searles bezeichnen lässt. Denn Anfortas und Parzival wissen beide, dass es bei ihrem zweiten Aufeinandertreffen nicht mehr darum geht, dass Parzival sich nach dem Befinden des Gralkönigs erkundigt. Es geht darum, seine Heilung zu initiieren. Das Wissen um die Funktionsweisen des Grals ist dabei vorausgesetzt und bildet den allgemeinen Kontext. Damit die Frage gestellt werden kann, ist auf Seiten Parzivals ferner das nötig, was Müller ‚innere Einstellung‘ nannte. Diese wurde konstituiert durch etwas, was sich wiederum 4. durchaus als performativ bezeichnen lässt, nämlich durch eine Reihe von Sprechakten, mit denen Parzival nach dem ersten Besuch auf der Gralburg konfrontiert war. So führen die mündlichen Erklärungen von Sigune, Kundrie und Trevrizent im Resultat dazu, dass Parzival akzeptiert, einen Fehler begangen zu haben. Im welchem Umfang diese Akzeptanz mit einer Einsicht in seine ver-

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meintliche oder tatsächliche Schuld einhergeht, ist dafür nicht erheblich. Schließlich kommt es nicht so sehr darauf an, die Inszenierung der Szene unmittelbar mit historischen Magie-Konzepten in Verbindung zu bringen, als vielmehr deren ReKontextualisierung auf der literarischen Ebene zu bedenken. Der Transfer in den literarischen Text kann den magischen ‚Kern‘ bewahren, er kann Magie zur Metapher werden lassen oder zwischen beiden Möglichkeiten changieren. Grundsätzlich ist mit allen diesen Möglichkeiten zu rechnen, deshalb ist der Magie-Begriff für literarische Kontexte weit zu fassen und nicht zuletzt auch in einer Bandbreite metaphorischer Verwendungen anzusetzen.59

Für das Wunderbare im höfischen Roman ist ferner charakteristisch, dass Denkformen, die aus moderner Sicht als magisch zu identifizieren sind – sei es zum Zusammenhang von Planetenkonstellationen und Körperverfassung oder zur Vorstellung von Sprechmagie – neben dem religiösen Wunder bestehen. Das Wunderbare wird in der Literatur des 12./13. Jahrhunderts sogar unter der Voraussetzung dezidiert weiter entfaltet, dass magische Vorstellungsinhalte transferiert und weiter entwickelt werden. Der Parzival könnte hier insofern eine Schlüsselposition einnehmen, als die ‚innere Einstellung‘, die das Wunderbare auf Seiten des Subjekts – des Helden – benötigt, entschieden problematisiert wird.

|| 59 Generalisierend festzulegen, wie Kieckhefer (wie Anm. 26), S. 129, dass in literarischen Texten des Mittelalters „die Magie der Psychologie untergeordnet ist“, führt in der Sache nicht weiter.

Ann Marie Rasmussen

Badges Abzeichen als sprechende Objekte Die Objekte, die in diesem Beitrag untersucht werden, scheinen die Kriterien für einen Beitrag zum Thema ‚Stimme und Performanz‘ nicht zu erfüllen. In diesen Ausführungen geht es überhaupt nicht um Literatur, sondern um kleine Gegenstände, die sogenannten Abzeichen, auf Latein signa, auf Französisch enseignes, auf Englisch badges.1 Auf Deutsch werden diese Gegenstände Pilgerzeichen genannt, was insofern irrtümlich ist, weil etwa 40 % der überlieferten Abzeichen nichts mit Pilgern oder gar Religion zu tun haben.2 Dementsprechend werden auch in diesem Beitrag sowohl religiöse als auch profane Abzeichen untersucht. Abzeichen sind, um mit Hartmut Kühne zu sprechen, kleine, „aus Blei-Zinn gegossene Metallplaketten, […] die Ösen oder später auch Anstecknadeln zur Befestigung an Hut oder Mantel besaßen“,3 mit einem im Mittelalter weit bekannten Symbol oder Bild versehen, die im Spätmittelalter massenangefertigt und millionenfach hergestellt wurden. Eigentlich handelt es sich um kleine Metallbilder oder Skulpturen. Es sind derzeit an die 20.000 Abzeichen bekannt.4 Das macht nur einen Bruchteil der ursprünglichen Menge aus, stellt aber immerhin ein beachtliches und immer noch nicht er-

|| 1 Vgl. Denis Bruna, Enseignes de plomb et autres menues chosettes du moyen âge, Paris 2006, S. 17. 2 Das Wort ‚Zeichen‘ hat im Deutschen zahlreiche Bedeutungsfelder, ganz besonders im kulturund literaturwissenschaftlichen Bereich. Um Missverständnisse zu vermeiden, werden in diesem Beitrag konsequent die badges Abzeichen genannt. 3 Hartmut Kühne, „Das Rheinland als Pilgerlandschaft im Spiegel von Pilgerzeichen auf Glocken des 14.–16. Jahrhunderts“, in: Wallfahrt und Kulturbegegnung. Das Rheinland als Ausgangspunkt und Ziel spätmittelalterlicher Pilgerreisen, hg. von Helmut Brall-Tuchel, Erkelenz 2012 (Schriften des Heimatvereins der Erkelenzer Lande e.V. 26), S. 49–87, hier S. 50. Abzeichen wurden auch aus Edelmetallen hergestellt, aber nur sehr wenige von diesen hochwertigen Gegenständen habe die Zeit überdauert. 4 Die wichtigsten öffentlichen Sammlungen befinden sich in London (Museum of London und The British Museum) und Paris (Musée du Moyen Age); kleinere Sammlungen gibt es in Berlin (Museum für Angewandte Kunst) und Prag (Národní muzeum [National Museum] und Uměleckoprmyslové museum v Praze [Kunstgewerbemuseum]); sehr bedeutend ist die Sammlung in Ieper, Belgien (Stedelijke Musea). Die größte und beste Sammlung ist in privaten Händen und wird von der ‚Stichting Middeleeuwse Religieuze en Profane Insignes‘ (‚Medieval Badges Foundation‘) verwaltet, http://www.medievalbadges.org (Stand: 01.03.2017). Siehe auch die Datenbank ‚kunera‘ (Radboud Universiteit Nijmegen), die laufend mit Neufunden erweitert wird, http://www.kunera.nl (Stand: 01.03.2017); sowie die Pilgerzeichendatenbank des Kunstgewerbemuseums, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, http://www.pilgerzeichen.de (Stand 01.03.2017).

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schlossenes Korpus dar.5 Die moderne Abzeichenforschung beginnt im 19. Jahrhundert mit der Sammlung und wissenschaftlichen Erschließung. (Dies ist ein wichtiges Arbeitsgebiet, da bis heute Neufunde bei Ausgrabungen und in Museen regelmäßig vorkommen). Als Wegbereiter kann der Pariser Archäologe Arthur Forgeais (1822– 1858) gelten, der die am Seine-Ufer gefundenen Abzeichen publizierte. Im frühen 20. Jahrhundert begannen Forscher mit der Katalogisierung von Pilgerzeichenabbildungen auf mittelalterlichen Glocken, doch eine wissenschaftliche Erschließung der mittelalterlichen Abzeichen, die über das Sammeln und Beschreiben hinausging, begann eigentlich erst in den 1960er Jahren mit den Arbeiten von Kurt Köster (1912– 1986)6 und beschleunigte sich erst in den 1980er Jahren mit den Pionierarbeiten des Archäologen und Museumskurators Brian Spencer (1928–2003) in London, mit Lars Anderssons wegweisendem Buch zu Pilgerzeichen in Skandinavien, mit den Arbeiten von Denis Bruna zu den Funden in Paris, und mit der sich über Jahrzehnten erstreckenden Sammeltätigkeit und den wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Hendrik-Jan van Beuningen (1920–2015).7 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Abzeichen ist hauptsächlich auf Pilgerzeichen fokussiert, doch Spencer, Bruna und van Beuningen haben von Beginn ihrer Forschungstätigkeit an immer sowohl weltliche als auch religiöse Abzeichen behandelt.8 In seinem Vorwort zum Katalog der Pilgerzeichensammlungen in Prag charakterisiert der französische Historiker Jean-Claude Schmitt die Pilgerzeichen als „‚[d]as

|| 5 Vgl. Carina Brumme, „Pilgerzeichen: Erhaltungsbedingungen und Verbreitungsräume“, in: Das Zeichen am Hut im Mittelalter. Europäische Reisemarkierungen. Symposion in Memoriam Kurt Köster (1912–1986) und Katalog der Pilgerzeichen im Kunstgewerbemuseum und im Museum für Byzantinische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin, hg. von Hartmut Kühne, Lothar Lambacher und Konrad Vanja, Frankfurt a.M. 2008 (Europäische Wallfahrtsstudien 4), S. 127–142. 6 In diesem Beitrag sehe ich von dem mittelalterlichen Gebrauch von Pilgerzeichen auf Glocken ab (sie wurden bei der Herstellung von Glocken eingegossen), da diese Anwendung auf eine andere Funktion deutet. Siehe Joerg Pöttgen, „Europäische Pilgerzeichenforschung. Die Zentrale Pilgerzeichenkartei (PZK) Kurt Kösters (†1986) in Nürnberg und der Forschungsstand nach 1986“, in: Jahrbuch für Glockenkunde 7/8 (1995/1996), S. 195–206, http://www.pilgerzeichen.de/html/ poettgen-koester.html (Stand: 01.03.2017). 7 Siehe Lars Andersson, Pilgrimsmärken och vallfart: medeltida pilgrimkultur i Skandinavien, Lund 1989; Heilig en Profaan, hg. von Hendrik Jan Engelbert van Beuningen und Adrianus Maria [Jos] Koldeweij, 3 Bde., Cothen 1993, 2001, 2012 (Rotterdam Papers 8, 12, 13) (ein vierter Band ist in Vorbereitung); Bruna (wie Anm. 1); ders., Saints et diables au chapeau: bijoux oubliés du Moyen Age, Paris 2007; Brian Spencer, Pilgrim Souvenirs and Secular Badges, Woodbridge 22010. 8 Wegweisend für eine gemeinsame Analyse von religiösen und profanen Abzeichen ist der Aufsatz von Adrianus Maria [Jos] Koldeweij, „The Wearing of Significative Badges, Religious and Secular: The Social Meaning of a Behavioral Pattern“, in: Showing Status: Representations of Social Positions in the Late Middle Ages, hg. von Wim Blockmans und Antheun Janse, Turnhout 1999 (Medieval Texts and Cultures of Northern Europe 2), S. 307–328.

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Mark des Mittelalters‘, […] die zentrale, zarte und belebende Partie des Knochens“.9 Mit dieser Metapher, die er von Alfred Darcel, einem Antiquar des 19. Jahrhunderts geborgt hat,10 will Schmitt auf „den Reichtum der Bedeutungen, der Nutzungen, der Funktionen dieser Objekte“11 hinweisen. Der Bedeutungsreichtum dieser unscheinbaren Gegenstände ist in der Tat sehr groß, denn Abzeichen stellen immer vielfältige Relationen her. Ihre zur Schau getragene Ikonographie, die in der Regel immer noch verständlich ist, verweist auf eine Relation zwischen dem Träger und dem Heiligen oder der sozialen Gruppe (etwa einer religiösen Gesellschaft, einem feudalen Herrn, einer sozialen Rolle, einer Stadt), die mit dieser Ikonographie gemeint sind. Ob eine solche Relation tatsächlich vorhanden war, lässt sich nicht mehr klären. Fest steht, dass ein Abzeichen immer eine Relation beansprucht oder behauptet. Zudem stellt die Tatsache, dass Pilgerzeichen hauptsächlich von Menschen sichtbar auf ihren Gewändern getragen wurden, eine zusätzliche Dimension der Relationsbildung dar. Wenn der zeichentragende Mensch sich durch den Raum bewegte, wurden seine Abzeichen und die damit verbundenen Identitätszuweisungen von anderen gedeutet und bewertet. Somit eröffnet sich ein weites Feld für die unterschiedlichsten Funktionen, Nutzungen und Bedeutungen von Abzeichen. Abzeichen überschreiten das Tagungsthema vor allem deswegen, weil sie sich visuell und nicht (allein) sprachlich mitteilen. Sie sind Bilder, die mit einer weit verbreiteten und lesbaren Ikonographie und mit einer visuellen Semiotik arbeiten. Somit könnte man meinen, dass ihre Erforschung eigentlich in die Kunstgeschichte oder auch in die Religions- oder Kulturgeschichte gehört, nicht aber in die Germanistik. Können Germanistinnen und Germanisten nichtsdestoweniger diesen spätmittelalterlichen Abzeichen etwas für die Tagungsthematik abgewinnen? Durchaus, denn Abzeichen erlauben uns, Aspekte von Stimme und Performanz aus einer ungewohnten Perspektive zu betrachten. Schätzungsweise sind zwischen 10 und 20% aller überlieferten Abzeichen beschriftet, was von einem einzelnen Buchstaben bis hin zu kürzeren Sätzen reicht. Die am häufigsten gebrauchten Sprachen sind Latein, Niederländisch und Französisch; Englisch und Deutsch kommen allerdings auch vor. Sobald ein Abzeichen beschriftet ist, verfügt es über ein weiteres sinnstiftendes Potenzial, das über die visuelle Semiotik hinausgeht, um sie gleichzeitig durch Verweise auf das geschriebene Wort oder auf fingierte mündliche Sprache oder auf schriftliche Verschlüsselungen um eine neue Dimension zu erweitern. Somit spielt die Auseinandersetzung zwischen Bild und Sprache in den beschrifteten Abzeichen eine wesentliche Rolle. Insofern greift dieser Beitrag über diese kleinen unscheinba|| 9 Jean-Claude Schmitt, „Das Mark des Mittelalters“, in: Jungfrauen, Engel, Phallustiere: Die Sammlungen mittelalterlicher französischer Pilgerzeichen des Kunstgewerbemuseums in Prag und des Nationalmuseums Prag, hg. von Hartmut Kühne, Carina Brumme und Helena Konigsmarkova, Berlin 2012, S. 9–14, hier S. 9. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 10.

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ren Gegenstände auf einige wichtige Stichwörter dieser Tagung zurück: auf die Vielstimmigkeit der Abzeichen und auf ihre mediale Vermittlung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, auf die den Abzeichen immanente latente Performanz und Stimmhaftigkeit, kurz, auf eine Vielzahl von Aspekten, die auf das mannigfaltige Sinnpotenzial dieser Objekte schließen lassen und die die vielfältigen impliziten Verweisrelationen von Abzeichen andeuten. Abzeichen, so möchte ich behaupten, haben uns Neues über den Dialog zwischen Bildern und Sprache im Mittelalter zu sagen. Im Folgenden werden die beschrifteten Abzeichen mittels fünf Kategorien erörtert. Diese Kategorien bilden einen ersten Versuch, systematisch über Bild-SchriftVerhältnisse auf Abzeichen nachzudenken, stellen aber kein geschlossenes System dar. Doch als provisorische Kategorien bieten sie den Vorteil, dass sie so geordnet die unterschiedlichen Möglichkeiten zeigen, die Abzeichen anzuwenden, um Bild und Schrift miteinander zu verbinden. 1. Schrift als Bild 2. Beschriftung, die die Bildidentifizierung erleichtert (Inschrift, Überschrift, Titel) 3. Beschriftung, die sich kommentierend oder erzählend zum Bild verhält 4. Sprechen als Gebet 5. Das sprechende Bild Wie zu ersehen ist, bringen diese Kategorien die Begriffe Bild und Schrift als sinngebende Elemente in unterschiedliche Beziehungen zueinander, wobei der Begriff ‚Schrift‘ dem Quellenmaterial entsprechend zweifach verstanden wird, entweder als Schrift, die als schriftlich konzipierter Text funktioniert, oder als Schrift, die auf gesprochene Sprache, also auf Mündlichkeit hindeutet. Beschriftete Abzeichen werden im Folgenden anhand dieser Kategorien vorgestellt.

1 Schrift als Bild Es geht um Abzeichen, die Schrift benutzen, ohne dass diese Beschriftung als Text oder gar als Sprache zu verstehen ist, ein Vorgang, der auf eine lange, christliche Tradition zurückgreift.12 So gibt es Abzeichen, die das nomen sacrum IHS darstellen, das sich aus den ersten und letzten Buchstaben des griechischen Namens Jesu herleitet und das als rituales Instrument zu verstehen ist, das ikonographisch, d.h. bildhaft (und nicht sprachlich) auf die transzendente Macht Christi hinweist. Das nomen sacrum ist im Mittelalter als Monogramm weit verbreitet. Man findet es in Handschriften, auf Malereien und dergleichen mehr, und so überrascht es nicht,

|| 12 Siehe Jeffrey F. Hamburger, Script as Image, Paris 2014 (Corpus of Illuminated Manuscripts 21).

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dass es auch auf Abzeichen vorkommt. In diesen Abzeichen wird Schrift zum Bild.13 Häufig kommen sowohl religiöse als auch weltliche Abzeichen vor, die aus Großbuchstaben (Majuskeln) bestehen (ohne Abb.)14 Solche Abzeichen weisen ebenfalls als Bild performativ auf Schrift hin, ohne als Text zu fungieren; sie müssen nicht gelesen werden, um sinnvoll zu sein. Als ein Beispiel für viele mag das Abzeichen mit einem Schwan aus London stehen (ohne Abb.).15 Der Schwan stellt wahrscheinlich ein heraldisches Abzeichen dar, d.h. ein Abzeichen, das mit einer bestimmten feudalen Herrschaft verbunden ist. Zu diesem Schwanenabzeichen gehört ein Band, eigentlich ein Spruchband, das mit einer Buchstabenzeile beschriftet ist, die beim besten Willen keinen Sinn ergibt. (Ob der Punkt und das Pluszeichen bestimmte Marker sind – in anderen Kontexten können sie auf Anfang, Ende oder auf Worttrennung hindeuten – bleibt auch dahingestellt.) Es könnte sich um einen Rebus handeln oder um eine Nachahmung von Inschriften, die ja überall in der mittelalterlichen Welt zu sehen waren. Es ist sogar möglich, wenn auch unwahrscheinlich, dass die Buchstaben Zahlen nachahmen oder darstellen könnten. Selbstverständlich könnten solche Schriftzeilen schlicht und einfach missglückte Versuche sein, etwas Sinnvolles zu schreiben. Möglich ist aber auch, dass es sich um einen Pseudotext handelt, wie Thomas A. Bredehoft in einem wegweisenden Aufsatz demonstriert hat.16 Als Pseudotexte gelten nicht solche Texte, deren Unlesbarkeit vom schlechten Überlieferungszustand eines Zeichens herstammt. Als Pseudotext gilt eine Beschriftung nur, wenn sie im wörtlichen Sinne unlesbar ist (d.h. keinen sprachlichen Sinn ergibt) und nur eine Aufreihung von beliebigen Buchstaben darstellt. Pseudotexte spielen ikonographisch eine wichtige Rolle auf Abzeichen, aber nicht, weil sie eine Aussage als solche treffen, sondern weil sie die Aussagekraft der Schrift imitieren. Der Betrachter kann die Schrift erkennen und ihr eine Bedeutung zuschreiben, ohne sie lesen zu müssen. Die Abzeichen mit Pseudotexten performieren Schriftlichkeit, besser gesagt, die Macht der Schriftlichkeit. Sie erinnern daran, dass Menschen, die zwar selbst nicht lesen konn-

|| 13 In das Umfeld von Schriftgebilden als Machtinstrument gehören möglicherweise auch Beschriftungen, die hebräische oder gar arabische Buchstaben zeichnerisch grob nachahmen, ein Vorgang, der noch nicht im Abzeichenkorpus untersucht worden, aber sonst im Mittelalter bekannt ist. 14 Vgl. zum Beispiel folgende Abzeichen in der Kunera-Datenbank: Kunera 00963, gekrönter Buchstabe A mit floralen Verzierungen; Kunera 00974, gekrönter Buchstabe M; Kunera 00981, gekrönter und mit Blumen geschmückter Buchstabe R. 15 Siehe Kunera-Datenbank: Zinnabzeichen, Schwan, der auf einem Schriftband steht und dieses in seinem Schnabel hält, Inschriftentext .IVOVRVONV+, Anstecknadelbefestigung, Ursprung unbekannt, gefunden in London (Großbritannien), 2,7 × 3,2 cm, 1400–1449; Langbroek, collectie Familie van Beuningen, Inv.-Nr. 1154 (Kunera 00704). 16 Thomas A. Bredehoft, „Literacy without Letters: Pilgrim Badges and Late Medieval Literate Ideology“, in: Viator 37 (2006), S. 433–455.

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ten, dennoch Attribute, die mit der Lesefähigkeit verbunden waren, zur Schau stellen wollten. Daher könnte den Pseudotexten eine Bedeutung zugeschrieben worden sein, die zwar eng mit einer Lesekultur verbunden war, jedoch keine Aussagen über die Lesefähigkeit der Träger der Abzeichen erlaubt.

2 Beschriftung, die die Bildidentifizierung erleichtert Das folgende Abzeichen (Abb. 1) stellt ein Beispiel dar, das unseren Erwartungen von Pilgerzeichen entspricht. Es zeigt Petrus, der einen Schlüssel hält, und Paulus mit einem Schwert. die Figuren sind von einem Schriftzug gerahmt: + SIGNA APOSTOLORVM PETRI ET PAVL (‚die Zeichen der Apostel Petrus und Paulus‘). Um das lesen zu können, beginnt man oben in der Mitte und liest im Uhrzeigersinn. Die Buchstaben sind sorgfältig gestaltet und so ausgerichtet, als würde der Leser mitten auf der Plakette stehen. Dieses Abzeichen sagt, was es ist, denn signum bedeutet ‚Zeichen‘. Außerdem macht es die Identifizierung seiner Heiligen unmissverständlich klar, denn es nennt ihre Namen.

Abb. 1: Zinnabzeichen, Quadrat mit Inschrift, die den Heiligen Petrus (mit Schlüssel) und den Heiligen Paulus (mit Schwert und Buch) sowie einen kreuzförmigen Bischofsstab zwischen ihnen umrahmt, es finden sich Löcher für eine Befestigung (Fragment einer Öse in der oberen linken Ecke?), Rom (Italien), gefunden in Dordrecht (Niederlande), 3,2 × 3,7 cm, 1250–1349; Langbroek, collectie Familie van Beuningen, Inv.-Nr. 1907 (Kunera 00299); mit freundlicher Genehmigung der collectie Familie van Beuningen

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Der Zeicheninhalt wird also zweimal wiedergegeben, einmal im Bild mit den zwei männlichen Figuren mit Heiligenschein, Bart und ihren unmissverständlichen Attributen, und einmal in dem umrahmenden Text. Das Bild spricht mit den zwei unverwechselbaren Figuren eine eindeutige Sprache und macht auch ohne Beschriftung unmissverständlich klar, um wen und um welchen Ort es sich handelt. Die Beschriftung ist eigentlich überflüssig und tatsächlich fehlt sie auch auf anderen, ganz ähnlichen Exemplaren, die eine schlichtweg dekorative Umrahmung aufweisen. Auf Abb. 1 ergänzt die Schrift das Bild, sodass sie zusammen ein harmonisches Ganzes bilden. Aber wenn die Schrift eigentlich überflüssig ist, welche Funktion erfüllt sie dann? Vielleicht spielt die Wahl der Sprache, hier die in Europa dominierende heilige Sprache, Latein, eine Rolle, in dem Sinne, dass es nicht so sehr auf den Sprachinhalt ankommt, sondern in diesem Falle wieder auf die ikonographische Symbolträchtigkeit der Schriftlichkeit und der heiligen Sprache. Dieser Text ist leicht lesbar, nicht nur weil das Design sorgfältig ist, sondern weil die lateinischen Wörter weitverbreitete Floskeln darstellen, denen man wohl überall im Mittelalter sowohl gesprochen als auch schriftlich (zum Beispiel als Inschriften, also öffentlich) begegnen konnte. Es ist für dieses Abzeichen unwichtig, ob man Latein lesen und verstehen kann oder nicht, solange man erkennt, dass das, was hier steht, Latein ist. Es ist eine Aufführung von Latein, d.h. ein performatives Latein als die angemessene Sprache für ein religiöses Abzeichen. Die lateinischen Texte auf solchen religiösen Pilgerzeichen gehen über die Identifikation des dargestellten Heiligen hinaus, denn sie evozieren die performative Stärke des Lateinischen und der Latinität als heilige Sprache. Man kann sich daher fragen, ob sie als Inschriften gelten können. Rudolf M. Kloos definiert eine Inschrift als eine Beschriftung, „die von Kräften und mit Methoden hergestellt [ist], die nicht dem Schreibschul- und Kanzleibetrieb angehören“.17 Für Abzeichen wie dieses trifft dies ohne Weiteres zu. Weitere Kriterien sind, dass eine Inschrift dauerhaft, im öffentlichen Raum sichtbar und lesbar sein muss. Auch hier treffen die Kriterien zu, sind die Abzeichen doch dauerhaft (da aus Metall) und sowohl sichtbar als auch öffentlich, wenn sie von Menschen getragen werden. Schließlich muss eine Inschrift ein Unikat, also nicht seriell hergestellt sein. Bei diesem Kriterium fallen die Abzeichen aus, denn diese sind Massenware, und somit sind ihre Texte keine Unikate. Doch es ist offensichtlich, dass die Beschriftung auf solchen Abzeichen eine Inschrift nachahmt, wie sie in mittelalterlichen religiösen und öffentlichen Räumen überall zu sehen war. Auch hier ahmen die Zeichen bekannte Formen und Verfahren von Repräsentation nach, die mit Macht konnotiert sind, schöpfen aus diesem

|| 17 Rudolf M. Kloos, Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 2. erg. Auflage, Darmstadt 1992, S. 2. Vgl. Christine Wulf, „Wann und warum sind Inschriften niederdeutsch?“, in: Niederdeutsches Jahrbuch 136 (2013), S. 59–72.

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Reservoir der Schriftlichkeit, um sie in ein neues Medium, eben in tragbare, mobile Abzeichen, umzusetzen, fügen der Inschrift also neue Funktionen und Bedeutungen hinzu. Gibt es Verfahren, säkulare Abzeichen auf die gleiche Art und Weise zu benutzen? Kurz gesagt, ja. Der häufigste Text auf den Abzeichen ist, soweit ich das überblicke, ein einziges, altfranzösisches Wort: amours (manchmal amors), wie dies exemplarisch Beispiele von Abzeichen zeigen, die in Frankreich, England und den Niederlanden gefunden worden sind, wie etwa das ausgewählte Abzeichen (Abb. 2): Das Wort amours scheint in Kontexte der höfischen Liebe eingebunden zu sein, d.h. dort, wo das Abzeichen als Liebesgabe oder Liebesgeschenk funktioniert haben mag. Zu sehen ist ein kleines, gekröntes Herz, das eine Fahne oder ein Band mit dem Wort AMOURS trägt.

Abb. 2: Zinnabzeichen, gekröntes Herz mit AMOURS-Schriftband, Anstecknadelbefestigung, Ursprung unbekannt, gefunden in Valenciennes (Frankreich), 2,65 × 2,2 × 0,2 cm, 1350–1424; Valenciennes, Musée des Beaux-Arts, Inv.-Nr. 2005.4 152 (Kunera 10166); mit freundlicher Genehmigung Musée des Beaux-Arts Valenciennes

Als zweites amours-Abzeichen sei eine kleine Büste gezeigt (Abb. 3). Das Motiv ist sehr weit sowohl auf religiösen wie auf profanen Abzeichen verbreitet. Dieses Exemplar ist jedoch mit dem Wort AMOVRS beschriftet, was bewirkt, dass diese allgemeine bildliche Ikonographie in einen spezifischen Kontext eingebunden wird, nämlich in den der Liebe. Dies ist also eine Beschriftung, die die Zuordnung des Bildes in den Kontext der Liebe erleichtert.

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Abb. 3: Zinnabzeichen, Frauen- oder Männerkopf innerhalb eines sternförmigen Rahmens mit Büste und umrahmt vom Wort AMOVRS, Anstecknadelbefestigung, Ursprung unbekannt, gefunden in Amsterdam (Niederlande), 2,3 × 2,2 cm, 1350–1449; Langbroek, collectie Familie van Beuningen, Inv.-Nr. 1451 (Kunera 00750); mit freundlicher Genehmigung der collectie Familie van Beuningen

Bei diesen beiden Abzeichen, die als Beispiele für viele andere Zeichen stehen, verweist das Wort amours auf eine seriöse Version der Liebe, die sich mit Liebesgaben, mit gekrönten und gezierten Herzen, mit keuschen Büsten, mit Blumen und desgleichen verwirklichen lässt. Es sind Spielarten der höfischen Liebe, übernommen von anderen sozialen Schichten, aber vital und in einer allgemein-verständlichen Ikonographie ausgedrückt. Amours auf diesen Abzeichen ist gleich amours courtois.

3 Beschriftung, die sich kommentierend oder erzählend zum Bild verhält Gleichzeitig eröffnet das Wort amours eine neue Kategorie durch einen veränderten Umgang mit der Beschriftung, da sich hier ein Abstand zwischen Schrift und Bild auftut. Das erste Beispiel ist ein obszönes Abzeichen, das das Wort AMOVRS trägt (Abb. 4).

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Abb. 4: Zinnabzeichen, runder Rahmen, geteilt durch einen laublosen Baum mit Phalli, auf der rechten Seite ein kopulierendes Paar, über ihm ein Band mit der Inschrift AMOVRS, auf der linken Seite eine zuschauende Frau, über ihr ein Fragment eines Baumastes mit fragmentarisch erhaltener Inschrift -LMVS, Anstecknadelbefestigung, Ursprung unbekannt, gefunden in Ieper (Belgien), 5,4 × 5,3 cm, 1325–1374; Ieper, Stedelijke Musea, Inv.-Nr. 2949 (Kunera 06864); mit freundlicher Genehmigung Stedelijke Musea Ieper

Hier ist eine komplizierte, narrativ gestaltete Szene zu sehen: Ein Baum, der kein gewöhnlicher ist, denn es sitzen oder hängen in seinen Ästen Penisfrüchte, trennt den Zeichenkreis in zwei Teile. Links steht eine jetzt kopflose Figur, deren Schriftband beschädigt und somit unlesbar ist, in einer Pose der Überraschung. Die Figur schaut nach rechts, wo sie, wie der Betrachter, unter dem Baum ein Liebespaar erspäht, das einen Geschlechtsakt vollzieht. Über dem liebenden Paar hängt auch ein Spruchband, worauf das Wort AMOVRS steht. Es ist offensichtlich, dass das Wort amours anders benutzt wird als auf den vorhergehenden Abzeichen. Vielleicht bedeutet es hier einfach ‚Sex‘ oder ‚Geschlechtsverkehr‘, analog zum Bedeutungswandel des deutschen Wortes minne, das im 12. Jahrhundert das Ideal der ‚höfischen Liebe‘ zum Ausdruck bringt, jedoch im 15. Jahrhundert allgemein den sexuellen Akt bezeichnet.18 Vielleicht wird hier ein Witz gemacht, in dem Sinne, dass das Wort amours ein Konzept der höfischen oder ritterlichen Liebe suggeriert, das im Bild unterminiert oder verworfen wird. Das Bild konfrontiert das höfische Konzept von amours mit einem erotischen oder sexuellen Verständnis von amours. Das Abzeichen wäre dann eine Parodie. Bild und Schrift

|| 18 Alan Robertshaw, „Minne and Liebe: The Fortunes of Love in Late Medieval German“, in: PBB 121 (1999), S. 1–22, hier S. 15: „Suffice it here to say that the word minne had been used throughout the Middle Ages for sexual love, both in literary texts and outside them, and that by the sixteenth century this meaning became dominant“. Die Bildebene auf dem Abzeichen in Abb. 4 macht unmissverständlich klar, dass hier das Wort amours Geschlechtsverkehr bedeutet.

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kommentieren einander wechselseitig; ein Vorgang, der nicht Harmonie, sondern Spannung erzeugt, eine Spannung, in der Komik entstehen kann.

Abb. 5: Zinnabzeichen, Bordellszene in einem hausförmigen Rahmen, in der unteren Ebene auf der linken Seite ein kopulierendes Paar und auf der rechten ein Krug sowie ein Trinkgefäß, in der oberen Ebene eine stehende männliche Figur, deren Kopf über das Dach hinausragt und die ein Fass und einen Krug in den Händen hält, Inschrift SO [M]ENNEN SI IN / MENNEN HUUSE, Anstecknadelbefestigung, Ursprung unbekannt, gefunden in Valenciennes (Frankreich), 3,1 × 3,0 × 0,4 cm, 1375–1424; Valenciennes, Musée des Beaux-Arts, Inv.-Nr. 2005.4.263 (Kunera 10313); mit freundlicher Genehmigung Musée des Beaux-Arts Valenciennes

In dem oben (Abb. 5) abgebildeten beschrifteten Abzeichen kommt das liebende Paar nochmals vor, doch dieses Mal ist die Inszenierung eine andere, nicht in der freien Natur spielt sich die Szene ab, sondern in einem Haus, das aufgrund der Trink- und Essgefäße ein Gasthaus oder gar ein Bordell sein dürfte. Oben auf dem Dachboden steht der Wirt. Er spricht, und zwar auf Niederländisch: ‚So lieben sie sich‘ (= minnen in der Bedeutung ‚Sex haben‘) in meinem Haus oder im Haus der Liebe. Es ist ein Wortspiel, das über die Homophonie von niederländisch mennen (deutsch ‚meinen‘ oder ‚Minne‘) läuft. Die Beschriftung bezieht sich weder auf eine konkrete Zeit (sagt also nicht nu mennen si) noch auf einen konkreten Ort (sagt also nicht her mennen si), sondern sie ist fingierte Rede, die von einer Figur (dem Wirt) in der Szene gesprochen wird, und sie bezieht sich auf die dargestellte Szene, um zu beschreiben, was darin passiert. Solche Redeszenen, auch Wortkulisse (verbal backdrop) genannt, sind in mittelalterlichen Spieltexten geläufig. Die Aussage beantwortet die Frage ‚wie?‘ und kommentiert die Vorgänge auf dem Abzeichen. Unter den ‚sexuellen‘ Abzeichen sind die Phallustiere die zahlreichsten. Dieses fragmentarisch erhaltene Abzeichen zeigt ein berittenes Phallustier, dessen stehender Reiter (ob Mann oder Frau lässt sich nicht mehr genau eruieren, doch Motiv und langes Kleid sprechen für eine Frau) eine Fahne hält, worauf ein einziges Substantiv erscheint: die Seligkeit (Glückseligkeit, Glück) (Abb. 6).

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Abb. 6: Zinnabzeichen, phallische Kreatur, beritten von einer Figur in langer Robe, die ein Schriftband hält, Inschrift DE SELDE-, Anstecknadelbefestigung, Ursprung unbekannt, gefunden in Middelburg (Niederlande), 3,3 × 5,2 cm, 1375–1424; Langbroek, collectie Familie van Beuningen, Inv.Nr. 2538 (Kunera 00629); mit freundlicher Genehmigung collectie Familie van Beuningen

Die Beschriftung kommentiert das Bild und bewertet es positiv: nicht Unglück oder gar Verdammung bringt die Sexualität, sondern Glück und Freude. Auch hier geht die Beschriftung über eine ergänzende Rolle hinaus, denn sie deutet das Bild und gibt ihm einen Sinn. Auch das folgende Beispiel ist wieder ein fragmentarisches Abzeichen; parodiert wird der Lehensgestus (der zu belehnende Ritter kniet vor seinem Herrn oder seiner Herrin), denn der Ritter wird in ein Phallustier verwandelt, der einem Herrn oder eher einer Herrin zu treuen Diensten steht (Abb. 7).

Abb. 7: Zinnabzeichenfragment, phallische Kreatur, die vor einer Figur mit einem langen Gewand kniet, Inschrift CES ROI, Anstecknadelbefestigung, Ursprung unbekannt, gefunden in ’s Hertogenbosch (Niederlande), 3,0 × 3,3 cm, 1365–1423; Langbroek, collectie Familie van Beuningen, Inv.-Nr. 4544 (Kunera 17072); mit freundlicher Genehmigung collectie Familie van Beuningen

Ähnliche, allerdings nicht sexuelle Abzeichen, machen es wahrscheinlich, dass das Phallustier einer Herrin dient, obwohl der fragmentarische Zustand des Abzeichens keinen endgültigen Schluss zulässt. In der höfischen Liebe ist aber die Bereitschaft

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des liebenden Ritters, seiner Dame untertänig zu dienen, schon im hohen Mittelalter zu einem (sehr produktiven) Klischee geworden. So wäre es schon komisch genug, den Ritter in ein Phallustier zu verwandeln, um somit unmissverständlich auf den körperlichen Aspekt der Liebe hinzuweisen, der in der höfischen Liebe eher verschleiernd, diskret oder sublimierend abgehandelt wird. Doch das Abzeichen erweitert mit seiner französischen Beschriftung den Witz noch: Erklärend wird geschrieben, ‚das ist der König‘. Wer aber ist der König? Wenn die stehende Figur eine Frau ist, kann es doch nur das Phallustier sein. Also: Das Phallustier (der Sex) ist ein König, doch so mächtig ist die Dame (die Liebe? der Sex?), dass er dient, dienen muss. Hiermit wäre es wieder ein Abzeichen, das sich kommentierend und mokierend zur höfischen Liebe verhält, die zweifach entlarvt wird, erstens durch das Bild, das die Körperlichkeit als unabdingbaren Bestandteil der höfischen Liebe darstellt, und zweitens durch die Beschriftung, die die Mächtigkeit dieser Körperlichkeit proklamiert. Bei allen Beispielen in dieser Kategorie gilt Folgendes: Um die offenbar beabsichtigte komische Wirkung genießen zu können, muss man die Beschriftung lesen. Nur so entfaltet sich die volle Wirkung des Abzeichens, die gerade auf der NichtIdentität von Bild und Schrift beruht. Diese Feststellung gilt auch für das letzte Abzeichen in dieser Kategorie, eines, das erst vor kurzem veröffentlicht wurde. Zu sehen ist eine Vulva (auch sonst ein breit überliefertes Motiv bei den Abzeichen), die sich neben einer beschrifteten Plakette befindet (Abb. 8). Auf der Plakette steht, spiegelverkehrt, folgender Satz: DIT.ES.CONTE.ENDE.AR.GHESELLE.KIN+DIE.VAN+ROMEN.COMMEN.SIN Hier ist fud und ihr kleiner Freund, die aus Rom gekommen sind.

Abb. 8: Zinnabzeichen, gehende Vulva-Figur und Tafel mit in Spiegelschrift geschriebenem Text, Ösenbefestigung, Ursprung unbekannt, gefunden in Sluis (Niederlande), 3,0 × 4,2 cm, 1375–1424; Langbroek, collectie Familie van Beuningen, Inv.-Nr. 4225 (Kunera 17090); mit freundlicher Genehmigung collectie Familie van Beuningen

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Dieser Text ist eine Rede, die jedoch nicht von der Vulva stammt, sondern von einem Erzähler, und zwar in einer Form, die einem Mediävisten sofort bekannt ist. Der Text spricht wie ein Herold in einem Fastnachtspiel. Hier ein beliebiges Beispiel der in der Gattung allgegenwärtigen Redeform aus einem Fastnachtspiel von Hans Rosenplüt: Nu schweigt ain weil und redt nit vil und hrt, was ich euch sagen wil! Hie ist ain mayster in medicinis Und kan die kunst des mayster Plinis Und des hohen maysters kunst Origenis Und kumpt auss der höchsten schul Athenis.19

Die Rede auf der Plakette entspricht der Rede des Herolds. Wo im Spieltext der Herold dem Zuschauer die Identität der vortretenden Figur erklärt, gefestigt sogar mit einer geographischen Zuweisung (Hie ist ain mayster in medicinis [...] Und kumpt auss der höchsten schul Athenis.), tut die Plakette genau das Gleiche (Dit es conte ende ar ghesellekin die van romen commen sin.). Das sind literarische Bezüge, die hergestellt werden, und somit intertextuelle Querverweise. Das Abzeichen ist ohne den Text nicht verständlich, und der Text ist am ehesten verständlich, wenn man ihn als Zitat (oder Nachahmung) einer bestimmten Gattung, nämlich des Spieltextes, versteht. Wie das mittelalterliche Fastnachtspiel stellt die Plakette grundsätzlich eine Textart dar, in der Mündlichkeit fingiert wird.20 Auf eine Diskussion der religiösen Satire über Pilgerfahrten, die hier mitschwingt, muss leider verzichtet werden. Im Rahmen dieser Abhandlung steht fest, dass auf diesem Abzeichen die Beschriftung nicht ergänzend und schon gar nicht überflüssig ist. Vielmehr kommt dem Text die zentrale Bedeutung zu, weil er eine Relation zwischen dem Abzeichen und seinem Träger schafft, auf den er verweist, denn: Wer ist dieses ghesellekin? Wohl die Person – Mann oder Frau, die das Abzeichen trägt. So wird die Präsenz einer Person, die das Abzeichen trägt, vom Abzeichen selber evoziert. Es wird ein ‚hier und jetzt‘ suggeriert, das auch in den literarischen Konventionen der Minnereden und Mären vorkommt. So überraschend dies bei einem so drastischen Bild klingen mag, das Bild tritt doch ein wenig in den Hintergrund. Da der Text die Dinge beim Namen nennt, braucht das Abzeichen nicht einmal das obszöne Bild, um obszön zu sein. Hier ergänzt das Bild den Text. Das Abzeichen spricht, aber in der dritten Person. Mit diesem Beispiel (wie auch mit Abb. 5) werden die Abzeichen aktiv; sie beginnen selbst zu sprechen. || 19 Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Dieter Wuttke, Stuttgart 72006 (RUB 9415), S. 8, v. 1–6. 20 Siehe Ann Marie Rasmussen, „Reading in Nuremberg’s Fifteenth-Century Carnival Plays“, in: Literary Studies and the Pursuits of Reading, ed. by Eric Downing, Jonathan M. Hess und Richard V. Benson, Rochester, N.Y. 2012, S. 68-83.

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4 Sprechen als Gebet In diese Kategorie gehören diejenigen Abzeichen, auf denen gesprochene Sprache repräsentiert wird, die ein Gebet (auch Wunsch oder Segen) darstellen. (Dies mag auch für DE SELDE in Abb. 6 gelten). Weit verbreitet auf Zeichen ist das Ave Maria, das verschiedene Formen annehmen kann, so zum Beispiel: AV:E MARIA G; .AVE.MARIA.GRACI. A.V.E.M.A.R.I.A. und so weiter. Stellvertretend für zahlreiche Abzeichen mag ein außerordentlich schönes und aufwändiges Abzeichen stehen, das aus Aachen stammt und in Dordrecht gefunden wurde (Abb. 9 und 10).

Abb. 9: Klappbares Zinnabzeichen, innen befinden sich quadratische Glasspiegel, überdacht von Tympana mit Veronica (Vera Icon) (links) und der Tunika der Jungfrau Maria (rechts), Kreuzblumen, Engel und die Jungfrau Maria, Anhängerbefestigung, Aachen (Deutschland), gefunden in Dordrecht (Niederlande), 11,1 × 11,4 cm, 1375–1424; Langbroek, collectie Familie van Beuningen, Inv.-Nr. 3753 (Kunera 06794v). (Das papierne Abbild vom Engel ist modern und wurde beigefügt, um die Funktion des Abzeichens besser zu illustrieren.); mit freundlicher Genehmigung der collectie Familie van Beuningen

Das Abzeichen besteht aus zwei Teilen oder Flügeln, mit Scharnieren auf einer Seite fixiert, sodass man es öffnen oder zusammenklappen und schließen kann. Vermutlich kann das geöffnete Abzeichen von selbst stehen. Doch hat es auch sorgfältig angebrachte, kleine überlappende Ringe ganz oben (jetzt teilweise abgebrochen), sodass es auch als Anhänger getragen werden konnte. Das Abzeichen ist aufwändig geschmückt, auf der Innenseite haften Spiegel (typisch für spätmittelalterliche Abzeichen aus Aachen), und es sind noch viele Spuren der ursprünglichen Bemalung erhalten. Alles in allem ist das Abzeichen aus zweierlei Gründen einmalig, zum

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einen wegen der üppigen und sorgfältigen Gestaltung und zum anderen wegen des guten Erhaltungszustandes (auch vor der Restauration). Interessant ist in unserem Zusammenhang, dass wieder eine Anwendung von bekannten Formen und Verfahren vorliegt: Es ahmt in verkleinerter Form einen Altar nach, der auf dem Körper als Anhänger tragbar ist, also die Anwendung oder die Umfunktionierung einer bekannten Form in einem neuen Medium. Altäre bleiben im Mittelalter weitgehend (wenn auch nicht immer) am Platz; sie lassen sich nicht so leicht versetzen. Sie werden von geweihten Klerikern genutzt. Nur zu bestimmten Anlässen, wenn überhaupt, konnte der Laie in ihre unmittelbare Nähe kommen. Bei dem altarähnlichen Zeichen aus Aachen ist es umgekehrt: Dieser (Pseudo-)Altar ist tragbar, versetzbar, persönlich, laikal und sogar intim. Die Person, die das Abzeichen trägt, erschafft seinen Kontext immer wieder neu.

Abb. 10: Klappbares Zinnabzeichen, außen befinden sich Heilige in Arkadennischen, drei männliche Heilige auf der rechten Seite, überdacht von einem Tympanon mit Veronica (Vera Icon) und drei weibliche Heilige auf der linken Seite, überdacht von der Tunika der Jungfrau Maria; Kreuzblumen, Engel und die Jungfrau Maria, Anhängerbefestigung, Aachen (Deutschland), gefunden in Dordrecht (Niederlande), 11,1 × 11,4 cm, 1375–1424; Langbroek, collectie Familie van Beuningen, inv. 3753 (Kunera 06794v); mit freundlicher Genehmigung der collectie Familie van Beuningen

Jede Hälfte des Aachener Abzeichens ist mit einem AVE MARIA beschriftet. Die Beschriftung ist sorgfältig eingetragen auf winzige Bleche, die wie kleine Rahmen die Unter- und Seitenkanten umfassen. Die Beschriftung beginnt unten rechts. Man liest nach links, geht die linke Seite hoch und setzt mit dem Lesen fort, indem man auf der rechten Seite von oben nach unten liest, ein systematischer Vorgang also, der mit dem Petrus und Paulus-Abzeichen aus Rom einiges gemeinsam hat. Jede Altar-

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hälfte ist gleich zusammengesetzt, sodass das AVE MARIA zweimal vorhanden ist (ohne Abb.).21 Es ist offensichtlich, dass hier die Beschriftung ein Gebet wiedergibt, einen rituellen Sprechakt also, der einen Dialog mit Maria eröffnet.22 Doch wer spricht das Gebet? Die Heiligen auf der Innenseite? Maria selbst oder Christus, die beide (sogar zweimal) abgebildet sind? Die Engel, ganz oben? Der Träger? Dies alles kommt mir unwahrscheinlich vor. Es gibt Mittel, wie Spruchbänder und Schriftrollen, die überall und auch auf Abzeichen angewendet werden, wenn direkte Rede dargestellt werden soll, doch auf diese Möglichkeit wird in diesem Fall verzichtet. Der Träger, wie fromm auch immer er oder sie sein möchte, sollte oder wollte, wird eine Gedächtnisstütze für dieses Gebet nicht nötig gehabt haben. Wahrscheinlicher ist es, dass das Abzeichen selbst das Ave Maria spricht. Es wäre also ein Pilgerzeichen, das als sprechendes Objekt sein Ave Maria mit imaginierter Stimme darstellt.

5 Das sprechende Bild Schließlich gibt es auch Abzeichen, die unmissverständlich kundtun, dass das Abzeichen selbst spricht.

Abb. 11: Zinnabzeichen, Windhund mit Halsband, der auf einem Schriftband kauert, Inschrift BIEN AIA QUI ME PORTE, Anstecknadelbefestigung, Länge 5,7 cm, Frankreich, gefunden in Paris (Frankreich), 1300–1399; Praha, Museum to Prague, Czech Republic, UPM 5 767/1894 (Kunera 01898) mit freundlicher Genehmigung Museum of Decorative Arts Prague, Czech Republic

|| 21 Siehe Kunera-Datenbank 06794v. 22 Wegweisend dazu Maryvonne Hagby und Dagmar Hüpper, „Gebete als dialogische Reden: Die Königstochter von Frankreich (1400) und die Belle Hélène de Constantinople (14. Jahrhundert)“, in: Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende, hg. von Nine Miedema, Angela Schrott und Monika Unzeitig, Berlin 2012 (Historische Dialogforschung 2), S. 191–214.

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Das abgebildete Abzeichen (Abb. 11) zeigt, wie der edle Windhund auf einem Spruchband oder einer Schriftrolle liegt, die eine Beschriftung trägt, die in seinem Mund beginnt. Wieder wird hier eine bekannte Form, die Schriftrolle, verwendet, die aus Handschriften-Illuminationen und sonstigen Kontexten bekannt ist und die oft benutzt wird, um gesprochene Sprache anzuzeigen. Hier spricht also der Windhund, und er sagt auf Französisch: BIEN AIA QUI ME PORTE (‚Wohl dem, der mich trägt‘). Das Wort, das ich hier hervorheben will, ist ME (‚mich‘). Der Windhund spricht und er, der in der mittelalterlichen Vorstellung der edelste aller edlen Hunde ist, verspricht demjenigen, der ihn trägt, Tugend, Güte und Wohlergehen. Der kurze und unprätentiöse Satz, der hier gesprochen wird, ist interessant. Der Windhund hätte ja allerlei sagen können: „Hilf mir aus dem schrecklichen Halsband heraus“, „Ich stehe hier für Güte und Tugend“ oder „Ich bin die personifizierte Vortrefflichkeit“. Aber das Abzeichen macht keine Witze und es verweist nicht auf sich selbst direkt als Allegorie. Es sagt dagegen etwas über seine Funktion aus, die eigentlich selbsterklärend sein müsste, denn es sagt: QUI ME PORTE (‚der mich trägt‘). In diesem Abzeichen spielt die Beschriftung die entscheidende Rolle, denn sie erklärt das Abzeichen und gibt dem Bild seinen Sinn. Somit wird wieder auf diese uns fehlende Dimension eines nicht mehr rekonstruierbaren Hier und Jetzt verwiesen. Durch die fingierte Mündlichkeit eines sprechenden Objektes wird eine schon lange vergangene Gegenwärtigkeit referentiell evoziert.

6 Zusammenfassung Von etwa 1200 bis 1500, 300 Jahre lang, wurden kleine Abzeichen (Pilgerzeichen, Tragezeichen, Zeichen) von Menschen sichtbar getragen, in Kontexten, die nicht mehr voll ausdeutbar sind, aber doch sicher von bestimmten Gruppen, in bestimmten Regionen, zu spezifischen Zwecken, an besonderen Tagen oder in bestimmen Zusammenhängen. Abzeichen sind kleine Bilder, die als mobile (weil tragbare), sinnstiftende Skulpturen funktionierten, die den Blick der Anderen lenkten und ihn für einen kurzen oder langen Augenblick fixierten. Grob geschätzt haben etwa 20 % der erhaltenen Abzeichen eine Beschriftung, die auf verschiedenste Art und Weise bedeutungstragend wird. Beschriftete Abzeichen schöpfen aus den verschiedensten Quellen der Schriftlichkeit. Sie verwenden schriftliche und mündliche Gattungen und Diskurse, von der Liturgie bis zur Inschrift, vom Gebet bis zum Fastnachtspiel, deren Umgang mit Schrift und Rede sie umfunktionieren und verwandeln. Das bedeutet, dass beschriftete Abzeichen intertextuell sind, mehr noch, sie binden ihre Intertextualität und ihre Schriftbenutzung in ein viel größeres, komplexes Verweissystem ein, in dem Schriftlichkeit eine, aber auch nur eine Rolle unter mehreren Faktoren spielt.

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Abzeichen funktionalisieren und transformieren die Schrift, die sowohl auf Schriftlichkeit als auch auf den mündlichen Vortrag, die Rede, verweisen kann. Ich habe im vorliegenden Beitrag einige Kategorien entworfen, die auf einer Progression in der Wechselbeziehung zwischen Schrift und Bild basieren. Schrift als Bild: Hier dominiert eindeutig die Bildebene. Darauf folgt Schrift als Identifizierung, wo das Bild von der Schrift ergänzt wird. Wenn wir es mit Schrift als Kommentar oder Erzählung zu tun haben, hat sich die Schrift gegenüber dem Bild verselbständigt. Sie bringt kommentierend oder widersprechend eine eigene Dimension in das Zeichengebilde, eine Dimension, die nur über das Lesen funktioniert. Mit der vierten Kategorie, Schrift als Gebet, löst sich die Sprache vom Bild in dem Sinne, dass sie selbst zu einer Handlung wird. Und in der fünften Kategorie, das sprechende Bild, realisiert die Beschriftung eine Transformation des Bildes in ein sprechendes Objekt. Das alles ist als Entwicklung beschrieben, doch das täuscht. Diese Klassifikationen und Deutungen sind dem Zeichenkorpus nachträglich zugeordnet worden und spiegeln insofern keine chronologische Entwicklung wider. Diese Taxonomie ist lediglich ein heuristisches Mittel, das die Polyfunktionalität der Beschriftung auf Pilgerzeichen geordnet sichtbar machen will. Es scheint mehr als plausibel, dass es eine diachrone Dimension in der Entwicklung von beschriften Abzeichen gibt. Zudem ist anzunehmen, dass auch eine räumliche Ausdifferenzierung existiert. Es gibt eben in diesem Forschungsbereich und mit diesem Korpus noch sehr viel zum Mittelalter zu entdecken.

Personen-, Werk- und Sachregister actoer

138, 141

– siehe auch Reizrede, (verbale) Gewalt

Adam von Bremen Adaption

206

309–311, 316, 320–322, 328f. /

Bearbeitung 8, 35, 59, 134, 151, 153, 177,

/ Provokation anrufen / Anrufung

148, 184, 374, 378,

429f.

189, 310, 312, 316, 326, 362, 365–369,

Antonius, Wüstenvater

379, 381, 385, 390, 392, 429 / Überset-

Aristoteles

411

327

zung 55, 106, 120, 122, 135–137, 147–

– De anima

149, 151–153, 157, 165, 204, 213f., 232,

– De senso et sensato

326, 329, 383, 438 / Übertragung 120, 122, 319f., 324, 326–329 Akustik

282, 293, 298 / akustisch 4f., 16,

327 327

Artikulation / artikulieren / Artikulationsform

6, 8, 38–42, 91, 98, 301, 303,

305, 368, 392, 420, 423–425, 429f., 463

19, 115, 175, 191, 193f., 279f., 282f., 287,

Artusroman

298f., 301f., 307f., 321f., 325, 328f., 335,

Vom Ascher mittwoch fasten und vasnaht

346, 402, 411, 420, 427f., 430, 436, 438

281, 310, 320, 336

87

reht

/ auditive Rezeption 4, 33, 155, 159,

Vom ascher mitwoch peichten

165–167, 173f., 279, 282, 284, 287,

Asketenlegende

291–293, 295f., 306, 364, 367, 438–

Ásmundar saga kappabana

249

440, 443f.

Asymmetrie / asymmetrisch

421

– siehe auch Hörbarkeit / Hören, Klang /

Auffordern

Klanglichkeit, Sinne / Sinneswahrnehmung, Stimme, Wahrnehmung der Stimme 250

374, 376

409

Augustinus

Albertus Magnus

465

464

Alineazeichen

133, 141, 145, 153f.

siehe graphische Markie-

rung / Codierung Allegorie

101, 424, 437, 447, 486

Alliteration

64

Alltagssprache

84f., 119, 124, 129f., 132,

56, 420, 425, 453

Anapher 78, 113f., 302f. Anegenge

257, 286, 410, 424, 430, 456,

– De civitate dei Ausruf

430

183, 185, 192f., 298, 302f., 306,

372 Auto de los Reyes Magos

119

Autor / Autorschaft 7f., 33f., 43, 51, 68, 98,

291, 348, 460f. Ambivalenz

siehe Bühne, Performanz /

Aufführung(ssituation) / Vortrag

Alanus ab Insulis Alexander van Mets

15, 19f., 47, 74, 121, 179, 181,

220f., 224, 227, 245, 293, 301, 337, 370, Aufführung

Ála flekks saga

87

420–422, 426f., 431

428

Anrede / Anredeform / Adressierung 10, 15, 20, 75, 118, 131, 156, 169, 186, 236, 242, 282f., 293f., 298–300, 304–306, 370f., 378, 382f., 427, 433

141, 143, 152, 158, 160f., 164, 166, 168, 174, 175, 178, 180, 182, 184–186 , 193f., 199, 203, 208f., 211f., 256, 263, 272, 290f., 321, 329, 354, 363, 365–367, 369f., 372, 381f., 384, 387, 389, 393, 396, 398f., 401, 403, 405, 408f., 411, 433 Ave Maria

483–485

– siehe auch Gebet

490 | Personen-, Werk- und Sachregister

Avicenna

465

119, 131

Cantar de mio Cid

Celestina 114, 119, 131 310, 314–316

La Bataille d’Aliscans M

de Beauvau, Pierre / de Beauvau, Louis, 135

Roman de Troïlus Begrüßen / Grüßen

chanson de geste 310

40, 75f., 103, 122, 164,

Chevalerie Vivien Chiasmus

378f., 384, 387f., 390–393, 452 – siehe auch Buße / Bußbekenntnis 87, 364, 366, 384, 421, 428 /

Erklären 7, 48, 50, 116f., 129, 136, 218, 378, 427, 460f., 463, 466 / Unterweisen 464

Chrétien de Troyes

11, 35f., 321, 323

– Chevalier de la Charrete – Erec et Enide – Perceval – Yvain

Bellaert, Jacob

Cliffhanger

311, 324f.

11, 35f., 309, 321f.

311, 323, 343, 345, 453

34f., 309, 320 441f.

9, 351–356, 360–362

de Columnis, Guido, Historia destructionis

208f., 212

Troiae

174

Bibel 90, 365, 421, 427f., 433, 437, 441,

135

Conan Doyle, Arthur

353

– The Empty House

445f. Bild

309

293, 303

Christina von Hane 163, 168, 207 / Schmähen 163,

364

Chanson de Sainte Foy d’Agen

Bekennen

8, 87–91, 96f., 366, 372–376,

309–312, 314

Chanson de Roland

Beichte 86–98, 101–106

Beleidigen

309, 314

Chanson de Rainouart

168, 222, 238, 262, 324, 432, 460

Belehren

309f., 314

Chanson d’Aliscans

7, 11, 21, 26–31, 63, 65–67, 146, 402,

353

– The Hound of the Baskervilles 353

419, 469–487 / Federzeichnung 27, 44, 58, 63, 66 / Holzschnitt 26–28, 176 /

des aveugles

Illumination 486 Bildbeischrift / Bildtitulus Boccaccio, Giovanni – Il Filostrato

93, 135, 137 93, 137 133, 145, 148, 152

27f., 131, 299f., 304f., 339f., 357,

372, 387f., 420, 424f., 427, 446 Brendanlegende, mitteldeutsche ‚Reise‘Fassung

Dante Alighieri

134 410, 424, 434f.

– De vulgari eloquentia – Divina Commedia

Borchgravinne van Vergi Bote

11, 27f., 31, 472

135

– Decamerone

Van den drie blinden danssen / La dance

410, 424

434f.

Destructie van Troyen (Die Hystorye vander Destrucyen van Troyen)

133, 135–137,

152–154 Dialog

1, 5, 9, 12, 21, 26, 35f., 43, 46–48,

50f., 60, 64–66, 68–72, 75, 77, 79, 83– 85, 89f., 98, 102–106, 113–115, 118–124,

428

Broeder Russche 133

127, 129–132, 156, 162–164, 166–169,

Bühne

172, 180, 182–186, 191f., 194, 198, 200,

83, 130, 141f., 156

– siehe auch Performanz / Aufführung (-ssituation) / Vortrag Buevijn van Austoen

133, 135, 137, 152–

209, 422, 452, 459

236, 238–240, 242, 246, 248f., 269– 271, 274f., 288, 293f., 305f., 308, 335, 341, 346–349, 357, 360, 368, 371, 374–

154 Buße / Bußbekenntnis

213f., 217, 220–222, 224–226, 229, 233,

87–93, 97, 102f.,

378, 391, 433, 439, 441, 445f., 463f., 485 / Versdialog 11, 134, 141, 143, 150– 153, 156

Personen-, Werk- und Sachregister | 491

– siehe auch Gesprächseröffnung / Dia-

– van Ghelen, Jan 133

logeröffnung, Halbdialog, Interakti-

– Gooswin, Jan 133

onsmuster / Kommunikationsmuster /

– van Hoochstraten, Michiel Hillen

Dialogmodell / Dialogform

– Koch, Simon

Dialogeröffnung

siehe Gesprächs-

eröffnung / Dialogeröffnung

151

137

– Leeu, Gheraert

134, 145, 159, 176f.

– Snellaert, Christiaen

145

Diederic van Assenede, Historie van Floris 157, 165

ende Blancefloer

direkte Rede 8–10, 15, 18, 21–24, 26, 66,

Ebner, Christine, Offenbarungen 438–441 Ebner, Margaretha, Offenbarungen

75f., 100, 134, 147, 158, 160f., 164, 175,

444

179–183, 189–192, 194, 214–218, 220–

Echofragen

223, 226f., 230, 231–238, 241–248,

Eckenlied

250, 297, 304f., 357, 372, 375f., 378,

Elckerlijc

382–393, 445, 485

Elsässische Legenda Aurea

Diskurs 6f., 86, 125f., 257, 283, 285, 287, 289, 291, 294, 306, 335, 345–348, 366, 372f., 386, 388, 392, 409, 419, 421–

5, 113–121, 123f., 127–132 297 143–145

Elsbet von Waldek Emotion

442–

382–384

438

3f., 35, 51, 134, 146, 148, 166–

169, 181–186, 190–194, 200, 249, 279–

423, 436, 438f., 444, 446–448, 456–

281, 284, 287f., 291, 293–295, 297f.,

458, 465, 486

305, 307f., 371, 375, 392, 448, 463f. /

Diskurstradition

2, 5, 119, 125–129, 131f.

Doctrinael des tijts / Doctrinal du temps 134 Drama

Emotionalisierung 288 Engel

284, 288, 370f., 376–378, 390, 420,

422, 427f., 438–441, 483–485 83, 141–143, 145, 152, 156 /

Lesedrama 143f., 152 / Theater 144, 436 – siehe auch Fastnachtspiel Dramatisierung

4f., 11, 130, 133–135, 137,

Erklären

siehe Belehren

Erzählabschnitt / Erzähleinheit

2f., 9f., 35,

39, 45–52, 64–69, 71f., 74f., 77–79, 100–103, 105f., 122, 133, 135, 137, 141,

139, 141, 143, 156, 174 / dramatisch 9,

143f., 149, 151–153, 161, 174, 180f., 188,

83, 98, 141, 143–145, 149, 151–153, 155,

190, 192–194, 214f., 219, 229, 290, 336,

161, 164, 172, 214f., 229f., 247 / drama-

351–355, 374–393, 405, 437

turgisch 43, 51 Drohen

– siehe auch Textgliederung

38f., 51, 168f., 203, 209, 319, 338

Drucker – Bac, Godevaert

5, 8, 10, 15f., 33f.,

39, 47, 64, 69, 71f., 76, 119, 137f., 141, 145

151, 158, 160, 163, 166f., 169, 173f., 175,

– van Berghen, Adriaen – Cock, Symon

Erzähler / Erzählerfigur

133

133, 154

– Cool, Cornelis Dircksz – van Doesborch, Jan

179, 184f., 190, 192, 200–203, 213–230, 231, 253–256, 261, 263–269, 272–274,

154

282–284, 288, 291, 293f., 297–299,

133–135, 137,

301, 304–308, 345f., 352, 354, 358, 367,

141, 144, 146, 148f., 152–154, 156f.,

369–372, 390, 433, 447, 451, 454, 482 /

160

Erzählerkommentar 67, 137f., 141, 203,

– van den Dorpe, Roland

133–135,

– Feyerabend, Sigmund

229f., 255f., 267f., 293f., 307, 358, 369 / Erzählerrede 3, 71f., 76, 119, 190, 192,

153f. 458

492 | Personen-, Werk- und Sachregister

213, 231, 253–255, 263–267, 273, 297– 299, 301, 305–308 Van den .x. esels 133 Eyrbyggja saga

104, 137, 155, 161, 164,

169, 171f., 180, 182, 189, 194, 222f., 373

419

Eustachiuslegende

– siehe auch Ave Maria, Paternoster Gedankenrede

Gerdrut, Schwester in Engelthal

203, 213–216, 219–221,

Gesang

439

8f., 17, 21, 159, 283, 310, 342, 364,

223–226, 238f., 254, 258, 260, 262,

395f., 399–401, 409f., 420, 423, 427,

265, 268

433–442, 444, 447f. – siehe auch Musik / musikalisch /

Fabel

419–423, 431

Fastnachtspiel

Melodie, Note / Notation / Notierung

16, 85–87, 100, 103, 142,

482, 486 Faustbuch

siehe indirekte Rede

Gesprächseröffnung / Dialogeröffnung

458, 465f.

71,

113, 122f., 126, 181, 183, 186, 220, 444f.,

Federzeichnung siehe Bild Figurenrede

Gesprächsbericht

485

2–7, 10, 15–17, 23, 31, 36, 39,

Gesprächsschritt (turn)

113f., 181, 183,

41, 46, 57, 64, 66, 68f., 71f., 74–76, 79,

191f., 220–229

83–85, 89, 98, 102–107, 130, 138f.,

– siehe auch Sprecherwechsel / Rede-

145f., 148, 155f., 159f., 162–166, 169f., 175, 178–194, 200, 213–230, 231–239,

wechsel / Wechselrede Gestik

11, 27f., 31, 33, 40, 64, 98, 160,

242–246, 253f., 265, 271, 282f., 287–

164, 279–281, 370f., 374f., 377f., 421,

293, 296, 298–308, 309, 341f., 346–

427, 451 / nonverbale Kommunikation

349, 367f., 371f., 375, 377, 387, 449,

192, 279–282, 286, 295 / Haltung 41,

454, 463f., 479, 482

43, 51, 279, 371, 483 / Gebärde 28, 37f.,

– siehe auch Dialog / Versdialog,

40, 65, 279, 281, 290–293, 301f., 305–

Gedankenrede, indirekte Rede, inquit-Formel, Klang / Klanglichkeit, Monolog, Redeeinleitung, Stimme Floris ende Blanceflour

133, 142, 145, 148,

153f.

– siehe auch Mimik / Miene (verbale) Gewalt / Provokation

5, 39,

167f., 170, 205f., 221, 228, 296, 333– 335, 346f., 374

255

Fóstbræðra saga

Frauenlob / Heinrich von Meißen

– siehe auch Reizrede, Anrede / Anrede5, 395,

402f., 405–410 – Zarter Ton Frauentreue

308

5, 395, 402, 405

87, 96

Van heer Frederick van Jenuen, Frederick van

form / Adressierung Geyswürgel (oder Geyswurgel), Michel 100 ghesellen

143

– gheselle van Deinze

142

Jenuen / Frederycke of Jennen (engl.

– ghesellen van der Kercken 142

Übersetzung) 133, 135, 137, 143f., 148,

– ghesellen van rethorijke van Petegem

151–154

142 Gilde / St.-Lucasgilde 143, 145 221, 263, 266f., 271

Der Gardian (Der Guardian) 86, 93, 102

Gísla saga

Gebet 7, 100, 147f., 179, 282, 303, 364f.,

Gonzalo de Berceo

119, 131

367f., 371, 375–393, 422, 426f., 429,

– Milagros de Nuestra Señora 119

435, 437, 441, 472, 483–487

– Vida de San Millán 119

Personen-, Werk- und Sachregister | 493

– Vida de Santo Domingo

 Berlin, Staatsbibliothek, mgf 282

119

Gott / Schöpfer / Schöpfung / Christus

3,

6–8, 72, 90, 139–141, 146–148, 150, 163, 179, 184, 204, 211, 272, 284, 288, 296, 307, 312, 364–367, 370–374, 376– 378, 380, 384f., 390f., 419–422, 424– 428, 430f., 433–435, 437–448, 451,

(Berliner Handschrift von Veldekes Eneas)

21

 Berlin, Staatsbibliothek, Mgo 1430 88  Dresden, Landesbibliothek, Mscr. M 201 (Dresdener Heldenbuch)

20

 Gent, Universitätsbibliothek, Hs. 2471

453–455, 485 Gottfried von Straßburg, Tristan

11, 43f.,

46, 52, 55–63, 65–69, 71–79, 281, 294, 303f., 307, 328, 408, 447

142  Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 97 36

graphische Markierung / Codierung

2, 6,

 Heidelberg, Universitätsbibliothek,

10–12, 21, 31, 36, 47, 50–52, 298

Cod. Pal. germ. 848 (Große Heidelber-

 Alineazeichen

ger Liederhandschrift/Codex Manes-

10f., 17, 21, 24–26,

31, 101–104, 106, 188f., 192, 194  Caputzeichen  Initiale

63, 65–68, 72, 100f., 103, 106f., 179, 10, 15, 20f., 50, 61, 65,

70, 75, 77, 102, 299, 405, 439 10f., 17, 21–24, 31, 101– 10, 17, 57, 60f., 65–69,

71f., 75, 77–79, 106, 188–194, 473  Paragraphenzeichen

10, 17, 21, 46,

 punctus elevatus

thek, Cod. Donaueschingen 104 thek, Cod. K 408

88, 99

Köln, Best. 7020 (W*) 88 Hs. AM 551a 4to

233, 240

58f.

 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 270

89

 München, Bayerische Staatsbiblio-

157

siehe Heiligenlegende /

83, 85f., 88, 90, 93,

99f., 103, 105–109  München, Bayerische Staatsbiblio-

Heiligenvita Hákon Sigurðarson, isländischer Herrscher

thek, Cgm 5919

89

 Paris, Bibliothèque nationale de

204f., 210 Halbdialog 180, 183, 215–217, 219, 229f.

France, Français 1467 [Anc. 7546] 136

Handschriften  Basel, Öffentliche Bibliothek der Universität, Mscr. N I 3: 14

55, 80–82

 Kopenhagen, Universitätsbibliothek,

thek, Cgm 714 Hagiographie

88

 Karlsruhe, Badische Landesbiblio-

thek, Cgm 51

60f.

10, 17, 46, 60f., 100f.,

189–194, 400 Guillaem van Parijs

412f., 415

 München, Bayerische Staatsbiblio-

57, 60f., 65–79, 138  Rubrizierung

Liederhandschrift)

 Köln, Historisches Archiv der Stadt

104, 106, 188  Majuskel

desbibliothek, Ms. El. f. 101 (Jenaer  Karlsruhe, Badische Landesbiblio-

188, 194, 406

 Lombarde

398

 Jena, Thüringer Universitäts- und Lan-

17, 21

10, 17, 22, 36, 43–52, 57, 60,

 Interpunktion

se)

414

 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1 (Weingartner Liederhandschrift)

398

494 | Personen-, Werk- und Sachregister

 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2885

99

157f., 169

 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3027

88

198, 203, 209

137f.

Historie van Reynaert die vos 351

Hartmann von Aue 33–39, 41–45, 47f., 51– 53, 186, 294–296, 302, 308, 311, 320– 323, 354, 363, 452, 455 – Armer Heinrich

157,

159 147

Historie van den ridder metter swane Historie van Seghelijn van Jherusalem höfisches / unhöfisches Sprechen

174

38, 131,

164, 177, 182, 186, 211f., 282f., 288,

455

290, 292f., 296, 345, 362, 366, 426

35–44, 186, 294–296, 301f.,

311, 321–323 – Iwein

174

Historie van twen kopluden 172

258, 263, 268

Hardy, Thomas, A Pair of Blue Eyes

– Gregorius

160

Historie van Margarieta van Limborch

Haralds saga Siguðarsonar 203

– Erec

Historie van Hercules Historie van Jason

Haraldr Sigurðarson, norwegischer König

Harðar saga

Historie van den vier Heemskinderen

Holzschnitt Hörbarkeit

36f., 364

siehe Bild 1–6, 12, 38f., 130, 159, 165,

172, 180, 184–187, 192–194, 226, 253,

33–53, 296, 302f., 307, 311,

320

262, 266, 282f., 293, 376, 405, 407, 410 / Hören 21, 37f., 94, 140, 156–159, 161–

Hartwig von dem Hage, Margaretenlegende 365f., 369, 378, 382, 385, 389f., 392 heilig / Heiligkeit

8, 47, 131, 147, 210, 365,

174, 179, 189–191, 202, 210, 256, 261, 285, 292f., 295–297, 304, 311–313, 315, 317f., 321–323, 326–329, 333–335, 339,

367–381, 384, 386–388, 391–393, 419–

344, 360, 368, 370, 376–378, 384, 425,

421, 423, 429f., 434, 440, 444, 453f.,

429, 438, 441–444, 446

471, 474f., 484f.

– siehe auch Akustik / akustisch / 8, 364, 368f., 372f.,

Der Heiligen Leben

Heiligenlegende / Heiligenvita

2, 8, 131,

363–393, 419f., 422f., 425–431, 442 Heinrich von dem Türlin, Krone/Crône

281,

296f., 336f., 339, 343, 347 Heinrich von Veldeke, Eneasroman 21 Gedrucktes Heldenbuch Heldenepik

17, 27–31

2, 15–17, 31, 61, 290, 297,

310f., 317, 319f. Helena van Constantinopel Helias

133

Zuhörer / Zuschauer, Sinne / Sinneswahrnehmung, Stimme, Wahrnehmung der Stimme Hrafnkels saga freysgoða

232f., 235–243,

245, 247 Hughe van Bourdeus, Hughe van Bordeus 133, 154, 160 Hugo von Langenstein, Martina

438

Hugo von Trimberg, Der Renner

327

133, 135, 145–148, 152–154

Herausforderung

15f., 27, 35f., 266, 311f.,

324, 340 – siehe auch Drohen, Reizrede Historie vander goeder vrouwen Griseldis 160

auditive Rezeption, Klang / Klanglichkeit, Rezipient / Leser / Publikum /

375–388, 390–393

Ikonographie

381, 431, 471f., 474–477

– siehe auch Bild / Federzeichnung / Holzschnitt / Illumination Illumination

siehe Bild

Personen-, Werk- und Sachregister | 495

imitatio / Imitation / Imitabilität

8, 34,

287–308, 319, 323, 326, 334, 359, 378,

131f., 156, 365, 367, 372, 374f., 385,

390, 406f., 435f., 450f.

391–393, 420, 423–426, 429f., 475

– siehe auch Gestik / nonverbale Kom-

indirekte Rede

23, 35, 46f., 157f., 160f.,

164, 175, 180–182, 184, 187, 189, 194, 214–218, 220, 229f., 241, 246f., 382–

munikation / Haltung / Gebärde, Laut / Lautstärke, Stimme Klang / Klanglichkeit

4f., 8, 39, 161f., 164,

384, 387, 389 / Redebericht /

170, 180, 185f., 188, 279–308, 309f.,

Gesprächsbericht 157f., 160f., 163f.,

312–314, 317f., 325, 328, 335, 346,

180, 182, 194, 217, 221–223, 241

392f., 395–397, 402, 408–411, 424f.,

Initiale

siehe graphische Markierung /

Codierung inquit-Formel

427f., 434–436, 438, 441f. – siehe auch Akustik / akustisch /

3f., 10f., 15–24, 35f., 41, 43,

46f., 49, 66, 71–76, 79, 102f., 105f., 158,

auditive Rezeption, Hörbarkeit / Hören, Laut / Lautstärke, Stimme

162f., 180–185, 187, 189f., 193, 231–

Knýtlinga saga

250, 283, 299–307

Komik

Inschrift

472–475, 478–480, 485f.

481 / Witz 132, 478, 481, 486 / Humor

Interaktionsmuster / Kommunikationsmuster / Dialogmodell

97, 131f., 217, 222,

236, 246, 252, 352, 354, 374, 384, 420, 441 / Dialogform 124, 137, 236, 239 Interpunktion

siehe graphische Markie-

rung / Codierung Ironie

206f.

42f., 88f., 92, 98, 124, 132, 479,

36, 42, 436

426 Konrad von Megenberg, Buch der Natur 285, 327, 424f. Konrad von Würzburg – Herzmaere

87

– Pantaleon

363

Kudrun

87, 363, 373, 409

311, 317, 319

Kultivierung / Kultiviertheit Jacob Jacobszoon van der Meer Jacobus van Breda

174

160

Jacobus de Voragine, Legenda Aurea

8,

366, 368f., 381–385, 429f. Jan van Beverley

286f., 292f.,

420, 422f., 425f., 431 Lancelot en prose / Prosalancelot

311,

324–326

133, 151

Langmann, Adelheid, Offenbarungen

Johannes, Evangelist 444

436,

438, 444–446 Laut / Lautstärke

Johannes der Täufer 440 Vanden Jongen geheeten Jacke 141, 151

5, 35, 37–39, 41, 51f.,

161f., 183f., 186, 190f., 244, 249, 279– 281, 284–286, 291f., 295–298, 301–

wo koningk Karl steken vor mit Ollegaste / Karel ende Elegast

St. Katharinentaler Schwesternbuch

438,

– siehe auch Hörbarkeit / Hören, Klang / Klanglichkeit, Stimme

444 Kaufringer, Heinrich, Mönch als Liebesbote B

305, 307f., 317, 319, 322f., 333, 347, 360, 386, 410, 423, 442f.

142

87–89

Kempe, Margery Klage / Klagen

443 5, 37f., 40, 49, 122f., 161,

163, 173, 184, 192–194, 228, 279–284,

Layout / mise en page

1f., 15, 21, 31, 45f.,

50, 55–57, 60, 62–66, 68, 76–79, 85, 106, 398–401 Lazarus

451, 554

496 | Personen-, Werk- und Sachregister

Legende des Heiligen Thomas Becket

8,

429

Medialität Medium

Lektüre / Vorlesen

2, 6, 9–11, 19, 26, 28,

33–36, 38, 41f., 45, 50–52, 55–57, 59– 66, 68–72, 75–79, 95, 99, 105, 107, 156, 159, 163, 166, 174, 175f., 182f., 186, 188,

425 1f., 8–12, 63f., 234, 289, 351–355,

361f., 419, 424, 426f., 430, 457, 471f., 476, 484 Mehrstimmigkeit

191, 193, 197, 200, 221, 231, 246, 298,

Merlijn

340, 351f., 359–362, 364, 375, 393, 395,

Mimik / Miene

411, 443, 446–448, 458

133f., 149f., 152–154 41f., 98, 163f., 279, 286,

370, 421, 427

– siehe auch Drama / Lesedrama /

minne

40, 87, 93f., 100f., 169, 290, 304,

Theater, Performanz / Aufführung-

337, 340–342, 370, 406, 447, 478f. /

(ssituation) / Vortrag

amours 93, 476–478 / Liebe 66f., 93–

Lesefähigkeit

474f. / Lesbarkeit 473–477,

479, 484, 487 / Unlesbarkeit 473, 475 Libro de Alexandre

119, 131

183–185, 191–194, 233, 287f., 328, 336, 445–447, 458, 465, 476–481 /

Liturgie 7, 436–444, 486 Lombarde

97, 124, 135, 148, 166, 171, 177, 179–181, 338, 340, 342f., 348, 370, 406–408,

Libro de Apolonio 119, 131

Liebesgabe 94f., 476f.

siehe graphische Markierung /

Codierung Lyrik

siehe Polyphonie /

Mehrstimmigkeit / Vielstimmigkeit

Der Minne Kraft Minnesang

134f., 143, 395f.

– siehe auch Gesang, Lyrik, Musik /

– siehe auch Minnesang, refrein /

musikalisch / Melodie

rederijkersrefreinen

De mirabilibus mundi Monolog

Dÿ macköcken pus 87 Magie / Zauber

Magnús Óláfsson, norwegischer König

198

siehe graphische Markierung /

Codierung 133, 154, 157,

133, 143f., 151–154 366, 368, 376f.,

388, 435f., 438, 444 57, 176, 393, 397–399

Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit

307, 433, 435, 440

Mechthilt, Rittrin aus St. Katharinental 438

132, 141, 155f., 162, 176, 200, 273f., 298,

– fingierte Mündlichkeit

1–3, 12, 113,

119, 129–132, 155, 166, 200, 213, 255,

Mariken van Nieumeghen / Mary of Nemme-

Materialität

69, 72, 98f., 107, 113, 119f., 124f., 130–

476, 486f.

161–163, 169, 172

Märtyrer / Martyrium

1f., 5–7, 9–

12, 17, 31, 33f., 36, 43, 55–57, 61–66,

363f., 395–397, 400–403, 410f., 472–

133

Margarieta van Limborch

gen

368, 375 Mündlichkeit / Schriftlichkeit

267f., 273, 343, 451, 453–462, 464–467

Malegijs

465

49, 67f., 137f., 145–148, 156,

164, 171, 180, 183, 194, 215, 220, 308,

3, 6f., 170f., 198, 204f.,

208, 210–212, 226, 228f., 259, 265,

Majuskel

101

6, 395–397, 399, 403, 408

471, 479, 482, 486 Musik / musikalisch

8, 66f., 158f., 162,

170, 283, 395, 397, 400, 402–405, 407– 411, 428, 434–436, 440 / Melodie 5f., 16f., 170, 395–409, 411 – siehe auch Gesang, Note / Notation / Notierung Der mit der grossen mÿnne kraft

101

Personen-, Werk- und Sachregister | 497

Mystik

8, 307, 433, 436, 439–443, 446,

448

346f., 391, 419f., 428–431, 442, 451, 455, 459–467 / Performativität 34, 164f., 172, 455, 461f., 464

427

Navigatio Sancti Brendani

– siehe auch Sprechakt / Sprechakt-

5, 279–284, 298–302,

Nibelungenklage 304–308, 356

5, 9, 11, 44, 64, 200, 280–

Nibelungenlied

theorie / Sprechakttypen / Illokution Performanz / Aufführung(ssituation) / Vortrag

1–3, 6–9, 11f., 15, 16–21, 31, 33–

283, 299f., 311, 317f., 331, 334–336,

36, 38f., 41–43, 47, 50–52, 56f., 62–65,

346–349, 355f., 361

69, 79, 98f., 102f., 105, 107, 143, 156–

214, 246, 253f.

Njáls saga

159, 174, 175f., 186, 188, 191–194, 197f.,

Note / Notation / Notierung 6, 396, 399– 404, 411, 413–415

202f., 206–208, 212, 236, 282f., 287, 289, 292–294, 298–300, 304–308, 352, 354f., 360–362, 363–365, 367, 372,

Óðinn 211

375f., 391–393, 395–397, 400f., 403–

Óláfr Haraldsson, norwegischer König

210

Óláfr Tryggvason, norwegischer König 206, 210

Ovid

204

310f.

474f.

424f.

Physiologus Pilgerzeichen

311, 317f.

Ortnit

– siehe auch Lektüre / Vorlesen Petrus, Apostel

Óláfs saga Tryggvasonar Orendel

405, 409–411, 447, 471–475, 487

7, 469–487

Das plümleingertlein (Das Herz als Garten

407

101

der Liebe)

Poema de Fernán González Paragraphenzeichen

siehe graphische

Markierung / Codierung Parallelismus

migkeit

371f., 376f.

Paris und Vienna

144, 175–180, 182, 193f.

Paternoster

– siehe auch Gesang, Musik / musikalisch / Melodie, Stimme Predigt

133

Priscian

426, 429

Prosa

– siehe auch Gebet Paul / Paulus, Apostel Peeter van Provencen

126, 436, 444–447 410, 423 2–4, 105, 133–154, 156–174, 197–

199, 214, 231f., 249f., 251, 364, 366, 437, 474f.

Paulus eremita, Wüstenvater

421

133, 135, 145, 148,

154

369, 383, 436 – siehe auch Vers / Wechsel zwischen Prosa und Vers Prosaroman

Dÿ falsch peicht (Der Mönch als Liebesbote A)

471f.

8, 366, 368f., 381–385, 429–

431 Pastoor te Kalenberghe

5, 7f., 12, 116–120, 129, 282,

308, 399, 404, 434–438, 440, 443–445,

Parodie 88, 98, 100, 124, 480f. Passional

119

Polyphonie / Mehrstimmigkeit / Vielstim-

86–89, 93, 97f., 104f.

Dÿ zwu peicht (Die zwei Beichten B) 86–89,

Prosimetrum

3, 7, 28, 31, 93,

96f., 156f., 167, 270, 287, 293, 335,

133f., 153f.

Prosper Alfaric Provokation

97, 104 Performanz / performativ

2, 4, 133–154, 155–174, 175–

194 364 siehe (verbale) Gewalt /

Provokation

498 | Personen-, Werk- und Sachregister

Publikum

siehe Rezipient / Leser /

Publikum / Zuhörer / Zuschauer siehe graphische

punctus elevatus

Markierung / Codierung

Reimbindung 37, 300 / Reimbrechung 139, 299f., 305f., 308 / Reimpaarvers 17, 83, 85f., 100, 107, 135, 137, 145, 151, 305, 307, 310 / Reimpunkt 50 / Reimschema 138f., 406f. / Reimwort 18, 51,

Rabenschlacht

283f.

Rat der Vögel

101, 103

Raum / sakraler Raum

139, 301–303 – siehe auch Prosa, Vers / Wechsel 9, 26, 28, 31, 186,

zwischen Prosa und Vers

230, 282, 285, 287, 290f., 293, 295,

Reinbot von Durne, Der Heilige Georg 363

302, 306, 393, 427, 430f., 435, 441,

Reinmar der Ältere

464, 471, 475

Reizrede

Redeankündigung

siehe inquit-Formel

Redebericht / Gesprächsbericht

siehe

indirekte Rede Redeeinleitung

407

35, 38, 321, 331, 349, 357, 359–

361 – siehe auch Anrede / Anredeform / Adressierung, (verbale) Gewalt /

18–24, 26, 47, 66, 72, 74,

76, 79, 99, 102–106, 162, 167, 180–187, 189–193, 221, 224, 231–250, 283, 298–

Provokation Renout van Montelbaen / Reinolt von Montelban

157

303, 305

Repräsentation

– siehe auch inquit-Formel

Rezipient / Leser / Publikum / Zuhörer /

Redehaftigkeit

86, 101, 428

rederijker / rhétoriqueur

Zuschauer

134, 137, 143–

327, 366, 400, 477 1–5, 8–10, 15, 18, 33–35,

39, 41, 47, 52, 55–66, 68–72, 75–79, 93,

145, 148f., 152f.

98f., 130, 134, 141, 143, 149, 151f., 156,

– Jan Casus 145

159f., 162–168, 172–174, 175, 179, 182f.,

– Jan van Stijevoort

148

185f., 188, 191, 193, 197f., 200, 205, 210,

rederijkerskamer / Literaturgesellschaft 134, 142–145 – De Groyende

212, 219, 221–223, 230, 232–234, 236, 243f., 246, 248f., 251f., 255f., 271–275,

142

– Het Vreuchdendal Redeszene / Dialogszene

279, 281–284, 287–289, 291–295, 298, 143

301, 306, 308, 310, 332, 335, 338, 340,

1f., 4f., 9–12,

345, 349, 351–355, 359f., 362, 363–368,

24, 26f., 31, 34f., 42–52, 155–157, 160,

370, 372–375, 381f., 384f., 388, 391–

163–165, 178, 180, 182f., 186, 188, 190,

393, 409, 411, 442, 446–448, 458, 474,

193f., 213–230, 231, 346, 463f., 479 – siehe auch Gesprächsschritt (turn),

62, 64, 75, 78f., 93, 99,

inquit-Formel, Redeeinleitung,

130–132, 138f., 154, 164, 199f., 229f.,

Sprecherwechsel / Redewechsel /

231, 234, 249, 279f., 286f., 295f., 301,

Wechselrede

303f., 306–308, 338, 342, 367, 369,

Redewechsel

siehe Sprecherwechsel /

Redewechsel / Wechselrede refrein / rederijkersrefreinen

133f., 143–

149, 152 Reim

482 Rhetorik / Stil

5, 36f., 51f., 133, 153, 156, 305–307,

310, 354, 402, 407f., 409, 436 /

371–373, 377, 385, 408 – siehe auch Allegorie, Alliteration, Anapher, Ausruf, Chiasmus, Ironie, Komik / Witz / Humor, Parallelismus, rhetorische Frage, Topos

Personen-, Werk- und Sachregister | 499

rhetorische Frage 185, 224, 298, 301, 306, 354

bote C

Rhythmus / rhythmisch

5, 354f., 372,

374f., 377, 387f., 397, 404f., 427

Schrift

86f., 90, 103f.

Kapelle) 86f., 102

7, 17, 19, 22f., 26, 31, 33, 86–88,

100f., 135, 141–143, 188, 240, 285, 400, Schriftbild 36, 43, 45 / Schriftraum / Schriftspiegel 58, 60, 68, 72, 104 / Be-

8, 87, 260, 377f., 391, 451–453,

456f., 460f., 472

schriftung 472–477, 479–482, 484–487 / Buchstabe 7, 45, 101, 179, 189, 285,

8, 19, 88, 106, 131, 179, 189, 230,

256, 272f., 292, 386, 433, 436f., 471 / Rollenverteilung 69, 142, 151 /

471–474 / Pseudotext 473f. – siehe auch Mündlichkeit / Schriftlichkeit, Text-Bild-Relation

Markierung der Sprecherrolle 35, 71f., 74–77, 79

Schriftlichkeit

siehe Mündlichkeit /

Schriftlichkeit

Rollentext 134 / Spieltext 151, 481, 484f. / Sprechtext 137, 139, 148 / Spielrolle 144 Roman van Heinric ende Margriete van

Schriftrolle

Segen

Rosengarten zu Worms

15, 17f., 21f., 24, 31

Rosenplüt, Hans [auch als Schneper]

480, 485f.

86,

100, 482

19, 92, 158, 483

Sehen / Sichtbarkeit

185f., 226, 286, 291,

293, 318, 327, 457, 471, 475, 486 – siehe auch Repräsentation

– Dÿ Beÿcht (Die Beichte) 86f. – Dÿ sechs erczt (Die sechs Ärzte)

Seuse, Heinrich 86

440, 443f.

Severszoen, Jan 157

Roskildechronik 206

Von der plinten sew

Rubrizierung

Sherlock (BBC-Serie)

siehe graphische Markie-

87 353

Sidwibrin, Mezzi 442

rung / Codierung Ruiz, Juan, Archipreste de Hita, Libro de Buen Amor 119f., 124 Ruodlieb

93, 100

Der Schüler von Paris

Schweigen 102, 136, 262, 337, 348

Limborch 157

Rumelant

477

405f., 410, 472f., 475, 477f., 481, 486f. /

Der Ritter mit den Seln (Der Württemberger)

Rolle

88f.

Schreibschul- und Kanzeleibetrieb

Der Ritter in der cappelln (Der Ritter in der

Ritual

Schneeberger, Hans, Mönch als Liebes-

Sinne / Sinneswahrnehmung

62–64, 68,

75–78, 98, 139f., 169, 174, 211, 216, 261, 284–286, 294, 296, 311f., 316, 320, 323,

406 425–427, 429

325, 327–329, 333, 338, 402, 410f., 423, 441, 450f.

Sachsenspiegel Saga

291

2f., 6f., 197–201, 203, 206, 210–212,

213f., 217, 219, 228–230, 231–233, 235,

– siehe auch Klang / Klanglichkeit, Hörbarkeit / Hören, Sehen / Sichtbarkeit

239, 241–243, 246f., 249, 251–256, 259,

Smient, Ot. B.

263, 265, 267f., 270–275

Sneglu-Halla þáttr 209, 212

Sakrament 85, 87, 89–92 Salman und Morolf

310

Snorri Sturluson, Skáldskaparmál

204–

206, 211 Spel van Aymynskinderen / Heemskinderen

Satire 485 Saxo Grammaticus Schmähen

157

206

siehe Beleidigen

143

500 | Personen-, Werk- und Sachregister

een groet spel van Florijsse ende van

Sprechhandlung

142

Blanchefloere

een scoen spel van Gryselle 142

Spruchband

’t Spel van den wijghe van Ronchevale /

Spruchdichtung

Strijt van Roncevale Spiel / Spielbeleg

133f., 142, 153f.

Theater, ghesellen, rederijker / rhétoriqueur, Fastnachtspiel siehe ghesellen,

rederijker / rhétoriqueur Spielmannsepik

– siehe auch Lyrik Stil

siehe Rhetorik / Stil

Stimme 1–12, 15f., 21, 24, 36–41, 51, 63, 65, 107, 113, 118, 125, 158f., 174, 175, 178, 182–187, 190–193, 198, 210, 212, 275, 279f., 282–287, 291–298, 302,

36, 42, 50, 168, 207,

209, 228, 260 Sprachbegabung

5f., 395, 397, 399, 401–

252–256, 260–262, 264–266, 268–273,

310

Spott / Verspotten

27, 31, 473, 478, 486

403, 405f., 408f., 411

141f., 144f., 156

– siehe auch Drama / Lesedrama /

Spielgesellschaft

8, 31, 84f., 89, 93, 97f.,

249, 372f., 384, 391f.

306–308, 309, 312–315, 317f., 320–323, 325–327, 334f., 347, 367f., 375, 377,

280, 292, 419, 423–425

381, 392f., 395–397, 401, 405, 408–411,

/ Sprachfähigkeit 8, 420, 423f., 426f.,

419, 423–425, 427f., 433–438, 441f.,

430 / Sprechfähigkeit 8, 425, 430 /

444, 446–448, 471

Sprechautomat 424–426, 430

– Erzählerstimme 8, 10, 31, 69, 141,

Sprache

6–8, 98, 119f., 127, 129–132,

213f., 230, 253, 255f., 282–284, 299,

164f., 167f., 170, 284–287, 316, 325f.,

307, 335, 433

335, 346f., 375, 404, 408, 420, 423–

– Figurenstimme

2–8, 10, 31, 36–40,

426, 462 / Redeweise 43, 451, 460

69, 79, 103, 107, 148, 175, 178–180,

– siehe auch Klang / Klanglichkeit,

182f., 191–194, 214, 219, 230, 262,

Stimme Sprachmagie / Sprechmagie

282–284, 291–297, 302, 305, 307f., siehe Magie

/ Zauber

374–376, 378, 381, 384–386, 391f.,

Sprachphilosophie, antike 423 Sprechakt

309–329, 333–335, 365, 367f., 371f.,

5, 8, 97, 102, 113, 115f., 121,

124, 139, 156f., 161, 165, 241, 270, 287, 294, 304, 306, 308, 373f., 388, 423, 426, 429–431, 454f., 459–464, 466, 485 / Sprechakttheorie 270, 287, 294, 373f., 388, 454f., 459–464 / Sprechakttypen

433, 435–438, 441f., 444–446 – imaginierte Stimme 6, 65, 175, 308, 411, 485 – Individualität der Stimme 4, 285, 287, 293, 306, 314f., 318, 327 / Verstellen der Stimme 317f. – Sängerstimme / Stimme des Vortra-

306, 308/ Illokution 114–117, 123, 241,

genden 7–9, 15–18, 32, 34–36, 65f.,

348f., 374, 460, 466

69, 79, 174f., 364, 372, 396

Sprecherwechsel / Redewechsel / Wechselrede

10, 15f., 18f., 21, 24, 31, 35, 62,

65f., 70, 72–75, 77–79, 99, 102–107,

– Stimmgewalt 5, 39, 334–337, 428 – Tierstimme

8, 38f., 284f., 287, 297,

420, 423–425, 427–430

118, 122, 131, 192, 219, 221, 225–230,

– siehe auch Polyphonie / Mehrstim-

246, 282–284, 289f., 299f., 435, 440

migkeit / Vielstimmigkeit, Klang /

– siehe auch Gesprächsschritt (turn),

Klanglichkeit, Wunder / wunderbar /

inquit-Formel

Verwunderung

Personen-, Werk- und Sachregister | 501

Stimmlichkeit

2, 6, 11f., 34f., 39–41, 43,

Þorleifs þáttr (jarlsskálds) 198, 203–205,

51, 98, 102, 159f., 165, 176, 178, 180, 184f., 188, 191, 193, 279–282, 284f.,

208–210, 212 Þorsteins þáttr sǫgufróða / Íslendings þáttr

295, 299, 306–308, 365, 367f., 372, 374f., 377, 385f., 388, 390, 392f., 423 / Stimmhaftigkeit 392, 471f. Stimmung / Gestimmtheit

198, 201f., 212

38–40, 155, 259, 261, 274, 419–431, 483 / Bär 421 / Drache 38, 66, 284, 297,

279, 282f., 291,

295, 377 Stricker

sǫgufróða Tier

376, 379–381, 386–389, 391 / Esel 427f. / Fuchs 421–423, 431 / Hirsch 419 /

83–85, 98, 104, 310, 313f., 328

Hund 149f., 259, 265, 385, 423f., 485f. /

– Ehescheidungsgespräch 85, 104

Hyäne 421 / Löwe 38, 40, 49, 255 /

– Karl der Große

Phallustier 479–481 / Vogel 8, 21, 101,

Striegel

310, 313

99, 105

103, 216, 284f., 409f., 420–431 / Amsel 133f., 142, 153f.

Strijt van Roncevale

Strophe / strophisch 2, 9, 11, 15–18, 21f.,

168, 421f. / Dohle 425–427, 431 / Elster 410, 420, 424 / Krähe 420 / Papagei 425

24, 26, 31, 67f., 120f., 123, 130, 138,

/ Rabe 420, 425 / Sittich 424f. / Sperber

144, 148, 198, 203, 205–209, 212, 227f.,

41, 429–431 / Star 420, 425f., 429, 431 /

239, 283f., 300, 355–362, 398, 401–

Taube 365, 377f., 385f., 389–392 / Wolf

403, 405–409, 411

264f., 421–423

197

Sturlunga saga

– siehe auch Klang / Klanglichkeit, Laut

Sunder, Friedrich, Klosterkaplan zu Engelthal, Gnaden-Leben

439

Sveinn tjúguskegg / Sven Gabelbart, dänischer König

205–207

/ Lautstärke, Stimme Tier-Mensch-Beziehung

259, 419–431

Tierepik / Tierdichtung / Tierfabel

100,

410, 419f., 426, 431 Topos 122, 179, 428

Tempusgebrauch

3f., 15, 200, 217f., 224,

227f., 231, 240, 248, 293, 298 Teufel

104, 139, 158, 169f., 204, 267, 284,

Transzendenz

380, 419–421, 423, 425–

428, 430f., 472 Trauer

169, 185, 192, 279–282, 287–291,

288, 357, 368f., 375f., 378–381, 383–

294–297, 299, 302, 323f., 357f.

392, 458f., 462, 465f.

– siehe auch Klage / Klagen, Emotion /

Text-Bild-Relation

7, 11, 26–31, 63, 66f.,

402, 471–486

Emotionalisierung Trinität

8, 433f., 436, 448, 451

– siehe auch Bild Textgliederung

3, 17, 21, 65, 78, 101

– siehe auch Layout / mise en page, Erzählabschnitt / Erzähleinheit Theatrum Diabolorum Thietmar von Merseburg

458 206

Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst 396, 445 Ulrich von Türheim, Tristan-Fortsetzung 59, 61f., 68f., 72, 74–77 Unterweisen siehe Belehren

Thomas von Aquin 258 Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast

232–234, 236–238, 240–

249

286f., 307 Þorgils saga ok Hafliða

Valla-Ljóts saga

197

Der vasnaht und vasten reht von sulcszen 87

502 | Personen-, Werk- und Sachregister

3f., 18, 35, 50, 129, 158,

verbum dicendi

396, 401

Der Wilde Alexander

162, 167, 183f., 187, 217–219, 221f., 224,

Willekin, Schreiber

227f., 231f., 237–240, 248–250, 299f.,

Wirnt von Grafenberg, Wigalois

304f., 367

Witzlav von Rügen 133, 135, 151f., 154

Verloren sone

Wolfdietrich

Vers / Wechsel zwischen Prosa und Vers

57, 60, 65, 78 291, 354

401

291

Wolfram von Eschenbach

5, 37, 40, 69,

2f., 11, 17–21, 35f., 45, 59f., 63, 66–79,

286, 288f., 292, 310f., 314f., 321, 323,

102–106, 133–154, 156–158, 161, 163–

449f., 452, 454, 465

166, 172, 217, 283, 298, 300–302, 364,

– Parzival

3, 5, 7, 40, 44, 286, 289,

366, 385, 404

292–294, 296, 307, 311, 321, 323,

– siehe auch Prosa

343, 349, 351, 449–455, 457, 459,

Versuchung

380, 431, 458

461–467

Vida de Santa María Egipciaca Vielstimmigkeit

119

– Willehalm

siehe Polyphonie / Mehr-

stimmigkeit / Vielstimmigkeit Víglundar saga Virginal

Der wucherische Wechsler und der Fromme

232–244, 246–249

103

297

Wunder

Vita des Heiligen Guthlak

44, 69, 281, 288, 310,

314–317

422

7, 42, 49, 204, 257f., 295f., 299,

318f., 323, 358, 365, 375, 378, 421, 429–

Vita des Heiligen Norbert von Xanten 423

431, 439, 451, 454f., 457, 463–465,

vocalité / Vokalität

466f. / wunderbar 160, 173, 178, 441,

1, 34, 176, 178, 183,

186–188, 190f., 193f., 367–369, 371f.,

446 / Verwunderung 42, 77, 291, 294f.

375, 377, 379–381, 385–388, 390, 392f.

– wunderbare Heilung

Das vogelgesprech Vorsterman, Willem

103

7, 450, 454f.,

459, 466

133, 137, 144, 152,

– Stimmwunder

427

154, 157, 160 Vortrag

siehe Performanz / Aufführung-

(ssituation) / Vortrag

Zauber Zeichen

Wace, La Vie de sainte Marguerite

368,

101, 103

7, 33, 63, 94–96, 130, 184–186,

191, 212, 228, 230, 279–281, 286f., 294f., 307, 314, 366–368, 371, 376–378,

381f., 385–390, 393 Wahrnehmung der Stimme

siehe Magie / Zauber

Der Zaunkönig

4, 159, 175,

283f., 286–288, 292–297, 306–308,

391f., 400, 403, 410, 423f., 438, 456, 459f., 464, 466, 469–486

311, 320–322, 327–329

Zeichentheorie / Semiotik

– siehe auch Akustik / akustisch /

Zilies von Sayn 406 Zuhörer, Zuschauer

auditive Rezeption, Hörbarkeit / Hören, Klang / Klanglichkeit, Laut / Lautstärke, Stimme Walther von der Vogelweide, Palästinalied 362 Wartburgkrieg

401, 414

Wernher 406 Wernher der Gartenære, Helmbrecht

83

286, 420, 471

siehe Rezipient /

Leser / Publikum / Zuhörer / Zuschauer