Verstellung und Betrug im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur 9783737097895, 9783899718805, 9783862348800


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Verstellung und Betrug im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur
 9783737097895, 9783899718805, 9783862348800

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Aventiuren

Band 7

Herausgegeben von Martin Baisch, Johannes Keller, Elke Koch, Florian Kragl, Michael Mecklenburg, Matthias Meyer und Andrea Sieber

Matthias Meyer / Alexander Sager (Hg.)

Verstellung und Betrug im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur

Mit 3 Abbildungen

V& R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-7009 ISBN 978-3-89971-880-5 ISBN 978-3-86234-880-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-9789-5 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Baisch (Hamburg) Seitensprünge und Eisenstäbe. Blutspuren in Szenarien von Betrug und Verstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Bernd Bastert (Bochum) „Überwachen und Strafen“. simulatio und dissimulatio in deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen des 12.–14. Jahrhunderts . . . . . . . .

35

Harald Haferland (Osnabrück) Die Kontingenz der Innenwelt. Liebesbetrug in Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Johannes Keller (Wien) Verborgene Küsse – gefesselte Füße. Das „St. Trudperter Hohelied“ am Scheideweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Manfred Kern (Salzburg) Täuschend erotisch. Poetische Verstellung und metapoetische List im „Roman de la Rose“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Florian Kragl (Erlangen) Betrogen? Eindruckslose Listen und gleichmütige Verlierer in „Flore und Blanscheflur“ und anderswo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Matthias Meyer (Wien) Verstellung und andere Kleinigkeiten. Überlegungen zur Normalität von Verstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

6

Inhalt

Lydia Miklautsch (Wien) Das verstellte Ich. Heinrich von Morungen und Walther von der Vogelweide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Scott E. Pincikowski (Frederick) Wahre Lügen: Das Erkennen und Verkennen von Verstellung und Betrug in „Herzog Ernst B“, „Kudrun“ und „König Rother“ . . . . . . . . . . . . 175 Ann Marie Rasmussen (Waterloo) Problematizing Medieval Misogyny. Aristotle and Phyllis in the German Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Alexander Sager (Athens) Verwirrende Worte, weiches Denken. Der Betrug Evas in der „Genesis B“ Markus Stock (Toronto) Lesbarkeit. Herrscher und Verräter im „Alexander“ Rudolfs von Ems

221

. . 239

Julia Zimmermann (München) Narrative Lust am Betrug. Zur Nekt–nabus-Erzählung in Rudolfs von Ems „Alexander“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Vorwort

Es gehört zu den bekannten Topoi der Mediävistik, dass Außen und Innen der Protagonisten ein hohes Maß an Kongruenz aufweisen: Entsprechend dem aus der Antike übernommenen Ideal der kalokagathia sind Schönheit und Gutheit weitgehend deckungsgleich. Diese Kongruenz wird auch da thematisiert, wo sie – scheinbar – nicht gilt, so etwa beim vermeintlichen Kaufmannssohn Tristan. Das Beispiel zeigt bereits, wo und wie die Vorstellung der Kongruenz von Innen und Außen – und damit die Möglichkeiten zur Verstellung – an ihre zumindest narrativen Grenzen stößt, nämlich in der schwierigen Inszenierung einer Diskrepanz zwischen adligem Körper und angenommener nichtadliger Rolle. Der Tristan-Stoff und auch das Nibelungenlied bieten viel diskutierte und wohlbekannte Beispiele einer zumindest temporär erfolgreichen Verstellung, eines temporären Aufhebens dieser Kongruenzbeziehung, die jeweils auch extrem folgenreich sind. Doch auch außerhalb dieser bekannten Fälle gibt es – zum Teil sehr viel erfolgreichere, zum Teil vollständig misslingende – Beispiele für Verstellungen: Iwein zum Beispiel gelingt es keine Minute, Lunete über seine Verliebtheit zu Laudine zu täuschen. Ob die vielen Varianten des rash-boon-Motivs unter dem Stichwort ,Betrug‘ zu subsumieren wären, ist immerhin diskutabel. Doch nicht nur in erzählenden Texten wird über die Möglichkeiten von Verstellung reflektiert: Im Minnesang gehört die Frage nach der Authentizität der vorgeführten Gefühle vs. einer ,professionellen‘ Verstellung zu den zentralen Diskussionsfiguren. Darüber hinaus spielen Verfahren der Dissimulation, ihr Erkennen und ihre Zulässigkeit auch in eher pragmatisch orientierten oder historisch-chronikalischen Texten eine Rolle (man denke nur an den spektakulären Fall der Päpstin Johanna). Im Spätmittelalter haben wir bei erweiterter Quellenlage etwa durch die sehr viel enger an historische Ereignisse heranrückende Chronistik eine veränderte Situation: Betrug wird eines der gängigen Mittel der Politik, Verstellung ist notwendig, um Betrug zu erzielen oder ihm zu entgehen. Auch in den literarischen Texten zeigen sich Veränderungen. Doch nicht nur in den unterschiedlichen weltlichen Diskursen spielt das Thema eine Rolle, auch in der geistlichen

8

Vorwort

Literatur wird über Betrug und Verstellung nachgedacht – nicht zuletzt anhand der Frage, ob eine Vision ,echt‘ ist oder nicht. Das sind nur einige der Facetten, die das Thema Verstellung und Betrug im Mittelalter haben kann. In Wien wurde im Jahre 2009 eine Tagung zu diesem Thema organisiert, bei der in der Forschung eher wenig unter diesen Stichworten diskutierte Beispiele verhandelt werden sollten. Nun endlich liegen Beiträge der Tagung in gedruckter Form vor. Die Verzögerung geht einzig zu Lasten des zeichnenden Herausgebers (und seinen Aktivitäten in der Universitätsverwaltung), der sich bei den BeiträgerInnen nicht zuletzt dafür bedankt, dass sie ihre Beiträge dennoch zur Verfügung gestellt haben. Bei der Entstehung des Bandes haben Lena Zudrell, Michaela Wiesinger und Jasmin Penninger geholfen, ihnen sei gedankt. Matthias Meyer

Martin Baisch (Hamburg)

Seitensprünge und Eisenstäbe. Blutspuren in Szenarien von Betrug und Verstellung „Was ist das Leben? Es ist ein Minenfeld. Was die Verstellung? Bedingung unseres Aufstiegs. Was ist die Liebe? Die schönste aller Täuschungen.“1

In der Erzählung „Sich verstellen“ des 2008 erschienenen Buches mit dem schönen Titel „Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung“ erläutert Adam Soboczynski, dass wir uns immerzu inszenieren, inszenieren müssen, um Wünsche, Gedanken, Sehnsüchte auszudrücken, dass wir uns immerzu verstellen! Zur Schonung anderer, damit sie uns in Zukunft nicht schaden und um uns gegenüber Konkurrenten Vorteile zu verschaffen. Wir brauchen dafür den Körper, brauchen die Sprache. Fragile Werkzeuge, die anzeigen, dass ein Riss, seitdem wir auf der Welt sind, in uns ist; dass wir gespalten sind in ein geistiges Innen und ein körperliches Außen; dass wir authentisch sein wollen und bestenfalls so wirken. Nie sind wir bei uns selbst, die Schöpfung, seit wir den Sündenfall erlitten, ist reines Welttheater. Und „wahrhaft zu sein“, wie einst ein Philosoph sagte, heißt nur, „nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen“.2

Soboczynski verweist zunächst auf den wichtigen Umstand, dass Körper und Sprache in sozialen Zusammenhängen als zentrale Instrumente bei der Herstellung von Betrug und Verstellung aufzufassen sind. Der Philosoph, auf den hier angespielt wird, ist kein Geringerer als Friedrich Nietzsche; und das korrekt wiedergegebene Zitat stammt aus dem 1873 aus dem Nachlass herausgegebenem Essay „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“. Dort heißt es weiter : Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiß zu führen versagt ist. Im Menschen kommt 1 Adam Soboczynski: Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder die Kunst der Verstellung. Berlin 2008, S. 27. Der Aufsatz greift Überlegungen auf, die ich zuerst in: Zeichen lesen im höfischen Roman. In: Paragrana 21 (2012), H. 2: UnVerfügbarkeit. Hg. v. Kasten, Ingrid, Berlin 2012, S. 112–131, entwickelt habe. 2 Soboczynski [Anm. 1], S. 22.

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Martin Baisch

diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskiertsein, die verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, daß fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte. Sie sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht „Formen“, ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich, Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen. Dazu läßt sich der Mensch nachts, ein Leben hindurch, im Traume belügen, ohne daß sein moralisches Gefühl dies je zu verhindern suchte: während es Menschen geben soll, die durch starken Willen das Schnarchen beseitigt haben. Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu perzipieren? Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes, gauklerisches Bewußtsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinabzusehen vermöchte, und die jetzt ahnte, daß auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit!3

Wenn wir uns verstellen und uns und andere betrügen, sind wir auf – wie Soboczynski sagt – „fragile Werkzeuge“ wie unsere Sprache und unsere Körper angewiesen. Diese sind mithin Dinge, von denen Nietzsche in seiner negativen Anthropologie behauptet, dass wir über sie nicht wirklich etwas wissen! Es sind Dinge, zu denen „die Natur den Schlüssel weggeworfen hat“. Unsere Augen – unfähig zur Erkenntnis – „gleiten nur auf der Oberfläche der Dinge herum“; „auf dem Rücken der Dinge“ spielen wir ein Spiel, von dem der Philosoph postuliert, dass es kaum vorstellbar ist, dass es auf Wahrheit oder Erkenntnis zielt. Dabei verkennen wir, dass die Dinge ein Eigenleben besitzen, das wir nicht beherrschen. ,Sprache‘ wie ,Körper‘ scheinen uns nicht verfügbar, ihre vermeintliche Verfügbarkeit belegt nur eine weitere Täuschung unsererseits. In narrativ entfalteten Szenarien von Betrug und Verstellung sind es ,Werkzeuge‘ 3 Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Colli, Girogio u. Montinari, Mazzino. Bd. 1. New York, München 1967 – 1977, S. 873 – 890, S. 876 f. Vgl. hierzu Geisenhanslüke, Achim: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur. Darmstadt 2006, S. 17 – 26; Mayer, Mathias: Das rechte Leben und das falsche Lesen? Über den Zusammenhang von Literatur, Lüge und Ethik. In: Kulturen der Lüge. Hg. von Mayer, Mathias. Köln, Weimar u. a. 2003, S. 225 – 245.

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Seitensprünge und Eisenstäbe

wie ,Sprache‘ und ,Körper‘ die unsere Handlungen ermöglichen wie scheitern lassen, ist es unser Vertrauen auf die „Oberfläche der Dinge“, die uns täuschen lässt wie unsere Täuschung bewirkt. „Auf dem Rücken der Dinge“: dort ruhen unsere Absichten gut, dort müssen sie aufsitzen und darauf vertrauen, dass sie nicht abgeworfen werden. Die Widerständigkeit der Dinge zeigt sich unmerklich in den Spuren, die wir an ihnen hinterlassen, an den Spuren, die ein Wissen hervorbringen, die unsere Verstellung und unseren Betrug behindern. Doch ist es auch möglich, dass wir absichtlich Spuren legen, um den Betrug, den wir vorhaben, abzusichern. Ich gehe von der These aus, dass das in der Spur konzentrierte und vermittelte Wissen in einem Spannungsverhältnis zu jenem Wissen steht, das in der Verstellung bzw. im Betrug hervor gebracht wird oder hervorgebracht werden soll. Die Spur – am Außen auffindbar, nicht-intentional, der Welt der Dinge angehörend – ermöglicht ein Wissen, das womöglich im Widerspruch steht zu jenem, das durch Verstellung und Betrug umgesetzt ist. Denn dieses basiert u. a. auf der Differenz von Innen und Außen und ist auf Intentionalität gegründet.4 Doch was ist eigentlich eine Spur?

1.

Was ist eine Spur? „Die authentische Spur […] stört die Ordnung der Welt.“5

Wodurch ist die ,Spur‘, die im Lateinischen mit vestiguum bezeichnet ist, im Englischen mit trace und im Französischen mit trace und vestige, gekennzeichnet? In welcher Weise wird sie begrifflich verwendet? Wie ist sie konzeptuell gefasst? Es scheint auf den ersten Blick nicht weiter schwer, zu definieren, 4 Vgl. Haferland, Harald: Über detektivische Logik. In: Lektüren. Aufsätze zu Umberto Ecos „Der Name der Rose“. Hg. v. Bachorski, Hans-Jürgen. Göppingen 1985, S. 129 – 164, S. 132: „Probleme gibt es erst, wenn Intentionen ins Spiel kommen, seien dies nun die Tatmotive der Täter oder ihre Absichten, die Spuren ihrer Tat zu verwischen und ihre Täterschaft zu verschleiern. Intentionen kann man nicht sichern wie Spuren. Man kann sie aus Spuren erschließen, aber man hat dann sofort das, was als hermeneutischer Zirkel bekannt ist. Man belegt die Existenz einer Intention mit einer Spur und erklärt so die Spur aus der Intention. Man schließt damit andere Verbindungen der Spur mit anderen Intentionen nicht wirklich aus. Der Schluß, den man also vorgenommen hat, setzt voraus, was erst noch zu beweisen wäre.“ Haferlands Überlegungen zur ,Spur‘ bzw. zur Zeichentheorie setzen an bei Ecos Roman „Der Name der Rose“. Vgl. Umberto Eco: Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Kroeber, Burkhart. München, Wien 91982; Eco, Umberto: Nachschrift zum ,Namen der Rose‘. München 102007; Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium. Hg. v. Haverkamp, Anselm u. Heit, Alfred. München 1987; Zeichen in Umberto Ecos Roman ,Der Name der Rose‘. Hg. v. Kroeber, Burkhard. München, Wien 1987. 5 Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Übersetzt, hg. und eingeleitet von Krewani, Wolfgang Nikolaus. 3., unveränderte Auflage, Freiburg i. Br. 1992, S. 231.

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Martin Baisch

was unter einer ,Spur‘ zu verstehen ist. Denn die Wörterbücher geben verständliche und genaue Auskunft: Spur, ahd. spor, mhd. spur, verwandt mit Sporn […] bezeichnet urspr. den Eindruck, den die Fußtritte eines Tieres (besonders eines Wildes) oder Menschen hinterlassen. Auf jüngerer Übertragung beruht es, wenn man auch von der S. eines Wagens spricht. Aus dem Jagdleben stammen manche uneigentlich gebrauchte Wendungen: einem (einer Sache) auf der S. sein, einem auf die S. (auf die S. von etwas) kommen, auf der S. haben u. dgl. Verallgemeinert heißt S. in der neueren Sprache jedes Merkmal davon, daß etwas einmal vorhanden gewesen ist oder gewirkt hat […].6

Damit ist klar : „Spuren sind Verweise auf Abwesendes, das einmal da war. Jemand oder etwas hat sie hinterlassen, und da er oder es selbst nicht mehr befragt oder in Augenschein genommen werden kann, harren sie der Deutung.“7 Die alltagsweltliche Erfahrung stellt rasch ein Wissen bereit, das zum Verständnis der ,Spur‘ zweifellos beiträgt. Denn sie ist „eine Metapher, der ein lebensweltliches Verstehen zugrunde liegt“.8 Hierzu gehört auch, dass eine Spur oft nicht als einzelne oder isoliert begegnet: Mehrere Spuren hintereinander ergeben eine Fährte, man findet sich auf einem Weg oder einem Trampelpfad wieder. Folgt man den Spuren, wird man in eine Richtung gewiesen. Blickt man nach einiger Zeit zurück, wird deutlich, wie man sich im Raum orientiert hat und welche Anstrengungen an Aufmerksamkeit und Bemühungen um Deutung hierzu notwendig waren: Während der Begriff ,Zeichen‘ die Vorstellung von der Einzelheitlichkeit eines ,Zeichens‘ und von der Statik in der Zuordnung von ,Signifikant‘ und ,Signifikat‘ nahelegt, läßt der Begriff ,Spur‘ von vornherein an eine Abfolge mehrerer ,Signale‘ (vgl. ,Fährte‘) und an deren komplexen Interpretationsprozeß (,Spurenlesen‘) denken, der sich nicht in einer einfachen Zuordnung von ,Signal‘ (,Signifikant‘) und ,Bedeutung‘ (,Signifikat‘) erschöpft.9

Beschäftigt man sich mit dem Phänomen der ,Spur‘ intensiver, lernt man zu unterscheiden, wann von ihr als einer bloßen Redewendung gesprochen wird, 6 Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bearbeitet von Betz, Werner. 8., unveränderte Auflage, Tübingen 1981, S. 624 f. Vgl. auch Deutsches Wörterbuch, von Jakob und Wilhem Grimm, Fotomechanischer Nachdr. der Erstausg. 1854, München 1971, Bd. 17, Sp. 235 – 242. 7 Bedorf, Thomas: Spur. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hg. v. Konersmann, Ralf. Darmstadt 2007, S. 401 – 420, S. 401. 8 Gawoll, Hans Jürgen: Spur. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Ritter, Joachim u. Gründer, Karlfried. Bd. IX. Basel 1995, Sp. 1550 – 1558, Sp. 1550. 9 Scherner, Maximilian: Textverstehen als Spurenlesen. In: Text und Grammatik. Festschrift für Roland Harweg zum 60. Geburtstag. Hg. v. Canisius, Peter u. a. Bochum 1994, S. 317 – 339, S. 322. Nach Fertigstellung des vorliegenden Aufsatzes ist die grundlegende Arbeit von Norah Hannah Kessler : Dem Spurenlesen auf der Spur. Theorie, Interpretation, Motiv. Würzburg 2012 (Film – Medium – Diskurs 39) erschienen, die leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte.

Seitensprünge und Eisenstäbe

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wann sie als Metapher Verwendung findet, welche Anstrengung es benötigt, sie als Begriff oder als Konzept zu entwerfen. Diskussionen darüber, wie die ,Spur‘ konzeptuell zu fassen ist, finden sich nämlich in ganz unterschiedlichen Wissensbereichen. Zu nennen sind etwa die Überlegungen in der linguistischen Texttheorie, die Versuche der Diskurstheorie der Wissenschaften und auch die Prozessforschung der Informatik. Wissensgeschichtlich ist in Bezug auf Überlegungen zur ,Spur‘ das von Carlo Ginzburg in die Debatte eingeführte und wirkungsreiche ,Indizienparadigma‘ zu nennen.10 Offenkundig ist, dass die Kategorie der ,Spur‘ in den gegenwärtigen literatur- und erkenntnistheoretischen Debatten kulturwissenschaftlicher Orientierung zunehmend an Aufmerksamkeit gewinnt. Erwägungen zur ,Spur‘ stehen im Kontext von Begriffen und Konzepten wie ,Präsenz‘ und ,Materialität‘. Begrifflich ist die ,Spur‘ von Termini wie ,Abdruck‘, ,Zeichen‘, ,Index‘ oder ,Symptom‘ abzugrenzen. Sie kann als Instrument der Kritik an überkommenen konstruktivistischen Paradigmen in den theoretischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte dienen, in denen über das Verschwinden des Referenten, über Dematerialisierung, Entkörperung, Informatisierung und Virtualisierung der Lebenswelt debattiert wurde.11 Die ,Spur‘ – verstanden als „fortbestehende Präsenz eines Restes“ (Derrida) – wäre mit Hilfe von Kriterien wie Heteronomie, Polysemie und Interpretativität näher zu bestimmen. Die Spur generiert und modelliert Wissen, das Spurenlesen ist auch und nicht zuletzt ein Instrument der Wissenserzeugung. Dass das Spurenlesen eine Wissenspraktik darstellt, rechtfertigt hier im Kontext von Betrugs- und Verstellungshandlungen ihre Bearbeitung: „Spurenlesen ist ein knowing how, es 10 Ginzburg, Carlo: Spuren einer Paradigmengabelung: Machiavelli, Galilei und die Zensur der Gegenreformation. In: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Hg. v. Krämer, Sybille u. a. Frankfurt a. M. 2007, S. 257 – 280; Harrowitz, Nancy : Das Wesen des Detektiv-Modells. Charles Peirce und Edgar Allan Poe. In: Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin. Holmes. Peirce. Hg. v. Eco, Umberto u. Sebeok, Thomas A. München 1985 (Supplemente 1), S. 262 – 287; Eco, Umberto: Hörner, Hufe, Sohlen. Einige Hypothesen zu drei Abduktionstypen. In: Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin. Holmes. Peirce. Hg. v. Eco, Umberto u. Sebeok, Thomas A. München 1985 (Supplemente 1), S. 288 – 320; Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme. In: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Hg. v. Krämer, Sybille u. a. Frankfurt a. M. 2007, S. 11 – 33, S. 25. 11 Vgl. Krämer [Anm. 10], S. 12. Vgl. aus mediävistischer Perspektive zum Begriff des Zeichens u. a. Huber, Christoph: Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mhd. Spruchdichtung bis Frauenlob. Zürich, München 1977 (MTU 64), S. 6 – 21; Haferland [Anm 4.]; Meier-Oeser, Stephan: Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Berlin 1997 (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie 44); Müller, Jan-Dirk: Visualität, Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik. In: ZfdPh 133 (2003), S. 118 – 133. Näher zu untersuchen wäre, inwiefern die Kategorie der ,Spur‘ in der virulenten Debatte um die mittelalterliche Präsenzkultur zu Präzisierungen führen könnte.

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Martin Baisch

ist die ,Kunst des (intelligenten) Vermutens‘, ein Können also, das unter bestimmten Umständen zu neuem Wissen führt – uns aber auch dessen Grenzen spüren lässt.“12 Die Spur kann einerseits den Status eines Beweises erlangen und gilt als ein Mittel der Orientierung; andererseits ist ihr in epistemologischer Hinsicht mit Skepsis zu begegnen: sie ist ,Schrift‘, bedarf also der Interpretation13 und verlangt von dem Interpreten ein Vorwissen: Ich schließe nur dann von den Spuren auf der Erde auf die Anwesenheit eines Tieres, wenn ich gelernt habe, eine konventionelle Beziehung zwischen diesem Zeichen und diesem Tier herzustellen. Wenn die Spuren Spuren von etwas sind, was ich noch niemals vorher gesehen habe (und von dem mir niemals gesagt wurde, welche Art von Spuren es hinterlässt), dann erkenne ich den Index nicht als Index, sondern interpretiere ihn als natürlichen Zufall.14

Damit wird die Rolle des Spurensuchers betont bzw. die Interdependenz von Spur und Spurendeuter hervorgehoben: „,Aufmerksam machendes Mal von Etwas‘ (Reizgegebenheit der Spur) und Detektor konstituieren eine komplizierte Wechselbeziehung, die eine genauere Betrachtung verdient.“15

12 Krämer [Anm. 10], S. 21. Vgl. zur Konzeptionalisierung von ,knowing how‘ auch den Band Dynamiken des Wissens. Hg. v. Hempfer, Klaus W. u. Tranninger, Anita. Freiburg i. Br. 2007 (Rombach Wissenschaften Scenae 6). Hierzu auch Haferland [Anm. 4]. 13 Nägele, Rainer : Spurlos: Spürbar. In: ders.: Darstellbarkeit. Das Erscheinen des Verschwindens. Basel, Weil am Rhein 2008, S. 137 – 155 betont S. 137 den Umstand, dass die Spur immer die eines anderen ist, „auch wenns die eigene gewesen sein wird“. 14 Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. München 51985, S. 199. Harald Haferland hat – auch unter Rückgriff auf das Phänomen der Fußspur, die er im Kontext von Magie betrachtet – die These aufgestellt, dass sich das vormoderne Denken primär durch kontiguitäre Konstrukte auszeichne und durch ein nachhaltig und „in den verschiedensten Kontexten verwendetes konzeptuelles Ist“ (S. 100) gekennzeichnet sei. Ein „modernes“ Denken hingegen löse kontiguitär vermittelte Gleichsetzungen auf und differenziere die zugrundeliegenden Relationen abstrakt aus. Zwar lasse sich dann doch nicht zeitlich exakt bestimmen, wann ein derart modernes Denken beginne. Entscheidend sei, dass es in der Neuzeit erheblich größere Felder der Wissensorganisation und der sozialen Praktiken durchdringe, während sogenannt assoziativ-kontiguitäres Denken in Residuen der Privatmythologie, des Aberglaubens, des Fetischismus etc. zurückgedrängt erscheine. Vgl. Haferland, Harald: Kontiguität. Die Unterscheidung vormodernen und modernen Denkens. In: Archiv für Begriffsgeschichte 51 (2009), S. 61 – 104; vgl. auch Haferland, Harald: Verschiebung, Verdichtung, Vertretung. Kultur und Kognition im Mittelalter. In: IASL 33, 2 (2008), S. 52 – 101. Den Ansatz zeichnet ein teleologisches Denken aus, das mithin Hierarchien entfaltet, welche die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem vernachlässigt. Es zeigt sich, dass hier der Begriff der ,Spur‘ dem Feld assoziativ-kontiguitären Denkens zugeordnet wird und damit, wie mir scheint, eine erhebliche Reduktion erfährt. 15 Spitznagel, Albert: Auf der Spur von Spuren. In: Wunderliche Figuren. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften. Hg. v. von Arburg, Hans-Georg u. a. München 2001, S. 239 – 259, S. 240. Vgl. auch Bernd Stiegler : Spuren, Elfen und andere Erscheinungen. Conan Doyle und die Photographie, Frankfurt a. M. 2014.

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Seitensprünge und Eisenstäbe

* Die Spur hängt in emotionshistorischer Perspektive mit dem Interesse, der Neugier und dem Staunen eng zusammen. In der augustinischen Weltsicht wird die Neugier als der (fehlschlagende) Versuch aufgefasst, sich den von Gott geschaffenen Kosmos unmittelbar verfügbar zu machen. Man greift neugierig nach etwas und übersieht, dass das Gegriffene und Berührte lediglich auf etwas anderes – eben das Wirken Gottes – verweist: Die neugierige Perspektive auf die Welt verwandelt diese, die bei aller Verheißung von Präsenz die Spuren der Absenz tragen, in trügerisch schon erfüllte Präsenz. Denn Gott manifestiert sich wohl in Zeichen, aber er geht darin nicht auf. Die Spur der Absenz, die das Zeichen markiert, macht es allererst zum Zeichen, während die fruitio der Welt darin besteht, über ihren Zeichencharakter hinwegzutäuschen und die Illusion von Präsenz an die Stelle der Spur einer Absenz zu setzen. Der Neugierige verkennt den allegorischen Zustand von Sprache und Welt und liest alles literal-hiesig. In der Welt sieht er sein eigenes Spiegelbild, in dem er sich narzisstisch genießt; dieses Spiegelbild modelliert die Welt nicht mehr nach Gottes Bild, sondern reduziert Gott auf die Welt.16

Damit ist auch eine wichtige Traditionslinie angesprochen, innerhalb derer das Konzept der ,Spur‘ große Bedeutung besitzt. In der metaphysischen Überlieferung werden Spuren als Manifestationen des Göttlichen verstanden bzw. erkannt. Spuren können nach dieser Auffassung als Hinweise auf eine von der Faktizität der Welt getrennte Transzendenz aufgefasst werden. In der Trinitätslehre des Johannes Scotus Eriugena findet sich in Nachfolge von Positionen des Augustinus eine christliche Umdeutung der Spuren, die als entfernteste Hinweise auf den verborgenen Gott verstanden werden: Obwohl der Mensch die trinitarische Wahrheit nicht selbst in den Spuren erkennt, wertet Eriugena die Spuren gegenüber Augustinus auf. Sie bedeuten für ihn sinnliche Lichter, in denen der göttliche Grund aufstrahlt. Diese Verbindung des Sinnfälligen mit einer Lichtmetaphorik und -ontologie bildet den sachlichen Kontext, in dem dann Bonaventura seine Auffassung der Spuren entwickelt.17 16 Vinken, Barbara: Art. Curiositas/Neugierde. In: Historisches Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe. Hg. v. Barck, Karlheinz u. a. Stuttgart 2000, S. 794 – 813, S. 800. Vgl. zu dieser Perspektive noch Scheler, Max: Zur Rehabilitierung der Tugend. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Frings, Manfred S. Bd. 3: Vom Umsturz der Werte: Abhandlungen und Aufsätze. Bonn 1972, S. 15 – 31, der in der existentialen Haltung des Staunens gegenüber der Welt die Spur des Göttlichen vermutet. 17 Gawoll [Anm. 8], Sp. 1551. Vgl. Bonaventura: „Itinerarium mentis in Deum“. Der Pilgerweg des Menschen zu Gott. Lateinisch-deutsch, übersetzt und erläutert von Schlosser, Marianne. Mit einer Einleitung von Zahner, Paul. Münster 2004 (Theologie der Spiritualität. Quellentexte 3), Kap. II, 7 (S. 38): „Haec autem omnia sunt vestigia, in quibus specularia possumus Deum nostrum.“ Die Metaphysik der ,Spur‘ hat auch die Philosophie im

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* Etymologisch eng mit dem Begriff der Spur hängt auch das Verb ,spüren‘ zusammen: spüren, ahd. spurian, altgerm. schwaches Verb, das zunächst die Tätigkeit des Jägers oder des Jagdhundes bezeichnet, womit analoge Tätigkeiten verglichen werden, intr. gebraucht, vgl. nach Handschriften s., früher auch zuweilen trans. Dagegen bezeichnet es jetzt trans. jede Art von gewahrwerden, selbst wenn es ohne Aufmerksamkeit zustande kommt.18

Entscheidend für die Semantik von ,spüren‘ ist nicht, „dass diese Tätigkeit sich – wie es doch naheläge – auf das ,Machen von Spuren‘ bezieht, vielmehr auf ihre Deutung und Verfolgung.“19 Als ein Beispiel aus der mittelhochdeutschen Literatur lassen sich hierfür aus Wolframs von Eschenbach Fragment „Titurel“ folgende Strophen anführen, die davon berichten, wie Gahmuret im Gespräch mit Schionatulander, mit dem er in verwandtschaftlichem Verhältnis steht, über die schmerzliche Erfahrung der Liebe, die der junge Knappe erlitten hat, reflektiert: Str. 99 er sprach: ,owÞ, durh waz h–t sich geloubet d„n anlütze l˜terl„cher blicke? diu minne sich selben an dir roubet. Str. 100 Ich spür an dir die minne, alze grúz ist ir sl–ge. du solt mih d„ner tougen niht helen, s„t wir s„n sú n–hen gem–ge unt bÞde ein verch von ordenl„cher sippe. die spür ich n–her dane von der muoter, diu d– wuohs ˜z stelehaftem rippe.20

20. Jahrhundert intensiv beschäftigt: Autoren wie Heidegger, Benjamin, Levinas und Derrida haben in der ,Spur‘ für ihre ontologischen und epistemologischen Konzepte einen wichtigen Baustein gesehen. Vgl. etwa Gawoll, Hans-Jürgen: Spur: Gedächtnis und Andersheit: Teil II: Das Sein und die Differenzen – Heidegger, Levinas und Derrida. In: Archiv für Begriffsgeschichte 32 (1989), S. 269 – 296; vgl. auch Jauß, Hans Robert: Spur und Aura. Bemerkungen zu Walter Benjamins Passagen-Werk. In: ders.: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt a. M. 1989, S. 189 – 215.Vgl. zu Jauss’ Verwischen seiner eigenen biographischen Spuren als SS-Offizier während der Zeit des Nationalsozialismus die Pressemitteilung Nr. 48/2015 der Universität Konstanz. 18 Paul [Anm. 5], S. 625. Vgl. auch Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhem Grimm [Anm. 5], Bd. 17, Sp. 243 – 248. Vgl. auch Pape, Helmut: Fußabdrücke und Eigennamen: Peirces Theorie des relationalen Kerns der Bedeutung indexikalischer Zeichen. In: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Hg. v. Krämer, Sybille u. a. Frankfurt a. M. 2007, S. 37 – 54, S. 39. 19 Krämer [Anm. 10], S. 13. 20 Der Text und seine Übersetzung werden zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hg.,

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,Er sagte: ,Ach, weshalb hat dein Antlitz den strahlenden Glanz verloren? Die Minne beraubt sich selbst an dir. Ich nehme an dir die Spur der Minne wahr, allzu ausgeprägt ist ihre Fährte. Du sollst mir dein Geheimnis nicht verhehlen, da wir so nahe Blutsverwandte sind und beide ein Fleisch und Blut aus gottgeordneter Familie. Diese Verwandtschaft spüre ich näher als die von der Mutter, die hervorging aus der gestohlenen Rippe.‘

Blass und fahl durch die Liebeserfahrung – so präsentiert sich das Antlitz von Schionatulander in der Wahrnehmung von Gahmuret. Es hat seinen Glanz verloren! Diesen Mangel (er)spürt der Ältere: Die Erfahrung der Minne, die hier in der Metaphorik der Jagd (spüren – sl–ge) gefasst ist,21 hüllt sich in ein Geheimnis, das dem Gesicht des Jüngeren abzulesen ist. Die Abwesenheit von Glanz ist die Spur auf dem Angesicht des Knappen, der Gahmuret nachspürt. Ein wichtiges Kriterium, das sich aus dem Gesagten ergibt und wodurch sich ein Konzept von ,Spur‘ näher definieren ließe, wäre also der Moment von Abwesenheit: Die Anwesenheit der Spur zeugt von der Abwesenheit dessen, was sie hervorgerufen hat. In der Sichtbarkeit bleibt dasjenige, was sie erzeugte, gerade entzogen und unsichtbar […]. Die Spur macht das Abwesende niemals präsent, sondern vergegenwärtigt seine Nichtpräsenz; Spuren zeigen nicht das Abwesende, sondern vielmehr dessen Abwesenheit.22

Die Abwesenheit von Glanz verweist auf Minne: Dieses Geheimnis zu lüften, gelingt Gahmuret, weil er sich blutsverwandt mit dem von der Minne Betroffenen weiß. In Str. 165 wird das Verb ,spüren‘ erneut aufgegriffen, als davon erzählt wird, wie Schionatulander beim Angeln plötzlich das Gebell, die Stimme, von Gardeviaz hört und daraufhin dem Hund, der Liebe, hinterher eilt: Er warf den angel ˜z der hant. mit snelheit er g–hte über ronen unt ouch durch br–men, d– mit er doch dem bracken ninder gen–hte. den het im ungeverte alsú gevirret, daz er ninder spürte wilt noch hunt, unt wart ouch von dem winde der húre verirret. ,Er warf die Angel aus der Hand. Flink eilte er über Baumstämme und auch durch Dornengestrüpp, aber trotzdem kam er dem Bracken keineswegs näher. Die Unwegübersetzt und mit einem Kommentar und Materialien versehen von Brackert, Helmut und Fuchs-Jolie, Stephan. Berlin/New York 2002. 21 Im Mittelhochdeutschen vielfältig belegt ist das Wort sl–ge (oder in kontrahierter Form sl–) für Spur (bes. vom Hufschlag der Pferde), Fährte oder Weg. 22 Krämer [Anm. 10], S. 15. Vgl. auch Krämer, Sybille: Was kommt nach den Zeichen? Ein Essay über die Spur. In: Kulturelle Existenz und Symbolische Form. Philosophische Essays zu Kultur und Medien. Hg. v. Krois, John Michael u. Meuter, Norbert. Berlin 2006, S. 155 – 166. Vgl. auch Gawoll [Anm. 8], Sp. 1550: Die Spur „bedeutet einen Abdruck oder ein aufmerksam machendes Mal von etwas, das selbst nicht gegenwärtig ist“.

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samkeit des Geländes hatte ihn ganz weit entfernt, so daß er weder das Wild noch den Hund irgendwo aufspüren konnte. Auch wurde er vom Wind am Hören gehindert.‘

,Spüren‘ verweist hier in der Bedeutung von ,wahrnehmen‘ erneut auf den Bereich der Jagd und deren komplexen Erfassung und Verarbeitung von Informationen: Jahrtausendelang war der Mensch Jäger. Im Verlauf zahlreicher Verfolgungsjagden lernte er es, aus Spuren im Schlamm, aus zerbrochenen Zweigen, Kotstücken, Haarbüscheln, verfangenen Federn und zurückgebliebenen Gerüchen Art, Größe, und Fährte von Beutetieren zu rekonstruieren. Er lernte es, blitzschnell komplexe geistige Operationen auszuführen, im Dickicht des Waldes wie auf gefährlichen Lichtungen.23

Während sich Schionatulander im ersten Textbeispiel von der Minne gezeichnet und gejagt zeigt, ist er in der zweiten Textstelle selbst der Jäger der Liebe. Mit dem Spürsinn verwandt – in wissenstheoretischer Perspektive – scheint auch der Begriff der Intuition. Das Wort ,Intuition‘ stammt ursprünglich aus dem lateinischen intueri und bedeutet ,anschauen‘, ,betrachten‘, ,erwägen‘. Intuition steht deshalb auch für ein spontanes, ganzheitliches Erkennen oder Wahrnehmen24 und ist als Wissensform Konzepten des tacit knowledge nahe stehend.25 * Hier soll nicht weiter diskutiert werden, wie Spuren als Medien des Gedächtnisses zu verstehen seien, wie etwa der Begriff der Erinnerungsspur andeutet, der auf die Vergangenheit zielt, oder die Debatten um die materielle Verortung von Spuren (im menschlichen Gehirn) bei Descartes oder bei Spinoza, die Spur als Gedächtniskonstrukt verstehen. „In der Geschichte der memoria soll das Spurkonzept erklären, wie erinnerndes Aufbewahren möglich ist bzw. was der Konservierung von Eindrücken zugrunde liegt. Ein unbekannter, nicht direkt der Beobachtung zugänglicher Prozeß, die Einprägung, wird in Analogie zur bekannten Spurenbildung betrachtet.“26 Auch nicht näher bedacht werden 23 Ginzburg [Anm. 10], S. 15. 24 Fuchs, Thomas: Spürsinn – Intuition – Erfahrung. Phänomenologische Spurensuche in der psychiatrischen Diagnostik. In: Neurobiologie und Psychotherapie. Hg. v. Wollschläger, Martin. Tübingen 2007, S. 55 – 68. 25 Polanyi, Michael: Implizites Wissen. Frankfurt a. M. 1985; vgl. auch Fohrmann, Jürgen: Spur, Spuren: Mutmaßungen über Abdrücke und Bigfoots in 13 Etappen. In: Spuren. Lektüren. Festschrift für Ludwig Jäger zum 60. Geburtstag. Hg. v. Fehrmann, Gisela u. a. München 2005, S. 13 – 32, S. 24 f. 26 Spitznagel [Anm. 15], S. 241. Vgl. auch Krämer [Anm. 10], S. 22 f.; Bedorf [Anm. 7], S. 404: „Erinnerungen als geistige Leistungen bedürfen einer Vermittlung in der Zeit, um erklären zu können, wie aktuell nicht Bewusstes wieder ins Bewusstsein treten kann, gewollt oder ungewollt. Das Bild der Spur dient hier dazu, eine Eigenständigkeit des Erinnerbaren zu

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sollen hier medientheoretisch orientierte Überlegungen, die im ,semiologischen Konstruktivismus‘ entwickelt wurden, wonach „jeder Sprachverwendung Spuren ihres Mediums anhaften und dies erst die Bedingung dafür bildet, daß sich Differenzierungsprozesse, etwa des Selbstbezugs, entfalten können.“27 * Der Zusammenhang von ,Spur‘ und ,Macht‘ bzw. ,Herrschaft‘ stellt ein wichtiges, noch nicht ausreichend bearbeitetes Untersuchungsfeld dar. Gerade der Umstand, dass Spuren als Symptome von bisher noch nicht entdeckten Sachverhalten gelten können, erlaubt es auf eine Semiotik zu setzen, die sich nicht auf eine Analyse nur von a priori feststehenden Symbolsystemen beschränkt. Machtanalyse, die um die Unmöglichkeit einer Theorie der Macht weiß, läßt sich so nur als Spurenkunde vollziehen, die nicht von Zeichen und Symbolen mit konventionaler Bedeutung ausgeht, sondern von einer Störung der eindeutigen Sinnzuordnung. Spuren sind demnach ,Unordnungen‘ im System der Signifikanten, auch wenn die Zeichen ihre Spurhaftigkeit niemals ganz abzulegen vermögen. In den Spuren der Macht, also jenen Effekten, die noch nicht zu Symbolen oder Zeichen geronnen sind, läßt sich die Wirkungsweise von Macht zeigen, ohne sich auf den Repräsentationsdiskurs der Zepter, Institutionen und Oberhäupter verlassen zu müssen.28

* Als Attribut, mit dem man der ,Spur‘ bzw. den ,Spuren‘ auf die Spur kommen könnte, wäre – wie schon angedeutet – ihre Fähigkeit zu nennen, Orientierung zu ermöglichen und damit Wissen zu stiften: Denen, die Spuren lesen, geht es immer um eine Orientierung für das eigene praktische oder theoretische Handeln. Spurenlesen wird nötig unter Bedingungen von Ungewissheit, Unsicherheit und vielleicht auch von Angst, dort also, wo eine Situation entstanden ist, in der wir uns nicht (mehr) auskennen.29

behaupten, auf das sich bewusstes Wiederaufgreifen, konstruktive Gedächtnisarbeit oder traumatisches Hereinbrechen stützen.“ 27 Bedorf [Anm. 7], S. 403. Vgl. Krämer, Sybille: Das Medium zwischen Zeichen und Spur. In: Spur. Zur Externalität des Symbolischen. Hg. v. Fehrmann, Gisela u. a. München 2005, S. 153 – 166; Krämer, Sybille: Medien, Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literaturbericht. In: Was ist ein Medium? Hg. v. Stefan Münker u. Alexander Roessler, Frankfurt a. M. 2008, S. 65 – 90. 28 Bedorf [Anm. 7], S. 408. Vgl. hierzu Ansätze bei Röttgers, Kurt: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. Freiburg i. Br. 1990; ders.: Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt. In: Reden von Gewalt. Hg. v. Platt, Kristin. München 2002, S. 80 – 120. 29 Krämer [Anm. 10], S. 15. Vgl. hierzu auch Stegmaier, Werner : Anhaltspunkte. Spuren zur

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Gawans neugieriges Verhalten in Wolframs von Eschenbach berühmter Blutstropfenepisode aus dem „Parzival“-Roman belegt, dass hier ein Spurenleser am Werk ist, der sich nicht – wie seine stürmisch-ritterlichen Kollegen Segremors und Keie – täuschen lässt. Gawan reitet auf den in Minnetrance erstarrten Ritter ohne kämpferischen Ehrgeiz und in friedvoller Absicht zu. Doch auf seinen Gruß wie auf seine freundlich-interessierte Nachfrage reagiert Parzival nicht. Gawan bringt Erfahrung, indem er sich an eigenes Minneleid erinnert, und Empirie, indem er seine Aufmerksamkeit auf die gesamte Situation richtet, zusammen. Er beobachtet zunächst sein Gegenüber : er marcte des W–leises sehen, war stüenden im die ougen s„n. (Wolfram von Eschenbach: ,Parzival‘, V. 301, 26 f.) ,Er gab acht auf des W–leisen Blick, wo seine Augen hingingen.‘30

Gawans besondere Leistung besteht darin, dem wunderlichen Verhalten Parzivals durch ein unvoreingenommenes und neugieriges Verhalten auf den Grund zu gehen. Im Roman ist Gawans Wahrnehmung als eine geschildert, die den Blicken eines anderen folgt.31 Es ist eine Wahrnehmung, welche die drei Tropfen Tierblut im Schnee zu lesen vermag.32 Dass man Spuren aber erst zum Sprechen bringen muss, das ist die besondere Leistung Gawans. Solches weiß auch die Kriminalistik: „Welche ,Spuren‘ im Orientierung. In: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Hg. v. Krämer, Sybille u. a. Frankfurt a. M. 2007, S. 82 – 94. 30 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Knecht, Peter, Einführung von Schirok, Bernd. Berlin 2003. 31 Hasebrink, Burkhard: Gawans Mantel. Effekte der Evidenz in der Blutstropfenepisode des ,Parzival‘. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. v. Andersen, Elizabeth u. a. Berlin, New York 2005 (TMP 7), S. 237 – 247, S. 244. Vgl. auch Mertens Fleury, Katharina: Zur Poetik von ratio und experientia in der Blutstropfenszene im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. In: Wolfram Studien XX (2008), S. 73 – 94; Münkler, Marina: Inszenierungen von Normreflexivität und Selbstreflexivität in Wolframs von Eschenbach ,Parzival‘. In: ZFG N.F. (2008), S. 497 – 511. 32 Meyer, Matthias: Filling a bath, dropping into the Snow, drunk through a glass straw. Transformations and Transfigurations of Blood in German Arthurian Romances. Plenarvortrag auf dem Internationalen Kongress der Arthurian Society, Utrecht 2005. In: BBSIA LVIII 2006 (erschienen 2007), S. 399 – 424, S. 413 f.: „In both romances, the basic structure is the same: Parzival/Perceval is entranced by three drops of blood in the untimely snow – blood that dripped down from a wild goose which was slain by a falcon. There are many differences in detail. To name but a few: in Wolfram, it is Arthur’s falcon which feed itself and spent the night together with Parzival. Chr¦tien describes in detail how the blood mingles with the snow and produced the rosy colour of Blancheflur’s skin. Wolfram only mentions three drops, and thus produces more the impression of an abstract face. In Chr¦tiens text, the contrast of red blood drops and white background clearly echo the dripping blood on the white lance, a trait that is missing in Wolfram, where the connection with the blood and the lance is not clear in this scene […].“

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kriminaltechnischen Sinne wirklich Spuren sein können, ist also bereits in diesem um die Evidenz zentrierten Feld nicht ohne eine Hermeneutik festzulegen, die davon ausgeht, daß Spuren nicht für sich selbst sprechen. Spuren werden nicht einfach gelesen, sondern konstruiert.“33 Das Beispiel aus dem „Parzival“ belegt auch, dass eine Spur über eine eigene Materialität verfügt: Spuren treten gegenständlich vor Augen; ohne physische Signatur auch keine Spur. Spuren entstehen durch Berührung, also durchaus ,stofflich‘: Sie zeigen sich im und am Material. Spuren gehören der Welt der Dinge an. Nur kraft eines Kontinuums in der Materialität, Körperlichkeit und Sinnlichkeit der Welt ist das Spurenhinterlassen und Spurenlesen möglich. Der Zusammenhang zwischen Urheberschaft und Spur ist nach Art einer Ursache-Wirkungs-Relation zu denken; er beruht weder auf Ähnlichkeit (wie im Abbild) noch auf Konventionalität (wie im Symbol). Die Materialität der Spur – anders als beim Zeichen – subordiniert sich nicht der Repräsentation. Spuren repräsentieren nicht, sondern präsentieren. Und überdies: Wie alle Dinge zeigen sie nur und reden nicht.34

In merkwürdiger Weise wird im autobiographischen Exkurs der MinnegrottenEpisode in Gottfrieds von Straßburg „Tristan“-Roman die Materialität von Spuren in Szene gesetzt: Auf dem Kristallbett in der Grotte hat der Erzähler, wie er berichtet, nicht geruht; tanzend ist er allerdings durch die Minnegrotte gesprungen, hat derart auf dem harten Marmorboden Spuren hinterlassen, die aber – der grüne Marmor wächst wundersamer Weise nach – aus der Welt zu schaffen sind. und aber den ester„ch d– b„, swie herte marmel„n er s„, den h–n ich sú mit triten zebert: hæte in diu grüene niht ernert, an der s„n meistiu tugent l„t, von der er wahset alle z„t, man spurte wol dar inne diu w–ren spor der minne. (Gottfried von Straßburg: ,Tristan‘ V. 17117 – 17124)35 33 Bedorf [Anm. 7], S. 402. Vgl. auch Reichertz, Jo: Die Spur des Fahnders oder: Wie Polizisten Spuren finden. In: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Hg. v. Krämer, Sybille u. a. Frankfurt a. M. 2007, S. 309 – 332. 34 Krämer [Anm. 10], S. 15 f.; Alt, Peter-Andr¦: Die Verheißungen der Philologie. Göttingen 2007 (Göttinger Sudelblätter), S. 25 f.; vgl. auch Fohrmann [Anm. 25], S. 15 f. 35 Der Text wird zitiert nach: Gottfried von Straßburg: Tristan. Band I: Text. Hg. v. Marold, Karl. Unveränderter fünfter Abdruck nach dem dritten mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen Apparat besorgt und mit einem erweiterten Nachwort versehen von Werner Schröder. Band II: Übersetzung v. Peter Knecht. Mit einer Einführung in das Werk v. Tomas Tomasek. Berlin, New York 2004.

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,Den Marmorboden um das Bett herum habe ich mit meinen Tritten ganz zertrampelt, so hart er ist. Wenn er nicht immer nachwachsen würde – das macht die grüne Farbe, die ihm diese besondere Fähigkeit verleiht –, dann könnte man heute noch meine Spur der wahren Liebe darauf erkennen.‘

Gawans Verhalten in der Blutstropfen-Episode belegt auch, dass das Konzept der ,Spur‘ abhängig ist von der Tätigkeit, den Handlungen eines Beobachters, denn es ist – neben dem Erzähler – der Artusritter, der aus den Tropfen roten Tierbluts Beweismittel für einen von ihm selbst konstruierten Sinnzusammenhang macht. Etwas ist nicht Spur, sondern wird als Spur gelesen. Es ist der Kontext gerichteter Interessen und selektiver Wahrnehmung, welcher aus ,bloßen‘ Dingen Spuren macht. Wir sind beim Spurenlesen involviert. […] Spur ist nur das, was als Spur betrachtet und verfolgt wird. Macht dies Spuren zu sozialen Tatsachen, deren Sein auf ihrem Anerkanntsein beruht?36

Ohne die roten Blutspuren im weißen Schnee hätte Gawan also nicht so handeln können, wie er gehandelt hat. Aufmerksam ist er aber geworden, weil er in seinen Sehgewohnheiten irritiert wurde: Das Rot im Weiß bedeutet einen ,Bruch‘, eine Störung in der Wahrnehmung, die etwas als Spur zu erkennen gibt: „Auffällig können Spuren nur werden, wenn eine Ordnung gestört ist, wenn im gewohnten Terrain das Unvertraute auffällt oder das Erwartete ausbleibt. Erst Abweichungen lassen Spuren sinnenfällig werden.“37 * „Nur unter der Voraussetzung, daß die Vergangenheit eine Spur hinterlassen hat, die von den Monumenten und Dokumenten zu einem Zeugen der Vergangenheit gemacht wird, wird es überhaupt möglich, daß Archive eingerichtet und Dokumente gesammelt und aufbewahrt werden.“38 In der Geschichtswissenschaft ist, wie dieses Zitat von Paul Ricoeur belegt, Erkenntnis nur durch Spuren möglich. Auf diesen Zusammenhang hat schon Marc Bloch, der Mitbegründer der Annales-Schule, hingewiesen, bei dem der Begriff der ,Spur‘ aber keine programmatische Bestimmung erfährt.39 Der Historiker und Theologe Johann Martin Chladenius betonte schon im 18. Jahrhundert in Hinblick auf die ,Spur‘ gerade das Moment des Unscheinbaren und des Flüchtigen. Nach seiner Auf36 Krämer [Anm. 10], S. 16 f. 37 Krämer [Anm. 10], S. 16. 38 Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit. Aus dem Französischen von Knop, Andreas. München 1991 (Übergänge 18), S. 191. 39 Vgl. etwa Bloch, Marc: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, 31992, S. 67: „Was sonst verstehen wir unter Zeugnissen (Quellen), wenn nicht eine ,Spur‘, d. h. ein durch die Sinne wahrnehmbares Zeichen, das uns ein Phänomen hinterlassen hat, das selber als solches nicht fassbar ist?“

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fassung kann es daher auch leicht geschehen, dass ,Spuren‘ nicht wahrgenommen, ,übersehen‘ werden können. Er schreibt: „Folgen und Anzeichen einer Geschichte, die gar leichte können übersehen werden, heissen Spuren. Und daher kommt es, daß das Entdecken mit dem Aufspüren übereinkommt.“40 Erkenntnistheoretisch spielen Spuren für die Geschichtswissenschaft deshalb eine entscheidende Rolle, weil sie – wie Ricoeur herausgearbeitet hat – Bedeutungsbezüge und Kausalitätsbezüge vereinen, weil sie Zeichen und Wirkung verbinden: Das Markieren nämlich setzt eine Materie voraus, die härter und dauerhafter ist als die vorübergehende Tätigkeit des Menschen: Vor allem deshalb, weil die Menschen den Stein, den Knochen, gebrannte Tontäfelchen, den Papyrus, das Papier, das Tonband, die Diskette bearbeitet haben, ihnen ihr Schaffen anvertraut haben, überleben ihre Werke ihren Schaffensprozeß; die Menschen gehen vorüber, die Werke bleiben. Dieser dinghafte Charakter jedoch ist wichtig für unsere Untersuchung: Er begründet zwischen markierendem und markiertem Etwas ein Verhältnis von Ursache und Wirkung. Folglich vereinigt die Spur eine Signifikanzbeziehung, die sich leichter an dem Gedanken eines Spuren hinterlassenden Vorübergehens ablesen läßt, mit einer Kausalitätsbeziehung, die sich aus der Dringlichkeit der Markierung ergibt. Die Spur ist Zeichen und Wirkung in eins. Die beiden Systeme von Beziehungen überschneiden sich: Denn einerseits heißt eine Spur verfolgen, Kausalitätsschlüsse zu ziehen, die die einzelnen Schritte betreffen, aus denen sich die Handlung des ,dort Vorübergehens‘ zusammensetzt; und die Markierung zum markierenden Etwas zurückverfolgen, heißt andererseits, aus allen möglichen Kausalzusammenhängen diejenigen herauszugreifen, die überdies eine Signifikanz aufweisen, wie sie typisch ist für die Beziehung der Spur auf das Vorübergehen.41

Spuren sind Geschichte – Spuren erzählen Geschichten: Ihnen eignen als Aspekte damit Narrativität, Interpretativität und Polysemie. Der Literaturwissenschaftler ist ein Spurenleser. Interpretieren heißt, der Störung (einer im Text aufscheinenden Ordnung) auf die Schliche kommen und sie zu reformulieren: Eine Spur zu lesen heißt, die gestörte Ordnung, der sich die Spurbildung verdankt, in eine neue Ordnung zu integrieren und zu überführen; dies geschieht, indem das spurbildende Geschehen als eine Erzählung rekonstruiert wird. Die Semantik der Spur

40 Chladenius, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Neudruck. der Ausg. Leipzig 1752, Wien 1985 (Klassische Studien zur sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung 3), Cap. 7, § 39 (1752) 199. Vgl. hierzu Schmölders, Claudia: „Sinnreiche Gedancken“. Zur Hermeneutik des Chladenius. In: Archiv für die Geschichte der Philosophie 58 (1976), S. 240 – 264; Friederich, Christoph: Sprache und Geschichte. Untersuchungen zur Hermeneutik von Johann Martin Chladenius, Meisenheim am Glan 1978 (Studien zur Wissenschaftstheorie 13). 41 Ricoeur [Anm. 35], S. 193.

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entfaltet sich nur innerhalb einer ,Logik‘ der Narration, in der die Spur ihren ,erzählten Ort‘ bekommt.42

Eine Strophe aus Walthers „Lindenlied“ belegt, dass die Spur über eine eigene Temporalität verfügt. Der Spur ist eine Zeitkonzeption inhärent: Damit ist die zeitliche Differenz zwischen Spurenproduktion und dem Erkennen der Spur gemeint. Eine hinterlassene Markierung besitzt eine doppelte Struktur, da sie Zeichen und Wirkung zu verbinden vermag: Sie bezieht sich als materialer Abdruck einer ehemaligen Präsenz auf die kalendarische Zeit und zugleich als gegenwärtige Spur auf die Zeit derjenigen, die heute eine Geschichte zu erzählen haben. Sie vermittelt daher als zu deutende Hinterlassenschaft zwischen der chronologischen Ordnung und der narrativen Zeit […].43

Im „Lindenlied“ heißt es in der dritten Strophe in einer Rückschau auf die topographischen Umstände der Liebesbegegnung: Dú hat er gemachet alsú r„che von bluomen eine bettestat. des wirt noch gelachet innecl„che, kumt iemen an daz selbe pfat. b„ den rúsen er wol mac, tandaradei, merken w– mirz houbet lac.44 ,Da hatte er / ganz herrlich aus Blumen / ein Bett bereitet. / Darüber wird man noch / herzlich lachen, / führt jemanden sein Weg dahin. / An den Rosen kann er wohl sehen, / tandaradei, / wo mein Kopf gelegen ist.‘

Indem in der Gegenwart des Liedvortrags die Möglichkeit angesprochen wird, dass die Spuren gemeinsamen, von Liebe erfüllten Zusammenseins später/ immer noch/jetzt am Kopfabdruck des (weiblichen) Ichs bei den Rosen wahrnehmbar ist, verweisen die hinterlassenen Spuren auf die Vergangenheit wie sie in der Gegenwart noch wirken. Freilich: Die Kopfspuren sagen nicht, wer da gelegen hat; sie sagen nur, dass dort gelegen wurde. In den beiden folgenden Textbeispielen möchte ich nach der narrativen Funktion, der Statur und dem Status der ,Spur‘ fragen. In beiden Fällen handelt es sich um Blutspuren – um Blutspuren, die im Kontext von Szenarien von Betrug und 42 Krämer [Anm. 10], S. 17. 43 Bedorf [Anm. 7], S. 406. 44 Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Texte und Kommentare. Hg. v. Kasten, Ingrid. Frankfurt a. M. 1995 (Deutscher Klassiker Verlag, Bibliothek des Mittelalters Bd. 3), S. 396.

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Verstellung Brisanz gewinnen. Ich greife bei ihrer Darstellung und Analyse auf die genannten Attribute der Spur zurück. Welches Wissen wird mit den Spuren gewonnen? Wie unterstützen sie, wie behindern sie Betrug und Verstellung?

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Seitensprünge „Eine Sache ist es, Spuren, Gestirne und Kot (tierischen oder menschlichen), Katarrhe, Hornhäute, Pulsschläge, Schneefelder oder Zigarettenasche zu analysieren; eine andere, Schriften, Gemälde oder Diskurse zu untersuchen. Der Unterschied zwischen (unbeseelter oder lebendiger) Natur und Kultur ist viel wesentlicher als die unendlich viel oberflächlicheren und unveränderbaren Unterschiede zwischen den einzelnen Wissenschaften.“45

In der sog. Mehlstreuepisode von Gottfrieds Romanfragment werden die Liebenden – nach einem Aderlass Ruhe genießend – allein gelassen, nicht ohne dass Melot, diu slange („Tristan“, V. 15104), der intrigante Zwerg, Mehl streut, um eventuelle Spuren zwischen den Betten sichtbar werden zu lassen. Tristan und Isolde wird also eine Falle gestellt: Sie sollen Spuren hinterlassen. Nu Marke von dem bette kam, Melút s„n mel ze handen nam, den estr„ch er besæte, ob ieman b„ getræte dem bette dar oder dan, daz man in spurte ab oder an. hie mite giengen sie zwÞne hin. („Tristan“, V. 15149 – 15155) ,Als Marke vom Bett kam, / nahm Melút sein Mehl zur Hand: / Das verstreute er auf dem Fußboden, / damit man es nachher an den Spuren erkannte, / wenn jemand zu dem Bett hin ginge oder es verließe. / Dann gingen die beiden davon.‘

König und Zwerg gehen – ihre Absichten sind deutlich – zur Messe. Brangaene warnt Tristan vor der List. Doch Tristan, der minnen blinde („Tristan“, V. 15190), springt nach kurzer Abwägung seiner Lage von Bett zu Bett. Die Ader platzt auf, besudelt das Bett Isoldes und, nachdem er zurückgesprungen ist, auch das Tristans mit Blut. Eine Vorausdeutung des Erzählers (daz ime s„t michel ungemach und leit begunde machen. „Tristan“, V. 15196 f.) verweist auf künftiges Unheil. bette und bettelachen diu missevarte daz bluot, 45 Ginzburg [Anm. 10], S. 31.

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alse bluot von rehte tuot ez varte w– unde w–. („Tristan“, V. 15198 – 15201) ,Das Bett und die Laken / besudelte das Blut / – das ist nun einmal seine Art – / und machte überall Flecke.‘

Die „gewaltsam-sensuelle Manifestation der Tristanminne“46 in dieser Szene, wie die vorhergehende Episode im Baumgarten derber Schwankstoff, wird bei Gottfried überlagert von der Problematik des (unmöglichen) Erkennens von Wahrheit.47 Der von der Messe zurückkehrende Marke findet zwar in beiden Betten Blut – dú sach er bluot unde bluot („Tristan“, V. 15215) – aber zwischen den Betten im Mehl keine Fußspuren: diu bewaerde diu was aber swach („Tristan“, V. 15240).48 Die Beweislage ist prekär. Isolde sucht sich darüber zu verteidigen, dass sie lügt und behauptet, dass ihre Ader aufgeplatzt ist, dass in ihrem Bett ihr Blut Spuren hinterlassen hat (m„n –der brast, d– gieng ez van. / diu ist k˜me iezuo verstanden. „Tristan“, V. 15216 f.) Auffälligerweise kommentiert König Marke dies nicht, sondern wendet sich rasch Tristan zu (durch s„ne hende l–zen g–n „Tristan“, V. 15219), als ob es sich bei dieser ganzen Angelegenheit um einen Scherz handeln würde. Er täuscht Tristan, schlägt dann doch dessen Bettdecke zurück und – findet wie im anderen Bett Blut. Da diese Indizien keine klare Antwort geben, verstummt Marke: nv sweiger vnd gesprach nie wort (M fol. 80ra Z. 6).49 Argwohn und Zweifel beherrschen

46 Wolf, Alois: Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde. Darmstadt 1989, S. 201. 47 Huber, Christoph: Gottfried von Straßburg: Tristan. Berlin 2000 (Klassiker-Lektüren 3), S. 92: „So bieten die List-Episoden Exerzitien in der Kunst des Zeichenlesens, wie sie dem mittelalterlichen Semiotiker vertraut sind, nur daß die bezeichneten Inhalte sich zugleich mit den Entdeckungen verschleiern und verwirren.“ 48 Unterreitmeier, Hans: Tristan als Retter. Perugia 1984 (Centro Internazionale di Studi di Filosofia della Religione Saggi 13), S. 191: „Im ,geringfügigen‘ Beweismittel, nicht im burlesken Sprung liegt der Kern der Aussage dieser Szene bei Gottfried: die zweideutige Antwort auf Markes Frage nach der warheit (15257) der minne. Im Mittelpunkt auch dieser Szene steht wieder nicht die burlesk dargestellte Tatsache der minne Tristans und Isoldes, sondern die Deutung dieser nur scheinbar burlesken Tatsache durch den ,irdischen‘ Mann, Isoldes Ehemann.“ 49 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde. Mit der Fortsetzung Ulrichs von Türheim. Faksimile-Ausgabe des Cgm 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Textband mit Beiträgen von Montag, Ulrich u. Gichtel, Paul. Stuttgart 1979; vgl. „Tristan“, V. 15228: nu gesweig er und sprach mÞ kein wort. Vgl. Hahn, Alois: Rede- und Schweigeverbote. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43 (1991), S. 86 – 105; Castellet, Anna: L’espressivit— del silenzio nel Tristan di Gottfried von Strassburg, in: Il romanzo di Tristano nella letteratura del Medioevo: atti del convegno – Beiträge der Triester Tagung. Der ,Tristan‘ in der Literatur des Mittelalters, Hg. v. Schulze-Belli, Paola u. Dallapiazza, Michael. Trieste 1990, S. 93 – 101.

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Markes Gedanken und Gefühle. Sein abruptes Verstummen ist eine Form von Kommunikation, sein Schweigen verbirgt und verhüllt. er haete zuo den stunden an s„nem bette vunden die schuldegen minnen spor und vant dekeinez dervor. („Tristan“, V. 15253 – 15256) ,Er hatte da / an seinem Bett / die Spur sündiger Liebe gefunden, / aber davor war nichts gewesen.‘

Was Marke zur Gewissheit fehlt, sind die fehlenden Fußspuren. Während Marjodo die Fußspuren Tristans im Schnee zu lesen vermag und ihnen ohne Schwierigkeiten im Dunkeln folgen kann, irritiert Marke in seiner Wahrnehmung die Abwesenheit von etwas, das Abwesendes präsent hält. Die Blutspuren sind als Zeichen nicht eindeutig, sie lassen sich vielfach interpretieren. Zu ihnen lassen sich viele Geschichten ausdenken und erzählen. Und daher gelingt der Betrug noch.50

3.

Eisenstäbe „Der große Häuptling der Apachen hat Recht,“ nickte ich ihm zu und fuhr, auf die Spuren deutend, fort: „Aber hat er auch bemerkt, daß dieses Pferd hier müde gewesen ist?“51

König Marke zeigt also mehr Skrupel als der wortgewaltige und rasch urteilende Meleagant in Chrestiens „Lancelot“-Roman, der eines Morgens, als er das

50 Kucaba, Kelley : Höfisch inszenierte Wahrheiten. Zu Isoldes Gottesurteil bei Gottfried von Straßburg. In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. v. Harms, Wolfgang u. a. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 73 – 93; Kucaba, Kelley : (Behind) the Scenes, (behind) the Signs: Some Pragmatic Reflections on Courtliness in Gottfried’s ,Tristan‘. Ann Arbor Microfilms 1998; Eming, Jutta: On Stage: Ritualized Emotions and Theatricality in Isolde’s Trial. In: MLN 124, 3 (2009), S. 555 – 571; Fritsch-Rößler, Waltraud: Falsche Freunde, Markes Ohren und der Autor als Intimus. Zweifelhafte amicitia im „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg. In: Von Mythen und Mären. Mittelalterliche Kulturgeschichte im Spiegel einer Wissenschaftler-Biographie. Festschrift für Otfrid Ehrismann zum 65. Geburtstag. Hg. v. Marci-Boehncke, Gudrun u. Riecke, Jörg. Hildesheim 2006, S. 80 – 93. 51 Karl May : „Old Firehand“. In: Deutsches Familienblatt. Wochenschrift für Geist und Gemüth zur Unterhaltung für Jedermann, Dresden 1. Jg. (1875/76), Nr. 7 (S. 107 – 109), Nr. 8 (S. 123 – 125), Nr. 9 (S. 139 – 141), Nr. 10 (S. 155 – 157), Nr. 11 (S. 173 – 176), Nr. 12 (S. 188 – 192), Nr. 13 (S. 204 – 208), Nr. 14 (S. 220 – 224), Nr. 15 (S. 236 – 240), Nr. 16 (S. 253 – 256), Nr. 17 (S. 269 – 272) [Reprint Hamburg 1975], S. 139 li.

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Schlafgemach der unter dem Schutz seines Vaters stehenden Königin Guenevere betritt, mit einer ähnlichen Indizienkonstellation konfrontiert wird und äußert: J’ai trov¦ Sanc an voz dras, qui le tesmoingne Puis que dire le me besoingne. Par ce le sai, par ce le pruis, Que an voz dras et es suens truis Le sanc qui chei de ses plaies: Ce sont ansaingnes bien verais. („Lancelot“, V. 4788 – 4794)52 ,Ich habe an Euerm [der Königin] Laken Blut entdeckt, das beweist es, (4790) wenn ich es schon sagen muß. Ich weiß und beweise es dadurch, daß ich auf Euerm und seinem [des unschuldigen Keu] Laken das Blut, das aus seinen Wunden floß, finde: das sind ganz untrügliche Anzeichen.‘

Die vermeintlich eindeutigen Augen-Beweise veranlassen Meleagant sodann, einen Schwur zu leisten, den der rechtskundige Lancelot ebenso glänzend formuliert wie Isolde den ihren in der Gottesurteil-Episode des gottfriedschen Fragments. Doch der Reihe nach: Nachdem Meleagant Guenevere entführt hat, bricht Lancelot auf, die Königin zu befreien. Er stellt Meleagant im Kampf und besiegt ihn. Für ihre Befreiung revanchiert sich Guenevere mit einem nächtlichen Stelldichein vor dem Fenster ihres Schlafzimmers, das Lancelot trickreich vorbereitet: Quant il vit le jor enubl¦, Si se fet las et traveilli¦, Et dit que moutavoit veilli¦, S’avoit mestier de reposer. („Lancelot“, V. 4564 – 4567) ,Als er den Tag dunkeln sah, stellt er sich müde und überanstrengt und erklärt, er habe zu viel gewacht und braucht Ruhe.‘

Gespiegelt wird Lancelots notwendige Müdigkeit, seine Verstellung in einer Wendung des Erzählers an das Publikum, der diesem unterstellt mit den Praktiken des Helden wohl vertraut zu sein. Auch so kann man als Erzähler das zweifelhafte Handeln seiner Figur legitimieren! Vos qui avez fet autretel, Que por la jant de son ostel Se fet las et se fet couchier […]. („Lancelot“, V. 4569 – 4571) ,Ihr, die Ihr es schon ebenso gemacht habt, könnt gut verstehen und begreifen, dass er sich vor den Leuten seiner Herberge müde stellt und sich zu Bett bringen läßt.‘ 52 Chrestien de Troyes: Lancelot. Übersetzt und eingeleitet von Jauss-Meyer, Helga. München 1974 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 13).

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Schnell und leise erhebt sich Lancelot von seinem Bett; er schleicht sich hinaus und ist froh, dass weder Mond noch Sterne scheinen, dass auch im Haus weder Kerze, noch Lampe, noch Laterne brennen. Um sich blickend, ohne Gefährten und ohne Geleit und ohne jemanden zu treffen, betritt Lancelot den Obstgarten. Günstig ist auch, dass erst vor kurzer Zeit ein Stück der Gartenmauer herausgebrochen ist, durch das der Held hindurch schlüpft, zu einem Fenster gelangt, wo er auf die Königin wartet, ohne zu husten und ohne zu niesen, damit ihn niemand bemerkt. Als diese hinzukommt, befinden sich zwischen den Liebenden, die einander heftig begehren, nur noch – Eisenstäbe. Doch Lancelot glaubt nicht, dass das Eisen etwas taugt. Zur Königin sagt er : „Nichts außer Euch kann mich davon abhalten, zu Euch zu gelangen.“ Das überzeugt die Heldin. Zurückgekehrt ins Bett will sie auf Lancelot warten, den sie noch warnt, keinen Lärm zu machen, denn der Senneschall schlafe in der Nähe. Lancelot verbiegt mit großer Kraft und ohne Mühe die Stäbe und zieht sie aus dem Mauerwerk: Mes si estoit tranchanz li fers Que del doi mame jusqu’as ners La premiere once se creva Et de l’autre doi se tranche La premerainne jointe tote; Mes del sanc qiu jus an degote Ne des plaies nule ne sant Cil qui a autre chose antant. („Lancelot“, V. 4657 – 4664) ,Das Eisen war jedoch so scharf, daß er sich am kleinen Finger das erste Glied bis zum Nerv verletzte (4660) und sich am anderen Finger das erste Gelenk ganz durchschnitt. Aber er bemerkt nicht das Blut, das hinabtropft, er spürt keine seiner Wunden: sein Sinn ist auf ganz anderes gerichtet!‘

Vor dem Bett der Königin kniet Lancelot nieder und betet sie an! An keine Heiligenreliquie (cors saint „Lancelot“, V. 4671) glaubt er inständiger, glaubt er mehr – wie es im Text heißt. Doch die Königin zieht ihn rasch ins Bett und umfängt ihn. Was nun passiert, darüber schweigt der Erzähler, indem er wortreich sein Verstummen ausstellt: Mes toz jorz iert par moi tÚue, Qu’an conte ne doit estre dite. Des joies fu la plus eslite Et la plus delitable cele Que li contes nos test et cele. („Lancelot“, V. 4698 – 4702) ,Ich werde aber immer darüber schweigen, denn in einer Erzählung darf davon nicht gesprochen werden. Die wunderbarste und köstlichste aller Freuden war diejenige, die uns die Erzählung verschweigt und verhehlt.‘

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Der Abschied fällt den Liebenden am nächsten Morgen schwer : Lancelot – ein wahrer Märtyrer (grant martire „Lancelot“, V. 4709) – verlässt die Königin: Mes de son cors tant i remaint Que li drap sont tachi¦ et taint Del sanc qui li chÚi des doiz. („Lancelot“, V. 4717 – 4719) ,von seinem Körper jedoch bleibt soviel hier zurück, daß die Laken von dem Blut, das ihm von den Fingern tropft, befleckt und gefärbt sind.‘

Auf seinem Weg zurück in sein Gemach gelingt es dem Helden, seine Spuren zu verwischen, d. h. die Eisenstäbe wieder zurecht zu biegen und an ihren Platz zu setzen, ,so daß weder vorn noch hinten, weder auf der einen noch auf der anderen Seite sichtbar ist, daß jemand einen der Gitterstäbe weggenommen, weggezogen oder gebogen hatte‘ („Lancelot“, V. 4730 – 4733).53 Zurückgekehrt ins eigene Bett bemerkt Lancelot endlich und mit Verwunderung (mervoille „Lancelot“, V. 4742), dass sein Finger verletzt ist, doch beunruhigt es ihn nicht weiter. Bald nach Tagesanbruch wird die Königin von Meleagant überrascht: Sofort erblickt er das frische Blut auf ihren Laken und ,wie einer, der das Böse/Schlechte wahrnimmt, schaut er zum Bett des Seneschalls Keu hin.‘ („Lancelot“, V. 4769 – 4770). Dort sieht er auch Blut – Keus Wunden, die er sich im Kampf zugezogen hat, hatten sich in der Nacht erneut geöffnet. Meleagants Wahrnehmung ist unzweifelhaft voreingenommen. Sie ist von seinem Begehren nach der Königin bestimmt, wie sein misogyner Kommentar zeigt: Denn er behauptet, die Bewachung der Königin durch seinen Vater, der sie vor ihm schützen wolle, habe sich als nutzlos erwiesen, da der Senneschall Keu sich Lust bei der Königin verschafft habe. Erst nach Meleagants wütender Anklage entdeckt die Königin das Blut in ihrem Bett: Sie wundert sich, schämt sich sehr und wird – wie ausdrücklich festgestellt wird – dunkelrot, blutrot sozusagen.54 Hier gelingt keine Verstellung. Und doch ist die Königin schlagfertig: 53 Gerade dann, wenn man Spuren zu verwischen trachtet, hinterlässt man sie. 54 Ausdrücklich wird betont, dass die Königin keineswegs geahnt hat, dass ihre Laken von Blut verschmutzt sein könnten („Lancelot“, V. 4758 f.) Zur Scham als Gefühl und Körperzeichen vgl. Mecklenburg, Michael: Evolution – Emotion – Literatur. Studien zur Scham in mittelhochdeutschen Erzähldichtungen. Unveröffentl. Habilitationsschrift Berlin 2007; ders., Erecs Scham. Kulturelle Umbesetzung einer Emotion im mittelhochdeutschen höfischen Roman. In: arcadia 44 (2009), H. 1, S. 73 – 92; Baisch, Martin: man bút ein badelachen dar: des nam er vil kleine war. (167, 21 f.) Über Scham und Wahrnehmung in Wolframs Parzival. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colûquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Hg. v. Greenfield, John. Porto 2004, S. 105 – 132; zu Nietzsches Konzeption der Scham vgl. die Hinweise bei Geisenhanslüke [Anm. 3], S. 23 – 26; Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne. Hg. v. Gvozdeva, Katja u. Velten, Hans Rudolf. Berlin, New York 2011 (TMP 21).

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Et dist: ,Se Damedeus me gart, Cest sanc que an mes dras esgart, Onques ne l’i aporta Kes, Ainz m’a anuit seigni¦ li nes; De mon nes fu au mien espoir.‘ ,Et ele cuide dire voir.‘ (,Lancelot‘ V. 4799 – 4804) ,Gott behüte,‘ erklärte sie, / ,dies Blut, das ich auf meinen Laken sehe, / brachte niemals Keu dorthin, / sondern mir hat heute Nacht die Nase geblutet. / Ja, ich bin der Ansicht, / daß es aus meiner Nase kam.‘ / Sie glaubte, damit die Wahrheit zu sagen.‘

Man hat den Eindruck, dass die Königin, während sie redet, nachdenkt, dass sie beim Reden allmählich ihre Gedanken verfertigt und derart auf das Nasenbluten kommt.55 Die Königin nimmt das Blut im eigenen Bett überdies als Spur wahr ; für sie hat das Blut nichts mit der gemeinsam verbrachten Nacht mit Lancelot zu tun, für sie hat das Blut also nichts mit Sex zu tun. Meleagant hingegen liest das Blut als Zeichen mit konventionell festgelegter Bedeutung. Wie Peggy McCracken in einer fulminanten Analyse dieser Episode unter dem Aspekt von gender herausgearbeitet hat, haben Blutspuren auf Laken weiblicher Figuren im Kontext höfischer Romane nur eine mögliche Bedeutung: Ehebruch! The whole episode is structured around the explicit question of whose body bled in the queen’s bed, but it seems that only a man’s body can provide a credible answer because the blood can only be read in the context of a competition to possess the queen: the blood on the sheets proves adultery.56

So ist es auch wenig verwunderlich, dass Meleagant die Wachen auffordert, auf die Laken zu achten, während er den König holt, der ihm Recht verschaffen soll. Der König hofft, dass es ihm gelingt, die Spuren richtig zu deuten und sagt: ,Meine Augen werden mir die Wahrheit zeigen.‘ („Lancelot“, V. 4848) Dies verweist auf den Zusammenhang von Neugier (als Augenlust) und Täuschung. Vor dem König beteuert Keu, der Seneschall von Artus, dass er unschuldig ist, dass er wisse, dass seine Wunden in der Nacht besonders stark geblutet haben und 55 Im „Prosalancelot“ verursacht Kopfschmerz das Nasenbluten: „,Ir solt allen uwern willen sprechen, herre‘, sprach sie, ,wann got der weiß das wol das Key diß blut nie herre bracht; die nase wart mir hint bluten in mym slafe, als mir dick hie vor beschehen ist von mym krancken heubt.‘“ (Prosalancelot: Lancelot und Ginover Bd. 2, nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147. Hg. v. Kluge, Reinhold, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017 – 8020 der BibliothÀque de l’Arsenal Paris. Übersetzt, kommentiert und hg. v. Steinhoff, Hans-Hugo. Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 15; Bibliothek deutscher Klassiker 123,2), S. 420, Z. 24 – 27). 56 MacCracken, Peggy : The Curse of Eve, the Wound of the Hero: Blood, Gender, and Medieval Literature. Philadelphia 2003, S. 12. Vgl. hierzu die Rezension von Bildhauer, Bettina in: Medium Aevum 72 (2003), S. 358 f. Vgl. auch Bildhauer, Bettina: Medieval Blood. Cardiff 2006. Vgl. dazu die Rezension von Kandler, Johannes. In: Arbitrium 25 (2007), H. 1, S. 29 – 31.

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deshalb sein Laken blutverschmiert sei.57 Heimlich hat die Königin schon Lancelot holen lassen.58 Der fordert einen Schwur. Man holt Reliquien. Meleagant streckt seine Hand nach ihnen aus und schwört, dass das Blut das Blut von Keu ist.59 Indem Lancelot anstelle des verletzten und verdächtigen Keu den Gerichtskampf gegen Meleagant gewinnt, beweist er die Unschuld des Seneschalls, beweist er, dass es nicht dessen Blut ist, das die Laken der Königin verunreinigt hat. Offen bleibt aber auf Figurenebene, wer auf die Laken der Königin geblutet hat. Presumably the queen’s explanation for the blood on her sheets is accepted after M¦l¦agant’s accusation is proved false, but the story does not explicitly indicate that the characters finally acknowledge the truth of the queen’s claim to have had a nosebleed; in Paul Strohm’s words, Guenevere’s bed must remain ,a hot spot of alternative interpretation‘.60

Hinzuweisen ist also darauf, wie virtuos im Text die Differenz von Figuren- und Rezeptionsebene gestaltet ist: Die Spuren und ihre Bedeutung – auch dies bewirkt das narrative Arrangement – zeigen sich abhängig von der Perspektive, aus der sie betrachtet werden. If the bloodshed of knights maintains or reestablishes social order, the bloodshed of women might be seen as subversive of the symbolic system in which heroism is defined. To the extent that the value of bloodshed is tied to injury and the danger of death, women’s bleeding bodies may be viewed as profoundly threatening to the symbolic status of bloody heroism: the body that can regularly bleed but not challenges the heroic nexus of blood, death, and glory promoted in romances narratives about battles undertaken to restore justice, win women, and gain honor.61

* Die Spuren laufen – das zeigen die Beispiele aus dem Bereich des höfischen Romans – ins Leere; sie sind und bleiben in ihrer Materialität existent, sind allen beteiligten Figuren vor Augen und verweisen auf deren fragile Körperlichkeit. Die Texte entfalten, wie Spuren abhängig sind von ihren Beobachtern und deren Handlungen. Sie können und müssen interpretiert werden. Im besonderen Maße verdeutlichen die beiden Episoden, wie ein Aspekt der Spur – die Störung der Ordnung – auf den Zusammenhang von ,Verstellung und Betrug‘ verweist. 57 Doch Meleagant erwidert: ,Die Ausrede nützt Euch gar nichts: das Blut auf beiden Seiten beweist es. Wir sehen es ganz deutlich, und es ist ganz offensichtlich.‘ 58 Im „Prosalancelot“ bringt der König Lancelot mit. 59 Mit welcher Hand schwört Lancelot? Mit der verletzten? Das lässt der Text offen. 60 McCracken [Anm. 53], S. 12. 61 McCracken [Anm. 53], S. 13.

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Aber : Die hier behandelten höfischen Texte sind nicht der Gattung des Kriminalromans zuzurechnen. König Marke ist nicht Philip Marlowe, Meleagant ist nicht Kemal Kayankaya!62 Die Blutspuren überführen nicht, sie überführen aber nicht deshalb nicht, weil die mittelalterlichen Romanwelten keine DNA und Speicheltests kennen,63 sie überführen vielmehr deshalb nicht, weil die Königinnen auf Handlungsebene nicht des Ehebruchs überführt werden sollen. Die Blutspuren in der Handlung sind Spuren im Text, die historische Wissenspraktiken zur Anschauung bringen: Auf Figurenebene sind die Spuren Zeichen, d. h. sie haben festgelegte Bedeutung: Das Blut der Königin verweist auf Ehebruch (dichotom: Recht/Unrecht – Schuld/Unschuld); auf Rezeptionsebene/ Erzählebene sind die Spuren Spuren der Möglichkeit von Verstellung und Betrug, d. h. der Leser/die Leserin ist Philipe Marlowe, er oder sie weiß, dass die Helden überführt sind, zu überführen wären. Aus der Unverfügbarkeit der Dinge, scharfe Eisenstäbe, aus der Zerbrechlichkeit der Körper, aufbrechende Wunden, gewinnen die Spuren Existenz und Kraft. An ihnen und mit ihnen müssen sich die Wahrheitsspiele bewähren. Als etwas von ,außen‘ bergen sie das Potenzial, die ,Konvention, nach der alle lügen‘, zu durchbrechen. Gleichwohl repräsentieren sie nicht die Wahrheit, sie präsentieren sie.

62 Und das Mittelalter kennt wohl nicht den Detektiv als Institution. Vgl. hierzu Haferland [Anm. 4], S. 130 f. 63 Vgl. Hollendonner, Barbara: Der Zauber der Präsenz. Evidenzproduktion in CSI. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2009), S. 27 – 40, bes. S. 32 f. (zu ,Blut‘).

Bernd Bastert (Bochum)

„Überwachen und Strafen“. simulatio und dissimulatio in deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen des 12.–14. Jahrhunderts

Verstellung und Betrug spielen in der Heldenepik eine zentrale, in vielen Fällen gar eine handlungstragende Rolle – für die deutsche Heldenepik gilt das genauso wie für die französische, die Chanson de geste. In der französischen Heldenepik wird uns möglicherweise sogar vom bekanntesten, jedenfalls aber – was den Verlust von Menschenleben angeht – vielleicht verheerendsten Betrug der mittelalterlichen Literatur überhaupt berichtet: Geneluns Pakt mit dem heidnischen Gegner, der in der Folge in zwei gewaltigen Schlachten vielen tausenden Christen und Sarazenen das Leben kosten wird. Diese narrativ konstitutive Betrugs- und Verratshandlung kennt selbstverständlich auch die deutsche Bearbeitung der „Chanson de Roland“, das um 1170/1180 entstandene „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad.1 Bevor im Weiteren das Feld von Verstellung und Betrug in deutschen Chanson de geste-Adaptationen des 12.–14. Jahrhunderts abgeschritten und analysiert werden kann, müssen zunächst zwei definitorische Erklärungen vorangestellt werden: 1) Was sind deutsche Chanson de geste-Adaptationen? 2) Was ist mit Verstellung bzw. Betrug im Kontext dieses Beitrags gemeint? ad 1): Von den rund 80 bekannten französischen Heldenepen hat ein gutes Dutzend zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert eine deutschsprachige Bearbeitung erfahren. Rechnet man Mehrfachbearbeitungen hinzu, kommt man sogar auf über zwanzig deutsche Chanson de geste-Adaptationen, die allerdings chronologisch, geographisch und typologisch zu differenzieren sind:2

1 Vgl. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übers. und kommentiert v. Kartschoke, Dieter. Stuttgart 1993 (RUB 2745), V. 1858 – 1943; im Folgenden zitiert als RL. 2 Vgl. zum Folgenden auch Bastert, Bernd: Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Tübingen 2010 (Bibliotheca Germanica 54).

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Bernd Bastert

Oberdeutsch „Willehalm“ „Karl“ „Arabel“ „Rennewart“ „Buch vom Hl. Karl“ „Buch vom Hl. Wilhelm“

1210/20 1215/25 1260/70 1260/70 1450/70 1450/70

Nieder- u. mitteldeutsch „Rolandslied“ „Karl und Galie“ „Morant und Galie“ „Schlacht von Alischanz“ Günser „Reinolt“ „Ospinel“ „Gerart van Rossiliun“ „Karlmeinet“-Kompilation „Karl und Ellegast“ „Historie van Sent Reynolt“

1170/85 1220/50 1230/60 1300/20 1300/50 14. Jhd. 1350/1400 1350/1400 14./15 Jhd. 1450

(Süd)Westdeutsch; rheinfränkisch „Herpin“ „Sibille“ „Loher und Maller“ „Huge Scheppel“ „Malagis“ „Reinolt von Montelban“ „Ogier von Dänemark“

1430/40 1430/40 1430/40 1430/40 1460/70 1460/70 1479

Das größtenteils im 13. Jahrhundert entstandene Corpus der oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen besteht ausschließlich aus Texten, die den Kampf zwischen Christen und Heiden, vorzugsweise in Südfrankreich und auf der Iberischen Halbinsel, thematisieren. Die zwischen dem 12. und dem 14./ 15. Jahrhundert im Rheinland und in Niederdeutschland entstandenen, oft nur fragmentarisch erhaltenen Chanson de geste-Bearbeitungen rezipieren zwar ebenfalls diesen Typus, daneben begegnen hier jedoch in zahlenmäßig etwa gleichem Umfang Texte, die einem anderen Typus der französischen Heldenepik zuzurechnen sind. In diesen Texten werden für den Feudaladel signifikante Themen wie etwa Auseinandersetzungen zwischen Souverän und Suzerän verhandelt. Hinter den Chanson de geste-Bearbeitungen, die während der dritten Rezeptionsphase französischer Heldenepik im 15. Jahrhundert nach Deutschland gelangten, verbirgt sich ein offenbar wiederum anders gelagertes Interesse. In keiner der aus dem Umfeld des Saarbrücker Hofes („Herpin“, „Sibille“, „Loher und Maller“, „Huge Scheppel“) und des Heidelberger Hofes („Malagis“, „Reinolt von Montelban“, „Ogier von Dänemark“) bekannten Chanson de gesteUmsetzungen steht ein kreuzzugsähnlicher Kampf gegen Ungläubige im Mittelpunkt der Erzählhandlung, obschon Auseinandersetzungen mit heidnischen

„Überwachen und Strafen“

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Sarazenen hier durchaus begegnen können. Stattdessen bildet der Kampf von Empörern gegen einen als ungerecht geschilderten König den narrativen Schwerpunkt der Heidelberger Übersetzungen niederländischer Texte, während in den Saarbrücker Prosaadaptationen französischer Vorlagen eher die Problematik schwieriger dynastischer Beziehungen, etwa in komplizierten Heiraten oder Erbfolgen, und komplexer sozialer und anthropologischer Konstellationen verhandelt wird.3 Bei praktisch allen deutschen Texten, die auf französische Heroik rekurrieren, handelt es sich nicht um mehr oder weniger genaue Übersetzungen – das war schon allein deshalb schwierig, weil Heroik mit ihren typischen Gattungskennzeichen wie (fingierter) Mündlichkeit, Formelhaftigkeit, Rekursen auf ein zugrundeliegendes episches Substrat etc. kaum in einen anderen Literatur- und Kulturraum transponierbar ist –, vielmehr sind die deutschen Texte zum Teil stark überformende Bearbeitungen, die die Charakteristika der Heldenepik für ein deutsches Publikum so verändern, dass die ursprünglichen Gattungsmarker verschwinden und statt dessen von einer Hagiographisierung bzw., mit Blick auf die Saarbrücker Adaptationen, von einer Literarisierung des Epischen gesprochen werden kann. ad 2: Verstellung und Betrug entstammen dem gleichen semantischen Feld, dem Feld der Täuschung und Irreführung, das man – sofern es mit einer strategischen Absicht verbunden ist – auch als Intrige bezeichnen kann. Trotz enger semantischer Beziehungen und Überschneidungen der beiden Begriffe werde ich sie hier aus heuristischen Gründen nicht tautologisch gebrauchen, sondern differenzieren. Unter Verstellung soll im Folgenden, mit Bezug auf Peter von Matt,4 eine Simulation verstanden werden, mithin etwas, was nicht der Fall ist, etwas Vorgespieltes, meist repräsentiert durch eine Verkleidung in Form einer Maskerade, Travestie oder auch eines Kleidertausches.5 Betrug soll dagegen 3 Beschrieben hat dies am Beispiel von Liebe und Ehe sowie Bündnissen und Bindungen von Bloh, Ute: Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: „Herzog Herpin“, „Loher und Maller“, „Huge Scheppel“, „Königin Sibille“. Tübingen 2002 (MTU 119). Da Ute von Bloh in einer weiteren Publikation die Saarbrücker Chanson de geste-Bearbeitungen überdies unter einer für den vorliegenden Band relevanten Fragestellung analysiert hat, verzichte ich in meinem Beitrag auf eine nähere Auseinandersetzung mit diesen Texten; vgl. von Bloh, Ute: Gefährliche Maskeraden. Das Spiel mit der Status- und Geschlechtsidentität („Herzog Herpin“, „Königin Sibille“, „Loher und Maller“, „Huge Scheppel“). In: Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken. Hg. v. Haubrichs, Wolfgang u. a. St. Ingbert 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung e.V. 34), S. 495 – 515. 4 Vgl. von Matt, Peter : Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München 2008, S. 20. 5 Zur Differenzierung von Maskerade, Travestie und Kleidertausch vgl. Kraß, Andreas: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen 2006 (Bibliotheca Germanica 50), S. 25.

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definiert werden als ein Akt, der gerade nichts vorspielt, nichts simuliert, sondern die wahren Beschaffenheiten verbirgt und verheimlicht, sie also dissimuliert. Simulatio und dissimulatio, Verstellung und Betrug, bilden zwar distinkte analytische Kategorien, auf der Ebene der Diegese ergeben sich freilich mannigfaltige Mischformen. Nach diesen Vorbemerkungen sollen nun die entsprechenden Texte selbst in den Fokus rücken, die – mit Ausnahme der Saarbrücker Chanson de gesteAdaptationen6 – unter einer solchen Fragestellung jedoch noch niemals systematisch untersucht worden sind.7 Es muss deshalb zunächst einmal darum gehen, entsprechende Passagen in den deutschen Chanson de geste-Adaptationen (und damit implizit immer auch in ihren französischen Quellen) zu identifizieren. In der Gruppe derjenigen Epen, in denen der Kampf zwischen Christen und Heiden im Zentrum der Handlung steht, der Textgruppe also, die im oberdeutschen Raum dominiert und – bezogen auf das „Rolandslied“8 und den „Willehalm“ – im Bewusstsein der Forschung gemeinhin als die deutsche Chanson de geste-Adaptation gilt, spielt Verstellung, die durch Verkleidung bewirkt wird, lediglich eine Nebenrolle. Sie ist, im Unterschied etwa zum „Nibelungenlied“, wo z. B. Siegfrieds Simulation eines vasallitischen Verhältnisses zu Gunther ein wesentlicher Katalysator der späteren Katastrophe ist, nicht handlungsauslösend. Die für das „Nibelungenlied“ so folgereiche Maskerade, worunter ich mit Andreas Kraß ein Spiel mit der ständischen Identität verstehe,9 begegnet weder im „Rolandslied“ noch im „Karl“, noch ist sie in der Willehalm-Trilogie dominant. Einzig Rennewarts unfreiwillige Tätigkeit als Küchenjunge, die aber sogleich beendet wird, als er in die Erzählhandlung ein-

6 Vgl. dazu von Bloh, Gefährliche Maskeraden [Anm. 3]; vgl. auch Gaebel, Ulrike: Weibliche Krieger. Crossdressing in deutschen Chanson-de-geste-Adaptationen des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 11 (1999), S. 363 – 382. 7 Keine Berücksichtigung findet diese Textgruppe z. B. in dem von C. Laude und E. SchindlerHorst herausgegebenen Band ,List, Lüge, Täuschung‘ (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52 [2005]). Nicht berührt wird sie ebenfalls in dem überblicksartigen Beitrag von Bachorski, Hans-Jürgen: Lügende Wörter, verstellte Körper, falsche Schrift. Miß/gelingende Kommunikation. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. v. Wenzel, Horst u. a. Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 344 – 364. 8 Das „Rolandslied“ dürfte ursprünglich wohl im niederdeutschen Bereich, vermutlich in der Umgebung des Braunschweiger Hofes, entstanden sein. Da es jedoch in der für jenes Gebiet seinerzeit typischen, an mittelhochdeutschen Texten orientierten Schriftform verfasst war, zudem recht rasch eine sehr erfolgreiche oberdeutsche Bearbeitung in Form des strickerschen „Karl“ erfuhr und als Prätext im „Willehalm“ fungiert, wird es hier gleichwohl im Kontext der oberdeutschen Chanson de geste-Adaptationen behandelt. 9 Kraß [Anm. 5], S. 25.

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greift,10 oder der im „Rennewart“, der „Willehalm“-Fortsetzung, geschilderte, aber nicht konsequent durchgehaltene Statuswechsel Willehalms und Rennewarts von aktiven Gottesstreitern zu kontemplativen Klosterbrüdern11 ließen sich hier vielleicht nennen. In der „Willehalm“-Vorgeschichte, der „Arabel“, begegnet einmal eine Travestie, wenn Willehalm von der ihn liebenden Arabel in Frauenkleidung gesteckt wird, um die gemeinsame Flucht aus dem heidnischen Herrschaftsbereich zu ermöglichen.12 Und um eine Travestie handelt es sich auch, wenn im „Willehalm“ die gleiche, listige Arabel, die nun Gyburc heißt, bei der Verteidigung von Orange zu der altbekannten Kriegslist greift, nicht nur die im Kampf gefallenen Ritter auf den Zinnen aufzustellen, sondern auch die Frauen in der belagerten Burg mit Rüstungen zu versorgen und so für die angreifenden Feinde als Ritter erscheinen zu lassen (Wh. 111,15 – 25; 227,12 – 17). Ein durch Verstellung, genauer durch Kleidertausch bewirkter Wechsel der personalen Identität findet sich zudem in Wolframs „Willehalm“, wenn der Protagonist die Rüstung des von ihm getöteten Heidenkönigs Arofel anlegt, um unerkannt durch die feindlichen Linien zu gelangen (Wh. 81,22 – 82,2). Intensiver als in den im oberdeutschen Raum vertretenen Bearbeitungen der französischen Heldenepik wird die Thematik der Simulation in deutschen Chanson de geste-Adaptationen verhandelt, die dem Bereich der Empörer- und Geschlechterepik entstammen. So etwa in „Karl und Galie“, einem nach der französischen „Mainet“-Tradition gearbeiteten Text, der von einem Komplott gegen den noch jungen Karl erzählt, der daraufhin zum spanischen Heidenkönig flieht, diesem gegen dessen Feinde entscheidend hilft und dafür später von ihm bei der Restitution seiner angestammten Herrschaft unterstützt wird.13 Während seines spanischen Exils verliebt sich der junge Karl in Galie, die attraktive Tochter des spanischen Heidenkönigs, und kehrt später als Pilger verkleidet zurück (KG 8562 – 8591), um Galie, die während der Flucht ebenfalls als Pilgerin ausstaffiert wird, nach Frankreich zu holen (KG 9342 – 9350). Als Pilger maskiert sich in einer wichtigen Passage von „Morant und Galie“, einer Fortsetzung von 10 Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen hg. v. Heinzle, Joachim. Tübingen 1994 (ATB 108), V. 187,31 – 196,31; im Folgenden zitiert als Wh. 11 Ulrich von Türheim: Rennewart. Aus der Berliner und Heidelberger Handschrift hg. v. Hübner, Alfred. Berlin 1938 (DTM 39), V. 10753 ff. (Rennewarts Klosterleben), V. 33705 ff. (Willehalms Klosterleben); im Folgenden zitiert als Rw. 12 Ulrich von dem Türlin: Arabel. Die ursprüngliche Fassung und ihre Bearbeitung kritisch hg. v. Schröder, Werner. Stuttgart, Leipzig 1999, V. 132,15 – 31; im Folgenden zitiert als Ar. 13 Karl und Galie, Teil I. Abdruck der Handschrift A (2290) der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt und der 8 Fragmente. Hg. u. erläutert v. Helm, Dagmar. Berlin 1986 (DTM 74), im Folgenden zitiert als KG. Vgl. auch die hilfreiche nhd. Übersetzung des nicht immer ganz leicht zu verstehenden ripuarischen Werkes: Karl und Galie. Karlmeinet, Teil I. Eine rheinische Dichtung über Karl den Großen. Aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von Helm, Dagmar. Göppingen 1999 (GAG 666).

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„Karl und Galie“, in der vom weiteren Schicksal des nunmehr verheirateten Königspaares berichtet wird,14 auch Ruhart, der bösartige und intrigante Gegenspieler des Paares, der durch die Behauptung eines ehebrecherischen Verhältnisses der Königin Karls Herrschaft erschüttern und selbst die Macht an sich reißen will. Ruharts Maskerade ist allerdings eine ganz besondere Art der ,Verkleidung‘, denn er tötet und häutet einen arglosen Pilger, schlüpft im Wortsinn in dessen Haut und simuliert so eine andere Identität (MG 258,34 – 53; 259,19 – 32). Gesteigert wird diese Phantasmagorie einer Maskerade noch im lediglich fragmentarisch erhaltenen Günser „Reinolt“15 durch den an der Universität Paris nigromantisch ausgebildeten Magier Malagis (dazu s. u.). In der letzten deutschen Chanson de geste-Bearbeitung, die hier als Beispiel für im Text begegnende Verstellung angeführt werden soll, ist die Simulation mittels Maskerade nichts weniger als konstitutiv für den Aufbau und die Thematik des gesamten Werks. Denn in „Karl und Ellegast“, einer im 14. oder 15. Jahrhundert im mitteldeutschen Raum entstandenen Bearbeitung eines niederländischen Textes, tritt auf Gottes Befehl niemand Geringerer als König Karl selbst in der ungewöhnlichen Rolle eines Diebes auf – und kann gerade durch diese, von ihm zunächst vehement abgelehnte, Maskerade schließlich ein gegen ihn gerichtetes Attentat vereiteln.16 Lassen sich nun, wenn man die soeben ausgebreiteten Fälle von Verstellungen, von Simulationen mittels Verkleidungen, in deutschen Chanson de geste-Adaptationen im Zusammenhang betrachtet, übergreifende

14 Die kritische „Morant und Galie“-Ausgabe ist problematisch, weil sie versucht, den Wortlaut des vollständig nur in spätmittelalterlichen Handschriften überlieferten Textes in das Ripuarische des 13. Jahrhunderts zurück zu verwandeln (Morant und Galie. Hg. v. Frings, Theodor und Linke, Elisabeth. Berlin 1976 [DTM 69]); ich zitiere deshalb nach der älteren Ausgabe der „Karlmeinet“-Kompilation, in der „Morant und Galie“ deren zweiten Teil bildet: Karl Meinet. Zum ersten Mal herausgegeben durch von Keller, Adelbert. Stuttgart 1858 (BLV 45), im Folgenden zitiert als MG. Vgl. auch die hilfreiche nhd. Übersetzung des nicht immer ganz leicht zu verstehenden ripuarischen Werkes: Morant und Galie. Karlmeinet, Teil II. Eine rheinische Dichtung über Karl den Großen. Aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von Helm, Dagmar. Göppingen 2009 (GAG 751). 15 Ediert bei Roethe, Gustav : Günser Bruchstück des mnl. Renout van Montalbaen. In: ZfdA 48 (1906), S. 129 – 146. Die meisten der im Folgenden besprochenen Passagen sind im erhaltenen Bruchstück des Günser „Reinolt“ nicht enthalten. Das fragmentarische Werk dürfte, wie einige Übereinstimmungen bezeugen, zwar nicht im Wortlaut, doch in der Erzählhandlung der späteren Fassung des „Reinolt von Montelban“ (Reinolt von Montelban oder Die Heimonskinder. Hg. v. Pfaff, Fridrich. Tübingen 1885 [BLV 174], im Folgenden zitiert als RvM) entsprochen haben, die deshalb als Substitut herangezogen werden kann; vgl. dazu Bastert [Anm. 2], S. 102 f. 16 Karel ende Elegast und Karl und Ellegast, hg. und übers. v. Bastert, Bernd u. a. Münster 2005 (BIMILI 1), im Folgenden zitiert als KE. Knappe Berücksichtigung mit Blick auf die hier behandelte Fragestellung findet dieser Text bei Feistner, Edith: Rollenspiel und Figurenidentität. Zum Motiv der Verkleidung in der mittelalterlichen Literatur. In: GRM 46 (1996), S. 257 – 269, vgl. S. 259 f. u. S. 264.

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Befunde konstatieren? Mir scheint schon, und in einem erneuten Textdurchgang soll nunmehr gezeigt werden, in welcher Richtung sie zu suchen sind. Der unfreiwillig zum Küchenjungen degradierte Rennewart beispielsweise fällt aufgrund seiner Körpergestalt, seiner Kraft und seiner Affekte dem ihm bis dahin unbekannten Willehalm sogleich auf und wird unverzüglich – ganz offenkundig seiner Abstammung und eigentlichen Bestimmung entsprechend – als Kämpfer rekrutiert (Wh 187,31 – 196,31), als der er sich dann bekanntlich glänzend bewährt. Rennewarts hochadlige, ja königliche Abstammung manifestiert sich auch im heimlichen Liebesverhältnis des vermeintlichen Küchenjungen zur ebenbürtigen Königstochter Alise (Wh 213,9 – 31). Entsprechen diese Gegebenheiten in etwa denjenigen aus Wolframs französischer Vorlage, so hat sich Ulrich von Türheim, der wenigstens teilweise nach französischen Quellen arbeitende Fortsetzer des unvollendet gebliebenen „Willehalm“, bemüht, die Diskrepanzen zu glätten, die in seiner Quelle aus dem durch die abschließende Mönchwerdung Rennewarts und Willehalms bedingten Statuswechsel der adeligen Helden zu kontemplativen Mönchen resultieren. In der französischen Vorlage werden zahlreiche humorvolle, ja burleske Szenen genussvoll auserzählt, die sich aus der Diskrepanz von adeliger Art und monastischen Anforderungen ergeben.17 Für die französische Chanson kann demnach wirklich von einer Maskerade, von einer Verstellung gesprochen werden – die trotz guten Willens freilich kläglich scheitert, weil heroischer und christlicher Diskurs hier auseinanderfallen – und augenscheinlich auseinanderfallen sollen. Der deutsche Bearbeiter hat dagegen einen „höfischen Kompromiss“, wie Jan-Dirk Müller dies nennt, geschlossen.18 Doch auch bei ihm finden sich noch Spuren einer, teilweise unfreiwillig, misslingenden Verstellung, insbesondere bei Rennewarts monastischer ,Karriere‘, wenn etwa dessen ,Sangeskünste‘ seine Mitbrüder erzürnen (Rw 11312 – 11351) oder wenn er tagelang schläft und dadurch seine klösterlichen Pflichten versäumt (Rw 11394 – 11441). Überdies legt Rennewart selbst im Kloster seine Rüstung nicht ab (Rw 11456 – 11474). Willehalm gelingt die Affektregulierung insgesamt zwar besser als Rennewart, so legt er zum Beispiel den mönchischen Habit an, bittet jedoch den Abt, seine Rüstung stets gut zu pflegen, damit er im Bedarfsfall das Kloster, wie zuvor schon Rennewart, gegen die Heiden verteidigen könne (Rw 33734 – 33753), was später dann tatsächlich geschehen wird. Auch der als Pilger verkleidete, in seinem Pilgerstab aber heimlich sein Schwert Durendart mitführende Karl kann in „Karl und Galie“ sein adeligritterliches Wesen auf der Reise nach und von Spanien nicht lange verbergen: 17 Vgl. dazu Bastert [Anm. 2], S. 307 – 311. 18 Vgl. Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, zu Willehalms Klosterleben insbes. S. 163 – 167.

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Seine Kraft und sein Geschick im Kampf lassen einige Angreifer rasch spüren, dass sie es hier nicht mit einem normalen Pilger zu tun haben (KG 9631 – 9663): Als der ritter hede vernomen Van dem paltenere, Da hey so rechte fiere Sich ersatte in synen sadel, Do doichte den ritter, dat Karll van adel Wael were ind syn geslechte. Der ritter der versan sich rechte, Syn hoefft her dar neder sloech Ind bedochte sich dar umb genoch. Stillichen hey zo eme selver sprach, Als ich uch wael gesagen mach. Hey sprach ,yd is al ungelogen, Ich bin harde sere bedrogen An dem des ich haen gespot. Hey en is mit allen neit en sot, Hey is eyn ritter, hey is eyn her, Dat seyn ich wael an synem geber. Hey hait mit wapen me gedaen. Dat kennen ich nu al sunder waen. Doch we id dar umb sunder wer gescheyt, das joesteren dat en blyvet achter neit.‘ Sy sloegen beyde vort mit sporen. mit zorn haent sy sich erkoren. Nu en weis ich, we yd also geschach, Dat Karlle den ritter also geracht Dat hey en mit allen dar neder stach, Dat hey zo der erden lach Ind synen lortzen arm zobrach. Der ritter reiff ,o we o wach. Dit ys der alre leytzde dach Den ich mit ougen e gesach. Verdoemet moes syn der bach, Dar ich den paltener an sprach.19 19 Vgl. die Übersetzung durch D. Helm [Anm. 13], S. 108: ,Als der Ritter an dem Pilger bemerkt hatte, wie stolz dieser sich in seinem Sattel aufgesetzt hatte, da dünkte ihn, dass Karl und dessen Geschlecht von Adel wäre. Erst da besann sich der Ritter, senkte das Haupt und überlegte ernsthaft. Heimlich sprach er zu sich selbst, wie ich euch wohl berichten kann. Er sagte: ,Es ist wahr, ich bin sehr betrogen mit dem, über den ich gespottet habe. Er ist keineswegs ein Narr, er ist ein Ritter und ein Herr. Das sehe ich an seinem Benehmen, er hat mit Waffen schon viel ausgerichtet. Das erkenne ich nun gewiss. Doch wie es auch sein möge, der Zweikampf unterbleibt nicht.‘ Sie gaben beiden den Rossen die Sporen. Zornig zielten sie aufeinander. Ich weiß nun nicht, wie es geschah, dass Karl den Ritter so traf, dass er ihn vom Pferd stach und dieser zu Boden fiel und seinen linken Arm brach. Der Ritter rief: ,Oh weh,

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Wie Karl seine Körperkräfte und die versteckt mitgeführte Waffe als Adeligen markieren, der sich nicht permanent verstellen kann, so codieren Körperzeichen gleichfalls seine Braut Galie. In diesem Fall ist es allerdings, den Geschlechterzuschreibungen entsprechend, nicht ihre Kraft, sondern ihre Schönheit, die ihren Adel augenfällig werden lässt (KG 10333 – 10351): Balde begunde hey dar zo keren In de kemenade dar. So balde hey do wart gewar der edelen junffrauwen, Do swoer hey in guden truwen, Dat hey dar ne en queme dar hey schonres verneme, So de ellende was. Hey sprach ,suster, yd is eyn dwas, Duncket mich nu, ur schoenheit Ind ouch alle der waerheit De man nomet schone. Dese ys komen van dem trone, Van dem trone her zo dale. ouch duncket mich des wale, We ellende dat sy sy, Dat sy ist van adel vry So als ir gebere.20

Ähnlich skeptisch ist Ellegast, der Diebesgeselle Karls in „Karl und Ellegast“, angesichts des zunächst wenig hilfreich scheinenden Verhaltens seines Gefährten, der mühsam stotternd und wenig überzeugend erklären muss, weshalb er nicht einmal über das notwendige Einbruchwerkzeug verfügt und sich überhaupt als ein höchst ungeschickter Dieb verhält, wenn er beispielsweise ständig Ellegast vorschickt, da ihm der Einbruch in fremde Burgen ganz offensichtlich etwas unangenehm ist. Symbolisiert wird das adelige Herrschaftsverhalten, das Karl trotz besten Willens auch während seiner Simulation eines Diebes nicht vollständig ablegen kann, durch Karls Pferd, das sich – im Unterschied zum animal rationale Mensch – natürlicherweise nicht schlagartig verstellen kann. Während der Hengst des Pseudodiebes Karl so kraftvoll und vor allem laut geht, das ist der letzte Tag, den ich erblicke. Verdammt sei der Bach, an dem ich den Pilger ansprach.‘‘ 20 Übers. Helm [Anm. 13], S. 114: ,[Da zögerte Orias, der Herr nicht länger,] sondern ging in die Kemenate. Sobald er dort die edle Jungfrau erblickte, schwor er aufrichtig, dass er niemals irgendwohin kommen würde, wo er Schöneres sähe als diese Fremde. Er sprach: ,Schwester, es scheint mir, dass eure Schönheit und die all derjenigen, die man schön nennt, ein Nichts ist. Diese ist vom Himmel herabgekommen. Auch dünkt mich, wie unglücklich sie auch sei, dass sie ihrem Gebaren nach von hohem Adel ist.‘‘

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als ob ihm das gesamte Land gehören würde, schreitet das Pferd des Meisterdiebes Ellegast lautlos, wie man ihm dies in einem längeren Gewöhnungsprozess anerzogen hatte (KE 462 – 475): Uff sozzen sy beyde. Dorch walt und dorch heyde o begunden sy sere zu ylen. Wol fünfcen welsche milen rytten sy in der selbigen nacht. Got gab den rossen macht. Do sy quomen so nohe, daz sy horten dy hanen kroen, Ellegastes roß ging lyse und nicht sere, also ob es in eime schiff gezogen were. Konnig Karles roß ginck in allen den geferen, ob dy lant sin eigen weren. Sin roß waz starck und blanck. Es drat, daz daz für uz den steynen spranck.21

In all diesen Fällen gelingt die Maskerade auf der Ebene der histoire nur unvollkommen, adelige Art und Körperlichkeit lassen sich offenbar nicht vollständig unterdrücken und lassen die Verstellung, wenn überhaupt, immer nur temporär erfolgreich sein. Dieses Grundprinzip eines überlegenen adeligen Selbstverständnisses bestätigen implizit selbst literarische Entwürfe deutscher Chanson de gesteBearbeitungen, die erfolgreiche Verstellungen thematisieren. Zum einen sind dies, wie bereits gesehen, Kriegslisten in Form von Travestie oder Kleidertausch, zum anderen Phantasmagorien, die irreale oder magische Praktiken semantisieren. Simulationen, die Erfolg im Krieg gegen die Ungläubigen versprechen, gelingen in der französischen Heldenepik und ihren deutschen Bearbeitungen selbst unter den unwahrscheinlichsten Bedingungen. Das gilt für die bereits erwähnte, von Arabel/Gyburc inszenierte Flucht Willehalms in Frauenkleidern aus sarazenischer Gefangenschaft ebenso wie für die gleichfalls von ihr ersonnene List, die Belagerer der Burg Orange über die wahre Stärke der Burgbesatzung zu täuschen, indem sich, neben den auf ihren Befehl aufgestellten getöteten Kriegern, Frauen in Rüstungen auf den Zinnen präsentieren. Erfolgreich ist auch Willehalms auf Kleidertausch basierende Kriegslist – fast zu erfolgreich sogar. 21 Übers. Bastert u. a. [Anm. 16], S. 111: ,Beide saßen auf. Sie jagten schnell durch Wald und Feld. Wohl fünfzehn welsche Meilen ritten sie in dieser Nacht. Gott gab den Pferden Kraft. Als sie so nah gekommen waren, dass sie die Hähne krähen hörten, da ging Ellegasts Pferd so leise und vorsichtig, als ob es schweben würde. König Karls Pferd ging überall, als ob die Länder ihm gehörten. Sein Pferd war kräftig und hell. Es stampfte, dass die Steine Funken sprühten.‘

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Denn nachdem er die Rüstung des von ihm besiegten und getöteten Heidenkönigs Arofel angelegt hat, um unerkannt durch die feindlichen Linien zurück nach Orange zu reiten, hält selbst seine eigene Frau ihn lange für einen Feind, der sich fälschlich als ihr Gatte ausgibt. Willehalms Worten glaubt Gyburc nicht, erst ein charakteristisches Zeichen am Körper des adeligen Kriegers, Willehalms in einem früheren Kampf erlittene Nasenverletzung, vermag bezeichnender Weise die Simulation zu beenden (Wh 89,9 – 92,18). Die beiden nächsten und letzten Beispiele für simulatio scheinen allerdings auf den ersten Blick der These einer nicht dauerhaft durchzuhaltenden Verkleidung zu widersprechen. Die Maskerade des verräterischen Ruhart, der buchstäblich in die Haut eines Pilgers schlüpft, wird in „Morant und Galie“ nämlich als so erfolgreich inszeniert, dass nur ein, im Text allerdings mehrfach bereits zuvor erwähnter und insofern für die Rezipienten nicht mehr überraschender, Zufall – der Griff an den Bart des als Pilger auftretenden Verräters während eines Ordals – zur Anagnorisis führt (MG 279,55 – 280,5): Morant tratt eme nare bas, Want hey eme was gehas, So greyff hey en mit dem barde, Da mede also harde En begunde plucken Ind na eme rucken, Dat eme in der hant syn Bleyff der valsche bart syn Ind Rohart sunder ore Da lach as eyn dore. Als Morant dat erkante, Mit namen hey en nante: Bis du dyt, Rohart, De desen valschen bart Ouer sich hadde gezogen? Da du mit hais bedrogen menchen man ind wyff. Dat moes arnen dyn lyff.22 22 Übers. Helm [Anm. 14], S. 83: ,Morant trat näher auf ihn zu, denn er war ihm verhasst. Er griff in seinen Bart und begann so sehr an ihm zu ziehen und zu reißen, dass ihm bei dieser Gelegenheit der falsche Bart in den Händen blieb. Ruhart lag da ohne Ohr wie ein Narr. Als Morant das erkannte, nannte er ihn beim Namen. ,Bist du es, Ruhart, der diesen falschen Bart angelegt hat? Damit hattest du manchen Mann und manche Frau betrogen. Dafür musst du büßen!‘‘ Für wertvolle Hinweise und eine intensive Diskussion gerade dieser Passage bedanke ich mich bei Nadine Krolla, die mir ihre Studie schon vorab bekannt machte: Krolla, Nadine: Erzählen in der Bewährungsprobe. Studien zur Interpretation und Kontextualisierung der Karlsdichtung „Morant und Galie“. Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 239).

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Gar nicht mehr für die Umwelt zu durchschauen sind die Maskeraden von Karls ärgstem Gegenspieler Malagis im „Reinolt von Montelban“, der vollständig lediglich in Handschriften aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert überliefert ist, jedoch schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in einer ähnlichen Fassung im mittelniederdeutschen Raum bekannt gewesen sein dürfte, wie ein entsprechendes Fragment belegt (Günser „Reinolt“). Malagis besitzt aufgrund seiner Zauberkünste die Fähigkeit, seine Gestalt und die seiner Verbündeten (Menschen wie Tiere) so vollständig zu verwandeln, dass er König Karl, der in diesem Text freilich nicht gerade als vorbildlich geschildert wird, immer wieder täuschen, nicht selten sogar der Lächerlichkeit preisgeben kann. Selbst dem König zugetragene Warnungen Dritter, die die Metamorphosen des Malagis zufällig beobachten, vermögen die erfolgreiche simulatio nicht zu verhindern (RvM 4992 – 5600). Neben ihrer fraglosen Faszinationskraft entwickeln diese kaum oder gar nicht erkennbaren Verstellungen jedoch auch ein bedrohliches Potential, sind sie doch geeignet, die Vorstellung eines angeborenen und durch jede Verstellung hindurchscheinenden Adels zu erschüttern. Und so werden sie verlegt in problematische, in liminale Figuren, die die Hierarchie der Feudalgesellschaft nicht anerkennen, ja sogar die religiöse Ordnung in Frage stellen. Malagis beherrscht nicht nur die schwarze Kunst (RvM 4849; 11605 passim), in einer Szene hält ihn Reinolt sogar, als er ihn aus der Ferne erblickt, einen Moment lang für den Teufel (RvM 11687 – 11693). Bei Ruhart wird nicht der geringste Zweifel daran gelassen, dass es sich um einen wirklichen Teufelsbündner handelt (MG 274, 45 – 49): Nw wart Rohart also zorn, / Dat hey verloent hadde ind versworn / Gotz da vp der statt. / Den duuel hey zo helpen bat, / Deme hey lange hadde gedeynt.23 Die Denkfigur des Teufels signalisiert nun aber,24 dass wir mit Malagis und Ruhart das Feld der (heuristisch) ,reinen‘ Verstellung und Simulation bereits verlassen haben und im Bereich der Überschneidung von Verstellung und Betrug angekommen sind. Denn Betrug, der – wie in den beiden letztgenannten Fällen – durchaus mit Verstellung einhergehen kann, ist, da es bei der dissimulatio gerade darauf ankommt, den äußeren Schein zu wahren, weitaus schwerer zu erkennen und damit gefährlicher, besonders für eine so stark auf symbolkräftige Äußerlichkeit orientierte Gesellschaft wie die mittelalterliche. Dissimulatio wird in französischen Chansons de geste wie in ihren deutschen Bearbeitungen stets entworfen als eine Unternehmung, die abzielt auf eine Veränderung der gesellschaftlichen und der religiösen Ordnung – beide kon23 Übers. Helm [Anm. 14], S. 78: ,Nun war Ruhart so zornig geworden, dass er auf der Stelle Gott verleugnete und sich von ihm lossagte. Er bat den Teufel, dem er lange gedient hatte, um Hilfe.‘ 24 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch von Matt [Anm. 4], S. 204 ff. u. S. 236 ff.

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vergierend in der Figur des unter Gottes Schutz stehenden Königs. Nur ansatzweise deutlich wird das im „Reinolt von Montelban“. Die Gefährdung der königlichen Herrschaft erscheint hier ausgelagert in die Figur des Zauberers Malagis, der König Karl immer wieder düpiert, wenn er zum Beispiel nach Belieben aus dem Kerker des Königs ausbricht und den schlafenden Karl sogar noch darüber informiert, ohne dass der Hypnotisierte etwas dagegen unternehmen kann (RvM 12528 – 12555); oder wenn er die religiöse Suprematie Karls unterminiert, indem er den Bewachern des von Karl entführten Zauberpferdes Beyart ein vergiftetes Getränk aus einer Goldschale zu trinken gibt, die Cristian heiße und aus der auch Christus beim letzten Abendmahl getrunken habe – unverkennbar eine Gralparodie, die Karl jedoch nicht durchschaut (RvM 5036 – 5059). Die daraus resultierenden unerquicklichen Folgen bei den sich windenden Bewachern des Pferdes hält der wie selbstverständlich an göttliche Wunder glaubende Karl für eine Art mystischer Verzückung (RvM 5210 – 5320). Reinolt hingegen, der andere Hauptwidersacher des Königs, erkennt die von Gott verliehene sakrale Autorität des Königs an. Karls Herrschaft bleibt deshalb letztlich ungefährdet. Malagis jedoch muss schließlich ins Exil ins heilige Land, wo er bei der Verteidigung Jerusalems stirbt. Man darf das vielleicht als Buße für seine Missachtung der gesellschaftlichen Ordnung deuten.25 Mit dem Tod büßen auch alle anderen Betrüger in den deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen für ihren heimtückischen, aus der Figurenperspektive kaum zu erkennenden Angriff auf die profane und religiöse Ordnung. In „Morant und Galie“ nimmt das abschließende Ordal für den Betrüger und Teufelsbündner Ruhart erwartungsgemäß einen tödlichen Ausgang – und bestätigt gerade dadurch die überkommenen Strukturen der Feudalgesellschaft. Nicht anders ergeht es dem Betrüger Eckerich in „Karl und Ellegast“. Er plant, den ahnungslosen Karl, seinen Schwager, auf einem Hoftag zu erstechen, Karls Witwe zu heiraten und sich danach selbst zum Herrscher aufzuwerfen. Durch eine komplizierte, von Gott selbst ins Werk gesetzte Gegenaktion erfährt Karl aber vom geplanten Anschlag und kann daraufhin geeignete Maßnahmen ergreifen. Ohne Gottes Hilfe wäre der König dem Betrüger indes schutzlos ausgeliefert und das feudale Sozialgefüge hochgradig gefährdet gewesen. Auch Eckerich muss am Schluss zu einem gottesgerichtlichen Zweikampf antreten, in dem er nicht nur sein Leben, sondern auch seine Seele verliert. Sie wird unverzüglich vom Teufel geholt, was die symbolische Ordnung eines Gemeinwe-

25 Vgl. dazu Bastert, Bernd: Die Autorität des Tyrannen – Zum spätmittelalterlichen Interesse am „Reinolt von Montelban“. In: The Growth of Authority in the Medieval West. Selected Proceedings of the International Conference Groningen 6.–9. November 1997. Hg. v. Gosman, Martin u. a. Groningen 1999 (Mediaevalia Groningana 25), S. 193 – 212.

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sens stabilisieren hilft, in dem profane und transzendente Komponenten als eng aufeinander bezogen geschildert werden (KE 1763 – 1770): Ellegast öme das heibt abeswanck. o Dy tyfel zu den stunde siner sel sich underwunden. Also ich uch wel bedyten: Also geschicht noch solchen lyten – o wer noch ungetruwelichen dut, o 26 sin ende wert öm nymmer gut.

Zahlreiche der bislang angeführten Motive begegnen auch im ,Urbetrug‘ und im ,Erzbetrüger‘ der französischen Heldenepik – in Ganelons/Geneluns dissimulatio eines durch ihn selbst vorgeblich verifizierten und fälschlicherweise als seriös dargestellten Unterwerfungsangebots der Sarazenen unter die Herrschaft Karls des Großen. Zwar geht es Genelun bei seinem Verrat nicht eigentlich darum, Karls Herrschaft zu beenden und sich etwa selbst an seine Stelle zu setzen, Geneluns Hass richtet sich vielmehr gegen dessen Paladin Roland. Gleichwohl trifft er den Kaiser dadurch, wie der weitere Handlungsverlauf des Rolandslieds zeigt, ins Mark, und er nimmt von vornherein sogar Karls Tod in Kauf: werdent die denne erslagen, / der keiser en mac sich niemer erhalten. / er stirbet vor laide, sagt er zu Marsilie, dem König der spanischen Sarazenen (RL 2473 – 2476).27 Wie die anderen angeführten dissimulationes zeichnet sich gleichfalls der Betrug Geneluns dadurch aus, dass er nicht eindeutig zu erkennen ist, selbst skeptische Berater des Königs vermögen keine Gegenargumente ins Feld zu führen. Der Text benennt diese Problematik explizit (RL 2849 – 2857): der kaiser von s„nem stuole gie, vil wirdecl„che er in enphie. fürsten, die hÞrren, enphiengen in mit grúzen Þren. Genel˜n inmitten gestuont. trüebe was ime s„n muot mit lachenten ougen. s„nes herzen tougen newesse nieman innen.28 26 Übers. Bastert [Anm. 16], S. 181: ,Ellegast schlug ihm den Kopf ab. Die Teufel bemächtigten sich sogleich seiner Seele. Folgendermaßen will ich euch das auslegen: Ebenso geschieht es noch immer solchen Menschen – wer untreu handelt, der endet niemals gut. Das versichere ich euch.‘ 27 Die „Rolandslied“-Bearbeitung des Stricker (Karl der Grosse von dem Stricker. Hg. v. Bartsch, Karl. Quedlinburg, Leipzig 1857, im Folgenden zitiert als K) formuliert etwas weniger drastisch (2983 – 2986): ich weiz wol, wirt er reslagen, / Karl mac in niemer verklagen. / im wirt vor leide sú wÞ, / ern gesuocht iuch heime niemer mÞ. 28 Übers. Kartschoke [Anm. 1], S. 203: ,Der Kaiser erhob sich von seinem Thron und

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Und wie Rohart und Eckerich wird auch die überaus gefährliche und nicht zu durchschauende dissimulatio Geneluns mit dem Gegenspieler Gottes in Verbindung gebracht: d– [in seinem Herz] wurzelt der tiuvel inne heißt es zum Abschluss der gerade zitierten Passage in V. 2858 über Genelun. Das für menschliche Augen nicht einsehbare Innere des Verräters, der sich dadurch auszeichnet, dass er äußerlich der Gleiche bleibt wie vor dem gemeinsam mit den heidnischen Gegnern geplanten Betrug, wird metaphorisch dargestellt im sogenannten Baumgleichnis (RL 1960 – 1971): Genel˜n was michel unde lussam, er muose s„ne nat˜re beg–n. michels boumes schoene machet dicke hoene. er dunket ˜zen grüene, sú ist er innen dürre. sú man in nider meizet, sú ist er wurmbeizec. er ist innen v˜l und üble get–n. daz bezeichenet den man, der ˜zen wole redet unde valsches in deme herzen phleget.29

Erst Gott ist in der Lage, den Verrat, dem neben Roland und den übrigen Pairs noch zehntausend andere christlich Kämpfer zum Opfer fallen, für alle sichtbar aufzudecken und zugleich zu ahnden. Auch im „Rolandslied“ geschieht dies durch ein Gottesurteil. Das Ordal bestreitet hier allerdings nicht der Betrüger selbst, sondern Binabel, ein hünenhafter Verwandter Geneluns, der wider alle Wahrscheinlichkeit gegen den für die königliche Seite antretenden schmächtigen Tierrich verliert. Durch den Ausgang des Kampfes wird die Schuld des Betrügers Genelun indes offenkundig und er erleidet die symbolische Strafe des Verräters, der es gewagt hat, die Einheit des gesellschaftlichen Körpers zu gefährden: Sein Körper wird in spiegelnder Strafe selbst von Pferden zerrissen.30 empfing ihn [Genelun] sehr ehrenvoll. Die edlen Fürsten bezeigten ihm große Ehre. Genelun stand in ihrer Mitte. Sein Herz war finster, während seine Augen lachten. Die Heimlichkeit seines Herzens kannte niemand.‘ Vgl. auch K 3376 – 3382: dú stuont der vil unreine / mit trüebem muote under in. / durch s„nen mortl„chen sin / lachten im die ougen. / er hete den tiuvel tougen / gesetzet in s„ns herzen grunt. / daz was im leider unkunt. 29 Übers. Kartschoke [Anm. 1], S. 143: ,Genelun war stattlich und schön und musste doch seiner inneren Anlage folgen. Die Schönheit eines mächtigen Baumes täuscht oft. Außen sieht er grün aus, innen aber ist er abgestorben. Wenn man ihn fällt, ist er wurmzerfressen, er ist innen faulig und morsch. Das ist das Bild eines Menschen, der öffentlich Gutes spricht, im Herzen aber Betrug hat.‘ Vgl. zu dieser Stelle auch Murdoch, Brian: The Treachery of Ganelon in Konrad’s „Rolandslied“. In: Euphorion 67 (1973), S. 372 – 377. Ähnlich lautet die Stelle in K 2505 – 2515. 30 Vgl. dazu Ohly, Friedrich: Der Tod des Verräters durch Zerreißung in der mittelalterlichen

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Überblickt man abschließend die vorgestellten Beispiele von simulatio und dissimulatio in deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik während des 12. bis 14. Jahrhunderts, lassen sich für die aus heuristischen Gründen hier getrennt behandelten narrativen Umsetzungen von Verstellung und Betrug unterschiedliche Ergebnisse konstatieren. Insbesondere Verstellungen in Form von Maskeraden lassen sich in der Regel auf intradiegetischer Ebene für Adelige nicht dauerhaft durchhalten. Auf der Ebene der Figuren wird die simulatio, wenn nicht durchschaut, so doch mindestens erahnt, wie etwa beim als Dieb untauglichen Karl in „Karl und Ellegast“ oder bei dem während seiner vermeintlichen Pilgerfahrt Gegner in ritterlicher Tjost mühelos bezwingenden König Karl und bei der trotz Maskerade nicht zu verheimlichenden Schönheit Galies in „Karl und Galie“. Qua Abstammung unverwechselbare und überlegene adelige Körperlichkeit setzt sich in heldenepischen Entwürfen durch und trägt so zur Bestätigung der auf adelige Suprematie gründenden gesellschaftlichen Ordnung bei. Das gilt reziprok auch für – selbst unter unwahrscheinlichen Bedingungen – erfolgreiche Verstellungen durch Travestie (Willehalm in Frauenkleidern in der „Arabel“; Gyburg in männlicher Rüstung im „Willehalm“), denn sie betreffen im Kontext der Chanson de geste und ihrer deutschen Adaptationen vor allem Kriegslisten. Wohl nicht von ungefähr findet sich dieser Typ von simulatio dann auch durchwegs in jener Gruppe von Epen, die christlich legitimierte Auseinandersetzungen mit Andersgläubigen thematisieren. Die literarische Darstellung erfolgreicher Verstellungen im Glaubenskrieg hat aber für den christlichen Feudaladel zweifelsohne ebenfalls systemstabilisierende Funktion. Anders liegt der Fall bei der dissimulatio. Betrug, der nach der hier gebrauchten Definition die wahren Beschaffenheiten verbirgt und verheimlicht, kann auf der Figurenebene, wie gesehen, kaum erkannt werden. Es bedarf zur Aufdeckung jeweils eines handfesten Beweises – und eben deshalb wird die dissimulatio in manchen Fällen mit simulatio verknüpft. Die dissimulatio des verräterischen Ruhart z. B. wird evident, weil sie mit einer Verstellung – nämlich der ,Verkleidung‘ in der Haut des Pilgers – einhergeht. Eckerich kann seinen Betrug in „Karl und Ellegast“ nicht mehr länger verheimlichen, als Karl versteckte Messer entdeckt, die er und seine Gesellen heimlich in den Ärmeln ihrer Gewänder mit sich führen (KE 1563 ff.). Die Aufdeckung der dissimulatio wird aber so inszeniert, dass – wie auch bei Geneluns Verrat – jeweils die Mithilfe Gottes notwendig ist, menschliches Vermögen allein reicht dazu nicht aus. Doch Gott lässt die Seinen, zumindest in der literarischen Fiktion, nicht im Stich. Er überwacht – und straft zugleich in einem öffentlichkeitswirksamen Spektakel, in

Literatur. In: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hg. v. Peil, Dietmar u. Ruberg, Uwe. Stuttgart, Leipzig 1985, S. 423 – 435.

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dem die durch den Verrat gestörte Ordnung jeweils wiederhergestellt wird.31 Wir haben es demnach in den während des 12.–14. Jahrhunderts entstandenen bzw. bearbeiteten Chansons de geste mit einer Konstellation zu tun, die Foucault, dem der Titel dieses Beitrags entlehnt ist, in der historischen Realität in dieser Perfektion (oder sollte man besser sagen: Perfidie) erst einige Jahrhunderte später ansetzt.32

31 Vgl. hierzu, am Beispiel des „Rolandslieds“, auch Fürbeth, Frank: ,Wahrheit‘ und ,Lüge‘ im „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad. In: Spurensuche in Sprach- und Geschichtslandschaften. Festschrift für Ernst Erich Metzner. Hg. v. Hohmeyer, Andrea. Münster 2003, S. 233 – 249, bes. S. 242. 32 Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1977 (stw 184).

Harald Haferland (Osnabrück)

Die Kontingenz der Innenwelt. Liebesbetrug in Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“

Manfred Schneider beginnt sein Buch über „Liebe und Betrug“ mit den Sätzen: Soll eine Liebe oder eine Passion, eine Affäre oder eine ,Traumnummer‘ beginnen, müssen zuvor die richtigen Worte fallen. Unmögliche Worte. Denn sie sollen verführerisch klingen und aufrichtig sein, schön und vertrauenerweckend, verlangend und wahr. Stets nistet in den Bedingungen des Gelingens ein Betrug.1

Schneider mag hier an eine Werbungssituation denken, in der man einen Partner für sich einnehmen und von sich überzeugen will und dazu Aussagen über sich selbst und über die Gefühle macht, die man für ihn empfindet. Zweifellos sucht man die geeigneten Worte dafür. Unmögliche Worte sind es aber wahrscheinlich, wenn man von der Aufrichtigkeit, wohl auch von der Dauer seiner Gefühle spricht. Aufrichtigkeit lässt sich allein durch Worte nicht einholen, und für die Dauer der Gefühle lässt sich allemal keine Garantie abgeben. Man kann selbst gar nicht wissen, wie lange die eigenen Gefühle anhalten werden. Man glaubt es allenfalls zu wissen. Nach Schneider ist ein Betrug hierbei stets vorprogrammiert; oft ist schon die Aufrichtigkeit nur vorgespiegelt und beruht auf Verstellung. Grund des Liebesbetrugs ist die Differenz zwischen den auch kulturell verbürgten Erwartungen des Partners, denen man mit seinen Worten entgegenkommt, und dem, was man – auch angesichts eines momentanen Höhenflugs seiner Gedanken – zu leisten bereit und in der Lage sein wird. Zwischen aufflammendem Begehren, Selbstüberschätzung und einer andauernden Liebe, die sich unabsehbar in die Zukunft erstreckt, gibt es eine Vielzahl von Abstufungen und Zwischenschritten. Darüber und davor liegen die Worte. Es scheint allerdings eine vergleichsweise moderne Situation, in der sich ein auf kurze Frist eingestelltes Begehren und eine Verführung mit bewusstem Verstellen zu einer unaufrichtigen Beteuerung hinreißen lassen: Wen man einzig zur Stillung seines Verlangens herumbekommen will, dem spiegelt man gege1 Schneider, Manfred: Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens. München, Wien 1992, S. 9.

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benenfalls eine anhaltende Neigung vor, um die eigene Lust ins Ziel zu bringen. In vormodernen Kulturen sorgen allerdings oft die Rahmenbedingungen – in Form eines gehörigen Drucks der involvierten Familien, wenn die Partner standesgleich sind und für eine Ehe in Frage kommen – dafür, dass man so leicht nicht davonkommt, wenn man sich als Verführer gegeben hat. Man muss die Umworbene ehelichen, was immer mit den eigenen Gefühlen geschieht. Ungewöhnlich wäre in vormodernen Kulturen ein Szenario, nach dem es beide Partner nur auf die einmalige oder temporäre Stillung des Verlangens abgesehen haben: Wenn in diesem Sinne klar ist, dass sich die Erwartung der/des Umworbenen nicht auf etwas richtet, was jenseits der nächsten, sagen wir, neun Stunden (eines One-Night-Stand) liegt, und wenn beide Partner sich in dem Wunsch nach einer kurzen oder gar einmalig-ungestümen Begegnung treffen, dann käme man auch ganz ohne vorgespiegelte Aufrichtigkeit und Wahrheit aus, was die Nachhaltigkeit und Dauer der Zuneigung betrifft. Man müsste nichts versprechen und keine unmöglichen Worte zu Hilfe nehmen. Dies ist aber sozial riskant, und kaum eine Gesellschaft wird es gern sehen, dass man sich dergestalt vergnügt, ohne die Folgen zu bedenken – wenn sie als Gesellschaft nicht selbst für die Folgen aufkommt. Das heißt, es unterliegt immer auch der sozialen Kontrolle, wie die Form der Liebesbegegnung auf eine mögliche Zeugung ungewollter Kinder abgestimmt wird. Gegebenenfalls – so haben etwa Ethnologen aus Melanesien berichtet – werden ungewollte Kinder von der Gemeinschaft mit aufgezogen. Umso unkomplizierter die Formen der Liebesbegegnung. Anders in Europa: Je weiter man historisch zurückgeht, desto größer ist hier die kollektive Überwachung und Beachtung problematischer Folgen, denen vorgebeugt wird. Hier musste deshalb ein verführerisch in die Rede einfließendes Verlangen der aufrichtigen Beteuerung der Nachhaltigkeit seiner Gefühle weichen, ob der Werbende nun selbst an seine Aufrichtigkeit glaubte oder nicht. Allemal wurde er von den Folgen eingeholt. Vor dem Pillenknick gab es gute Gründe, sich nicht mit neun Stunden zufrieden zu geben. Also mussten die Gefühle länger andauern, sich gar aufs ganze Leben erstrecken. Was zählte, war letztlich, was man auch noch in neun Monaten zu tun bereit war. Oder eben in neun oder in neunzig Jahren. Dabei musste das begehrende Verlangen sich nicht zum Verschwinden bringen, es musste sich nur auf eine ungeheuerliche zeitliche Erstreckung einrichten – ,ungeheuerlich‘ gemessen daran, dass es doch eigentlich nur die nächsten Minuten absah. Hat man den Partner für sich eingenommen, so Schneider an der zitierten Stelle, so hat man ihn schon betrogen. Ich möchte das differenzieren. Gewiss hat der Verführer betrogen – aber warum denn auch der, der es ernst meinte? Weil es um ein Versprechen geht, das zu halten man gar nicht mächtig ist! Differenzieren möchte ich auch Nietzsches Diktum, alle Lust wolle Ewigkeit. Vielmehr glaubt man in Erwartung der Lust, über sein Begehren ewig zu verfügen (die Lust will

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nur die Lust). Das aber ist ein Irrtum. Glaubt das Begehren sich ewig, sobald es sich wahrnimmt, so täuscht es sich über sich selbst, so dass schließlich auch der Partner betrogen werden mag; zuvor aber betrügt oder täuscht man sich selbst. Man sollte, wo das Begehren oder Verlangen sich meldet, nur Aussagen über die Gegenwart machen, keine über die Zukunft, schon gar keine über die Zukunft seiner Gefühle. Denn das Begehren verfügt gerade mal über die nächsten neun Minuten oder, wenn es länger warten muss, wenig mehr. Ich möchte im Folgenden auch über Ewigkeitsaussagen reflektieren, die sich im Extremfall auf eine physiologische Wirklichkeit stützen, die über die nächsten Minuten hinaus nicht vorhält. Die Verfallszeit des Begehrens dürfte noch kürzer sein als die von Gefühlen. In der Vormoderne schien es unter gegebenen Bedingungen erforderlich, diese Verfallszeiten sprachlich auf eine Dauer zu trimmen, die sich der Ewigkeit anmaß. Die Verstiegenheit entsprechender Aussagen dürfte das Risiko aufgenommen und reflektiert haben, das mit der Situation und der Einlösung der Werbung einherging. Nicht nur die Bestimmtheit zweier Partner füreinander musste gesichert erscheinen – wie immer das symbolisiert/konzeptualisiert wurde –, sondern auch beider individuelle Bereitschaft, ihre Dispositionen konstant zu halten. Mochte man sich für die Symbolisierung vorgängiger Bestimmtheit der Partner füreinander auf Mythologeme stützen, nach der die Liebe schon fixiert war, bevor man sich überhaupt noch persönlich kannte, so hatte die behauptete Ewigkeit der Liebe für ein unbegrenztes Zukunftsvertrauen zu sorgen. Die Literatur reflektiert immer schon solche Umstände. Die Gattung des mhd. Minne- und Aventiureromans etwa verhandelt die Problematik der Bestimmtheit der Partner füreinander : So werden Flore und Blanscheflur an einem tage in einem h˜se zeiner stunt geboren (Konrad Fleck: „Flore und Blanscheflur“, hg. v. Sommer, Emil, V. 348 f.) und von einer Amme großgezogen, so dass ihre allzu früh einsetzende Liebe gleichwohl ohne Risiko ist; sie sind über den Zeitpunkt ihrer Geburt schon aufeinander zugeordnet. Wilhelm von Österreich dagegen träumt von Aglye, ohne sie je gesehen zu haben – Venus gibt ihm ihr Bild ein (Johann von Würzburg: „Wilhelm von Österreich“, hg. v. Regel, Ernst, V. 675 – 677). Daraufhin zieht er in die Welt und sucht sie, bis er sie findet. Für diese Liebenden kann es keine anderen Partner geben. Findet heute jemand heraus, dass er seine(n) Partner(in) schon in einem früheren Leben kannte, so stützt auch er sich noch auf ein vergleichbares Mythologem. Es macht vergessen, dass in der Moderne die Partnerwahl in eine prekäre Analogie zur modernen Ökonomie gerät, die Kaufentscheidungen über Märkte regelt.2 Ein Korrelat der vorgängigen – und deshalb mythologisierten – Bestimmtheit 2 Zu diesem Umstand und seinen Folgen vgl. Illouz, Eva: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Frankfurt a. M. 2011.

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zweier Partner füreinander auf der Ebene ihres individuellen Handelns ist das Versprechen ewiger Liebe. Die insinuierte Ewigkeit bewirkt ein beachtliches Moment affektiver Anteilnahme, wie es sich für Literarisierungen besonders anbietet; allerdings hier eher dann, wenn das Versprechen doch noch an der Wirklichkeit scheitert. Die Beteuerung aber tritt erst einmal dagegen an. Wo in der Literatur von Liebe gehandelt wird, kommen oft auch Beteuerungen ins Spiel. Wo Beteuerungen ins Spiel kommen, steht ihre Nachhaltigkeit in Frage. Der Minnesang ist zum Beispiel voll von Beteuerungen der Aufrichtigkeit, verstiegenen Beteuerungen, die für den Fall des Misslingens auch den Tod des Werbenden avisieren. Die Gesellschaft billigt den ins Auge gefassten Seitensprung nicht, und die Þre der Dame ist in Gefahr, wenn sie der Werbung nachgibt und die Gesellschaft Wind vom angebahnten Verhältnis bekommt. Dagegen muss der Werbende etwas in die Waagschale werfen. Als Albrecht von Johansdorf zum Kreuzzug aufbricht, glaubt seine Dame, er werde sie verlassen bzw. seine Werbung aufgeben. Albrecht bindet eine Selbstverfluchung für den Fall daran, dass dies seine Absicht sei oder eintrete: got vor der helle niemer mich bewar, / obe daz m„n wille s„. / Swie vil daz mer und ouch die starken unde toben, / ich enwil si niemer tac verloben („Des Minnesangs Frühling“, hg. v. Moser, Hugo u. Tervooren, Helmut, 87,32 f.). Selbstverfluchungen legen sich nicht gleich auf eine Ewigkeit fest, sondern verlagern die Beteuerung auf die Wahrheit der je getätigten Aussage. Diese Wahrheit aber steht dahin, und hinter der Beteuerung könnte sich immer noch ein Verführer verbergen, der es mit der Selbstverfluchung nicht so ernst nimmt. Hiergegen, also gegen Selbstverfluchungen im Falle nicht eingehaltener Versprechen, riskiert eine Ewigkeitsaussage – wie sie Albrecht an der zitierten Stelle noch anbindet – indes immer schon einen Selbstbetrug. Von Interesse ist hier weniger, wenn und dass auch der betrügende Verführer sie in den Mund nimmt, sondern dass ein Werbender sich übernimmt und selbst überschätzt. Dies ist die Problemstellung in Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“.3 Der moderne oder mittelalterliche Verführer ist bei Konrad nicht in Sicht. Der antike auch eher nur am Rande. Wenn Paris Helena zu gewinnen sucht, so hat Konrad sich für die bei Ovid im Vordergrund stehende Kunst der Verführung nicht weiter interessiert. Reflektiert wird vielmehr – in narrativer Form – über den Betrug, wie er vorzuliegen scheint, wenn ein Versprechen, gar eine Ewigkeitsaussage, nicht eingehalten wird oder werden kann. Im „Trojanerkrieg“ wird an vier Paaren (Paris-Œnone, Jason-Medea, AchillDeidamia und Hercules-Dianira) der Liebesbetrug vorgeführt, der infolge der Unbeständigkeit der Minne zustande kommt. Eingebettet sind die Paarepisoden 3 Ich zitiere: Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten K. Frommanns und F. Roths zum ersten Mal hg. v. von Keller, Adelbert. Stuttgart 1858.

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in ein überwölbendes Kriegsszenario, für das die Unbeständigkeit der Minne neben Rache und Raub entscheidend mitverantwortlich ist. Eine bestimmte Konstellation des Minnebetrugs wird immer aufs Neue variiert, und zwar eines Betrugs der Männer an den Frauen. Paris verlässt und vergisst Œnone zugunsten von Helena; Jason tauscht Medea gegen Kreusa aus; Achill wird am Ende des Trojanischen Krieges zur Befriedung der streitenden Parteien Polixena bereitwillig als Braut akzeptieren; und Hercules gibt Dianira zugunsten Ioles preis. Diese Minnegeschichten ziehen sich durch den ganzen Text und sind z. T. mit dessen Abbruch – Konrad kann sein Werk nicht mehr zu Ende führen – noch nicht beendet, so dass dann erst Konrads Fortsetzer die Beziehung Achills zu Polixena zu einem – entsprechend der verbreiteten Wertung: mageren – Ende bringt. Dass Konrad mit diesen Geschichten etwas zeigen will und Fallgeschichten reiht, zu denen er auch Regeln formuliert,4 geht deutlich daraus hervor, dass sie sämtlich in seiner Hauptquelle, Beno„ts de Saint-Maure „Roman de Troie“, nicht vorkommen. Beno„t hatte zwar die höfische Liebesthematik überhaupt erst in den Trojaroman eingeführt,5 aber Paris verlässt bei ihm niemanden für Helena (Œnone kommt nicht vor), Jason läuft nicht zu Kreusa über (Kreusa kommt nicht vor), Achill hat keine Jugendliebe zu Deidamia (Deidamia kommt nicht vor), und auch die Liebesbeziehungen des Hercules werden nicht erzählt. Dass Männer Frauen zugunsten anderer Frauen verlassen, ist die für den Trojanischen Krieg zentrale Verursachungsstruktur, die allererst Konrad einführt.6 4 Konrads ,Regel-Fall-Denken‘ beobachtet Pfennig, Martin: erniuwen. Zur Erzähltechnik im Trojaroman Konrads von Würzburg. Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 49 – 53. 5 Konrads Quellen rekonstruiert – weit über Beno„t hinaus – zuverlässig und umfassend Lienert, Elisabeth: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“. Wiesbaden 1996. 6 Das Handlungsmuster wird zuerst klar gesehen bei Kokott, Hartmut: Konrad von Würzburg. Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie. Stuttgart 1989, S. 277 – 280. Die mit Abstand differenzierteste und feinsinnigste Interpretation des Handlungsmusters stammt von Küsters, Urban: Marken der Gewissheit. Urkundlichkeit und Zeichenwahrnehmung in mittelalterlicher Literatur. Düsseldorf 2012, S. 796–821, der insbesondere die Festigkeit skripturaler Liebesbeglaubigung in Anbetracht einer Logik der Liebe als Fließgröße herausarbeitet. Dies kulminiert in der Liebeskommunikation zwischen Paris und Helena (ebd., S. 813–821), auf die ich nicht eingehe, da sie nicht mehr durch Betrug gekennzeichnet ist, wohl aber durch ihre Auslieferung an diese Logik. Dass mit dem transitorischen Charakter aller Liebesbeziehungen, mit Untreue und ihrer Bestrafung auch die Gesamthandlung des „Trojanerkriegs“ auf ein universales ungelinge zuläuft, zeigt Worstbrock, Franz Josef: Die Erfindung der wahren Geschichte. Über Ziel und Regie der Wiedererzählung im „Trojanerkrieg“ Konrads von Würzburg. In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. JanDirk Müller zum 65. Geburtstag. Hg. v. Peters, Ursula und Warning, Rainer. München 2009, S. 155–173. Zum paradigmatischen Bezug der Minnepaare aufeinander im Erzählgeflecht des Romans vgl. auch Kellner, Beate: Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“. Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Antike und Mittelalter. In: Poetica 42 (2010), S. 81–116, hier

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Konrads vier Fallgeschichten variieren alle dasselbe Grundmuster : die (unabsichtliche) Untreue des Mannes. Programmatisch präludiert aber die Minne zwischen Paris und Œnone bei Konrad die ganze Reihe. Dabei wird die Letztursache des Trojanischen Krieges von den unterschiedlichen Motiven für Raub oder Entführung der Helena7 auf die Unbeständigkeit der Minne verschoben – das ist ein gravierender konzeptioneller Eingriff in die tradierte Form der Erzählungen vom Trojanischen Krieg, ein Eingriff, der sich denkbar weit auch etwa vom zeitgenössischen Minne- und Aventiureromen und seinem Minnekonzept entfernt. Paris wird Œnone bei Konrad für Helena verlassen. Der Ausgangspunkt für den Trojanischen Krieg wird dabei in seine Motive für das Verlassen Œnones verlegt und nicht z. B. in die Schönheit Helenas. Konrad lässt deutlich werden, dass das Verhalten des Paris nicht so sehr ein persönliches Versagen darstellt, d. h. es geht nicht um eine Moralisierung des Problems. Liebesbetrug ist kein Verhalten, dem mit einer moralischen Be- und Aburteilung allein angemessen beizukommen wäre. Sondern Minne entfaltet sich nach einer Art Naturgesetz. Paris ist Sohn des trojanischen Königs Priamus, der ihn als Kind aussetzen lässt, da ein Traum seiner Frau Hekuba voraussagt, Paris werde der Grund für die spätere Zerstörung Trojas sein. Paris lässt dagegen schon früh die Eigenschaften eines Streitschlichters erkennen; es gelingt ihm, noch jeden Streit zur Zufriedenheit aller Beteiligten zu beenden. Die Hirten, unter denen er lebt, überlassen sich gern seinem Urteil. Deshalb erscheint er Jupiter später geeignet, den Streit der Göttinnen Juno, Pallas und Venus um den Apfel zu schlichten. Beim Tränken der Tiere lernt Paris nun die Quellnymphe Egenoe (eig. Œnone, so dann auch ab V. 4379) kennen, und beide beginnen, einander zu lieben. Egenoe/Œnone überfällt indes die eifersüchtige Furcht, Paris könne die Bekanntschaft einer anderen Frau machen und sie darüber vergessen. „nein frouwe,“ sprach der süeze, / „die sorge maht d˜ l–zen.“ („Trojanerkrieg“, V. 774 f.) Mit seinem Messer ritzt Paris eine Beteuerung in die Rinde eines Baumes: man sol daz wizzen hiute und Þweclichen iemer mÞ, sú P–r„s und EgenoÞ von ir minne scheident und beide ein ander leident, sú muoz diz wazzer wunneclich ze berge fliezen hinder sich und widersinnes riuschen. (V. 788 – 795)

S. 104–108. Vgl. außerdem Gebert, Bent: Mythos als Wissensform. Epistemik und Poetik des ,Trojanerkriegs‘ Konrads von Würzburg. Berlin, Boston 2013, S. 340f., 371f. 7 Vgl. zu den mittelalterlichen Traditionen entsprechender Ursachenketten Lienert, Elisabeth: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001, S. 104 f.

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Auf diese Weise will er –ne tiuschen sicherstellen, dass Œnone in seinem Herzen versiegelt sei; und als sie dies liest, ist sie in der Tat beruhigt. Er überbietet die unverbrüchlichen Worte durch die Magie der Schrift – die Einritzung kommt in der Welt der Hirten einer Einmeißelung gleich und steht gleichsam auf ewig in der Welt, auf ewig zumindest, solange das Wachstum des Baumes gesichert ist oder – im weiteren Sinne – die Natur existiert. Da steht zudem, dass eher etwas geschieht, was den Naturgesetzen zuwider läuft (dass nämlich das Wasser den Berg hoch fließt), als dass Paris und Œnone sich je trennen und einander nicht mehr lieben sollten. Mehr Ewigkeit und Verbindlichkeit kann man seinen Worten schwerlich mitgeben. Realisiert ist hier die Form des antiken Adynatons,8 die einen ganz anderen Bedeutungsrahmen konstruiert als die oben zitierte, im Mittelalter verbreitete Selbstverfluchung. Etwas, was absolut unmöglich erscheint, wird hergenommen, um daran die Unmöglichkeit dessen zu messen, dessen Eintreten man ausschließen will. Konrad erzählt die Geschichte der Liebe zwischen Œnone und Paris ausgestaltend von vorn, die Ovid („Heroides“ 5) Œnone in einem fiktiven Brief an Paris hingegen vom Schlusspunkt her aufrollen lässt – nachdem Paris also längst untreu geworden ist. Wie öfter, führt ein mittelalterlicher Dichter hier die komplexere literarische Form seiner antiken Vorlage auf ihre narrative Chronologie zurück. Ovid ist Konrads einzige Quelle zu diesem kleinen Stück Liebesbetrug – auch bei den anderen Liebespaaren greift Konrad über Beno„t hinaus auf Ovid zurück9 –, und auch das Adynaton steht bei Ovid. Aber, wer betrügt hier wen? Ovid ist eindeutig: Paris Œnone, denn er hatte seinem Gelöbnis größere Unverbrüchlichkeit mitgegeben, als selbst die Naturgesetze verbürgen. Dagegen lässt Ovid Œnone abstechen, die in ihrem Brief formuliert: At manet Œnone fallenti casta marito (XII, 133) – ,indes Œnone bleibt dem betrügenden Gatten treu‘!10 Noch lange, nachdem sie seine Untreue erfahren musste, was an ihrem Brief besonders anrührt.11 8 Das Adynaton kommt oft als Affektausdruck vor, ohne dass eine Vergleichsebene aufgemacht wird: „Ein von seiner Geliebten verlassener Hirt ist bereit, sich mit einer Verkehrung der ganzen Naturordnung abzufinden. ,Nun möge der Wolf aus freien Stücken die Schafe fliehen, die Eichen goldene Äpfel tragen, Käuzchen mit Schwänen wetteifern, der Schäfer Tityrus Orpheus sein …‘ („Eclogae“ VIII 53 ff.).“ (Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern, München 81973, S. 105). Oft aber soll es im umgekehrten Vergleich mit dem Unmöglichen die Gewissheit des Eintretens des Inhalts eines Eides oder einer Behauptung betonen. Eher nämlich soll dieses Unmögliche geschehen, als dass der Eid unwahr wird. Vgl. Beispiele u. a. bei Maurach, Gregor : Lateinische Dichtersprache. Darmstadt 1995, § 158 d. 9 Für Jason-Medea liegen die „Metamorphosen“, VII 1 – 403, für Hercules-Dianira IX 134 – 272 wesentlich mit zugrunde. 10 P. Ovidius Naso: Heroides. Briefe der Heroinen. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Hoffmann, Detlev u. a., Stuttgart 2009. 11 Bei Ovid sind Œnone und Paris als verheiratet zu denken, ohne dass ein Eheversprechen

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Bei dem Fortsetzer des „Trojanerkriegs“ Konrads bleibt sie treu bis in den Tod: Sie stirbt bei der Nachricht von Paris’ Tod (V. 45623 – 45718) und wird an seiner Seite begraben; so der Fortsetzer im Anschluss nicht mehr an Ovid, sondern an Dictys. Ich will aber weitere denkbare Antworten durchgehen, wer hier wen betrügt: Œnone ,betrügt‘ Paris, indem sie ihm eine Versicherung abringt, die ihm nicht gelingen kann, weil die Umstände nicht in seiner Macht stehen (es ist so, als wollte man [jemanden] aufrichtig beschwören [lassen], dass morgen die Welt unter- oder die Sonne nicht aufgeht: in einem vergleichbaren Sinn ist man – zumindest gemäß einer starken Annahme – auch nicht Herr seiner selbst). Vielleicht betrügt sich Œnone zuvor noch ihrerseits selbst, indem sie solchen Versicherungen Glauben zu schenken gewillt ist. Zweifellos aber betrügt Paris sich selbst, indem er sich auf seine Versicherung festlegen lässt und festlegt; auf eine Versicherung, die niemand zuverlässig abgeben kann, weil niemand wissen kann, wie lange er besitzen wird, was er im Moment noch auf ewig zu besitzen meint. Dies alles gemäß einer modernen Perspektive und Analyse. Gibt es noch eine weitere Ebene? Betrügt Ovid sich und den Leser, indem er die Konvention entsprechender Gelöbnisse literarisch verstärkt und stützt? Und betrügen wir alle uns selbst, wenn wir sie unseren Partnern abverlangen oder sie an uns herantragen lassen? Einfache Liebesbeteuerungen gelten für die Gegenwart: ,Ich liebe dich‘ gilt hier und jetzt, und darüber müsste man sich auch hier und jetzt vergewissern können. ,Ich werde dich immer lieben‘ gilt indes für eine Zukunft, über die man noch nicht verfügt. Wir können aber keine Aussagen über die Zukunft unserer Gefühle machen. Oder worüber will Œnone Sicherheit: über die künftigen Gefühle des Paris oder nur über sein künftiges Handeln? Ein Versprechen kann wohl das Handeln binden, nicht aber die Gefühle. Nur für etwas, was man durch sein Handeln einlösen kann, kann man auch ein Versprechen abverlangen und ablegen. Œnone dagegen will Sicherheit darüber, dass Paris keine andere lieben wird, und damit Sicherheit über seine Gefühle. Ich stelle hiermit Gefühle kontingenten Ereignissen gleich, wie die Außenwelt sie für uns bereithält. Ereignisse sind kontingent, wenn man ihr Eintreten nicht voraussagen kann (man kann es nur, wenn man alle relevanten Randbedingungen kennt). Auch in der Liebe gilt diese Kontingenz der Außenwelt. Niemand weiß voraus, wen er wann, wo und unter welchen Umständen treffen wird – so treffen und derart beschaffen treffen, dass er ihn lieben wird: Wie es hier eine Kontingenz der Außenwelt gibt, so gibt es auch eine Kontingenz der Innenwelt, allemal soweit die ,Ereignisse‘ der Innenwelt durch die Außenwelt induziert werden. Verliert diese Einflussnahme sich in einer Unendlichkeit von Anstößen, irgendeine Rolle spielte. Bei Konrad bleibt der Ehestatus offen, nicht klar wird er durch V. 728. Vgl. auch Lienert [Anm. 5], S. 40, Anm. 44.

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so ist das Ergebnis nicht vorhersehbar. Ist ein Gefühl einmal ausgelöst, so kann unter solchen Umständen niemand wissen, was damit passieren wird. Ich will an Freuds Begriff der Triebschicksale anknüpfen12 und von den Schicksalen der Gefühle oder der Liebe sprechen, die niemand wirklich voraussehen kann. Denn was wäre etwa, wenn sich Aussehen, Verhalten oder Charakter des Partners einschneidend verändern oder wenn man selbst jemanden anderen trifft, den man gegen seinen Willen zu lieben beginnt? Oder wenn aus einem unerfindlichen Grund eine Verkehrung der eigenen Gefühlsregungen ins Gegenteil stattfindet13 oder seine Gefühle erlahmen oder sich einfach verflüchtigen? In Anbetracht einer konstitutiven Innenweltkontingenz ist letztlich niemand vor den eigenständigen Schicksalen seiner Gefühle und seiner Liebe gefeit; und er kann nicht für etwas garantieren, über dessen Zukunft er nicht verfügt. Gefühle würden sonst wie Handlungen behandelt – eine irreführende Analogie. Anders als Handlungen sind Gefühle unverfügbar. Sie sind menschlichen Absichten und Gründen nicht so bruchlos zugänglich wie Handlungen. Allenfalls lassen sie sich im Wissen um ihre Beschaffenheit strategisch verheimlichen oder – umgekehrt – exponieren, wohl auch unterdrücken. Gewiss ist dies eine Analyse, die von der Vormoderne nicht gestützt wird. Untreue, wie sie auch aus der Unverfügbarkeit von Gefühlen hervorgeht, ist hier etwas, was man mit Versicherungen und Eiden unterdrückt und was man also nach der beruhigenden Fiktion auffasst, es ließe sich genauso bändigen und binden wie künftiges Handeln. Gefühle werden dadurch als ein Gefühlsh a n d e l n konzipiert. Immerhin liebt Œnone Paris bis zu ihrem Tod, sie handelte – brächte man diese Konzeptualisierung hier zum Zuge – einem fiktiv unterstellten Versprechen gemäß. Es wäre also ihr vertrauenswürdiges Handeln, das sie anders als Paris treu bleiben ließe. Mindestens im gleichen Maße wäre einem Eid, wie Paris ihn offen ausgesprochen hat, die Befolgung abzuverlangen: Dieser Wunschwirklichkeit der Liebe mit ihrer systematischen, kulturell bedingten Fehlanalyse des nicht berechenbaren Gefühls ist offenbar nur schwer beizukommen; und in der Literatur – heute noch in der Trivialliteratur – beherrscht sie alles. Sie übersieht aber u. a., dass sich auch eine besonders anrührende bedingungslose Liebe wie die Œnones keinem Versprechen, sondern einem kontingenten Gefühlschicksal verdanken könnte. Œnones Gefühle sind nicht (oder nicht nur) so, weil sie sich entschieden (oder geschworen) hat, so zu fühlen. Wie geht es aber nun bei Konrad weiter? Es kommt zu der von Jupiter veranstalteten Hochzeit der Thetis mit Peleus, auf der Discordia Unfrieden stiftet. 12 Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. X. Werke aus den Jahren 1913 – 1917. Frankfurt a. M. 1949 u. ö., S. 209 – 232. 13 Vgl. ebd., S. 219 f.

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Paris fällt das Urteil. Venus hatte ihn allerdings vorher auf ihre Seite gezogen, indem sie ihm Helena versprochen hatte (V. 2632 – 2680). Deren Schönheit wirft nun ihren Schatten voraus: Sofort richtet sich s„nes herzen muot und s„n gemüete auf das ferne Liebesobjekt – und der Apfel soll Venus gehören. Kein ganz unabhängiges und uneigennütziges Urteil; der Apfel veranschaulicht in einer gewissen Entsprechung denn auch Vieldeutigkeit. Er ist ein Kunstobjekt aus einer goldenen und silbernen Hälfte, in dessen Glanz alle Farben hineinlaufen, ohne dass man in Anbetracht seiner mixt˜re und temperunge auch nur eine der Hälften für sich allein zu unterscheiden vermöchte.14 Paris’ Gedanken fixieren sich auf Helena – in deren Beschreibung sich später die Farbmixtur des Apfels als Unentscheidbarkeit aller Wahrnehmungsqualitäten wiederholen und zuspitzen wird15 –, seine Freude und sein Sehnsuchtsschmerz vermischen sich, und so sehr drängt die niuwe minne sich ihm auf, daz er der alten niht enphant; wan er vergaz d– s– zehant, daz im diu cl–re ŒnúnÞ was liep vor allen w„ben Þ. (V. 4377 – 4380)

Ungern hätte er noch einmal daran gedacht, was er einst geschrieben bzw. in die Baumrinde geritzt hatte (V. 4382 f., vgl. auch V. 4766 – 4772). Eine zuvor nicht gekannte Eigensucht bricht sich in ihm Bahn, als er Helena später zum Ehebruch drängt.16 Projizierte man die Farbvieldeutigkeit des Apfels und die Unentscheidbarkeit von Wahrnehmungsqualitäten in Anbetracht der Schönheit Helenas auf die Ebene menschlichen Handelns, so müsste dieses analog in moralischer Indifferenz zu schillern beginnen. Auch Gefühle ließen sich dann keiner eindeutigen moralischen Beurteilung unterziehen. Wo im „Trojanerkrieg“ gehandelt und gefühlt wird, liegt in der Tat alles derart durcheinander, dass man keinen festen moralischen Grund mehr erreicht. Neben nichtigen und isolierten Handlungsantrieben, die sich in ihrer Summation zu katastrophalen Folgen auswachsen, trifft man auf pure Zufälligkeit in der Handlungsverkettung. Das lässt auch 14 Zu V. 1402 – 1433 vgl. Müller, Jan-Dirk: sch„n und Verwandtes. Zum Problem der ,Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“. Mit einem Nachwort zu TerminologieProblemen der Mediävistik. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hg. v. Dicke, Gerd u. a. Berlin, New York 2006, S. 287 – 307, hier S. 330 f., der die Beschreibung des Apfels „als myse en abyme des Romans und als Schlüssel seiner Poetik“ wertet (S. 331). 15 Zu V. 19896 – 20296 vgl. ebd., S. 298 – 302, zu Konrads ,Ästhetik des Lichts und des Schillerns‘ Lienert [Anm. 5], S. 277 – 281, sowie auch Christina Lechtermann: Figuren der Abhebung. Schillerndes Erzählen im „Trojanischen Krieg“. In: Deixis und Evidenz. Hg. v. Wenzel, Horst und Jäger, Ludwig. Freiburg u. a. 2008, S. 43–64, hier S. 53–63. 16 Vgl. Stackmann, Karl: Ovid im deutschen Mittelalter. In: Arcadia 1 (1966), S. 231 – 254, hier S. 248 – 251.

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personale Kontinuität problematisch werden. Insbesondere werden zur Untreue führende Gefühle durch Vergessen wattiert. Neue Gefühle können sich dadurch unvorbelastet Raum verschaffen. Auf Dauer gestellte Identität wird bei den Rittern im „Trojanerkrieg“ nicht durch eine und nur eine Liebesbeziehung sichergestellt. So aber hatte es der höfische Roman vorgegeben.17 Konrad erzählt die Untreue des Paris gegen personale Kontinuität als einen Fall von Innenweltkontingenz. Statt von ihm der Untreue bezichtigt zu werden, ist ihm Paris gleichwohl der wandels vr„e (V. 4338). Paris wird sich allenfalls selbst untreu, weil Dinge mit ihm passieren, die er nicht voraussah. Sein Vergessen bezeichnet den für ihn unvorhersehbaren Moment der Neuausrichtung seiner Minne. Man könnte durchaus zwischen einem ungewollten und einem gewollten Vergessen unterscheiden, aber Konrad gibt darüber keinen eindeutigen Aufschluss: Paris vergisst seine Liebe zu Œnone, weil er nicht mehr über seine einstigen Gefühle verfügt. Über ihrer Unverfügbarkeit vergisst er sich. Die neu entstehenden Gefühle tilgen alles, was noch von den alten vorhanden ist. Und mit dem Vergessen der Gefühle ist auch vergessen, was er einst geschworen und als ewig-verbindlich ausgegeben hatte. Nur dass er die Erinnerung daran zu vermeiden scheint, spricht für ein gewolltes Vergessen. Als er später um Helena wirbt, verwahrt diese sich gegen seine Werbung u. a. mit dem Hinweis auf Œnone, die er aus unstæte verlassen habe und an der er seine triuwe gebrochen habe (V. 22148 – 22152). Das sagt Helena, in deren Erscheinung die strukturelle Unentscheidbarkeit – doch wohl auch moralischen Urteilens – metaphorisiert ist. Nicht so apodiktisch wie Helena urteilt Konrad, der von Anfang an klarstellt, wie Paris aus seiner Jugend, und das heißt auch: aus mangelnder Erfahrung und unbedachten Antrieben, heraus den Streit der Göttinnen entschied. Nicht in der Lage, den Wert von Weisheit oder Reichtum zu ermessen, lässt Paris sich über die unstæte der Minne (V. 2283), über die ihn Juno und Pallas wortreich, aber vergeblich aufzuklären suchen (V. 2230 – 2332), nur allzu bereitwillig hinwegtäuschen. Es sind seine nat˜re und seine Jugend, die ihn das ,Parisurteil‘ fällen lassen (V. 2698 – 2753). Seine unstæte minne erweist sich ihm folgerichtig selbst als Schicksal. Das Schicksal seiner Gefühle wird zu seinem. Hinter seinem Urteil im Streit der Göttinnen stehen Faktoren, die vielleicht erwartbar, ja berechenbar erscheinen, doch für ihn gleichwohl nicht einseh- und kontrollierbar sind.18 Das katastrophale Geschehen des Trojanischen Krieges kommt durch nicht persönlich zurechenbare Umstände in Gang. 17 Schon Basler, Karl: Konrads von Würzburg „Trojanischer Krieg“ und Beno„ts von Ste. Maure „Roman de Troie“. Diss. Berlin 1910, S. 97 f., hat Konrads Minnekonzept entsprechend als unhöfisch charakterisiert. Natürlich gibt es aber Ausnahmen, Beispiele sind die (gradierten) Minnebeziehungen Gahmurets, Gawans, Lanzelets, des Apollonius von Tyrland u.a.m. Nirgendwo wird hier allerdings untriuwe gewichtet. 18 „Das Parisurteil wird seiner traditionellen moralischen Anrüchigkeit weitgehend (nicht

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Es war nicht die Absicht des Paris, Œnone zu betrügen, und insofern stellt Konrad ein Konzept von Minne vor, das Moral allenfalls aus der Figurenperspektive einspielt, während Konrad seinerseits die Figuren eher als Marionetten der verallgemeinerten Minne sieht.19 Ein Betrug kommt nur zustande, wenn man das Figurenhandeln an den Ewigkeitsaussagen misst. Die Figuren aber überfordern sich hiermit, und wenn sie denn objektiv betrügen, so verstellen sie sich doch zu keinem Zeitpunkt. Prominenter und moralisch problematischer als die Liebe zwischen Paris und Œnone ist die zwischen Jason und Medea.20 Wie mit dem Pfeil wart minne ˜f in [Jason] gevellet, / dú s„n ouge ir l„p ersach (V. 7690 f.). Es geht Medea nicht anders, und bald sind beide bleich und rot, und ihr muot ist ungescheiden (V. 7772). Wichtig ist Konrads Feststellung: diu minne und der nat˜re str„t / ir zweiger wille (einige Hss. haben willen, so muss es heißen) überwant (V. 7700 f), und zwar wie das den Zunder zum Lodern bringende Feuer. Die beiden verlieren ihren eigenen Willen und ir fr„gez leben (V. 7825, 7840). Hier wird schon der Beginn der Liebe zwischen Jason und Medea als ein Fall von Innenweltkontingenz geschildert, nachdem beide einmal aufeinander getroffen sind. Sie sind nicht Herr über ihre Gefühle. Das lässt erwarten, dass ein solcher Liebesbeginn sich allezeit unabsehbar auch über eine alte Minne schieben kann. Dass Jason Medea vür alliu w„p meint, wiederholt Konrad mehrfach (V. 7683, 7867, 8399 u. ö.; das ist im Übrigen eine sich durch den ganzen Text ziehende Formel des späten Minnesangs). Medea weiß freilich, dass Jason durch –ventiure kam, um umbe werdekeit zu werben (V. 8086 f.). Nur sie kann ihm zum goldenen Vlies verhelfen, da sie das Sicherungssystem vor Ort kennt. Das lässt sie anders als Œnone, die nichts in der Hand hat, ein Sicherungssystem für die Minne entwerfen, und also stellt sie Jason folgende Bedingung: wær iuwer muot alsú get–n, daz ir mich woltent minnen mit durchnehtigen sinnen und ze stæteclicher Þ, sú schüefe ich, daz ir –ne wÞ die wollen [sc. das Vlies] sanfte erwürbent,

ganz) enthoben, freilich nimmt damit ein Verhängnis von ungeheurer Tragweite seinen Lauf.“ Lienert [Anm. 7], S. 130. Vgl. auch Lienert [Anm. 5], S. 46 f. 19 Das Konzept wird in den Argumenten der streitenden Göttinnen aufgenommen, für die Konrad wohl nicht auf Quellen zurückgreift. Vgl. Lienert [Anm. 5], S. 45. Fortgeführt wird es vor allem im Erzählerkommentar in V. 12228 – 12263. 20 Zu Beginn und Verlauf dieser Minne vgl. die ausgreifenden Analysen von Sieber, Andrea: Medeas Rache. Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in Romanen des Mittelalters. Köln u. a. 2008, S. 1 – 149. Gezeigt wird, wie Minne als Teil der Sozialisation des Kriegers in die Kriegsthematik integriert wird.

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und daz ir niht verdürbent durch daz wunnebære golt. (V. 8314 – 8321)

Wenn er sie weder verkiesen noch verkepsen, sondern als Frau heimführen wolle, dann könne sie ihn darüber hinaus vor allerhand Schaden bewahren, da sie diu swarzen buoch gelesen habe (V. 8348) – sie kann zaubern. Sie zieht also eine Zweckbindung in ihre Hilfszusage und damit in die Minne ein. Jason will Medea, auch ohne dass sie ihm nun gleich zum goldenen Vlies verhilft – so die Verlegenheitsbeteuerung –, vür alliu w„p mit triuwen minnen (V. 8399). Er versucht damit der prekären Zweckbindung auszuweichen. b„ den göten ich iu swere einen húhen tiuren eit, daz ich dur liebe, noch dur leit von iu gescheide niemer. ich wil iuch minnen iemer mit durchnehtigen sinnen und vüere iuch mit mir hinnen swenn ich ze lande kÞre. (V. 8402 – 8409)

Aufrichtigkeit und Dauer seiner Gefühle werden hier in einem Atemzug behauptet. Den weiteren Bestandteil seines Eides wird Jason auch einhalten: Er wird Medea heimführen. Freilich befallen sie gleich schon Zweifel an ihrem Handeln, dass sie einem Fremden gegen den Willen ihres Vaters und ihrer Familie zum Besitz des Vlieses verhilft (V. 8585 – 8792); und für Jason kann man sich nicht sicher sein, ob er nicht gegen seine Verlegenheitsbeteuerung den Eid im Schielen auf den Erfolg seiner –ventiure-Fahrt ablegt. Eine heimliche Liebesnacht entspinnt sich indes unter vielfachen Versicherungen Jasons, Medea nicht zu verkebsen (V. 9110), und er wiederholt mit aufgelegten Fingern im Namen Jupiters noch einmal seinen Eid, daz er si niht enlieze, / und er si minnen wolte, / die w„le er leben solte (V. 9124 – 9127), also auf eine relative Ewigkeit hin. Darauf gibt sie sich ihm hin. Nachdem er dann mit Medeas unsichtbar machendem Ring und ihren Anweisungen folgend das Vlies in seinen Besitz gebracht hat, bittet er ihren Vater um die Hand der nicht mehr jungfräulichen Braut und fährt mit ihr nach Hause. Dass sie ihm folgt und ihren Vater verlässt, daz was ein übel mære, sagt Konrad, wan die vil tugentbære / wart s„t von im verl–zen (V. 10206 – 10211). Es ist hier nicht die unstæte minne, die schuld ist, sondern nach Konrad Ja s o n s unstæte (V. 10212; 11343). Während Medea weiterhin ihre triuwe gegen Jason unter Beweis stellt, wird jedoch s„n muot gebunden / mit niuwer liebe minne (V. 11202 f.), als Medea nämlich einmal eine Zeit außer Landes ist. Kreusa ergreift währenddessen derart Besitz von seinem Herzen, daz er dur si wart triuwelús / und er s„n Þlich w„p verkús (V. 11211 f.). Er hete gar vergezzen, sagt

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Konrad weiter, dass er Medea das Vlies und überhaupt seine Position in der Welt verdankt. Doch obwohl Konrad Jasons valschen muot anprangert und ihn einen ungetriuwen man nennt, der aus seinem Verhalten Schaden auf sich ziehen wird, resümiert er schließlich: das schuof der minne unstætekeit die gnuoge wenken lÞret und si darunder kÞret in endelúsen smerzen. si wirt vil manigen herzen ein valscher leitesterne. minn ist sú niuwegerne, daz ir vert–ner vürwiz durch ganze liebe manigen sliz kann zerren unde brechen. (V. 11228 – 11237)

Minne will sich erneuern, will sich neu erleben, ist neugierig auf sich selbst und braucht dazu ihr nächstes Objekt/Opfer, so dass sie sich schließlich selbst zunichte macht. Denn genauso schnell veraltet sie auch. Darin ist sie selbstdestruktiv. Es wäre dagegen schon sehr bemerkenswert, sagt Konrad, wenn alte liebe sich von niuwer überformen ließe (V. 11245 – 11247). Hierfür setzt er den Begriff der ganzen liebe ein (V. 11236), einer Liebe, die bei sich bleibt und ihrem Objekt treu bleibt. Minne ermüdet dagegen nach einer gewissen Zeit. Ihr wird deshalb gleichgültig, was sie einst liebte (so schon Pallas und Juno: V. 2240 – 2243, s. gleich). So reizt sie den verletzten Partner zu destruktivem Vorgehen. Der Minneaffekt ist Medium der Fatalität.21 Medea wird Kreusa zusammen mit Jason aus Rache einen grausamen Tod bereiten. Jason aber bleibt für Konrad am Ende der werde ritter, / der keinen wandel ie begie (V. 11340 f.) – außer vielleicht, dass er Medea verließ.22 Es ist, als könne Konrad sich nicht endgültig entschließen, den Gefühlsschicksalen ihren Lauf zu lassen, den Gefühlen ihre Freiheit zu geben und die Moral dabei herauszuhalten. Zu beachten ist immerhin, dass Jason Medea mit Zustimmung ihres Vaters zur Ehefrau genommen hatte; Paris hingegen hatte mit der Nymphe eine intensive Liebschaft durchlebt und Œnone nicht verkebst: Der Betrug wird hier nicht als Bruch des Eheversprechens erzählt. Mit der Eheschließung kommt unweigerlich ein Moment des Handlungsvollzugs ins Spiel. Wieder ist es später Helena, die gegenüber der Werbung des Paris auf das Bei21 So die These von Hasebrink, Burkhard: Rache als Geste. Medea im „Trojanerkrieg“ Konrads von Würzburg. In: Literarische Leben. Festschrift Volker Mertens. Tübingen 2002, S. 209 – 230, hier S. 228. 22 Lienert [Anm. 5], S. 75 f., weist darauf hin, dass Jason ein allgemeines Minnegesetz bestätigt, was seine Schuld zumindest relativiert.

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spiel Medeas verweist: Was Jason Medea schwor, daz brach er allez unde liez / unstæte die gelübde sin (vgl. V. 22262 – 22279). Aber dagegen schiebt Konrad doch einen Teil der Verantwortung auf die Minne als natürliche Gewalt, die nicht durch den Willen gemeistert werden kann. Jason und Medea verlieren ja ihren freien Willen und sind der nat˜re krefte unterworfen. Die Natur als autonomisierte Macht sucht sich demnach aus eigenem Antrieb durch die füreinander in Frage kommenden Partner hindurch und macht ausfindig, welche von ihnen sie zu einem Paar fügt (V. 7805 – 7817). Die Natur wäre es also, der letzten Endes Verantwortung zukommt. Sie auch hat es auch so eingerichtet, dass Minne sich irgendwann erneuern will. Dies alles rechtfertigt Jason. Für die abgründige Verzweiflung der antiken Medea hat Konrad deshalb gar keinen Sinn:23 Als auf natürliche und fast erwartbare Weise Betrogene (vom Erzählerstandpunkt aus gesehen) entlässt er sie aus der Geschichte und erwähnt die beiden Kinder, die sie mit Jason hat, nur einmal kurz. Sie scheinen mit Medea weiterleben zu dürfen. Jason aber ist für etwas zur Rechenschaft gezogen worden, was eigentlich auf das Konto der Natur der Minne geht. Auch ein Blick zurück auf den Streitgegenstand der Göttinnen Juno, Pallas und Venus – die Bewertung des Güterkatalogs von Reichtum, Weisheit und Minne – schafft keine Klarheit: Juno und Pallas betonen einhellig, dass diu minne h–t unstæten muot und ist sú wandelbære, daz ir daz wirt unmære, daz ir gewesen ist vil zart. (V. 2240 – 2243)

Venus hält dagegen, dass nur durch sekundäre Motivationen (wie Reichtum oder vorgebliche Weisheit) der valsch Eingang in die Minne erhalte. Es liege am persönlichen Ungenügen, wenn die Minne sich als unstæte erweise (V. 2430 – 2550). Nur wer untreu werde, verfälsche die Minne. An sich selbst bleibe sie unberührt. Die Verteidigerin der Minne führt mit der Verantwortlichkeit der Akteure die Moral ein, ihre Kontrahentinnen sehen Minne schon als in sich prekär. Konrad stellt beide Positionen gegeneinander, ohne sich doch auf die Seite der Venus zu schlagen. Das nächste von Konrad aufgenommene Gefühlsschicksal betrifft das Gefühl Achills zu Deidamia.24 Beide lernen sich kennen, weil Thetis ihren Sohn Achill – wie schon Priamus den Paris – von dem vorhergesagten Krieg vor Troja fern23 Das zeigt Schröder, Werner : Über die Scheu vor der Tragik in mittelalterlicher Dichtung. Jason und Medea im „Trojanerkrieg“ Konrads von Würzburg. München 1992. 24 Zur Episode vgl. Cormeau, Christoph: Quellenkompendium oder Erzählkonzept? Eine Skizze zu Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“. In: Befund und Deutung. Festschrift Hans Fromm. Tübingen 1979, S. 303 – 319, hier S. 311 – 319.

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halten will: Sie lässt ihn abseits erziehen und steckt ihn dann als Jüngling in Frauenkleider. Er schämt sich, aber nachdem er Deidamia erblickt hat und ihren Umgang sucht, lässt er sich so verkleidet am Hof des Lykomedes unterbringen. Auch Achill verliert bald seinen vr„en willen (V. 14940) und frönt seiner minne solange tougenl„che – wobei er Deidamia gern und oft abtastet –, bis sich ihm die Gelegenheit ergibt, seinen Mut zu kühlen. Das gerät zur Vergewaltigung: Deidamia erkennt den Mann in ihm und lässt die Vergewaltigung trotz Gegenwehr lustvoll schreiend über sich ergehen (V. 17008 – 17017). Sie fürchtet sofort eine Schwangerschaft, ist tatsächlich schwanger, und – eine neue Wendung in Anbetracht der verschiedenen von Konrad durchdeklinierten Fälle – Achill bekennt sich nach der Stillung seines Verlangens weiterhin zu Deidamia und schwört ihr auf Lebenszeit Treue (V. 17145 – 17192). Zwar ist sie eifersüchtig, denn Achill lässt aus wildekeit seine Augen anderen minneclichen vrouwen hinterher schweifen (V. 17314 – 17317), doch bleibt er ihr tatsächlich treu.25 Als nach dem Raub Helenas der Krieg vor Troja beginnt, will Achill kämpfen. Deidamia ahnt bald, daz ir geselle Achilles / ir vremde werden solte (V. 28104 f.), und auch Ulixes bemerkt die wandelunge (V. 28407) und reizt Achill nun wie schon zuvor, indem er ihn auf sein Schamgefühl hin anspricht. Endlich bricht der Zorn aus Achill heraus, er verliert seine im Umgang mit den Frauen antrainierten weibischen Bewegungen und vergisst die Pläne seiner Mutter, er vergisst auch die Minne: s„n muoter und die minne ˜z s„nem herzen w–ren komen. Deidamie wart genomen ˜z s„nem muote b„ der z„t. er was ˜f urliug und ˜f str„t verd–ht sú rehte sÞre, daz er d– nihtes mÞre ged–hte b„ den stunden, wan daz er würde funden vor Troje in ellentr„cher state. (V. 28530 – 28539)

Deidamia muss erkennen, dass sie Achill verlieren wird (V. 28614 – 28623), denn ein neuer Trieb führt zum Vergessen des alten. Hier schiebt sich also über die Minne nicht neue Minne, sondern eine andere Art von Gefühl. Als Achill von ihrem Schmerz erfährt, gesteht er ein, dass er sie ja ze stætecl„cher Þ minnen wollte (V. 28741 f.; vgl. V. 28832 – 28840), aber während sie weiterhin solcher stæten minne gert, will er unbedingt str„ten (V. 28986 f.). Das hindert ihn nicht, Tränen mit Deidamia zu weinen. Er schwört ihr, mit erbeutetem Reichtum 25 Treueschwur und arglose Selbstgewissheit lassen sich hier geradezu als Vorausdeutung auf Unglück verstehen. Vgl. Lienert [Anm. 5], S. 92.

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heimzukommen (V. 29174 – 29185), und scheidet minnesiech von ihr. Bleiben will er aber nicht. Im Bewusstsein ihrer vil húhen stæte (V. 29350) und reinen triuwe (V. 29366) mag er s i e dennoch nicht vergessen. Tatsächlich soll die Erinnerung an sie noch seine Kampfkraft gegen Hektor stärken (vgl. V. 40320 – 40324), doch vor Troja ist ihm schließlich auch der Tod bestimmt. Man weiß nicht, wie Konrad dies erzählt hätte. Vom äußeren Verlauf her wohl nicht anders als sein Fortsetzer. Danach führt Priamus seine schöne Tochter Polixena Achill zu, nachdem Achill Hektor getötet hatte (V. 42040 – 42052). Achills Hochzeit mit ihr soll die feindlichen Parteien versöhnen, nachdem die beiden schon miteinander bekannt gemacht wurden. Es heißt über Achills Einstellung zu Polixena: […] der unwandelbære / minnete von herzen ie / die schœne maget, die sich nie / von s„nem herzen geschiet (V. 43800 – 43803), seit er sie mit seinen Augen sah. Doch bei der erneuten Gegenüberstellung legt Hekuba ihm einen Hinterhalt, und Paris ermordet Achill. Deidamia wird um ihre Liebe betrogen, aber sie wird doch nicht gleich betrogen, da Achill nur seinen Trieb zu kämpfen auslebt und es auch zum Vollzug seiner Liebe zu Polixena nicht mehr kommt. Lange gibt er Deidamia keinen begründeten Anlass zur Eifersucht. Am Ende allerdings muss auch sie – wie schon Œnone, Medea und schließlich Dianira, die den bisher angesprochenen Fällen noch hinzuzufügen ist – erleben, dass die alte Liebe gegen eine neue ausgetauscht wird. Die politischen Verhältnisse, denen Achill sich fügt, wollen es so. Auch Hercules verkebst im Übrigen Dianira, wie schon Jason Medea verkebste, und wie Jason stirbt auch Hercules, dieser nach dem Anlegen eines vergifteten Hemdes, ohne dass Dianira allerdings seinen Tod beabsichtigte. Falsch informiert über die Eigenschaften des Hemdes, will sie Hercules nur an der Minne zu einer anderen hindern und führt dadurch ungewollt seinen Tod herbei. Doch der Reihe nach: Hercules wirbt um die stolze Dianira bei ihrem Vater: mit reinem willen er dú nam die cl–ren und die hÞren und wollte mit ir kÞren von ir vater in s„n lant. herz unde sin het er gewant mit triuwen ˜f ir reinen l„p, […]. (V. 37964 – 37969)

Nachdem Hercules sich mit Dianira eingerichtet hat, beginnt er nach einiger Zeit ein ander vrouwen minnen / die was geheizen £ole (V. 38186 f.). Und zwar hatte er schon vorher um Iole geworben, ohne dass ihr Vater Euritus seiner eigenen Zusage, die Tochter herzugeben, nachgekommen wäre. Darüber kommt es nun,

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nachdem Hercules Dianira eingeholt hat,26 zur Fehde, da Hercules es nicht verwinden kann, durch Euritus beschämt worden zu sein. Er verwüstet das Land des Euritus, vertreibt ihn – und nimmt Iole mit. den alten j–mersmerzen, den er mit langer stæte dur si geliten hæte, den wolte er mit der süezen vertr„ben unde büezen und leit an si muot unde l„p, alsú daz er s„n Þlich w„p, diu Dian„r– was genant, ˜z s„me herzen lie zehant und ir betalle dú vergaz. (V. 38240 – 38247)

Konrad verschränkt die beiden Minnehandlungen über dem Racheaffekt des Hercules. Nach der Rache an Euritus erinnert Hercules sich seiner alten Liebe, sie flammt neu auf, und er vergisst seine Ehe mit Dianira vollständig. Als er Iole mitnimmt, sieht Dianira sich verkebst (V. 38257 f.). Hier verdrängt nicht eine neue Liebe die alte, sondern die alte die neue. Die alte Liebe konnte nicht realisiert werden, sie scheint nicht abgegolten und verschafft sich deshalb aufs Neue Geltung. ,Vergessen‘ meint bei Konrad nicht notwendig die Ersetzung des Alten durch etwas Neues, sondern die Ausfüllung eines Gefühlsinnenraums durch einen anderen Gefühlsinhalt, hier ausnahmsweise den alten. Zwar ist man durch sein Handeln involviert, doch scheinen die verselbständigten Gefühle für die quasi-räumliche Verdrängung primär. Hercules wird von der Erinnerung an seine alten Gefühle für Iole schlichtweg übermannt, der alte j–mersmerz stellt sich aufs Neue ein. Beim Vergessen werden also bestehende oder vorhandene Inhalte getilgt. Das erscheint, als würden Flüssigkeiten einander verdrängen. Schon dass Konrad das Vergessen immer wieder als Grund der dadurch zustande kommenden unstæte und untriuwe anführt, exkulpiert die Subjekte, die das Vergessen nicht beabsichtigten. Gegenüber der Hydraulik in ihrer Innenwelt sind sie selbst nur Objekte. An der Schnittfläche von Außenwelt und Innenwelt bilden sich indes Ereignisse, deren Folgen die Innenwelt neu auffüllen und neu auf die Außenwelt zurückwirken lassen.27 26 Konrad stellt allerdings diese Chronologie nicht unmissverständlich klar. Ich stütze meine Wiedergabe auf V. 38213 f. 27 Konrads Darstellung der Minne als „Wechselwirkung äußerer und innerer Ursachen und Wirkungen“ (S. 249) untersucht Jackson, Timothy R.: Außen und Innen bei Konrad von Würzburg. Die Achill-Deidamia-Episode im „Trojanischen Krieg“. In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hg. v. Brall, Helmut u. a. Düsseldorf 1994, S. 219 – 249.

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Konrad kann sich allerdings nicht endgültig entschließen, die Moral aus dem Spiel zu lassen. Für die Figurenperspektive lässt er sie ohnehin zu, so bei Hercules darin, dass dieser sich selbst der Untreue bezichtigt, bevor er stirbt (V. 38470 – 38486).28 Gelegentlich übernimmt Konrad selbst diese Perspektive. Dann wieder spricht er die untreuen Männer von Schuld frei und rettet sie in den Bereich höfischer Þre und werdekeit. Es ist nicht-intendierter, objektiver Betrug, der erzählt wird, kein durch üble Charaktere, schlechte Eigenschaften oder schuldhaftes Handeln zu verantwortender Betrug. Konrads Figuren sind samt und sonders tadellos, auch die untreuen Männer. Gewiss lässt sich dies auch andersherum wenden: „Was in den laudativen Epitheta der Figuren und in der Topik ihrer rühmlichen Züge an edler Lebensnorm aufscheint, verliert im Handeln der Akteure alle Verlässlichkeit, wird entwirklicht.“29 Gegen die negativierende Tendenz dieser Umkehrung hält Konrad allerdings sein Konzept einer quasi-natürlichen Hydraulik der Gefühle parat, ihrer Selbsterneuerung über neue Liebesobjekte, sowie die Barriere des Vergessens, die den Akteuren die eigene Psyche unzugänglich werden lässt. So bleibt die Moral unentschieden und die erzählte Wirklichkeit schillernd. Konrad und sein Stoff haben es den Männern erspart, verlassen zu werden. Insofern werden die Außen- und Innenweltkontingenzen einseitig bei den Männern variiert. Immerhin bieten das her und das mer der Stoffabundanz (vgl. V. 234 – 239) Konrad die Möglichkeit, an den verschiedenen Minne-mæren ein Fallspektrum zu entfalten, das solche Kontingenzen häuft und in ihrer partiellen Gleichförmigkeit zu betrachten erlaubt. Dabei arbeitet er Innenweltkontingenz gegen die Tradition der Minnedichtung heraus: Eine alte Minnebeziehung wird durch eine neue abgelöst, indem die Gefühle vergessen und ausgetauscht werden. Für die Figuren ist dieser Vorgang nicht absehbar und daher kontingent; nachdem aber Konrad seine Fallreihe gebildet hat, wird sichtbar, dass sich dies wie eine Art ,Liebesgesetz‘ nur immer wiederholt. Die Minne bleibt, während ihre Objekte/Opfer ausgetauscht werden – auch indem eine Person die Partner wechselt. Das macht die substanzielle unstæte der Minne aus. Sie sucht sich dabei von selbst ihre Objekte. Mal trifft dann die Rache der enttäuschten Frauen die Männer als Opfer, mal sterben sie aus anderen Gründen. Die Männer ster-

28 Dies liest Worstbrock, Franz-Josef: Der Tod des Hercules. Eine Problemskizze zur Poetik des Zerfalls in Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 1: Schriften zur Literatur des Mittelalters. Hg. v. Köbele, Susanne u. Kraß, Andreas. Stuttgart 2004, S. 246 – 258, hier S. 249 f., als besonders betonte Selbstanklage, die Konrads eigene Position artikuliert. Stackmann [Anm. 16], S. 246 – 248, hatte auf die Selbstanklage des Hercules aufmerksam gemacht. 29 Vgl. Worstbrock [Anm. 28], S. 253.

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Harald Haferland

ben,30 und die Frauen überleben unglücklich oder sterben ihnen nach. Minne führt nur Katastrophen herbei.31 Es ist immer wieder bemerkt worden, dass Konrad kaum eine seiner Figuren schlecht wegkommen lässt. Es ist unverträglich mit höfischem Stilgestus wie auch mit der höfischen Lebenseinstellung, schlecht über jemanden zu sprechen – wol sprechen ist Teil der höfischen Lebensform. Ein Ermrich oder Genelun etwa eignet sich hierbei nicht als Gegenstand des Erzählens. So bleiben vergleichbare Übeltäter wie Peleus bei Konrad unbewertet, und es werden Helden wie Jason und Hercules, deren Handeln immerhin ambivalent erscheint, immer noch in Superlativen gepriesen. Diese höfische Erzählhaltung distanziert Konrad so weit von seinen Figuren, dass sie als Persönlichkeiten nirgendwo Konturen gewinnen können, nicht einmal in der überzeichneten (und entsprechend typisierten) Form des falschen Ratgebers oder Verräters, also auch nicht in der des untreuen Liebhabers. Nicht einmal als Typen sind sie also kenntlich.32 Ihre Affekte und Gefühle erscheinen als Naturereignisse, ihre Innenwelt wie eine Außenwelt. Mithin erzählt Konrad die Resultate des Figurenhandelns als fatale Faktizität, wie sie nicht aus persönlichen Eigenschaften oder aus den Figuren als Persönlichkeiten hervorgeht, sondern in ihrem affektgeladenen Mit- und Gegeneinander als autonome Größe zustande kommt. Schon deshalb misslingen alle Versuche, dem vorhergesagten Schicksal zu entgehen. Deshalb auch greift die Handlungsmotivation oft auf den Zufall (vgl. von geschiht, von –ventiure, gelücke u. a. m.,33 Minne selbst ist durch Fortuna bestimmt34) zurück, wenn das Geschehen nicht weiter auflösbar erscheint. Zufall, Ausweichmanöver und die Verkettungen von affektbestimmter Aktion und Reaktion bestimmen die erzählte Faktizität. 30 Dass Paris, Jason, Achill und Hercules sterben und so das Schicksal einer ,bestraften Minneverfehlung‘ teilen (so im Anschluss an Stackmann [Anm. 16], S. 246 – 248, m. E. bereits irreführend Kokott [Anm. 5], S. 280), veranlasst auch Worstbrock [Anm. 28], hier S. 256 – 258, zu einer Remoralisierung von Konrads Erzählen. Treffend ist indes sein Resümee: „Der Treubruch aller Liebhaber und die Dissoziation von Minne und Ritterschaft indizieren, daß die im höfischen Roman vordem zentralen Modelle verantworteten Handelns, solche, die dem Ritter sælde und der Gesellschaft vröide versprachen, zerfallen sind.“ (S. 257). 31 „Dabei lässt Konrad eine rigoristisch-moralistische Position hinter sich […]. Er dekonstruiert minne im Zentrum der höfischen Welt selbst, indem er gerade ihre höchste Steigerung und ideale Vollkommenheit in ihre katastrophale Vernichtung umschlagen lässt.“ Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 460. 32 Wohl aber als lauter Exemplare eines über die Kriegsparteien hinweg generalisierten idealen Rittertypus. Vgl. hierzu Cormeau [Anm. 24], bes. S. 316. Cormeau arbeitet Konrads gegen seine Quellen behauptetes, dezidiert unparteiisches Erzählen heraus. 33 Vgl. hierzu vgl. Pfennig [Anm. 4], S. 185 f. 34 Zur Rolle der Fortuna vgl. ebd., S. 179 – 184, zur Vielschichtigkeit der Schicksalsinstanzen Kellner [Anm. 6], hier bes. S. 94–98.

Die Kontingenz der Innenwelt

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Konrad setzt sich letztlich doch ab vom moralisierenden Konzept einer unstæten minne: Er führt solche Minne nicht auf persönliches Ungenügen zurück. Vielmehr ist es eine Art Naturgesetz, dass minne sich erniuwet. Das zieht die Untreue und damit einen Betrug nach sich, der nicht beabsichtigt war. Wenn Konrad gar Innenweltkontingenz konzipiert, so geht er doch nicht soweit, dabei Formen der aktiven Selbsttäuschung anzuschließen. Obwohl er an den „Tristan“ und an Tristans Ver(w)irrung in der Isolde-Weißhand-Episode hätte anschließen können. Zu einer Vertiefung der Figurendarstellung gelangt Konrad nicht. Seine Figuren bleiben höfisch flach, da sie nur Rädchen im Getriebe des Krieges und heteronome Repräsentanten der unstæten minne sind.

Johannes Keller (Wien)

Verborgene Küsse – gefesselte Füße. Das „St. Trudperter Hohelied“ am Scheideweg

1.

Verstellung – Geheimnis – Betrug

Verstellung und Betrug rufen zumeist negative Assoziationen hervor. Zunächst denkt man dabei an ,weltliche Dinge‘, an Macht, Liebe und Politik, und in einem zweiten Schritt vielleicht auch an die Fragen, die die Fiktionalität des Literarischen thematisieren. Um diese positive Komponente zu fassen, habe ich meinen Vorüberlegungen den Begriff ,Geheimnis‘ zur Seite gestellt, der im Folgenden ebenfalls eine Rolle spielen wird. Die auf Verstellung und Betrug zurückgehenden semantischen Konnotationen sind auf den ersten Blick nicht mit einem religiösen Text wie dem „St. Trudperter Hohelied“ vereinbar, das um 1160 wahrscheinlich im Benediktinerkloster Admont in der heutigen Steiermark entstanden ist.1 Die folgenden Überlegungen möchten einige Facetten dieses thesenartig angenommenen Verhältnisses zwischen Verstellung, Betrug und dem „St. Trudperter Hohelied“ beleuchten. Das „St. Trudperter Hohelied“ kommentiert das „Hohelied“ des Alten Testaments erstmals vollständig in der Volkssprache. In meinem Zusammenhang sind dabei zwei Punkte entscheidend: erstens, dass es sich bei dem „St. Trudperter Hohelied“ um einen Kommentar handelt, und zweitens – dies pointiere ich thesenartig –, dass der kommentierte Text, das „Hohelied“, mit der Thematik seines Kommentars nichts zu tun hat, denn das aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert stammende, hebräische „Hohelied“ ist eine Folge von Liebesgedichten, die weder Gott als Geliebten, noch Maria oder die Kirche oder einzelne Seelen erwähnt.2 1 Den Stand der Forschung in Bezug auf die örtliche Verankerung des „St. Trudperter Hohelieds“ im Nonnenkloster Admont, die bereits Ohly (Ohly, Friedrich: Geist und Formen der Hoheliedauslegung im 12. Jahrhundert. In: ZfdA 85 (1954/55), S. 181 – 197.) vertreten hat, fasst Spitz zusammen: Spitz, Hans-Jörg: Zur Lokalisierung des St. Trudperter Hohenliedes im Frauenkloster Admont. In: ZfdA 121 (1992), S. 174 – 177. 2 Die im Mittelalter gebräuchliche Bezeichnung ist mit „canticum canticorum“ die Lateinische nach der „Vulgata“, die sich ihrerseits an das Hebräische anlehnt. Zur Rezeption und Kanonisierung des „Hohelieds“ siehe: Das St. Trudperter Hohelied. Eine Lehre der liebenden

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Kommentare haben nach Foucault die „Aufgabe, das schließlich zu sagen, was dort [im Ausgangstext; Hervorhebung von Foucault] schon verschwiegen artikuliert war. Er [der Kommentar] muß (einem Paradox gehorchend, das er immer verschiebt, aber dem er niemals entrinnt) zum ersten Mal das sagen, was doch schon gesagt worden ist, und muß unablässig das wiederholen, was eigentlich niemals gesagt worden ist“3. Kommentare bringen demnach etwas zum Ausdruck, was im Ausgangstext bereits vorhanden ist, allerdings nur im Verborgenen, Verschwiegenen. Und Kommentare wiederholen dieses Verschwiegene ständig. Wie das „St. Trudperter Hohelied“ mit dieser Problematik umgeht, und ob dabei Verstellung oder sogar Betrug eine Rolle spielen, ist eine der Leitfragen der folgenden Überlegungen. Dabei geht es mir nicht um eine Wertung, sondern der Fokus liegt auf dem ,Wie‘ der Umsetzung. Welche sprachlichen Figuren verwendet der Text, und wie sieht das Verhältnis von Verschwiegenem zu Gesagtem aus? Oder im Anschluss an Überlegungen von Manfred Kern in diesem Band: Metaphern, Verstellungen und narrativer Überschuss prägen die Rezeption der meisten philosophischen, theologischen und literarischen Texte auf grundlegende Art und Weise. Dabei gilt es insbesondere, die spezifische Rezeption des „St. Trudperter Hohelieds“ im Rahmen der klösterlichen Unterweisung von Nonnen im Blick zu behalten.4 Etwas ausführlicher gehe ich auf Fragen der Rezeption am Ende meines Beitrags ein, worauf die im Titel genannten „gefesselten Füße“ anspielen. Neben der Diskussion um das „St. Trudperter Hohelied“ als Kommentar ist aber auch eine text- oder besser : kommentarimmanente Ebene zu betrachten. Dabei gehen Betrug und Verstellung Hand in Hand. Wie dies geschieht, zeigt der erste Teil meines Beitrags anhand der Inszenierung des Teufels; eine Bedrohung, die mit der Erschaffung des Teufels einsetzt und sich über Adam und Eva bis in die Gegenwart des Texts fortsetzt. In der mittelalterlichen Literatur ist immer wieder von der Kongruenz von Innen und Außen die Rede. Im Bereich der religiösen Texte wird diese Kongruenz ergänzt durch die Dichotomien Leib-Seele, Altes Testament-Neues Testament und Gott-Teufel, um nur einige Beispiele zu nennen. In diesem Spannungsfeld ist es wichtig, die Begrifflichkeit zu erweitern: Obwohl die Verstellung Gotteserkenntnis. Hg. v. Ohly, Friedrich unter Mitarbeit von Kleine, Nicola. Frankfurt, Main 1998 (Bibliothek des Mittelalters 2), S. 320 – 323. 3 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt, Main 2003 (11991), S. 19. 4 Vergleiche dazu Ohly, Friedrich: Das St. Trudperter Hohelied. In: Verfasserlexikon Band 9 (1995), Sp. 1089 – 1106, Sp. 1090. Zusammenfassend zum Stand der Forschung auch in Bezug auf Fragen der Autorschaft Stridde, Christine: Verbalpräsenz und göttlicher Sprechakt. Zur Pragmatik spiritueller Kommunikation ,zwischen‘ St. Trudperter Hohelied und Mechthilds von Magdeburg Das Fließende Licht der Gottheit. Stuttgart 2009, S. 174 – 177, S. 187 – 190.

Verborgene Küsse – gefesselte Füße

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zunächst als teuflische Täuschung erscheint, hat sie auch eine positive Komponente, die mit dem Begriff ,Geheimnis‘ gefasst werden kann. Im zweiten Teil meiner Überlegungen gehe ich anhand der verborgenen Küsse der Frage nach, ob der positiv besetzte Terminus des Geheimnisses dem hier thematisierten Kontext angemessen ist. Neben dieser qualitativen Einordnung steht aber auch in der Diskussion der Kussthematik die rhetorische und strukturelle Komposition des Texts im Vordergrund.

2.

Betrug und Täuschung: Lucifer

Die Rede vom Teufel als Betrüger und Blender ist topisch. Das „St. Trudperter Hohelied“ erwähnt die Erschaffung des Teufels bereits in der Diskussion des ersten Hoheliedverses („Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes / Denn deine Brüste sind lieblicher denn Wein“5, Hld 1f.). Dass dabei auch von der Gefahr die Rede ist, eine Gabe mehr zu lieben als deren Geber, deutet bereits an, wie weit sich der Kommentar vom Ausgangstext entfernen kann. Die Missachtung des Gebers sei die Quelle von Habgier (girde), zügelloser Unzucht (üppeger guonl„che) und Hoffart (übermuote).6 Dies exemplifiziert der Text am Beispiel des Teufels: Lucifer den geschuof got in j der oberesten saelekeit unde in j der oberesten schoene unde in deme oberesten w„stuome nach j ime selben. dú minnete er die g–be mÞre danne den j gebaere. von dannen geviel er durch die húchvart j unde vlús die diemuot unde die heiligen minne. j durch s„ne übele vlús er die saelekeit. des w„sjtuomes bestuont ime etewaz. (12,1 – 9)

Lucifer ist bei seiner Erschaffung ein Spiegel Gottes, Gott verleiht ihm höchste Herrlichkeit, Weisheit und Schönheit wie sich selbst (nach ime selben). Dabei bezieht sich saelekeit auf den Vater, schoene auf den Heiligen Geist und w„stuom auf den Sohn.7 In Lucifer bildet sich die Trinität ab. Doch die Spiegelung Gottes ist deswegen eine Täuschung, weil das Spiegelbild nicht Gott, sondern nur noch sich selbst schätzt.8 übermuot und húchvart bezeichnen gemeinsam die erste 5 Ich zitiere die Bibel nach: D. Martin Luther : Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. Hg. v. Volz, Hans unter Mitarbeit von Blanke, Heinz. Textredaktion Kur, Friedrich. München 1972. 6 Das St. Trudperter Hohelied [Anm. 2], 11,34 – 12,1. Im Folgenden zitiere ich im Fließtext nach der Nummerierung der Edition von Ohly. 7 Ebd., Kommentar, S. 570. Ohly hat für diese spezifische Zuordnung keine weiteren Belege gefunden. 8 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Stridde [Anm. 4, S. 198]: „Die scheinbare Ähnlichkeit ist allerdings trügerischer Natur“. Damit spricht sie die Täuschungsabsichten des Teufels an, die auch Gegenstand meiner Überlegungen sind.

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Todsünde, die Hoffart. Lucifer verliert alles, bis auf einen kleinen Teil der Weisheit, der ihm auch im Fall bleibt. Diese auf den ersten Blick überraschende Tatsache hat eine lange Tradition, die von Augustins Erörterung über das Wissen der Dämonen in der „civitas dei“ bis hin zur Diskussion des Wissens der gefallenen Engel im „Elucidarium“ des Honorius reicht.9 Die im Kleinen weiterhin bestehende Gottähnlichkeit führt dazu, dass Gott und Teufel im ersten Prolog des „St. Trudperter Hoheliedes“ (es besitzt zwei Werkeingänge) auf erstaunliche Art und Weise miteinander verglichen werden: der heilige geist ist ein liep, der tiuvel zeiget dir ouch s„n liep. (der heilige geist h–t mandunge, trúst, minne),10 der tiuvel h–t mandunge, trúst, minne. der heilige geist ist daz viur, der tiuvel ist alsame. iedoch der heilige geist entv–het unde eitet brennet unde zerl–t daz golt oder daz silber. der tiuvel entv–het daz saflúse holz unde swerzet ez zem Þrsten mit suggestione. sú brinnet ez von delectatione. sú glüejet ez als ein zandere von consensu. sú wirt ez ein valwische von opere. der asche genazzet von consuetudine. sú wirt der mennsche ein einvalt hore. der heilige geist der brennet die memoriam, er erglüejet die rationem, er zerl–t die voluntatem. (1,6 – 18)

Die Spiegelung ist also weiterhin gegeben, nur steht sie nach dem Fall Lucifers unter pervertierten Vorzeichen. Während im ersten Zitat (12,1 – 9) der Teufel selbst die Konsequenzen seiner Hoffart zu tragen hat, sind es hier nun die Menschen, die sich vom Teufel täuschen lassen. Auf der einen Seite verkörpert der Heilige Geist die Liebe, auf der anderen Seite zeigt der Teufel einem direkt angesprochenen Du seine Liebe; eine Formulierung, die bereits den signifikanten Unterschied zwischen den beiden Arten von Liebe verdeutlicht. Die 9 Vergleiche Ohly [Anm. 2], Kommentar, S. 570. 10 Der Satz ist eine Konjektur des Herausgebers.

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Personalpronomen im Vers der tiuvel zeiget dir ouch s„n liep betonen die als negativ-egoistisch gewertete Qualität der Liebe des Teufels. Doch zunächst stellt der Text die Gemeinsamkeiten wieder in den Vordergrund: Teufel und Heiliger Geist sind beide Feuer (der heilige geist ist daz viur, / der tiuvel ist alsame), beide verfügen sie über Freude, Trost und Liebe (mandunge, trúst, minne). Doch die Auswirkungen des jeweiligen Feuers stehen sich diametral entgegen: Das Feuer des Heiligen Geistes bringt Gold und Silber zum Glühen und Schmelzen, dasselbe geschieht mit Gedächtnis, Vernunft und Willen, womit die drei Seelenkräfte des Menschen benannt sind, der ja, wie vor ihm der Teufel, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde.11 Etwas später heißt es demnach: „d– wirt si [die Seele] zerrennet als ein wahs mit der hitze des heiligen geistes“ (13,13f.). Das Bild des Schmelzens, das sich mit Gold, Silber, dem Willen oder, wie im zweiten Zitat, mit der ganzen Seele verbindet, ist das Gegenbild zur Hoffart, die sowohl im Fall Lucifers als auch im Fehltritt Adams und Evas zum Ausdruck kommt. Im Schmelzen bleibt nichts Eigenes erhalten, der Mensch wird mit Gott eins – in einem Vorgriff auf die Bildsprache der Mystik, gleichzeitig aber auch im Rückgriff auf eine lange, schon biblische Bildtradition.12 Ganz andere Auswirkungen hat das trügerische Feuer des Teufels: zunächst greift es das dürre Holz an (Versuchung), darauf folgt die Freude daran (delectatio), es geht weiter mit dem Erglühen wie Zunder (Zustimmung), und es endet in Asche (der Tat), die ihrerseits wieder die Gewohnheit nach sich zieht. Übrig bleibt der Mensch als ,dummer‘ Dreck (einvalt hore).13 Während also das Feuer des Heiligen Geistes nach innen auf die Seelenkräfte wirkt, ist das teuflische Feuer über die Sündenstufen auf einem Weg von innen nach außen: dies wird zwar nicht explizit gesagt, lässt sich aber aus dem Endergebnis schließen, 11 Vergleiche Ohly [Anm. 2], Kommentar, S. 414, der auf die Trinitätslehre Augustins hinweist. Später wurde memoria mit dem Vater, die intelligentia mit dem Sohn und die voluntas mit dem Heiligen Geist verbunden. Gleichzeitig finden sich an der Stelle (S. 414f.) umfangreiche weiterführende Literaturhinweise zu der Lehre von den Seelenkräften. 12 Auf die in der Forschung immer wieder aufkommende Debatte, inwiefern das „St. Trudperter Hohelied“ bereits mystische Tendenzen aufweise, kann ich hier nur hinweisen. Die Verbindung betont Keller, Hildegard Elisabeth: Wort und Fleisch. Körperallegorien, mystische Spiritualität und Dichtung des St. Trudperter Hohenliedes im Horizont der Inkarnation. Bern etc. 1993 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 15). Stridde beispielsweise versucht einen mir durchaus einleuchtenden Zugriff über Luhmanns Begriff der „Kommunikationsvermeidungskommunikation“ (Stridde [Anm. 4], S. 152, mit Hinweis auf Luhmann, Niklas: Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt, Main 1997, Band I, S. 235); deutlich kritischer sieht dies demgegenüber Köbele, Susanne: Rezension zu Stridde [Anm. 4], Arbitrium 32 (2014), S. 279 – 285, S. 283, wobei sie eine Antwort auf die Frage vermisst, „wie man textuellen ,Kommunikationsstrategien‘ hermeneutisch begegnet. Literatur ist, systemtheoretisch gesehen, immer (nur) Kommunikation.“ 13 Grundsätzlich ist der Leib der Ort des Wertlosen, Schmutzigen und Giftigen: der l„p ist ein eijterhaftez hore (128,23f.).

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das nur den einvalt hore zurücklässt. Für unseren Zusammenhang ist hier die wertende Opposition von innen und außen bezeichnend; gleichzeitig beginnt an dieser Stelle die im ganzen „St. Trudperter Hohelied“ grundlegende Diskussion von vita activa und vita contemplativa.14 Wichtig an der zitierten Stelle ist die durchdachte Komposition, sowohl was die einzelnen Reihen als auch was die Gegenüberstellung von Heiligem Geist und Teufel betrifft. Zahlensymbolik und die Verschränkung des Kommentars mit anderen Bibelstellen spielen im „St. Trudperter Hohelied“ eine grundlegende Rolle.15 Der Teufel ist Teil eines betrügerischen Netzwerks. Zunächst führt der Text aus, dass die Tugend ohne die Versuchung nicht bewahrt werden kann (62,14f.). Die Versuchung ist, wie später die Gottferne in der Mystik, notwendiger Bestandteil des Wegs zu Gott. Die Versuchung, die bekorunge, hat folgende Möglichkeiten des Zugriffs: einweder jvon der bloede oder von der armecheit des menjneschen oder von den übelen oder von den lügenjden menneschen oder von der grimmegen übele j des tiuveles (62,19 – 22). Ursprung der Versuchung ist die Schwäche (bloede) oder die Armseligkeit (armecheit) des Einzelnen, darauf zielen böse und lügnerische Menschen; den Höhepunkt bildet das gnadenlose Bösesein (grimmegen übele) des Teufels. Wie der Heilige Geist Liebe ist, ist hier nun der Teufel, in einer dem zweiten Zitat (1,6 – 18) vergleichbaren Formulierung, die Verkörperung des Bösen. Das Betrugspotential, das sich noch in der Verbindung des Teufels mit Feuer und Liebe gezeigt hat, scheint hier einer schonungslosen Offenheit gewichen zu sein. Diese Offenheit wird aber ergänzt durch betrügerische Umwege, die der Teufel einschlägt: einerseits wirkt er über die Lügner auf die Schwachen ein, andererseits attackiert er auch die Starken, indem er sie verzweifeln lässt, so dass sie keine Hoffnung auf Erlösung haben: diz ist der nortwint, daz j ioch guote unde harte gearbeite menneschen in j missetriuwe koment, daz si niht enwaenent 14 Vergleiche dazu Spitz, Hans-Jörg: ,Spiegel der Bräute Gottes‘. Das Modell der vita activa und vita contemplativa als strukturierendes Prinzip im St. Trudperter Hohen Lied. In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposium Kloster Engelberg 1984. Hg. v. Ruh, Kurt. Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien. Berichtsbände VII), S. 481 – 493. 15 Mit Ohly verweise ich an dieser Stelle auf die bereits genannten drei Seelenkräfte, dann aber auch auf die Siebenzahl der Gaben des Heiligen Geistes sowie auf die Fünfzahl der Sündenstufen, die man bereits bei Hugo von St. Viktor findet. Dieser äußert sich ganz ähnlich wie das „St. Trudperter Hohelied“: Per superbiam igitur cor inflatur, per invidiam arescit, per iram crepat, per tristitiam conteritur, et quasi in pulverem redigitur ; per avaritiam dispergitur, per gulam inficitur et quasi humectatur, per luxuriam conculcatur et in lutum redigitur („Das Herz wird von der Hoffart angeblasen, durch den Neid erdorrt, durch den Zorn prasselt es, durch die Habgier wird es ausgestreut, durch die Schlemmerei wird es angemacht und wie befeuchtet, durch die Geilheit niedergetreten und in Schmutz verwandelt“). Zitiert nach: Ohly [Anm. 2], Kommentar, S. 410 unter Bezugnahme auf Hugo von St. Viktor „De quinque septenis“ (PL 175,407D) und „In Abdiam“ (PL 175,402D).

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j ze genesenne. súne triuwet si der tiuvel niht j bringen ze deheineme wirserem dinge, sú bringet j er si in die egeslichen vorhte umbe eine wÞnige j sünde (62,22 – 28). Die Versuchungen, die die hervorragenden Menschen zu ertragen haben, sind deutlich schwieriger zu bestehen als diejenigen, die die Lügner und Schwachen erleiden müssen. Mit der missetriuwe ist die desperatio, die theologische Verzweiflung gemeint.16 In dieser Lage ist der Weg zu Gott verstellt, Gott entzieht sich und stellt den Menschen auf die Probe. Diese, im religiösen Kontext, positive Verstellung Gottes steht dem Betrug des Teufels entgegen. Sowohl Gott als auch der Teufel ,arbeiten‘ mit Verstellung und Betrug: Gott verstellt sich, dann versucht der Teufel zu betrügen, was für das anschließende Sich-wieder-Einstellen Gottes eine notwendige Voraussetzung ist. Erst dann stellt sich unverstellte Freude ein: wande der tiujvel nehazzet an uns niht sú harte sú die staetegen j mandunge unde daz ringe gemüete (95,32 – 96,1). Und: die guoten, sú der j tiuvel iemÞre aehtesal ane sie kÞret, sú sie ie j vastere brinnent in der gotes minne (137,22 – 24). Der bereits erwähnte Nordwind zeigt, wie der Text, ausgehend vom alttestamentarischen „Hohelied“, verfährt. Zunächst werden die entsprechenden Verse zitiert: hebe dich nortwint unde wâ durch mîjnen garten unde kum sunderwint unde wâ durch j mînen garten, deste baz stinkent j sîne bîmente (62,6 – 9).17 Danach werden beide Winde gemäß einer langen exegetischen Tradition mit unterschiedlichen Versuchungen zusammen geführt.18 Der Nordwind führt Verzweiflung auch für die Erprobten mit sich, während die Südwinde alle Heuchler und Schmeichler herbeibringen, die der Teufel zu den Sich-Bemühenden schickt (63,2 – 8).19 Aus moderner literaturwissenschaftlicher Sicht ist dies ein hermeneutischer Gewaltakt, der die Frage nach dem Betrüge16 Vergleiche Ohly [Anm. 2], Kommentar, S. 901. Ohly weist darauf hin, dass „die Versuchungen nicht durch die Verfolgungen der Kirche, sondern durch der Gläubigen Verwirrung“ geschehen und zitiert dazu Honorius Augustodunensis, der von tribulatio fidelium spricht (PL 172,429D). Auch die Verbindung vom Nordwind mit der Verwirrung ist in der Tradition belegt, und zwar bei Gilbert von Hoyland, der den aquilo tribulationis (PL 184,201D – 202 A) erwähnt. 17 In Luthers Übersetzung lautet die Passage wie folgt: „Stehe auff Nordwind vnd kom Sudwind / vnd webe durch meinen Garten / das seine Würtze trieffen“ (Hld 4,16). 18 Nach Ohly [Anm. 2], S. 895 – 897, gibt es seit den Kirchenvätern zwei Interpretationen von Nord- und Südwind, die sich gegenseitig ausschließen. Einerseits kann der Nordwind als negative Versuchung gesehen werden, die vom Südwind überwunden wird. So weist beispielsweise Gregor der Große darauf hin, dass der Südwind mit dem Heiligen Geist zusammen gehe, während der Nordwind den Teufel verkörpere. Andererseits gibt es einen zweiten Überlieferungsstrang, der beide Winde negativ auslegt. In dieser zweiten Traditionslinie sei nach Ohly auch das „St. Trudperter Hohelied“ zu verorten. 19 diz j ist des tiuveles list. er tr„bet die gotes erwelten j ze den unmaezlichen arbeiten, sú er sie an die j wirseren niht bringen mac, daz in der l„p j versm–het unde si sú geirret werdent. er sendet j in zuo gl„chesaere unde smeichaere, die si mit j húnkusten lobent, daz si ir arbeite alsú verliejsent. daz sint die sunderen winde.

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rischen dieser Art von Interpretation aufwirft, die ich zum Schluss behandeln werde. Der Hoheliedvers gêt ûz, j ir iuncvrouwen (46,2) führt dazu, dass der Text auf die Passion und die Erlösung anspielt, als Christus alle die welt j erlúste von der vinstern helle unde von deme j gewalte des tiuvels. diz allez worhte der j heilige geist in der tougenen kamere, daz j was diu wambe der gotes muoter (46,10 – 15). Die Erlösung ist hier nicht nur allgemein gemeint, sondern spielt auch auf Christi Höllenfahrt an, die nach apokrypher Überlieferung zwischen Karfreitag und Ostersonntag stattgefunden hat. Durch die Befreiung der Propheten und Väter aus der Hölle bricht Christus die Macht des Teufels, der alte Adam ist überwunden. Gleichzeitig führt mich dies zum einleitend erwähnten Geheimnisvollen, das in der zuletzt zitierten Stelle mit der ,verborgenen Kammer‘ als Ausgangspunkt der Erlösung erscheint.

3.

Geheimnis: verborgene Küsse

Die verborgene oder geheimnisvolle Kammer ist nicht, wie man zuerst denken könnte, die finstere Hölle, sondern der Bauch Marias. Mit tougen evoziert der Text den Topos der Unsagbarkeit, nur um sich dann gleich selbst zu widerlegen, indem er genau sagt, was mit der tougenen kamere gemeint ist. Darauf wird erklärt, dass das folgende Kapitel von der Gottesmutter handle, was das „St. Trudperter Hohelied“ mit einem Zitat von Hohelied 4,1 bekräftigt: wie schoene dû bist, vriundinne mîn! dîniu j ougen daz sint tûben ougen, âne daz, daz innerjlachen verholn ist (46,16 – 19). In Luthers Übersetzung von 1545 fehlt der Zusatz âne daz, daz innerjlachen verholn ist: „SJhe meine Freundin / du bist schön / Sihe / schön bistu. Deine Augen sind wie taubenaugen / zwisschen deinen Zöpffen“ (Hld 4,1).20 Die „Vulgata“ bietet absque eo quod intrinsecus latet, die Einheitsübersetzung von 1984 „Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier“. Dass die Stelle problematisch ist, zeigen die unterschiedlichen Übersetzungsvorschläge. Unklar ist, welches Innen gemeint ist; der Schleier, oder eben die Zöpfe, verhüllt nicht nur die Augen, sondern ist auch ein Bild für die sich verhüllt überlagernden Sinnebenen. Wenig überraschend ist allerdings der Weg, den das „St. Trudperter Hohelied“ einschlägt: die Tauben stehen für den Heiligen Geist, der die Augen Marias – die übrigens direkt adressiert wird – erleuchtet hat; die Augen selbst stehen für 20 Nicht unerwähnt lassen möchte ich an dieser Stelle auch Luthers [Anm. 5], Hld 4,1, Erklärung der Zöpfe in der Randglosse: „Er meinet die Harlocken / welche nach natürlicher alter weise / vngeflochten vnd zurück geschlagen / den Weibsbildern / fast wol stehen / wenn sie mit volligem angesicht vnd rötlichten backen er aus sehen / vnd die Har zu beiden seiten herab hengen vber die ohren vnd achseln.“

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den gütigen Blick Marias, der im Folgenden genauer in seiner Wirkung beschrieben wird. Auch auf der rhetorischen Ebene ist es für das „St. Trudperter Hohelied“ evident, dass der Hoheliedvers gedeutet werden muss: daz qu„t: der heilige geist, j der die t˜ben bezeichenet, der h–t d„niu ougen j entliuhtet, daz d˜ siu guotl„che h–st gekÞret zallen j menneschen (46,19 – 21). Für meinen Zusammenhang sind weniger die Details interessant, als dass in dem Abschnitt über die Augen und den Blick Marias zwei Mal das Adverb verholn (46,30 und 47,9) und ein Mal das Substantiv getougen (47,1), das heißt ein Geheimnis, erwähnt wird. Auch wenn ich durch dieses Herausstreichen einzelner Begriffe vielleicht allzu sehr von meinem zu kommentierenden Kommentar, dem „St. Trudperter Hohelied“, affiziert bin – wichtig ist mir, dass in der direkten Beziehung Marias und mit ihr aller Christen zu Gott der Bereich des Geheimnisvollen überhand nimmt. Paradigmatisch dafür ist das Thema des Kusses, das in einer gleichzeitig beeindruckenden und haarsträubenden Fantasie zu Hohelied 1,1 zu Beginn unseres Textes entfaltet wird – „ER küsse mich mit dem Kusse seines Mundes / Denn deine Brüste [Einheitsübersetzung: Liebe] sind lieblicher denn Wein“21. Warum ich von Fantasie spreche, soll das folgende Zitat zeigen, das wiederum eine an Maria gerichtete Rede bietet: vone diu sú newart nie nehein j sÞle sú liepl„che geküsset. der munt d– mite j si kuste, daz was ir wille unde ir minne. der was j gestecket an s„ne güete unde an s„ne gen–de. der j munt ist zuoget–n küssende, er wirt ˜fget–n j sprechende. er hete si Þ geküsset Þ er ir zuo j spraeche. er was der küssende, sie minnende. j si was diu gekuste, in minnende. (8,28 – 34)

Ohne dass der Hoheliedvers zitiert wird, umspielt der Kommentar die zentralen Begriffe Kuss und Mund. Graphisch verdeutlicht dies die Ausgabe Ohlys mit den Kapitälchen, die für die aus dem „Hohelied“ zitierten Begriffe gesetzt werden. Geküsst wird zunächst nicht der Mund, sondern die Seele Marias. Dieser Seelenkuss bedeutet eine radikale Verlagerung des Geschehens ins Innere. Fortgesetzt wird dies darin, dass der Mund sofort auf wille und minne Marias hin ausgelegt wird, die sich ihrerseits mit der göttlichen Güte und Gnade verbinden. Während wenige Zeilen zuvor (8,16) noch vom Mund der ganzen Menschheit die Rede war, ist jetzt eindeutig der Mund Marias gemeint. Im Kuss Marias bleibt die körperliche Komponente trotz den zitierten Abstraktionen im Verb gestecket durchaus erhalten. Es kann mit ,gedrückt‘ oder ,angeheftet‘ übersetzt werden, im Lateinischen heißt es an der Stelle imprimere. Später im „St. Trudperter Hohelied“ wird das Bild mit der Anrede Christi an jede Braut fortgesetzt: in j m„ne s„ten d– solt˜ d„nen munt unde d„n herze j allezane steckende s„n (34,29 – 31). 21 Zitiert nach Luther [Anm. 5], Hld 1,1.

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Auch hier verbindet sich wieder das Konkrete mit dem Abstrakten, dazu kommt auch die zeitliche Ausdehnung in ein nicht genauer ausgeführtes ,Immer‘ (allezane). Gewissermaßen physiologisch fährt der Text fort mit der Aussage, dass der Mund beim Küssen geschlossen, beim Sprechen aber offen sei (!). Wichtiger als dieses Detail ist aber die Abfolge von Küssen und Sprechen, die überleitet zu einer Interpretation, die das „Hohelied“ mit dem Beginn des Johannes-Evangeliums verknüpft („Im Anfang war das Wort etc.“). Zunächst aber erhält Gott im Küssen die aktive Rolle gegenüber dem passiven Geküsst-Werden Marias; demgegenüber gilt die Gegenseitigkeit für das Lieben Marias und Gottes. Im Blick auf die ganze zitierte Stelle erscheinen die Küsse sowohl ganz real als auch im Inneren verborgen. Es entsteht ein Oszillieren zwischen Innen und Außen, das die Küsse gleichzeitig entzieht und präsentiert.22 Bereits angesprochen habe ich die Fortsetzung dieser Textpassage in einer Interpretation des Johannes-Evangeliums. Damit wird nicht nur der assoziative Fantasiecharakter des mittelalterlichen Kommentars fortgeschrieben, sondern auch das Wort in seinem Ursprung, nämlich bei Gott, verortet. Das ursprüngliche Wort Gott oder Gottes ist und bleibt Geheimnis, wie es dies nach unserem Text auch in der Verkündigungsszene bleibt: von diu sprach er ir zuo ein wort (9,1). Wichtig ist der unbestimmte Artikel, das Wort selbst erfahren wir nicht, allerdings wird es in einem neuen Interpretationssprung mit Erbarmen, Weisheit und Wahrheit zusammengeführt. Mit dem Wort geschieht etwas Ähnliches wie mit den Küssen: Zwischen Verschweigen und exzessivem Benennen entsteht ein Überschuss, der nicht leicht einzuschätzen ist; ,Geheimnis‘ ist eine Möglichkeit, die ich bereits in der Einleitung erwähnt habe. Neutraler scheint mir aber die Verstellung, weil sie sowohl die positiven als auch die negativen Komponenten fassen kann. Das „St. Trudperter Hohelied“ versucht gegen Ende, diejenigen Gegensätze zu harmonisieren, die sich aus dem Konflikt zwischen Innen und Außen mit der deutlichen Privilegierung eines geheimnisvoll-göttlichen Innen ergeben haben. Die Deutung von Hohelied 8,1 geht aus von der Übersetzung: Wer geweret mich des, daz ich j dich bruoder sehe sûgen die brüste mîner muoter, j unde daz ich dich dâ ûzen unde innen küssen müeze j unde mich dar nâch niemen nevermane (126,29 – 127,1).23 Wichtig ist mir aber nicht die Überset-

22 Eine logische Erklärung dieser Abfolge versucht Stridde [Anm. 4], S. 238: „Sprechen und Küssen bei diesem ersten Kuß konnten also nicht gleichzeitig geschehen. Deshalb sprach Gott zu Maria auch erst, nachdem er sie geküßt hatte (8,30 – 33). Wille und Liebe begegnen Güte und Gnade im stummen Kuß, das Wort dringt erst dann hervor in die Ohren des Gedächtnisses und der Andacht der Jungfrau.“ 23 In der Einheitsübersetzung heißt es allerdings: „O dass du mein Bruder wärest, der meiner

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zungsproblematik dieser Passage, sondern die Lösung, die der Text in Bezug auf das innere und das äußere Küssen vorschlägt: daz qu„t: sie minnent in j in ir reinen sÞle, sú daz nehein stat j enist, erne s„ in gegenwürtic in süezere gen–de. j sú suln wir in ouch ûzen küssen. daz qu„t: wir j suln unsere wirtschaft zeigen mit deme reinen lejbenne geistlicher zuht. sú minnen wir got innen j unde ûzen. súne dürfen wir niht angesten, daz j wir iemer werden vermanet. daz qu„t: habe die j minne unde tuo swaz d˜ wellest. (127,20 – 28)

Die Rede ist von denjenigen, die Gott und ihre Nächsten gleichermaßen lieben. Das innere Küssen ist ein Lieben in der Seele, das Christus immer gegenwärtig sein lässt. Doch das Innen, die Konzentration auf das Verborgene und Geheime, genügt nicht. Das äußere Küssen bezieht der Text auf das reine Leben in geistlicher Zucht, womit die ursprünglichen Adressatinnen des Texts direkt angesprochen sind. Das Klosterleben kann nicht reine Kontemplation sein, sondern die vita activa, unsere wirtschaft, ist wesentlicher Bestandteil des Alltags. So ist kein Tadel mehr zu fürchten, was heiße: habe die j minne unde tuo swaz d˜ wellest. Dies scheint nicht nur für die Nonnen des Klosters, sondern auch für den anonymen Interpreten des Hohelieds zu gelten. In vielen, durchkomponierten und eine breite theologische Tradition aufnehmenden Abschnitten werden derart viele Aspekte des Küssens besprochen, dass dieses sich zum Schluss komplett entzieht. Die Küsse des alttestamentarischen Liebeslieds werden zu den verborgenen Küssen des „St. Trudperter Hohelieds“. Die eingangs gestellte Frage nach der rhetorischen und interpretatorischen Vorgehensweise ist nun bereits mehrfach angesprochen worden. Dennoch möchte ich zum Schluss nochmals auf das Thema von Verstellung und Betrug im Zusammenhang mit der kommentierenden Auslegung des Hohelieds zurückkommen:

4.

Verstellung als und am Scheideweg

Zu Beginn des zweiten Werkeingangs fragt der Text, was die cantica canticorum (6,4f.) seien: n˜ sehen waz daz sanc s„. ez ist sanc aller sange (6,5f.). Und einige Zeilen später : ez ist ein umbehalsen des wineclichen kusses (6,19). Am Anfang des „St. Trudperter Hohelieds“ scheint also alles klar zu sein: Der Text, der kommentiert wird, ist eine küssende Umarmung. Erst in der oben geschilderten Ausdeutung tritt die geschilderte Verstellung ein. Der Kuss wird damit zur Metapher des Sich-Entziehens, in dem Sinn, dass sich der anfängliche umarMutter Brüste gesogen! Fände ich dich draußen, so wollte ich dich küssen und niemand dürfte mich schelten!“ (Hld 8,1).

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mende Kuss in zahlreiche Spielarten auflöst, die zwischen innen und außen, zwischen Konkretem und Abstraktem schwanken. Der Scheideweg, den ich im Titel angesprochen habe, dient als Bild für die Entscheidungen zwischen Gut und Böse und zwischen außen und innen, ein Bild, das das „St. Trudperter Hohelied“ prägt. Der Wunsch nach Klarheit zeigt sich in diesen deutlichen Oppositionen, allerdings verwischt sich die Grenze auch immer wieder, zum Beispiel wenn es von der Hochzeit und dem guten Willen heißt: wande er leitet die guoten in den hoehsten himel. er leitet die übelen an den grunt der helle (14,1f.). Es scheint also eine geglückte und eine verunglückte Hochzeit zu geben, auch wenn Ohly in seinem Kommentar anmerkt, dass im zweiten zitierten Satz mit „er“ der böse Wille gemeint sein müsse. In dem Wunsch nach Klärung entstehen so neue Unklarheiten, das „St. Trudperter Hohelied“ verstellt den Blick auf das Lied der Lieder.24 Eine Facette davon ist die in religiösen Texten des Mittelalters häufige Invektive gegen weltliche Literatur, die im „St. Trudperter Hohelied“ besonders brisant ist, da ja ein augenscheinlich weltlicher Text kommentiert wird. Ausgehend von dem Hoheliedvers mirra unde aloe ist in dîneme garten gewahsen (61,6f.) heißt es zur Bedeutung von Myrrhe: Ein junger Mensch soll vliehen diu veizten unde diu zartlichen muos j unde den langen sl–f unde sol vliehen weltlichiu j maere unde üppege kúse, unde sol sich gesellen j zuo den guoten, unde sol sich n–hen den heiligen j leczen (61,14 – 18). Diese Flucht vor weltlichem Erzählen zeigt das „St. Trudperter Hohelied“ auf überraschende Weise. Die weltliche Literatur wird nicht einfach beiseite gelegt und durch die Evangelien ersetzt, wie es die zitierte Textstelle fordert, sondern das alttestamentarische Liebesgedicht wird derart radikal umgedeutet, dass es zu einem heiligen Text wird. Zum Schluss meiner Überlegungen komme ich auf die gefesselten Füße zu sprechen: Konkret gefesselt sind die Menschen, wenn sie sich dem Teufel hingeben: der tiuvel nam j unsere vüeze in s„niu bant (3,4f.).25 Diese Stelle im Prolog führt zur Hilfe des Heiligen Geistes, der die Fesseln in den drei Zeiten, vor dem Gesetz, unter dem Gesetz und in der Zeit der Gnade aufheben kann. Interessant ist dann aber die metaphorische Ausgestaltung des Themas im weiteren Verlauf 24 Und gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern Ohlys [Anm. 2] beeindruckender Kommentar des „St. Trudperter Hohelieds“, der fast 900 Seiten umfasst, nicht auch eine ,Verstellung‘ des Ausgangstexts ist. 25 Stridde [Anm. 4], S. 212 behandelt die Passage unter dem Stichwort der Körperfragmentierung und sieht im Fesseln sowie im Ausstechen der Augen und dem Niederbeugen des Hauptes in den folgenden Versen eine „Zementierung des Körpers“, die „zur Verengung des perzeptiv erreichbaren Raumes und zur Verunmöglichung der vita activa und vita contemplativa“ führe. Zu der Passage siehe auch Ohly [Anm. 2], Kommentar, S. 463 sowie Spitz [Anm. 14], passim.

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des Texts: wie lussam dîne genge sint in dîneme gejschuohe, hertuomes tohter des vürsten amminadap (107,11 – 13), so drückt sich der Geliebte im „Hohelied“ aus. Dass auch hier der wörtliche Sinn von der Allegorese überlagert wird, überrascht wenig: daz qu„t: d„ne vüeze daz sint d„ne willen, die j d˜ n–ch mir gerihtet h–st, m„niu gebot ze bejhüetenne unde dar n–ch ze vorschenne (107,13 – 16). Die Füße seien mit der Gottesliebe beschuht und damit gebunden, einerseits mit dem linken Fuß an den Gehorsam, andererseits mit dem rechten Fuß an die Demut. Nur so könne der enge Weg der Nachfolge Christi beschritten werden (107,23 – 26). Gefesselt sind nicht nur die Füße der Braut, sondern auch der Kommentar. Demut und Gehorsam binden ihn an die Tradition der „Hohelied“-Deutungen, das „Hohelied“ selbst wird in ein System von Verstellung und Betrug eingebunden. In „Hohelied“ 6,12 heißt es: Kêre widere, kêre widere, dû verhundetiu! j kêre widere, kêre widere, daz wir dich sehen j müezen (103,8 – 10). Der Kommentator beginnt seine Deutung mit den Worten: n˜ vernemet m„ne sinne (103,10f.). Er will also mitteilen, was er sich zu den zitierten „Hohelied“-Versen gedacht hat. Vier Mal wird eine Umkehr angesprochen, was zunächst auf die Guten, die Besseren, die Schlechten und die Allerschlechtesten, dann auf die vier Evangelisten, dann auf vier Sünden, von denen man sich abwenden soll, und schließlich auf den Streit unserer Gedanken mit den Sünden angewendet wird. Alle sind wir also Gefangene, was sich als Leitmotiv durch die ganze Passage hindurch zeigt. daz wir dich sehen j müezen bezieht der Autor dann auf die Gefangenschaft Christi, in deren Betrachtung wir die eigene wieder ablegen können. So raffiniert und durchdacht diese Interpretation des „St. Trudperter Hohelieds“ ist, so sehr sehne ich mich nach meinen Überlegungen nach dem kêre widere, einer Wiederkehr des „Hohelieds“ als Liebesgedicht, das weder den Betrug des Teufels noch die Küsse noch die Füße in allegorisierende Bande legt.

Manfred Kern (Salzburg)

Täuschend erotisch. Poetische Verstellung und metapoetische List im „Roman de la Rose“

Wer den „Roman de la Rose“ liest, muss einige Ausdauer und Geduld aufbringen, bis sie oder er an jene Stelle gelangt, an der es endlich so weit ist, an der endlich, nach über 15000 Versen wieder etwas Substanzielles geschieht.1 Substanz gab es zwar schon zuvor sehr viel, allerdings nicht narrative, sondern diskursive. Seit der Liebende sich im Traum aufgemacht hatte, einen Fluss entlang ging, an einen Garten kam, wo ihm aufgetan ward, seit er in diesem Garten an den Brunnen des Narziss gelangte, ein Brunnen, der jedem zeigt, was er liebt, seit er in diesem Brunnen eine, seine Rose erblickt hatte und daraufhin von Amors Pfeil getroffen wurde, seit er sich zu dieser Rose begab und sie küsste, dann aber zusehen musste, wie um die Rose ein gewaltiges Mauerwerk, eine Burg errichtet wurde – seit alledem ist nicht viel geschehen oder es hat sich nicht viel getan. Ein Ereignis ist freilich zu notieren, ein metaliterarisches Ereignis: der Wechsel der Autorschaft. Der erste Teil des Romans ist bekanntlich von Guillaume de Lorris um etwa 1230 verfasst worden, er bricht mit der Errichtung der Burg bei Vers 4058 ab. Jean de Meun sollte ihn um 1270 fortsetzen und zu Ende bringen. Der Autorwechsel ist im Text selbst markiert, mit ihm vollzieht sich auch eine klare Änderung der Textstimme und der Textstimmung. Sie wird aggressiver, weil nun eben nicht mehr im allegorischen Modus der Idylle und des Gartens, sondern von Krieg und Belagerung gedacht wird. Die Stimmung kippt vom Erotisch-Didaktischen ins Erotisch-Eristische oder mehr noch: ins Erotisch-Polemische. Dies spiegelt sich in den wenigen Ereignissen, die berichtet werden, in dem typischen Belagerungsgeplänkel, das vor dem großen Ereignis, der Eroberung von Burg und Rose stattfindet, etwa in der üblen Behandlung des gefangenen Bel Accueil (,Schöner Empfang‘2) oder in der Tötung der dafür 1 Zitate und Übersetzungen (zum Teil mit Modifikationen von mir) im Folgenden nach Guillaume de Lorris, Jean de Meun: Der Rosenroman. Übers. u. eingel. v. Ott, Karl August. 3 Bde. München 1976 – 1979 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 15, I – III). Dem Thema entsprechend leiste ich mir im Laufe des Aufsatzes für die Prägung und Referenz eines Begriffs übrigens selbst eine kleine, scherzhaft gemeinte Verstellung. 2 Die Übersetzung der allegorischen Namen übernehme ich von Ott.

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verantwortlichen Male Bouche (,Böser Mund‘) durch Faus Semblant (,Falscher Schein‘) und Astenance (,Abstinenz‘) (12032 – 12380). Ein polemischer Tonfall kennzeichnet vor allem die Reden der Nature und ihres Priesters Genius kurz vor der Eroberung. Und er führt zu einer Steigerung jener Negativität, mit der der Text ohnehin operiert. Zu dieser Negativität trägt wesentlich die durchschlagende Tendenz zur Misogynie bei, die ja schon seit Christine de Pizan als Stilmittel und Habitus des Textes debattiert und inkriminiert wurde. Und diese Negativität – zumal der Rede – wird vor allem von jenen dubiosen Gestalten praktiziert, die wie Faus Semblant und Abstinance (die als Gefährtin des Falschen Scheins natürlich keine solche ist) oder – gegen Ende hin – Nature und Genius auf der Seite des Liebenden stehen. Den Höhepunkt bildet der finale Übergang von diskursiver in narrative Polemik, den die eigentliche Peripetie des Textes, die Eroberung der Burg durch die Mächte der Liebe beschreibt. Sie wird von folgendem Schreckensschrei der Belagerten begleitet: Tuit s’escrient: „Tra? tra? Tuit somes mort! a! a! Fuions nous en hors dou pas.“ (21263 – 21265) Alle schreien: „Verrat! Verrat! Wir sind alle tot! Weh, weh! Los, fliehen wir außer Landes.“

Man könnte über diese Verse leicht und einfach hinwegsehen. Es ist ja nicht weiter unüblich, fast eine Formel, wenn bei einer Eroberung das Wort traditum fällt, das Wort für die Übergabe, die sich die Verteidiger schon aus Selbstschutz nur aus List und Verrat zustande gekommen denken. Ich möchte aber doch etwas mehr Gewicht auf die Stelle legen, als es möglicherweise nötig ist. Sie lässt sich nämlich gut als Ausgangspunkt für die drei Aspekte nehmen, die mich im Folgenden interessieren: für List als Motiv, als ,Materie‘ und ,Material‘ der Narration, für Listigkeit als textuelle Strategie und für Verstellung als nichtintentionalen textuellen Effekt. Zuerst ließe sich danach fragen, worauf sich das Wort vom Verrat, das die Belagerten ausrufen, konkret bezieht. Es ist dies jener Akt, mit dem die Göttin Venus die Eroberung einleitet. Sie schleudert ihre Fackel gegen die Burg und sofort fängt die ganze Mauer Feuer – gut ins Bild gesetzt ist dieser Vorgang in einer Miniatur der Handschrift Ludwig XV 7 des Paul Getty Museums in Los Angeles (Abb. 1). An sich wäre dies noch kein eigentlicher Verrat, sondern die gleichsam natürliche Attacke der Angreifer. Die Brandfackel der Venus wird von der Göttin aber so geschickt geschossen, dass sie keiner wahrnimmt – ohne dass man etwas fliegen hätte sehen, steht der Mauerkranz der Burg in Brand:

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Abb. 1 Venus wirft die Fackel in die Rosenburg – Miniatur aus der Handschrift Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Ludwig XV 7, fol. 132v, 15. Jh. (http://romandelarose.org/#read;Lud wigXV7.132v, 8. 5. 2015).

Venus n’i va plus atardant: Le brandon plein de feu ardant Tout empen¦ laisse voler, Pour ceus dou chastel afoler ; Mais sachiez qu’onc nule ne nus, Tant le traist soutilment Venus, Ne l’orent poeir de choisir, Tant i gardassent a loisir. (21251 – 21258) Venus zögert nun nicht weiter : Die Fackel voll brennenden Feuers, die ganz gefiederte, lässt sie fliegen, um jene in der Burg zu erschrecken; doch wisset, dass weder Frau noch Mann, so geschickt schoss Venus sie ab, die Möglichkeit hatte, sie wahrzunehmen, wie lange sie auch hingesehen hätten.

Angesichts dessen, angesichts dieses unsichtbaren Geschoßes ist das Wort vom Verrat nicht länger formelhaft. Nun ist die Fackel der Venus, wie man weiß, aber keine gewöhnliche Fackel und daher wird sie von den Verteidigern der Burg – auf den ersten Blick sinnigerweise (in der doppelten Bedeutung des Wortes) – nicht wahrgenommen: Denn alles Metaphorische ist naturgemäß unsichtbar. Verräterisch, Instrument

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des Verrats, des Betrugs wäre demnach die Metapher, weil sie im Konkretum, in der konkreten, real vorgestellten Szene der Belagerung nicht gesehen werden kann – auf diese Dichotomie scheint die Illustration in der Oxforder Handschrift MS Douce 195 abzuzielen (Abb. 2).

Abb. 2 Venus wirft die Fackel in die Rosenburg – Miniatur aus der Handschrift University of Oxford, Bodleian Library, MS Douce 195, fol. 152v, 15. Jh. (http://romandelarose.org/#read; Douce195.152v, 8. 5. 2015).

Doch auch die Burg im „Roman de la Rose“ ist keine eigentliche, konkrete, sondern eine allegorische Burg und die Belagerung daher auch kein konkreter Vorgang – die unsichtbare metaphorische Fackel müsste also in einem solchen, ihr adäquaten Raum- und Handlungsgefüge gerade wieder sichtbar sein, da ja alles auf der selben Ebene uneigentlicher Rede steht und geschieht – die ,korrekte‘ bildliche Wiedergabe wäre demnach doch eher die der Los Angeleser (Abb. 1) und nicht die der Oxforder Handschrift (Abb. 2).3 Der Widerspruch 3 Dass beides – Belagerung und Fackel der Venus – prinzipiell auf der selben Ebene angesiedelt sein und also innerszenisch konkreten, metaszenisch aber allegorischen Charakter haben müsste, scheint dem Text durchaus bewusst zu sein, wenn er betont, dass Venus die Fackel so geschickt geworfen habe, dass sie nicht zu sehen gewesen sei, wie sehr man sich auch bemüht hätte. Venus wirft ihre Fackel eben in der allegorischen Szene gleichsam auf zweiter metaphorischer Stufe. In den zitierten Versen stellt der „Rosenroman“ somit auch auf subtilironische Weise sein oszillierendes Spiel zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede zur

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verweist auf die Schichtungen, die Verstellungen, auf den Verrat, den der Text als allegorisch-szenischer Text an sich selbst und an den Rezipierenden begeht. Auch die Burg ist kein Konkretum, sie repräsentiert innerpoetisch die Geliebte oder besser : das, was sich um sie herum auftürmt, denn die Geliebte selbst ist ja die Rose, die der Liebende pflücken will. Metapoetisch repräsentiert die Burg das didaktisch-moralische Gedankengebäude, das der Text errichtet. Oder genauer : Sie ist die allegorische Kulisse für dieses Gedankengebäude, sie ist die bauliche Spiegelung des Diskurses, was an sich schon paradox ist und wiederum auf die signifikatorischen Schichtungen und Verschachtelungen, auf die krumme Signifikation verweist, die der „Rosenroman“ leistet oder die er sich leistet. Ausgesprochen und ausgebreitet werden die Lehren, die der Liebende über sich ergehen lässt und die wir Lesenden mit ihm über uns ergehen lassen müssen, von allegorischen Gestalten, allen voran von Raison, von Nature und von deren Priester Genius. Es sind diese Gestalten und ihre langen Reden, die sich um die Burg gruppieren; es sind diese Gestalten und Reden, mit denen die ursprünglich recht simple Allegorie der zu pflückenden Rose, das eigentliche Sujet des Textes also, umstellt, zugestellt – oder eben auch verstellt wird. Unter diesem Blickwinkel kann man den einen deutschen Leitbegriff der Tagung und des Bandes – ,Verstellung‘ – wörtlich nehmen, in einem zweifachen Sinn: Verstellung, das wäre innerpoetisch die Verstellung des Blickes, des Zugangs, mit allerlei verbalen Barrikaden; Verstellung, das wäre auf einer metapoetischen, poetologischen Ebene aber auch das vom eigentlichen narrativen Ort weggerückte Sujet: in diesem Fall jenes des visionären Liebestraumes, der Liebesallegorie, die sich schon anfangs narrativer Verfahren des höfischen Romans wie des (Aventiuren-)Weges, des Gartens und des idyllischen Ortes bedient, sie aber in ein Register uneigentlichen Erzählens transponiert. In einem zweiten Schritt gerät dieses neue liebesallegorische Register auf die ausufernden Seiten- und Abwege einer umfassenden didaktisch-allegorischen Enzyklopädie. Dies gilt im Übrigen nicht erst für den von Jean de Meun verantworteten zweiten Teil, sondern deutet sich schon bei Guillaume de Lorris an. Ein verstelltes Sujet wie ein verstelltes Buch – verstellte Bücher aber sind ein irritierendes Ärgernis für die Suchenden, wie wir von unseren Präsenzbibliotheken nur allzu gut wissen. Was präsent sein soll, ist in Wahrheit verstellt – das wäre eine der Maximen des „Rosenromans“ und ein Prinzip seiner textuellen Dynamik: verstellt vom Regal des Liebesromans ins Regal der Liebesallegorie und von dort ins Regal allegorischer Weltbelehrung; und wo auch immer die Interpretierenden suchen, der Text ist immer schon am jeweils anderen Ort. ,Verstellung‘ im Sinne Schau, inszeniert also – wie ja öfters – den Bruch der innerszenischen Illusion. Die Darstellungsvarianten der beiden Miniaturen (Abb. 1 u. 2) bringen dieses Oszillieren gut zum Ausdruck.

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eines falschen Anscheins hingegen ist eigentlich die sekundäre Bedeutung des Wortes, und diese sekundäre Bedeutung verdankt sich ihrerseits einer metaphorischen Operation. Es scheint mir eine nicht reizlose Koinzidenz zu sein, dass die allegorische Verfasstheit und die allegorischen Verfahren des „Rosenromans“ Phänomene und Effekte der Verstellung freigeben, die die metaphorische Bedeutung in den ursprünglichen konkreten Wortsinn zurückführen.4 Die englischen Titelbegriffe machen vielleicht eine ähnliche GedankenSpielerei möglich. Ich versuche es mit dem Begriff ,deception‘, der sich bekanntlich vom lateinischen decipio ableitet. In diesem wiederum steckt das lateinische capio als etymologische Wurzel. Das Kompositum de-cipio würde demnach ursprünglich ein ,Daneben-‘ oder ,Wegfassen‘ meinen, es wäre jedenfalls das Gegenteil von ,erfassen‘, concipere. Das ,Dezept‘ wäre das Gegenteil eines Konzepts; was sich als Konzeption ausgibt, erweist sich als Dezeption, „conception as textual deception or self-deception“. Vielleicht wäre das ein Analogon zu dem, was sich mit dem deutschen Begriff der Verstellung anfangen 4 Im Übrigen denke ich nicht, dass die alte Debatte um den ,bürgerlichen‘ Status bzw. das ,bürgerliche‘ Programm der beiden Autoren (vgl. hierzu die Einleitung von Ott [Anm. 1], Bd. 1, S. 7 – 75) zum Verständnis der poetologischen Differenz des Textes irgendetwas Erhellendes beitragen konnte und kann (ganz abgesehen von der Problematik der Kategorie ,bürgerlich‘, die hier ins Spiel gebracht wird). Die Heterogenität des „Rosenromans“ lässt sich besser als Ausdruck eines durchaus agonalen Programms der Auseinandersetzung mit den literarischen Traditionen, die in ihm kollidieren, als poetisch produktiver Ausdruck von Einfluss und Abwehr (im Sinne von Bloom, Harold: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York, Oxford 21997) begreifen. Er scheint mir weniger soziokulturell bedingt zu sein, als soziokulturell schlagend zu werden: Die hybride Textur, die sich zuerst und vor allem als Effekt literarästhetischer und literarhistorischer Prozessualität begreifen lässt, ermöglicht eine Diffusion und Pluralisierung jener ästhetischen und diskursiven Tradition, auf der sie aufruht. Möglichkeit, Grad und Breite der Partizipation steigern sich mit dem ästhetischen Integrationspotenzial, das ein Text oder konkret dieser Text aufweist. Sozialgeschichtlich besehen bleibt dabei die Schicht der Rezipierenden über lange Zeit hinweg schmal und immer verbunden und legitimiert durch jene ,hochadelige‘ Elite, die über die Mittel verfügt, die literarische Produktion überhaupt erst ermöglichen. Dies zeigt ja nicht zuletzt auch die Partizipation des neuen Typus der ,gelehrten Frau‘, die mit Christine de Pizan um 1400 zum epochalen Ereignis wird, dies freilich nicht gegen, sondern gerade aufgrund ihrer Einbindung in die ,literarische Gemeinde‘ am französischen Königshof, also aufgrund der Legitimation durch jene elitärste Schicht, gegen die die ältere sozialhistorische Deutung die Literatur ab dem 13. Jahrhundert anschreiben sah. Zur literarischen Partizipation, ihren institutionellen und poetologischen Bedingungen vgl. Lieb, Ludger u. Strohschneider, Peter : Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hg. v. Melville, Gert u. von Moos, Peter. Köln u. a. 1998, S. 275 – 305; Kern, Manfred: „Parlando“ – Trivialisierte Bildlichkeit, transgressive Produktivität und europäischer Kontext der Minnerede (mit einem Exkurs zu Rosenplüt und Boccaccio). In: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hg. v. Lieb, Ludger u. Neudeck, Otto. Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 55 – 76.

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lässt. Ich sage bewusst „textual self-deception“, ich sage bewusst: „der Text verstellt sich“, nämlich nicht nur uns gegenüber, sondern „der Text verstellt sich selbst“, und spiele damit natürlich auf Paul de Mans berühmtes Bonmot von der Sprache an, die nicht spricht, wie es Heidegger formuliert hatte, sondern die „(sich) verspricht“.5 Die nicht-intentionalen Täuschungseffekte des „Rosenromans“ ergeben sich nun nicht zuletzt aus seiner narrativen Substanz – und zwar (wie Venus’ Fackelwurf zeigte) einerseits aus der narrativen Substanz der allegorischen Handlung selbst, vielleicht aber mehr noch aufgrund der narrativen Substanz der assoziierten und im Text referierten Erzählungen. Unter ihnen finden sich zahlreiche Ovidianische Mythen, allen voran die von Narziss, von Pygmalion und vom Ehebruch der Venus mit Mars; und signifikanterweise sind diese Mythen auch Erzählungen von Betrug und Selbstbetrug – ich werde darauf zurückkommen. Somit wären vorab drei Aspekte isoliert, unter denen List und Verstellung im und vom „Rosenroman“ praktiziert werden: Das ist zum einen der Akt der metaphorischen Ersetzung. Das ist zweitens der Prozess der Verstellung, verstanden als didaktisch-diskursive Blockade der liebesallegorischen Handlung. Und das ist drittens das Moment der Narration, die ihrerseits gegenüber dem allegorisch-diskursiven Register (oder auch in ihm) narrativen Überschuss, narrative Verwirrung stiftet. Meine Ausgangsthese ist dabei die, dass Verstellung – und das macht ja die literaturwissenschaftliche Produktivität des Themas wesentlich aus – immer auch ein eminent metatextuelles Phänomen darstellt und dass der „Rosenroman“ für dessen spezifische Konturen und Effekte im Metier allegorischen Sprechens paradigmatische Geltung hat.

5 de Man, Paul: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. New Haven, London 1979, hier S. 276 f. Der „Rosenroman“ bietet sich für dekonstruktive Lektüren an, eben weil er die divergenten Narrative und Diskurse mittelalterlicher Episteme und ihrer Repräsentationsverfahren in hybrider Weise kreuzt. Die entsprechenden Traditionen, die hier auf liebestheoretischem und liebespraktischem Boden zusammenfließen, sind u. a. gut umrissen bei Haug, Walter: Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2004 (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie, Vorträge, Heft 10); und dass die kulturelle Relevanz und das ästhetische Potenzial des „Rosenromans“ gerade jene Zugänge zu erschließen vermögen, die ihn nicht auf einsträngige Konzepte hin homogenisieren, sondern auf narrative, diskursive und ikonische Verschiebungen abzielen, die sich eben aus der hybriden Verfasstheit, aus der Integration und den Interferenzen verschiedenster Traditionen im Text ergeben, zeigen u. a. Stakel, Susan: False Roses. Structures of Duality and Deceit in Jean de Meun’s Roman de la Rose. Stanford 1991 (Stanford French and Italian Studies LXIX) sowie Heller-Roazen, Daniel: Fortune’s Faces: The Roman de la Rose and the Poetics of Contingency. Baltimore, London 2003 (Parallax – Re-Visions of Culture and Society).

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I. Zunächst möchte ich noch genauer auf die metaphorische Ersetzung eingehen. Dass sie ein konstitutives Verfahren des Textes bildet, verrät schon ihre titelgebende Wirkung. Der Name der Rose, der Name des Romans ist aus der entsprechenden, ,ersten‘ metaphorischen Operation gezogen, nämlich aus der Ersetzung der Geliebten durch die Rose und aus der Ersetzung der Werbehandlung, also des narrativen Aktes, den der Begriff des ,Romans‘ evoziert, durch den ikonisch-allegorischen Vorsatz des Pflückens.6 Und schon an dieser Stelle kommt die grundlegende Koinzidenz von poetischem Sujet und metapoetischer Strategie zum Vorschein. Die Metapher ist ja eine der häufigsten Blüten der Redekunst, die wichtigste vielleicht. Sie ist – um es metaphorisch zu sagen – die Rose unter den flores rhetorici, unter den rhetorischen Blumen. Im innerpoetischen Begehren des Liebenden nach der Rose könnte man somit auch den zentralen metapoetischen Gestus des Textes abgebildet sehen: Mit der Metapher wird ein Mittel der uneigentlichen Rede zur zentralen eigentlichen Sprachfigur des Textes. Da die Referenz der Metapher vom Potenzial her jedoch um vieles weitreichender und mehrdeutiger ist als das Konkretum, ergibt sich wie von selbst eine Pluralisierung von Deutungsperspektiven. Dieser Pluralisierung korrespondiert eine eklatante Zunahme der copia verborum, des verbalen Aufwandes, der rund um die narrative Konstellation der Werbung oder des Pflückens aufgebaut ist. Auch hierin, im Phänomen und im Problem des verbalen Aufwandes, in der Menge an Worten und im Mangel an Geschehen, trifft sich der „Roman de la Rose“ mit der höfischen Lyrik. Er teilt mit ihr oder bezieht aus ihr nicht nur sein zentrales Bild, sondern auch das zentrale Problem der Beglaubigung, der Bewahrheitung, dass es dem Liebenden in seinem Liebeswerben ernst sei.7 Die Beglaubigung der ehrlichen Liebe und des ernsthaften Werbens ermöglicht, dem Konzept höfischer Liebe zufolge, der Dienst. Dieser Dienst wird im höfischen Roman üblicherweise durch ritterliches Handeln und Bewährung in der Aventiure vollzogen. Die objektive Bestätigung erfolgt durch die äußere, sozusagen objektive Instanz der Erzählung, durch ein Erzählen in der dritten Person. 6 Vgl. hierzu die Verse zu Titel und Adressatin im Prolog (33 – 44): E se nus ne nule demande / Coment je vueil que li romanz / Soit apelez que je comenz, / Ce est li Romanz de la Rose, / Ou l’Art d’Amors est toute enclose. / La matire en est bone e nueve; / Or doint Deus qu’en gr¦ le reÅueve / Cele por cui je l’ai empris; / C’est cele qui tant a de pris / e tant est dine d’estre amee / Qu’el doit estre Rose clamee. – ,Und wenn jemand fragt, wie der Roman, den ich beginne, genannt werden soll, so ist es der Roman von der Rose, in dem die Kunst der Liebe ganz enthalten ist. Sein Gegenstand ist gut und neu; nun gebe Gott, dass die ihn günstig aufnehme, für die ich ihn begonnen habe, jene nämlich, die so viel Preis hat und so würdig ist, geliebt zu werden, dass sie Rose genannt werden muss.‘ 7 Vgl. hierzu den Beitrag von Lydia Miklautsch in diesem Band.

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Demgegenüber formuliert sich die lyrische Werbung in der subjektiven, ersten Person. Die Beglaubigung erfolgt durch ein Handeln, das auch innerpoetisch wesentlich Sprachhandeln ist. Die Evidenz des Dienstes und die Glaubwürdigkeit der Liebe bestehen nicht im Aufwand der Aventiure, die betrieben wird – was in der Epik Einsatz der Tat ist, ist in der Lyrik Einsatz und Aufwand der Worte, es ist eben die copia verborum. Sie ist nun eine Sache der Rhetorik, die Rhetorik aber ist eine zweifelhafte, eine trügerische Kunst. Der Ausweg, der dem Liebenden in der Lyrik bleibt, ist die metapoetische Realisation seines Werbens als schöner Gesang. Der schöne Gesang, also die Realisation der copia verborum in der poetisch-lyrischen Kunstform des Liedes ist die Evidenz, die der Liebende als Sänger beibringen kann. Die innerpoetische Wahrheit der Worte realisiert sich in der metapoetischen Kunstschönheit des Gesanges.8 Diese Kunstschönheit transponiert die erotische Relation zwischen lyrischem Subjekt und Geliebter auf die metapoetische (aber immer noch textuelle, ,vertextete‘) Ebene der Kommunikation zwischen Sänger und Publikum. Deren para-erotische Beziehung wird nun tatsächlich performativ beglaubigt, sie wird – wenn man so sagen darf – akustisch evident in der je aktuellen Emergenz des schönen Gesanges.9 Im erotisch-didaktischen Genus von Liebesallegorie und Liebeslehre stellt sich die Sache anders da. Der Vorwurf der Unehrlichkeit verstärkt sich insofern, als der Liebende mit Blockaden konfrontiert ist, die von der – sagen wir – antierotischen, geistlich-moralischen Doktrin gegen ihn aufgestellt sind. Verkörpert wird diese Doktrin von allegorischen Gestalten, im „Rosenroman“ vor allem von Raison, also der Vernunft, die sich dem Liebenden entgegenstellt. Sie äußert den Vorwurf der Unehrlichkeit als eine objektive Instanz. Die subjektive Perspektive steht gegen die objektive, das erotische Begehren steht gegen das moralische Gesetz, die Ansprüche beider Seiten verwirren sich in den Fäden der verbalen Interaktion. Die Relativität der Lehren der Vernunft wird nun mit einem schönen, eingängigen Bild bezeugt: Was sie dem Liebenden an Lehren beim einen Ohr

8 Eines der beeindruckendsten und bekanntesten Beispiele aus dem deutschen Minnesang gibt das Motiv vom Schweigegebot und also Singverbot der Dame und dessen erzwungener Aufhebung bei Reinmar, v. a. das Werbelied Nr. XIII (163,23) und die Frauenlieder Nr. XXVII (177,10) und XXVIII (178,1) in: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Moser, Hugo u. Tervooren, Helmut. I.: Texte. Stuttgart 381988. 9 Zu lyrischer Emergenz im angedeuteten performativen Sinn siehe Bleumer, Hartmut: Das Echo des Bildes. Narration und poetische Emergenz bei Heinrich von Morungen. In: ZfdPh 129 (2010), S. 321 – 345. Freilich ist auch diese Emergenz (ähnlich wie die kommunikative Beziehung zwischen Sänger und Publikum) nicht erst ein Phänomen der konkreten Aufführung, sondern schon im Text selbst artikuliert.

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hineinschaufelt, schaufelt Amor, der offenbar im akustischen Wahrnehmungsapparat des Liebenden Platz genommen hat, beim anderen Ohr wieder hinaus: Ainsinc Raison me preeschait; Mais Amours tout empeeschait Que riens a euvre n’en messe, Ja seit ce que bien entendisse Mot a mot toute la matire; Car Amours, qui forment m’atire, Qui par trestouz mes pensers chace, Con cil qui par tout a sa chace, E toujourz tient mon cueur souz s’ele, Hors de ma teste, a une pele Quant au sarmon seiant m’aguiete, Par l’une des oreilles giete Quanque Raison en l’autre boute [.] (4629 – 4641) So predigte mir Vernunft; aber Amor verhinderte ganz, dass ich irgendeinen Gebrauch davon machte, obwohl ich den ganzen Inhalt Wort für Wort sehr gut verstand; denn Amor, der mich heftig an sich zieht, der durch all meine Gedanken jagt wie jemand, der überall sein Jagdrevier hat, und der mein Herz immer unter seinen Fittichen hält, wie der mich bei dieser Predigt überwachte, da warf er mit seiner Schaufel aus meinem Kopf aus dem einen Ohr heraus, was Vernunft in das andere steckte.

Der Wahrheitscharakter der vernünftigen Lehre wird nicht direkt oder explizit angezweifelt. Was ihn allerdings im wahrsten Sinne untergräbt, ist zunächst ein stilistischer Bruch. Das profane Bild von der schaufelnden Vernunft sperrt sich gegen den emphatisch-pathetischen Charakter ihrer Empfehlungen. Die Metapher des Schaufelns verweist zudem auf inflationäre Rhetorisierung und also auf eine tendenziell trügerische copia verborum, die auch von der Vernunft als Verkörperung der Doktrin praktiziert wird. (Die Inflation der Worte manifestiert sich an dieser Stelle zugleich auf Amors Seite in der metaphorischen Krasis der allegorischen Grundvorstellung mit Bildern der Jagd und des Schutzes.) Was jedenfalls von der Vernunft mitgeteilt wird, kommt zwar an, hat aber keinen Bestand. Es gibt eine Instanz der Verdrängung oder der Ignoranz, die Amor repräsentiert. Der groteske Wettlauf im Schaufeln lässt sich als Verzerrung eines affirmativen Bildes lesen, das uns für die lehrende Vernunft adäquater erschiene: Ich meine das biblische Bild vom Sämann und vom Samen des Glaubens und der

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Lehre. Wenn die Vernunft hier nun aber nicht sät, sondern schaufelt, bekommt ihre Lehre den Anschein eines Haufens, eines Schutthaufens, der Beliebigkeit und Indifferenz suggeriert und bei dem sich die Frage stellt, ob es nicht wirklich besser ist, ihn wieder aus dem Ohr herauszubekommen. Da der Liebende, dem die ganze Schauflerei gilt, zudem eine Gestalt der rezeptiven Empathie darstellt, lässt sich das Bild wiederum auch metapoetisch lesen: Was Amor aus den Ohren des Liebenden schaufelt, schaufelt der Amor-Text aus den Ohren der Rezipierenden. Es ließe sich freilich auch so denken: Was Amor innerpoetisch an Doktrin der Vernunft aus den Ohren des Liebenden schaufelt, will der Autor in die Ohren des Publikums hineingeschaufelt wissen. Jedoch auch in ihnen wird einer oder etwas sitzen, der oder das eine Schaufel zum Rausschaufeln parat hält.10 Wie man es dreht und wendet: Poetisch-metapoetische Verstellung ist’s, was bleibt. Die allegorisch-situative Einbettung, die subjektive Erzählperspektive und nicht zuletzt der rhetorische Aufwand lassen die gesetzten Worte auf allen Seiten unverlässlich und uneindeutig erscheinen. Diese Unverlässlichkeit und Uneindeutigkeit im Detail spiegelt sich auf der Ebene des Gesamttextes, auf der Ebene seiner narrativen und diskursiven Anlage als allegorische Unordnung wider. Gut nachvollziehbar ist dies, wenn man die Szenerie im Gesamten rekapituliert. Von der Tradition allegorischer Dichtung her gesehen könnte man den „Rosenroman“ zunächst als Fortsetzung einer ihrer prominentesten Unterformen, nämlich der Psychomachie lesen. Erzählt wird ein Traum, der Eingang in eine innere Welt, den der Liebende am Beginn des Textes vollzieht. Die Landschaft, die dabei durchschritten wird, lässt sich als Seelenlandschaft, das geschilderte Konfliktgeschehen als innerpsychische Auseinandersetzung begreifen. An der angesprochenen Stelle steht Amor gegen Raison, das poetische Subjekt fungiert als Streitobjekt zwischen beiden. Es erweist sich durchaus traditionsgemäß als Spielball äußerer Kräfte, seine Seelenvermögen werden gleichsam nach außen projiziert. In heutigen Begriffen gesprochen liegt dabei ein klassisches freudianisches Tableau vor : Das Ich bildet das Relais für den Widerstreit zwischen Begehren und Zensur, ausgetragen wird dieser Widerstreit in Form einer Negativierung der jeweils anderen Instanz: Amor erscheint aus Sicht der Doktrin als Betrüger, als Focus und Repräsentant irreführender 10 Im Grunde greift der Text mit ironischer Geste auf einen schon bei Chr¦tien de Troyes verbürgten Topos der bedauernswerten rezeptiven Unaufmerksamkeit zurück, sofern das Herz (wie im Falle des Liebenden im „Roman de la Rose“) nicht dabei ist: Cuer et oroeilles me rend¦s, / Car parole oe est perdue / S’ele n’est de cuer entendue. – ,So leiht mir euer Herz und eure Ohren, denn jede Rede ist umsonst, wenn sie nicht vom Herzen vernommen wird‘, meint Calogrenant, als er zu erzählen beginnt; „Le Chevalier au Lion“, 150 – 152, zitiert nach Chr¦tien de Troyes: Romans. Suivis des Chansons, avec, en appendice, Philomena. Paris 1994 (Classiques Modernes); Übersetzung M. K.

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Triebbindung, die in gut mittelalterlicher, theologisch-metaphysischer Denktradition als Weltbindung codiert wird; die Lehren der Raison relativieren sich wiederum vor dem Anspruch der Liebe – ein Anspruch der durch den integralen Anschluss des Textes an die literarische Tradition des amour courtois abgesichert ist. Literarästhetisch ließe sich von einem Intrigenspiel zwischen erotischsäkularer und moralisch-geistlicher Poesie sprechen, dem die Rezipierenden als involvierte und jeweils selbst in die Irre geführte Zuschauende beiwohnen, wobei in diesem Zusammenhang nochmals die Parallelität des Ich im Text und des Ich, das erzählt, also die Parallelität von innerszenischer Wahrnehmung und wirkungsästhetischer Perspektivierung zu betonen ist. Nun überschreitet das allegorische Ensemble aber dieses engere, gleichsam freudianische Gefüge. Neben den innerpsychischen Allegorien des Liebenden gibt es auch solche der Geliebten, etwa Honte, die Scham(haftigkeit), oder deren Gegenspieler Bel Acueil, den schönen Empfang. Es finden sich aber auch Repräsentanten von Sozialisierung und sozialer Kontrolle, wie Jalousie, der Argwohn, oder Male Bouche, die üble Nachrede, also in etwa das, was in der zeitgenössischen deutschen Literatur Huote und Merker wären. Male Bouche zählt dabei zu den eindeutig negativen Instanzen, eine solche gibt es als Faus Semblanz, als trügerischer Anschein auch auf Seiten des Liebenden. Raison und Amor sind also nicht bloß psychologische Personifikationen, sondern zugleich Repräsentationen überpersönlicher Wirkkräfte der sozialen Interaktion, Kommunikation und Welterzeugung. Hinzu kommen kosmologisch-metaphysische Instanzen wie Nature oder Genius, schließlich mythologische Figuren, allen voran die Liebesgötter Amor und Venus. Dies alles bringt den Text in einen Zustand der Signifikation, die das allegorische Verweisprogramm längst überschritten hat. Man könnte diesen Zustand, diese Verfasstheit des Textes mit Hans Robert Jauß postallegorisch nennen, wobei Jauß selbst diese Qualität in ihrer vollen Ausprägung erst Dante zugesteht.11 Man könnte jedoch mit guten Gründen behaupten, dass sie bereits im „Roman de la Rose“ vorliege. Angelegt ist sie zudem schon im ersten Teil, im Grundentwurf von Guillaume de Lorris, der zweite Teil von Jean de Meun leistet die umfassende postallegorische Ausgestaltung. Jean de Meuns Fortsetzung scheint mir damit nicht – wie das üblicherweise gesehen wird12 – gegen Guil11 Jauß, Hans Robert: Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter. In: Ders.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956 – 1976. München 1979, S. 285 – 307, erstmals in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. v. Fuhrmann, Manfred. München 1971 (Poetik und Hermeneutik IV), S. 187 – 210. 12 Zur Forschungsdiskussion siehe oben Anm. 4 und 5. Das Verhältnis zwischen der Guillaume- und der Jean-Partie sieht auch schon Stakel [Anm. 5], bes. S. 102 eher unter dem Aspekt einer freilich komplexen „Erfüllung“ (eine Kategorie, die auch im Sinne typologi-

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laume anzuschreiben, sondern ein Potenzial des Ausgangstextes exzessiv auszugestalten. Von der Datierung her passt sein postallegorischer Ansatz im Übrigen gut zu Dante, in Frage steht dabei vor allem die Gestalt des handelnden, verhandelten und erzählenden Subjekts. Ich werde auf diesen Aspekt am Ende zurückkommen. Ich hatte gesagt, dass die grundlegende und titelgebende metaphorische Operation die Geliebte auf die Rose reduziert. Reduktion vollzieht sich auf ihrer Seite als ein Akt der metaphorischen Ersetzung. Im Falle des Liebenden aber vollzieht sie sich als Extrapolation und Depotenzierung seines Vermögens. Das Subjekt erscheint als Spielball, eben als Relais einer allegorischen Interaktion, die von externen Instanzen getragen wird. Beide Hauptaktanten, Liebender und Rose, werden auf diese Weise statuarisiert, die Handlung wird angehalten – wollte man es im Bildbereich des Liebeskriegs beschreiben, ließe sich sagen, dass der Angriffskrieg in einen Stellungskrieg wechselt. Beide Seiten verstellen einander dabei die Möglichkeiten des Handelns, es gibt keine freien Wege mehr, was einzig bleibt, ist die Option von List und Betrug, und somit wird die Eroberung der Burg zu Recht kommentiert mit dem Ausruf: Tra, tra!

II. Ausgetragen wird der allegorische Stellungskrieg vor allem verbal, wobei – wie ich dies am Beispiel der langen Unterweisungsrede der Vernunft angesprochen habe – der Versuch einer positiven didaktischen Signifikation in der spezifischen Situation der erotischen Auseinandersetzung scheitert. Signifikation verläuft als verstellter Akt der Bezeichnung, verstellt in dem Sinn, als das didaktische Ansinnen nicht interesselos propagiert wird und also auf Täuschung hinausläuft; verstellt aber eben auch in dem anderen Sinn, als die positive Signifikation durch rhetorische und in weiterer Folge auch durch narrative Operationen blockiert ist. Die rhetorische Tradition stellt nun einen Begriff bereit, der den grundlegenden Redegestus der Verstellung präzise und zugleich diffizil zu benennen versteht: Es ist dies der Begriff der Ironie. Mit der umfassenden ironischen Textur des „Rosenromans“ hat sich Susan Stakel einlässlich auseinandergescher Denkmuster fruchtbar ist) als unter dem einer (didaktisch-klerikalen) Kontrafaktur, wobei Spiegelung und Ironie die leitenden Tendenzen seien: „Guillaume promises a work where ,l’art d’Amors est tote enclose‘ (38). Jean fulfills the promise. But why is the inevitability propelling R[oman de la Rose] II indicative of so much more than a simple continuation? It has something to do with mirrors and something to do with the nature of irony“ (ebd.).

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setzt.13 Stakel geht von der grundsätzlichen Definition der Ironie als kategoriale Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem aus und verweist dann auf drei Ebenen, auf denen sich diese Differenz vollziehe (wobei diese drei Ebenen natürlich für sich nichts Neues bezeichnen, sondern genau jene Bereiche darstellen, auf die sich die theoretische Diskussion seit der Antike bezieht): Da ist zum einen der Charakter des Eiron, der schon in der antiken Charakterlehre diskutiert wird. Er bezeichnet die Person, die sich selbst mit Understatement zu präsentieren versteht, die sich dümmer gibt, als sie ist; die sich als unwissend präsentiert, um sich alles anhören zu können. Wenn diese Haltung zur Pose gerinnt, zu einer Pose, die darauf abzielt, das Gegenüber aus der diskursiven Reserve zu locken und mit vermeintlich dummen Fragen auf den Holzweg der propagierten Meinungen zu führen, dann hätten wir zum andern den sokratischen Ironiker oder die sokratische Ironie gegeben. Sie zielt auf die Überführung und Entlarvung des sophistischen Wissens, der vermeintlichen Wahrheiten, und sie tut dies im Dienste der ,echten‘ Wahrheit. Schließlich gebe es – so Stakel – noch eine dritte Ironie, die unbewusst geäußert wird und nur durch dritte, durch Beobachtende zu erkennen wäre: nämlich die tragische Ironie, die Ironie des Schicksals, die sophokleische Ironie oder wie immer man sie nennen möchte. Diesen dritten Aspekt verfolgt Stakel, wenn ich recht sehe, nicht weiter. Den Charakter des Eiron und den Typus der sokratischen Ironie sieht sie im „Rosenroman“, genauer gesagt: im „Rosenroman“ Jean de Meuns allerdings am Werke. Das depotenzierte, gleichsam entblößte Subjekt, der Liebende, präsentiere sich als vorgeblich Unwissender, als einer, der in allen Dingen gelenkt und belehrt werden muss: gelenkt von Amor, der ihn schon zu Beginn mit dem Pfeil getroffen hat, belehrt von Raison und den anderen allegorischen Gestalten, die ihm jenen Weg verstellen, den Amor ihm unter der Maxime Ego Dominus tuus, wie es bei Dante heißt,14 längst gewiesen hat. Schon die absolute, unverbrüchliche Fixierung auf die Rose, die die einzige gewisse Identitätsbasis des Subjekts auszumachen scheint, verweist auf den ironischen Charakter des Liebenden – einerseits den allegorischen Instanzen gegenüber, die ihn belehren wollen; andererseits in einer ultimativen ironischen Verschiebung auch sich selbst gegenüber, indem das erzählende Ich aus einer gleichsam auktorialen Perspektive auch den Liebesabsolutismus, die erotische Fixierung des Liebenden im Text zu konterkarieren scheint. Schließlich ist es die äußerste narratologische Finte des Textes, dass es ja auch noch eine dritte, eigentliche Instanz ,hinter‘ dem erlebenden und dem erzählenden Subjekt gibt, die Stimme des Autors, Jean de 13 Stakel [Anm. 5], bes. S. 94 – 104. 14 „Vita nova“ Kap. 1,14 (III,3), Zitat und neue Zählung (die alte in Klammer) nach Dante Alighieri: Vita Nova. A cura di Rossi, Luca Carlo. Introduzione di Gorni, Guglielmo. Milano 1999.

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Meun, den sich stumm stellenden, geheimen Arrangeur des narrativen und diskursiven Ensembles, den man nur allzu gerne als vor allem doktrinäre Stimme im und am Text zugange sehen wollte. Eine analoge komplexe ,Dreiecksbeziehung‘ besteht im Übrigen in Dantes „Commedia“ und in Christine de Pizans „Livre de la Cit¦ des Dames“, also (wieder ironischerweise) in einem Text jener Autorin, die zu den schärfsten Kritikerinnen des „Rosenromans“ zählen wird: Das erlebende konfligiert mit dem erzählenden Subjekt, hinter beiden aber verbirgt sich der (vielleicht auch nur vermeintliche) Souverän des gesamten Entwurfs, nämlich die eigentliche Autorschaft, für die im Falle Dantes und Christines mit dem gleichen Namen, im Falle des „Roman de la Rose“ aber mit anderem Namen, ja drastischer noch: mit zwei Namen (Guillaume und Jean) gezeichnet wird – ein Faktum, das die Sachlage eher noch komplexer als einfacher zu machen scheint, dies nicht zuletzt deshalb, weil diese beiden anderen Namen der äußersten auktorialen Instanz schlussendlich dem Text auch noch eingeschrieben werden müssen, wenn und weil sie zur Kenntnis genommen werden wollen (ich werde auf die Stelle gleich zurückkommen). Im Falle Dantes und Christines können sie hingegen in der Verbergung oder – wenn man so will – auch in der Versenkung bleiben. So viel noch: Gerade diese dreifache Schichtung einer subjektiven Ebene – erlebendes, erzählendes und auktoriales Subjekt – macht das Faszinosum jener mittelalterlichen Allegorien aus, die in Ich-Form erzählt werden, und dieses ästhetische, literarästhetische Faszinosum gipfelt eben in dem allegorischen Dreigestirn, das „Rosenroman“, „Commedia“ und „Cit¦ des Dames“ in der europäischen Literatur bilden. Die Divergenz von Gesagtem und Gemeintem, von Pose und Vermittlung realisiert sich jedenfalls nicht zuletzt in dem Faktum, dass der innerpoetisch Unwissende zugleich als die personalisierte Instanz der Erzählung erscheint: Er ist es, der nicht nur alles erlebt, sondern zugleich alles berichtet, der als Wissender von seiner eigenen Unwissenheit erzählt – wobei sich die Konstellation noch einmal verschärft und ins Paradoxe ausschlägt, denn – das dürfen wir nicht vergessen – was er erzählt, ist ja nichts anderes als sein Traum. Wenn der Liebende also auf der innerpoetischen Ebene, auf der Ebene der histoire – wie Stakel das vorführt – als Eiron auftritt, so erscheint er auf der metapoetischen Ebene, auf der Ebene des discours, als der sokratische Ironiker, als einer, der sich dumm oder stumm stellt, um die wissenden Instanzen im Text auflaufen zu lassen. Rechnet man die genannte dritte Instanz hinzu, so wird eine sokratische Ironie zweiten Grades wirksam. Der Text macht ja explizit auf die tatsächliche Autorschaft, auf die Autorschaft von Guillaume de Lorris und Jean de Meun aufmerksam (im Unterschied zu Dante und Christine, die sich nur als erlebende Figuren nennen). Er macht (wenigstens für den zweiten, den Jean-Teil) also deutlich – und in diesem Punkt ist er ausnahmsweise ehrlich –, dass das erzählende Ich und die Autorinstanz jenseits des Textes nicht identisch sind, der

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eigentliche, äußerste sokratische Ironiker wäre demnach diese Autorinstanz selbst. Allerdings spricht sie im Text von sich nicht unter ihrem eigentlichen Namen, vielmehr ist es die innertextliche Autorität, Amor, die von Jean als von dem spricht, der sich dieses Romans (obwohl er noch gar nicht geboren sei!) annehmen werde (10565 – 10666), und dies unter der Prämisse einer Affinität, einer Affinität zu dem, was das erlebende Ich, der Liebende mit Namen Guillaume, der den Roman leider nicht vollenden könne, im Roman durchmacht:15 Puis vendra Johans Chopinel Au cueur joli, au cors inel, Qui naistra seur Leire a Meün, Qui a saoul e a jeün Me servira toute sa vie, Senz avarice e senz envie, E sera si tr¦s sages on Qu’il n’avra cure de Raison, Qui mes oignemenz het e blasme, Qui plus flairent soef que basme. (10565 – 10574) […] Cist avra le romanz si chier Qu’il le voudra tout parfenir, Se tens e leus l’en peut venir, Car, quant Guillaumes cessera, Johans le continuera, EmprÀs sa mort, que je ne mente, Anz trespassez plus que quarante[.] (10584 – 10590) Und dann [nach Guillaumes Tod] wird Jean Chopinel kommen, mit heiterem Herzen, wendigem Leib, der an der Loire in Meun geboren werden wird, der satt oder nüchtern mir sein ganzes Leben lang dienen wird, ohne Geiz und ohne Neid, und der wird ein so kluger Mann sein, dass er sich um die Vernunft nicht kümmern wird, die meine Salben hasst und tadelt, die doch sanfter als Balsam duften. […] Der wird den Roman so gern haben, dass er ihn vollenden wollen wird, falls er Zeit und Gelegenheit dazu haben kann, 15 Es handelt sich bei dieser Stelle um eine der besten im Text selbst und um eine der gelungensten Entstehungsfiktionen der mittelalterlichen Literatur insgesamt. Dass ich ihrer Komplexität, aber auch ihrem ästhetischen Witz mit meinen wenigen Worten keineswegs gerecht werden kann, dessen bin ich mir bewusst.

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denn, wenn Guillaume aufhören wird, wird Jean ihn fortsetzen, nach dessen Tod, dass ich nicht lüge, mehr als vierzig Jahre später.

Jene Instanz, die somit prinzipiell die größte Distanz zum Textgeschehen einnimmt, die sich hinter dem Ich und den sonstigen sprechenden Figuren verbirgt, Jean de Meun, der eigentliche Autor des zweiten Teiles, wird an der Stelle, an der von ihm im Text nun ausnahmsweise doch die Rede ist, als die gerade involvierteste Gestalt beschrieben (involvierter noch als Guillaume, der der Rede Amors und dem Prolog zufolge ja seine Geschichte schreibt und insofern naturgemäß beteiligt ist – Jean ist es hingegen aus dem ,höheren‘ Motiv einer gleichsam altruistischen Empathie): Der Kreis der ironischen, der ironischpoetologischen Verschiebungen schließt sich zu einem circulus vitiosus, in dem Erzählung und Erzählen, inner- und metaszenische Ebene zur Deckung kommen. Die sokratische Ironie zielt nun auf eine Enthüllung eines bloß vermeintlichen Wissens. Diese Enthüllung vollzieht sich schon in den platonischen Dialogen nicht als eine offene, sondern als eine verkappte Strategie der Bloßstellung, wenn ich das so paradox sagen darf. Im „Rosenroman“ leistet dies eine spezifische narrative Technik. Die dargebotenen Lehren werden nicht dezidiert oder argumentativ als nur vermeintlich richtig, als nur vermeintlich eindeutig, in Wahrheit aber als mehrdeutig überführt. Und ihre Signifikation geht auch nicht einfach ins Leere, wie etwa das Wissen der Sophisten bei Platon ins Lehre geht. Vielmehr verlaufen sie sich in einer mehrfachen, dubiosen, doppeldeutigen Signifikanz, sie entpuppen sich als richtig und falsch, als sic et non; radikal könnte man sagen: Signifikanz entpuppt sich, indem sie eine solche bleibt, zugleich als Insignifikanz. In dieser Strategie unterscheidet sich die ironische Textur des „Rosenromans“ fundamental von der platonischen, in dieser Strategie ist sie etwas einzigartig Zeitgenössisches, historisch Spezifisches, das man vielleicht so definieren könnte: Im ästhetischen Medium kommt die Scholastik hier gleichsam performativ zu sich, sie erfüllt und überbietet sich im literarischen Spiel.16 Die Strategie des sic et non ergibt sich aus dem doppelten Verweischarakter, aus dem Bezug des Textes auf die poetische Tradition des amour courtois einerseits, auf die theologisch-geistliche Doktrin andererseits. Roger Dragonetti hat dies die „archiambigut¦“ des Textes genannt.17 Mit dieser Dialektik, 16 Den scholastischen Horizont, vor dem der „Rosenroman“ sein Spiel zu treiben scheint, skizziert Heller-Roazen [Anm. 5], S 21 – 28 vor allem in Hinblick auf Konzepte der nicht zuletzt sprachlichen Kontingenz an Abaelard und Albertus Magnus. 17 Dragonetti, Roger : Une m¦taphore du sens propre dans le Roman de la Rose. In: Ders.: La

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mit dieser „archiambigut¦“ scheint der Text aber selbst nicht ganz zurecht zu kommen und darin könnte man nun die dritte ironische Kategorie ausmachen, jene Kategorie, die wir als tragische oder sophokleische Ironie kennen. In unserem Falle handelt es sich dabei um eine eher komische, jedenfalls aber um eine nicht intentionale oder nicht vollständig intentionale Ironie, die sich aus der komplexen Textur des Textes ergibt, aus seinen Verfahren der szenischen und narrativen Gestaltung. Sie operiert mit dem Prinzip der Analogie und der Doppelung. Dies zeigt sich nicht zuletzt am Auftritt von Nature und Genius. Es ist jener (mit Vers 15891 beginnende) Auftritt, der vom Stillstand im allegorischen Krieg zur Eroberungsszene überleitet. Nature erscheint als eine allegorische Gestalt, die zweifach bezogen ist. Sie gibt sich zum einen als eine Wirkkraft Gottes aus, als jene Instanz, die das göttliche Schöpfungswerk in Form von Prokreation und Generation in der Zeit weiterführt. Ihre Aufgabe ist es, auf diese Weise den Bestand der Schöpfung vor dem Tode zu sichern, ihr Tun ist metaphorisiert als ein kunstvolles Handwerk, die (Schmiede-)Künstlerin Nature spiegelt dabei den deus artifex (15891 – 16248).18 In dieser ihrer Funktion klagt sie nun über die conditio humana, über die Entfremdung des Menschen von seinem eigentlichen Geschäft. Der Mensch habe nämlich konkret zu vollziehen, was sie in allegorischer Form tut: nämlich zu reproduzieren, immer neue Werkstücke hervorzubringen. Was Nature in der langen Beichte vor ihrem Priester Genius propagiert, ist die Verpflichtung zu Zeugung und Fertilität, die Verpflichtung zur geschlechtlichen Fortpflanzung (vgl. bes. 19323 – 19405). Die Fortpflanzung aber wird als der eigentliche Zweck des Geschäfts und der Übung des Liebens begriffen. Und in dieser Hinsicht erweist sich Nature nun auch als Handlangerin der Venus (und umgekehrt) – freilich wieder in einem mehrfach verstellten, ironischen Sinne: Denn ihr Programm profaniert das Konzept höfischer Liebe, das so viel wie nichts mit Zeugung gemein hat. Die Leugnung der generativen Funktion von Sexualität zählt ja gerade zu den wesentlichen Sublimierungsstrategien im amour courtois. Diese Leugnung garantiert die Transformation des Sexuellen ins Erotische, in die kulturelle Abstraktion vom Prinzip der natürlichen Fertilität (wie nicht zuletzt

musiques et les lettres. Etudes de litt¦rature m¦di¦vale. GenÀve 1986, S. 381 – 397, erstmals in: Digraphe 21 (1979), S. 69 – 85. Dragonetti (ebd., S. 391 [79]) spricht in diesem Zusammenhang auch von „deux langages qui s’opposent: celui de la m¦taphore qui ¦carte dans les mots la chose d¦sir¦e et l’autre dont l’usage […] fait comme si la chose mÞme se donnait dans le nom et inversement.“ 18 Zur Künstlerin Natur und zur Topik von Natur als Kunst vgl. Dragonetti, Roger : Le „Singe de nature“ dans le Roman de la Rose. In: Ders. [Anm. 17], S. 369 – 380, erstmals in: M¦langes d’¦tudes romanes du Moyen –ge et de la Renaissance offerts — Jean Rychner. Paris 1978 (Travaux de linguistique et de litt¦rature romanes de l’Universit¦ de Strasbourg XVI,1), S. 149 – 160.

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die größten ,Heiligen‘ der höfischen Liebe, die wider alle Naturwahrscheinlichkeit intensiver sexueller Praxis kinderlosen Tristan und Isolde, vorführen). Natures Konzept der Prokreation enthüllt also in ironischer Weise die idealisierte Verstellung des fleischlichen Geschäfts der Liebe. Indem sie die fleischliche Übung aber nicht nur als solche entlarvt, sondern ihr wieder den eigentlichen Zweck ihres Gegebenseins vor die Nase hält, sakralisiert sie sie zugleich. Die venerische Lebensform der reinen Fleischeslust wird zur gottgefälligen Praxis der Prokreation. Kultivierte Erotik, sündhafte Fleischeslust und das gottgefällige Tun der Prokreation sind also analogisiert, freilich in einer Form, die zwischen einem venerischen und einem biblischen Prinzip („Wachset und vermehret euch!“) oszilliert. Dieser Effekt lässt sich auch an der Figur des Genius nachvollziehen. Er tritt als Beichtvater der Natur in Erscheinung, als einer, der sich die Klage der Natur als deren Beichte anhört und diese Beichte als Lehrrede an die Liebenden, die liebenden Männer weitergibt. Genius hält diese Lehrrede im Gewand eines Priesters (das ihm Amor – begleitet vom Lachen der Venus – umlegt!) und er hält sie dezidiert als eine Predigt (19477 – 19504). In dieser Predigt kommt er nun unter anderem auf den Spiegel zu sprechen. Der Spiegel sei ein Instrument der Wahrheit, insofern sei der großartigste Spiegel niemand anderer als Gott (19900). Der Spiegel – so heißt es in der entsprechenden Stelle der Beichte der Natur – sei aber auch ein optisches Instrument, das der Vergrößerung diene (18044 – 18060). Vergrößerung führe gleichzeitig zu Verzerrung. Was man durch das Glas der Wahrheit schaut, kann also ein Trugbild sein. Dem nicht genug, wird in die Spiegelpassage die Erzählung vom Ehebruch der Venus mit Mars eingekreuzt (18061 – 18129). Es ist dies eine jener ovidianischen Exempelerzählungen, die sich gegen Ende des Textes gehäuft finden. Eine solche Exempelerzählung könnte nun prinzipiell – neben der Allegorie – als ein weiteres Mittel der didaktischen Signifikation fungieren. Im „Rosenroman“ stiftet sie jedoch nunmehr narrative Verwirrung. Die Ehebruchsgeschichte von Venus und Mars ist eine klassische Betrugsgeschichte: Mars und Venus betrügen den Gatten der Venus, Vulcanus, und werden ihrerseits von Sol verraten; Vulcanus verfertigt ein Netz, das er über dem Bett aufhängt, damit die Ehebrecher gefangen und überführt werden. Diese Erzählung wird mit der Spiegelmetapher korreliert, allerdings in einer Weise, die man nicht erwarten würde: Mars und Venus sind es, die einen vergrößernden Spiegel der Wahrheit hätten haben sollen, heißt es im Text, dann wären sie Vulcanus nicht ins Netz gegangen, dann hätten sie das feinmaschige Netz des Vulcanus, das Trugwerk, mit dem den Betrügern das Handwerk gelegt werden soll, erkannt (18061 – 18089). Die betrogenen Betrüger hätten also durch das Glas der Wahrheit blicken sollen, das an der genannten späteren Stelle metaphorisch auf keinen geringeren als Gott selbst bezogen wird, durch ein Glas der Wahrheit, das allerdings auch ein Trugbild spiegeln kann. Hätten sie es getan, dann wären sie dem Trugwerk des

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Vulcanus, das der Überführung der Betrüger, also der Wahrheit dienen sollte, nicht zum Opfer gefallen. Ich will gar nicht nachrechnen, wie viele ironische Haken der Text mit seinen wechselnden Signifikationen hier schlägt. Die Inversion, die Lenkung der Sympathie auf die Ehebrecher, ist jedenfalls etwas, was zurückverweist auf den „Roman d’Eneas“, der die mythologische Erzählung ähnlich liest wie der „Rosenroman“.19 Analoges gilt ja auch für den Tristanroman. Die Nuancierung der Ehebruchsgeschichte verdankt sich also der Logik des amour courtois, der zufolge Intimität und Heimlichkeit der Liebe ein höheres Gut sind als die Treue gegenüber dem Gatten, dem Repräsentanten des ,Gesetzes‘. Die Inversion folgt einem höfischen Kalkül und damit wären alle drei Bereiche – die göttliche Wahrheit, der amor carnalis und der amor curialis – in ein Verhältnis der Ähnlichkeit gebracht, einer spiegelnden Ähnlichkeit, deren Reflexionen sich gegenseitig brechen. Die reflexive, hermeneutische Irreführung mag dabei zu einem guten Teil kalkuliert sein, sie verdankt sich aber doch auch einer ,transhermeneutischen‘ Dimension, die den narrativen Passagen im „Rosenroman“ zu eigen ist. Die textuelle Ironie kommt diesseits dessen zu liegen, was wir, die Interpretinnen und Interpreten, als seine Intention imaginieren; sie wird sophokleisch, indem sie über das narrative Sujet affirmiert, was diskursiv, von Seiten der diskursiven Doktrin her eigentlich nicht affirmiert werden dürfte. Der Text kann für die faktische Referenzierbarkeit seiner Aussagen nicht mehr garantieren.

III. Strategien und Phänomene der Doppelung, der Analogie und der Travestie kennzeichnen nun auch die abschließende Handlung, die Eroberung der Burg und das Pflücken der Rose durch den Liebenden. Sie wird umständlich inszeniert und ebenfalls durch eine Exempelerzählung, durch die Erzählung von Pygmalion eingeleitet (20817 – 21183). Darüber müsste man nun gesondert sprechen, es ist dies eine der Passagen, die vor allem in der Illustrationstradition enorm wirkungsmächtig sind – was wiederum ihre ,materielle‘ Qualität, das Faszinosum der ,bloßen‘ narrativen Substanz unterstreicht. Dem Text zufolge soll ihre Funktion darin bestehen, die folie d’amour des Liebenden nochmals, kurz vor dem Ende narrativ zu beglaubigen. Der Mythos wird recht detailreich 19 Es ist hier nicht – wie das „natürliche“ Rechtsempfinden vermuten ließe – Vulcanus, der Venus wegen des Ehebruchs, sondern Venus, die Vulcanus wegen der Bloßstellung zürnt. Zur Versöhnung kommt es, als Venus ihren Gatten um Waffen für Eneas bittet; Le Roman d’Eneas. Übers. u. eingel. v. Schöler-Beinhauer, Monica. München 1972 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 9), V. 4341 – 4393.

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nach Ovid erzählt, mit einigen aufschlussreichen Mediävalisierungen, auf die ich an dieser Stelle aber nicht weiter eingehen möchte.20 Der Konnex zur eigentlichen Handlung besteht in einer Relation der Überbietung: Der Liebende präsentiert sich als ein zweiter, besserer Pygmalion. Er spricht plötzlich von einer Statue, die den Eingang zur Rosenburg bezeichne, eine Statue, die von zwei Säulen getragen wird und mit der sich die des Pygmalion vergleichen könnte wie eine Maus einem Löwen (20811 – 20816 und 21218 – 2122721). Damit hätten wir wiederum das Phänomen der Doppelung gegeben: Für die Geliebte wird ein weiteres Substitut gewählt, neben der Rose ist sie auch in der Statue repräsentiert. Diese Statue ist dem Gemeinten von ihrer Phänomenalität her ähnlicher als die Rose, gerade diese höhere Ähnlichkeit verschiebt die gemeinte Geliebte freilich in die Sphäre der Künstlichkeit, statuarisiert sie. Auf der Folie der Pygmaliongeschichte erweist sich die Geliebte zudem deutlich als Geschöpf, als Projektion des Liebenden. Was er liebt, ist ein Phantasma seiner selbst und kein individuelles Anderes. Die Rose hingegen scheint in dieser Konstellation nochmals reduziert auf die Repräsentation nicht nur des ganzen Körpers der Geliebten, sondern des Geschlechtsteils, womit wiederum eine notorische Neigung des Textes manifest wird: nämlich die höfisch-erotischen Bildtopoi als Sublimationen des Geschlechtlichen zu entlarven, als trügerische Verhüllung der reinen Sexualität – rosa sive vulva lautet also die Maxime dieser radikalisierten Bildlogik: Was Metapher war, tendiert zur Metonymie hin. Im Falle des ,echten‘ Pygmalion, des Pygmalion aus Ovids „Metamorphosen“, geschieht die Belebung der Statue durch ein Gebet an Venus und den Beseelungsakt durch die Göttin. Bei Pygmalion II, dem Liebenden des „Rosenromans“, mutiert die Lebende zunächst zum leblosen Kunstwerk, dem Belebungsakt in der ovidianischen Exempelerzählung entspricht ein Akt der Zerstörung: Zu dieser Zerstörung befähigt den Liebenden, den zweiten Pygmalion, nicht Venus, sondern Nature. Er verkleidet sich als Pilger, Nature aber hat ihm Pilgersack und Pilgerstab gegeben (21357 – 21392), mit denen er in die Schießscharte stößt, die sich zwischen den beiden Säulen befindet, die die Beine der Statue darstellen sollen. Was hier wirkt, ist eine seltsame Verschiebung ins 20 Zur Pygmalion-Episode vgl. u. a. Dragonetti, Roger : Pygmalion ou les piÀges de la fiction dans le Roman de la Rose. In: Ders. [Anm. 17], S. 345 – 367, erstmals in: Orbis Mediaevalis, m¦langes de langues et de litt¦rature m¦di¦vales offerts — R. R. Bezzola. Bern 1978, S. 89 – 111; Kruse, Christiane: Menschenbilder und Menschenbildner im Rosenroman: Nature, Art und Pygmalion. In: Bild und Körper im Mittelalter. Hg. v. Marek, Kristin u. a. München 2006, S. 115 – 133; Feichtenschlager, Martina: Zur Rezeption und Transformation des Pygmalion-Mythos in der europäischen Literatur des Mittelalters. Magisterarbeit (masch.). Universität Salzburg 2009, hier S. 21 – 58. 21 Der überbietende Vergleich zwischen Ovid-Maus und Rosenroman-Löwe rahmt also den Pygmalion-Exkurs.

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Uneigentliche: Das Bildnis, das sich im Falle der Pygmaliongeschichte Ovids durch täuschende Lebensechtheit auszeichnet, ist im „Rosenroman“ nur halb naturalistisch gedacht. Haupt und Oberkörper haben Frauengestalt, die Beine aber sind Säulen, das Geschlechtsteil eine Scharte. Dem entspricht die Einkleidung des Liebenden, sie beschreibt ebenfalls eine metaphorische Operation: Das geistliche Gewand und die Utensilien – Sack und Stab des Pilgers – dienen der nur allzu durchsichtigen Verhüllung oder auch der verhüllten Enthüllung des fleischlichen Aktes, der in der Destruktion der Statue auf die Defloration verweist. Anschaulich ins Bild gesetzt ist dies in der entsprechenden Miniatur einer Handschrift der Universität Valencia (Abb. 3). Die religiöse Verkleidung verbindet den Liebenden zudem mit Genius, der ja als Priester aufgetreten war. Er erweist sich als Jünger der Prokreation, die Genius im Namen der Natur propagiert hatte. Der Liebende hat die Predigt verstanden – oder doch nicht? Am Ende, beim Pflücken der Rose ist von einem Akt der Bestäubung, der Besamung die Rede. Etwas Same wird dabei verstreut (Un po de graine i espandi – 21720). Dann erwacht der Liebende aus seinem Traum – dem feuchten, wie man wenig originell hinzufügen könnte. Sigmund Freud hätte dieses Ende des „Rosenromans“ wohl als klassischen Fall eines Pollutionstraumes gelesen. Was das imaginierte Fertile sein soll, erweist sich im Erwachen, im Erwachen der Lesenden auch, als infertile Verausgabung. Dieses Schlussbild ließe sich als zum narrativ-mimetischen Motiv geronnene Manier des Textes begreifen: Die Kunst der Differenz ist zu guter Letzt als nasser Fleck, als ,Verschüttung‘ am Linnen des Pergaments oder des Papiers zu sehen, dies die finale, sowohl sokratische als auch sophokleische Ironie. Ich rekapituliere in fünf Thesen: 1) List und Verstellung vollziehen sich im „Rosenroman“ auf mehreren Ebenen. Zum einen auf der Ebene des Sujets: Es gibt Allegorisationen des Betrugs, es gibt Betrugshandlungen. Dann auf der Ebene der Signifikation, in den Strategien der hermeneutischen Irreführung: Verstellung in diesem Sinn vollzieht sich als ein Oszillieren von Sinnperspektiven, des amour courtois zum einen, einer theologisch-philosophischen Doktrin zum anderen – ein Phänomen, das sich wiederum abbildet in den verbalen Akten und effektiven Handlungen, mit denen dem Liebenden der Zugang zu seiner Rose verstellt wird. 2) All dies erweist den eminenten Setzungscharakter des Textes, es zeigt, wie sehr sich der Text seines konstruktiven Verfahrens bewusst ist. Mittel hierbei ist die Ironie, eine Ironie, die auf ein umfassendes Konzept der Kontingenz verweist: der Kontingenz des sprachlichen Zeichens und der Kontingenz des

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Abb. 3 Der Liebende zerstört als Pilger die Statue – Miniatur aus der Handschrift Universitat de Valencia, Biblioteca Historica, MS 387, fol. 146v, um 1410 (http://prometheus.uni-koeln.de/ pandora/de/search?v%5B%5D=rosenroman& commit=commit, 8. 5. 2015).

Subjektes. Ich kann dies hier nur noch andeuten, ausführlich reflektiert werden diese Phänomene bei Daniel Heller-Roazen.22 3) Was der Text exemplifiziert, ist also die Indifferenz und der Irrgang von Prozessen der Signifikation. Dies ist umso bemerkenswerter, als es nicht nur für die höfische, sondern auch für die geistliche Doktrin im Text gilt. Auch sie signifiziert letztlich ins Leere, auch ihre Gewissheiten erweisen sich als ironische Täuschung. Folgerichtig ist dieses Experiment aufgrund der Engführung divergenter poetischer Modi, des geistlich-didaktischen und des höfisch-erotischen; möglich ist es, weil es sich im Freiraum der fiktionalen, erotischen Allegorie vollzieht. 4) Man könnte sagen, dass es sich um ein radikal nominalistisches Experiment handelt, das sich durch hochgradige Negativität auszeichne. Dies betrifft vor allem die Doktrin der Liebe. Was der Text letztlich zu entlarven scheint, ist der triebhafte Succus hinter Kulturation und Kultivierung. Man könnte dies eine ovidianische Inversion nennen: Denn während in den erotischen Metamorphosen bei Ovid aus dem Trieb Kultur entsteht – man denke an Daphne 22 Siehe [Anm. 5].

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oder Syrinx –, wird im „Rosenroman“ aus der Kultur der Trieb, aus Erotik gleichsam reine Sexualität. 5) Das künftige Potenzial dieser nominalistischen Negativität besteht in einer Neuformierung subjektbezogener Identitätsentwürfe: Man könnte diese Neuformierung aus einer ,Ent-Täuschung‘ kommen sehen, aus einer ,EntTäuschung‘, wie sie die irrlichternde, täuschende Signifikation im „Rosenroman“ leistet. Zwei Beispiele könnten Petrarca und Christine de Pizan abgeben. Petrarca insofern, als er ein Konzept der poetischen Unbedingtheit, der prozessualen und fragmentarischen Konstituierung des Subjekts in der poetischen Kreation und Reflexion propagiert (die entsprechenden Texte liefern der „Canzoniere“ und das „Secretum meum“). Christine de Pizan hingegen stiftet in ihrer „Cit¦ des Dames“ – nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit dem „Rosenroman“ – eine neue Identität: die Identität des weiblichen Subjekts, der fragilsten persona in der literarischen Kultur bis anhin. Gelingen kann diese Identitätsstiftung aufgrund eines eminent prononcierten Zugriffs auf die narrative Tradition, aufgrund von intentionalen Fehllesungen der überlieferten Erzählungen von Weiblichkeit. Was der „Rosenroman“ aus einer heterogenen, antagonistischen literarischen Tradition gelernt hat und was er weitergibt, ist ein ironisches Bekenntnis: Das Ich ist das Produkt komplexer Operationen verbaler, ikonischer und intellektueller Verstellung.

Florian Kragl (Erlangen)

Betrogen? Eindruckslose Listen und gleichmütige Verlierer in „Flore und Blanscheflur“ und anderswo

I.

Vom Zorn des Betrogenen

Verstellung und Betrug – Täuschung und List. Die vier Begriffe beleuchten im Grunde denselben Bereich von verschiedenen Seiten. Ich will, allen terminologischen Unsicherheiten zum Trotz, kurz und prägnant umreißen, was ich im Folgenden darunter verstehe: Verstellung und Täuschung1 benennen eine Handlung, bei der eine Person A einer Person B mit Absicht Tatsachen vorgibt, die Person A selbst für falsch hält – ungeachtet der Frage, was nun ,wirklich wahr‘ ist. Welche Handlung dies ist – eine Sprachhandlung, eine Aktion –, ist einerlei, auch die Tatsache kann von der sprachlichen Behauptung bis zum Faktum reichen. Verstellung legt den Fokus auf Person A, Täuschung auf Person B. Doch in jedem Fall ist es eine aufgedoppelte semiotische Angelegenheit:2 Person A setzt ein wie auch immer geartetes Zeichen und motiviert Person B wie auch immer dazu, dieses Zeichen ,falsch‘ zu verstehen. Die Lüge wäre ein sehr spezieller – sprachlicher – Fall einer solchen Strategie.3 Für sich genommen, macht solches Verstellen und Täuschen freilich wenig Sinn. Es bedarf einer Rahmung – durch Betrug und List, die sich begrifflich wohl nur konnotativ unterscheiden: Betrug ist eine weniger akzeptable List, List die 1 Ich verwende ,Täuschung‘ nur als ,jemandem täuschen‘, also die transitive Verwendung des Verbs, nicht aber in Bezug auf das reflexive ,sich täuschen‘. 2 So hat Schwarz, Alexander: Listig in die Neuzeit. In: Text im Kontext. Anleitung zur Lektüre deutscher Texte der frühen Neuzeit. Hg. v. A. Sch. und Abplanalp, Laure. Bern u. a. 1997 (TAUSCH. Textanalyse in Universität und Schule 9), S. 245 – 256 versucht, List (in frühneuhochdeutschen Texten) mit einem Zeichenmodell zu erfassen, das er in Schwarz, Alexander: Tills List. In: Bausteine zur Sprachgeschichte der deutschen Komik. Fs. Walter Lenschen zum 65. Geburtstag. Hg. v. A. Sch. Hildesheim 2000 (Germanistische Linguistik 153), S. 109 – 118 als semiotisches Dreieck beschreibt. 3 Daher kann auch Augustins berühmte Definition von Lüge analogisch auf Verstellung und Täuschung projiziert werden: Quapropter ille mentitur, qui aliud habet in animo, et aliud verbis vel quibuslibet significationibus enuntiat. (Augustin, De mendacio, CSEL 41, 413 – 466, hier cap. III) Vgl. ganz ähnlich noch etwa Weinrich, Harald: Linguistik der Lüge. Heidelberg 1966, S. 40.

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Kavaliersdelikt-Variante von Betrug.4 Während aber nun Verstellung und Täuschung nur auf einen Aktionskern abheben, beschreiben Betrug und List einen größeren Handlungszusammenhang, in den Verstellung und Täuschung eingebunden sind. Ganz schematisch gesprochen: Betrug und List machen Verstellung und Täuschung durch entsprechendes Handeln produktiv, und sie geben damit Auskunft darüber, wer wen zu welchem Zweck täuscht; welchen Nutzen Person A auf welche Weise daraus zieht, Person B getäuscht, sich ihr gegenüber verstellt zu haben.5 Ich will das Abstrakte kurz mit einem Beispiel illustrieren: der GaunerKomödie „The Sting“, deutsch „Der Clou“ aus dem Jahr 1973. Die Handlung spielt in Chicago im Jahr 1936. Im Zentrum steht der Betrug, den Henry Gondorff (Paul Newman) und Johnny Hooker (Robert Redford) gegen Doyle Lonnegan (Robert Shaw) aushecken und durchführen. Doyle Lonnegan, ein mächtiger Gangster mit politischem Einfluss, hat einen gemeinsamen Freund des Betrugsgenies Henry Gondorff und des kleinen Trickbetrügers Johnny Hooker auf dem Gewissen. Das gilt es zu rächen. Letzten Endes gelingt es und sie erleichtern Lonnegan um eine riesige Geldsumme. Die Art, wie Gondorff und Hooker dies anstellen, ist zu kompliziert, als dass ich dies hier nachzeichnen könnte.6 Nur eine frühe Szene des Films, die fast pars pro toto für die gesamte Listhandlung stehen könnte, sei herausgehoben: ein Pokerduell zwischen Gondorff und Lonnegan. Lonnegan, ebenso gewinnsüchtig wie skrupellos, betrügt: Er lässt von seinem Handlanger ein Set Karten präparieren und tauscht es nach dem Mischen mit dem im Spiel befindlichen Kartenset aus. Und doch verliert er, weil Gondorff noch flinker mit den Karten trickst, als Lonnegan, sein Handlanger oder sogar 4 Auf diesen graduellen Unterschied in der Wertung der Begriffe weist auf Basis neuhochdeutscher Wörterbücher auch Geier, Bettina: Täuschungshandlungen im Nibelungenlied. Ein Beitrag zur Differenzierung von List und Betrug. Göppingen 1999 (GAG 659; zugl. Freiburg, Diss. 1998), S. 24 f. u. ö. hin. 5 Das kann wohl auch als größter gemeinsamer Nenner der Listforschung gelten. Siehe die Zusammenschau bei Semmler, Hartmut: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur. Berlin 1991 (Philologische Studien und Quellen 122), S. 30 – 34. 6 Man installiert ein fingiertes geheimes Wettbüro – um Perdewetten geht es primär – und lockt Lonnegan mit einer sicheren Gewinnaussicht: Hooker erschmeichelt sich das Vertrauen Lonnegans, indem er ihn dem Schein nach mit den Ergebnissen der Pferderennen vor Ablauf der Setzfrist versorgt. Wie das im Einzelnen in Szene gesetzt wird, ist nebenrangig, wichtig nur : Lonnegan ist der Überzeugung, die Ergebnisse schneller als das Wettbüro zu bekommen, sodass er die Wetten entsprechend platzieren kann. Tatsächlich ist alles für ihn gespielt. Es kommt, wie es kommen muss: Als Lonnegan, nachdem er das System ,getestet‘ hat, $ 500.000,– setzen will, lässt man ihn das Geld durch eine ambige Vorabinformation falsch platzieren: Lonnegan setzt auf Sieg, sein Pferd landet auf Platz zwei. Lonnegan tobt – der Betrug hat funktioniert.

Betrogen?

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das Publikum des Films zu sehen im Stande sind oder es ihnen zu sehen vergönnt ist. Der Zweck Gondorffs ist primär, Geld zu gewinnen. Doch nicht das ist es, was Lonnegan nach dem Spiel so sehr erzürnt, die verlorenen gut ein Dutzend tausend Dollars sind für ihn gewissermaßen peanuts. Was ihn in Rage bringt, ist das Wissen, betrogen zu sein, dazu noch, dass er der schlechtere Betrüger ist – und nichts dagegen tun kann, weil jede Reaktion zugleich den eigenen Betrug – dass er die Kartensets ausgetauscht hat – ausstellen würde. Was sich hier am szenischen Detail abzeichnet, gilt für den gesamten Film, der in aller Komplexität der Handlungsführung doch ein nachgerade klassischer Fall von betrügerischer List, listigem Betrug, wie immer man will, ist: Gondorff, Hooker und ihre Mitstreiter v e r s t e l l e n sich Lonnegan gegenüber, t ä u s c h e n ihn, um ihn zu b e t r ü g e n, zu ü b e r l i s t e n. Ziel ist, primär, ihn ordentlich auszunehmen. So würde es sich jedenfalls darstellen, wenn man das Beispiel in die obige Abstraktion einsetzt. – Jedoch: Lässt sich der Tod eines Freundes mit Geld begleichen? Natürlich geht es auch um Geld, soll das Unternehmen von Gondorff und Hooker rentabel sein. Das eigentliche Ziel aber ist ein anderes. Vor allem Hooker, abgeschwächt auch Gondorff, ist es weniger darum zu tun, Lonnegan zu berauben: Hooker will ihn demütigen; demütigen, indem er Lonnegan betrügt, überlistet. Und tatsächlich: Lonnegan tobt zwar am Ende, weil er viel Geld – für seine Verhältnisse vielleicht nicht einmal allzu viel – verloren hat. Doch noch mehr scheint er zu toben, weil er – ganz wie beim Pokerspiel – im Glauben, alle überlistet zu haben, letztlich doch der Dumme war.7 Das aber nun macht einen Aspekt von Betrug und List deutlich, um den man sich, soweit ich sehe, bislang nicht besonders gekümmert hat:8 Betrug und List verfolgen nicht nur einen konkreten Zweck, sondern ihnen eignet auch ein bestimmter Effekt. Wer einen anderen überlistet, zieht daraus nicht nur einen wie immer gearteten Nutzen, sondern wird sich auch alleine der Tatsache erfreuen, den anderen überlistet zu haben – wie Gondorff und Hooker. Man

7 Er durchschaut bis zum Ende den Betrug nicht, Gondorff und Hooker halten die Fiktion für Lonnegan auch nach der Wettniederlage aufrecht und inszenieren noch den eigenen Tod, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, auf die Abschussliste von Lonnegans Männern gesetzt zu werden. Doch das Wissen um sein Scheitern scheint dominant – genauso wie die Genugtuung Gondorffs, Hookers und der anderen. 8 Die generell zaghaften Versuche der Listforschung auf dem Gebiet der westlichen Literatur konzentrieren sich größtenteils darauf, die List resp. Listarten zu typologisieren, etwa nach Art und Behelf der Täuschung. Einen Vergleich einiger solcher Typologisierungen bietet Nanchen, S¦bastien: Typologisierung der List anhand Wickrams Rollwagenbüchlin. In: Schwarz: Bausteine [Anm. 2], S. 119 – 136. Siehe auch den forschungskritischen Exkurs unten. Auch die einzige jüngere breit angelegte Studie zur List in der mhd. Literatur (Semmler [Anm. 5]) vertraut auf diesen Zugriff.

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könnte dies, in Anlehnung an Werner Röcke9, als ,Freude am Bösen‘ bezeichnen. Und wer aber überlistet wird und dies im Nachhinein ganz oder zumindest teilweise begreift – Lonnegan also –, empfindet es als Schmach. Das hat etwas von intellektuellem Agon. Schadenfreude und Zorn sind wohl die üblichen Affektbegriffe dafür. Das kann bei Betrugs- und Listhandlungen marginalisiert sein, gewissermaßen zum Beiwerk werden. Es kann aber auch ins Zentrum einer Betrugs- und Listhandlung rücken, wenn die betrügerisch-listige Demütigung zum eigentlichen Ziel des Betrugs und der List wird. Der Effekt schiebt sich dann vor den Zweck – wie in „The Sting“. Nochmals also: Betrug und List beruhen auf Verstellung und Täuschung. Eine falsche Erwartungshaltung wird durch Verstellung und Täuschung bewusst provoziert und diese dann nutzbar gemacht zu einem bestimmten, oft materiellen Zweck. Doch zu diesem, im weitesten Sinne, ,materiellen‘, meist intentionalen Nutzen stellt sich als Effekt die schadenfrohe Demütigung des Betrogenen und Überlisteten. Dieser Effekt ist es, auf den es mir im Folgenden ankommt. Gefragt ist damit, gewissermaßen, nach der Perspektive des Betrogenen, Überlisteten; gefragt danach, wie ein Betrogener, Überlisteter in der Literatur des frühen 13. Jahrhunderts darauf reagiert, betrogen worden zu sein. Um es vorwegzunehmen: Verbrecher mit Wutstörung wie Doyle Lonnegan wird man dort selten finden. Doch das Problem bleibt virulent: Wie reagiert man auf Betrug und List? Mein Beispiel ist Konrad Flecks Roman „Flore und Blanscheflur“ (um 1230).10

II.

Wie Flore den Turmwächter überlistet

Die Geschichte von Flore und Blanscheflur – ein im Mittelalter weit verbreiteter Stoff – erzählt von der Minne zweier Kinder : von Flore, einem heidnischen Königssohn in Spanien, und Blanscheflur, der Tochter einer christlichen Gefangenen am Königshof. Vom Kleinkindalter an entwickelt sich eine Minnebindung zwischen den Kindern, die von den Eltern Flores natürlich nicht gerne gesehen ist: Stand und Religion trennen Flore und Blanscheflur. Flores Eltern verkaufen Blanscheflur heimlich an babylonische Kaufleute, um sie aus Flores Leben zu schaffen, inszenieren für Flore ihren Tod, doch als dieser sich selbst töten will, verrät der König seinem suizidalen Sohn, was mit Blanscheflur 9 Röcke, Werner : Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 6; zugl. Berlin, Habil.-Schrift). 10 Ich verwende die Ausg.: Flore und Blanscheflur. In: ,Tristan und Isolde‘ und ,Flore und Blanscheflur‘. 2. Tl. Hg. v. Golther, Wolfgang. Stuttgart [1889] (Deutsche National-Litteratur 4,3).

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wirklich geschehen ist. Flore macht sich auf den Weg, sie zu retten. Blanscheflur ist inzwischen im ,Besitz‘ des mächtigen Amirals, der sie in einem haremartigen Turm in Babylon gefangen hält, um sie später zu heiraten. Flore spürt ihrem Schicksal detektivisch nach, gelangt selbst nach Babylon, findet gastliche Aufnahme bei einem Wirt namens Daries – und sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass er nun zwar weiß, wo sich Blanscheflur aufhält, dorthin – in den schwer bewachten Turm – aber kein Weg führt. Überflüssig zu sagen, dass Flore einen Weg finden wird, nach einigem Hin und Her alles in ein süßliches Happy End mündet. Mir kommt es auf eine kurze Szene an, die damit beginnt, dass Flore das Turmproblem begreift.11 Virulent wird es dadurch, dass der Amiral aller Voraussicht nach bald Blanscheflur heiraten wird, was für sie binnen Jahresfrist den sicheren Tod bedeutet. Flore ist am Verzweifeln, will sich schon aufmachen, um Blanscheflur öffentlich vor dem Amiral zu beanspruchen, was der sichere Tod wäre – da fällt ihm sein Wirt in den Gedanken und bringt Flore auf eine Idee: eine List, mit der sich Flore Zugang zum Turm verschaffen könnte: Am morgigen Tag, so Daries, solle sich Flore zum Turm aufmachen, in dem Blanscheflur und der übrige Harem des Amirals gefangen gehalten werden. Diesen Turm gälte es zu vermessen, in der Höhe, der Breite, ganz als wäre Flore ein Architekturtourist. Der Turmwächter (wörtlich nur der torwehter) wird – so prophezeit Daries – darüber zornig werden, wird versuchen, Flore zu vertreiben. Doch das lässt sich abwenden: Flore solle vorgeben, genau einen solchen Turm zuhause – in seinem Land – nachbauen zu wollen. Das wird das Interesse des Wächters wecken und Flore Gelegenheit geben, den Wächter in ein Gespräch zu verwickeln, in dem Flore mit seinem Reichtum und seiner adligen Art punkten könne. Der Wächter wird fasziniert sein und Flore um eine Partie Schach bitten. Schachspiel ist seine große Leidenschaft. Flore solle das nicht ablehnen, allerdings dafür sorgen, dass er den Wächter im Spiel besiegt. Mittel zum Zweck sei, so Daries, der prächtige Ring Flores, der den Wächter – der nicht nur spielsüchtig, sondern auch gierig ist – verzücken und derart ablenken wird, dass er verliert. Um aber den Zorn des Wächters über seine Niederlage zu besänftigen, müsse ihm Flore am Ende des Spiels den ganzen Gewinn und dazu noch den eigenen Einsatz schenken. Der Wächter wird ihn dafür zum erneuten Spiel am nächsten Tag einladen, wo dasselbe – nur mit größeren Einsätzen – ablaufen soll. Detto der dritte Tag, an dem aber Flore auch seinen prächtigen Pokal (napf, kopf) mitzubringen habe. (Es ist jener Pokal, für 11 Soweit ich sehe, ist diese Szene bisher nicht im Kontext von Listhandeln interpretiert worden. Semmler [Anm. 5] bringt zwar einige Beispiele aus „Flore und Blanscheflur“ (siehe sein Register), übergeht die Wächter-List aber. – Nicht zugänglich war mir : Altpeter-Jones, Katharina: Trafficking in Goods and Women. Love and Economics in Konrad Fleck’s ,Flore und Blanscheflur‘. Durham, NC, Duke University, Diss. 2004.

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den Flores Eltern einst Blanscheflur verkauft haben und der Flore dann auf Blanscheflurs Spur geführt hat.) Der Wächter werde alles daran setzen, diesen Pokal zu erwerben. Erfüllt ihm Flore diesen Wunsch und schenkt ihm – zusätzlich zu seinem Einsatz und dem Verspielten des Wächters – auch noch diesen kostbarsten Pokal, wird ihm der Wächter zweifellos treue Gefolgschaft schwören. Dann könne Flore alle Fassade ablegen und dem Wächter klipp und klar sagen, worum es ihm eigentlich ginge. Schließlich habe ihm der Wächter bereits Gefolgschaft geschworen, da würde es schwerlich ein Zurück geben. Soweit der Plan. Flore bedankt sich und setzt alles rezeptgemäß in die Tat um (4613 – 4920). Am nächsten Morgen macht er sich auf zum Turm. Der klug daherhöfelnde Bub beeindruckt den Wächter schwer, es gelingt Flore, seinen Reichtum dezent und doch prägnant Thema werden zu lassen. Alles kommt, wie Daries es prophezeit hatte: Der Wächter bittet Flore zum Schachspiel, Flores Ring wirkt wie eine Droge, ganz aus dem Häuschen, verliert der Wächter mehr und mehr, Flore schenkt ihm das Verlorene und den eigenen Einsatz, am nächsten Tag dasselbe, am dritten wieder. Der Pokal, den Flore nach Plan am dritten Tag mitbringt, treibt die Gier des Wächters auf die Spitze. Flore schenkt ihm den Pokal – schon unter der Bedingung, dass ihm der Wächter jederzeit auf Verlangen mit Hilfe zur Seite stehen muss. Der Wächter lenkt ein, fällt Flore pathetisch zu Füßen, gibt sich ihm zu eigen (als eigenman), schwört ihm Treue. Flore nimmt an – und sagt dem Wächter frank und frei, was sein Ziel ist: Blanscheflur, seine friundinne, wolle er aus dem Turm befreien, der Wächter solle ihm dazu jetzt – als sein Gefolgsmann – gefälligst helfen. Und tatsächlich: Der Wächter sieht sich zwar betrogen, macht aber keinerlei Anstalten, seinen eben geleisteten Schwur zu brechen oder gar – als Verantwortlicher für den Turm – Flore gefangen zu nehmen. Zwar ängstigt sich der Wächter vor den Gefahren, denen er sich und Flore bei einem solchen Vorhaben ausgesetzt sieht, doch schon schüttelt er einen Plan aus dem Ärmel, wie Flore es in den Turm zu Blanscheflur schaffen könnte … (4921 – 5410). Eine klassische List. Flore ,überlistet‘ den Wächter : Er verstellt sich, täuscht ihn, suggeriert eine falsche Situation; der Wächter fällt darauf herein. Der Text macht daraus keinen Hehl: Als Flore – baumeisterlich verkleidet – sich daran macht, den Turm zu vermessen (4931 – 5012), wird sein listiges Geschick überdeutlich. Der Erzähler erklärt dann auch, dass Flore kunde wol geb–ren j s„me herzen ungel„che (4944 f.). ernestl„che vermisst er den Turm, als wäre er für nichts anderes hergekommen, wenn auch seine sinne bei Blanscheflur im Turm sind (4946 – 4952). Auch im Weiteren agiert Flore ausnehmend klug. Nicht nur erklärt er dem erbosten Wächter sein Vorhaben – den Turm nachbauen zu wollen –; er gibt auch zu verstehen, dass ihn anderes nicht interessiere. Später signalisiert er dem Wächter, dass er doch auch die Innenarchitektur des Turmes gerne sähe. Doch ist das keine ,Abkürzung‘ der List, um in den Turm zu ge-

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langen, sondern es gibt Flore nochmals Gelegenheit, jeden Verdacht von sich zu lenken: Schließlich sei doch bestimmt nur Gold im Turm, und davon habe er nun selbst wahrlich genug. Das ist schon ziemlich gefinkelt. Im Gegenzug dazu ist das Verhalten des Wächters reichlich naiv. Der Kontrast zwischen den Figuren kulminiert darin, dass auch der Wächter sich an einer List versucht: Fasziniert von dem edlen, reichen Kind, hat er es bald auf dessen vermeintlichen (und ja auch tatsächlichen) Reichtum abgesehen. In monologischen Reden denkt er darüber nach, wie er wohl das Vertrauen des Knaben erwerben könnte: Er versucht es mit Nettigkeit (mit etel„cher fuoge, 5045), später – nachdem er den wunderbaren Pokal gesehen und nichts anderes mehr im Kopf hat, als wie er diesen seinem Besitzer abwerben könnte – lädt er Flore zu einem prächtigen Mahl und lässt für seinen Gast reichlich teure Speisen auftischen (5232 ff.). Hier steht List gegen List, sodass der Erzähler nach dem Essen bemerkt: ir dewederre vergaz, j er gedaehte an s„ne sache. (5244 f.) Doch die listige Konfrontation hat enorme Schieflage: Während der Wächter ahnungslos ist, mag Flore ahnen, dass und wie der Wächter vergeblich versucht, seinen eigenen Nutzen zu fördern. Intentionalität hin oder her, ist aber in jedem Fall die Hierarchie der Listen klar : Sie stehen nicht eigentlich in Konfrontation – die Ziele sind ja auch ganz verschiedene –, sondern des Wächters List spielt jener Flores wunderbar in die Hand. Das ist, wenn man so möchte, eine listige mise en abyme, eine besonders raffinierte Form der List, wo der Überlistete sich listig wähnt und gerade damit seine eigene Überlistung befördert. Alles wie im Film! Doch es gibt eine entscheidende Differenz, die sich aus Flores und aus des Wächters Perspektive beschreiben lässt. Aus Flores Sicht: Ihm ist es nicht darum zu tun, mit seiner List den Wächter zu demütigen, ihn zum Betrogenen, zum Überlisteten im emphatischen Sinne zu machen. Aus des Wächters Sicht: Er wird getäuscht, die Täuschung wird ihm von Flore geradezu vorgerechnet – aber zu ärgern scheint ihn das nicht. Dabei weiß der Wächter sehr wohl, was Zorn bedeutet: Wenn er im Schachspiel Geld verliert, erzürnt ihn das (siehe unten) – natürlich nur bis es ihm Flore wieder zurückgibt –, und auch als er Flore den Turm vermessen sieht, dú was im zorn und ungemach (4954). Aber als er betrogen wird, zürnt er nicht! Und das ist das eigentlich Erstaunliche: Nicht dass einer den anderen überlistet, Flore seinen Wächter, ohne ihn demütigen zu wollen, eine List aus rein materiellem Interesse – das ist so ungewöhnlich nicht. Gaunereien funktionieren so, „Pink Panther“-Filme auch. Dass aber der Überlistete im Moment der Erkenntnis – in dem Moment, in dem er den Trug erkennt, alles Gewesene aus einem neuen Blickwinkel sieht, die Krankamera zügig nach oben fährt; – dass also der Betrogene den Betrug ganz gleichmütig, unbeeindruckt hinnimmt, das ist bemerkenswert.12 12 Die Forschung hat sich gelegentlich darüber gewundert, ohne dem näher nachzugehen. Z. B.

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III.

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Einen haltlosen Schwur halten

Der Text ist nicht so naiv, als dass er um dieses Problem nicht wüsste. Zweimal wird es Thema. Das erste Mal nur kursorisch, als Daries mit seiner Listrede zu Ende kommt. Flore solle dem Wächter nach dessen Schwur sein eigentliches Anliegen eröffnen, denn (ich paraphrasiere): ,Wie könnte er euch das abschlagen, wo er doch so viel von eurem Besitz empfangen hat? Wenn er sich aber derart erdreistet – ob er aber sú missetuot –, euch nicht zu helfen, dann stehen die Chancen doch gut, dass die Sache nicht auffliegt; wan erz niemer engetar j vor s„nen triwen gerüegen.‘ (4884 – 4895) Im Übrigen müsse man es versuchen, denn eine andere Möglichkeit gebe es ohnehin nicht. – Das zeigt Gewissheit, was die prospektive Reaktion des Wächters angeht. Die Thematisierung alleine – verstärkt durch die, freilich unwahrscheinliche, Option des missetuons – zeigt aber, dass es auch anders gehen könnte. Die Argumentation des Daries, warum es doch gut gehen wird, klingt nur nach Erklärung, ist es aber nicht; denn warum der Wächter anderes nicht zu tun ,wagen‘ wird, was das mit triuwe zu tun hat, das erklärt Daries nicht. Und man fragt sich außerdem: Ist es ein schlichter Bestechungsfall?13 Wie dem auch sei: Flore verlässt sich auf Daries’ Strategie. Als Flore dem Wächter über sein Vorhaben reinen Wein einschenkt (5329 – 5376) – unmittelbar nach dem Gefolgschaftsschwur –, rekurriert Flore wiederholt auf die triuweIdee. ˜f rehte triuwe (5347) sagt er dem Wächter, was er tatsächlich will: zu Blanscheflur in den Turm kommen. Und wieder : n˜ müez iu got gebieten daz ir triuwe an mir beg–nt, als ir mir gelobet h–nt … (5364 – 5366)

Schmid, Elisabeth: Über Liebe und Geld. Zu den Floris-Romanen. In: Der fremdgewordene Text. Fs. für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Hg. v. Bovenschen, Silvia u. a. Berlin, New York 1997, S. 42 – 57, S. 43 (der Wächter sei „nur halb so wild“); Ebenbauer, Alfred: Flore in der Unterwelt. Eine Spekulation. In: „swer s„nen vriunt behaltet, daz ist lobel„ch“. Fs. für Andr‚s Vizkelety zum 70. Geburtstag. Hg. v. Nagy, M‚rta und Jónácsik, L‚szlû. Piliscsaba, Budapest 2001 (Abrogans 1; Budapester Beiträge zur Germanistik 37), S. 87 – 103, hier S. 101 („eine schillernde Figur“). 13 So hat man die Szene bisher meist verstanden, wobei das Schachspiel die Bestechung nur verlängert oder verschleiert (z. B. Ebenbauer [Anm. 12], S. 101). Vgl. auch Schmid [Anm. 12], S. 49 – 51 u. ö.; Winkelman, J. H.: Die Brückenpächter- und die Turmwächterepisode im ,Trierer Floyris‘ und in der ,Version Aristocratique‘ des altfranzösischen Florisromans. Amsterdam 1977 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 27), S. 133 – 136 (das Schachspiel als sekundärer Zusatz). – Später (S. 102) deutet Ebenbauer das Schachspiel aber, ganz gegensätzlich, als rite de passage, emphatisch als „Spiel an der Grenze des Totenreichs“.

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Denn nur der Wächter könne Flore helfen. Und nochmals am Schluss der Figurenrede: gedenkent an die triuwe, die ein man s„me herren sol. ich man iuch: des bedarf ich wol. (5374 – 5376)

Das ist keine Antwort auf das triuwe-Problem, sondern bloß dessen Funktionalisierung. Diese aber hat Erfolg, wenn auch der Wächter sein Dilemma wohl bemerkt. Hier kann das Problem ein zweites Mal Thema werden, denn der Wächter reagiert sonderbar (5377 – 5410): Er erschrickt heftig und sieht sein Ansehen und sein Leben in Gefahr. Dann beginnt er zu verstehen: waz h–n ich tumber get–n, j daz ich sus betrogen bin! – Betrogen! Bestechung alleine also, wie man es nach dem Schluss der Daries-Rede vermuten könnte, ist es nicht, was den Wächter weichgeklopft hat. Gold hatte freilich damit zu tun; der Wächter weiter : Das Gold Flores habe ihm den Verstand (sin) geraubt, sodass Flores Reise nun beide – ihn selbst und den Wächter – reuen wird. owÞ daz ich niht ungetriuwe j werden mac mit fuoge!, seufzt er. Einst hätten ihn witze – Verstand und Scharfsinn – vor fremdem Gut behütet, zumal es sich nicht gehört – der Wächter wird moralisch –, Gold ohne Anlass zu nehmen. Das habe er nun begriffen. Jedoch: s„t ez aber ist geschehen, sú sulnt ir rehte wizzen, daz ich iemer bin geflizzen ze allen iuwern Þren … (5398 – 5401)

Alles wird der Wächter – wie geschworen – für Flore tun, Schlimmeres als der Tod kann ihm dabei nicht widerfahren. d– mit ist mir unerwert, ich enhalte, sw– ich mac, m„n triuwe unz an den suonetac. (5408 – 5410)

Dann entfaltet der Wächter seine Idee, wie Flore in den Turm gelangen könne … Die Reaktion des Wächters entspricht im Grunde der Prognose – mit einigen kleineren Modifikationen: Die Idee, es könnte nur Bestechung sein, wird klar verabschiedet; der Wächter sieht sich betrogen. Doch er fühlt sich augenscheinlich nicht so. Zwar klingt es für einige wenige Verse so, als würde er lieber ,untreu‘ sein – dem Flore ,untreu‘ –, und er fürchtet, dass ihn Flores Reise reuen wird, vielleicht, weil er gegen seine Schutzpflicht, seine Wächteraufgabe ver-

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stoßen hat. So könnte man interpolieren. Der Wächter freilich denkt anders: Nicht seinen Pflichtverstoß fürchtet er, nicht ein Problem mit seinem Dienstgeber, sondern das gemeinsame Unglück, das ihn und Flore – als Verbündete! – erwartet, wenn es darum gehen wird, Flore in den Turm zu schmuggeln. Das Reuen wird zum Scharnier-Argument vom (kaum recht) angesetzten Fluch über den Betrug zur Bekräftigung der unverbrüchlichen Gefolgschaft. Gerade das vorsichtige Indiz für ein mögliches missetuon des Wächters – und sei es auch nur ein erwogenes – wird umgebogen zum Beweis, dass er das bestimmt nie tun würde, könnte, wollte. Wie es Daries versichert hatte. Und wieder ist der Grund klar und nebulös zugleich: triuwe bindet den Wächter an Flore, daher wird er Flore nicht ,melden‘ oder ,verraten‘ (gerüegen), daher wird er ihm helfen, ihm bis in den Tod beistehen. Was das im Einzelnen meint – warum man einem Betrüger treu sein muss14 –, erfährt man wiederum nicht. Eine sonderbare List – oder vielmehr : ein sonderbarer Betrogener. Einer aber, den die Handlung unbedingt braucht, um die Richtung zu nehmen, die Flore bald zu Blanscheflur führen wird. Denn damit, dass Flore die List ausführt, ohne den Wächter ärgern zu wollen, damit, dass der Wächter ob des Betrugs nicht zürnt – damit ist es ja noch nicht getan. Das wäre fakultativ : ob den Betrogenen der Betrug wurmt oder nicht, ist einerlei, solange die List nur Erfolg hat. Die Wächter-List ist aber mehr : Nicht nur wird die mögliche Demütigung durch die List nicht thematisiert, vielmehr wird das Fehlen einer solchen in die Narration eingegraben. Man muss sich das deutlich machen: Nur weil der Wächter aus der Beobachtung – die er ja sehr wohl tätigt! –, dass er betrogen worden ist, keine Konsequenz zieht, hat Flore später Erfolg und gelangt zu Blanscheflur in den Turm. Nur weil der Wächter sein Wort hält, obwohl er es unter einer listigen Täuschung gegeben hat, wird Flore seine List nicht zum Verhängnis. Nur weil der Wächter nicht zürnt, obwohl er guten Grund dazu hätte (das wäre wohl eine der ersten Konsequenzen der erkannten Überlistung), ist es überhaupt eine List – und nicht eine verquere Resignation.15 Und noch mehr : Diese – aus heutiger Sicht – überraschende Reaktion des Wächters ist keine, die ad libitum geschieht, keine ad-hoc-Motivierung des Erzählers, um Flores Weg zu Blanscheflur zu lenken, sondern die Reaktion des Wächters ist kalkulierbar : Daries rechnet fest damit, Flore leuchtet der Plan sofort ein, und tatsächlich geht alles wie geschmiert. Die Reaktion ist nicht exorbitant, sondern – im Romankontext – geradezu kon-

14 Vgl. Ebenbauer [Anm. 12], S. 101, der den Schwur „unter extremen Bedingungen“ gegeben sieht, ansonsten aber die Szene auf einen Bestechungsfall reduziert. 15 Ungefährlich ist das Vorhaben deshalb noch lange nicht (so Ebenbauer [Anm. 12], S. 101). Würde der Wächter anders reagieren, wäre es das wohl für Flore gewesen.

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ventionell. Die Gelassenheit des Wächters ist nicht Beiwerk, sondern unabdingbar für die Handlung.16 Das aber ist dann – bei aller Gemeinsamkeit – eine krasse Differenz zu Listen wie jener in „The Sting“: Die Funktionalität der Listen ist vergleichbar, Täuschung und Betrug ähneln einander ; aber die List Flores ist auf eigentümliche Weise eindruckslos – hinterlässt beim Überlisteten keinen Eindruck –, und der Betrogene, der List-Verlierer, reagiert gleichgültig. Markant wird die Differenz, weil sie in beiden Fällen fest im Narrativ verankert ist: Der ,eigentliche‘ Sinn von „The Sting“ ist eben nicht der Raub, sondern die Demütigung von Doyle Lonnegan – des Beraubten, des Überlisteten, Betrogenen. Das gelänge Flore unmöglich, selbst wenn es ihm bei seiner Wächter-List darum ginge. Und umgekehrt: Wäre der Wächter Doyle Lonnegan, würde er den Gefolgschaftsschwur sofort brechen – mit Recht brechen! –, weil dieser auf falschen Voraussetzungen, auf Betrug beruht, die Treue ihr Fundament verloren hat, weil dieses Täuschung 16 Ich konzentriere mich im Folgenden ausschließlich auf Konrad Flecks Erzählung. In der französischen version aristocratique (VA) ist die Szene im Grunde genauso gestaltet, nur (wie generell) zügiger erzählt, was das Geschehen doch weniger problematischer erscheinen lässt als in der deutschen Version. Dafür bietet Daries (Daires) en passant eine Erklärung für das Verhalten des Wächters an, indem er ihn mit einem ironischen Seitenhieb als ziemlich einfältig hinstellt (VA 1951, vgl. den Kommentar zur Stelle in der Ausg. S. 163; die ganze Szene: VA 1878 – 2073). Anders die französische version populaire bzw. seconde (VP), wo alles viel einfacher gelöst ist: Zwar ist der Aufbau der Episode (Anleitung und Ausführung) derselbe, bleiben auch Turmvermessung und Schachspiel erhalten: Doch nun genügt es, dass Floire dem Wächter nach dessen zweimaliger Schachniederlage Gewinn und Einsatz schenkt, damit ihm der Wächter seine Dienst zusagt. Aus der komplexen List ist ein simpler Bestechungsfall geworden (VP 2467 – 2692). Ich zitiere nach: Floire et Blancheflor [VA]. Êdition du ms. 1447 du fonds franÅais avec notes, variantes et glossaire. Hg. v. Pelan, Margaret M. Paris 1956 (Publications de la facult¦ des lettres de l’universit¦ de Strasbourg, Textes d’¦tude 7); Floire et Blancheflor. Seconde Version [VP]. Edition du ms. 19152 du fonds franÅais avec introduction, notes et glossaire. Hg. v. Pelan, Margaret M. Paris 1975 (Association des publications prÀs les universit¦s de Strasbourg). – Im fragmentarischen, mittel- oder niederdeutschen „Trierer Floyris“ (TF) sind Teile der Daries- und Wächterszene bewahrt (TF 70 – 156), doch ergibt das Erhaltene keinen fortlaufenden Text (es fehlen Seiten bzw. Blätter), sodass eine Beurteilung schwierig fällt. Grosso modo läuft die Szene ähnlich wie in den französischen Versionen ab, doch die Details – auf die es ja im Folgenden ankommen wird – sind zu lückenhaft erhalten, als dass sich Konkreteres sagen ließe. Text nach: Steinmeyer, Elias: Trierer Bruchstücke. I. Floyris. In: ZfdA 21 (1877), S. 307 – 331, Nachtrag in: ZfdA 22 (1878), S. 209; Korrigenda dazu bei Bartsch, Karl: Zum Floyris. In: Germania 26 (1881), S. 64 f. – Einen eingehenden, aber mitunter sehr voraussetzungsreich argumentierenden Vergleich der französischen Versionen mit dem „Trierer Floyris“ hat Winkelman [Anm. 13] vorgelegt. Bemerkenswert ist, dass im „Trierer Floyris“ die Schach-List – folgt man Winkelman – keine Rolle zu spielen scheint und die Turmwächterepisode zum reinen Bestechungsfall wird (ebd., S. 107 f., 134 u. ö.). Allerdings steht und fällt Winkelmans These mit der Einschätzung der Fragmente: Sicher ist, dass Flore den Wächter besticht (TR 107); ob aber damit das spätere Schachspiel (TR 117 ff.) funktionslos wird oder zur freundschaftlichen Unterhaltung verkommt, oder ob es nicht doch weiterhin Teil von Flores Strategie ist, lässt sich aufgrund des Erhaltenen kaum sicher beurteilen.

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ist. Genau das aber tut der Wächter nicht: einmal geschworen, gilt es, no matter what. Soweit der analytische Befund. Nicht berührt ist die Frage, die sich daraus – aus neuzeitlicher Perspektive – ergibt: Woher rührt diese Differenz? Wieso zieht der Wächter aus dem Wissen um sein Betrogen-Sein keine Konsequenzen, warum ärgert er sich nicht?

IV.

Literarische Listen des frühen 13. Jahrhunderts und mhd. list

Ich stelle diese Fragen noch für einen Moment zurück. Ehe ich auf sie zurückkomme, will ich mit wenigen Strichen versuchen, ein literarhistorisches Bild zu entwerfen, in das sich diese sonderbare List einzeichnen lässt. Denn nur in einer Hinsicht scheint mir Flores List tatsächlich einzigartig – und würde man mich eines Besseren belehren und eine zweite solche List vorstellen, wäre ich dafür dankbar. Einige Notizen zur Forschungsgeschichte: Verstellung und Betrug sind und waren bislang kein großes Thema in der Literaturwissenschaft im Allgemeinen sowie in der Mediävistik im Besonderen. Darauf hat besonders nachdrücklich Peter von Matt hingewiesen,17 wenn er sich auch mit seinen späteren Arbeiten gleichsam ex posteriori und zumindest ein Stück weit Lügen gestraft hat.18 Harro von Senger hat wiederholt betont, dass dies ein westliches Spezifikum ist – gerade in China scheint List ein größeres Thema zu sein.19 An der desolaten Forschungslage für die westliche Literatur und Geistesgeschichte konnte freilich auch das von ihm betreute und herausgegebene, interdisziplinär angelegte und weit ausgreifende Suhrkamp-Bändchen zur ,List‘ wenig ändern.20 Speziell für die deutsche Literatur des Mittelalters liegen einzelne Studien zu Verstellung, Betrug und anderen listigen Dingen vor,21 aufs Ganze gesehen ist der Ertrag der Forschung aber mager.22 Auf breiterer Materialbasis hat zuerst Gertrud Hermans 1953 Listen von der „Kaiserchronik“ bis zu Gottfrieds „Tristan“ 17 von Matt, Peter : Ästhetik der Hinterlist. Zu Theorie und Praxis der Intrige in der Literatur. München 2002 (Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Themen 75), S. 13 – 15 u. ö. 18 von Matt, Peter : Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München, Wien 2006. 19 Z. B. von Senger, Harro: Chinesische Strategemkunde für aufgeklärte Europäer(innen) – wozu? In: Eulenspiegel-Jahrbuch 44 (2004), S. 113 – 134. 20 Die List. Hg. v. von Senger, Harro. Frankfurt a. M. 1999 (ed 2039). 21 Z. B. Schmid, Elisabeth: Verstellung und Entstellung im ,Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein. In: Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Akten des Internationalen Symposions Schloß Seggau bei Leibnitz 1984. Hg. v. Ebenbauer, Alfred u. a. Bern u. a. 1988 (Jahrbuch für internationale Germanistik A: Kongreßberichte 23), S. 181 – 198. 22 Einen kurzen Forschungsüberblick geben Semmler [Anm. 5], S. 12 – 16, 30 – 34 und Geier [Anm. 4], S. 7 – 23.

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aus moraltheologischer Perspektive untersucht (der Zweck heiligt die Mittel).23 Fast 40 Jahre später hat sich Hartmut Semmler listegen Szenen aus der mittelhochdeutschen Epik gewidmet.24 Sein Zugriff ist in hohem Maße strukturalistisch geprägt, das primäre Anliegen ist die Klassifikation der beobachteten Handlungsmuster. Aufbauend auf seinen strukturalistischen Kategorien und Schemata, hat dann Bettina Geier die Listen im „Nibelungenlied“ analysiert – die letzte größere einschlägige Arbeit, soweit ich sehe.25 Semmler und Geier differenzieren primär nach der Präsentation der List im Text (ihrer Darstellung), nach Intention und Motivation sowie nach Täuschungsart (mit Gegenständen, Kleidung, Gestik, Sprache). 2005 haben dann Corinna Laude und Ellen Schindler-Horst ein schmales Bändchen über List, Lüge und Täuschung in den Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes herausgegeben, dessen Ertrag für das Thema des vorliegenden Bandes (und der ihm vorausgehenden Tagung) allerdings eher gering ist: Weniger werden List, Lüge und Täuschung als solche in den Blick genommen als Figuren, die solches begehen, oder – metaphorisch – Akte des Fingierens (z. B. durch den Erzähler) überhaupt.26 Es wird verschiedene Gründe haben, dass die Forschung auf diesem Gebiet nicht weitergekommen ist oder nicht weiterkommen wollte. Wenn ich recht sehe, scheitern gerade die wenigen größer dimensionierten, klassifikatorisch orientierten Versuche daran, dass sie sich um große Linien bemühen: die List im Mittelalter oder in der mittelalterlichen Literatur. Aber auf einer solchen Abstraktionsebene lässt sich wenig Pauschales sagen, im Grunde sind die Listen des Hochmittelalters weder in ihrer Struktur noch in den ihnen entgegengebrachten Wertungen wesentlich unterschieden von den Listen anderer Epochen: Sie sind vielfältig und in der Bewertung schillernd, von Fall zu Fall, von Stand zu Stand, von Textsorte zu Textsorte differierend, es eignet ihnen keine Theorie, wie, wann, wo und in welchem Ausmaß man Listen einzusetzen hat, sie stehen in einem zwielichtigen Verhältnis zu gesellschaftlichen (moralischen, religiösen) Normen und erfreuen sich doch großer Beliebtheit.27 Dass, in Chronistik und frühmittelhohdeutscher Literatur, gerade Kriegs- und politische Listen als be-

23 Hermans, Gertrud: List. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte. Freiburg, Diss. 1953. 24 Semmler [Anm. 5]. 25 Geier [Anm. 4]. 26 List, Lüge, Täuschung. Hg. v. Laude, Corinna u. Schindler-Horst, Ellen. Bielefeld 2005 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52,3). 27 Vgl. die belegreichen und historisch ausgerichteten Beiträge von Schmidt und Zotz: Schmidt, Paul Gerhard: Seid klug wie die Schlangen. Strategeme im lateinischen Mittelalter. In: von Senger : List [Anm. 20], S. 196 – 211; Zotz, Thomas: Odysseus im Mittelalter? Zum Stellenwert von List und Listigkeit in der Kultur des Adels. In: von Senger : List [Anm. 20], S. 212 – 240.

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sonders akzeptiert gelten,28 mag mit dem thematischen Zuschnitt dieser Texte zu tun haben: Das Strategem wird hier – auch wenn die Listforscher das nicht gerne hören würden – unmerklich und doch unverkennbar zur Strategie. Und dass solche in entsprechenden literarischen oder auch filmischen Traditionen positiv bewertet wird, kann man bis zu den „Rambo“-Filmen des späteren 20. Jahrhunderts verfolgen. Zurück zu Konrad Fleck! Flores List operiert damit, dass dem Überlisteten die List dargelegt wird, ohne dass dieser daraus Konsequenzen zieht. Es ist die radikalste Form von eindrucksloser List, von betrogener Gelassenheit. Kappt man diese Radikalität und sucht nach Listen, die auf diesen listreflexiven Schwenk verzichten, die aber dennoch das Problem des Betrogen-Werdens im emphatischen Sinne ausblenden, wird man in der mittelhochdeutschen Literatur allenthalben fündig.29 Es sind durchwegs Szenen, in denen sich der Betrogene ärgert oder traurig ist über den Verlust, den er als Betrogener, Überlisteter erlitten hat. Doch niemals kommt eine Demütigung durch die List selbst in den Blick, wie sie in „The Sting“ so zentral war. Ich will das mit zwei Beispielen illustrieren, die ich hier nur sehr verkürzt wiedergeben kann. Alle stammen sie aus Texten, die (vermutlich) in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden sind. Es sind derartige Gemeinplätze der Literaturgeschichte, dass ich sie kaum vorzustellen wage. Der erste stammt aus dem arthurischen Roman. Listig ist man dort allenthalben, und die Antagonisten von Strickers Daniel könnten ein Lied davon singen. Krass aber ist eine List, die immer wieder durchgeführt wird, und immer zu Lasten von König Artus: Dass nämlich jemand an den Hof kommt, sich dort, ganz höfische Konvention, ein Blankoversprechen erbittet, dann aber die höfische Konvention sprengt und just die Königin fordert – das wird man wohl betrügerisch und listig nennen dürfen.30 Natürlich erregt das – ich beschränke mich hier auf Hartmanns „Iwein“31 – Unmut, einige am Hof mögen darüber

28 Zotz [Anm. 27], S. 238 u. ö.; Semmler [Anm. 5], S. 232 u. ö. 29 Obsolet werden so Überlegungen, die davon ausgehen, dass List oder Betrug in einem vormodernen Präsenzbrei keinen Ort gehabt hätten. Ingrid Kasten hat in einer Analyse von Konrads von Würzburg „Partonopier und Meliur“ überzeugend gezeigt, wie Vorstellung und Verstellung an einer nachgerade ,modernen‘ Konstitution von Individualität und Subjektivität teilhaben. Das wird besonders sichtbar, wenn der Roman „die Manipulierbarkeit von Gefühlen vor[führt]: die Macht der Vorstellungen und die Macht der Verstellungen.“ Kasten, Ingrid: Vorstellungen und Verstellungen. Zum Problem der Subjektivität im höfischen Roman. In: ABäG 43 / 44 (1995) [Sú wold ich in fröiden singen. Festgabe für Anthonius H. Touber zum 65. Geburtstag. Hg. v. Dauven-van Knippenberg, Carla und Birkhan, Helmut], S. 273 – 284, das Zitat S. 282. 30 Die erlisteten Blankoversprechen sortiert und diskutiert Semmler [Anm. 5], S. 163 – 167. 31 Die breite Motivgeschichte muss in diesem Rahmen unberücksichtigt bleiben. Im Grunde gilt das Folgende aber auch für die meisten anderen Ginover-Entführungen. – Ich zitiere

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zürnen, der größere Teil wird darüber traurig und desperat. Auf den Gedanken, dem Fordernden ob seiner Hinterfotzigkeit zu grollen oder gar das Blankoversprechen angesichts der maßlosen Bitte für ungültig zu erklären, scheint aber kaum je einer der Hofleute zu verfallen. Deutlich wird das am König: Der ziert sich zuerst merkwürdig, bevor er das Blankoversprechen gibt; angetrieben wird er von seinen Rittern, die der Ansicht sind, dass der Fremde betel„chen (4574) zu bitten versteht. Dann bittet dieser aber als ein vrävel man (4585), wodurch Artus beinahe ohnmächtig wird. Artus zürnt – doch er zürnt nicht dem Fremden, sondern er grollt jenen, die ihm zuvor den Rat zum Versprechen gegeben haben! (4588 – 4593) Die List wird als probates Mittel gebilligt, ganz so, als hätte der Königinnenräuber die Königin durch ritterlichen Kampf erworben, oder weil er Manns genug ist, im Nachthemd durch Eis und Schnee zu galoppieren.32 Das zweite Beispiel entstammt ebenfalls der Sphäre des höfischen Romans, und wieder ist es die Frage, wie man sich an Königinnen heranmacht. Nur dass die Königin diesmal mit dem listigen Helden sympathisiert: Tristan ist es, der Marke einen halben Roman lang – nach der Liebestrankszene eben – an der Nase herumführt. Der gesamte zweite Romanteil des gottfriedschen Torso – und in anderen Tristan-Versionen ist das nicht viel anders – lässt sich, simplifizierend natürlich, als spiralförmige Listenreihe, ja geradezu als Schwankroman beschreiben:33 Die Liebe von Tristan und Isolde wird – beinahe – entdeckt, Tristan und Isolde retten sich mit einer List, aus dieser erwächst aber der nächste Verdacht uswusf. Freilich betrübt es Marke, wenn oder dass seine Frau ihn mit seinem Neffen hintergeht. Dass man ihm aber recht süffisant ein Horn nach dem anderen aufpflanzt, scheint ihn – auch wenn er es begreift – nicht weiter zu stören. Nur der Effekt der List trifft den Betrogenen; die Tatsache hingegen, dass er überlistet wird oder worden ist, lässt ihn kalt.34 Ich breche die Beispielreihe hier ab – man könnte noch vieles anführen und nach: Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausg. von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff. Übs. u. Nachw. v. Cramer, Thomas. 4., überarb. Aufl. Berlin, New York 2001. 32 Dieses Kontrastmodell, wo Ginover von einem Würdig(er)en (als Artus) beansprucht wird, wird in der „Krone“ durchgespielt. Gasoein ist es, der Ginover verlangt, der im Hemd durch die eisige Nacht reitet, Artus zum Duell fordert … „Krone“ 3273 – 5468, 10113 – 12610. Ausg.: Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 1 – 12281). Nach der Hs. 2779 der Österr. Nat.Bibl. nach Vorarb. von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal und Horst P. Pütz. Hg. v. Knapp, Fritz Peter und Niesner, Manuela. Tübingen 2000 (ATB 112); Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 12282 – 30042). Nach der Hs. Cod. Pal. germ. 374 der Universitätsbibl. Heidelberg nach Vorarbeiten von F. P. K und K. Z. Hg. v. A. E. und Kragl, Florian. Tübingen 2005 (ATB 118). 33 Für ,Tristan als Mönch‘ hat Ähnliches Bulang, Tobias: Tristan lacht. Betrugsszenario und Akte des Fingierens in Tristan als Mönch. In: Laude / Schindler-Horst [Anm. 26], S. 362 – 378 beschrieben. 34 Die „Tristan“-Listen hat vor allem Hartmut Semmler aufgearbeitet (Semmler [Anm. 5], passim – der „Tristan“ ist der dominante Primärtext von Semmlers Buch).

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würde doch immer nur dasselbe finden. Denn auch wenn die Wiedergabe hier sehr verkürzt war, ist die Entsprechung der Abläufe doch – trotz der Verschiedenheit der Texte – frappant: Jemand wird überlistet, betrogen. Natürlich hat er davon einen Nachteil – erfolglose Listen wären ein anderes Thema –, ist traurig, empört, reagiert irgendwie. Aber diese Reaktion hängt immer nur am Resultat der List: am Verlust Ginovers oder am Ehebruch Isoldes. Wie es dazu kommt, kümmert niemand, wird weder reflexiv noch emotional aufgearbeitet. Wären es Naturereignisse oder Tjosten, es würde die Szenen nicht maßgeblich verändern. Freilich stehen beide Beispiele jenem aus „Flore und Blanscheflur“ an Radikalität weit nach, weil nur dort das Explizit-Machen der Täuschung und die Gelassenheit des Betrogenen integrale Bestandteile der List sind. Die Beispiele legen also nicht alle so sehr den Finger auf das Problem wie „Flore und Blanscheflur“. Diesen Unterschied in der Emphase beiseite gelassen, ist es aber im Grunde doch stets dasselbe Phänomen. Ein Phänomen im Übrigen, das auch lexematisch seinen Niederschlag in den mittelhochdeutschen und historischen Wörterbüchern gefunden hat. Mhd. der list hat bekanntlich einen erheblich größeren Bedeutungsumfang als nhd. die List. Im „Lexer“35 wird der list übersetzt mit ,Weisheit, Klugheit, Schlauheit; Wissenschaft, Kunst‘, die Bedeutungen scheinen klar positiv konnotiert;36 nur als ,Zauberkunst‘ mag list anrüchig sein, und dann natürlich mit pejorativen Adjektiven wie arger list oder hintere list. Jedoch: Wenn Wendungen –ne list als ,aufrichtig, wahrhaftig‘ aufgelöst werden, die Negation des list also etwas Gutes ist, gerät das Lexem doch – ein wenig – in Verruf. Deutlicher ist das im „BeneckeMüller-Zarncke“37, wo neben den Bedeutungen ,in gutem sinne‘ auch solche ,in bösem sinne‘ genannt werden: ,List‘ (wohl im nhd. Sinne) und ,Zauberkunst‘. Man hat dies, mit Blick auf die heutige Bedeutung von List, immer wieder in eine stringente Entwicklung vom ,guten‘ zum ,bösen Sinne‘ einzwängen wol-

35 Le I, Sp. 1936. 36 Harro von Senger hat in mehreren Arbeiten darauf hingewiesen, dass die positive Konnotation von List – als gefinkelte Vorgehensweise, die auf Informationsvorsprung basiert – im Chinesischen seit jeher die dominante ist. In 36 ,Strategemen‘ werden Liststrategien nachgerade als kanonisch etabliert. von Senger, Harro: Strategeme. Der erste Band der berühmten 36 Strategeme der Chinesen – lange als Geheimwissen gehütet, erstmals im Westen vorgestellt. 7. Aufl. Bern u. a. 1992; ders.: Die Kunst der List. Strategeme durchschauen und anwenden. München 2001 (Beck’sche Reihe 1442); ders.: Strategemkunde [Anm. 19]. Das entspricht bemerkenswerter Weise recht genau dem mhd. Bedeutungspektrum (vgl. zu von Senger auch Geier [Anm. 4], S. 22). – Von von Senger ist auch ein wichtiger Impuls auf die westliche Listforschung ausgegangen, z. B. durch die analytische Projektion der 36 Strategeme auf westliche Texte, etwa auf den „Eulenspiegel“ bei Schwarz, Alexander : 96 Historien : 36 Strategeme = Eulenspiegel? In: Eulenspiegel-Jahrbuch 44 (2004), S. 77 – 90. 37 BMZ I, S. 1010.

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len.38 Zuletzt hat Hans-Joachim Behr vor allem anhand des „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg zu zeigen versucht, wie hier list für ,Klugheit, Wissen, Können‘ steht (etwa beim Musizieren, oder wenn Tristan den Hirsch ausweidet) und diese positive Bedeutung auch zurückschlägt auf jene Passagen, wo list, wie im nhd. Sinne, ,schlauen Betrug‘ meint.39 Man sollte solche lexematischen Befunde allerdings nicht zu hoch hängen.40 Die vermeintlich stringente Entwicklung von der ,alten‘ Klugheits-list zur ,neuen‘ Arg-list wird schon von ,alten‘ Belegen für die ,neue‘ List konterkariert.41 Gewiss gibt es, neben dem Genuswechsel, auch eine Bedeutungsverengung von mhd. der list hin zu nhd. die List: Mhd. der list kann offenbar uneingeschränkt positiv gebraucht werden, was bei nhd. die List schwer möglich scheint:42 Sie ist weniger ,böse‘ als Betrug, vielleicht bewundernswert schlau, aber für ,Wissen‘ oder ,Können‘ kann die List nicht mehr stehen. Zweifelhaft aber ist ein diachroner Umschlag von der uneingeschränkt positiven zur verhalten negativen Konnotation, und noch zweifelhafter, einen solchen Umschlag oder eine solche Entwicklung von der Wort- in die Kulturgeschichte zu projizieren: Nur weil mhd. der list meist positiv konnotiert ist, sind Listhandlungen im Hochmittelalter oder in der hochmittelalterlichen Literatur nicht automatisch positiv bewertet. Die konstant negative, diachron stabile Bedeutung von triegen zeigt, dass es die ,Sache‘ im negativen Sinne durchaus gab43 und sie mit list oder triegen aus verschiedener Blickrichtung positiv und negativ perspektiviert werden konnte. Bedenkt man nun weiters, dass die ,großen‘ Wörterbücher im Wesentlichen auf dem Wortschatz der ,klassischen‘ Texte um 1200 bauen – auf der höfischen Literatur –, stellt sich letztlich die Frage, ob nicht diese Wortgeschichte doch wieder nichts anderes ist als eine Wendung des analytischen Textbefunds ins Lexematische. Das primäre Quellenmaterial für diesen ,guten‘ list besteht nun einmal aus Texten, die nicht müde werden, ,unschuldige‘ Listen zu erzählen. Die 38 Kanonisch in DWb XII, Sp. 1065 – 1069. 39 Behr, Hans-Joachim: Die Stärke der Schwachen? Sprach- und motivgeschichtliche Beobachtungen zur Bedeutung von list in der Literatur des Hochmittelalters. In: EulenspiegelJahrbuch 44 (2004), S. 21 – 40. – Eine ähnliche (?) Entwicklung, die aber früher erfolgt wäre, nimmt Behr (S. 40) für karc an. 40 Für einen Überblick zur Wortgeschichtsforschung siehe Semmler [Anm. 5], S. 182 – 188 und Geier [Anm. 4], S. 13 – 18. 41 Das muss, gegen das Wollen des Artikels, auch DWb XII, Sp. 1066 eingestehen: dass die negativ gefärbte Bedeutung eine ist, „die schon in der alten sprache boden gewinnt“. 42 Die positiven Bedeutungen werden spätestens in der Frühen Neuzeit unmöglich, vgl. etwa zu Thomas Müntzer die Arbeit von Spillmann, Hans Otto: Täuschung und Wahrheit. Zum Wortschatz des Trugs in den deutschen Schriften. In: Linguistische Beiträge zur MüntzerForschung. Studien zum Wortschatz in Thomas Müntzers deutschen Schriften und Briefen. Hg. v. O. S. Hildesheim u. a. 1991, S. 289 – 305: List und Täuschung gelten ganz emphatisch als Werk des Teufels, dem der Mensch nur durch den rechten Glauben entkommen kann. 43 Geier [Anm. 4], S. 13 u. ö.

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listige Lexematik bleibt, im Vergleich zur ,bösen‘ nhd. List, eindrucksvoll: doch vielleicht weniger als Anzeiger für eine sprachliche oder kulturhistorische Entwicklung als für ein literarisches und rätselhaftes Phänomen. Im Raum steht die Frage nach dem Wieso, die Frage, die ich oben – konkretisiert im Verhalten des Wächters von „Flore und Blanscheflur“ – habe liegen lassen: Woher rührt die Differenz zwischen „The Sting“ und den literarischen Listen des 13. Jahrhunderts? Pars pro toto: Weshalb hält der Wächter seinen haltlosen Schwur?

V.

Historische Anthropologie?

Der Befund ist überwältigend – seine Deutung schwierig. Im extremsten Fall ließe sich die historische Anthropologie bemühen und die These formulieren, dass darin eine Entwicklung im eben nicht Allgemein-Menschlichen zwischen 1200 und 2000 sichtbar würde. Die Antwort auf die Frage nach dem sonderbaren Verhalten des Wächters wäre dann schlicht: Weil jede komplexe Reaktion auf derartige Vorkommnisse dem ,vormodernen‘ Menschen fremd war. Freilich: Das würde die Beobachtungen mit einer historiographischen Bürde belasten, die sie kaum tragen könnten – zumal es, auch im 13. Jahrhundert, durchaus schon anders gehen kann. Der Fall ist das (fast) immer dann, wenn Listen nicht Teile größerer narrativer Zusammenhänge sind, sondern das Erzählen der List die Erzählung ausmacht: in Stricker-Maeren. Nur ein kurzes Beispiel: „Der Gevatterin Rat“.44 Die story ist absurd und einfach: Ein Mann hasst seine Frau – grundlos! – auf den Tod, richtet sie regelmäßig übel zu. Da hilft ihr ihre Gevatterin: Sie versteckt die Frau bei sich, inszeniert deren Tod (mit einem menschenähnlichen und von ihr präparierten Holzstück!), was den Mann in Verzückung geraten lässt. Er sieht sich der Gevatterin verpflichtet, weil sie ihm von Krankheit und Tod der Frau erzählt hat (ein typischer Fall von ,Botenbrot‘); als er eine neue Frau sucht, wendet er sich an sie. Die natürlich arrangiert ein Treffen mit seiner vermeintlich toten Frau, die aber von der Gevatterin durch die rechte Diät und andere Tricks so herausgeputzt wird, dass der Mann sie nicht erkennt. Er ist so hingerissen, dass er seinen Hof vernachlässigt und nicht mehr von seiner ,neuen‘ Frau ablassen will. Als die ,alte-neue‘ Frau gemerkt hat, wie sehr er an ihr hängt, klärt sie ihn auf und führt ihm, der es kaum glauben kann, vor, was für ein vil tumber man (621) er doch sei, der nicht wisse, waz übel oder guot ist (622). Er will es geheim halten, fürchtet der lantliute spot (624), doch es dauert keine zwei Wochen, da weiß die ganze Gegend von dem Vorfall. dú wart er sú ze schalle, dass alle lantliute an ihm ihr 44 Nach: Der Stricker : Verserzählungen I. Hg. v. Fischer, Hanns. 5., verb. Aufl. bes. v. Janota, Johannes. Tübingen 2000 (ATB 53).

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Vergnügen hatten (unmüezic w–ren); der Spott haftet an ihm für den Rest seines Lebens (634 – 641). Seine Frau aber lässt er nun zufrieden: Weder zu schelten noch zu loben wagt er sie, denn beides würde für verrückt gelten. sus was s„n tumpheit erkant j und was s„n w„sheit geschant. (645 f.) Das Epimythion wendet den Vorfall ins Allgemeine: Wan daz man ez niht versuochen sol, man vünde noch den man wol, den man alsú wol betrüge, der im sú kündicl„che lüge. (647 – 650)

,Abgesehen davon, dass man es nicht tun soll, wäre so ein Mann gewiss noch zu finden, der ebenso leicht zu betrügen wäre, wenn man ihn so geschickt anlügt.‘ – Da sind, am Ende der Geschichte, gleich zwei Sinnangebote verpackt: Bestraft wird ein Unrecht: die tumpheit des Mannes, der seine Frau ohne Grund so schlecht behandelt hat. Sichtbar wird daran aber zugleich, wie leicht Leute zu betrügen sind, wenn man es nur klug anstellt (wobei man sich fragen darf, ob eine List, die nur auf absurd-unrealen Täuschungsmanövern basiert, im eigentlichen Sinne kündicl„che ist). Wichtig für den aktuellen Zusammenhang des Betrogen-Werdens ist aber : Die List stellt die Dummheit des Überlisteten aus, daher will der Mann, dass die Geschichte nicht bekannt wird, daher schämt er sich, daher wird er verspottet. Das ist dasselbe Problem, mit dem auch Doyle Lonnegan zu kämpfen hat, nur dass der Mann beim Stricker – kein UnterweltBoss offenbar und stärker von sozialen Wertungen abhängig – im Detail anders damit umgeht: mit Scham statt mit Aggression. Eindruckslose Listen und gelassene Betrogene also als Phänomene der historischen Anthropologie? – Das Stricker-Beispiel, das so eindrücklich vor diesen Dummheiten warnt und dem es an jeder List-Exotik gebricht, wäre dann ebenso denkschwierig wie das basale Bewusstsein des Wächters um den Betrug.45 Der Wächter sieht sich ja betrogen – nur zieht er daraus keine Konsequenz. Und Daries’ Rede zeigt, dass es auch anders, dann sozusagen ,modern‘ hätte abgehen können. Eine anthropologische Breitseite würde den Textbefund also doch nur übel zurichten, und man liefe Gefahr, sich in ähnlich orthodoxen Positionen zu verfangen, wie es Philippe Ariès bei seinen kleinen Erwachsenen gegangen war, 45 So besehen ist es auch obsolet, sich darüber zu wundern, dass es in ,vormoderner‘ Literatur Täuschungsmanöver gibt. Das scheint etwa Bulang [Anm. 33], S. 365 im Blick zu haben, wenn er das Heraustreten einer Figur (hier : Tristans) aus seiner sozialen Rolle – den, in der Terminologie von Niklas Luhmann, Wechsel von Inklusions- zu Exklusionsidentität – als Skandalon beschreibt, das erst in ,modernen‘ Gesellschaften Norm geworden ist. Das Stricker-Beispiel freilich lässt, zumindest in Maßen, an der Gültigkeit solcher historiographischer Setzungen zweifeln.

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die statt der Kinder das Mittelalter bevölkert hätten.46 Listen wie jene Flores sind zuallererst nicht anthropologische, sondern literarische, genauer : narratologische Besonderheiten. Die Frage bleibt: Wieso?

VI.

Historische Narratologie?

Betrachtet man die Beispiele nochmals aus narratologischer Perspektive und fokussiert man die narrative Einbettung der Listen in einen Handlungszusammenhang, wird schnell eines ins Auge stechen: Die Listen sind, narratologisch, Mittel zum Zweck, sind austauschbar mit anderen narrativen Strategien. Das lässt sich ganz schematisch formulieren. Ich nehme der Kürze halber einiges an Simplifikation in Kauf: Warum wird Ginover listig entführt? – Damit der Roman (oder eine Episode daraus) in Gang kommt. Was ist der Effekt von Tristans und Isoldes Listen? – Dass die Handlung weiter und weiter getrieben werden kann, immer neu sich Gelegenheit ergibt, die Liebe von Tristan und Isolde in Szene zu setzen. Und warum reagiert der Wächter nicht darauf, dass er frisch betrogen ist? – Weil Flore dann nie zu Blanscheflur in den Turm käme. Es gibt bekanntlich längst Begriffe für das, was ich hier mit Beispielen angedeutet habe. Mit Clemens Lugowski47 würde man am besten von ,Motivation von hinten‘ sprechen. Die Episode wird vom Ausgang her bestimmt, wie sie dorthin findet, ist einerlei, und diese Teleologie ist von einer Wirkmächtigkeit, dass sie andere Wahrscheinlichkeiten und Logiken aussticht. Auch Stoffzwänge mögen hier das ihre getan haben: das grobe Handlungsgerüst mag eine Stabilität erreicht haben, dass die Ausführung im Detail sich daran bestenfalls reiben, nicht aber das Gerüst umstoßen konnte. Dazu passte auch, dass es just in der Maerendichtung anders ist: dort fehlen Stoffzwang, narrative Einbettung – die Listen gewinnen an narrativer Autonomie. Ich komme darauf zurück. So könnte man es lassen: anderes Erzählen, andere Listen. Man würde es sich damit freilich einigermaßen leicht machen, um nicht zu sagen: Man säße einem Kardinalfehler der strukturalistischen Analyse von Erzähltexten auf: dem Ersatz von Semantik durch Struktur. Wenn die Listen nur deshalb verquer erzählt werden, um ein bestimmtes narratives Output zu erreichen – ein Gemeinplatz –, muss doch auch weiter gefragt werden, weshalb gerade diese Listen an diesen Stellen narrativ funktionieren. Ich hatte es oben angedeutet: Flores WächterList, Ginovers Entführung, Tristans und Isoldes Liebe – all das ließe sich auch 46 Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit. Mit einem Vorw. v. von Hentig, Hartmut. Aus dem Frz. von Neubaur, Caroline u. Kersten, Karin. München 1978 (dtv Wissenschaftliche Reihe 4320). Für den Vergleich danke ich Constanza Cordoni de Gmeinbauer. 47 Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einl. v. Schlaffer, Heinz. Frankfurt a. M. 1976 [zuerst 1932] (stw 151).

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anders erzählen, ist ja zum Teil auch anders erzählt worden. Was macht die Listen narrativ valid? Ist es, wie eine historische Narratologie vielleicht insinuierte, tatsächlich nur ein ,vormoderner‘ Erzählgestus, sind die Texte einfach ein bisschen unterbelichtet, sodass sie Erzählelemente – hier die Listen – narrativ gegen den Strich bürsten? Aber : die Artusromane? Gottfrieds „Tristan“? ,Vormoderne‘ Reflexionsarmut? Kurz: Das Problem durch die Lugowski-Brille zu sehen, schärft nur die Frage, löst sie aber nicht. Beantwortet ist die Frage nach dem Wozu: weil der Text mittels einer Listschilderung auf ein bestimmtes Ziel hinsteuert. Neu aufgeworfen wird die Frage, warum es dann gerade eine List sein muss, die diesen narrativen Prozess antreibt, den Erzählfaden von A nach B spinnt. Und wäre es nicht riskant, eine List zu erzählen, die jeder Wahrscheinlichkeit spottet? Anders gefragt: Was unternimmt Konrad Fleck, damit sein gleichmütiger Wächter nicht vollends skurril wird? Das ist abermals die Frage, weshalb der Wächter seinen Schwur nicht bricht. Doch nun ist die Antwort im Detail zu suchen. Zurück in den Text, zurück zur Basis der List – zurück zur Faszination, die Flore auf den Wächter ausübt!

VII.

Gier und Spielsucht – milte und triuwe

Diese Faszination beruht, zum einen, auf Flore selbst, seinem Auftreten, seiner vermeintlichen Geschichte. Der Wächter wundert (4640 f.) sich beständig über den Knaben, ist beeindruckt von dessen edler Herkunft,48 dann vor allem von Flores Reichtum. Die gute Kleidung, die Daries fordert, soll als Beweis für die edle Abkunft gelten (4655), der Wächter soll Flore hÞrl„chen (4659) sehen, und in der Tat achtet der Wächter darauf (5037). Wenn Flore den Wächter beschenkt, soll er andeuten, dass sein Besitz unvergänglich ist, er habe mehr, als er verspielen könne (4748 – 4751). Auch das Gold, das Flore im Turm zu vermuten vorgibt, interessiert ihn dezidiert nicht: Er will doch einen ebensolchen Turm bauen, um sein Gold sicher zu verwahren, und dieses sein Gold übertrifft das des Amirals bei weitem (5002 – 5012). Der Wächter notiert Flores Andeutungen genau; dass sie nicht stimmen könnten, erwägt er an keiner Stelle. Doch nicht nur Flores Reichtum hinterlässt bei ihm einen tiefen Eindruck. Ihn ergreift auch die Klugheit dieses fast noch Kindes. Auch das hatte Daries schon vorhergesehen: g–nt als ein w„se man j zuo dem turn (4616 f.), hatte er Flore geraten. Dass Flore sich für den Turm und dessen Architektur interessiert, soll die Neugier des Wächters erwecken (4635 – 48 Auf die Frage nach Land, Geschlecht (m–ge), Geburt solle Flore, so Daries, hövel„cher antwürte geben, damit der Wächter versteht, dass Flore edel ist (4644 – 4655).

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4637). Flore setzt die Vorgaben clever in die Tat um: Als ihn der Wächter anspricht, ihm harsch droht, wenn er sich nicht sofort aus dem Staub machte, kontert Flore (4966 – 4977): Fast spottet er über den Zorn des Wächters, schließlich würde man doch Mauer und Steine nicht stehlen. In seinem, Flores, Land zumindest würde man sich um eine solche Turmbeschau nicht kümmern. Implizit heißt das: Wo ich herkomme, regiert vornehme Gelassenheit. Dann erst legt Flore sein angebliches Vorhaben, den Turm nachzubauen, dar. Der Wächter kommt aus dem Staunen kaum noch heraus: Hier von einem Jüngling etwas zu vernehmen, das ihm selbst noch nie in den Sinn gekommen war, verblüfft ihn. Wer wäre so hart, dass er davon nicht betört (vertúrt) wäre, fragt der Erzähler (5013 – 5019). mit süezer rede er [scil. Flore] in betwanc, j daz er s„nen zorn verlie (5020 f.). Denn ein jungez kint w„ser hatte der Wächter nie sprechen hören (5022 f.). Er erkennt Flore als edel unde r„ch (5036) und beginnt, an seiner erwähnten Gegenlist zu arbeiten, indem er seinerseits anfängt, höfisches Süßholz zu raspeln.49 Das ist das eine: Flores Reichtum und sein Verhalten – beides könnte man Flores Perfektion in materieller und aktionaler Courtoisie nennen – entzücken den Wächter. Damit nicht genug. Dass Flore reich und höfisch ist, ist auch die Basis für die andere Faszination, die Flore auf sein Opfer ausübt: Der Wächter hat zwei Laster. Er ist schachspielsüchtig, und er ist gierig (g„tic, g„tekeit). Wäre Flore nicht höfisch, schiede er als Schachpartner für den Wächter aus – wo doch Schach das vornehmste aller mittelalterlichen Spiele ist. Wäre Flore aber nicht reich, hätte ein Spielsüchtiger mit ihm nicht viel angefangen. Die Gier des Wächters richtet sich auf höfische Kostbarkeiten:50 alsú hÞrl„cher gebe (4777) wird er dankbar sein, sagt Daries, und Flores Pokal – ein perfektes höfisches Kleinod – raubt dem Wächter regelrecht den Verstand (4799 – 4810, 5180 ff.), sodass er nichts anderes mehr denken kann, als wie er diesen Pokal erwerben könnte.51 Nur für einen kurzen Moment denkt der Wächter darüber nach, warum Flore das alles getan, ihm so viel geschenkt hat (5204 – 5207). Diese Gier aber ist in raffinierter Weise kurzgeschlossen mit der Spielsucht des Wächters. Der Wächter liebt nicht nur das Schachspiel, er liebt vor allem das Spiel um Geld, spielt gerne húhe, zumal es ihm, wie er angibt, nicht an Geld mangle (4669 f.). Wieder also: Flore darf und soll mit ihm spielen, weil er höfisch ist. Nicht umsonst rät Daries dem Flore, das Spiel als perfekten Zeitvertreib 49 Süezer rede er sich zehant j wider daz kint underwant (5049 f.). 50 Das betont Schmid [Anm. 12], S. 49 – 55. 51 Dass gerade der Pokal an so zentraler Stelle eingesetzt wird – er beschließt ja Flores List –, kann man geradezu mythomechanisch deuten: Die Kaufleute, an die Flores Eltern Blanscheflur verkauft haben, haben für sie ja mit diesem Pokal bezahlt. Flore wiederum kauft nun zwar nicht Blanscheflur mit dem Pokal zurück, aber zumindest den Weg zu ihr vergilt er mit dem kostbaren Gefäß.

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auszugeben, was ihm wohl das Vertrauen des Wächters zu einem Gleichgesinnten einträgt (4735 ff.). Flore darf mit ihm auch deshalb spielen, weil er schlicht reich genug ist. So sind Spiel und Besitz schon in Flores Rolle eng verschränkt. Blickt man auf die Rolle des Wächters, wird diese Verschränkung zu einem circulus vitiosus. Flore verwirrt den Wächter während des Spiels, dessen Gier ausnutzend, mit seinem Reichtum – konkret: mit seinem vingerl„ –, über dessen Seltenheit (der Stein ist in diesem Land unbekannt) sich der Wächter sehr wundert. Der Effekt, wie ihn schon Daries vorhersieht: Der Wächter wird vom Spiel abgelenkt und verlieren (4679 – 4691). Das macht den Wächter zu einem riuwic man, der Verlust – der materielle – schmerzt den Gierigen. Umso größer wird aber auch die Lust auf das Spiel: Je mehr der Wächter verliert, desto dringender will er das Verlorene zurückgewinnen.52 Letztlich wird er alles verloren haben und davon michelen zorn (4709) gewinnen, riuweges muotes (4712) sein. Das ist der Punkt, an dem Flore es nicht zu weit treiben darf: Alles Gewonnene ist dem Wächter zu retournieren, dazu noch Flores eigener Einsatz. Der Wächter wird – so Daries – ihm deste getriuwer j fürdernde an iuwern Þren (4724 f.), sein Zorn wird verflogen sein. Das ist der zentrale Trick, mit dem Flore des Wächters minne, j s„n helfe und s„ne raete (4716 f.) erwerben kann. Der Effekt ist derselbe wie bei Reichtum und Geschenken: des grúzen gewinnes w–n j der benimet im den sin. (4732 f.), prophezeit Daries; der Wächter wird sich wundern, warum Flore das getan hat (4730), aber es wird ihn nicht stören. Flore raubt ihm den Verstand. Das ist aporetisch und funktional zugleich: Indem der Wächter unablässig verliert, bleibt seine Spielsucht erhalten; indem er aber auch unablässig beschenkt wird und dadurch keinen dauerhaften materiellen Schaden nimmt, wird auch seine Gier gestillt und gereizt. Spiellust ohne Frustgefahr. Mit Peitsche und Zuckerbrot treibt Flore seine List voran. Diese Erfolge des Wächters sind indes nur oberflächliche. Tatsächlich steht er tiefer und tiefer in Flores Schuld – schon bevor dieser ihm den Pokal schenkt. Bereits Daries weist mehrmals darauf hin: Der Wächter würde behaupten, er welle, unz er lebe, j s„n als ir geruochent. (4778 f.), er werde Flore beim Pokalgeschenk schwören, fürderhin ze fürdernd iuwer Þre j s„n mit triuwen dienesthaft (4870 f.), sodass Flore ihn ze man enpf–hen könne (4876). Bei den Schachspielen ist dann explizit von Flúren milte die Rede (5136). Überdeutlich wird dieses zunächst nur schleichende Dienst-Lohn-Verhältnis beim Pokal-Thema: Flore will um diesen weder spielen noch ihn verkaufen – er würde ihn verschenken: Aber nur, wenn ihm dafür die Hilfe des Wächters sicher ist, sowie er ihn darum bittet. Natürlich ist der Wächter dazu bereit und würde für Flore sogar in den Tod gehen (5262 – 5280). Es ist der erste Beistandsschwur. Weiter (5281 – 5313): Von 52 Er h–t merren gelust j ze spilnde aber denne (4694 f.), weiß Daries.

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fröuden (!) fällt der Wächter seinem Gast zu Füßen und setzt seine Schwüre unverdrossen fort: Auf immer will der Wächter der Untergebene Flores sein, nochmals bekräftigt er seinen Beistand, in pathetisch-höfischer Diktion betont er die Aufrichtigkeit seiner Treue – nicht bedenkend, dass er zugleich und vor allem in späterer Folge die Treue zu seinem (Dienst-)Herrn, dem Amiral, bricht. Flore freut sich über diese hypertrophe triuwe und enpfienc in ze man (5313). Das ist, einerseits, wieder ganz höfisch gedacht: Der Gebende schenkt ohne Notwendigkeit – er schenkt und bezahlt nicht. Der Nehmende wiederum nimmt ohne verhandelte Gegenleistung – und ist doch aus sich heraus, ohne Not und Aufforderung, dem Geber auf immer ergeben. Ein Utopos des Angestelltenverhältnisses. Andererseits macht aber gerade diese implizite Mechanik, so sehr sie von höfischem Firnis kaschiert wird, die Absolutheit der gegenseitigen Verpflichtungen deutlich. Die List operiert nicht nur mit höfischem Reichtum und höfischem Spiel; sie macht auch Flore zum Gönner und drückt den Wächter durch die ausgeklügelte, aporetische Kombination von Verlust und Gewinn in eine höfische Gefolgschaftsrolle. Eine Hierarchie ist installiert!53

VIII. Höfische List Was also ist es nun, das den Wächter davon absehen lässt, seinen Schwur im Nachhinein – im Wissen um Flores List – zu brechen? Alles deutet darauf hin, dass die Lösung Courtoisie lautet. Courtoisie ist es, die den Wächter fasziniert: in Gestalt von Flore und dessen Reichtum, in Gestalt von Schachspiel und Gier nach höfischen Kleinodien. Courtoisie ist es, die das ganze Zusammentreffen von Flore und Wächter, speziell die Spiellist, prägt. Und Courtoisie ist es aber auch, die eine hierarchische Trennlinie zwischen Flore und Wächter einzieht. Wenn nun aber Courtoisie das ganze Wollen des Wächters ist – müsste man sein Psychogramm zeichnen, sollte man ihn wohl einen Möchtegern-Höfling schimpfen54 –, wenn ihm nur an Courtoisie gelegen ist, dann ist es nur folgerichtig, dass er seiner – höfischen – Gefolgschaftsrolle, in die ihn Flores List drückt, nicht mehr entkommen kann. Denn das wäre unhöfisch in viererlei Hinsicht: (1) Höfisch ist Flores List, insofern sie klug eingefädelt ist; würde der Wächter sie aufdecken, öffentlich machen, stellte er nur seine eigene, unhöfische Dummheit bloß. (2) Höfisch ist der Schwur des Wächters, als höfischer Treueeid. 53 Dass der Wächter damit auch Flores geselle und sein friunt der beste (4840 f.) wird, wie Daries vorhersieht, steht dazu in keinem Widerspruch: So wie höfische Gefolgschaft eine freiwillige und doch unausweichliche ist, ist höfischer Dienst immer auch Freundschaft. 54 So ist er z. B. von der Pracht des Pokals völlig überwältigt – mehr noch als andere Figuren der Handlung. Das zeigt, dass er leicht zu beeindrucken ist, das zeigt aber auch, worauf es ihm ankommt.

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(3) Höfisch ist das eigenman-Verhältnis, in das sich der Wächter ergibt. (4) Und höfisch ist aber auch, dass ein einmal gegebener Schwur, ein einmal etabliertes Dienst-Lohn-Verhältnis nicht mehr zu brechen ist. – Dass der Wächter Flore die Treue hält, mag ,realistisch‘ besehen absurd sein; von einem prononciert höfischen – und das heißt immer auch: paradoxalen55 – Standpunkt aus ist es nichts weniger als konsequent. Würde also der Wächter seinen Schwur brechen, verlöre er genau jenes, das zu erwerben sein ureigenstes Anliegen zu sein scheint: Höfischheit.56 Das ist also endlich der Grund – oder wenigstens: ein möglicher Grund – für die sonderbare Gelassenheit des Wächters. Man kann das an Negativbefunden prüfen. Einer davon könnte Strickers Maerendichtung sein, ein anderer das „Nibelungenlied“.57 Kaum ein zweiter Text des früheren 13. Jahrhunderts ist derart vollgepackt mit Listen, Lügen, Betrügereien, Verrat. Oder warum sollte man es nicht List, Betrug, Verrat nennen, wenn – ich führe nur die drei wichtigsten Fälle an – Siegfried dem Gunther auf Isenstein und im Ehebett beisteht, wenn Hagen sich bei Kriemhild über Siegfrieds ,Stelle‘ informiert, um ihn dann hinterrücks zu ermorden, oder wenn Kriemhild die Wormser auf Etzelburg lädt?58 Doch eindruckslos sind diese Listen kaum je einmal. Es wird, im „Nibelungenlied“, viel Aufsehens darüber gemacht. Zwar sträubt sich das „Nibelungenlied“ gegen eine Festlegung der Handlung auf eine bestimmte Kategorie: Was Siegfried das Leben kostet, gilt Kriemhild als Verbrechen, Hagen und Gunther sehen im Mord eine Notwendigkeit, für Brünhild wird es Rache sein. Dass es aber Listen – ,neuzeitliche‘, hinterhältige Listen, solche, die kränken

55 Das ist eine der Grundthesen von Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007. 56 Daries ist also durchaus beim Wort zu nehmen, wenn er Flore verspricht, dass dieser bei der Spiellist frume und Þre (4677) gewinnen wird. Das ist keine leere Floskel, sondern allenfalls ein Hysteron proteron: frume gewinnt Flore, weil er Erfolg haben wird; aber Þre gewinnt er, weil nur dadurch der Wächter auf die List – ganz bewusst sozusagen – hereinfällt. 57 Man könnte hier auf vieles Weiteres verweisen, z. B. auf die Gefangennahme Dietrichs durch den Riesen Wicram in der Heidelberger „Virginal“ (316 ff.). Die ,böse List‘ wird thematisiert (324) – und zwar durch Dietrich, den fluchenden Überlisteten! Das nimmt, heute, nicht wunder, schließlich hatte die üble List mit Versprechungen Dietrichs operiert, sodass sich selbst der Riese dann für sein Verhalten schämt (326)! Heidelberger ,Virginal‘. In: Dietrichs Abenteuer von Albrecht von Kemenaten. Nebst den Bruchstücken von Dietrich und Wenzelan [sic!]. Hg. v. Zupitza, Julius. Zürich 1870 [Ndr. 1968] (Deutsches Heldenbuch 5), S. 1 – 200. 58 Kriemhilds hinterlistige Einladung hat Hennig, Ursula: Hinterlistige Einladung in Geschichte und Heldensage. In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985. Hg. v. Knapp, Fritz Peter. Heidelberg 1987, S. 66 – 77 nach Motivation (Rache und / oder Hortforderung) und stoffgeschichtlichem Kontext (chronikale Überlieferung, altnordische Literatur) untersucht, allerdings ohne dezidiert auf das Thema des Überlistet-Werdens einzugehen.

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und erzürnen, wo Zorn Rache wird – sind, die hier Mittel zum Zweck sind, wissen auch Erzähler und Figuren.59 Das lässt sich an einigen lexematischen Linien durch den Text verfolgen:60 Die 15. Aventiure erzählt, Wie S„frit verr–ten wart. Nachdem Hagen sich die Stelleninfo von Kriemhild abgeholt hat, kommentiert der Erzähler : dú was d– mite verr–ten der Kriemhilde man. (905,3) Hagen warnt die Wormser und die Donaunixe Sieglinde warnt Hagen vor Kriemhilds Betrug (1461,1; 1539,4 – jeweils betriegen). Mhd. list ist fast durchwegs auf die erwähnten zentralen Arglisten der Handlung bezogen.61 Konzentriert ist der Begriff in Erzähler- und Figurenrede, als Siegfried auf Isenstein und dann im Schlafgemach Brünhild überlistet (337,4; 426,4; 432,3; 452,4; 455,1; 464,3; 471,4 [hier Siegfrieds Verstellung im Gespräch!]; 653,3). Das wird nicht explizit gewertet; wie Brünhild es findet, ist bekannt. Sie wiederum provoziert auf listige Weise (727,4) den Eklat, indem sie Gunther an Siegfrieds Vasallenschaft erinnert. Im Königinnenstreit reizt dann Kriemhild Brünhild damit, dass sie doch wissen müsste, wer sie entjungfert habe: War kúmen d„ne sinne? ez was ein arger list. (841,1) Hagen will Siegfried – sagt er zu Kriemhild – auf der Jagd schützen, was immer an listen es dazu bräuchte (897). Kriemhilds Boten hält er später durch liste (1479,4) länger als nötig in Worms fest. Der Erzähler spricht von vil manigem argen list (1754,2), den Kriemhild mit der verräterischen Einladung an ihren Verwandten begeht. – Kurz: Es wäre eben nicht dasselbe, wenn Siegfried in Sachen Brünhild öffentlich statt heimlich in die Brautwerbung eingriffe, es wäre nicht dasselbe, wenn Hagen Siegfried im offenen Kampf tötete, es wäre nicht dasselbe, wenn Kriemhild sich mit einem offenen Heerzug an ihren Brüdern rächte. Der Erzähler spricht es zu Beginn der 15. Aventiure in einer Prolepse ganz klar aus: von lüge erwuohsen vrouwen diu aller groezesten leit. (877,4) Das wäre dann also die These: Eindruckslose Listen und gleichmütige Verlierer – solches gedeiht nur in höfischen Beeten. Nur dort wird mit List, Betrug, Verstellung verfahren, als handle es sich um akzeptierte Verhaltensnormen. „Flore und Blanscheflur“, Artusroman, „Tristan“ haben in diese Richtung gewiesen, anderes – konkret: Maerendichtung und Heldendichtung – stemmt sich heftig dagegen. Man kann hier nochmals „Flore und Blanscheflur“ sprechen lassen: Schon Daries’ Rat hatte als lÞre (4678) gegolten; Daries kennt den Charakter des Wächters offenbar gut (wie Daries selbst angibt: 4696). Als aber Flore den Wächter zum eigenman genommen hat, schaltet der Erzähler einen Kommentar, der sich nachgerade wie ein Epimythion zu dieser Listepisode liest 59 So auch Geier [Anm. 4], bes. S. 206 – 208, die die Täuschungshandlungen im „Nibelungenlied“ eingehend untersucht und diskutiert hat. 60 Für wichtige Hinweise zum „Nibelungenlied“ danke ich Katharina Büsel, Alexander Hödlmoser und Elisabeth Martschini. 61 Dagegen ist list nur zweimal eindeutig positiv oder neutral besetzt (286,3; ev. 498,4; 2350,2).

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(5314 – 5328). Flore solle sich beim wirt bedanken (bei Daries also), der ihm zu all dem geraten hat, denn: dicke w„ses mannes r–t w„sem man ze guote erg–t: der guote lÞre und witze h–t unde sich dar an l–t, der ist behuot vor misset–t. (5324 – 5328)

Information und Klugheit – das braucht es, über das verfügen Daries und Flore, daraus spinnt Flore seine List. Dem Wächter ist er doppelt überlegen: Er ist besser informiert und er ist – im Vergleich zu dem doch reichlich naiven Turmwächter – klüger. Den anderen mit solchen Mitteln einzukochen, ist – glaubt man dem Erzähler – alles andere als unanständig.62 Man könnte noch überlegen, ob auch Affektregulierung Teil dieser Strategie ist. Das schließt nicht aus, dass damit ein spezifisches, ,alteritäres‘ Erzählverfahren fassbar wird. Was aber für ,vormoderne‘ Naivität gelten könnte, wird aus dieser Perspektive zum semantischen Mehrwert. Die Andersheit ist nicht erst der historischen Betrachtung ein Skandalon – sie ist es, blickt man vergleichend auf Strickers „Gevatterin“ oder das „Nibelungenlied“, schon der Rezeption des frühen 13. Jahrhunderts. Ob das nun die Idee des Höfischen gerade im Ausstellen der Aporie stärkt oder vielmehr das Höfische als absurd-paradoxales Konstrukt parodiert,63 wie das für den Minnesang z. B. Stricker mit seinen „Minnesängern“ unternommen hat, sei dahingestellt. (Schließlich ließe sich ja doch argumentieren, dass Tristan & Co. in ihrer Listigkeit durchaus zwielichtig werden.) Vielleicht legt Flores List also einen Finger auf das Kardinalproblem der höfischen Interaktion, wie es Harald Haferland beschrieben hat: das ,Ausdrucksdilemma‘.64 Holzschnittartig meint es das Phänomen, dass ein gestei62 Man könnte dieses Ergebnis mit jenem von Hartmut Semmler zusammensehen, der bei der Untersuchung von Listmotiven in der Literatur des späteren 12. und 13. Jahrhunderts eine mittlere, man könnte sagen: ,hochhöfische‘ Phase dadurch herausgehoben sieht, dass sich prudentia (,Weltklugheit‘) als Zentraltugend etabliert und damit Listhandeln wie etwa jenes in Gottfrieds „Tristan“ legitimiert und erst möglich macht: Eine weitgehende Entscheidungsautonomie des handelnden Individuums kann die Notwendigkeit von Listhandeln für den konkreten Fall definieren (vgl. bes. die Zusammenfassung Semmler [Anm. 5], S. 232 – 235). Semmler scheint mir dabei aber zu sehr das Gewicht auf moraltheologische Probleme zu legen, wenn er sich abmüht, jedes positiv erzählte Listgeschehen auf diese Weise als ,gutes‘ zu rechtfertigen. Ich denke, dass im höfischen Rahmen Klugheit für sich – als wesentlicher Teil höfischer Verfasstheit – Garantie gibt, dass Listen vielleicht nicht ,gut‘, aber doch akzeptabel und in jedem Fall faszinierend werden. 63 Für den Hinweis danke ich Alexander Hödlmoser. 64 Haferland, Harald: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Di-

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gerter – verfeinerter – Ausdruck immer Gefahr läuft, seine eigene Authentizität zu untergraben. Plakativ : Je höfischer ich mich ,ausdrücke‘, desto eher steht dieses ,Ausdrücken‘ im Geruch des Unaufrichtigen, Inszenierten, Aufgesetzten. Es bedarf weiterer Signale der Authentizität, der Echtheit, um diesem Dilemma zu entgehen, wobei dieses aber doch immer nur fortgeschrieben wird: Jede Inszenierung von Echtheit ist wiederum als solche zu verdächtigen, was die Forderung nach Echtheit erneut stellt, usf. ad infinitum; Harald Haferland skizziert es mit dem ,ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, dass du weißt …‘. Resultat ist, für die höfische Interaktion, eine – wie Haferland es nennt – „Krasis von Echtheit und Täuschung“65. Das Täuschende muss für ,echt‘ genommen werden, damit die Interaktion funktioniert. Hier nach ,echt‘ und ,unecht‘, ,wahr‘ und ,falsch‘ zu fragen, wäre ruinös. Und nichts anderes als eine solche ,Krasis von Echtheit und Täuschung‘ ist es doch auch, was Flore anregt! Er treibt den Wächter in eine höfische Interaktion unter dem Schein der Echtheit. Nur : Flore tut das nicht, um höfisch zu sein, sondern er setzt die Struktur listig ein. Sodass das basale Ausdrucksdilemma der höfischen Interaktion in der figürlichen Inszenierung – die ja immer schon auf diesem basalen Dilemma gründet – gespiegelt scheint. Zwei hierarchisch abgesetzte Ebenen werden vermischt oder zumindest analogisch aufeinander bezogen. Man mag das für Genialität nehmen: Konrad Fleck lässt seine Figuren ein Grundproblem höfischer Interaktion auf plakative Weise – Flore deckt ja den Betrug auf – durchspielen. Wächter und / oder Flore ragten in diesem Fall deutlich aus der Diegese. Es kann auch sein, dass hier schlicht ein literarisch-kulturelles66 Muster sedimentiert. Und schließlich gilt ja in jedem Fall, dass die höfische Interaktion – auf Basis einer ,Krasis von Echtheit und Täuschung‘ – als höfische Interaktion funktioniert! Stören könnte das nur der Wächter, wenn er die Interaktion im Nachhinein als Betrug umdeuten würde. Da er es unterlässt, bleibt die Interaktion als eine höfische funktional. Zugespitzt: Gerade weil die Szene auf listiger Täuschung beruht, ist die höfische Interaktion erfolgreich. Nochmals mit „The Sting“ verglichen, ist die Differenz eine doppelte: Zum einen würde das Gros dieser mittelalterlichen Listen, ganz besonders aber Flores List, ,neuzeitlich‘ nicht funktionieren: die Akzeptanz des Überlisteten, überlistet zu werden, ist dahin. Zum anderen aber hätten es auch Henry Gondorff und Johnny Hooker schwer in einem höfischen Listfeld. Wem es nämlich nicht daktik um 1200. München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10; zugl. FU Berlin, Diss. 1986), grundlegend S. 45 f., speziell zur höfischen Interaktion S. 207 – 215. 65 Haferland [Anm. 65], S. 209 u. ö. – Vgl. das Register ebd. s. v. ,Ausdrucksdilemma‘ und ,Krasis von Echtheit und Täuschung‘. 66 Denn inwieweit Haferland eine höfische Gesellschaft beschreibt, wie sie ,war‘, oder nur deren literarische Emanationen, ist kaum entscheidbar.

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darum zu tun ist, mit einer List etwas um- oder durchzusetzen, sondern wer List und Betrug als solche zur Demütigung des Überlisteten benützt, wer also List nicht als Mittel, sondern als Zweck versteht, der wird – gerät er an Höflinge – ganz gehörig durch die Finger schauen. Henry Gondorff und Johnny Hooker bliebe das Geld – aber Doyle Lonnegan würde sich mit ihnen freuen.

Matthias Meyer (Wien)

Verstellung und andere Kleinigkeiten. Überlegungen zur Normalität von Verstellung

Narrativ gesprochen sind Verstellung und Betrug ubiquitär. Sie sind zentrale Elemente der Intrige,1 sie sind vor allem bereits in Schichten des Erzählens präsent, die man mit dem Mythos in Verbindung bringt. Verstellung und Betrug können, sie müssen aber nicht immer zusammenhängen – im narrativen Normalfall scheint das aber, wenn ich richtig sehe, so zu sein. Und in vielen Fällen steht Verstellung im Zentrum des Erzählens: Der listenreiche Odysseus ist eben nicht zuletzt wegen seiner zahlreichen Listen ein Held des ersten (Proto-)Romans geworden und, ein schwacher Vergleich, die Schwankzyklen wie die um den Pfaffen Amis leben von der Möglichkeit der Figur zur Verstellung und zum erfolgreichen Ausführen eines Betrugs. Der spektakuläre Fall des Werbungsbetrugs, mit dem Brünhild in die Erzählung des Nibelungenlieds geschleppt wird, ist vielleicht nicht das zentrale Thema des Textes, ohne ihn jedoch würde die Geschichte nicht funktionieren; und auch Tristans Verstellungen, so wenig erfolgreich sie eigentlich sind, sind schließlich keine Kleinigkeiten: Ich denke dabei nicht nur an die diversen Kaufmanns-, Pilger- und Jägermeisterrollen, die er übernimmt, sondern auch an die sprachlichen Verstellungen der Liebenden in der ersten Baumgartenszene (und selbst noch in der Minnegrotte), die sie zu souveränen Agierenden im Bereich des Hofes machen, ein Bereich, in dem in Gottfrieds Roman Verstellung offenkundig zu den Grundverhaltensmustern zählt. Wenn ich also meinen Beitrag ,Verstellung und andere Kleinigkeiten‘ genannt

1 Hier ist natürlich Peter von Matts groß angelegte Darstellung der Intrige zu nennen. Anders als in vielen seiner anderen Darstellungen spielt bei ihm das Mittelalter kaum eine Rolle, dennoch sei hier besonders auf seine Analyse des Intrigenmodells verwiesen; von Matt, Peter : Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München, Wien 2006. Von Matt stellt sein Intrigenmodell summarisch vor, S. 118 – 121; vgl. weiterhin Meyer, Matthias: Hintergangene und Hintergeher. Überlegungen zu einer Poetik der Intrige in Mai und Beaflor, Friedrich von Schwaben und Wilhelm von Österreich. In: Hybridität und Spiel. Hg. v. Baisch, Martin und Eming, Jutta. Berlin 2013, S. 113 – 131.

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habe,2 dann ist das durchaus erklärungsbedürftig. Für alle Nicht-Fans: 1989 hieß der jährliche Woody Allen-Film, „Crimes and Misdemeaonors“ – in der deutschen Synchronfassung: „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ – eine schöne Formulierung, ansonsten hat der Film nichts mit meinem Beitrag zu tun, denn Mord an der Geliebten kommen in ihm nicht vor. Worum es mir vielmehr geht, sind Fälle von Verstellung (und zwar in fast allen Beispielen: erfolgreiche Verstellung), die irgendwie zwar wichtig sind, aber nicht im Zentrum der Erzählung stehen. Meine Beispielkette führt in großen Schritten vom 12. ins späte 13. Jahrhundert, und sie ist erzählenden Texten entnommen.

1.

Taktvolle Verstellungen: Hartmanns höfische Mustermänner

Die Erec-Figur hat, erzähltechnisch gesprochen, ein großes Problem: Mit dem Aufbruchentschluss wird Erec zu einer völlig undurchsichtigen Figur. Als das Paar seine Reise beginnt, tritt Enite als zentrale Figur, deren Innenperspektive das Erzählen bestimmt, an seine Stelle. So erfahren wir bekanntlich auch nicht den Grund für sein Verhalten. Dennoch: Obwohl Erec innerhalb des Textes seine Motivationen verbirgt und darin vom Erzähler unterstützt wird, würde ich hier nicht von Verstellung sondern eben von Opazität sprechen. Ein erster prägnanter Fall von Verstellung geht auch bezeichnenderweise nicht vom Protagonistenpaar aus, sondern von einer Figur, die über jeden Verdacht erhaben ist: Gawein, dem arthurischen Musterritter. Doch bevor es soweit kommt, steht eine misslungene Verstellung im Fokus, eine Verstellung, die eigentlich keine sein will und doch als eine daherkommt. Der Artushof ist unterwegs, er lagert in einem schoenem walt (vgl. 4629.8),3 ungefähr eine Viertel Meile von der Straße entfernt. Gawein dagegen war bei der Jagd nicht dabei und kommt zum Artushof geritten, er steigt ab und lässt sein Pferd Wintwalite an einem Zelt festgebunden zurück. Da findet es Keie, durch baneken er dar ˜f saz, / her Walw–n erloubete daz (4629.23f.) – um sich ein wenig zur Erholung zu erreiten sitzt er auf, und Gawein erlaubt das. Beide s„n schilt unde sper / lente d– b„, daz nam er / und reit eine ˜f den wec (4629.25 – 27). Der Text ist ambivalent: Die Erlaubnis steht im Satz davor, ob sie sich auch auf diesen Teil der Mitnahme, die ja Zeichen der ritterlichen Identität betrifft, bezieht, ist mir fraglich. Andererseits: Ritter und Pferd sind eine solche Einheit, bilden, wie 2 Der Vortragscharakter ist weitgehend beibehalten, ergänzt um notwendige Nachweise. 3 Hartmann von Aue: Erec. Hg. v. Leitzmann, Albert, fortgeführt von Wolff, Ludwig. 6. Auflage besorgt von Cormeau, Christoph und Gärtner, Kurt. Tübingen 1985. Ich zitiere im Folgenden ggf. den von Leitzmann auf der Basis von W hergestellten Text (Lücke im Ambraser Heldenbuch).

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Udo Friedrich und Dietmar Peschel aus unterschiedlicher Perspektive gezeigt haben, eine gemeinsame Identität, so dass die Übernahme des Pferdes vielleicht auch die Übernahme der Waffen (und damit von Personenzeichen) nach sich zieht.4 Festzuhalten aber ist, dass in dieser halblegitimen Identitätsübernahme keine Absicht erkennbar ist – jedenfalls soweit der an dieser Stelle lückenhaft überlieferte Text reicht. Sofort reitet Keie los, und sofort begegnet er Erec, dem man seine starken Verletzungen aus dem ersten Guivreizkampf ansieht. dú wart im des ze muote / daz er engegen ime reit / und sprach in s„ner valscheit: / ,willekomen, herre, in diz lant.‘ (4629.36 – 39) Hier wird deutlich auf den Beginn einer Intrige hingewiesen, auf eine nicht so gemeinte und eine Verstellung einleitende sprachliche Äußerung5 – leider scheint wieder durch Textverlust ein Teil des Plots zu fehlen. Wir sehen Keie, der zumindest durch Pferd und Waffen als Gawein verkleidet ist, auf den verwundeten Erec zureiten, wir erfahren dann aus der Reaktion Keies, dass Erec sich, anders als Keie das gerne hätte, für einen Kampf wappnet. Keie beschwichtigt in einer Rede, nach einer Textlücke, Erec, er wolle ihn doch nur zur Versorgung der Wunden an den Artushof führen. Der Erzähler jedoch offenbart Keies eigentlichen Plan: alsus was im ged–ht (4629.56), nämlich zu behaupten, er hätte die Wunden Erec selbst zugefügt und ihn besiegt. Hier schließt sich nun die bekannte umfangreiche ambivalete Charakteristik Keies an. Sie endet mit: von s„nem valsche er was genant / Kei„n der qu–tspreche (4663f.). Das Wort liegt in seinem Bedeutungsspektrum zwischen Übelredner, Lästermaul bis hin zu Kotsprecher, und es ist als Fazit des Vorhergehenden als jemand, der mittels Rede Dinge verkehrt, lesbar. So scheint es Erec aufzufassen, der sich weigert, der Einladung Keies zu folgen, da er sich vil gereche verstuont waz er meinte (vgl. 4665f.). Keies nächste Rede wird wieder eingeleitet mit: dú sprach der valsche Kei„n (4678). Nach einigen Wechselreden kommt es dann zum unvermeidbaren Kampf mit dem üblichen Ergebnis. Zwei Dinge fallen auf: 1. Erec ist nicht nur so kompetent, Keie in der Verkleidung zu erkennen – allerdings ist Keie auch nicht mit der Intention der Verstellung ausgeritten, er ist ja auch nur halbverkleidet. Allerdings wird hier noch nicht gesagt, wie Erec Keie erkennt. Er ist 2. auch so kompetent, Keies 4 Zur Beziehung von Ritter und Pferd vgl. Friedrich, Udo: Der Ritter und sein Pferd. Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450. DFG-Symposion 2000. Hg. v. Peters, Ursula. Stuttgart, Weimar 2001, S. 245 – 267, bes. der Abschnitt „Symbiose von Ritter und Pferd“, S. 253 – 257; vgl. auch Peschel-Rentz, Dietmar : Pferdemänner. Kleine Studie zum Selbstbewußtsein eines Ritters. In: ders.: Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur. Erlangen, Jena 1998, S. 12 – 47. 5 Nach dem Modell von von Matt (S. 119) könnte man hier von einer Intrigenstimme sprechen.

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Absichten zu durchschauen und sich nicht auf das Angebot einer Einkehr an den Artushof – die Variation das alten heldenepischen Motivs der verräterischen Einladung – einzulassen. Die Passage ist lückenhaft überliefert. Hartmanns Text ergibt jedoch dann den besten Sinn, wenn man davon ausgeht, dass Erec Keie erkennt. Ob das in einer Textlücke verbatim so gestanden hätte, muss natürlich offen bleiben. Nach dem Kampf kann Erec dann sein Wissen ausspielen: er fragt den Besiegten nach seinem Namen, und im gleichen Atemzug fragt er nach dem Herrn des Pferdes, so dass er sein Wissen, dass es sich dabei um zwei Personen handelt, deutlich macht. Keie versucht das zunächst zu umgehen, schließlich aber nennt er seinen Namen und den Gaweins, gibt auch zu, das Pferd nur geliehen zu haben, und reitet mitsamt Pferd und Grüßen an Gawein an den Artushof zurück. Dort nun berichtet er von seinem Abenteuer und gibt schließlich der Vermutung Ausdruck, es habe sich bei dem Ritter um Erec gehandelt: ,ich enmohte s„n niht erkennen: / er enwolde sich niht nennen. / s„ne stimme húrte ich, / wan er jach vil wider mich: / als ichz dar an kiesen mac, / súst ez §rec fil de roi Lac.‘ (4852 – 57) Damit ist auch implizit angedeutet, wie im Gegenzug Erec Keie erkannt hat – denn beide haben gleichviel geredet. Man kann sich hier zum einen darüber wundern, dass Erec überhaupt so viel erkannt hat – Erkennen war bislang eher Enites Aufgabe, da Erec in seiner abgeschotteten Rüstung dazu kaum in der Lage war. Was Erec aber unter Beweis stellt, ist eine bisher im Text kaum erkennbare soziale Kompetenz: Er erkennt Keie, er zieht richtige Schlüsse aus diesem Erkennen im Hinblick auf seine Motivationen, und er reagiert mit Ablehnung auf das Angebot; schließlich kann er Keie noch ironisch auf Distanz verweisen. Keies Verstellung wird als Differenz von Innen und Außen inszeniert, und auch Erecs ,richtiges‘ Verstehen von Keies Ansinnen wird durch einen – wenn auch winzigen – Einblick ins Innere Erecs präsentiert. Gleichzeitig ist bereits hier, im ersten Artusroman, der Hof der Ort der Intrige, der Verstellung, des Gegensatzes zwischen Schein und Wahrheit, wie es in der Crúne in den großen Hofszenen der Chrestien-Wolfram-Abenteuer programmatisch pointiert wird.6 Negativ wird der Aspekt der Intrige und der Verstellung in der Begegnung mit Keie abgehandelt – nicht nur in dessen teilweiser Identitätsanmaßung durch das Benutzen von Gaweins Pferd und Waffen, sondern auch in seinem Versuch des unritterlichen Kampfverhaltens. Im zweiten Teil der Szene, die Erec zur Zwischeneinkehr an den Artushof bringt, wird nun dasselbe Muster positiv durchgespielt. Gawein bekommt in einer anderen arthurischen Urszene seine Rolle als empathischer, verständnisvoller Ritter zugewiesen, der den Helden an den Artushof führt – eine Rolle, die ihn 6 Zu diesen Szenen Meyer, Matthias: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1994, S. 140–149.

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(zumindest in der positiven Gawein-Tradition) nie wieder verlassen wird. Gawein entfernt sich vom Artushof mit einem klaren Versprechen: ich bringe in, mac ich ins erbiten. (4888) Keie und Gawein reiten nun aus, und als sie schließlich Erec finden, erkennen sich Erec und Gawein, anders als bei Chrestien, sofort. Zwar gemahnt Gawein Erec deutlich an dessen Treueverpflichtung, doch ebenso deutlich lehnt Erec sie für die momentane Situation, in der Artus nicht bedroht ist, sondern nur einer Laune folgend Erec sehen möchte, ab. Gawein begreift, dass nur eine Verstellung Erec und den Artushof zusammenbringen kann. Er gibt Keie den Auftrag, an den Artushof zurückzureiten, damit dieser hastig aufbricht und Erec und Gawein, die langsam im Gespräch reiten wollen, auf anderem Weg überholt: die w„le kann ich in wol / ˜f dem wege mit listen / ges˜men und gevristen / daz er niht vür kumt. (5009 – 12) Ausdrücklich wird, in fast identischem Vokabular, das Ausführen der Verstellung berichtet, ebenso ausdrücklich wird Gawein als der tugenthafte man bezeichnet. Das könnte theoretisch ironisch sein, ich sehe aber keinen wirklich Hinweis darauf. Gawein lockt Erec in die Konversationsfalle und so an den Artushof. Zwei Lesarten dieser Szene scheinen mir möglich (und schließen sich nicht gegenseitig aus!): 1. Die Szene ist hauptsächlich wegen ihrer komischen Aspekte inszeniert: Gaweins list, die er selbst als waegest (4999) bezeichnet, der Trick, den Artushof heimlich die beiden Ritter überholen zu lassen, trägt in der Vorstellung des heimlichen und überhasteten Aufbruchs des kompletten Hofes geradezu slapstickhafte Züge. 2. Die Szene zeigt, wie Gawein sich psychologisch kompetent verhält: Als er erkennt, dass es Erec mit seiner Weigerung, den Hof zu besuchen, ernst ist, reagiert er emotional (des wart er ein teil unvrú, 4986), was als empathisches Aufnehmen der fehlenden Hofesfreude Erecs lesbar ist. Daraufhin entwickelt er den Plan, nicht Erec zum Hof, sondern den Hof zu Erec kommen, also dessen vroide-Potential von außen bestätigen zu lassen. Dass er nicht weiter in Erec dringt, zeigt, dass Gawein begriffen hat, dass Erec in der momentanen Situation nicht umzustimmen ist; er hält durch seine Zurückhaltung die anderen Kommunikationskanäle zu ihm offen – und beweist damit letztlich, dass Erecs Selbsteinschätzung problematisch ist. Denn der Trick würde nicht funktionieren, wenn Erec nicht auf Gaweins permanente Konversationsangebote und Verzögerungen eingehen würde – sie sind die Voraussetzung dafür, dass der Artushof die beiden Ritter überholen kann. Nicht im berichteten Gespräch, das jegliche Einblicke in Erecs Innenleben verweigert, aber im berichteten Faktum der vielen Gespräche und Erecs Eingehen auf Gawein bietet Hartmann einen Hinweis auf Erecs Innenleben: Er hat die höfischen Formen nicht vergessen, ist also noch hoffähig und über diese Rudimente des Höfischen hinaus offenkundig bereit, seinem Freund Gawein im Spiel der Konversation zu folgen. Dies ist ein

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Anzeichen dafür, dass Erec lernt, sich in die höfische Männergesellschaft einzufügen.7 Gleichzeitig zeigt die Szene, wie Gawein, anders als der plumpe Keie, dessen halbgare Verstellung einmal mehr in die übliche Keieszene der schmählichen Niederlage führt, als perfektes höfisches Individuum eine perfekte höfische List ausführt. Dass darin auch ein gehöriges Moment der Verstellung und Übertölpelung enthalten ist, macht Erecs unwirsche Reaktion deutlich: ir enhabet niht wol an mir get–n, / her G–wein, diz ist iuwer r–t. (5045f., vgl. 5067) Joachim Bumke hat für den Parzival formuliert, was auch für den Erec zu gelten scheint: „Die Art und Weise, wie Gawan seine Fähigkeit, komplizierte Situationen zu durchschauen und durch sein überlegenes Handeln Konflikte zu überwinden, unter Beweis stellt, ist in der deutschen Dichtung durch eine Eigenart Gawans gekennzeichnet, die wie eine persönliche Marotte wirkt: das Bestreben, seine Absicht zu verbergen und die Mithandelnden über sein Wissen und seine Ziele im Unklaren zu lassen“ (S. 160).8 Das aber ist vielleicht der Normalfall der höfischen Intrige – ein Normalfall, wie er schließlich auch durch Erec selbst mindestens einmal ausgeführt wird. Nach der Idylle auf Penefrec, in der Erec wiederhergestellt wird, reiten Erec und Guivreiz in Richtung Brandigan, wo die Aventiure Joie de la Court wartet. Ausführlich wird in direkter Rede der Dialog zwischen Guivreiz und Erec wiedergegeben, in dem Erec davon überzeugt werden soll, Brandigan zu meiden.9 Immer wieder wird deutlich, dass Erec dies nicht tun wird. Erecs Argumente aus dem höfischen Ehrenkodex wirken dabei durchaus ambivalent, zumal ihnen Guivreiz’ Argumente entgegenstehen, der ja keineswegs als feig, sondern als Erec gleichrangiger (und auch kämpferisch zumindest nicht wesentlich nachgeordneter) Ritter inszeniert ist. Als Landesherr aus der Nähe Brandigans hat er sich offenbar auf eine Vermeidungsstrategie eingestellt, er verhält sich politisch klug. Erec dagegen verhält sich immer noch nicht wie ein Landesherr, sondern weiter konsequent wie ein Aventiureritter. Guivreiz ist dementsprechend nicht überrascht: Guivreiz der künec guot / erkande in wol alsú gemuot / daz er benamen 7 Ich sehe im Redeverhalten Erecs Gawein gegenüber durchaus eine Parallele zu seiner Höflichkeit in anderen Sprechsituationen (vgl. zu Erecs Höflichkeit Jones, Martin H.: Changing Tack or Showing Tact? Erec’s Self-Criticism in the Second Encounter with Guivreiz in Hartmann von Aue’s Erec. In: German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. Fs. Roy Wisbey. Hg. v. Honemann, Volker u. a. Tübingen 1994, S. 229 – 243). 8 Bumke, Joachim: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001, S. 160; vgl. auch ders: Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450. DFG-Symposion 2000. Hg. v. Peters, Ursula. Stuttgart, Weimar 2001, S. 355 – 370. 9 Sullivan, Joseph M.: Counsel in Middle High German Arthurian Romance. Göppingen 2001, S. 93 – 122, analysiert diese Szene ausführlich als Ursprung einer literarischen Reihe des Motivs ,Ausschlagen des Rates des Gastgebers‘, wobei es sich charakteristischerweise um einen privaten, nicht um einen öffentlichen Rat handelt.

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vollerite / und daz durch niemen enmite (8047 – 51) – sprich, Guivreiz zeigt die Resignation dessen, der weiß, dass Argumente gegen eine festgefügte Voreinstellung nichts fruchten.10 Bei der Ankunft in Brandigan tritt warnendes Volksgemurmel hinzu. Ich will nicht insinuieren, dass Erec die Aventiure hätte verweigern sollen. Es gibt aber im Text eine Haltung, und sie nimmt nicht nur Ivrains, der Burgherr, in dessen Herrschaftsbereich die Aventiure angesiedelt ist, ein, sondern auch Guivreiz, perfekter Ritter, guter Landesherr und Freund, die das Ignorieren der Aventiure für den richtigen Weg hält, und in der Figur des Guivreiz wird diese Möglichkeit nicht desavouiert. Erec ist hier jedenfalls einer Existenz als Landesherr keinen Schritt näher als am Romananfang. Er ist aber (vielleicht) ein besserer und besonnenerer Kämpfer geworden. Und er ist zu pragmatischem Verhalten in der Lage, wie seine List dem Burgherrn gegenüber zeigt, mit der er Auskunft über die Aventiure erhält: Er spielt ihm vor, nur an der ,Sehenswürdigkeit‘ interessiert zu sein, um darüber zu berichten, ohne die Aventiure zu bestehen: daz ich dar n–ch gevr–get h–n, / dazn h–n ich niht dar ˜f get–n / daz ich des iht gesinne / daz ich dar an gewinne / sunderen pr„s vür alle die / die noch her k–men ie, / wan daz mich des betr–get, / swenne man mich d– von vr–get, / beide w„p unde man, / daz ich ins niht gesagen kan, / und ich doch hie gewesen bin (8446 – 56). Und diese – aus heutiger Sicht eher plumpe – Verstellung wird geglaubt: n˜ w–nde der wirt er meintez sú (8458). Wie in den Verhandlungen nach dem Guivreiz-Kampf zeigt Erec Takt – hier will er seinem Gastgeber einen Bericht über die Aventiure entlocken, ohne ihn zu bekümmern. In dieser neugewonnenen Pragmatik zeigt sich, dass Erec nun endlich dem Artushof kompatibel geworden ist: Während er in der Episode der Zwischeneinkehr noch durch Gaweins pragmatisches Verhalten ,überlistet‘ worden ist, so kann er nun selbst solche höfischen listen, solche verstellenden Höflichkeiten anwenden. Bei Chrestien fehlen übrigens Parallelstellen. Dort reagiert der Burgherr nur mit einem ,Hab ich’s doch gewusst‘ auf Erecs Ankündigung, keiner avanture auszuweichen. Mit See kann man darauf hinweisen, dass Erec mittlerweile andere Kommunikationsformen beherrscht als „contact at sword-point or in bed“.11 Diese Kommunikationsformen aber enthalten an prominenter Stelle die Fähigkeit zur erfolgreichen konversationellen Verstellung.

10 Cramer übersetzt an dieser Stelle: „Guivreiz, der edle König, wußte, daß er so tapferen Sinnes war, daß er sicherlich hinreiten und das um niemandes willen unterlassen werde“ (Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Cramer, Thomas. Frankfurt a.M. 1972 [Fischer TB 6017], S. 351). Die kursivierte Passage ist Interpretation – und m. E. eine mit falscher Wertung. 11 See, Geoffrey : An Examination of the Hero in Hartmann’s Erec. In: Seminar 27 (1991), S. 39 – 54, hier S. 52.

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2.

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Konrads von Würzburg „Engelhard“: Gefühlsmäßiger Betrug

In den Freundschaftsroman von Ami und Amilun hat Konrad von Würzburg in seiner mittelhochdeutschen Version sehr viel ausführlicher als in den möglichen Vorlagen eine Liebesgeschichte zwischen Engelhard, einem der Freunde, und Engeltrud inseriert. Da die Freunde äußerlich identisch sind, führt diese Liebe Engeltrud ins Dilemma: zew–re ich wolte Þ tút geligen / Þ daz m„n l„p vil reine / würde in zwein gemeine (1132 – 1134).12 Erst nachdem Engeltrud dieses Dilemma namenstechnisch gelöst hat, unterstützt die Geschichte ihre Entscheidung, indem Dietrich nach dem Tod seines Vaters vom dänischen Hof abberufen wird. Das geht zwar nicht ohne Komplikationen vonstatten, die hier aber nicht interessieren. Es fällt mir auf, dass trotz der bisherigen Affektorgien, die die Beziehung zwischen Dietrich und Engelhard gekennzeichnet haben, dieser Abschied nur sehr summarisch berichtet wird; der Liebesaffekt zwischen Engelhard und Engeltrud ist an die Stelle des Freundschaftsaffekts getreten. Es heißt nur vergleichsweise kurz: man sach si heize weinen / umbe ir zweier scheiden. / ez wart dú von in beiden / mit tr˜ren j–mer güebet (1588 – 1592). Ich lese man sach hier nicht nur als Signum der Öffentlichkeit, sondern auch als auktoriale Perspektive auf die nach außen getragenen Gefühle der Protagonisten. Es handelt sich bei diesem Weinen jedenfalls noch um private Gefühle angesichts einer persönlichen Trennungssituation. Im nächsten Vers jedoch ist aus diesem Weinen ein öffentlicher Affekt geworden: Dieterich betrüebet / für den künec balde gie (1592f.). Hier zeigt er den – bislang heruntergespielten, weil für Dietrich sekundären – zulässigen und erwarteten Affekt über den Tod des Vaters. Wenn beim Abschied der beiden Protagonisten der öffentliche Affekt die kaum geschilderten privaten Emotionen weiterführt, so folgt nun die gleiche Figur, eine Verschiebung von Emotion und Anlass, in der Liebeshandlung: Engeltruds Liebe wächst, da nun Dietrich nicht mehr in Sichtweite ist. Diese Liebe wird schnell so stark, daz ir herze weinde / n–ch s„ner minne tougen. / si entorste mit den ougen / erzeigen niht den smerzen / den si truoc ze herzen. (1726 – 30) Ganz ausdrücklich drängt die Liebe, die Engeltrud immer stärker empfindet, nicht nach außen, wie das in anderen Texten der Fall ist. Si kunde j–mer dulden / verholne zuo dem m–le. (1732f.) Das aber hat Folgen: d– von sú wart ir qu–le / deste groezer alle z„t. (1734f.) Konrad hält noch einmal fest: d– von der schoenen wirs geschach / von tougenlicher swaere / dan ob diu minnebaere / ir j–mer goffent haete. (1748 – 51) Konrad kennt und vertritt durchaus die Meinung, dass innere Zustände sich 12 Konrad von Würzburg: Engelhard. Hg. v. Reiffenstein, Ingo. 3., neubearbeitete Auflage der Ausgabe von Gereke, Paul [Halle 1912]. Tübingen 1982.

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im Äußeren der Person widerspiegeln. Für ihn ist das aber keine zwangsläufige Identitätskonstellation: Das Äußere und das Innere können identisch sein, und er wiederholt mehrfach, dass dies für von starken Emotionen betroffene Personen sinnvoll ist, da damit das Ertragen der Emotionen leichter gemacht wird. Wenn man den den Gefühlen entsprechenden Gefühlsausdruck an den Tag legen kann, geht es einem mit diesen Gefühlen besser. Aber : Man ist nicht dazu gezwungen, sich so zu verhalten. Man kann die inneren Emotionen und das äußere Gebaren vollständig trennen, auch wenn Konrad so ein Verhalten wohl nicht als ,natürlich‘ bezeichnen würde. Engeltrud jedenfalls gelingt das – und sie potenziert damit ihr Leiden. Doch dann kommt der epische Zufall (oder der Erzähler) zur Hilfe: ir muoter lac ir leider tút, / diu tugenthafte küneg„n. / des wart ir j–mer unde ir p„n / deste grimmer aber dú. / doch wart sie leidec unde frú / von ir túde beide. (1758 – 63) Der Tod der Mutter bringt ihr zum einen mehr Leid, zum andern aber eröffnet er Engeltrud eine von ihr sehr genau erkannte und in einem inneren Monolog wiedergegebene Chance, ihr bisheriges anstrengendes, sich vollständig verstellendes Verhalten zu ändern. Sie begrüßt das Sterben der Mutter als Gelegenheit, ihre nur unter großen Anstrengungen zu verhehlende Liebessymptomatik durch den nun zulässigen Traueraffekt zu tarnen: der minne gernde wille (…) wirt verdecket mit der klage. (…) ob ich durch minne tr˜ric lige, / so enz„het mich s„n niemen doch (1772, 1774 – 1777). Dieser spektakuläre Fall emotionaler Verlogenheit zeigt ein souveränes Individuum, das mit den Erwartungen einer mittelalterlichen, öffentlichen Affektkultur spielen und so seine Privatsphäre ganz bewusst absichern kann.13 Engeltrud erfindet eine Strategie, mit der sie ihr privates Selbst gegen eine Gesellschaft, die ihren Wünschen nicht nachzukommen bereit ist, schützt. Ihr Plan geht auf, ihr Minneklagen wird als Trauer der Tochter wahrgenommen. Der Erzähler betont, dass der König sich in dem w–ne befindet, dass seine Tochter n–ch ir müeterl„ne / trüege diese p„ne (1811f.). Dietmar Peschel sieht hier keine „zynisch makabre Gefühlskälte“, sondern versucht, beide Gefühle, Liebe und Trauer, als gleichzeitig präsent zu erklären.14 Während ich die Möglichkeit gleichzeitiger verschiedener Emotionen natürlich nicht ausschließen will, scheint mir doch der Erzählerkommentar in diesem Falle dagegen zu sprechen. In dieser noch relativ harmlosen Verstellung, einem emotionalen Betrug, mit 13 Brandt, Rüdiger : Enklaven – Exklaven. Zur literarischen Darstellung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit im Mittelalter. Interpretationen, Motiv- und Terminologiestudien. München 1993, S. 297f. – Anders, und gegen den Text weniger differenziert, liest diese Passage Schulz, Armin: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik. Tübingen 2008, S. 404. 14 Peschel, Dietmar: Geglückte Pubertät? Diet-r„ch, R„ch-hart, Engel-hart, Engel-tr˜t. Vom Erwachsenwerden eines jungen Adligen in der Erzählung Engelhart Konrads von Würzburg. In: Jahrbuch f. Internationale Germanistik 33 (2001), S. 8 – 27, hier S. 20.

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dem es Engeltrud gelingt, hinter der Maskerade der Tochtertrauer einen sozial inakzeptablen Liebhaber zu verstecken, sehe ich einen ersten deutlichen Fingerzeig auf das eigentliche Thema des „Engelhard“: die (wohl doch als positiv, aber auf jeden Fall auch als skandalös gekennzeichnete) Rücksichtslosigkeit eines Individuums, aber auch dessen erweiterte Möglichkeiten im Vergleich mit einer durchorganisierten höfischen Gesellschaft. Es gehört zur Ironie der Konradschen Konstruktion, dass Engeltrud schließlich selbst zu den Opfern eines solchen Individuums (Engelhard und dessen Kindstötung) gehören wird. Dem großen Betrug im Text, dem gefälschten Gottesurteil, will ich nicht weiter nachgehen, aber auch er basiert darauf, dass außen etwas gänzlich anderes zu sehen ist (Engelhard) als darin steckt (Dietrich); für mich aber ist wichtig, dass dieser spektakuläre Fall Auswirkungen bis in kleinere Episoden hat: Verstellungen sind in der höfischen Welt des „Engelhard“ wiederum der Normalfall.

3.

Sozialer Erfolg und narrativer Misserfolg: Verstellung im „Friedrich von Schwaben“

Im Zentrum des „Engelhard“ steht mit dem gefälschten Gottesurteil und dessen Auswirkungen eine Episode, in der Verstellen und Verkennen die Basis für die weitere Romanhandlung abgeben. Ähnliches gilt für den „Friedrich von Schwaben“, einem merkwürdigen Versroman vom Ende des 13. Jahrhunderts, in dem Friedrich, der jüngste von drei Söhnen, die Aufgabe erhält, die verzauberte Königstochter Angelburg zu befreien. Wie es zu dieser Verzauberung gekommen ist, ist wiederum eine Episode, in der Verstellung und Verkennen eine zentrale Rolle spielen, ja sogar direkt ins Bild gesetzt werden:15 Von seiner zweiten Ehefrau Flanea, die ihrem illegitimen Verhältnis mit dem Zauberer Jeroparg nachgehen will, wird der König mit einem Zauber belegt, so dass er zwar in seinem Schloss noch sehen kann, nicht aber, wenn er es verlässt. Von der Semantik her ist dieser Zauber klar : Der König soll nur die Dinge im Schloss sehen, seine Liebe zur neuen Ehefrau, nicht aber deren Verhalten außerhalb. Es fällt auf, dass in dem Bericht, der von dieser Geschichte gegeben wird, das Wort haimlich ein Leitwort ist. Heimlich ist ja in der Grundbedeutung ein positives Wort, hier nun wird es nur negativ verwendet, in einer Bedeutung, die man mit Lexer am besten als ,fremden Augen entzogen‘ paraphrasiert: Flanea will ihre eigene Welt aufrecht erhalten als Zone, die nicht beobachtet werden kann. Doch ihre Stieftochter Angelburg kommt ihr auf die Schliche, und so wird diese in einer großen Inszenierung des Zauberers und Flaneas vor aller Öffentlichkeit scheinbar 15 Die ganze Episode wird erzählt im ersten langen Bericht der Angelburg, 162 – 656.

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entlarvt als die, die ihren Vater verzaubert hat. Das drohende Todesurteil kann Flanea abwenden (die meist als ,die falsch Flanea‘, z. B. 429, bezeichnet wird), indem sie scheinbar für ihre Stieftochter Fürsprache einlegt. Flanea ändert die angedrohte Todesstrafe in eine Verzauberung mit einer hochkomplizierten Erlösungsbedingung. Zunächst wird Angelburg selbdritt in drei weiße Hirschkühe verwandelt, sie muss einen männlichen Helden finden, der über ein Jahr in einer sich steigernden Anzahl von gemeinsamen Nächten und immer länger werdenden Abwesenheitsperioden gemeinsam im Bett keusche Nächte mit der nächtlich wieder in eine Jungfrau zurückverwandelten Frau verbringt, ohne sie zu sehen. Wenn das nicht gelingt, wird eine zweite, schwierigere Verzauberung wirksam (was natürlich auch im Roman passieren wird). Das klingt nach einer erschwerten Variante des Partonopierstoffs und ähnlich wie Partonopier kommt Friedrich während seiner Erprobungszeit mehrfach an den Hof seiner Familie zurück. Als er das erste Mal nach zwei Tagen zurückkehrt, ist sein ältester Bruder erstaunt über die unerklärte Abwesenheit. Doch Friedrich erzählt eine Geschichte von mehreren Jagdzwischenfällen, die, wie jede gute Lüge, erstaunlich nahe bei der Wahrheit bleibt: Eine Nacht wird durch eine vergebliche Jagd nach einem Hirschen erklärt (am Morgen, so das realistische Detail der Lüge Friedrichs, muss er sich und sein Pferd von wilden Äpfeln und Birnen ernähren), und als er dann zum Hof zurück reiten will, wird er durch ein Unwetter einen weiteren Tag aufgehalten. Am Schluss der Räuberpistole heißt es lapidar : Mir ist aber nichtz geschehen (825). Nach drei Wochen muss Friedrich erneut zu Angelburg reiten, und nun kommt die Minne auf den Plan: Der Erzähler bemüht Frau Minne, um eine intensive emotionale Bindung zwischen Friedrich und Angelburg herzustellen (was in der Tat schwierig ist: er darf sie nicht sehen, und sie dürfen, anders als Partonopier und Meliur, auch nicht miteinander schlafen). Nach drei Tagen reitet Friedrich wieder zurück; diesmal trifft er, wenn auch kaum erzählte, Vorsorge: Ainen begund er bitten, / Ob man in wurd frägen, / So solt er sagen, / Er wer bey im beliben / Unnd die zit mit im vertriben. (928 – 932) Nach dem gleichen Muster wird nach 10 Wochen sein erneuter Aufbruch ermöglicht: Einem diener reich (938), also wohl eher : einem mächtigen Vasallen, eröffnet Friedrich, dass er sich für einige Tage verbergen will und befiehlt: Du mich mit listen versprich; / wann ich will ettwas werden innen. (943f.) Die nächste Trennung ist die längste, sie dauert 23 Wochen – und hier nun müssen die Dinge schief laufen, muss das gesetzte Tabu gebrochen werden. Ein doppeltes Tabu wurde gesetzt: Schlafen die beiden miteinander, so bleibt Angelburg eine Hirschkuh, sieht er sie, tritt eine zweite, schwierigere Verzauberung in Kraft. Narrativ also kann, geht man vom gattungstypischen Happy End aus, nur das Sichttabu gebrochen werden. Das aber kann kaum mit Minne begründet werden, wenn doch Minneüberschwang auch zum Sex führen könnte. Dennoch

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agiert der Erzähler zunächst konventionell, wenn auch mit einer überraschenden Wendung: Ein Hoftag in Schwaben führt dazu, dass sich eine große Menge höfischer Menschen versammelt, und mit jeder ankommenden schönen Frau gerät Friedrich in größere Minnequal. Zwar trägt er, wie mehrfach betont wird, seine Liebe gehaim (1002), doch heißt es gleich darauf, dass die liebe, wie listig sie auch sei, doch an den Tag kommen muss (1003 – 1006). Doch entsteht daraus kein Problem. In einem scharfen Schnitt wird die Szene nun zu Stiefmutter und Zauberer gewechselt, die merken, dass Friedrich drauf und dran ist, die Erlösungsbedingung zu erfüllen. Der Zauberer verkleidet sich als Arzt, und als solcher kann er Friedrich dazu überreden, schließlich doch bei seinem nächsten Besuch, kurz vor Ende der Erlösungsbedingung, das Sichttabu zu brechen. Das sind nicht die einzigen Episoden, in denen Verstellung wichtig wird; als Friedrich etwa im Reich der Zwergenkönigin Jerome gefangen wird, gelingt es ihm erfolgreich, Liebe vorzutäuschen – schließlich so erfolgreich, dass Jerome von ihm schwanger wird, und er noch vor seiner semifinalen Ehe mit Angelburg eine Tochter zeugt. Diese Liebe ist einerseits vorgetäuscht, andererseits der Zielpunkt der Handlung, denn auf ihrem Totenbett wird Angelburg Friedrich an Jerome zurückverweisen.16 Doch ich will mich mit den kleinen Verstellungen des Beginns begnügen und besonders die kurzen Dialoge hervorheben, in denen Friedrich sich der Unterstützung anderer versichert. Hier wird ein Bild vom Hof gezeichnet, in dem ein gerüttelt Maß an Verstellung normal ist: Es ist normal und wird nicht weiter kommentiert, dass Friedrich einen seiner Untergebenen dazu anhält, ihm ein Alibi zu verschaffen, und das funktioniert auch ohne weitere Probleme. Als Friedrich für eine längere Zeit verschwindet, kann er wiederum einen Vasallen dazu bringen, sein Fehlen zu vertuschen. Interessant auch seine Begründung (und in meinen Augen interessanter, als stünde keine Begründung da): Friedrich will einer Sache auf den Grund gehen, also irgendetwas oder irgendjemanden ausspionieren. Für den jüngsten Bruder des Herrscherclans ist das offenkundig ein wenig auffälliges Verhalten. Eine vorgetäuschte Intrige (oder zumindest eine Heimlichkeit) wird hier als Mittel der Verstellung genutzt, um eine Liebesbeziehung zu einer in eine Hirschkuh verzauberten Prinzessin (was eben doch eine umständlichere Erklärung erfordern würde) zu verheimlichen. Friedrich selbst muss sich natürlich auch noch er16 Es gilt also nicht nur im Hinblick auf das zentrale Intrigenpaar, Flanea und Jeroparg, was Ridder festhält, wenn er von einer „durch Zauberei, Intrige und Ehebruch korrumpierte[n] gesellschaftliche[n] Ordnung“ spricht – nur dass zumindest was die Verstellung anbelangt, die Korruption, wenn sie denn wirklich als solche zu werten ist, alle Bereiche des Höfischen durchzieht und auch positiv gewertet werden kann; vgl. Ridder, Klaus: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich, Friedrich von Schwaben. Berlin, New York 1998, hier S. 132.

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folgreich verstellen, damit diese Aufforderung entsprechend geschluckt wird, auch das hält der Text fest.17 Die große Liebe aber, die Friedrich nicht völlig verbergen kann, wird nicht zum Problem, denn die herbeigerufenen Ärzte erkennen sie nicht, nur der Zauberer weiß, wo er einhaken muss. Das aber ist keine Erkenntnisleistung, er hat einfach einen Wissensvorsprung. Narrativ führt Friedrichs Verstellungskompetenz in ein Problem: Anders als Partonopier hätte er keine Schwierigkeiten, die Erlösungsbedingung im ersten Anlauf zu erfüllen – und so müssen Zauberer und böse Stiefmutter ein zweites Mal aktiv werden, um die allzu rasche Erlösung Angelburgs zu verhindern. *

Es wäre ein leichtes, aus lateinischen klerikalen Texten mit anticurialer Tendenz Invektiven gegen das Hofleben zusammenzustellen. Wobei es mir aber in meiner Beispielreihe geht ist zu zeigen, dass Verstellung auch in den idealisierenden Texten der höfischen Literatur ein zentrales Element ist – und zwar nicht nur in den großen Aktionen, in denen spektakuläre Listen, in denen narrativ relevante Dichotomien geschaffen oder übersprungen werden. Verstellung ist der Normalfall des höfischen Lebens (und er ist es vielleicht viel stärker in der höfischen Gesellschaft als in der modernen Gesellschaft, die unter dem Imperativ ,Sei Du selbst‘ leidet18). Sie ist nicht nur in negativen Figuren präsent. Wenn Verstellung problematische Ergebnisse zeitigt, dann ist sie negativ, als Fähigkeit aber ist sie unverzichtbar ; damit gleicht sie dem breiteren Konzept der list, die auch resultatabhängig bewertet wird. Ubiquität von Verstellung würde als Befund für Texte des späten 13. Jahrhunderts weniger überraschen, sie ist aber von Beginn an präsent: Es ist nicht die für viele Interpreten immer noch problematische Lunete, die Verstellung in den Artusroman bringt, es ist Gawein, der als erster sehr erfolgreich und vom Text positiv bewertet in diesem Bereich aktiv wird. Es findet sich im Rahmen der zu Beginn vorgestellten Episode keinerlei Indiz für Hofkritik – Verstellung wird von Hartmann (der sie ja erst gegen Chrestien in die Episode einführt) nicht negativ gesehen. Die Fähigkeit, sein Inneres zu verbergen und so Ergebnisse zu erreichen, die man anders nicht erreichen würde, die Fähigkeit, aus Situationen emotionalen wie handlungstechnischen Nutzen zu ziehen und die Fähigkeit, seine Umgebung so zu manipulieren, dass man Freiräume für im wahrsten Sinne des Wortes privates Verhalten erhält, das sind die in den drei vorgestellten Beispielen erkennbaren Funktionen von Verstellung. Damit aber, so mein Ver17 Listigclich begund er gebauren (936) verweist sowohl auf die Verstellung (die ja offenkundig erfolgreich ist), wie auch im Begriff des Gebarens auf den gesamten Habitus, der der Situation angepasst werden muss. 18 Vgl. die Argumentation von Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a.M. 1986.

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dacht, wird eine ganz konkrete Didaxe für das Überleben des höfischen Individuums im Sozialsystem Hof geliefert. Erst wenn Verstellung scheitert – oder wenn sie zu Dingen verwendet wird, die das Sozialsystem Hof sprengen, wenn wir also bei den großen Fällen angelangt sind, wird sie sanktioniert. Als Kleinigkeit aber hat sie ihren festen Platz, auch und gerade in der höfischen Literatur.

Lydia Miklautsch (Wien)

Das verstellte Ich. Heinrich von Morungen und Walther von der Vogelweide Die Verstellung ist […] an sich weder eine Tugend noch ein Laster ; sie ist eine Wirkung des Verstandes, nicht eine Eigenschaft des Herzens. Goethe, Die Aufgeregten III

1.

Das Ich und seine Rollen

Die mediävistischen Arbeiten, die sich mit dem Ich im Minnesang auseinandersetzen, sind mittlerweile genauso wenig überschaubar wie die unterschiedlichen Begriffe zur Markierung dieser Sprecherinstanz. Die poetologische Kategorie des lyrischen Ich wird in Termini aufgespaltet, wie „formelhaft abstraktes oder konventionelles poetisches Ich“, ein „identifkatiorisches oder Rezipienten-Ich“, ein „überpersönliches gnomisches Ich“1, es wird aufgefasst als eine fiktive unbestimmte Person oder als ein Rollen-, Sänger-, oder AutorIch. Begründet werden diese Ich-Spaltereien mit der spezifisch historischen Situation des Minnesangs als Teil eines normativen höfischen Diskurses und seiner komplexen Kommunikationssituation durch die Gebundenheit an den mündlichen Vortrag. Doch alle philologisch noch so spitzfindig argumentierten Ich-Differenzierungen lassen dann letztlich doch die Fäden in der Hand eines Autors zusammenlaufen: Da wird von den Ich-Rollen Walthers von der Vogelweide und dem speziellen Ich-Konzept Heinrichs von Morungen gesprochen, um gleichzeitig zu betonen, dass es dabei keineswegs um biographische oder lebenswirklich relevante Positionen ginge: Kurz, das Ich zeigt sich – und darüber ist man sich in der Forschung weitgehend einig – im Minnesang nur in seiner Verstellung. Doch damit ist wenig gewonnen, sondern nur eine systematische Mehrdeutigkeit postuliert. Man hat versucht diese Ich-Ambiguitäten durch den Rollenbegriff 1 Zu nennen wäre hier etwa der Aufsatz von Knape, Joachim: Rolle und lyrisches Ich bei Walther. In: Walter von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Günther Schweikle zum 60. Geburtstag.. Hg. v. Mück, Hans-Dieter. Stuttgart 1989, S. 171 – 190.

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aufzufangen und zu klären, was wiederum Fragen nach der Fiktionalität und Authentizität der Ich-Aussagen provoziert. In der jüngeren Diskussion ist der alte Streit, ob es sich beim Minnesang um Rollenlyrik oder um eine authentische und auch biographisch fassbare Bekundung eines individuellen Selbst handelt, wieder neu entflammt.2 Es geht mir keineswegs darum, die Debatte darüber, ob Minnesang Rollenlyrik sei oder nicht, wieder aufzugreifen und fortzuführen. Ich denke, diese Frage lässt sich auch nicht so einfach mit ja oder nein beantworten. Selbstverständlich ist jedes Minnelied auch die poetische Schöpfung eines Individuums, eines Autors, und es wäre unsinnig zu behaupten, das Spezifische des Minnesängers A oder B liege nur in der Art und Weise der Gestaltung vorgegebener Muster und Motive. Andererseits ist die Variation, die Wiederholung, das Spiel mit bestimmten Rollen ein wichtiges Spezifikum des Minnesangs. Aber ist die Übernahme und Ausformulierung einer Rolle durch einen Autor unweigerlich ein nicht authentisches Sprechen? Anders formuliert: Kann das Fiktionale authentisch sein?3 Ich behaupte einmal, dass das fiktionale Sprechen eine Möglichkeit des Autors ist, Authentizität für sich zu beanspruchen und zwar als Autor. Der Minnesang setzt nicht nur einen höfischen Diskurs voraus, sondern ist zugleich dessen Bestandteil. Das heißt aber nicht, dass der Minnesang bloß eine Fortschreibung und Untermauerung dieses Diskurses durch unterschiedliche Autoren in je unterschiedlicher Weise ist. Die Minnelyrik der hochhöfischen Zeit ist nicht nur gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung mit dem kollektiv verbindlichen Leitbild (dem höfischen Minnediskurs), sondern in der poetischen Rede setzt sich der Autor in Konkurrenz zu anderen Autoren, modelliert sein (künstlerisches) Selbst durch eine mehr oder weniger bewusste Wahl aus einem breiten Angebot verschiedener Rollen.4 Es steht außer Frage, dass im Minnesang unterschiedliche Ich-Rollen realisiert sind, etwa bei der selbstreflektorischen Rede der Dame oder der Ich-Rede eines räsonierenden Boten. So gesehen sind die Ich-Äußerungen im Minnesang tatsächlich nichts anderes als Verstellungen, Masken oder Rollen. Wie Jan Dirk Müller ausgeführt hat, ist aber die Übertragung eines modernen Rollenbegriffs auf den Minnesang problematisch, vor allem dann, wenn man Rolle prinzipiell als etwas bloß äußerlich Übernommenes und Vorgetäuschtes (fingiert rollenhaft) versteht und dies in

2 Einen guten Überblick mit Literaturhinweisen bietet der Sammelband: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hg. v. Hausmann, Albrecht u. a. Heidelberg 2004. 3 Zur Diskussion dieser Frage: Müller, Jan Dirk: Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs. In: Hausmann [Anm. 2], S. 47 – 64 mit weiterführender Literatur. 4 Dazu ausführlich Müller [Anm. 3], S. 49 ff.

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einen unvereinbaren Gegensatz zu einem authentischen (individuell biographisch) verstandenen Ich setzt. Ich verstehe die Pluralisierung der Rollen, das Auftreten des lyrischen Subjekts in einer Vielzahl von Posen als eine Möglichkeit, dichterische Authentizität im Schnittpunkt eben dieser Rollen zu behaupten.5 Wenn sich das Ich in verschiedenen Rollen inszeniert, bedeutet das nicht, dass das Ich zu etwas gänzlich anderem wird, sondern sich verstellt, um sich gerade in dieser Verstellung – so paradox es klingen mag – als ein einzigartiges und herausragendes Ich zu präsentieren. Ich verstehe die unterschiedlichen Ich-Aussagen in den Liedern auch als ein Mittel innerpoetischer Auseinandersetzung zwischen den Autoren, die der Selbstprofilierung dient. Angeregt zu diesen Überlegungen wurde ich durch die Dichtungstheorie Harold Blooms, die er in seinem berühmten Buch „Einflussangst“6 am Beispiel der englischen Lyrik der Romantik entwickelt hat und deren Hauptthesen ich kurz zusammenfasse.

2.

„Es gibt keine Gedichte, nur Beziehungen zwischen Gedichten“ – Harold BLOOMS „Einflussangst“.

Einflussangst ist nach Bloom die zentrale Antriebskraft der poetischen Produktion. Der Begriff umschreibt jenen Prozess dichterischer Tätigkeit, der sich in Auseinandersetzung mit den Vorgängerautoritäten vollzieht. Durch Rückverweise auf deren frühere Texte, die allerdings nicht als einfache Zitate zu verstehen sind, treten die Dichter aus dem Bannkreis ihrer Vorgänger heraus. Das gelingt vor allem durch eine willkürlich destruktive Lektüre der älteren Texte, Bloom spricht von kreativer Fehllektüre, mit deren Hilfe der jüngere Autor, Bloom nennt ihn Epheben, seine eigenständische dichterische Biographie entwickelt. Erst in der Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern gewinnt ein nachfolgender Dichter an Stärke. Die Art und Weise der Auseinandersetzung ist dabei entscheidend für die Positionierung des Jüngeren in der Literaturge5 Dies sieht Beate Kellner vor allem für die Botenlieder verwirklicht: „Hier [im Botenlied] treten die Rollen von Autor, Werber und Sänger, die im deutschen Minnesang meistens im Ich-Sprecher unauflösbar zusammenfallen, zumindest ansatzweise auseinander : Gerade indem die Rollen von Autor und Sänger, Autor und Nachsänger, Autor und Bote auseinandergelegt werden, profiliert sich […] die Rolle des Autors als eines in der Absenz schaffenden Produzenten. Dieser vermag sich die Liebe im Raum seiner Imagination zu erschaffen, die Geliebte in der Phantasie, in seinem Inneren zu vergegenwärtigen […].“ Kellner, Beate: Ich grüeze mit gesange – Mediale Formen und Inszenierungen der Überwindung von Distanz im Minnesang. In: Hausmann [Anm. 2], S. 107 – 138, hier S. 133. 6 Bloom, Harold: Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung. Aus dem Amerikanischen von Schweikhart, Angelika. Basel, Frankfurt/Main 1995 (nexus 4).

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schichte als eines Ingeniums oder eines Epigonen.7 Bloom beschreibt diesen Vorgang allerdings nicht als eine bewusst ausgetragene Rebellion, sondern als ein weitgehend unbewusstes Szenario. Bloom nennt insgesamt sechs Abwehrmechanismen gegen die Einflussangst – man könnte auch sagen Techniken des Umgangs mit der Tradition – die sowohl eine psychologische als auch eine rhetorische Komponente enthalten. a) Clinamen [Abweichung]: „Ein Dichter weicht von seinem Vorläufer ab, indem er die Gedichte seines Vorläufers so liest, als ob er in Beziehung zu ihnen ein clinamen [Abweichung] ausführte.“ Im eigenen Gedicht erscheint dies als eine „korrektive Bewegung“ und als ein Akt der „kreativen Korrektur“8 und zwar so, als „habe ein Dichter als Dichter ein Vorläufer-Gedicht oder Dichtung im allgemeinen absichtlich fehlinterpretiert.“9 Diese Bearbeitungstechnik entspricht der Trope der Ironie. b) Tessera [Vervollständigung]: Ein Dichter ,vervollständigt‘ antithetisch seinen Vorläufer, indem er das Vorläufergedicht so liest, „daß dessen Begriffe beibehalten werden, aber in einem anderen Sinn gemeint sind, als ob der Vorläufer nicht weit genug gegangen wäre.“10 Diese Vervollständigung ist ebenso sehr eine „Fehldeutung“ wie eine „revisionäre Abweichung.“11 Einfluss äußert sich hier als eine Form der verspäteten Vervollständigung (ein Teil wird zum Ganzen) und entspricht am ehesten der Synekdoche. c) Kenosis [Dekontextualisierung]: Der jüngere Dichter demonstriert Diskontinuität mit dem Vorläufer in einer Geste der Erniedrigung durch eine Dekontextualiserung der Dichtung des Älteren. – Bloom spricht von einer Entleerung und meint damit Verschiebungen, die u. a. auf semantischer Ebene passieren.12 Dieser Vorgang entspricht am ehesten der Verschiebungstrope der Metonymie. d) Dämonisierung [Verallgemeinerung]: Damit ist die Reaktion des Jüngeren auf das Gesamtwerk des Vorgängers gemeint, indem das Spezifische des früheren Werks verallgemeinert wird.13 Durch die Wiederholung bestimmter 7 Bloom [Anm. 6], S. 11. Blooms Verteidigung der westlichen Literatur bzw. des westlichen Kanons, vor allem aber sein idealistisch religiöser Zugang, haben ihm auch viel Kritik eingebracht, allen voran von Terry Eagelton, der ihm pathetisches Moralisieren vorwarf. 8 Bloom [Anm. 6], S. 16. 9 Bloom [Anm. 6], S. 41. 10 Bloom [Anm. 6], S. 17. 11 Bloom [Anm. 6], S. 60. 12 Bloom [Anm. 6], S. 17. 13 „Der spätere Dichter öffnet sich für das, was er für eine Macht in dem Vater-Gedicht hält, das nicht zum Vater eigentlich gehört, aber doch zu einer Wesenheit, die gerade außerhalb dieses Vorgängers liegt. Er macht dies in seinem Gedicht, indem er dessen Beziehung zu dem Vater Gedicht so festlegt, daß sie die Einzigartigkeit des früheren Werks verallgemeinert.“ Bloom [Anm. 6], S. 17.

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Grundelemente aus dem Vorgängerwerk wird nur scheinbar das Gleiche gesagt; tatsächlich wird eine andere semantische Aktualisierung provoziert, dazu gehört auch die Übertreibung, die vergrößernder oder verkleinernder Art sein kann. Diese Form der Auseinandersetzung entspricht der Hyberbel. e) Askesis [Abkehr]: Askesis ist eine Bewegung, bei der der nachfolgende Dichter etwas von sich aufgibt und die Vereinzelung sucht. Er „gibt einen Teil seiner eigenen menschlichen und imaginativen Ausstattung auf, um sich von anderen, einschließlich des Vorläufers, abzusondern, …“ Dabei wird „die Ausstattung des Vorläufers […] gestutzt.“14 Diese Bewegung entspricht am ehesten einer Ähnlichkeitsbeziehung und somit der Metapher. f) Apophrades oder Metalepse15 [Vereinnahmung]: Bloom versteht darunter so etwas wie die ,Rückkehr der Toten‘ und zwar indem die Vergangenheit Einzug in das Folgegedicht erhält: Das Gedicht des werdenden Dichters wirkt auf uns, als hätte er selbst das Werk seines Vorläufers geschrieben. Was auf den ersten Blick wie eine etwas plakative Übertragung der psychoanalytischen Theorie des Vater-Sohn-Konflikts auf die Literaturwissenschaft erscheinen mag, ist eine fein gesponnene Theorie der Literaturproduktion und Literaturkritik, in der psychologische und rhetorische Kategorien zusammengedacht sind. Zwar sind die psychischen Motivationen der Tropen nicht einfach nachzuvollziehen, die Differenzierung der Einflussangst in sechs Subtropen ermöglich es aber, verschiedene Strategien der Auseinandersetzung zwischen Autoren genau zu analysieren und einzeln zu benennen. Es ist auch sinnvoll, die rebellische Absetzung von Vaterautoritäten nicht nur auf die Tradition beschränkt zu sehen, sondern die Theorie ist durchaus offen für eine Übertragung auf eine Konkurrenzsituation unter Zeitgenossen. Einige Aspekte der Bloomschen Lyriktheorie scheinen mir auch auf den Minnesang adaptierbar zu sein. Für meinen Zusammenhang ist entscheidend, dass Bloom die innerpoetischen Beziehungen zwischen Gedichten mit der Existenz eines Autorsubjekts koppelt, das durch ein starkes Autorbewusstsein ausgezeichnet ist. Die verschiedenen Formen intertextueller Bezugnahmen dienen so der Stärkung und Profilierung der eigenen Dichtkunst. Dass dies auch im Rahmen eines relativ festen und vorgegebenen überindividuellen Liebesdiskurses der Fall ist, möchte ich nun anhand zweier unzweifelhaft ,starker‘ 14 Bloom [Anm. 6], S. 17. 15 Mit dem Begriff ist hier die narrative Mise en abyme (,ins Unendliche/Bodenlose verlängern‘) nach Andr¦ Gide gemeint. mise en abyme steht für einen Text, der andeutet, sich selbst (im Maßstab herabgesetzt) nochmals zu enthalten. Da aber kein gedruckter Text unendlich sein kann, lässt sich eine mise en abyme in der Literatur immer nur andeuten. Einen ähnlichen Effekt kann man auch in einer Spiegelflucht beobachten, in der das eigene Spiegelbild schier unendlich wiederholt und von Spiegelung zu Spiegelung kleiner wird.

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Lyriker des Mittelalters zeigen: Heinrich von Morungen und Walther von der Vogelweide.

3.

Heinrich von Morungen oder wer ist der Star?

Wenn Harold Bloom davon spricht, dass jedes Gedicht in Beziehung zu anderen Gedichten entsteht, so meint er damit nicht nur das neu entstandene, sondern auch das des Vorgängers, das sich bereits auf das nachfolgende bezieht. In die Bloomsche Diktion übersetzt: Nicht der Sohn wählt den Vater, sondern der Vater den Sohn. Die Wahl eines Nachfolgers ist unerlässlich, da das Nachleben im Werk des Sohnes der einzige Garant für die Unsterblichkeit ist. Einfluss bestimmt also nicht nur die poetische Größe des aufstrebenden Dichters, sondern auch die des Vorläufers, dessen Gedichte neue Lektüren herausfordern. Ich möchte die Theorie Blooms noch ein wenig ergänzen und anmerken, dass sich Einflussangst auch auf mögliche Nachfolger beziehen kann, nicht nur als eine Angst vor der Kritik oder dem Spott der Jüngeren, sondern als Befürchtung gleichsam ,überschrieben‘ zu werden und so der Vergessenheit anheimzufallen. Für Heinrich von Morungen ist gerade die Authentizität, also die Wahrheit des Gesagten, ein Mittel für die Beständigkeit und Fortdauer der Kunst über den Tod hinweg. Doch wie kann Authentizität mit dem Instrumentarium einer von allen Minnesängern verwendeten Liebessprache vermittelt werden? Das ist ein Problem, das Morungen in mehreren Liedern diskutiert, unter anderem in dem Lied MF 131,2516, in dem die Auseinandersetzung mit der Tradition sowohl des fremden als auch des eigenen Sangs thematisiert wird. Ich bin iemer ander A1 Ich bin iemer ander und niht eine der grúzen liebe, der ich nie wart vr„. waeren n˜ die huotaere alle gemeine toup unde blint, swenne ich ir waere b„, Sú mohte ich m„n leit eteswenne mit sange ir wol künden. mohte ich mich mit rede zuo ir gevründen, sú wurde wunders vil von mir geseit.

Ich bin iemer der ander B/C 1 Ich bin iemer der ander, niht der eine der grúzen liebe, der ich nie wart vr„. úwÞ, waeren die huotaere algemeine toup unde blint, swenne ich ir waere b„, Sú möhte ich m„n leit eteswenne mit gel–ze ir künden unde mich mit rede zuo ir gevründen, sú wurde ir wunder vil von mir geseit.

16 Zitiert nach Des Minnesangs Frühling. Hg. v. Moser, Hugo und Tervooren, Helmut. Stuttgart 381988.

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B/C 2 M„ner ougen tougenl„chez sehen, daz ich ze boten an si senden muoz, daz neme durch got von mir vür ein vlÞhen, und obe si lache, daz s„ m„n gruoz. Ich enweiz, wer d– sanc: ”ein sitich unde ein star –ne sinne wol gelerneten, daz siu spr–chen ’minne’.” wol, sprich daz unde habe des iemer danc. B/C 3 Wolte s„ m„n denken vür daz sprechen und m„n tr˜ren vür die klage verst–n, sú müese in der niuwen rede gebrechen. owÞ, daz iemen sol vür vuoge h–n, Daz er sÞre klage, daz er doch von herzen niht meinet, alse einer tr˜ret unde weinet unde er s„n niemen kan gesagen. B/C 4 A3 S„t si herzeliebe heizent minne, S„t siu herzeliebe heizent minne, so enweiz ich, wie diu liebe heizen sol. so enweiz ich niht, wie diu liebe heizen sol. liebe won mir dicke in m„nen sinnen. herzeliebe wont in m„nem sinne. liep haet ich gerne, leides enbaere ich wol. liep h–n ich gerne, leides enbaere ich wol. Liebe diu g„t mir Diu guote diu g„t mir húhen muot, dar zuo vreude unde wunne. húhen muot, dar zuo vröide unde wunne. sú enweiz ich, waz diu leide kunne, sú enweiz ich, waz diu liebe kunne, wan daz ich iemer tr˜ren muoz von ir. wan daz ich iemer tr˜ren muoz n–ch ir. A2 B/C 5 S„ ensol niht allen liuten lachen S„ ensol niht allen liuten lachen alsú von herzen, same si lachet mir, alse von herzen, sam si lachet mir, und ir ane sehen sú minnecl„ch niht machen. und ir ane sehen sú minnecl„chen machen. waz (h–t) aber ieman ze schouwen daz an ir, waz h–t aber ieman daz ze schouwen an ir, Der ich leben sol Der ich leben sol, unde an der ist m„n wunne behalten? und an der ist al m„n wunne behalten? joch enwil ich niemer des eralten, j– enwil ich niemer des eralten, swenne ich si s„he, mir ens„ von herzen wol. swenne ich si sihe, mir s„ von herzen wol.

Ich paraphrasiere den Inhalt der B/C Fassung: 1 ,Ich bin immer der zweite, niemals der einzige gegenüber der großen Liebe, von der ich bis jetzt nicht loskam. Ach wären die Aufpasser (Beobachter) doch allesamt taub und blind, wenn ich bei ihr weilte. Dann könnte ich ihr einmal meinen Kummer mit gebotener Zurückhaltung kundtun und mich mit meinen Worten zu ihrem Freund machen.‘ 2 ,Meiner Augen heimliches Blicken, das ich als Bote zu ihr schicken werde, das möge sie – bei Gott – von mir als ein demütiges Bitten auffassen und wenn sie dann lacht, so sei mir das meine Antwort. Ich weiß nicht, wer das sang: ,Ein Sittich und ein Star ohne

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Verstand hätten wohl gelernt, das Wort ,Minne‘ auszusprechen.‘ Nun denn, sprich es doch aus und habe immer Dank dafür.‘ 3 ,Wollte sie mein Denken für das Sprechen und meinen (stillen) Schmerz für (lautes) Klagen verstehen, so müssten sie auf dieses neue Lied hier verzichten. Ach, dass man es billigt (für Kunst hält), wenn einer heftig (laut) beklagt (besingt), was gar nicht aus dem Herzen kommt, wie auch (gleichermaßen) wenn einer trauert und weint und zu niemandem davon sprechen kann (und sich nicht mitzuteilen versteht).‘ 4 ,Seit sie Herzensfreude auch Minne nennen, weiß ich nicht, wie die Liebe heißen soll. Herzensfreude erfüllt mein gesamtes Sein. Erfreuliches (Angenehmes) habe ich gerne, Leid kann ich gut entbehren. Die Gute gibt mir hohen Mut, dazu Freude und Glück. Aber ich weiß nicht, was die Liebe (im Gegensatz zur herzeliebe) vermag, außer dass ich mich immer traurig nach ihr sehne.‘ 5 ,Sie soll nicht allen Leuten so herzlich zulachen, wie sie mir zulacht, und nicht so liebreizend die Blicke auf sich ziehen. Was hat ein anderer sie anzuschauen, sie, der ich mein Leben geweiht habe und in der meine ganze Freude beschlossen liegt. Fürwahr, ich will niemals so alt werden, dass ich mich nicht von Herzen freue, wenn ich sie sehe.‘

Es ist hier nicht der Ort, um auf die komplizierte Überlieferungssituation und die Schwierigkeiten, die sich dadurch bei der Übersetzung ergeben, genauer einzugehen. Mir geht es vor allem um die in beiden Fassungen geäußerte Sprachkritik, die ich mit Ingrid Kasten als Kunstpolemik verstehe.17 Die elementare Frage, die Morungen hier stellt, ist die nach der Möglichkeit eines authentischen Sprechens in einem normativ vorgegebenen und verwendeten Liebesdiskurs. In den ersten Strophenzeilen wird dies als ein Ich-Problem formuliert, dessen Gespaltenheit als ein Resultat einer problematischen Liebeskommunikation gesehen wird: ich bin iemer ander, nicht der eine der grúzen liebe (B/C 1,1). Die Worte sind abgenutzt und leer „sie bürgen nicht mehr für die Authentizität des Gesagten.“18 Zusätzlich verhindern die huotere, in meiner Lesart die Sängerkollegen oder aber auch die Minnesangkonvention, die Möglichkeiten eines neuen Sangs. In der zweiten Strophe wird demgegenüber die Alternative einer nonverbalen Kommunikation als geheimer Code zwischen Sänger und Dame überlegt. Das anschließende Selbstzitat (B/C 2,5 – 7) wirft in diesem Zusammenhang allerdings einige Probleme auf, nicht nur weil ein direkter Verweis mit dem Ine weiz verschleiert wird. Morungen zitiert hier gleich zwei seiner Lieder : 17 Kasten, Ingrid: Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Heidelberg 1986. S. 322 ff. 18 Kasten [Anm. 17], S. 323.

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MF 127,1 Waer ein sitich alder ein star, die mehten s„t gelernet h–n, daz si spraechen minnen. ich h–n ir gedienet her vil lange z„t. mac s„ sich doch m„ner rede versinnen? Nein s„, niht, got enwelle ein wunder vil verre an ir erzeigen. j– möht ich s„t einen boum mit m„ner bete sunder w–pen nider geneigen. ,Ein Sittich oder ein Star hätten während dieser Zeit lernen können, ,minnen‘ zu sagen. Ich habe ihr bisher sehr lange Zeit gedient. Kann sie sich an meine Worte erinnern? Nein, sie kann es nicht, wenn Gott nicht bald ein Wunder an ihr zeigen wird. Wahrlich, ich hätte in all der Zeit einen Baum allein durch meine Bitte ohne Werkzeug niederbeugen können.‘ MF 132,35 S„ h–t liep ein kleine vogell„n, daz ir singet oder ein lützel n–ch ir sprechen kan. muost ich dem gel„ch ir heimlich s„n, sú swüere ich des wol, daz nie vrowe solhen vogel gewan. Vür die nahtegal wolte ich húhe singen dan: ”úwÞ, liebe schoene vrowe m„n, n˜ bin ich doch d„n, mahtu troesten mich vil senenden man!” ,Sie hat ein kleines Vöglein lieb, das für sie singt oder – auch das kann es – ihr etwas nachsprechen kann. Dürfte ich ihr wie dieses nah sein, so beschwöre ich, dass keine Frau je so einen Vogel ihr Eigen nannte. Heller als die Nachtigall wollte ich dann singen: Ach, meine liebe und schöne Herrin, nun bin ich doch ganz der deine. Tröste mich viel sehnenden Mann.‘

In beiden Strophen wird die Unfähigkeit der Dame, den richtigen Gesang zu erkennen, angeprangert, verbunden mit einer bitteren Polemik gegen jene Sänger, die wie Sittiche oder Stare etwas nachsprechen, das ihnen vorgeplappert wird. In unserem Lied mündet dieses Selbstzitat in der ironischen Selbstaufforderung, das Wort Minne in ähnlich oberflächlicher Weise zu gebrauchen – dafür würde ihm mit Sicherheit gedankt werden. Der Vorwurf der Oberflächlichkeit könnte auch auf Walther gemünzt sein, zumindest legt das vogel„n aus 132,25 dies nahe. In der dritten Strophe wird wiederum eine nonverbale Verständigung als Alternative überlegt, doch diese erweist sich, zumindest aus der Perspektive der Dame (Strophe 5) als zu beliebig. Zudem wird im Abgesang der dritten Strophe auch eine deutliche Kritik am Publikum geäußert, das bereit ist, eine Minneklage auch ohne Gefühlsgrundlage vür vuoge zu halten. Der Preis für dieses Verständnis des Minnesangs als bloßer Effekt ist, dass das Publikum auf die niuwe

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rede eben wird verzichten müssen. Der Sang ist durch die Verlogenheit der Konkurrenz und den Dilettantismus des Publikums diskreditiert. In der vierten Strophe wird ein Ausweg aus dem Dilemma durch eine Neudefinition der Begriffe gesucht. Doch auch dieser Weg ist ihm durch die Konkurrenten verstellt, die ihm seine Zentralbegriffe uminterpretieren: Durch den paradoxen Satz S„t sie herzeliebe heizent minne, / so enweiz ich wie die liebe heizen sol (B/C 4,1 f.) wird die Sinnentleerung aller drei Begriffe in deren Verschiebung von einem auf den anderen deutlich. Der Begriff der herzeliebe als Alternative zum abgenutzten Gebrauch von Minne ist durch diesen unangemessenen Gebrauch verfälscht und entwertet. Für Volker Mertens ist die Kritik eindeutig an Walther von der Vogelweide gerichtet: „Sprachkritik ist immer auch Kunstpolemik, hier zielt sie auf den Konkurrenten Walther und dessen affirmativen Umgang mit herzeliebe.“19 In der fünften Strophe wird die Konsequenz aus der Situation gezogen, dass weder eine nonverbale Kommunikation noch eine neue Semantik innerhalb der Liebesterminologie das Problem lösen können. Was bleibt, ist der bloße Anblick der Dame als Freudenquelle. Der Rekurs auf diese konventionelle Haltung wirft das Ich wieder zurück auf das Dilemma in der ersten Strophe. Die Dame jedenfalls lächelt alle an, die sich des konventionellen Sangs bedienen. Morungens Versuch einer Abgrenzung gegenüber seinen Konkurrenten und/ oder Kritikern erfolgt nicht über bestimmte Rollen, sondern über einen subjektiv begründeten künstlerischen Anspruch auf dichterische Authentizität. Er tut dies durchaus in Auseinandersetzung mit den vorgegebenen Mustern, die er durch seine Variationen nicht nur in Frage stellt, sondern auch gleichzeitig problematisiert. Er tut dies auch in Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen und/oder Nachfolgern und deren niuwe rede, durch die er seine Ich-Aussagen gefährdet sieht. Sein Bemühen um Fortexistenz, sein Streben nach Einzigartigkeit, sein Wunsch, seine Kunst möge über seinen Tod hinaus Bestand haben, äußerst sich auch im innovatorischen Potential seiner Aussagen und deren gleichzeitiger Verfügbarkeit. Egal, ob Morungen der erste oder der zweite ist, im Wettstreit um die Meisterschaft im Sang und damit in der Liebe, ist er jedenfalls der andere. Walther von der Vogelweide nimmt dieses Angebot an und sichert ihm durch seine dezidierte Referenz auf Morungen auch genau diese Position.

19 Mertens, Volker : Fragmente eines Erzählens von Liebe. Die Konstruktion von Subjektivität bei Heinrich von Morungen. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Baisch, Martin, u. a. Königstein 2005, S. 34 – 55, hier S. 48.

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4.

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Walther von der Vogelweide oder wer ist der Alte?

Dass Walther von der Vogelweide von der Lyrik Heinrichs von Morungen beeinflusst war und sich mit ihr auseinandergesetzt hat, wurde in der Forschung immer wieder festgestellt. Allerdings spielt dieser Aspekt in den einschlägigen Darstellungen zu Walther nur eine untergeordnete Rolle und tritt gegenüber der Ansicht, Walther hätte sich in erster Linie mit der Lyrik Reinmars beschäftigt, in den Hintergrund. Ricarda Bauschke hat in ihrer Untersuchung der sogenannten Reinmar-Lieder Walthers aber überzeugend darlegen können, dass Walther der Auseinandersetzung mit Morungen sogar mehr Platz einräumt als der Kommunikation mit Reinmar20, wobei sie allerdings eine systematische Analyse der Morungen-Bezüge Reinmars vermissen lässt. Ich möchte im Folgenden exemplarisch ein Lied Walthers herausgreifen und vor dem Hintergrund der Bloomschen Kategorien der Auseinandersetzung besprechen. Dementsprechend verstehe ich die Bezugnahmen Walthers auf seine Dichterkollegen, insbesondere auf Reinmar und Morungen, als eine Form der Selbstinszenierung mit dem Zweck, sich im Rahmen der zeitgenössischen Lyrik als Autor zu profilieren. Dabei handelt es sich nicht einfach um die Übernahme von Motiven oder Tönen, sondern die einzelnen Referenzen werden von Walther sinnstiftend für die Profilierung (s)einer Autorrolle angewendet. Das Lied L 91,17 Junger man, wis húhes muotes hat in der Forschung eher wenig Aufmerksamkeit erweckt und ist auch in vielen Anthologien nicht enthalten. Dass diesem Lied so wenig Beachtung geschenkt wird, geht auf ein Urteil von Karl von Kraus zurück, der es als unecht klassifiziert hat und zwar mit der interessanten Begründung, dass „das Gedicht in seiner Formelsprache zu Waltherisch ist als daß es von Walther sein könnte“21. Damit war das Schicksal des Liedes zunächst einmal besiegelt und es hat 50 Jahre gedauert, bis Rüdiger Krohn mit dem pathetischen Titel „Sein oder Nicht Sein“22 für die Echtheit des Liedes eintrat. In der Ausgabe von Christoph Cormeau jedenfalls wird das Lied gleichberechtigt mit den anderen Liedern Walthers als Lied 6123 abgedruckt. 1 Junger man, wis húhes muotes dur diu reinen wol gemuoten w„p, 20 Bauschke, Richarda: Die ,Reinmar-Lieder‘ Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung. Heidelberg 1999. S. 291. 21 Kraus, Karl von: Walther von der Vogelweide. Untersuchungen. Berlin 1935 (Neudruck Berlin 1966), S. 349. 22 Krohn, Rüdiger : Sein oder nicht sein? L.91,17 ff. – Fälschung und/oder Schlüssel zu Walthers Minnelyrik. In: Mück [Anm. 1], S. 221 – 235. 23 Walter von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns. Hg. v. Cormeau, Christoph. Berlin, New York 1996.

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fröwe dich l„bes unde guotes unde wirde d„nen jungen l„p. Ganzer fröide h–st d˜ niht, sú man die werdekeit von w„be an dir niht siht. 2 Er h–t rehter fröide kleine, der s„ von guoten w„ben nicht ennimt, offenb–re, stille und eine, und als ez der m–ze danne zimt. dar an gedenke, junger man, und wirp n–ch herzeliebe: d– gewinnest an. 3 Ob d˜ es danne niht erwirbest, d˜ muost doch iemer deste tiurre s„n. dazt an fröiden niht verdirbest, daz kumt allez von der frowen d„n. D˜ wirst alsú wol gemuot, daz du den andern wol behagest, swie s„ dir tuot. 4 Ist aber, daz dir wol gelinget, sú daz ein guot w„p d„n gen–de h–t, hei, waz dir danne fröiden bringet, sú sunder wer von dir gest–t: Halsen triuten, b„ gelegen – von sú rehter herzeliebe muost d˜ fröiden pflegen. 5 Sich, n˜ hab ich dich gelÞret, des ich leider selber nie gepflac. Ungelücke mir verkÞret, daz ein saelic man volenden mac. doch tuot mir der gedinge wol und der wille, den ich h–n, daz ichz noch erwerben sol.

Ich paraphrasiere kurz den Inhalt: In der ersten Strophe fordert ein älterer Mann einen jüngeren auf, wegen der reinen, hochgestimmten Frauen frohen Mutes zu sein. Er solle sich seines Lebens und seines Besitzes freuen und sein junges Leben veredeln und zwar so: Die ganze Freude des Daseins zeige sich nur, wenn man das Ansehen der Dame an ihm selbst erblickt. In der dritten und vierten Strophe wird die Minnelehre des Alten weitergeführt: Derjenige habe wenig von echter Freude, der sie nicht durch edle Frauen gewinne, öffentlich, aber auch diskret und allein, wie es dem Anstand maßvoll sei. Danach solle der junge Mann streben und nach Herzensliebe und er werde den Gewinn erhalten. Doch auch wenn der Gewinn ausbliebe, allein durch die Werbung habe er sich als würdig erwiesen. Die

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Freude an der bloßen Werbung komme von der Dame und gewinne damit einen eigenen Wert. Sie allein bewirke schon hohen Mut. In der vierten Strophe werden im Gegensatz dazu die Facetten eines möglichen Erfolgs bis zur körperlichen Vereinigung angesprochen. In dieser gegenseitigen körperlichen Liebe, die als rechte Herzensneigung bezeichnet wird, liegt die Freude und das Glück des Mannes begründet. In der letzten Strophe erklärt der Sprecher eben dieses Glück nie erlebt zu haben. Dennoch halte er an seiner Vorstellung vom idealen Werbungserfolg fest.

In diesem Männerrollenlied formuliert ein älterer Mann gegenüber einem jüngeren seine Minnelehre. Das Lied weist vielerlei intratextuelle Bezüge zu anderen Liedern Walthers auf. Gerade das war für Kraus einer der Hauptgründe, es als unecht zu bezeichnen – es fehle dem Lied, so Kraus, an Originalität. Diese Aussage ist für meinen Zusammenhang von einigem Interesse. Der Ich-Sprecher wird als gleichsam überdeterminierter Walther identifiziert, was ein Grund dafür ist, ihn als ein Pseudonym zu klassifizieren. Als Gradmesser dafür gelten die anderen, ,echten‘ Gedichte Walthers, an die es zahlreiche thematische wie wörtliche Anklänge gibt: Gerade dies sei, so Kraus, das Auffällige, er versteht 91,17 deshalb als Kollage eines Epigonen, die „so gar nichts Eigenes, kein originelles Wort, keinen geistreichen Gedanke, kein frappantes Bild enthält.“24 Für Lachenmaier sind hingegen gerade diese intrapoetischen Bezüge ein Hinweis für Walthers Meisterschaft: „…bei 91,17 hatte ich, je öfter ich es las, umso mehr das Gefühl, daß hier jedes Wort ,sitzt‘, wie nie bei einem Anfänger, und daß nicht die harmlose Altklugheit des weltfremden Schülers, sondern die bewußt vorgenommene Naivitätsmaske des überlegenen Könnens uns daraus anschaut.“25. Hier sagt Lachenmaier, wenn auch etwas verdreht, durchaus das Richtige. Der Konventionalität zumindest der ersten drei Strophen entspricht durchaus die Pose des älteren Dichters, der damit als ein Anhänger der Tradition erscheint. Dass diese Konventionalität auch durch einen engen thematischen und motivischen Rückgriff auf das eigene Oevre zum Ausdruck kommt, könnte sowohl eine Form der subtilen Eigenwerbung sein als auch ein Hinweis darauf, das Walther den höfischen Minnediskurs als verbindlich ansieht. Walther setzt auf einen Wiedererkennungseffekt und präsentiert sein Werk damit als ein weitgehend Geschlossenes.26 Eine weitere Form der Selbstinszenierung sind die intertextuellen Anspielungen in diesem Lied. Zunächst ist anzumerken, dass der Strophenbau des Lieds mit dem Strophenbau von Reinmars Lied MF 177,10 Sage, daz ich dirs 24 Kraus [Anm. 21], S. 350. 25 Lachenmaier, Gustav : Walther- und Reinmarfragen. In: ZfdPh 60 (1935), S. 1 – 11, hier S. 2. 26 Die intratextuellen Verweise betreffen vor allem die sogenannten ,Neunziger-Lieder‘, die in der Forschung immer wieder als geschlossene Gruppe angesehen wurden, vor allem von Halbach, Kurt Herbert: Walther-Studien I. Die „Neunzigerlieder“ und die Fehde zwischen Walther und Reinmar. In: ZfdPh 65 (1940), S. 142 – 172.

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iemer lúne identisch ist. Die formale Parallele enthält allerdings keinerlei inhaltliche Bezüge.27 Das ist schon lange so gesehen und ganz unterschiedlich interpretiert worden. Für Kraus ist dies ein weiteres Indiz für seine Beweisführung der Unechtheit – für die Verteidiger der Echtheit ein Hinweis darauf, dass es sich um eine Parodie Walthers auf Reinmar handle. Zuletzt wurde dies von Helmuth Birkhan im Jahre 1971 behauptet, der Walther in diesem Lied in der Maske Reinmars auftreten sieht.28 Der Belehrende ist also Reinmar, der sich die Anschauungen Walthers anzueignen versucht. Diese Schlussfolgerung ist mir ein wenig zu schnell und auch zu plakativ. Ich halte das metrische Zitat allerdings für keinen Zufall, die Strophenform zitiert Reinmar und das ist durchaus ernst zu nehmen und zwar als das, was es ist – als ein Formzitat. Findet der Bezug auf Reinmar ,nur‘ auf formaler Ebene statt, so zeigt sich auf inhaltlicher Ebene – wie ich meine – eine Auseinandersetzung mit einem anderen großen Konkurrenten, mit Heinrich von Morungen.29 Wie sind diese Bezugnahmen auf Morungen nun im Einzelnen gestaltet? Das Thema des Liedes ist das Verhältnis von Wohlgefühl und Werbung, formuliert als eine Minnedidaxe. Der ältere Sprecher erteilt dem Jüngeren Ratschläge, wobei fröide als erstrebenswerter Zustand anvisiert ist. Ob dieser Zustand erreicht wird, hängt ganz wesentlich von der güete der Dame ab, letztlich die Voraussetzung für den Werbungserfolg. Mit dieser Lehre bewegt sich Walther zunächst in konventionellen Bahnen. Als neue Variante kommt die vierte Strophe hinzu, die die Vorstellung der gegenseitigen erotisch erfüllten Liebe, halsen, triuten b„ gelegen, 27 Reinmars Lied ist ein Dialoglied zwischen dem Boten und der Dame. Reinmar knüpft in diesem Lied an Elemente des früheren Minnesangs an, indem er auf die Figur des Boten und auf die Frauenrede zurückgreift. Dabei entsteht, so Ingrid Kasten im Kommentar zu ihrer Lyrikausgabe „etwas Neues“. Der Bote erscheint in der Rolle des Vertrauten und Vermittlers, der es der Dame ermöglicht, zu sprechen und sich zu ihrer Liebe zu bekennen. Dabei wird die Perspektive der Hohen Minne von der Dame reflektiert, entscheidend ist, dass sie als sprechendes Subjekt keineswegs die gleichgültige Minnedame ist, als die sie dem lyrischen Ich in den Männerliedern erscheint. „Aber er nutzt die Frauenrede auch und nicht zuletzt als Medium der Selbstwerbung und der dichterischen Selbstbespiegelung, indem er die Wirkung seiner Kunst auf die Frau und seine Wertschätzung in der Gesellschaft indirekt hervorhebt.“ Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Kasten, Ingrid. Übersetzungen von Kuhn, Margherita. Frankfurt/Main 1995 (Bibliothek des Mittelalters, Bd. 3), S. 869. 28 Birkhan, Helmut: Reimar, Walther und die Minne. Zur ersten Dichterfehde am Wiener Hof. In: PBB 93 (1971), S. 168 – 212. 29 Alles in allem bewertet man die Auseinandersetzung Walthers mit Morungen als freundlich polemisch und keineswegs als feindlich abgrenzend. So stellt Scholz, Manfred Günter in seiner Einführung zu Walther von der Vogelweide fest: „Walthers Preis- und Freudenkanzonen sind ohne Morungens Vorbild kaum denkbar, doch auch allgemein in der dichterischen Technik dürfte er unter seinem Einfluss stehen“ Scholz, Manfred Günter : Walther von der Vogelweide. 2., korr. u. bibliogr. erg. Aufl. Stuttgart [u. a.] 2005 (Sammlung Metzler 316), S. 142.

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mit dem Begriff herzeliebe koppelt. Ich sehe darin gleich eine doppelt ironisch gebrochene Referenz auf Morungen. Das von mir gewählte Beispiel-Lied aus Morungens Oevre wendet sich gegen einen allzu beliebigen Gebrauch von herzeliebe: MF 132,19 ff. S„t si herzliebe heizent minne, so enweiz ich nicht, wie die liebe heizen sol. Im Lied MF 128,28 ff. verteidigt sich Morungen gegen die Unterstellung des b„ligens: Swer mich ruomes z„hen will, vür w–r, der sündet sich. / Ich h–n der sorgen vil gepflegen und den vrouwen selten b„ gelegen, úwÞ,… Walter konfrontiert Morungens Ringen um eine authentische Liebeswerbung mit der Realität persönlichen Erlebens. Egal, ob man es minne, liebe oder herzeliebe nennt, das Glück liegt im konkreten Werbungserfolg. Es ist sicher kein Zufall, dass Walther diesen mit rehter herzeliebe bezeichnet, sie bezieht sich auf Morungens zweite Verwendung des Begriffs in MF 138,10ff: Ich h–n ir vil grúzer dinge her verjÞn, / herzeclicher minne und ganzer stÞtekeit. / Des half mir diur rehte herzeliebe spÞn. [Ich habe bisher viel Großes an ihr gerühmt, von Herzen kommenden Liebreiz und ganze Treue. Das half mir wahre Herzensneigung zu erkennen]. In diesem Lied Morungens30 findet sich übrigens wiederum eine Abwehr gegen die Wortverdreher : die verkÞret underw„lent mir den sin: / nieman solde n„den, ern wize waz! (MF 138,1 f.) [die verdrehen mir unterdessen das Wort im Mund. Niemand sollte gehässig sein, ohne den Grund dafür zu kennen.]. Doch nicht genug der Anspielungen – die Verbindung von herzeliebe und b„ligen und vröude finden wir auch bei Reinmar und zwar in MF 165,17 f. Ich engelige herzeliebe b„ / súne h–t an m„ner vröide nieman niht, [wenn ich nicht bei der Herzliebsten liege, dann hat niemand Freude an mir].31 Als eine ironisch gewendete Spitze gegen Morungens Schaupoetik kann auch die in der fünften Strophe verwendete Aufforderung Sich, n˜ habe ich dich gelÞret verstanden werden. Als Ironie kann auch der Eingang der vierten Strophe gewertet werden, in der die Dame nicht entrückt und abweisend, sondern sunder wÞr dem Werber gegenübersteht. Das Raffinierte an diesem Gedicht Walthers ist, dass er eben gerade nicht in der Rolle des alten Reinmar oder Morungen auftritt, sondern als Walther in der Pose des alten Mannes, der den als jünger imaginierten Dichterkollegen Reinmar und Morungen aufzeigt, wohin die Fortschreibung des Diskurses, das Verbleiben in der Tradition des einen oder anderen führt – nämlich ins ungelücke. Letztlich lassen sich anhand von L 91,17 die meisten der von Bloom angeführten Bearbeitungstechniken festmachen. Walther zeigt in den ersten drei Strophen, dass er die Kollegen und ihr po30 L 137,27 ff., Lied XXI, Ob ich dir vor allen w„ben guotes gan. 31 Diesen Hinweis verdanke ich Krohn, Rüdiger [Anm. 22], S. 232. Für ihn bleibt die Anspielung jedoch im Rahmen „hypothetischer Gedanklichkeit“.

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etologisches Programm kennt und schätzt, er stellt sich – etwa durch das formale Zitat und auch durch die Formulierung konventioneller Vorstellungen in deren Tradition (die er damit aber gleichzeitig als konventionell kennzeichnet). Über das Signalwort herzeliebe formuliert er in der vierten Strophe seine Antithese gegenüber seinen Konkurrenten und erweitert das Wort um die erotische Dimension. Durch den verwendeten Liedtyp des Männerrollenlieds erscheint 91,17 als die Dichtung eines Vorläufers, wobei es inhaltlich zu einer deutlichen Verschiebung der Aussage kommt. Durch das Rollenspiel, in dem Walther genau genommen alle Positionen einnehmen kann, erweist er sich als virtuoser Artist und unterstreicht damit seine Fähigkeiten als selbständiger Liebesdichter. Entscheidend dabei ist, dass Walther mit mehrfachen Referenzen arbeitet und keine konkreten Anspielungen tätigt.32 32 Es ist sicher kein Zufall, dass sich gerade in den sogenannten Reinmar-Liedern Walthers – darauf hat Ricarda Bauschke [Anm. 20] mit Nachdruck hingewiesen – auch eine deutliche Auseinandersetzung mit der Lyrik Morungens zeigt. Zu nennen wäre hier etwa Walthers Preislied L 53,25 ff. S„ wunder wol gemachet w„p, bei dem sich direkte Bezüge auf Morungen ausmachen lassen, vor allem was dessen Poetik des Schauens anbelangt. Auch hier handelt es sich keineswegs nur um motivische Übernahmen, sondern der Bezug zum ,Vorbild‘ zeigt deutliche Bearbeitungsspuren. Ähnliches gilt auch für L 52,23 ff. Min frouwe ist ein ungenaedic w„p. Auch hier verwendet Walther ein Motivmaterial, das speziell in der Lyrik Morungens und Reinmars vorkommt: die Kombination von vergeblichem Dienst und verlorener Jugend. Hier hat Ricarda Bauschke Wesentliches festgestellt: Morungens Lied MF 127,34 Es ist site der nachtegal bildet die Folie, auf der sich die Aussage von L 52,23 ff. überhaupt erst erschließen lässt. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang auch das sogenannte Sumerlaten-Lied Walthers L 72,31 ff. Lange sw„gen, des h–t ich ged–ht, das als Antithese zu Morungen verstanden werden kann. Ashcroft hat gezeigt, dass auch Walthers Lied L 118,24 Ich bin nu so rehte vrú als Morungen-Parodie gelesen werden kann (Ashcroft, Jeffrey : Min trutgeselle von der Vogelweide. Parodie und Maskenspiel bei Walther. In: Euphorion 69 (1975), S. 197 – 218). Interessant ist vor allem die Art und Weise, wie Walther diese Parodie gestaltet. Walther arbeitet nicht mit intertextuellen Zitaten, sondern imitiert den Stil Morungens und spricht in seiner Pose, also in der Maske Morungens. In dieser Maske inszeniert Walther seinen eigenen Auftritt mit einer bemerkenswerten Selbstnennung in der letzten Strophe des Lieds: Hoer– Walther, wie ez mir st–t, / m„n tr˜tgeselle von der Vogelweide. / helfe suoche ich unde r–t: / diu wolget–ne tuot mir vil ze leide. / Kunden wir gesingen beide, / daz ich mit ir müeste brechen bluomen an der liehten heide! Minnesang wird als profaner und eindeutiger Wunsch des Sängers enttarnt und dies ausgerechnet durch die Stimme Morungens. Walthers Morungen will mit der Dame bluomen brechen, doch dazu braucht er einen, der mit einstimmt und ihm dabei hilft. Die Bitte um Hilfe ist auch in einer weiteren Morungen-Parodie Walthers ein Thema und zwar im Lied MF 145,33 Ich will eine reise, auf die Günter Schweikle (Eine Morungen-Parodie Walthers. Zu MF 145,33. In: Mediaevalia litteraria. Fs. für Helmut de Boor. Hg. von Henning, Ursula und Kolb, Herbert. München 1971, S. 304 – 314) aufmerksam gemacht hat. Die komplizierte Überlieferungssituation des Liedes könnte übrigens ein Indiz dafür sein, wie meisterlich Walthers Morungen-Imitationen gestaltet sind, denn das Lied ist in zwei Handschriften unter unterschiedlichen Autornamen überliefert. Drei der Strophen finden sich im Codex Manesse in der Sammlung Heinrichs von Morungen, die Würzburger Handschrift E bringt vier Strophen unter dem Namen Walthers von der Vogelweide.

Das verstellte Ich

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In den von mir gewählten Beispielen zeigt sich eine Auseinandersetzung zwischen zwei mittelalterlichen Minnesängern auf mehreren Ebenen, die, wie ich zu zeigen versuchte, in beiden Richtungen offen ist. Diese Auseinandersetzung wird überwiegend über die Sprecherrolle geführt, die sowohl bei Morungen als auch bei Walther, bei aller Konventionalität des Sprachgebrauchs, unverwechselbare Züge trägt. Die Referenzen erhalten ihre sinnstiftende Wirksamkeit vor allem dann, wenn es um Fragen dichterischer Authentizität und des Kunstverständnisses geht. Diese Auseinandersetzung ist aber nicht nur als Fehde oder als ein Wettbewerb zu verstehen, sondern ist die elementare Grundlage für die Positionierung des Autors in der Literaturgeschichte, für den Wunsch, die eigene Kunst möge über den Tod hinausgehen. Letztlich verweisen alle Verstellungen des Ich, sei es in einer Rolle oder auf verschiedenen Fiktionalitätsstufen, auf den Autor als Künstlersubjekt. Das Ich z e i g t sich in seiner Verstellung.

Scott E. Pincikowski (Frederick)

Wahre Lügen: Das Erkennen und Verkennen von Verstellung und Betrug in „Herzog Ernst B“, „Kudrun“ und „König Rother“

I.

Einführung

Diese Studie folgt dem Ansatz jüngerer Forschung, die die Wichtigkeit von Wahrnehmung und Performanz für höfische Repräsentation untersucht.1 Die Produktivität dieses Ansatzes für die Altgermanistik ist anhand vieler Studien erwiesen, die überzeugend zeigen, wie soziale Macht von der Fähigkeit des höfischen Individuums, höfische Zeichen in verschiedenen Kontexten zu erzeugen und entschlüsseln, abhängt. Denn höfische Menschen agieren in einer kulturellen Matrix, in der sie gesehen und gehört werden müssen und ihre eigene Selbstdarstellung innerhalb höfischer Vorschriften, die Verhalten, Formen der Anrede, Rituale und Gesten bestimmen, aufrechterhalten. Um am Hof erfolgreich zu sein, muss das Individuum das symbolische Handeln, das es sieht und hört, auch verstehen und zwischen echter und gefälschter Repräsentation, wahrhaftigen und trügerischen Beweggründen unterscheiden. In der Tat warnt Thomasin von Zirklaria das Publikum seines Fürstenspiegels „Der Welsche Gast“ davor, dass schœne gebærde, ,Schein‘, trügen kann und rede suoz (WG, V. 1387), ,süße Worte‘, irreführend sein können.2 Er gesteht ein, dass Menschen sich in einer Kultur der Repräsentation für verbotene Liebe, Selbsterhaltung und politische Macht verstellen können. Thomasins Idee ist jene, dass ein wahrhaft höfischer Mensch danach trachtet, tugendhaft zu sein. Gleichzeitig räumt er die dunklere Seite der menschlichen Natur implizit ein, mit seiner wiederholten 1 Grundlegende Studien in der Literaturwissenschaft, die diesen Beitrag speisen, sind Wenzel, Horst: Höfische Repräsentation. Symbolische Kommunikation und Literatur im Mittelalter. Darmstadt 2005, und Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998; und in der Geschichtswissenschaft Althoff, Gerd: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997. 2 Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hg. v. Rückert, Heinrich. Mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann. Berlin 1965 (Texte des Mittelalters). Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert. Die Versangaben werden dabei in Klammern den Zitaten direkt nachgestellt und mit der Sigle WG versehen.

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Betonung der Inkongruenz zwischen ˜zen und innen, dem äußeren Erscheinungsbild und dem inneren Zustand eines Individuums.3 Wie Thomasin in seiner bekannten Affektenlehre feststellt (WG, V. 912 – 946), gibt es viele Menschen, die die Fähigkeit besitzen, ihre Absichten mit sinne (WG, V. 929) und boeser list (WG, V. 946) zu verbergen.4 Allerdings kann der höfische Mensch, der die notwendige Intelligenz und Erfahrung besitzt, das Vorhaben des Betrügers erkennen. Dieses ist viel einfacher mit túren (WG, V. 932) als mit w„sen (WG, V. 935), wenn jene absichtlich etwas vortäuschen.5 Für Thomasin macht dies das Erkennen von Verstellung und Betrug für das Wohlergehen des höfischen Individuums umso wichtiger : swer wol erkennet valschen muot, / ez ist im dick vür schaden guot (WG, V. 1390 – 1391). Während Thomasin viel Wert auf die Fähigkeit, Falschheit wahrzunehmen, legt, bietet er gar keine Richtlinien dafür an, wie man das macht. Was er jedoch suggeriert, ist Literatur bezüglich richtiger und falscher Verhaltensregeln zu Rate zu ziehen, insofern er positive exempla des höfischen Romans wie Erec, Iwein, Gawein und König Artus dem negativen exemplum Keis und seines Einsatzes von Lügen und Betrug für seine Lust auf gesellschaftliches Ansehen entgegensetzt (WG, V. 1023 – 1082). Gleichzeitig bekennt Thomasin, dass Literatur selbst eine Art Lüge, d. h. eine Fiktion, ist, die die Wahrheit verhüllt: die –ventiure sint gekleit / dicke mit lüge harte schúne (WG, V. 1118 – 1119). Er lehnt aber die Nützlichkeit von höfischer Literatur nicht völlig ab: ich schilt die –ventiure niht, swie uns ze liegen geschiht von der –ventiure r–t, wan si bezeichenunge h–t der zuht unde der w–rheit: daz w–r man mit lüge kleit. (WG, V. 1121 – 1126)

Denn Leser, die erfahren, moralisch, urteilsfähig und gebildet genug sind, können sowohl von guoten mæren (WG, V. 763), die positives Handeln darstellen, als auch von bœsen mæren (WG, V. 1023), die negatives Benehmen behandeln, profitieren. Geneigte Leser gelangen zu der höheren Wahrheit, die hinter den „Lügen“ der höfischen Literatur stecken; d. h. sie „sehen“ und verstehen das didaktische Vorhaben solcher Texte. Ohne auf Thomasins Verständnis vom integumentum näher einzugehen,6 ist es nützlich, das Erkennen 3 Vgl. Wenzel [Anm. 1], S. 34. 4 Hahn, Ingrid: Zur Theorie der Personenerkenntnis in der deutschen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 99 (1977), S. 395 – 444, hier S. 412 – 415. 5 Vgl. Hahn [Anm. 4], S. 433. 6 Zu Thomasins Verständnis des höfischen Romans als Integumentum s. Huber, Christoph: Höfischer Roman als Integumentum? Das Votum Thomasins von Zerklaere. In: ZfdA 115

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und Verkennen von Wahrheiten in diesem poetischen Kontext mit der Situation des höfischen Individuums am Hof zu vergleichen. Jedes Mitglied des Hofes muss auch verhüllte Wahrheit beurteilen. Also ist es von großer Bedeutung, dass zentrale Themen des höfischen Romans Lügen und Betrug sind. Von Thomasins „Welschem Gast“ ausgehend, erforscht diese Studie, wie das höfische Epos eine wichtige Quelle für eine mögliche Wahrheit im thomasinschen integumentalen Sinne ist: Der Leser soll lie detection, ,die Erkenntnis zum Aufdecken von Lügen‘, lernen. Mich genau auf Momente konzentrierend, in denen Figuren daran scheitern, Lügen zu erkennen, auch wenn deutliche Zeichen dafür vorhanden sind, dass sie überlistet werden, möchte ich demonstrieren, dass diese Szenen von präskriptiver Art sind. Diese Situationen haben Nachhall beim Publikum gefunden, weil sie eben jene performative Natur der höfischen Kultur darstellen, zu der das Publikum gehört hat. Sie heben die Tatsache hervor, dass diese Kultur oft diejenigen belohnt, die die Spielregeln beherrschen und manipulieren können, zu Gunsten des einen oder zu Lasten des anderen, was der Historiker Gerd althoff als die „Instrumentalisierung von symbolischer Kommunikation“ bezeichnet hat.7 In der Tat waren Momente der misslungenen Lügenaufdeckung geeignet, das höfische Publikum in Anbetracht der Schwierigkeiten des Erkennens von Betrug zum Nachdenken zu veranlassen. Diese Szenen heben die Umstände hervor, die das Individuum dazu bringen, das Handeln und die Beweggründe eines anderen zu verkennen. Auch unterstreichen sie häufige deception clues, ,Täuschungsindizien‘, was moderne Lügenforscher als Verhaltensfehltritte, Gesten, Gefühle, Gesichtszüge und sprachliche Inhalte beschreiben, die zeigen, dass ein Mensch lügt.8 Darüber hinaus wird die didaktische Intention dieser Szenen deutlicher, wenn man in Betracht zieht, dass das Publikum eine privilegierte Stellung zu den Geschehnissen besitzt. Wenn der Dichter Verstellung und Betrug innerhalb des Spielraums des Textes inszeniert, kann das Publikum, anders als die Figuren in der Geschichte, um es mit den Worten Haiko Wandhoffs zu beschreiben, „vor und hinter die Kulissen“ sehen, also zwischen der Perspektive des Betrogenen und des Betrügers hin- und herspringen.9 Dies hilft dem Publikum die Gefahren (1986), S. 79 – 100, hier S. 83 – 84, 92 – 94 und 100; ders.: Zur mittelalterlichen Roman-Hermeneutik: Noch einmal Thomasin Zerklaere und das Integumentum. In: German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. Studies Presented to Roy Wisbey on his Sixty-fifth Birthday. Hg. v. Honemann, Volker u. a. Tübingen 1994, S. 27 – 39 (dort weitere Literatur). 7 Althoff, Gerd: Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 370 – 389, hier S. 376 – 377. Wenzel [Anm. 1], S. 40, nennt dieses Handeln am Hof „leere Repräsentation“. 8 Ekman, Paul: Telling Lies. Clues to Deceit in the Marketplace, Politics, and Marriage. New York, London 1985, S. 39. 9 Wandhoff, Haiko: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Li-

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von höfischen Verhaltensnormen in Betracht zu ziehen. Es wird gelehrt, sich vor Täuschung zu schützen und häufige Täuschungsmanöver zu erkennen.

II.

Erkennen und Verkennen von Verstellung und Betrug am Hof

Nirgends wird die Wichtigkeit dieser Lektionen offensichtlicher als im Zusammenspiel vom König und Hof. Wenn der König Betrug verkennt, kann ihm und seinem Königreich Leid widerfahren. Deshalb ist dieses Thema beliebt bei den didaktischen Spruchdichtern wie Reinmar von Zweter und auch bei Hugo von Trimberg, die darauf hinweisen, dass der ideale Herrscher wachsam ist und sich kritisch auf sein Wahrnehmungsvermögen stützt, um Falschheit zu entblößen.10 Diese Idee war dem Adel so wichtig, dass sie weit über didaktische Texte hinausging. Üblich ist es, dass Chronisten Individuen loben, wenn sie Betrug durchschauen und sogar den Betrügern den Spieß umdrehen. Widukind von Corvey (10. Jh.) zum Beispiel berichtet in seinem „Res gestae Saxonicae“ von Gero, König Otto I., Regent in Sachsen, der ein vermeintliches Versöhnungsfest mit den Slawen abhält. Nachdem Gero einen slawischen Plan, ihn umzubringen, durchschaut, dreht er den Spieß um und lässt viele von den Slawen mit List töten.11 Andere, literarischere Texte entwickeln auch die Idee, dass der ideale Herrscher die Fähigkeit besitzt, Lügen zu erkennen. Man muss sich nur Karl den Großen im „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad ins Gedächtnis rufen, der, als rex iustus und miles Dei, Blanscand„z’ Auftritt am Hof durchschaut, nachdem er ihn befragt hat, um seine Beweggründe zu erfahren: ,du sch„nest in scœnen gebæren. / wie wilt du mir daz bewæren? / der rede wil ich gewisheit haben‘ (V. 785 – 787).12 Was diesen Beispielen zugrunde liegt, ist die Idee, dass die Wahrnehmung von Verstellung und Betrug eine geschätzte Fähigkeit am Hof war, denn dieses Erkennen war nicht nur schwierig, sondern es stand ja viel auf dem Spiel. Es ist kein Wunder, dass die höfische Epik sich kritisch mit dem Verkennen teratur. Berlin 1996 (Philologische Studien und Quellen 141), S. 228 und 229. Hervorhebung stammt vom Autor. 10 Hahn [Anm. 4], S. 433 – 434. 11 Widukind von Corvey : Res gestae Saxonicae II/20. Hg. v. Lohmann, H.-E. und Hirsch, P. Hannover 51935 (MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 60; Neudruck 1989), S. 84. Dieses Beispiel und andere Beispiele für Chroniken sind bei Zotz, Thomas: Odysseus im Mittelalter? Zum Stellenwert von List und Listigkeit in der Kultur des Adels. In: Die List. Hg. v. von Senger, Harro. Frankfurt am Main 1999, S. 212 – 240, hier S. 221, zu finden. 12 Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Hg., übersetzt und kommentiert von Kartschoke, Dieter. Stuttgart 1993 (RUB 2745).Vgl. Semmler, Hartmut: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur. Berlin 1991 (Philologische Studien und Quellen 122), S. 79.

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von Verstellung und Betrug befasst. Es ist nützlich, sich diese Gattung anzuschauen, weil sie die Ursachen erforscht, die zum Verkennen von Lügen führen können. Die narrative und selbstreflexive Form dieses Genres stellt die Schwierigkeiten der Verwirklichung vom Ideal des scharfsinnigen Herrschers in einer gründlicheren und dreidimensionaleren Weise als die Lehrdichtung dar. Ein einschlägiges Beispiel dafür ist die kritische Haltung des „Herzog Ernst B“Dichters zu Ottos Empfänglichkeit für Dissimulation, als dieser Heinrichs Verleumdung von Ernst verkennt.13 Interessanterweise hat sich die Forschung bislang hauptsächlich darauf konzentriert, wie empfänglich Otto für Verstellung in der sogenannten deditio-Szene am Ende des Werkes ist, in der deutlich wird, dass Ernst das Ritual des Unterwerfungsakts instrumentalisiert.14 Ohne Frage ist diese Szene von Belang; Verstellung wird befürwortet (zumindest im Text), indem alle außer dem König am Spiel mit den Spielregeln teilnehmen, damit Ernst Ottos Huld wiedergewinnt. Eine Lüge wird inszeniert zum Wohle des Hofes. Aber wenn man den Schwerpunkt auf die Darstellung von Otto am Anfang des Werkes verlagert, sieht man, dass der Dichter eindeutig demonstrieren will, wie der König immer auf der Hut vor Duplizität sein muss, insbesondere weil der Hof ein Ort war, an dem es ein ständiges Ringen um seine Huld gab. Was diese Lektion besonders wirksam macht, ist, dass Otto – anders als in der deditio-Szene – eindeutig Chancen verpasst, Heinrichs Betrug bloßzulegen. Zuerst demonstriert Otto sogar sein Wahrnehmungsvermögen als Herrscher ; er durchschaut, was ihm Heinrich mitteilen will, und erkennt, was Heinrich versucht zu verbergen,15 seinen n„t (HEB, V. 722) und ungefüegen haz (HEB, V. 723) gegen Ernst. Otto sieht ein, dass Heinrich Ernst aus seiner Nähe entfernen will, weil Ernst fast exklusiven Zugang zu ihm gewonnen hat und deshalb große

13 Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch, in der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A. Hg., übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Sowinski, Bernhard. Stuttgart 1979 (RUB 8352). Bei Zitaten wird unter Verwendung der Sigle HEB wie im Falle des „Wälschen Gasts“ verfahren (vgl. Anm. 2). 14 Althoff [Anm. 7], S. 386, geht auf die D-Fassung ein; Neudeck, Otto: Das Spiel mit den Spielregeln. Zur literarischen Emanzipation von Formen körperhaft-ritualisierter Kommunikation im Mittelalter. In: Euphorion 95 (2001), S. 287 – 303, hier S. 297 – 300; Semmler [Anm. 12], S. 80 – 81. Eine Ausnahme ist Mewes, Uwe: Studien zu „König Rother“, „Herzog Ernst“ und „Grauer Rock“ (Orendel). Frankfurt am Main 1976 (Deutsche Literatur und Germanistik 181), S. 145 – 160. 15 Die moderne Forschung zur Lügenaufdeckung unterstützt die These, dass es Otto gelingen sollte, Lügen zu durchschauen. Vgl. Vrij, Aldert: Detecting Lies and Deceit. The Psychology of Lying and the Implications for Professional Practice. Chichester, New York u. a. 2000, S. 81 – 82. Vrij findet, um erfolgreich zu sein, sollten sich Aufdecker von Lügen darauf konzentrieren, was mögliche Lügner verheimlichen wollen, und nicht darauf, was sie vermitteln wollen.

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Beliebtheit am Hof genießt.16 Mit Ottos Worten: ,du [Heinrich] wilt mir in vertr„ben / ˜z m„nem dienste immer mÞr‘ (HEB, V. 744 – 745). Der Dichter illustriert auch mit dieser Szene die Strategien, die einem trügerischen Individuum erlauben, das Vertrauen des Königs zu erlangen. Der Dichter macht Heinrich zum Inbegriff von Falschheit, vor der der König sich hüten muss. Der Erzähler betont zum Beispiel, wie Heinrich, bewaffnet mit dem Rat des Teufels,der traditionellen Quelle von Verstellung und Betrug im Mittelalter,17 Ottos Auffassung von Ernst ändern und den Anschein erwecken kann, als ob Ernst der Mensch wäre, der Heinrich eigentlich selbst ist: ein ungetriuwer Mann, der eine Bedrohung für das Wohlbefinden des Reiches darstellt. Allerdings macht Heinrich seine lügenl„che mœre (HEB, V. 677) glaubhaft, indem er seine Informationen einem zuverlässigen Dritten zuschreibt und die plausible Behauptung aufstellt, dass Ernst zu viele Alliierte mit dem ihm von Otto bescherten Gold gewonnen hat. Heinrich gibt auch vor, so zu sein, wie Otto Ernst gesehen hat. Er erweckt den Anschein, dass er die Tugenden besitzt, die Otto in Ernst gefunden hat, seinen Adelstand, seine Treue und Aufrichtigkeit.18 Dabei kann Heinrich vortäuschen, dass er in einem engen und vertrauenswürdigen Verhältnis zu Otto steht. Durch ein besonders raffiniertes Täuschungsmanöver, etwas, was Hartmut Semmler ,beziehungssteuernde Äußerungen‘ nennt,19 schafft er es sogar, ein Vertrauensverhältnis vorzutäuschen, wie es den Tatsachen bei weitem nicht entspricht. Heinrich benutzt nämlich die formelle oder informelle Form der Anrede wechselweise, je nachdem wie es seiner Strategie am ehesten zweckdienlich ist (HEB, V. 680 – 708; 749 – 796).20 Zum Beispiel gebraucht Heinrich die Du-Form, um die soziale Distanz zwischen sich selbst und dem König zu überbrücken, vor allem in den Momenten, in denen er die Gefahr betonen will, die Ernst für Otto darstellen sollte: ,als ich [Heinrich] von ime vernomen h–n, sú wizzet wærl„che, daz er iuch von dem r„che vil gerne wil verstúzen. er wil sich dir genúzen in adel und an r„cheit. daz müet mich, herre, und ist mir leit. 16 Althoff [Anm. 1], S. 196. 17 Vgl. Hahn [Anm. 4], S. 429 – 430; Slenczka, Ursula: Der Teufel als ,Vater der Lüge‘ und seine Realisation in mittelhochdeutschen Verserzählungen. In: Lügen und Betrügen. Das Falsche in der Geschichte von der Antike bis zur Moderne. Hg. v. Hochadel, Oliver u. Kocher, Ursula. Köln, Weimar u. a. 2000, S. 51 – 64. 18 Mewes [Anm. 14], S. 153. 19 Semmler [Anm. 12], S. 48. 20 Mewes [Anm. 14], S. 152, FN 4, identifiziert diese Strategie, aber expliziert sie nicht ausführlich.

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ez h–t gemachet d„n golt. die fürsten sint im alle holt. du maht al d„n Þre verliesen. woldest du dir, herre, kiesen einn getriuweren tr˜t‘? (HEB, V. 680 – 691; meine Hervorhebung) […] ,nu sult ir, keiser hÞre, dar under w„sl„che varn und iuwer Þre bewarn mit w„sl„chem r–te. ez wirt danne ze sp–te, sú sie an allen s„ten mit scharn ˜f dich r„ten‘: (HEB, V. 784 – 790; meine Hervorhebung)

Im Gegensatz benutzt Heinrich die Ihr-Form, wenn er eine selbstschützende Achtung vor Otto schaffen will. Förmlichkeit erlaubt ihm Ottos Ärger auszuweichen und verbirgt seine lügenl„chen mære (HEB, V. 799), gerade als Otto sie entblößt, was Heinrich ermöglicht, Otto weiszumachen, dass Heinrich Ottos Autorität nicht in Frage stellt: ,OwÞ mir vil armen, daz müeze got erbarmen‘, sprach der phalzgr–ve dú, ,daz er iuch, herre, h–t alsú mit s„nen listen überkomen und von den sinnen genomen, daz ir vür mich minnet in. ich weiz wol deich iu schuldic bin grúzer triuwe und friuntschaft‘. (HEB, V. 749 – 757; meine Hervorhebung)

„Herzog Ernst D“ verdeutlicht die didaktische Funktion dieser Szene in der BFassung. In dieser Version der Geschichte wird das Manöver nicht durch die wechselnde Form der Anrede ausgedrückt. Es wird räumlich inszeniert; Heinrich verlässt Ottos Anwesenheit, sobald Otto böse wird. Heinrich kommt dann später zurück, nachdem Ottos Zorn nachgelassen hat, und überzeugt Otto von Ernsts verräterischen Absichten.21 Im Grunde genommen zeigt dieses Beispiel, dass Heinrich mittels Betrug Ottos vertraute Nähe erlangen und sein Hauptberater werden kann. Die Funktion des Rates am Hof verleiht diesem Beispiel mehr Bedeutung, wenn man berücksichtigt, dass Heinrich Otto davon überzeugt, seinen An21 Herzog Ernst D (wahrscheinlich von Ulrich von Etzenbach). Hg. v. Rosenfeld, HansFriedrich. Tübingen 1991 (ATB 104), S. 18 – 19.

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griffsplan gegen Ernst vor Adalheid und seinen Lehnsmännern geheim zu halten: ,du solt ez heln der künig„n, und dar zuo allen d„nen man, daz ich dir hie gesaget h–n: sú wurde er gewarnet‘. (HEB, V. 820 – 823)

Während es durchaus üblich war, vertrauliche Beratungen am Hof zu halten, die sogenannten colloquia familiare,22 macht Otto den nächsten üblichen Schritt nicht und lässt seine Gefolgsleute nicht einholen und die Entscheidung nicht öffentlich am Hof diskutieren.23Und obwohl dies nicht eindeutig im Text steht, wäre es für das Publikum, das mit den Gebräuchen der höfischen Beratung vertraut war, offensichtlich, dass Otto vom öffentlichen Rat profitiert hätte, was ihm ermöglicht hätte, den Wahrheitsgehalt von Heinrichs Geschichte zu überprüfen.24 Dieses Problem wird später betont, als Otto weiter in vil starken unsiten (HEB, V. 999) handelt und in seiner Rolle als rex iustus versagt, indem er Ernst das Recht darauf verweigert, sich selbst oder mit Hilfe von Vermittlern am Hof zu verteidigen.25 Aus diesen Beobachtungen kann man schließen, dass der Dichter Ottos Sozialkompetenz und Fähigkeit als Herrscher in Frage stellt. Sich auf sein eigenes Wahrnehmungsvermögen stützend, kann Otto Heinrichs böswillige Pläne nicht durchschauen, wählt den falschen Vertrauten und kann nicht zwischen gutem und schlechtem Rat unterscheiden. Diese Kritik wird am besten durch das Chaos ausgedrückt, in das Ottos Reich gerät, nachdem er Heinrichs irreführenden Rat befolgt (HEB, V. 853 – 872). Der Erzähler hebt in dieser Textstelle hervor, wie dr–te (HEB, V. 853), ,rasch‘ oder ,ohne Überlegung‘, Otto die Entscheidung getroffen hat, Ernsts Burgen und Länder zu verwüsten, etwas, was Otto später wegen der daraus folgenden Zerstörung in seinen eigenen Ländern bereut. Der Erzähler unterstreicht auch, wie schädlich Heinrichs Lüge für Ernst und das Reich war : von grúzer lüge daz geschach (HEB, V. 872). Darüber hinaus könnte diese Kritik darauf hindeuten, dass der Dichter Stellung zu einer Schwäche des höfischen Systems der Beratung nimmt, nämlich dem blinden Vertrauen des Königs auf Verwandte als Ratgeber.26 Diese Idee wirkt 22 Althoff [Anm. 1], S. 182. 23 Müller, Jan-Dirk: Ratgeber und Wissende in heroischer Epik. In: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 124 – 146, hier S. 126 und S. 129 – 130. 24 In der D-Fassung beachtet Otto die Vorschriften des öffentlichen Rates, indem er seine Entscheidung mit seinen Gefolgsmännern bespricht (V. 647 – 673). Dieser Unterschied unterstreicht Ottos Unfähigkeit als Herrscher mehr als in der B-Fassung. 25 Für eine vorzügliche Diskussion von Otto als verfehlter rex iustus s. Schulz, Monika: ffne rede und –ne reht. Zur Bedeutung der triuwe im „Herzog Ernst B“. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 120 (1998), S. 395 – 434. 26 Vgl. Althoff [Anm. 1], S. 164.

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überzeugender, wenn man in Betracht zieht, dass der Erzähler Heinrich Ottos neve (HEB, V. 801) nennt, MHD für ,Neffe‘ oder ,Blutsverwandter‘, gerade in dem Moment, da Otto sich entscheidet, Heinrichs Rat zu folgen. In der Tat könnte der Dichter andeuten, dass dieser Brauch beendet werden sollte, als Ernst und Wetzel Otto und Heinrich heiml„ch an eime r–te (HEB, V. 1277) während eines Hoftages unhöflich „unterbrechen“ und daz gesprœche mit unminne (HEB, V. 1282) beenden, indem sie Ottos Neffen enthaupten und den König selbst beinahe töten. Diese Kritik spielt sich auf einer symbolischen Ebene des Textes ab, denn Ernsts Tat verletzt letztendlich die gottgegebene gesellschaftliche Ordnung, und das Publikum hätte sie als Hochverrat verstanden. Sicher aber ist, dass das Publikum Gefallen an Heinrichs gewalttätigem Tod gefunden hätte, weil er Falschheit, Untreue, und „monstrous counsel“, ,monströsen Rat‘, verkörpert.27 Öffentlicher Rat bietet aber keine Garantie, dass der König der Verstellung nicht zum Opfer fallen wird. Hartmann von Aue hebt dieses Problem im „Iwein“ hervor,28 als Meljaganz die höfische Sitte der Bitte am Artushof manipuliert.29 In dieser Szene wird deutlich, dass Hartmann die Gefahren des Blankoversprechens kommentiert.30 Hartmann betont aber auch, wie wohlgesinnte Mitglieder des Hofes das Wahrnehmungsvermögen des Königs beeinträchtigen und den König unabsichtlich irreführen können. Denn Artus kann zuerst die Situation richtig einschätzen, wird aber dann vom Hof beraten, Meljaganz seine Bitte zu erfüllen, auch ohne vorher zu wissen, von welcher Art sie ist, nämlich die Erlaubnis Königin Ginover mit sich zu führen (I, V. 4565 – 4578). Hartmann zeigt hier, wie die Mitglieder des Hofes genau so empfänglich für die Instrumentalisierung von Ritualen sind wie der König, insbesondere wenn sie den Wert von repräsentativem Schein überschätzen, sowohl den ihres eigenen als auch den anderer. Im ersteren Fall behaupten die Mitglieder der Tafelrunde, dass Artus’ Ruf als freigebiger Herr angeschlagen wäre, wenn er die Bitte ablehnte (I, V. 4546 – 4574). Sie lassen ihren Anteil am Ideal, das Artus und sein Hof verkörpern, ihr Urteilsvermögen beeinträchtigen, indem sie die Wichtigkeit von Ansehen so sehr schätzen, dass sie die Unangebrachtheit von Meljaganz’s Bitte verkennen. Im letzteren Fall sind sie von Meljaganz’s hövescheit überzeugt (I, V. 27 Vgl. Carey, Stephen Mark: undr unkunder diet: Monstrous Counsel in „Herzog Ernst B“. In: Daphnis 33 (2004), S. 53 – 77, hier S. 61; Schulz [Anm. 25], S. 426. 28 Hartmann von Aue: Iwein. Hg. v. Benecke, Georg Friedrich u. Lachmann, Karl. 7. Auflage neu bearbeitet von Wolff, Ludwig. Berlin 1968. Im Umgang mit den Zitaten wird unter Verwendung der Sigle I wie im Falle des „Wälschen Gasts“ verfahren (vgl. Anm. 2). 29 Althoff [Anm. 7], S. 378. Diese Szene fehlt in Chr¦tien de Troyes’ Fassung der Geschichte. 30 Semmler [Anm. 12], S. 163 – 170, hier S. 168, betont die Wichtigkeit der richtigen Bewertung von Absichten eines anderen für das Wohl des Hofes: „Hartmann demonstriert hier, wie wichtig eine adäquate Beobachtung und Einschätzung von Menschen für das politische Funktionieren eines Systems ist, in dem spontan gegebene Versprechen die Kraft von Verträgen haben“.

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4572). Sie finden, er sei ein Mann, der eine betel„che, ,angemessene‘, Bitte aussprechen werde (I, V. 4572 – 4574) – die Vorraussetzung für die Erfüllung dieses Rituals. Im Grunde haben die Mitglieder des Hofes Artus durch ihr Verkennen getäuscht, was durch Artus’ Ärger über ihren Verrat ausgedrückt wird: ,wie bin ich überkomen! / die disen r–t t–ten, / die h–nt mich verr–ten‘ (I, V. 4590 – 4592). Dieser Verrat ist natürlich keineswegs von derselben Ernsthaftigkeit wie der Verrat in „Herzog Ernst“. Der Erzähler verurteilt die Mitglieder von Artus’ Hof nicht in dem Maße wie der Erzähler in „Herzog Ernst B“ Heinrichs Handeln denunziert. Was die zwei Werke jedoch verbindet, ist die negative Wirkung dieses Verkennens auf die Gesellschaft. Der Begriff von den zwei Körpern des Königs hilft diese Idee zu veranschaulichen.31 Innerhalb dieser Tradition besitzt der König einen natürlichen Körper und verkörpert doch zugleich den body politic; der König war die Verkörperung von seinem Land und dessen Individuen, und beide Körper spiegeln den Zustand der Gesellschaft wider.32 Daraus folgt, dass beide Dichter diese Metapher aufnehmen, um die direkte Korrelation zwischen der richtigen Einschätzung der Absichten eines Individuums und dem gesellschaftlichen Wohlbefinden zu betonen. In „Herzog Ernst B“ zum Beispiel lässt Otto mit seinem Verkennen Chaos in seinem Reich herrschen. Die darauffolgende Zerstörung innerhalb seiner body politic, nachdem Heinrich Ernst „präventiv“ angegriffen hat, unterstreicht den geschwächten Zustand des Reiches, was an Ironie grenzt, wenn man bedenkt, dass dies genau das ist, was Otto, seine kritische Rolle als rex pacificus erfüllend, von vornherein verhindern wollte, als er Ernst gewählt hat, seine „zwei Körper“, seinen l„p und lant (HEB, V. 594), zu schützen (HEB, V. 580 – 601).33 Im „Iwein“ hingegen werden die negativen Folgen für den body politic nicht nur durch Artus’ Betroffenheit über die Entführung von Ginover widergespiegelt, sondern auch durch den Tumult, den die höfische Gesellschaft außerhalb der Artussphäre deswegen erlebt. Ironie spielt auch in diesem Beispiel eine wichtige Rolle; die umgebenden Höfe können die wirklich angemessene Bitte an Artus um Schutz nicht vorbringen, weil die Tafelrunde damit beschäftigt ist, Ginover zu retten.34

31 Kantorowicz, Ernst H.: The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology. Princeton 61957. 32 Für eine Diskussion der body politic-Metapher im Mittelalter s. Pincikowski, Scott: Bodies of Pain. Suffering in the Works of Hartmann von Aue. New York, London 2002 (Medieval History and Culture 11), S. 134 – 136. 33 Stock, Markus: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im „Straßburger Alexander“, im „Herzog Ernst B“ und im „König Rother“. Tübingen 2002 (MTU 123), S. 170 – 171, diskutiert die Wichtigkeit der body politic-Metapher und inwiefern es darauf hindeutet, dass die body politic angegriffen wird, als Ernst gegen Otto rebelliert. 34 Für eine Diskussion darüber, wie Rat den Hof gefährden kann, s. Pincikowski [Anm. 32], S. 144 – 145.

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III.

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Selbstbetrug und wahre Lügen

Wie die obigen Beispiele zeigen, ist nebst der negativen Wirkung des Verkennens von Lügen die wichtigste Lektion dieser Texte, dass Selbstbetrug eine Hauptursache des Verkennens ist. Verkennen findet statt, wenn das Individuum zu sehr an seine Wahrnehmungsfähigkeit oder soziale Macht glaubt. Dies wird anhand von Beispielen demonstriert, in denen der Dichter im Spielraum des Textes inszeniert, was ich „wahre Lügen“ nenne. Dieser Begriff ist Thomasin von Zirklarias Begriff von verhüllter Wahrheit insofern ähnlich (WG, V. 1023 – 1162), als wahre Lügen betonen, dass nicht alle Menschen in der Lage sind, Schein von Sein zu unterscheiden. In diesen Szenen können Figuren Lügen nicht durchschauen, weil sie die Wahrheit nicht erkennen können, die der Betrüger aber kaum verbirgt oder sogar absichtlich und in herausfordernder Weise offenbart. Wahre Lügen heben die geschickte List einer Figur bei ihrer Suche nach Ehre und Ruhm hervor, das sogenannte ,Fürstenideal des listigen Mannes‘,35 während die Charakterfehler oder die soziale Inkompetenz der betrogenen Figur unterstrichen werden, die die Urteilskraft dieser Figur beeinträchtigen. Darüber hinaus verdeutlichen wahre Lügen, dass mangelhafte Selbsterkenntnis und Selbstbetrug eng miteinander verbunden sind. Denn Selbsterkenntnis spielt eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Beurteilung von anderen. Wer sich selbst einzuschätzen weiß, lässt sich nicht leicht auf leere Repräsentation ein, die beabsichtigt, dem anderen zu schmeicheln und sein Selbstbild zu manipulieren.36 Momente der wahren Lügen zeigen auch die Schwierigkeit, in einer Gesellschaft, die Wert auf die Inszenierung von Identität und sozialer Macht durch öffentliche Repräsentation legt, zwischen Schein und Sein zu differenzieren. Hartmann von Aue betont diese Lektion im „Gregorius“,37 als der Fischer glaubt, dass Gregorius ihn betrügt, weil er noch keine Schmerzzeichen des wandernden Pilgers trägt: ,ouwÞ daz ich diz sehen sol! ja erkenne ich trügenære wol und alle trügew„se. du enh–st sú kranker sp„se 35 Für eine detaillierte Diskussion darüber, wie List benutzt werden kann, um Prestige zu gewinnen, s. Althoff, Gerd: Gloria et nomen perpetuum. Wodurch wurde man im Mittelalter berühmt? In: Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum fünfundsechzigsten Geburtstag. Hg. v. Althoff, Gerd u. a. Sigmaringen 1988, S. 295 – 313; vgl. Semmler [Anm. 12], S. 173. 36 Vgl. Haferland, Harald: Höfische Interaktion. Interpretation zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), S. 268. 37 Hartmann von Aue: Gregorius. Hg. v. Paul, Hermann. Neubearbeitet von Wachinger, Burghart. Tübingen 141992 (ATB 2). Zitate unter Verwendung der Sigle G (vgl. Anm. 2).

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dich niht unz her begangen. ez ensch„net an d„nen wangen weder vrost noch hungers nút: diu sint sú veiz und sú rút. ez engesach nie man noch w„p deheinen wætl„chern l„p: den h–st˜ niht gewunnen von brúte noch von brunnen. d˜ bist gemestet harte wol, d„n schenkel sint sleht, d„n vüeze hol, d„n zÞhen gel„met unde lanc, d„n nagel l˜ter unde blanc. d„n vüeze solden unden breit s„n und zeschrunden als einem wallenden man.‘ (G, V. 2901 – 2919)

Diese Szene ist von Bedeutung, weil sie einen wichtigen Aspekt von wahren Lügen anspricht, dass es oft eben jene demonstrative Natur des höfischen Körpers ist, die das Individuum dazu veranlasst, die Absicht eines anderen zu verkennen. Es bedarf hier eines kurzen Blicks auf das mittelalterliche Zeichensystem, das auf der Zeichentheorie beruht, die Augustin in seiner „De doctrina christiana“ entwickelt hat.38 Denn auf dem Spiel steht in diesem Beispiel die zentralste Wahrnehmungsproblematik des höfischen Daseins, die richtige Unterscheidung zwischen signa data und signa propria. Nach Horst Wenzels und Ingrid Hahns Auslegung von Augustins Zeichensystem sind signa data Zeichen, die das Individuum kontrollieren kann.39 Sie schließen Zeichenträger ein, wie Gesten und Kleidung, mit denen das Individuum wahre oder gefälschte Bedeutung vermitteln kann: Data vero signa sunt quae sibi quaeque viventia invicem dant ad demonstrandos quantum possunt motus animi sui vel sensa aut intellecta quaelibet (II, 3, 1 – 3).40 Hingegen sind signa propria Signale, die das Individuum nicht kontrollieren kann. Zu diesen Zeichen zählen Körperzeichen und Gefühlsausdrücke, die die Situation, das Innere, und den Gemütszustand des Individuums offenbaren: et vultus irati seu tristis affectionem animi significat, etiam nulla eius voluntate qui aut iratus aut tristis est; aut si quis alius motus animi vultu indice proditur, etiam nobis non id 38 Augustine: De Doctrina Christiana. Hg. u. übersetzt v. Green, R.P.H. Oxford 1995 (Oxford Early Christian Texts). 39 Für ausführliche Diskussionen von Augustin, s. Hahn [Anm. 4], S. 397 – 401, und Wenzel, Horst: Des menschen muot wont in den ougen. Höfische Kommunikation im Raum der wechselseitigen Wahrnehmung. In: Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen. Hg. v. Campe, Rüdiger u. Schneider, Manfred. Freiburg im Breisgau 1996 (Rombach Wissenschaft. Reihe Litterae 36), S. 65 – 98, hier S. 77 – 82. 40 Zitiert nach Hahn [Anm. 4], S. 397.

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agentibus ut prodatur (II, 2, 8 – 12).41 Es folgt aus diesen Beobachtungen, dass Gregorius’ Problem beim Fischer daraus entsteht, dass sein Körper seine höfische Identität und seinen Stand weiter vermittelt, auch als er versucht, seine Identität mit Hilfe von Askese, Kleidungswechsel, Fasten und Pilgerfahrt zu tilgen und zu überwinden (s. auch G, V. 2920 – 2934).42 Der Fischer, eine Ungläubige-Thomas-Figur, missinterpretiert die Schönheit von Gregorius’ Körper und die Abwesenheit von Leid als Täuschungsindizien. Mit anderen Worten versteht der Fischer Gregorius’ Schönheit als signa propria, als eindeutiges Zeichen für seinen angeborenen Stand, und missversteht die Absicht von Gregorius’ data translata, seinem Kleidungswechsel,43 als bösartige signa data. Der Fischer überkompensiert die Gefahr des höfischen Scheins, vor dem Thomasin von Zirklaria warnt. Er glaubt, Gregorius versuche, seine wahre Identität zu verhüllen und eine andere zu inszenieren. Er sollte eigentlich an Gregorius’ Schönheit sehen, dass Gregorius ein guter, von Gott geschickter, vornehmer Mann ist. Hartmann unterstreicht dies, indem er das Wahrnehmungsvermögen des Fischers dem seiner Frau entgegensetzt. Sie beobachtet Gregorius’ Körper und findet, er sei kein trügenære (G, V. 2835 – 2838): si sprach: ,des ist unlougen / er ens„ ein guot man: / zew–re ich sihe ez im wol an‘ (G, V. 2842 – 2844). Darüber hinaus stellt Hartmann den Fischer in dieser Art dar um hervorzuheben, dass Verkennen oft aus den Charakterfehlern des Individuums erfolgt. Der Fischer überschätzt seine Fähigkeit, Lügen zu erkennen, was er ausdrückt, als er Gregorius informiert, dass er zu entdecken weiß, dass Gregorius ein trügenœre sei (G, V. 2902). Er erklärt sogar, er könne alle Lügner durchschauen und er kenne alle ihre trügew„se, ,Art und Weise des Betrügens‘ (G, V. 2901 – 2903). Jedoch ist der Fischer kein Experte der Lügenaufdeckung. Er gehört nicht einmal zur höfischen Sphäre, welche ihm die Übung ermöglicht hätte. Was diese Lektion so wirkungsvoll macht, ist, dass Hartmann sich auf ein seinem Publikum bekanntes Motiv berufen haben könnte, das des listigen Mannes, der seine Identität verbirgt, indem er sich als Pilger oder Kaufmann verkleidet. Aber Hartmann verändert es spielerisch, um Aufmerksamkeit auf ein Hauptproblem der Unterscheidung von Wahrheit und Betrug zu lenken. Diese Szene erhöht die Wichtigkeit von jenen Beispielen in der Brautwerbungsepik, in denen sogenannte trainierte Experten des Hofes, „die Wahrheit“ nicht wahrnehmen, wenn sie gerade vor ihnen zu beobachten ist. Zwei Beispiele genügen, um „wahre Lügen“ zu demonstrieren. Erstens erforscht der „Kudrun“Dichter dieses Problem, als Hagen der Scharade der Brautwerbung der Hege41 Zitiert nach Wenzel [Anm. 39], S. 78. 42 Feistner, Edith: Rollenspiel und Figurenidentität. Zum Motiv der Verkleidung in der mittelalterlichen Literatur. In: GRM 46 (1996), S. 257 – 269, hier S. 261; Pincikowski [Anm. 32], S. 68 – 80. 43 Hahn [Anm. 4], S. 404 – 409.

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linge zum Opfer fällt.44 In der Tat signalisieren die Hegelinge Hagen und seinem Hof eindeutig, dass sie eigentlich nicht sind, wer sie vorgeben zu sein, was Hagen misstrauisch hätte machen sollen. Nachdem Hagen sich wie ein guter und perzeptiver Herrscher benimmt und die Hegelinge genau überprüft, erkennt er an ihrem reichen Gewand und extravaganten Gaben, dass sie keine normalen Kaufleute sind, sondern landes herren (K, Str. 304, 4), ,mächtige Herren‘. Er wundert sich darüber, warum König Hetel solche Männer nicht an seinem Hof behalten wollte (K, Str. 312, 1 – 4). Jedoch geht Hagen auf die Sache nicht näher ein, obwohl die Hegelinge ihn in einer herausfordernden Weise andere Täuschungsindizien erkennen lassen. Zu den Wichtigsten zählen: Fruote erklärt öffentlich, dass die Hegelinge König Hetel immer noch treu sind (K, Str. 322 – 323); die Hegelinge loben die soziale Kraft von König Hetel sehr, auch wenn sie erzählen, dass er derjenige sei, der sie verbannt habe (K, Str. 314, 2); Wate lehnt Länder in Irland ab und „verrät“, dass er nie länger als ein Jahr von seinem Königreich wegbleiben würde (K, Str. 350);45 Wate lässt auch einen sogenannten „Mikroausdruck“ sehen, eine emotionelle Fehlleistung, die zeigt, dass eine Person lügt,46 so z. B. als er Hagen verachtungsvoll anlacht, als Hagen ihn fragt, ob er und sein Volk die Kunst des Fechtens kennen (K, Str. 353 – 371): des ersmielte Wate versm–hl„che (K, Str. 357, 4); Fruote lässt sich einen ähnlichen Mikroausdruck entschlüpfen, als er Wate bei seiner „Lehre“ im Schirmen anschaut: des erlachte dú von Tenen Fruote (K, Str. 360, 4). Wie die Forschung zur Brautwerbungsepik richtig betont haben, gehört Hagens Verkennung der List zur narrativen Logik und dem Schema dieser Gattung. Er muss scheitern: Ein verkleideter Werber etabliert seine Anwesenheit am fremden Hof und demonstriert seine Überlegenheit durch geschickte List, um die Aufmerksamkeit der Prinzessin zu gewinnen, die dann Mittäter beim erfolgreichen Komplott wird.47 In Ergänzung zu dieser Perspektive lege ich den Fokus auf die Frage, was die überlistete Figur dazu führt, die Situation zu verkennen. Ich möchte vorschlagen, dass Hagens Verkennen mehr als ein Kunstgriff der Handlung ist. Denn selbst wenn das Publikum sich mit der List der Hegelinge identifiziert hätte, hätte es auch von Hagens perzeptiven Schwächen gelernt. Diese augenfälligen 44 Kudrun: Hg. v. bartsch, Karl. Neue ergänzte Ausgabe der fünften Auflage überarbeitet und eingeleitet von Stackmann, Karl. Wiesbaden 51980. Bei Zitaten aus diesem Werk werden Strophenangaben in Klammern den Zitaten direkt nachgestellt und mit der Sigle K versehen. 45 Vgl. McConnell, Winder : The Epic of Kudrun. A Critical Commentary. Göppingen 1988 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 463), S. 34 – 35. 46 Vgl. Ekman [Anm. 8], S. 43, und Vrij [Anm. 15], S. 68. 47 Kiening, Christian: Arbeit am Muster. Literarisierungsstrategien im „König Rother“. In: Wolfram Studien 15 (Neue Wege der Mittelalter-Philologie, Landshuter Kolloquium 1996), S. 211 – 244. Kiening bespricht die allgemeine Struktur der Brautwerbung (S. 212 – 213) und spezifisch die Tatsache, dass Sinnestäuschung seitens des Herrschers ein konstitutiver Teil der Erzählung in „König Rother“ ist (S. 230 – 231). Vgl. Wandhoff [Anm. 9], S. 227.

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Täuschungsindizien hätten das Publikum dazu bewegt, über Hagens Verkennen nachzudenken, weil Hagen bisher in der Geschichte als ein mächtiger und gerechter König dargestellt worden ist. In der Tat untersucht der Dichter mittels Hagen, was passieren kann, wenn ein König allzu sehr auf seine soziale Macht vertraut. Der Dichter kommentiert, wie das Wahrnehmungsvermögen des Herrschers beeinträchtigt werden kann, wenn er die Grenzen seiner eigenen Macht nicht erkennt. Er macht dies auf eine subtile Weise. Er beschreibt Hagen zweimal als einen Herrscher, der húchvart (K, Str. 248, 4), ,Hochmut‘, und húchgemuot (K, Str. 334, 1), ,Stolz‘, wegen seiner militärischen Macht und seines sozialen Standes besitzt. Im ersten Fall drückt Fruote diese Idee aus, wenn die Hegelinge planen, Hilde zu entführen: ,Wir suln‘, sprach her Fruote, ,siben hundert man die reise mit uns füeren. her Hagene niemen gan deheiner voller Þre. er dunket sich nie sú vermezzen, ob er uns wænet twingen, sú muoz er s„ner húchvart gar vergezzen.‘ (K, Str. 248, 1 – 4)

Im zweiten Fall erklärt der Erzähler, dass Hagen, auch wenn er hochmütig ist, die Wichtigkeit dieser Gäste und höfischer Sitten erkennt, als er sie begrüßt: Swie r„ch her Hagene wære und swie húchgemuot, / er gie in hin engegene (K, Str. 334, 1 – 2). Es könnte schon gut sein, dass dies der Grund ist, warum Hagen empfänglich für Betrug ist. Tatsächlich ist es Hagens Glaube an seine militärische Macht, an den die Hegelinge bei ihrer Ankunft in Balj–n appellieren. Sie lehnen Hagens Einladung zu bleiben ab, aus der vorgetäuschten „Angst“ heraus, dass Hetel angreifen würde, wenn sie das täten (K, Str. 317, 1 – 4). Die Hegelinge machen das natürlich, weil sie genau wissen, dass Hagen nicht auf diesen Vorschlag eingehen würde. Dies ergibt sich aus Hagens Behauptung, dass Hetel so etwas nie wagen würde (K, Str. 318, 1 – 4). Während es keine eindeutigen Belege gibt, dass Hagens Verkennen nur auf seine irrige Überzeugung von seiner überlegenen sozialen Macht zurückzuführen ist, gibt es weitere Faktoren, die dem Publikum hätten auffallen können. Schließlich macht Hagen nicht, was gute Herrscher machen, um sich vor Betrug zu hüten: Weder konsultiert er seinen Hof, ob er die Hegelinge als Gäste in sein Königreich aufnehmen sollte, noch holt er weitere Erkundigungen über einzelne Personen ein, die sich so eindeutig und für alle unübersehbar mit ihrer gespielten adeligen Höflichkeit in Szene gesetzt haben. Ein weiteres Beispiel für wahre Lügen findet sich im „König Rother“.48 In diesem Text drückt der Dichter noch deutlicher als in der „Kudrun“ aus, wie 48 König Rother : mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung v. Stein, Peter K. Hg. v. Bennewitz, Ingrid unter Mitarbeit von Koll, Beatrix u. Weichselbaumer, Ruth. Stuttgart 2000 (RUB 18047). Bei Zitaten wird unter Verwendung der Sigle KR wie im Falle des „Wälschen Gasts“ verfahren (vgl. Anm. 2).

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Selbstbetrug zu Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung der Wahrheit führt. An Konstantin macht der Dichter dem Publikum die Gefahren des Selbstbetrugs besonders deutlich, indem er kommentiert, wie dessen Unfähigkeit, die Grenzen seiner Macht zu erkennen, die Ursache für sein Verkennen überlegener Gegner ist. Das Beispiel zeigt, wie der Dichter die höfische Geschicklichkeit eines westlichen Herrschers gegenüber der eines östlichen Königs bevorzugt.49 Ohne Zweifel hätte das Publikum daran Gefallen gefunden, wie Rother List in einer strategischen Weise benutzt, seine Identität am Hof Konstantins inszeniert und sich selbst als der von Rother verbannte Dietrich verkleidet, aber wirklich als er selbst erscheint durch die Zeichen, die er für Rothers/Dietrichs Macht schafft. Der Erzähler betont mehrmals, wie Konstantin im Laufe seiner Machtausübung, begleitet von seinem Hof, zwar Rothers/Dietrichs höfisches Aussehen und Reichtum beobachtet, aber die Wahrheit nicht erkennen oder sogar zugeben kann, was wahr ist: Rother/Dietrich ist stärker als er.50 Der „König Rother“-Dichter unterstreicht diese Lehre auf verschiedene Weise. Erstens besitzt Konstantin das notwendige Wahrnehmungsvermögen nicht, um ein wirksamer Herrscher am Hof zu sein. Ein einschlägiger Fall dafür findet sich in der zweiten Hälfte der Geschichte, als der Dichter Konstantins Unfähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, und die Fähigkeit des heidnischen Königs Ymelot, Lügen zu erkennen, nebeneinanderstellt. Ymelot begreift, dass das Lachen von Konstantins Tochter ein Täuschungsindiz ist: ,vrowe, ir liegit ane not! / ich wene, uns uwer lachin / herzeleit icht mache‘ (KR, V. 3895 – 3897). An diesem emotionellen Ausdruck erkennt er, dass Rother zu ihrer Rettung gekommen ist. Im Gegensatz dazu missinterpretiert Konstantin das Lachen seiner Tochter ; er glaubt, diese Gebärde sei ein Zeichen dafür, dass sie ihm nicht mehr böse ist.51 Zweitens ist Konstantins Sinnestäuschung auf die Überschätzung seiner sozialen Macht zurückzuführen. Tatsächlich benutzt Rother/Dietrich die gleiche Strategie wie die Hegelinge am Hofe Hagens in „Kudrun“. Er appelliert an Konstantins Selbstbild als ein mächtiger Herrscher, indem er ihm sagt, dass er Konstantinopel gewählt habe, weil er gehört habe, Konstantin sei so gewaldich (KR, V. 934). Und wie Hagen besitzt Konstantin zu viel overmot (KR, V. 2591), um Selbstkritik zu üben, etwas, worüber einer seiner Lehnsmänner später klagt. Als Ymelot sich Konstantinopel mit seinen Heeren annähert, antwortet ein Bote auf Konstantins Behauptung, dass niemand mächtig genug sei, um es zu wagen, ihn anzugreifen. Der Bote stellt fest, dass jetzt doch nicht die Zeit für Konstantins Stolz sei, was bedeutet, dass Konstantins arrogantes Benehmen Gewohnheit und 49 Mewes [Anm. 14], S. 50. 50 Kiening [Anm. 47], S. 225. 51 Wandhoff [Anm. 9], S. 232, betont, dass das Lachen der Tochter ein Zeichen dafür ist, dass Rother immer der stärkere Herrscher ist, auch wenn es scheint, dass die Chancen gegen ihn stehen.

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eine Wahnvorstellung ist (KR, V. 2587 – 2595): ,din groze overmot / der nis zo nichte got! / introwen, sie havent genendot‘! (KR, V. 2591 – 2593). Drittens bestätigt Konstantins Frau diese Ansicht. Und im Gegensatz zu Konstantin kann sie die wesentliche Wahrheit einer Situation erkennen. Während die Königin Rothers Verstellung nicht durchschaut, erkennt sie Rothers/ Dietrichs Macht.52 Sie sagt Konstantin fortwährend, dass er eine große Gelegenheit verpasst habe, einen stärkeren Alliierten als sich selbst zu gewinnen, der hätte helfen können, Dietrich und Ymelot zu bewältigen (KR, V. 1060 – 1091, 1172 – 1197, 1455 – 1471, 1795 – 1813).53 Tatsächlich besitzt die Stimme der Königin eine wichtige Funktion im Text. Sie erinnert den König an sein Verkennen von Rother und von sich selbst. Es ist die Königin, die Konstantin die Wahrheit sagt, auch wenn er sie nicht hören oder ihr antworten will. Die Königin sagt Konstantin sogar, was er nicht zugeben will oder kann, so zum Beispiel als sie ihn darauf anspricht, warum er mit dem Riesen Asprian Trunkenheit vorgetäuscht hat (KR, V. 987 – 1029). Sie konfrontiert ihn mit der Tatsache, dass seine Verstellung ein Indiz dafür ist, dass er mehr weiß, als er öffentlich einräumt, dass er schwächer als Rother/Dietrich ist, aber seine Fehleinschätzung von sich selbst nicht verbessern und sein Fehlverhalten nicht ändern kann.54 Sie weiß, dass er Rothers/Dietrichs Macht fürchtet, etwas, was sie unterstreicht, wenn sie ihm sagt, er würde es nie wagen, gegen Dietrichs Männer zu kämpfen, sondern er würde sich selbst eher ins Auge schlagen (KR, V. 1060 – 1091). Und es ist kein Zufall, dass die Königin das Auge als den Ort der Selbstschädigung wählt. Denn mit dieser komischen Verstellung, die das Organ der Wahrnehmung hervorhebt, macht sie Konstantin seine perzeptiven Schwächen deutlich.55 Darüber hinaus funktioniert die Stimme der Königin als eine didaktische Warnung. Sie weiß, was für negative Wirkungen Konstantins Fehlverhalten für ihn selbst, sein Reich und seine Familie haben werde. Es ist ihre Stimme, die höchstwahrscheinlich widerspiegelt, was das Publikum von Konstantins Ungeschicklichkeit gehalten hat, wenn sie ihn fragt, wie er je so einen wonderlichen wan (KR, V. 3008) hätte haben können, dass ein Verbannter so reich sein könnte, und als sie ihn warnt, sich vor so einer Situation in der Zukunft zu schützen: ,ir sit gewarnet, Constantin: / kome u imer mer gein vertriven man, / da solit ir uch baz vor warnan!‘ (KR, V. 3010 – 3012). In der Tat hätte Konstantin sich selbst nicht getäuscht, hätte 52 Die Königin erkennt Rothers Macht auch beim ersten Brautwerbungsversuch und warnt Konstantin davor, die Boten so zu behandeln, wie er frühere Boten behandelt hat (250 – 269). 53 Vgl. Mewes [Anm. 14], S. 34 und 51. 54 Vgl. Hübner, Gert: Kognition und Handeln im „Vorauer Alexander“, im „Straßburger Alexander“ und im „König Rother“. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 157 (2005), S. 241 – 258, hier S. 250. 55 Schleusener-Eichholz, Gudrun: Das Auge im Mittelalter. München 1985 (Münstersche Mittelalterschriften 35).

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er den Verlust seiner Macht an seinem eigenen Hof, die Entführung seiner Tochter und Ymelots Sieg verhindert.

IV.

Fazit

Dieser Beitrag war ein Versuch zu zeigen, dass es ergiebig ist, Situationen des Verkennens zu analysieren. In der Tat ist es genau so produktiv wie die Analyse von Erkennen in der höfischen Literatur. Wie die obigen Beispiele demonstriert haben, verhilft die Darstellung von misslungener Lügenaufdeckung dem Adel dazu, sich an die Wichtigkeit von vorsichtiger Beobachtung und kritischer Einschätzung anderer für das Wohlergehen des höfischen Individuums und der Gesellschaft zu erinnern. Aufgrund des didaktischen Grundtenors der Darstellung des Verkennens erhalten diese Szenen präskriptiven Charakter und haben ihren Zweck nicht nur darin, dass der Dichter die trügerische und überlegene List des Helden auf seiner Suche nach Ehre und Ruhm betonen kann. Dies suggeriert, dass diese Momente auch die Funktion haben, die Faktoren zu erforschen, die das höfische Individuum dazu veranlassen, andere höfische Akteure zu verkennen. Manchmal sind die Dichter explizit in diesem Bestreben, indem sie die negative Auswirkung betonen, die das Verkennen auf den Herrscher und sein Reich haben kann. Tatsächlich bestätigen diese Momente jene Forschung nochmals, die die didaktische Funktion von guten und schlechten „Herrschertypen“ betont, die eine Art Spiegelbild repräsentieren, wodurch der Adel über sich selbst und die höfische Gesellschaft nachdenken kann.56 Dies wird oft durch die Gegenüberstellung von perzeptiven und unaufmerksamen Figuren erreicht; die Diskrepanz im Wahrnehmungsvermögen verschiedener Figuren unterstreicht das Fehlverhalten und die Fehleinschätzungen der unterlegenen Figur und die Sozialkompetenz des Überlegenen. Darüber hinaus betonen solche Episoden, dass eine Voraussetzung für erfolgreiches Wahrnehmen richtige Selbsteinschätzung und kritische Selbsterkenntnis ist. Bevor man andere erkennen kann, muss man sich selbst kennen. Gleichzeitig zeigt dieser Ansatz, dass die Dichotomie des guten-schlechten Herrschers nicht immer ausreichend ist, wenn man das Problem von Erkennen und Verkennen in Betracht zieht. Denn Momente, in denen ideale und mächtige Herrscher betrogen werden, deuten an, dass das Erkennen von Betrug eine schwierige Leistung ist, eine, die durch den performativen Charakter der höfischen Kultur erschwert wird. Aus diesem 56 Vgl. Fischer, Hubertus: Gewalt und ihre Alternativen. Erzähltes politisches Handeln in „König Rother“. In: Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter. Symposium des Philosophischen Seminars der Universität Hannover vom 26. bis 28. Februar 2002. Hg. v. Mensching, Günther. Würzburg 2003 (Contradictio 1), S. 204 – 234, hier S. 209.

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Grund berufen sich die Dichter auf das Wissen des Publikums, dessen eigene Erfahrungen bei der Inszenierung von Repräsentation und bei der Entzifferung von höfischem Benehmen, um es dazu zu bewegen, über die Schwierigkeiten nachzusinnen, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Die Dichter machen dies oft, indem sie sich auf Täuschungsindizien oder Sinnestäuschungen stützen, die eine überraschte oder gar eine begeisterte Reaktion beim Publikum hervorgerufen hätten. Das mit der listigen Art höfischen Benehmens vertraute Publikum hätte sich dann gefragt, wie sich der König und sein Hof von solch augenfälligem Betrug hatten täuschen lassen können. Wenn Dichter Momente der misslungenen Lügenaufdeckung inszenieren, nehmen sie Stellung zur Instrumentalisierung symbolischer Kommunikation. Auch wenn sie nicht immer Verstellung als unethisch oder unmoralisch erklären, erinnern sie das Publikum daran, wie wichtig kritisches Wahrnehmen für das Wohl des Hofes ist. Sie verdeutlichen, dass Beurteilung ist nicht nur Rolle des Herrschers, sondern auch zur Aufgabe des ganzen Hofes gehört. Schließlich erinnern die Dichter das Publikum daran, wie es auch ganz leicht Betrug zum Opfer fallen könnte, und sie warnen, dass wenn etwas zu gut um wahr zu sein scheint, dies dann wahrscheinlich auch der Fall ist.

Ann Marie Rasmussen (Waterloo)1

Problematizing Medieval Misogyny. Aristotle and Phyllis in the German Tradition

Knowledge may be power, but knowledge can also make the knower the butt of jokes. The esteem enjoyed by philosophers and the social prestige of the learning and wisdom they embody make them ideal targets for humor, as these two lightbulb jokes, a common form of American humor, demonstrate: How many Buddhist masters does it take to change a light bulb? Three: One to change it, one not to change it, and one to both change it and not change it. How many Marxists does it take to change a light bulb? None. Each light bulb contains within itself the seeds of revolution.

There is nothing new in poking fun at philosophers and their theoretical rather than empirical ways of knowing the world. Petronius’s “Satyricon” (1st century CE) features one of the most famous dinner parties in world literature, a drunken debauch hosted by the unspeakably vulgar and unbelievably wealthy freedman, Trimalchio. At one point, Trimalchio describes a huge, commemorative funeral monument he intends to have built for himself. Trimalchio itemizes a vast and incoherent iconographical program chiefly distinguished by its embrace of every possible clich¦ known to Roman funeral art. Then Trimalchio dictates the tomb’s, that is to say, his own epitaph, concluding with the following, idealizing (or delusional) self-description:

1 Warm thanks to Isabelle DeMarte, Sara S. (Sally) Poor, F. Regina (Gina) Psaki, Kathryn Starkey and Olga V. Trokhimenko for their incisive comments and careful reading of various drafts. Thank goodness for friends who share their knowledge freely, save one from infelicities and error, and discern order where one sees only chaos. Earlier versions of this paper were given as talks at the University of Vienna (2009); the University of Bamberg (2010); Lewis and Clark College (2011); Duke University (2013), and the University of Waterloo (2015). Special thanks to my wonderful hosts, Professor Dr. Matthias Meyer (Vienna) and Professor Dr. Ingrid Bennewitz (Bamberg).

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Ann Marie Rasmussen

Pious and courageous, A loyal friend, He died a millionaire Though he started life with nothing. Let it be said to his eternal credit That he never listened to philosophers. Peace to him. Farewell.2

Two registers of social identity clash at Trimalchio’s banquet: the man of business and the man of learning. Inflected by the historically distinct social categories of freedman and citizen, this satire goes both ways. Trimalchio’s overthe-top vulgarity and ostentation were clearly created to satirize businessmen, but the author, probably Petronius, and doubtless a highly educated member of the senatorial class and something of a philosopher himself, also creates a perfect self-satiric moment for suggesting the real world uselessness of philosophy. To millionaire Trimalchio’s way of thinking, his most significant accomplishment, the final one named, which will be repeated long after his death and bring him the greatest recognition (‘eternal credit’) is simple: he ignored philosophers entirely.

Aristotle as a Love Slave, or The Mounted Aristotle The carnivalesque and satirical genres of the late Middle Ages treated philosophers with similar disdain, delighting in presenting worldly success and great learning as antithetical to one another.3 Not above mockery was even the immortal Greek philosopher, Aristotle, whose thought is foundational to virtually every branch of modern knowledge, and whose status as the greatest of all ancient philosophers was so secure in the high and late Middle Ages that Dante saw no need to name him (“Inferno”, 4, 130 – 35, in Robert and Jean Hollander’s translation): When I raised my eyes a little higher, I saw the master of those who know, sitting among his philosophic kindred. 2 Quoted from Clarke, John R.: Art in the Lives of Ordinary Romans: Visual Representation and non-elite Viewers in Italy, 100 B.C. – A.D. 315. Berkeley 2003, p. 185 – 86. Translation from Petronius Arbiter, Satyricon. Trans. by Arrowsmith, William. Michigan 1959, p. 70 – 72, here p. 71. 3 See for example Aesop’s story of the astronomer, or a Novellino tale (c. 1280) about Thales of Miletus, who falls into a ditch because he is gazing at the sky (online in English at http://www. elfinspell.com/Novellino2.html). My thanks to Gina Psaki for these references.

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Eyes trained on him, all show him honor. In front of all the rest and nearest him I saw Socrates and Plato.4

The works we now know to have been authored by Aristotle were largely rediscovered and retranslated in the late Middle Ages in the cathedral schools in France, where they represented something of a new and fashionable philosophical trend. In German-speaking lands, Aristotle’s reputation as the greatest of all philosophers was largely based on reputation rather than familiarity with his works, his name being chiefly, and falsely, associated with the popular, encyclopedic compendium of natural philosophical arcana, the “Secreta secretorum”.5 This tradition overlaps with and reinforces Aristotle’s best known role as a stock figure in the Alexander epics and legends that flourished throughout the Middle Ages, in which he is Alexander’s tutor and teacher, the learned advisor to a man destined to be a political leader in the secular world. At the same time, Aristotle eked out a second existence as a figure of fun and mockery in Europe and in German-speaking lands. Beginning in the thirteenth century, Aristotle appears everywhere, in texts and in visual representations, as a slave of love, a reincarnation of the ancient folkloric motif of the wise man tricked and humiliated by a beautiful woman. The image of Aristotle as a love slave is instantly recognizable. A bearded man, often in scholar’s robes, crawls on all fours, in his mouth a bridle. Seated on his back riding him is a well-dressed young woman, holding the reins and sometimes brandishing a whip. This motif, known as ‘the mounted Aristotle’ (‘der gerittene Aristoteles’), was wildly popular throughout Europe for three hundred years, appearing in virtually all media, from textiles to woodcuts, church capitals, misericords, wall paintings and decorative objects.6 In German-speaking lands, an image of the mounted Aris4 Dante Alighieri, Inferno. Trans. by Hollander, Robert and Jean. Introduction and notes by Hollander, Robert. New York 2002, p. 75. 5 Volker Honemann writes that many of the works we now know Aristotle to have authored were unknown in the Middle Ages, and his known works, translated into Latin, were not widely read. (Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon. Ed. by Keil, Gundolf, et al. 14 vols. Berlin 1977, here volume 1, columns 436 – 50). An important exception to this rule is in France. In the later part of the fourteenth century, Nicole Oresme undertook French translations of Aristotle’s known philosophical texts for his patron, Charles Vof France, which are preserved in sumptuous illuminated manuscripts. See Sherman, Claire Richter : Imaging Aristotle: verbal and visual representation in fourteenth-century France. Berkeley 1995. There appears to have been little or no reception of these translations in German-speaking lands. 6 A fine survey of medieval objects portraying the mounted Aristotle, or Aristotle as a love slave can be found in Ott, Norbert H.: Minne oder amor carnalis? Zur Funktion der Minnesklavendarstellungen in mittelalterlicher Kunst. In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Ed. by Ashcroft, Jeffrey, et al. Tübingen 1987, pp. 107 – 125, here pp. 115 – 118. See also Herrmann, Cornelia: Der “gerittene Aristoteles”: Das Bildmotiv des “Gerittenen Aristoteles” und seine Bedeutung für die Aufrechterhaltung der

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totle appeared in a program of late fourteenth-century wall paintings that once adorned the west wall of the so-called Hansa Room of the Town Hall of Cologne, at the time the largest city in northern Europe and a burgeoning center of economic wealth and power.7 Images of the mounted Aristotle often appeared in such public, political, and secular settings. The image of the mounted Aristotle refers to a widely known story, which first appears in Latin exempla and quickly thereafter in vernacular versions.8 In her brilliant study of the medieval discourse of the power of women, Susan L. Smith summarizes the shared plot of the many versions of this popular tale, often known collectively as “Aristotle and Phyllis”: Aristotle was serving as a tutor and counselor to the young emperor Alexander when he had occasion to chastise his pupil for being excessively preoccupied with his beautiful mistress (wife, in some versions of the story). Angered, the lady resolved to take revenge. One day as Aristotle was working in his study, she appeared outside his window, cavorting about with skirts provocatively raised. As she intended, the sight of her charms so captivated the old philosopher that he begged for her sexual favors. She consented, but only on the condition that first, he would allow her to ride him like a horse. Aristotle willingly agreed. The lady, however, had no intention of keeping her part of the bargain, and when the time came for Aristotle to do as she had demanded,

gesellschaftlichen Ordnung vom Beginn des 13. Jhs. bis um 1500. Pfaffenweiler 1991, pp. 95 – 98. Foundational for the analysis of these images and objects remains Smith, Susan L.: The Power of Women: A Topos in Medieval Art and Literature. Philadelphia 1995. 7 The Hansa room was used for public and semi-public functions such as hearings, meetings, and civic festivities, and west wall’s series of medallion-like vignettes refer to fabliaux-type themes: from a bagpipe player, to Samson, to the mounted Aristotle. The paintings are known only from tracings and paintings from ca. 1864, of fragments found and subsequently destroyed during extensive renovations. The west wall paintings faced a series of paintings of wise men on the east wall. This set may have included Aristotle as well, so the philosopher might have been present twice in this room. See Buchmann, Nicole: Die Malereifragmente aus dem Hansasaal. In: Köln: Das gotische Rathaus und seine historische Umgebung. Ed. by Geis, Walter and Krings, Ulrich. Cologne 2000, pp. 415 – 438. 8 The first European appearances of the story of Aristotle as love slave appear in the early thirteenth century in France: a Latin exemplum by Jacques de Vitry and an Old French story, the “Lai d’Aristote”, once attributed to Henri d’Andeli but now believed to have been authored by Henri de Valenciennes. See Corbellari, Alain: La Voix des Clercs: Litt¦rature et savoir universitaire autour des dits du XIIIe siÀcle. GenÀve 2005, in which Corbellari describes how he and FranÅois Zufferey have convincingly reassigned authorship. Bernhard Sowinski has published an excellent survey of the German language materials: Sowinski, Bernhard: Aristoteles als Liebhaber in den deutschen Dichtungen des Spätmittelalters. In: Archiv für Kulturgeschichte 69 (1987), pp. 315 – 329. Earlier, Joachim Storost surveyed the entire European tradition, including Latin sources and ancient analogues, Storost, Joachim: Zur Aristoteles-Sage im Mittelalter : Geistesgeschichtliche, folkloristische und literarische Grundlagen zu ihrer Erforschung. In: Monumentum bambergense: Festgabe für Benedikt Kraft. Ed. by Nottarp, Hermann. Munich 1955, pp. 298 – 348. The best modern study of the motif of Aristotle as a love slave is in Smith [note 6].

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she arranged for Alexander to be present to witness her triumphant ride and Aristotle’s humiliation.9

Typically called w„se (‘wise’) and meister (‘master’), Aristotle is nevertheless bested by a young woman, who uses her youth and beauty to entrap him. The young woman’s guile and seductiveness illustrate an age-old, misogynist belief that women possess an inherent, erotic cunning that they deploy strategically to exploit men. In Middle High German, this quality is called w„bes list (‘the wiles of women’). A passage from a fifteenth-century carnival play, “Der Bauer und der Bock” (‘The Peasant and the Billy Goat’), illustrates this negative meaning of the term list, which in other contexts can simply be a neutral or even positive term for knowledge or craft. More importantly, the male speaker of this passage also asserts his belief in the universality of men’s vulnerability to the wiles of women. Kein man mag sich vor ir gefristen, Die teuschen in mit iren listen. (ll. 87 – 88) ‘No man can save himself from women; they defraud him with their wiles.’10

In this context, list means craftiness, slyness, or skilled trickery ; w„bes list is a gendered form of deceit.11 In this reading, the image of the mounted Aristotle is also an image of the world turned upside down and represents the overturning of proper gender relations. Yet the mounted Aristotle motif also mocks a male authority figure that stands for a specific late medieval form of masculine identity formation. To the modern world, Aristotle is a thinker, a philosopher. To the medieval world, he was a thinker-philosopher, a schoolmaster to the rich and famous (Alexander the Great), and so, by definition, a cleric: a scholar-churchman in a minor order preceding ordination to the priesthood. Clerics were neither priests nor monks, but the elimination of clerical marriage and of licit concubinage begun in the eleventh century by the Gregorian reforms applied to them as well. By the thirteenth century, clerics were professionally debarred from marriage, which was a virtual prerequisite for men who wished to attain secular positions of 9 Smith [note 6], p. 66. 10 Der Bauer und der Bock (K 46). Cited from: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts. Ed. by Wuttke, Dieter. Stuttgart 1989, pp. 13 – 19. 11 For the positive sense of list see for example Wolfram’s “Parzival” (127,14), Herzeloyde says to her departing son, Parzival: dune solt niht hinnen kÞren, ich wil dich list Þ lÞren (‘You mustn’t leave here before I have given you some advice’). Wolfram von Eschenbach, Parzival and Titurel. Transl. by Edwards, Cyril. Oxford 2006, p. 55. Or the poet, Walther von der Vogelweide, writes: heiliger Krist, gip mir die list daz ich in kurzer frist alsam gemeine dich sam d„n erwelten kint (‘Holy Jesus, give me the knowledge so that I, in short order, am joined to you as your chosen child’, L 123,30). On the various concepts of list see the excellent essays in: Die List. Ed. by von Senger, Harro. Frankfurt am Main 1999.

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power and authority. Clerics were therefore not only unmarried, they were also in theory (though often not in practice) celibate. Writing about the Gregorian reforms of the eleventh century, historian Maureen Miller has closely investigated changes in portrayals of clerical power as it relates to the formation of new notions of clerical masculinity, changes that had far-reaching consequences in the high and late Middle Ages. What the clergy were struggling to define was not “emasculinity” but an extreme masculinity – one more radically distanced from female impurity and one more powerful by virtue of its freedom from familial entanglements. This struggle had highly significant consequences for gender relations in Western Europe. In the long run, these clerical attempts to define a new masculinity did not prevail, and lay discourses of masculinity remained hegemonic. This competition between lay and clerical men, I would like to suggest, was a significant factor in the rise of misogynist discourse that is so pronounced in Western European sources of the High and Late Middle Ages.12

There was a rift at the heart of late medieval notions of masculinity, a high stakes contest for power between secular and clerical notions of masculinity. The fourteenth- and fifteenth-century German tales and plays taking up the motif of the mounted Aristotle participate, I will argue, in this struggle. They make fun of Aristotle in a way that shows theoretical knowledge and clerical learning as deceitful, or ineffective, or both. As Bernhard Sowinski suggests, “the story of the mounted philosopher became fashionable not only as a moral warning against women’s wiles, but also as to satirize the new, trendy philosopher.”13 The tales of Aristotle and Phyllis enact a struggle between the clerical world, or meisterschaft, and the secular world, or list. Aristotle’s humiliation is the revenge of the secular world, figured as the sexual world. The world of list, of empirical, pragmatic, practical knowledge constructs the clerical world of meisterschaft as riddled with hypocrisy, which it overcomes by means of public exposure and humiliation.

The Problem of Misogyny The claim I am making in this essay is that the female protagonist, the one who rides Aristotle, can stand for the triumph of vernacular, secular culture. I am not arguing that medieval women were illiterate, or that medieval women as readers 12 Miller, Maureen C.: Masculinity, Reform, and Clerical Culture: Narratives of Episcopal Holiness in the Gregorian Era. In: Church History 72/1 (2003), pp. 25 – 52, here p. 28. 13 “Es ist zu vermuten, daß die Erzählung vom gerittenen Philosophen nicht nur aus moralischen Warnungen vor der List der Weiber in Mode kam, sondern auch als Satire auf den neuen Modephilosophen.” Sowinski [note 8], p. 319.

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were rare. The historical evidence, which we are nowhere near to fully discovering and understanding, in fact suggests the opposite, that women played key roles in the advancement of vernacular literacy.14 Yet the world of the cleric, the world of higher learning as we would call it (philosophy, theology, and natural science) was conducted in Latin and was closed to women. Latin was, in Walter J. Ong’s memorable phrase, “a sex-linked language” that represented a collective identity, a prestigious, powerful, homosocial, and celibate world of learning. The vernacular languages, on the other hand, were used by men and women, and by clerics and laymen alike. The cleavage between the vernacular world and the Latin world did not coincide with the division between literacy and illiteracy but it did coincide […] with a division between a world in which woman had some say and an almost exclusively male world.15

In such a world, the contrasting pair, Latin man and vernacular woman, made perfect symbolic sense.16 Arguing that the female protagonist stands for secular, vernacular culture must still address fundamental concerns. Such a thesis appears to fly in the face of the anti-feminine stereotypes and commonplaces that are freely expressed in the tales of the mounted Aristotle. The early thirteenth-century Latin exempla exonerate Aristotle and blame women. In them, the old master himself explains that his downfall in fact illustrates a greater truth: If indeed the malice and cunning of the woman so prevailed that she deceived and held an old man captive, the most prudent of all mortals, and who has argued with many great masters, it demonstrated to me how much more power she might have over you [whom she could so much more easily] deceive, allure, and defraud, unless you guard against her [through] my example.17 14 On this topic, see the excellent, forward-looking study by Green, Dennis Howard: Women Readers in the Middle Ages. Cambridge 2007. 15 Ong, Walter J.: Latin Language Study as a Renaissance Puberty Rite. In: Studies in Philology 56/2 (1959), pp. 106 – 109, quoted by Noble, David F.: A World without Women: The Christian Clerical Culture of Western Science. New York 1992, p. 151. See also Green [note 14]; Solterer, Helen: The Master and Minerva: Disputing Women in French Medieval Culture. Berkeley 1995, for example pp. 125 – 130; and Poor, Sara S.: Mechthild von Magdeburg, Gender, and the ‘Unlearned Tongue’. In: JMEMS 31/2 (2001), pp. 213 – 250. 16 Gary P. Cestaro explores the intellectual and symbolic working out of this binary in the writing of Dante, elaborating Dante’s rejection of the nursing body, i. e. of nurturing corporeality, as a prerequisite to rational language and selfhood. See Cestaro, Gary P.: Dante and the Grammar of the Nursing Body. Notre Dame 2003. 17 This excerpt from Jacques de Vitry’s retelling of the story in his “Sermones Feriales et Communes” (ca. 1229 – 1240) is translated by Arrathoon, Leigh A.: Jacques de Vitry, the Tale of Calogrenant. La Chastelaine de Vergi, and the Genres of Medieval Narrative Fiction. In The Craft of Fiction: Essays in Medieval Poetics. Ed. by Arrathoon, Leigh A. Rochester 1984, pp. 281 – 368, here p. 295 – 296.

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The core belief in this Latin example is that the entire female sex, stereotypically understood to be devious by nature, is to blame for men’s sexual vulnerability.18 Restated, the problem of medieval misogyny in this essay is: if the female protagonist is denigrated by the tale’s misogyny, how can she possibly represent the triumph of the secular world, the victory of the world of pragmatic knowledge? Answering this question means re-thinking our approach to medieval misogyny. The chief obstacle to this intellectual enterprise comes not from the medieval Aristotle and Phyllis tradition, as we shall see, but rather from the modern belief that misogyny was accepted as universal, unquestioned truth throughout the Middle Ages. Writing about Boccaccio’s literary corpus and arguing that his “Corbaccio” satirizes men’s fear of women rather upholding, as some have argued, its misogynist teachings, Gina Psaki states that [b]ecause the misogynous strain in medieval writing is overwhelmingly considered in modern scholarship to represent a broad cultural consensus, a critic must marshal overwhelming evidence to claim that a text containing or comprising misogynist topoi is parodic or even ambiguous.19

Marshalling that evidence in support of this essay’s claims begins by understanding medieval patriarchy, not as being simple or monolithic but rather, to speak with the historian Judith Bennett, as being “contingent, constructed, and subject to change.”20 This in turn can help us approach medieval misogyny historically, that is to say, as a set of beliefs that seeks to consolidate power relationships between men and women, that changes over time, and that can be analyzed. Scholars of medieval Romance studies such as F. Regina Psaki, Marilyn Migiel, and Julian Weiss have led the way in this regard.21

18 The misogynist beliefs enacted in the mounted Aristotle material come close to flatly contradicting another set of misogynist beliefs that were prevalent in the Middle Ages, namely, that women are over-sexed and less able to control their sexual desire than men. The women in Neidhart’s poetry and in the many works falsely attributed to him, enact this belief. Their sexual desire overpowers good judgment. In the mounted Aristotle texts, men’s sexual desire overpowers good judgment. The women in the mounted Aristotle texts then exploit what is presented as men’s heightened susceptibility to sexual desire. We glimpse here the kinds of contradictions out of which ideologies are made. See especially Psaki, F. Regina: The Traffic in Talk about Women: Cultural Traffic in Medieval Texts and Medieval Studies. In: Journal of Romance Studies 4/3 (2004), pp. 13 – 34, especially pp. 21 – 22. 19 See Psaki, F. Regina: Women Make All Things Lose their Power : Women’s Knowledge, Men’s Fear in the Decameron and the Corbaccio. In: Heliotropia 1/1 (2003). No page numbers in the original. 20 Bennett, Judith: History Matters: Patriarchy and the Challenge of Feminism. Philadelphia 2006, p. 60. 21 http://www.brown.edu/Departments/Italian_Studies/heliotropia/01 – 01/psaki.html; Migiel, Marilyn: A Rhetoric of the Decameron. Toronto 2003; and Weiss, Julian: “Que demandamos de las mugeres?”: Forming the Debate about Women in Late Medieval and

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Presupposing that the entire, vast repertoire of adaptations, retellings, and citations of the story of the mounted Aristotle merely offers up a single, simple, misogynist truth claim loses sight of the contingent, constructed, and contradictory nature of such thought systems. It also loses sight of the interpretive openness that inheres on principle in products of the human imagination such as literature and art. As Marija Javor Brisˇki suggests in the title of her recent article, the meaning of the mounted Aristotle motif is not fixed, but rather ambivalent.22 To paraphrase Susan L. Smith, there is no ‘authentic’ tale of the mounted Aristotle, and no two Aristotle tales are the same. The meanings remain in principle open-ended and more than one meaning can be implied.23 Finally, focusing on misogyny as the single, simple moral of the Aristotle and Phyllis story overlooks contradictory medieval evidence. The Old French “Lai d’Aristote” distances itself from Aristotle’s misogyny, which it presents as Aristotle’s desperate attempt to save his own skin rather than the real lesson.24 The medieval German tales and plays of the mounted Aristotle grapple with the tale’s misogyny as a problem. The German tales side to varying degrees with the female protagonist, adopting various strategies to rehabilitate her as a virtuous and worthy woman, to strengthen her symbolic role as a positive figuration of the secular world, and to accentuate the story’s anti-clericalism. At the same time, the tales downplay or relativize the misogynist truth claims that travel, as it were, with this material. The Nuremberg carnival plays take a different approach. In them, the misogyny of the mounted Aristotle tradition is assimilated to the texts’ general anti-clerical and anti-noble sentiment, so that their general antifeminine tone represents but one negative stereotype among many. The medieval German Aristotle and Phyllis material strives to contain, satEarly Modern Spain (with a Baroque Reponse). In: Gender in Debate from the Middle Ages to the Renaissance. Ed. by Fenster, Thelma and Lees, Clare A. New York 2002, pp. 237 – 274. 22 Brisˇki, Marija Javor: Eine Warnung vor dominanten Frauen oder Bejahung der Sinnenlust? Zur Ambivalenz des ‘Aristoteles-und-Phyllis-Motivs’ als Tragezeichen im Spiegel deutscher Dichtungen des späten Mittelalters. In: Erotik, aus dem Dreck gezogen. Ed. by Winkelman, Johan H. and Wolf, Gerhard. Amsterdam 2004 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 59), pp. 37 – 66. 23 An earlier survey of most of the same textual material discussed in this essay and in Brisˇki’s, Hedda Ragotzky’s thoughtful essay remains within the interpretive framework of “world turned upside down.” Ragotzky’s essay also emphasizes “wie frei verfügbar und in seinem Sinnpotential offen das Aristoteles-Exempel im Kontext ‘verkehrter Welt’ war,” which is consonant with Smith’s approach. Ragotzky, Hedda: Der weise Aristoteles als Opfer weiblicher Verführungskunst: Zur literarischen Rezeption eines verbreiteten Exempels “verkehrter Welt”. In: Eros – Macht – Askese: Geschlechterspannungen als Dialogstruktur in Kunst und Literatur. Ed. by Bachorski, Hans-Jürgen and Sciurie, Helga. Trier 1996, pp. 279 – 301, here p. 300. 24 Le Lai d’Aristote de Henri D’Andeli. Ed. by Delbouille, Maurice. Paris 1951; note that the author attribution in the title of this edition has been overturned by Corbellari. See Corbellari [note 8], especially chapter 4, “Le clerc et la femme”.

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irize, or denigrate clerical learning. In this they resemble the “Lai d’Aristote”, in which the butt of the joke is not the woman or her wiles, but rather the figure of Aristotle, the putatively wise man, who is revealed as a hypocrite.25 Yet to varying degrees some of the German texts also cling to the anti-feminine message of the mounted Aristotle material. What cultural work, then, is this misogyny doing? I have recalled that the high and late Middle Ages were characterized by different, competing notions of masculinity. The many debate poems on whether a cleric or a knight makes a better lover, especially prominent in Old French, are but one literary reflection of this competition. The fierce rivalry between secular and clerical registers of masculinity was a significant factor in the rise of misogynist discourse that is so pronounced in Western European sources of the High and Late Middle Ages. The mounted Aristotle material enacts this competition between rival forms of masculinity ; the young, secular prince Alexander and his clerical tutor, Aristotle, are in love with the same woman. At the same time, Aristotle offers up his misogynist truth claims to bring about a momentary ceasefire between male combatants. Misogyny offers a ‘way out,’ a horizon of shared expectations for maintaining male privilege and female disadvantage. The function of misogyny is to set a limit on the struggle between the clerical world, meisterschaft, and the secular world, list. Or to put it slightly differently, the misogyny of the mounted Aristotle stories mystifies and makes acceptable a conflict between meisterschaft and list in which list wins.

Mounted Aristotle in the Courtly Mode Three Middle High German texts, designated here by the library that holds or held the manuscript, share a basic orientation. They retell the story of the mounted Aristotle in a manner deeply indebted to the ideology of courtly love, dubbed by one of the texts (Strasbourg) strenge Minne (‘lofty or stern love’).26 Strasbourg, Munich, and Philadelphia represent the female protagonist as a virtuous, well-born woman, and the love affair between her and Alexander as a healthy, positive relationship that is a source of happiness, and indeed moral perfection for men. Strasbourg and Munich are closely related late thirteenthcentury texts. They name the female protagonist as Phyllis, which led in turn to 25 See Corbellari [note 8]. 26 For a detailed and informative discussion of the Strasbourg version’s use of courtly discourse see Cieslik, Karin: Sinnkonstitution und Wissentradierung im spätmittelalterlichen Märe Aristoteles und Phyllis. In: Von Mythen und Mären: mittelalterliche Kulturgeschichte im Spiegel einer Wissenschaftler-Biographie: Festschrift für Otfrid Ehrismann zum 65. Geburtstag. Ed. by Marci-Boehncke, Gudrun and Riecke, Jörg. Hildesheim 2006, pp. 173 – 189.

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modern German scholarship titling the story, “Aristoteles und Phyllis”.27 The third text, a fifteenth-century text that to judge from its dialect comes from Franconia, calls her, simply, Regina (‘the Queen’). The female protagonist’s seduction of Aristotle is presented in all three texts as vengeance – still a legitimate political weapon in the late medieval secular world. The point of Aristotle’s humiliation in these stories is to repudiate him for what the texts style as his improper interference in the righteous and appropriate relationship between her and Alexander. Strasbourg, Munich, and Philadelphia strengthen the anti-clerical satire, while experimenting with taking the side of the female protagonist and with showing her as capable of positively representing the secular world. All three texts struggle with and complicate the tale’s misogyny. They disagree among themselves on whether or not list is an essentialist category pertaining to all women. While all three texts illustrate the ultimate triumph of the secular world over the learned one, they also grapple with the problem of the female protagonist representing the secular world, a struggle that manifests itself in their different treatments of the topic of women and their list. Let us begin by examining the Strasbourg version.28 Containing no fewer than three long digressions on the topic of w„bes list, its participation in the misogynist discourse of the Latin exemplum is manifest. At the closing, for example, the narrator underscores that the story of the mounted Aristotle has taught him a true lesson, and he repeats the misogynist commonplace that women exploit men, who are utterly vulnerable to them:

27 Klaus Grubmüller’s excellent edition, reconstructed from what we know of the Strasbourg manuscript, which was destroyed in 1870, follows modern practice in titling the text “Aristoteles und Phyllis”; Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Ed. by Grubmüller, Klaus. Frankfurt am Main 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), pp. 492 – 523 and pp. 1185 – 1196. However, as Grubmüller points out on page 1191, the text’s titles in medieval manuscripts refer only to Aristotle (“Von dem weysen Aristotiles”, in the manuscript Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, 408), or mention not Phyllis but rather Alexander (“Dis seit von Allexander und Alestotiles”, Strasbourg, St. John’s Manuscript A94, destroyed). The Strasbourg manuscript’s title thus supports this article’s argument regarding rivalrous masculinities. For a modern German retelling see: Aristoteles und Phyllis. In: Schwankerzählungen des deutschen Mittelalters. Ed. by Fischer, Hanns. Munich 1967, pp. 5 – 15. 28 For details Grubmüller [note 27]. As is well known to medieval Germanists, the manuscript Strasbourg, St. John’s Manuscript A 94, one of the earliest and most important compilations of rhymed couplet texts in medieval German, was destroyed during the siege of Strasbourg in 1870. An excellent and useful reconstruction of the manuscript has been undertaken by Sprague W. Maurice: The Lost St. John’s Manuscript A 94 (“Strassburger Johanniter-Handschrift A 94”): Reconstruction and Historical Introduction. Göppingen 2007 (GAG 742). See also Codex Karlsruhe 408. Ed. by Schmid, Ursula. Bern 1974, pp. 348 – 362.

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Ich bin des komen überein, daz d–vür niht gehelfen kan, wan daz in iegel„ch w„se man, der gerne –ne vreisen s„, s„ ir geselleschefte vr„ und vliehe verre von in dan; wan anders niht gehelfen kann. (ll. 548 – 554) ‘I have come to the realization that nothing can protect one against women’s wiles. Let the wise man who wishes to be free of this terror shun their companionship and flee far from them. Nothing else will help.’

Yet other aspects of the Strasbourg version complicate this explicit misogyny. It makes Alexander and Phyllis children, thereby reducing their culpability and moving their love affair decidedly under the sheltering umbra of the convention of devoted child lovers known from medieval romance such as “Floire et Blancheflor”, recounted in virtually every vernacular language from the thirteenth century onwards.29 Phyllis is consistently described as virtuous and good, and she is also clever. Represented as having innate knowledge of the power of her youth and beauty, she comes up with the plan to seduce Aristotle by herself. Yet Phyllis is not the culprit here. To blame rather for the situation is courtly or chivalric love, hohe Minne or strenge Minne, which has captured these two children, whose love for one another conforms to the notions of aristophilia developed by James A. Schultz in his book on courtly love as a form of aristocratic self-fashioning.30 This context weakens the misogynist logic of the tale, which is further undercut by the presence in the Strasbourg version of a virtuous noblewoman, Alexander’s mother, Olympia, who must have been familiar to many medieval audiences through her many appearances in the Alexander story, popular throughout German-speaking lands.31 There is an inherent tension in Strasbourg between its misogynist pronouncements and the fact that the text supports marriage, glorifies courtly love, and presents the female characters as being virtuous. This tension is not merely a function of modern perspective, for it is directly addressed in the text. A digression on the topic of w„bes list retards the action just as Phyllis is about to 29 For the European tradition (except Germany, which is not treated) see Grieve, Patricia E.: Floire and Blancheflor and the European Romance. Cambridge 1997 (Cambridge studies in medieval literature 32). On the medieval German tales of Floire and Blancheflor see Altpeter-Jones, Katja: Trafficking in goods and women: love and economics in Konrad Fleck’s Flúre und Blanschefl˜r. Dissertation Duke University 2003 (http://library.duke.edu/ catalog/search/recordid/DUKE003265410). 30 Schultz, James A.: Courtly Love, the Love of Courtliness, and the History of Sexuality. Chicago 2006. 31 See the essays of Markus Stock (pp. 239–259) and Julia Zimmermann (pp. 261–279) in this volume.

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mount Aristotle. This excursus reframes the tale’s misogynist claims by asserting that only some women are deceitful: Diu w„p sint alle niht alsú. w„p machent manic herze vrú, daz in sorgen wære begraben. wil ir in teil niht Þre haben, noch kiuschen sin, noch stæten muot, daz schat den niht, die sint behuot und vr„ von aller misset–t. t˜sent w„be tugende h–t ein w„p. ob keiniu wære bœse und wanderbære, w– solte man erkennen b„, welhiu wære missewende fr„? (ll. 453 – 464) ‘Not all women are like this. Women make many a heart glad that would otherwise be buried in sorrow. If some of them don’t have honor, or chastity, or constancy, let that not harm those who are vigilant and free of all misdeeds. One woman can possess the virtues of a thousand. If there were none who were low and fickle, how would we recognize those who are free of all reproach?’

The universality of the misogynist claim that women are by nature deceitful has just been set aside. Intervening at a critical moment in the narrative, this passage explicitly offers the reader a different interpretive framework for understanding women by introducing the pro-feminine praise of women discourse to the story. Arguing implicitly that Phyllis is an exception rather than the rule, the digression undercuts what modern readers would call the essentialist foundation of the misogyny inherent in the motif of women’s wiles, namely, that duplicity, deceit, and cunning categorically inhere in the entire female sex. The passage individualizes, interestingly enough, not female virtue, but rather female vice. Instead of generalizing on the evils of women, the passage differentiates between those women who are virtuous and those who are not, and admonishes its readers to do the same, reminding them that vice serves the dialectical purpose of allowing virtue to be recognized as such. The implicitly universal claims of the story’s misogynous core are even undercut at the end. The tale closes with a pr¦cis of the book on w„bes list that Aristotle, self-exiled to an island, intends to write, in which he will argue that not all beautiful women are trouble, only those who are beautiful, yet untrustworthy : waz wunderl„che liste kann daz schœne ungetriuwe w„p, und wie diu leben unde l„p manigem h–t versÞret; (ll. 538 – 541)

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‘[It will tell] about the baffling tricks known to the kind of woman who is beautiful, yet fickle and how such women have damaged the life and person of many a man.’

Aristotle sitting alone and far from court on an island, angrily denouncing women for his own failings: surely this is intended not as tragedy but as comedy. The narrator’s closing deliberation (ich bin des komen überein, l. 548) that exile far from all women is indeed the only way to avoid being enchanted by them (wan anders niht gehelfen kan, 1. 554) amplifies this comic tone. For what sane man, in the end, would wish for either fate, to lose the company of women, or to sit friendless and isolated on an island writing books? Both outcomes are, in the end, laughable. The Strasbourg version recognizes the contradictions of its own misogyny as such and grapples with the contradictions generated by this insight. It oscillates between deploying and then taking back its universalizing, anti-feminine argument. The Munich fragments were recovered in the 1970s and originally dated to the early 1200s. Karin Schneider’s conclusive re-dating of them to around 1300 makes this version contemporaneous with the Strasbourg version, to which it is very closely related.32 In Marija Javor Brisˇki’s formulation, “die lebenslange Verbundenheit von Alexander und Phyllis bestätigt […] die Richtigkeit ihres Vorgehens und rehabilitiert die sinnliche Liebe, die zuvor von Aristotles verurteilt wurde.”33 Yet there are interesting differences. A fragment of the Munich tale describes the female protagonist preparing to seduce Aristotle. As she is sitting in front of a mirror, dressing and adorning herself, the description draws the reader’s attention to the difference between her performance of seductiveness and her state of mind.34 Hier mogint ir horen wibes sin, ob ir mir des geloubet: do hienc sie uf ir hobet einen vil cleines houbet tuoch, 32 Rosenfeld, Hellmut: Aristoteles und Phillis: Eine neuaufgefundene Benediktbeurer Fassung um 1200. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 89 (1970), pp. 321 – 336. This article contains an edition of the fragments. Schneider, Karin: Die Fragmente mittelalterlicher deutscher Versdichtung der Bayerischen Staatsbibliothek München (Cgm 5249/1 – 79). Stuttgart 1996, p. 59. See also Jeffris, Sibylle: “Aristoteles (and Phyllis)”: Fabliau, maere, Spiel. In: Fifteenth-Century Studies 17 (1990), pp. 169 – 183. She argues that the Benedictbeuren fragments contain echoes of the Tristan story, which also contribute to legitimizing Phyllis and discrediting Aristotle. 33 Brisˇki [note 22], p. 44. 34 In lines 9 through 36, Phyllis adorns herself for the seduction attempt and her beautiful clothing, described at length, is worthy of a queen. It includes furs; a scarlet jacket or overdress (roc) that Alexander has had made; and silk ribbons or borders adorned with red gold.

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daz sie ze hochgeziten truoch, in eines spigelz glase sach sie, ob ein enige mase an irme libe were; al was ir daz herze swere. Sie mahte ir selber hochen muot, als noch vil maniger dicht tuot. (Fragment I, ll. 26 – 36). ‘Now you’ll hear the woman’s state of mind, believe it or not: as she was placing on her head the little scarf that she wore to festivities, she looked into a mirror to see if there was a single flaw on her body, and all the while her heart was heavy. As people often do, she talked encouragingly to herself.’

This passage creates a disparity between Phyllis’s outward, carefree appearance and her inner, sorrowful state of mind. Unlike the Strasbourg version’s female protagonist, who gambols about in front of Aristotle with a kind of childlike, unreflective glee, the Munich version’s Phyllis is sad, heavy-hearted, and anxious. She is shown talking herself into the seductive act: al was ir daz herze swere. / Sie mahte ir selber hochen muot, / als noch vil maniger dicht tuot. A moment of self-consciousness is being represented here that underscores Phyllis’s virtue and intelligence. This self-divided state tells the reader that the female protagonist is self-aware, that she comprehends the discrepancy between her authentic, virtuous self and the alluring power of her feminine beauty. Her grief (herze swere) suggests a sense of shame or guilt and indicates that she is troubled by the course of action she must undertake. It establishes Phyllis as a virtuous woman left with no choice but to deploy the only weapon at her disposal, her beauty, in a crisis precipitated by unreasonable and unjustified interference in a virtuous love affair. Phyllis’s self-divided state and her grief vindicate her and the secular world for which she stands. In the Philadelphia version, known as “Aristotiles und die Königin” (‘Aristotle and the Queen’), the transformation of Phyllis into a figure of exemplary virtue is complete.35 Now known as Regina, she is the first character introduced: “a pure queen of noble birth, and rich in gold” (ein kuniginne suberlich / van hoher art, van golde rich, l. 3 – 4). Philadelphia amplifies the love story between Alexander and the Queen: courtship, debates about love, exchanges of love promises, messages, and love letters occupy a large part of the story. The 35 Springer, Otto: Ein unveröffentlichtes Spiel von “Aristoteles und der Königin.” In: ZfdA 111 (1982), pp. 22 – 52. Regarding the hybrid form of this 800-line text, Eckehard Simon hypothesizes that it is ‘an unfinished attempt to dramatize a maere (the manuscript contains two maere) or to work it into a play.’ [“ein nicht abgeschlossener Versuch, einen Maerentext zu dramatisieren (die Hs. enthält zwei Maeren) oder ihn in einen Spieltext einzuarbeiten”], Simon, Eckehard: Aristoteles und die Königin. In: Verfasserlexikon. vol. 11, column 130 – 133.

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Philadelphia version is relentless: Regina and Alexander are persecuted, true lovers, and Aristotle is a villain.36 The hero of the story is Regina, who rescues true love, defending it with the only weapons she has at her disposal against the machinations of an old, meddling, debauched hypocrite, who is never rehabilitated in this text and who himself converts to the praise of women tradition at the end. In Philadelphia, list trounces meisterschaft. How does Philadelphia manage to reconcile its strong and utterly un-ironic claim that Regina is virtuous and praiseworthy with the alluring act she puts on to seduce Aristotle? First, it makes Aristotle’s seducer a queen, a woman whose beauty stands less for generalized, erotic feminine allurement and more for the rank, splendor, and power of her estate. A queen’s beauty has symbolic value that exceeds the merely sensual. Turning Phyllis into Regina, queen, re-contextualizes her response as a combination of grief and anger appropriate to her status as a lord and noble: Ach und ach der leider mere, die du mir brenges zu diessr kere. sulde ich nyt syn eyn trurich wijff, jae, ich moiss verliessen mynen lieff, das ich moiss scheiden van dem alrliebsten man, den ich uff erden ye gewan? / sulde myn hertz nyt dragen zorn? owe das ich ye wart geborn! (ll. 511 – 518) ‘Alas and alack, these grievous tidings, that you should bring me to this pass. Should I not be an unhappy woman? Oh, I must surely die, for I must bid farewell to the most beloved man whom I could ever find here on earth. Shouldn’t my heart bear anger? Alas, that I was ever born!’

The specific, emotional state of grief-anger enacted here would have been familiar to medieval audiences. Not simply an individual state of mind or feeling, it has a clear political meaning as well, being an emotional state appropriate to rulers, lords, or indeed anyone suffering from disordered political relations. A state of mind signaling an imbalance in the body politic that must be put aright, it is an emotional state of injury that anticipates healing action in the form of vengeance, which it both calls forth and justifies. Regina frames her plans as revenge. She uses the language of vengeance (vergelden): Der kunstige Aristotiles myt synem bart, / sage mir, wie ichs dem vergelden mach (ll. 551 – 553; ‘Shrewd Aristotle with his beard, tell me how to make him pay for this’). She also demonstrates the resolve that marks the 36 Although the text refers to Aristotle as Meister (lines 37; 111; 116) and wise (der weise man, lines 59; 87; 91), his actions negate this. Medieval texts count on their readers noticing when what is told about a character diverges from the character says or does.

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vengeful state, that is to say, the complete and unwavering commitment to right this wrong: she will do so or die trying. Ich wil auch zu diessr frijst dar zu keren alle myn list, wie ich den alden gauch brenge in noit, und sulde ich dar umb sterben doit (ll. 578 – 582) ‘Here and now, I will turn all my knowledge to the matter of causing the old fool terrible distress, even if it should cause my death.’

Further, in Philadelphia w„bes list is not innate or natural to all women. The queen herself is ignorant of womanly wiles and must socially acquire the knowledge and skills needed to seduce Aristotle, which she does by seeking the advice of a female servant who hatches the plan for her.37 Finally, Alexander himself is staged as an ardent spokesman for the profeminine tradition, which he often voices during his courtship of Regina in terms such as these: Als ich dicke woil vernomen, das eyn minnencliches frawen bilde zemet eynen man, der vor was wilde. (ll. 176 – 178) ‘For I have often heard tell that a lovable woman can tame the fiercest man.’

The text hammers home the point that Alexander is emphatically not only at but also on Regina’s side. He joins in the humiliation of Aristotle at the text’s end, shaking the bridle in the philosopher’s face and angrily unmasking him as a hypocrite. In this text, the triumph of the secular over the clerical world is total and complete.38 By engaging critically with the misogyny of the underlying exemplum, the courtly versions of the Aristotle and Phyllis story implicitly take the young woman’s side. The texts in Strasbourg and Munich versions oscillate between espousing misogyny and undercutting it. The Philadelphia version undoes the 37 The female intermediary training her charge is a familiar figure in medieval literature; see La Vieille in the “Roman de la Rose” or many mother figures. 38 Alexander’s speech, probably spoken while brandishing the bridle in Aristotle’s face, is quite drastic on this point: Sich a sich, was ist dass, / das uch der dubel werde gehas! / wie sit ir nu worden ein pert, / das uch der dubel sert! / sijt ir nu rasende worden / ader hait ir uwer wijssheit versorden? / Ich waynde, ir weret eyn wiser man, – / war hant ir nu uwer konst getane? (ll. 705 – 712). (‘Take a look at this, what do you think this is? / May the devil take you! / Look at you, turned into a horse, / may the devil screw you! / Have you lost your wits / or just fucked away all your wisdom? / I believed you to be a wise man. / Where have you put your learning now?’). In the “Lai d’Aristote”, by contrast, Alexander laughingly forgives Aristotle (en riant li rois li pardone, l. 514) and loves the lady more than ever for her successful revenge.

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story’s misogyny entirely and inverts blaming women into its opposite, praising them. Even the philosopher espouses this belief at the text’s end when he declaims that ‘no man was ever made truly happy except through women’ (nye keyn man wart recht froe / Dan alleyn van wiben, ll. 735 – 736). However surprising this statement may seem issuing from the mouth of Aristotle, it accords well with the criteria that appear to have governed the selection and revision of all the texts contained in the Philadelphia manuscript, which feature intelligent women positively and probe the relationship between female virtue and intelligence.39 In these three German tales, misogyny is fraught with contradictions, some of which the stories construct themselves.40 All three German tales of the mounted Aristotle are written in a courtly mode that stresses the female protagonist’s lack of culpability. She uses her beauty and youth because they are the only means at her disposal to right a wrong, defending against external meddling a legitimate love affair with a man of equal social standing sanctioned by the semi-divine force of stern love, strenge Minne. All three texts deploy the ideology of courtly love positively. It is assumed that this love affair will lead to a marriage or marriage-like arrangements, more specifically to a good marriage founded on the ethical principles of stern love, which respects women and educates men. Marriage hovers on the horizon of these texts as an ideal, a foundation of virtue and power in the secular world from which the clerical world is shut out.

The Mounted Aristotle in the Burlesque Mode: Nuremberg Carnival Plays Given his dual and contradictory status in the medieval imaginary as both master and dupe, Aristotle’s presence in the Nuremberg carnival plays is not surprising. In these comic texts, the victory of the secular world over the clerical world is total, final, and complete. At the same time, the Nuremberg carnival plays propose a variety of different solutions, none of them the same as those of the stories just discussed, to the problem that in the motif of the mounted Aristotle a woman stands for the triumph of the secular world. These novel solutions complicate the motif ’s latent misogyny in interesting ways. 39 See Poor, Sara S.: Sankt Katharina, Sankt Alexius und “der Scholer van Parijss”: Ästhetische Form und Gender als Ordnungsprinzipien im Codex 824 der University of Pennsylvania. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des deutschen Mittelalters. Ed. by Harms, Wolfgang et al. Stuttgart 2003, pp. 193 – 205, here p. 200. 40 The “Lai d’Aristote” argues that desire and love affect men and women equally : Amors l’esforÅa / Et Volent¦s, qui la force a / sor tus et sor totes ensamble (‘Love dominated him, and Desire, which prevail over all men and all women’; ll. 538 – 540).

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There are numerous passing references to the motif of the mounted Aristotle throughout the carnival plays, and three of them even enact the motif on stage. The youngest of these, Vigil Raber’s “Aristotiles der hayd” from 1511, portrays Aristotle as the comic embodiment of all the conventional attributes of a courtly lover.41 In the fifteenth-century Nuremberg carnival play, “Aristoteles der Meister” (‘Master Aristotle’), the secular world, dirty and deceitful though it may be, triumphs ecstatically over a clerical world depicted as hypocritically envious of the pleasures and power of the lay realm.42 Organized very loosely around the old topos of the debate between the cleric and knight (which it takes to new heights, or lows, depending on your point of view), “Aristoteles der Meister” sets the tone by serving up Aristotle’s ride at the beginning. From here the play is an almost phantasmagoric put-down of philosophers, clerics, priests, monks, and noblewomen (the queen’s name in this play is Seltenrain (‘Seldompure’, meaning ‘Neverpure’), in which only the little people such as the serving girl escape its scathing social criticism. Similarly, the play known as “Das Aristotelesspiel”, in which the Queen’s ride is the last of three tests of Aristotle’s wisdom, all of which he fails, is primarily concerned with mocking the highborn, elite, and the educated, both men and women.43 “Das Aristotelesspiel” seesaws or rather whipsaws in a dizzying fashion between the praise, blame, and sexualization of women, ending with an obscene coda that inverts the genders of the mounted Aristotle motif, as a female fool chases a male fool around the stage begging for sex.44 The visual representations resonating most strongly with these plays are the ‘Aristotle and Phyllis’ badges, one from the fifteenth-century found in Nieuwlande, Zeeland (the Netherlands) and one from the fourteenth century 41 Zingerle, Oswald: Sterzinger Spiele: Die weltlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs nach den Originalhandschriften (1510 – 1535) von Vigil Raber. Vienna 1886. Rpt. by Bauer, Werner M. Vienna 1982, pp. 73 – 88. 42 Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert. Ed. by von Keller, Adelbert. 3 vols. and Nachlese. Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart, vols. 28 – 30 and 46. Stuttgart 1853 – 1858, here vol. 28, pp. 138 – 153. Rpt. Darmstadt 1965 – 1966. The pages and the plays in volumes 28, 29, and 30 are numbered consecutively, so that these three volumes are also sometimes referred to vols. 1, 2, and 3. Volume 46, called “Nachlese”, re-starts the numbering of pages with one. This remains the standard edition for many carnival plays, which are traditionally referred to by the number they bear in this edition, in this case, K 17. For the second edition of the Verfasserlexikon, Hansjürgen Linke devised new titles for the carnival plays, which are used here. See the article by Glier, Ingeborg: Rosenplütsche Fastnachtspiele. In: Deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon. Ed. by Keil, Gundolf et al. 14 vols. Berlin 1977 – 2008, here vol. 8, columns 211 – 232. See also Sowinski, Bernhard: Zur Stofftradition und Handlungsstruktur des Fastnachtspiels “Von fürsten und herren” (K 17). In: Virtus et Fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff. Ed. by Strelka, Joseph P. Bern 1983, pp. 106 – 117. 43 Meister Aristoteles (K 128), Keller [note 42], vol. 46, pp. 216 – 230. 44 For an excellent discussion of this scene in the context of carnival plays and the roles played in them by fools, see Ragotzky [note 23], pp. 293 – 295.

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found in Ypres (Flanders).45 Aristotle’s grotesque sexual arousal dominates the image, making the philosopher not so much masculine as bestial and animallike. Gazing at the viewer, Phyllis sits enthroned on Aristotle’s back in a way that seems disconnected from the cleric-philosopher’s arousal. Clearly she is in charge. While these two plays contain many misogynist topoi, they lack coherent, categorical generalizations regarding the evils of women, primarily because coherence or pursuing a logical line of argumentation is the antithesis of carnival play poetics. In keeping with the plays’ anti-elitist satire and their reliance on drastic, comic stereotyping for their humor (standard in Nuremberg carnival plays), any general misogynist perspective is subsumed into a specific critique of noblewomen. Aristotle is humiliated along with those secular elites who would be his allies, the aristocrats and their wives. Implicit in these plays is that the triumphant secular world is neither elite nor aristocratic, but rather (and this is unspoken) urban, patrician, and mercantile, the only social profile that does not make an appearance in these plays. Aristotle the master philosopher and Aristotle the love slave coalesce again in “Der Bauer und der Bock” (‘The Peasant and the Billy Goat’), and “Die sieben freien Künste und die Liebe” (‘The Seven Liberal Arts and Love’).46 In the play, “Der Bauer und der Bock” the tacit misogyny of the mounted Aristotle motif is exploited as a weapon directed against a specific class, but in the process, the universal truths supposedly illustrated by the motif are undone. The hero of this play is that most noble and rare of creatures in the world of carnival, an honest peasant. Unable to produce on time a customary payment of a billy goat, the peasant persuades his lord to agree to a postponement. The lord’s friends argue against this arrangement, asserting categorically that there is no such thing as an honest peasant. A noblewoman agrees, and she bets the lord that she can persuade the peasant to deceive him. The lord’s friends and councilors agree with her, supporting her claim by asserting the ‘wiles of women’ argument as a universal truth, and citing as evidence the exempla of Solomon, Sampson, and Aristotle. Secht, weibes list ist so tieff, Das in kein man nie vorgelieff. Aristotiles, der hoch doctor, Der hat in nye gelauffen vor. 45 See Koldeweij, Jos: The Wearing of Significative Badges, Religious and Secular : The Social Meaning of a Behavioural Pattern. In: Showing Status: Representations of Social Positions in the Late Middle Ages. Ed. by Blockmans, Wim and Janse, Antheun. Turnhout 1999 (Medieval Texts and Cultures of Northern Europe 2), pp. 307 – 328. 46 Wuttke [note 10], pp. 13 – 20; Die Sieben freien Künste und die Liebe (K 96). Cited from Wuttke [note 10], pp. 34 – 40.

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Einer frauen list in uberkam, Das alle sein weissheit in im wurdt lam. Do er auf seinen knyen wolt streyten, Do liess er sich in einen garten reyten. (Der Bauer und der Bock, l. 79 – 86) ‘See, women’s wiles are so deep that no man ever escaped them. Even Aristotle, the great doctor, did not escape. He was vanquished by a woman’s cunning, such that all the wisdom in him went lame. When he wanted to do battle on his knees, he allowed himself to be ridden in a garden.’

As the councilors so rousingly sum up the problem, speaking this time in the first person plural: Wir man hab alle ein swachs gemut, / Wenn unns die wasserstang recht glut (ll. 87 – 88) – ‘We men have a weak spirit when our water faucet is red hot’. But what happens? The action in the story contradicts the truism, the purportedly universal truth that all men are vulnerable to women’s seductive wiles. The peasant returns on time with the required billy goat, and reveals that he has had sex with the noblewoman in exchange for the promise of cheating the lord. But he thought better of it, and so decided not only to give the lord the billy goat but also to tell the truth. Far from being vulnerable to seduction, the peasant instead has taken full advantage of the woman. The lord is richly rewarded: his peasant pays up; the noblewoman loses the bet; his friends are proven wrong; and he is shown to be a just lord, whose hierarchical relationships are based on reciprocity, trust, and mutual benefit. According to “Der Bauer und der Bock”, not all peasants are deceitful and not all men are slaves to love; some of them, like the friends (remember that “we”) and Aristotle, are just dupes. The councilors’ universal categories of theoretical knowledge fail, undermining their own authority, yet wonder of wonders, to paraphrase Samuel C. Kinser, society coheres in spite of this failure.47 Another funny inversion is that in the outcome, the philosopher, Aristotle, and the woman are assimilated to one another. Both barter for sex and endure public humiliation as a result. Having sex humiliates the woman and not having sex humiliates the philosopher : the clear winner here is a notion of secular masculinity that is using sex to lord it over both women and clerics. The secular, sexually active, masculine world wins this one with an aggressive dose of sexism, since a less cheerful way to think about that outcome is that, for the woman, it’s damned if you do (have sex) and damned if you don’t. There is, in short, no position of possible virtue with regards to sex in this text. In the play “Die sieben freien Künste und die Liebe” the motif of the mounted Aristotle is deployed in a way that dispenses with women and misogyny al47 Kinser, Samuel C.: Presentation and Representation: Carnival at Nuremberg, 1450 – 1550. In: Representations 13 (1986), pp. 1 – 41, here p. 18.

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together.48 The joke here is that the liberal arts and love service belong, according to their own ideologies, to opposing and contrastive spheres: an exclusively male, clerical, Latinate world of learning whose norm and ideal is celibacy, versus a secular world of pragmatic knowledge in political, social, and economic life, a world of men and women in which having sex is the norm, and marriage the ideal. The herald introduces each of the seven liberal arts in turn. The science of logic (here called list in a positive sense), he tells us, will be represented by Aristotle: Hie vint man loyca mit yrer list, Die lert, was falsch und unrecht ist; Sy krumpt, sie schlicht, sie genczt, sie trennt, Dy lueg sie pey der warhayt kentt; Ir mayster, der hayst Aristotiles. (l. 7 – 11) ‘Here we have Logic with her skills, distinguishing that which is false and wrong. Logic bends, straightens, combines and separates, she knows the difference between lies and truth. Her master is Aristotle.’

After the revue introducing each of the seven liberal arts is completed, a second revue commences, in which the spokesman for each liberal art speaks. Representing logic, Aristotle proudly declaims the logical skills demanded for successful love service, especially stressing moderation, truth and emotional sincerity : Ainer, der frauen dienen wil mit fleiss, Der darff zu wissen zwarcz und weiss, Hallten und lassen, nicht teuschen und effen, Hengen und haben, nicht felen und treffen, Nicht czway gehayssen und dreu gefelt Und allweg milt sein on gelt, Nicht grosse clag und claynen schmerzen, Und hays ymm mund und kalt im herczen Und clain geschefft und grosser ru: Das gehoert keym frauen diener zu. (ll. 61 – 70) ‘The man who is eager to serve women well must know both black and white, how to keep and give away, not defraud and deceive, how to say ‘whoa’ and ‘giddy-up,’ not miss but hit. He mustn’t say two and slip up by giving away three or be generous when he doesn’t have any money. No great laments and small pains, no hot lips and a cold heart, no fast job followed by an unhurried snooze – none of that becomes a courtly lover.’

48 On this play’s mockery of learning in general see Ridder, Klaus: Der Gelehrte als Narr : Das Lachen über die artes und Wissen im Fastnachtspiel. In: Artes im Mittelalter. Ed. by Schaefer, Ursula. Berlin 1999, pp. 391 – 409.

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This speech of the aged, amorous Aristotle is a tour de force of comic logic that deconstructs itself. The masterful gesture of having Aristotle use riding terminology –hengen und haben are technical terms meaning ‘whoa’ and ‘giddy-up’ – puts in the master’s mouth the reference to his humiliation and at the same time obviates the need to enact the story. The gap here between Aristotle’s advice – be authentic, honest, warmhearted, and young – and what we know him to be – an old, grasping fool who becomes a slave of love – places the comedic force squarely in the field of ethos, the perceived integrity of the speaker. The master philosopher’s speech enacts that old parental saw, ‘Do what I say, not what I do.’ In the Nuremberg carnival plays, Aristotle’s humiliation is the revenge of the sexual world, the world of empirical, pragmatic, practical knowledge overcoming through mockery and exposure what it constructs as the hypocrisy of the clerical world. In this world, list overwhelms meisterschaft. Sexism is ubiquitous in the Nuremberg carnival plays, where it fits seamlessly together with other ‘-isms’ such as classism, age-ism, anti-intellectualism, and so on, in a genre constructed almost entirely out of virulent stereotypes, which play off of one another in surprisingly complex and interesting ways. Chastity and virginity, the key female virtues, are impossible in this world. More importantly, they are unwanted, for such virtues only impede the successful pursuit of sexual pleasure by whatever means. Secular, sexually active masculinity is the aggressor and the victor, and it allows clerical masculinity, which is presented as hypocritical, weak-minded, and ineffective, no quarter.

Conclusions In the late Middle Ages the philosopher Aristotle lived in two worlds. In one, the world of clerical and theological learning, his reputation was great, and he was revered as the undisputed master of ancient traditions. As the teacher of Alexander the Great, he embodied an ideal of normative, intellectual, clerical influence over secular rulers. In the secular world, however, Aristotle embodied the foolishness and vulnerability of clerics and churchmen, an old man crawling on all fours, a bridle in his mouth and a young woman brandishing a whip and seated on his back holding the reins. I hope to have shown that the simultaneous existence of these two, mutually exclusive images of Aristotle can best be understood within the framework of rival forms of late medieval masculinity, which I have called the struggle between meisterschaft (the clerical world) and list (the secular world). Only the Latin exemplum blames women, exonerates men, and underscores the wisdom of the clerical master, Aristotle. The Old French “Lai d’Aristote” takes a position closer to that of the German courtly tales; the narrator adds a coda glossing the text as proof, not of the wiles of

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women, but rather as the triumph of Nature and of Love (ll. 518 – 581). The Middle High German tales discussed here, Strasbourg, Munich, and Philadelphia, weaken the clerical position, i. e. meisterschaft, and strengthen the secular world, i. e. list, by exonerating to various degrees the female protagonist and by recasting her actions as a defense of a legitimate love affair positively sanctioned by the semi-divine force of stern love, strenge Minne. Marriage hovers on the horizon of these texts as an ideal, a foundation of virtue and power in the secular world from which the clerical world is shut out. In the Nuremberg carnival plays, the lessons of the Latin exemplum are overturned. In these texts, the mounted Aristotle is nothing but a fool, a figure of fun and mockery. His humiliation is the revenge of the sexual world, and the victory of the world of empirical, pragmatic, practical knowledge, overcoming through ridicule and scorn what it constructs as the pretense of the clerical world. My readings of the mounted Aristotle material have accounted for its misogyny in various ways. Following the example of scholars such as Gina Psaki, I have argued that medieval misogyny is not an end in itself, and that its ostensible target (women) is not always the principal target of a text. Medieval misogyny does not represent a monolithic, systematic cultural consensus, but rather a contingent, contradictory set of beliefs that perform cultural work. Misogyny can offer a momentary ceasefire between rival paradigms of male identity because it provides a horizon of shared expectations for maintaining male privilege and female disadvantage. The concluding sentence of the Latin exemplum clearly enacts this position of male solidarity based on misogyny : “When he [Alexander] heard this [i. e. Aristotle’s moralizing explanation that women endanger men] the king’s anger was assuaged, and he spared his tutor who was replying so prudently.”49 It has left its traces in the Strasbourg version as well. Yet the Middle High German texts still champion the cause of the secular world, represented by the female protagonist and her list. Because of this, these texts critically engage with misogyny as a problem. The Strasbourg version alternately deploys and then takes back the implicitly universalist claim of its anti-feminine argument. The Munich version rehabilitates the female protagonist through her grief, establishing her guilty conscience as an indication of a virtuous woman who has no choice but to undertake actions she knows are morally dubious. The Philadelphia version undoes the story’s misogyny entirely and inverts blaming women into its opposite, praising them. The Nuremberg carnival plays are sexist, but not, I think, misogynist. The compromise between competing forms of masculinity which misogyny provides is unnecessary and unwanted in this fictive world, in which secular masculinity trounces clerical masculinity. The popularity of the mounted Aristotle material over nearly three hundred 49 Arrathoon [note 17], p. 296.

Problematizing Medieval Misogyny

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years is not adequately explained by the putative orthodoxy of its misogynist claims alone. Rather, its popularity derives from its ability to capture and refract in multiple ways the fundamental tensions of high and late medieval masculine identify formations, and the irresolvable contradictions of patriarchy itself. The town elites and politicians in Cologne looking at the image of the mounted Aristotle in their town hall, in the space of politics, could read the image in many ways. They might have recalled the Latin exemplum, and read the image as a reminder of male sexual vulnerability, or as a warning against women’s deceit, or as an inversion of proper gender relations. And they might also have delighted in Aristotle’s downfall and identified with Phyllis, subduing the philosophers, schoolmasters, and clerics, lording it over the world of learning, list mastering meisterschaft.

Alexander Sager (Athens)

Verwirrende Worte, weiches Denken. Der Betrug Evas in der „Genesis B“

Am Anfang der deutschen Literaturgeschichte steht eine Version der biblischen Verführung im Garten, die an poetischer Kunstfertigkeit und Komplexität ihresgleichen sucht. Das ist die sogenannte „Genesis B“, aufgeschrieben in der Handschrift Junius 11. in der Bodleian Library in London. Der erhaltene Text ist zwar angelsächsisch, aber es gilt als sicher, dass er aus einer kontinalsächsischen Quelle übertragen wurde, und zwar so getreu es offenbar ging, wie ein Vergleich mit den paar Dutzend gemeinsamen Zeilen aus einem der altsächsischen vatikanischen Genesisfragmente zeigt. Diese kontinentale Vorlage hängt ihrerseits eng mit dem „Heliand“ zusammen, poetologisch sowie entstehungsgeschichtlich.1 Die Verführung, die in der Bibel in sieben lapidaren Versen erzählt wird, nimmt in der „Genesis B“ über 400 stabreimende Zeilen in Anspruch. Überall wird mit der biblischen Vorlage sehr frei umgegangen, ohne dass je klar geworden ist, ob hier eine spezifische parabiblische Tradition – direkt oder indirekt – Pate gestanden hat. Vor der Verführungsszene stehen zum Beispiel etwas mehr als 200 Zeilen, in denen Überhebung, Fall und Teufelswerdung Satans dargestellt werden. Ähnliches kennt man aus spätantiken lateinischen Texten, etwa dem Bibelepos von Avitus von Vienne, sowie aus vielen Predigten und Kommentaren. Die Verführung selbst aber weist Elemente auf, für die es keine bekannte Vorlage oder auch nur Parallele gibt, was den Verdacht nährt, wir haben es hier mit einer ,einheimischen‘ Tradition zu tun, die produktionsäs-

1 Alle Zitate von „Genesis B“ und „Heliand“ nach Heliand und Genesis. Hg. v. Behagel, Otto. Tübingen 1996 (Altdeutsche Textbibliothek 4), S. 219 – 243. Ausgaben mit Einführung und Kommentar, die der neueren Forschungsdiskussion Rechnung tragen, sind: Die Bruchstücke der altsächsischen Genesis und ihrer altenglischen Übertragung. Hg. v. Schwab, Ute u. a. Göppingen 1991 (Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 29) (enthält auch eine Übersetzung sowie Faksimileblätter); The Saxon Genesis. An Edition of the Old Saxon Genesis B and the Old Saxon Vatican Genesis. Hg. v. Doane, Alger N. Madison 1991. Alle Übersetzungen in diesem Beitrag sind von mir.

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thetisch irgendwo zwischen dem karolingischen Kloster und dem sächsischen Adelshof zu lokalisieren ist. Da wegen der besonderen Überlieferungssituation die „Genesis B“ seit Jahrzehnten weit weniger von Germanisten als von Anglisten beachtet wird (nur eine Handvoll germanistischer Arbeiten in den letzten 30 Jahren, die meisten sprachwissenschaftlicher Natur), möchte ich mit einer Handlungszusammenfassung beginnen. Anschließend werde ich die Szene besprechen, in der es um den Betrug geht: die Versuchung von Adam und Eva im Garten und Evas Vision. Hier begnüge ich mich mit einer kommentierenden Darstellung von ausgewählten Forschungspositionen, die die Interpretation in letzter Leit beeinflusst haben. Zum Schluss möchte eine Episode diskutieren, die in der Forschung bisher nicht gebührend gewürdigt worden ist: das Verhalten des ersten Paares nach dem Betrug.

I.

Handlungszusammenfassung

Der zum Teufel gewordene Satan beschließt, die Menschen zu verführen, damit diese seine ehemalige Stelle im himmlischen Chor nicht einnehmen können. Da er in der Hölle gefesselt liegt, kann er dies nicht persönlich tun, stattdessen schickt er einen Agenten, der ,Gottes Widersacher‘ (godes andsaca) genannt wird und sonst namenlos bleibt. Der rüstet sich wie ein Krieger für den Kampf, nur hat er statt Speer und Schwert andere Waffen: Angan hine Áa gyrwan godes andsaca, fu¯s on frætwum, (hæfde fæcne hyge), hæleÅhelm on heafod asette and Áone full hearde geband, spenn mid spangum. wiste him spræca fela, wora worda. (442 – 446) ,Begann sich da zu rüsten Gottes Widersacher, bereit an Kriegszeug war er, er hatte trügerische Gedanken, er setzte einen Tarnhelm auf seinen Kopf und band ihn fest, befestigte ihn mit Spangen. Er kannte viele Redekünste, verwirrende Worte.‘

Der Dämon fliegt zum Garten hoch. Dort stehen zwei fruchttragende Bäume, ein Baum des Lebens und einer des Todes, sowie daneben Adam und Eva, die hier ,Gottes Jünger‘ (drihtnes geongran) genannt werden. Der Lebensbaum (l„fes beam) ist schön und anmutig und gewährt ein ewiges Freudenleben, sowohl auf Erden wie auch später in Gottes Präsenz. Der Todesbaum (deaÅes beam), ganz schwarz und düster, trägt bittere Frucht, die dem wider göttliches Verbot Kostenden Schweiß, Sorgen und schnelles Altern bringt, bevor er in die feurige Hölle hinunterfahren muss, um dort auf ewig dem Feind zu dienen. Der Teufelsagent nimmt Schlangengestalt an, pflückt vom Todesbaum eine Frucht und geht damit

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auf Adam zu. Er versucht, den ersten Mann davon zu überzeugen, dass Gott es sich inzwischen anders überlegt hat, was sein früheres Verbot betrifft: Jetzt sollten die Menschen die Frucht essen, mit dem Ziel, sofort in eine gesteigerte Existenzform einzutreten. Der Dämon, der sich einen ,Boten‘ (boda) und auch selbst einen ,Jünger Gottes‘ nennt, erklärt, er sei von Gott beauftragt worden, diesen Befehl zu überbringen. Adam fällt aber nicht darauf herein. Ohne dass er den Teufel beim Namen nennt, bezweifelt er die himmlische Provenienz des Boten (,du siehst keinem Engel ähnlich, den ich je gesehen habe‘: 538 – 539) und will dem ursprünglichen Verbot so lange folgen, bis Gott persönlich erscheint oder aber ein überzeugenderes Zeichen gibt. Zornig wendet sich der Dämon von Adam ab und geht zur Frau. Er benutzt jetzt eine andere Taktik. Bevor er die Frucht präsentiert, versucht er Eva zunächst über das Verhalten ihres Mannes zu verunsichern: Gott werde mit ihnen beiden böse sein – so erzählt er ihr –, wenn er hört, dass sie seiner Botschaft nicht Folge leisten wollen. Er werde dann selbst hierher kommen, um sie zur Rede zu stellen. Aber wenn Eva den Worten des ,Boten‘ gehorchen wolle, dann könne sie besseren Rat finden und der gemeinsamen Strafe vorbeugen. Darauf zeigt der Dämon die Frucht und fordert Eva zum Essen auf. Die gesteigerten Fähigkeiten, die er ihr verspricht, haben mit der Sehkraft zu tun: Eva werde die Klarsicht bekommen und einer Vision von der Macht und Herrlichkeit des thronenden Gottes teilhaftig werden. Davon solle sie dann ihrem Mann berichten und ihn dahin ,lenken‘ (gestyran), so dass er sich eines Besseren besinnt und Gottes neues Gebot doch noch leistet, bevor es zu spät ist. Der darauffolgende Kommentar des Erzählers zu Evas Gedanken und deren Konsequenzen ist eine Schlüsselstelle, die ich hier im Ganzen zitiere: Lædde hie swa mid ligenum and mid listum speon idese on Áæt unriht, oÅÁæt hire on innan ongan weallan wyrmes geÁeaht, (hæfde hire wacran hige metod gemearcod), Áæt heo hire mod ongan lætan æfter Áam larum; forÁon heo æt Áam laÅan onfeng ofer drihtnes word deaÅes beames weorcsumne wæstm. Ne wearÅ wyrse dæd monnum gemearcod! Áæt is micel wundor Áæt hit ece god æfre wolde Áeoden Áolian, Áæt wurde Áegn swa monig forlædd be Áam lygenum Áe for Áam larum com. (588 – 98) ,Also leitete er sie mit Lügen, mit Listen lockte er die Frau zum Unrecht, bis im Innern der Gedanke der Schlange ihr aufzuwellen begann – ihr hatte der Messende eine weichere Denkart zugeteilt – so dass sie ihr Gemüt auf diese Lehre einließ, indem sie gegen das Wort Gottes von dem Schädling die verderbliche Frucht empfing. Nie wurde eine schlimmere Tat den Menschen zugeteilt! Es ist ein großes Wunder, dass der ewige Gott

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je erleiden wollte, der Herr, dass so viele seiner Diener durch diese Lüge verführt worden seien, die von diesen Lehren kam.‘

Eva isst und bekommt die versprochene Vision. Darauf nimmt sie mehrere Früchte vom Baum, geht zu Adam, und erzählt davon, was sie gesehen hat, ihrem Mann auch vor Augen führend, was ,der schöne Bote, Gottes guter Engel‘ über dessen bevorstehenden Zorn gesagt hatte. Hier psychologisiert der Erzähler : ,Sie tat dies mit treuen Gedanken (Áurh holdne hyge), sie wusste nicht, dass so viel Schaden und Schwierigkeiten daraus folgen würden für das Menschengeschlecht‘ (708 – 711a). Es dauert den ganzen Tag und wiederholte Versuche (sie redet ful Áiclice, ,ganz oft‘, auf Adam ein), bis Eva ihren Mann überzeugen kann zu essen, aber das gelingt ihr schließlich – mit Hilfe des Widersachers, der in der Nähe steht und ,ihm Gelüste ins Herz legt, ihn mit Listen lockt‘ (687). Als Adam endlich isst, jubelt der Dämon und hält eine lange Triumphrede an sich selbst, bevor er wieder in die Hölle zurückkehrt. Evas Vision schwindet. Das Paar ist sich sofort darüber im Klaren, was es verbrochen hat. Adam macht seiner Frau bittere Vorwürfe (das ist übrigens die Textstelle, wo wir auch altsächsische Verse in der vatikanischen Handschrift haben) und klagt über den bevorstehenden Verlust des Paradieses. Eva akzeptiert die Schuldzuweisung und bekundet tiefe Reue. Adam bittet Gott um Verzeihung. Die beiden gehen hinaus in den Wald, wo sie sich trennen, ihre nackten Körper mit Laub bedecken und Gott bitten, ihnen zu sagen, wie sie weiterleben sollen. Hier bricht der Text ab bzw. nur so viel hat der Schreiber aus seiner altsächsischen Vorlage übertragen. Die wichtigsten rein faktischen Abweichungen von der Bibel sind folgende: In der „Genesis B“ wird das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, nicht Adam alleine, sondern beiden zusammen gegeben. Hier werden die Menschen auch explizit dazu aufgefordert, vom Lebensbaum zu essen. Die Bäume selbst werden stark kontrastiert, äußerlich sowie moralisch, metaphysisch, eschatologisch. Hier ist, wie schon erwähnt, der Versucher keine kluge Schlange oder Satan, sondern ein Untergebener des Teufels, der in Schlangenform schlüpft, Eva aber später auch als lichter Engel erscheint – wenigstens nach dem zu urteilen, was sie ihrem Mann sagt. Adam ist in „Genesis B“ der erste, der versucht wird, und zwar durch den teuflischen Agenten selbst. Nachdem Mann und Frau gegessen haben, bekommen sie nicht nur Schuldgefühle, sondern sie zeigen auch gleich Reue und bitten um Vergebung. Gott erscheint den sündigen Menschen nicht (obwohl eine solche Episode in dem nichtkopierten Teil der Vorlage gestanden haben könnte – mehr darüber unten). Dazu werden die übernommenen biblischen Motive idiosynkratisch ausgestaltet, vor allem das Aufgehen der Augen, das hier zu einer erhabenen, quasi-göttlichen, aber vorübergehenden Vision über die ganze Schöpfung wird. Schließlich wird die Handlung überall

Verwirrende Worte, weiches Denken

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von dramatischen Einzel- und Wechselreden und psychologisierenden Kommentaren begleitet.2

II.

Forschungspositionen

Die zentrale Interpretationsfrage, die dieser außerordentliche Text stellt, ist für unsere Thematik folgende: Wie hängt die markant anders angelegte Betrugsund Verführungsszene mit traditionellen Verständnissen vom Schuldigwerden der Menschen zusammen? Verallgemeinernd kann man sagen, dass die meisten Forscher in der „Genesis B“ insgesamt eine Relativierung der menschlichen Schuld – wenigstens deren subjektiver Dimension – gegenüber der Heiligen Schrift und ihrer patristischen Auslegung sehen.3 Diese Relativierung drückt sich darin aus, dass Adam der Versuchung zuerst widerstehen kann; dass Eva, auch wenn sie ihr erliegt, dennoch mit guten Absichten handelt (der oben zitierte Erzählerkommentar über ihre ,treuen Gedanken‘ spielt hier eine zentrale Rolle); und dass die beiden nachher Einsicht in ihre Sünde und aufrichtige Reue darüber zeigen sowie um Vergebung bitten – statt, wie in der Bibel, sich vor Gott zu verstecken, um dann, einmal zur Rede gestellt, vor ihm eine Schuldabwälzungskomödie aufzuführen. Innerhalb dieses allgemeinen Konsenses gibt es aber die brisantere Frage nach der besonderen Verteilung der Schuld in der „Genesis B“. Hier gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Der umstrittenste Aspekt des Problems hat mit der Bedeutung von Adams Gespräch mit der Schlange zu tun, das der Versuchung Evas vorgelagert ist. Diese Episode ist nicht nur nicht in der Bibel, sie ist, soweit wir wissen, ein Unikum in der bisherigen Bibeldichtung.4 Wir haben auch gute Anhaltspunkte dafür, dass sie schon für zeitgenössische Interpreten ein Problem darstellte: Die Miniaturen zu dieser Szene scheinen zu zeigen, dass die Auftraggeber der Junius-Handschrift (bzw. deren Vorlage) nicht recht

2 Über die Beziehung zur Bibel vgl. Heinrich, Bettina: Frühmittelalterliche Bibeldichtung und die Bibel. Ein Vergleich zwischen den altenglischen, althochdeutschen und altsächsischen Bibelparaphrasen und ihren Vorlagen in der Vulgata. Frankfurt a. M. 2000, S. 10 – 19. 3 Vgl. Burchmore, Susan: Traditional Exegesis and the Question of Guilt in the Old English „Genesis B“. In: Traditio 41 (1985), S. 117 (und die dort zitierte Literatur), S. 140 – 141. 4 Eine Episode mit Adam als erster Adresse des Versuchers findet sich sonst nur in dem anglonormannischen „MystÀre d’Adam“ aus dem 12. Jahrhundert. Vgl. dazu Woolf, Rosemarie: The Fall of Man in „Genesis B“ and the „MystÀre d’Adam“. In: Studies in Old English Literature in Honor of G. Brodeur. Hg. v. Greenfield, S. Eugene 1963, S. 187 – 199. Woolfs These, dass beide Texte auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen, wird in der Forschung mit Skepsis behandelt. Vgl. Schottmann, Hans: Die Darstellung des Sündenfalls in der altsächsischen Genesis. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 13 (1972), S. 1 – 12, hier S. 4 – 5.

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wussten, wie sie damit umgehen sollten. Dazu im Folgenden kurz, bevor die neueren Forschungspositionen zum Text besprochen werden.5 Auf S. 20 der Junius-Handschrift sehen wir, wie der in der Hölle gebundene Teufel seinen Boten zu Adam und Eva schickt. Das entspricht ziemlich genau dem, was wir im Text haben, wo beschrieben wird, wie Satan an Händen und Füßen gefesselt liegt und wie der Bote durch die Höllenpforten fliegt. Was darüber steht, hat jedoch nichts mit der „Genesis B“ zu tun: Statt einer Unterredung zwischen dem Dämon und Adam, wie im Text, sehen wir im Bild zuerst eine bibelgetreue Begegnung zwischen der Schlange und Eva. Auch wenn wir den oberen Teil ,linksläufig‘ interpretieren, wie manche Forscher bei diesem und weiteren Bildern des Manuskripts vorschlagen, kommen wir dem Erzählten kaum näher. Der rechte Teil wäre dann einfach eine Darstellung von Adam und Eva vor der Ankunft der Schlange. Die spricht immer noch zuerst mit der Frau. Es ist natürlich möglich, dass Teile des Bildprogramms von einer anderen, an der Bibel angelehnten Tradition herkamen. Aber dann muss man sich fragen, warum die sonst sehr geschickten Zeichner die weibliche Gestalt nicht einfach durch eine männliche ersetzt haben (oder wenigstens eine androgyne, wenn eine der wenig voneinander differenzierten Figuren auf der rechten Seite wirklich Eva sein soll). Desgleichen bei S. 24, wo ein Bild von Eva mit dem Versucher – hier als Engel gezeichnet – genau vor der Stelle in der Erzählung erscheint, wo der Bote in Schlangenform mit Adam spricht. Erst auf S. 28 haben wir ein Bild, in dem Adams Versuchung auch thematisiert wird. Es befindet sich aber handlungsmäßig am falschen Ort, nämlich mitten im Gespräch zwischen dem Versucher und Eva. Die „Verwirrung bei der Illustration“ (Schwab, S. 47) im Junius-Manuskript ist oft besprochen worden und bildet ein Forschungsthema für sich.6 Mit einem Minimum an interpretatorischem Wagnis können wir sagen, dass sie in diesem Fall von Unsicherheiten beim Verständnis von Adams Versuchung zeugen und dem Wunsch, etwaigen Interpretationsproblemen dieser nichtbiblischen Szene durch traditionelle Ikonographie zuvorzukommen. Es gibt grundsätzlich zwei Richtungen in der Forschung, was die Interpretation der Versuchungs- und Betrugs-Episode angeht: Für die einen lässt Adams anfangs erfolgreicher Widerstand Evas geistig-moralische Unterlegenheit umso deutlicher, ihre Schuld und Sünde umso prägnanter hervortreten. Mehrere In5 Hochqualitative digitale Fotografien der Handschrift sind frei zugänglich bei: http://image.ox.ac.uk/show?collection=bodleian& manuscript=msjunius11. 6 Grundsätzlich dazu Schwab [Anm. 1], S. 35 – 51, die die Forschungspositionen bis c. 1990 zusammenfasst. Neuere Ansätze bei Karkov, Catherine E.: Text and Picture in Anglo-Saxon England: Narrative Strategies in the Junius 11 Manuscript. Cambridge 2001, und Bradley, Jill. ,You shall surely not die‘: The Concepts of Sin and Death as Expressed in the Manuscript Art of Northwestern Europe, c. 800 – 1200. Leiden, Boston 2008, S. 166 – 195 (in Auseinandersetzung mit Karkov).

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terpreten sehen hier den Einfluss – sei er direkt oder durch Bibelkommentare vermittelt – des Paulus-Wortes aus dem ersten Brief an Timotheus: Adam non est seductus, mulier autem seducta in praevaricatione fuit.7 Die Versuchung Adams stellt demnach eine Art narrative Umsetzung des ersten Halbsatzes der Bibelstelle dar und engagiert die weitreichenden geschlechtspolitischen Folgen, die Paulus daraus im Brief ableitet (Frauen dürfen nicht lehren, nur lernen, stille sein und zuhören usw.), für eine tropologische Lektüre des altenglischen Textes. In diesem Sinne sei der Erzählerkommentar darüber zu verstehen, Gott habe Eva w–cran hige gegeben. Die Standartinterpretation dieser Worte ist ,schwächere Denkkraft‘ oder ,schwächeren Intellekt‘ (auf meine Übersetzung als ,weichere Denkart‘ werde ich weiter unten eingehen). Indem sie auf die List des Dämons hereinfällt, zeigt Eva, so diese Sichtweise, dass sie schlicht und ergreifend weniger intelligent ist als ihr Gatte. Die Versuchung von Adam ist dazu da, dem Publikum diesen Geschlechtervergleich – der nirgends explizit in der biblischen Genesis steht, aber, beginnend mit Paulus, fester Bestandteil der Kommentartradition ist – bildhaft vor Augen zu führen. Insgesamt geht diese Forschungsrichtung von einer starken Anlehnung des Dichters an die von Augustin dominierte exegetische Tradition aus.8 Sogar Evas gute Absichten, die ,treuen Gedanken‘, mit denen sie ihren Mann zum Mitessen der Frucht auffordert, sind von dieser Seite unlängst entschieden in Frage gestellt worden. Für Alger Doane gelten Evas ,treue Gedanken‘ nicht Adam, sondern dem Versucher. Ihm gegenüber verhalte sie sich loyal, so Doane, denn sie habe ihn faktisch als neuen Lehnsherrn anerkannt, als sie die versprochene Gottesvision entgegengenommen habe. Bei dem Geschenk der Vision handelt es sich nach Doane nicht um einen einfachen Tauschhandel, sondern um einen feudalen Kontrakt: Áa meahte heo wide geseon Áurh Áæs laÅan læn Áe hie mid ligenum beswac (600 – 601: ,Dann konnte sie weit sehen, durch des Bösen Gabe, der sie mit Listen verführt hatte‘). Dazu Doane: The vision is represented as an „evil feudal grant“ (laÅan læn, 601a) given Eve by the devil, something he grants to exact service and loyalty. It implies that Eve has become his vassal as she assigns control of her reason to him in order to receive his protection […] And this charecterization of the vision also explains the supposedly mitigating 7 1. Timotheus 2:14; Vgl. Doane [Anm. 1], S. 95; Vickery, John F.: The Vision of Eve in Genesis B. In: Speculum 44 (1969), S. 86 – 102, hier S. 100. 8 Bestimmend für die exegetische Ausrichtung sind vor allem gewesen: Woolf, Rosemary : The Fall of Man in Genesis B and the MystÀre d’Adam. In: Studies in Old English Literature in Honor of Arthur G. Brodeur. Hg. v. Greenfield, Stanley B. Eugene 1963, S. 187–99; Vickrey, John F.: The Vision of Eve in Genesis B, Speculum 44 (1969), S. 86–101; The Micel Wundor of Genesis B. Studies in Philology 68 (1971), S. 245–54; Burchmore, Susan: Traditional Exegesis and the Question of Guilt in the Genesis B. Traditio 41 (1985), S. 117–44; Doane [Anm. 1]. Vgl. auch Scheck, Helene: Reform and Resistance. Formations of Female Subjectivity in Early Medieval Ecclesiastical Culture. New York 2008, S. 103–19.

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phrase holdne hyge (708a), that Eve had a loyal mind, that she did it all for Adam. […] In fact, Eve devotes her holdne hyge not to Adam, but to her new lord, the boda, for it is from him that she accepted the grant.9

In diesem Kontext weist Doane auf die interessante Tatsache hin, dass das Wort læn nur dreimal in der ganzen altgermanischen Dichtung erscheint, zweimal in der „Genesis B“ und einmal (in der altsächsischen Form lÞhan) in dem vatikanischen Fragment, das die Zerstörung Sodoms erzählt. Dort sagt Abraham zu Gott, als dieser auf dem Weg zu der lasterhaften Stadt bei ihm haltmacht: it al an th„num duoma stÞd, ik libbio bi th„num lÞhene (,Es steht alles zu Deiner Verfügung, ich lebe ja auf Deinem Lehen‘). Doane hält das Wort für einen „thematischen Begriff“ in der „Genesis B“.10 Ein læn bzw. lÞhan sei etwas, was nur Gott legitimerweise schenken könne. Der Dämon, in dem er Eva die Vision gewährt, äffe Gott nach, agiere als aemulus dei.11 Das Problem mit diesem Argument, so wie ich es sehe, ist folgendes: Beim Begriff der Treue unterscheidet der Text klar zwischen der subjektiven und der objektiven Dimension, zwischen dem Gefühl oder den Gedanken (eben holdne hyge) einerseits und der Verhaltensweise (hyldo) andererseits. Eva gegenüber stellt sich der Versucher nicht als neuer Lehnsherrn dar, sondern als Vasall eines gemeinsamen Lehnsherrn und als ,Bote‘. Doane selbst weist darauf hin, indem er kommentiert, Eva verhalte sich hier wie ein typischer karolingischer Vasall eines Vasallen.12 Wenn sie ihn aber als solchen erkennt und dem, was er als seinen Auftrag von Gott präsentiert, Folge leistet, dann zeugt ihr Verhalten objektiv gesehen sehr wohl von hyldo gegenüber jemand anderem als Gott. Das ist natürlich ein Problem, denn faktisch übertritt sie ja Gottes Verbot. Aber in ihren Gedanken – und von denen ist hier ja die Rede – kann das kein neuer Lehnsherr sein, sondern eben der Bote – der missus sozusagen, um im karolingischen Kontext zu bleiben – des nach wie vor anerkannten Lehnsüberherrn Gott. Dazu weiter Doane: „In the fiction forming itself in Eve’s mind, Adam’s disobedience to God will give way to a combined obedience to God, to herself, and to the tempter all at the same time“.13 Den guten Absichten Evas scheint mir damit jedoch kein Abbruch getan, solange sie ihr Handeln immer noch als Gehorsam gegenüber Gott sieht. Dass sie ihre Rolle dabei falsch einschätzt, ist etwas anderes. Auch ist die Idee einer subjektiven Treue gegenüber dem Dämon als einem neuen und als solchen anerkannten Lehnsherrn schwerlich mit dem Rest des entscheidenden Satzes vereinbar, wo von Evas Nichtwissen um die 9 10 11 12 13

Doane [Anm. 1], S. 146. Doane [Anm. 1], S. 259 (Kommentar zu 258a). Doane [Anm. 1], S. 146. Doane [Anm. 1], S. 146. Doane [Anm. 1], S. 144.

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Folgen die Rede ist: ,Sie tat dies mit treuen Gedanken, sie wusste nicht, dass so viel Schaden und Schwierigkeiten daraus folgen würden‘ (708b–710a). Dass der Dichter über eine klare Sprache der subjektiven Untreue – des untreuen hyge – verfügt, zeigt die Szene, wo bei Satans Auflehnung von dessen Gedanken die Rede ist: ne meahte he æt his hige findan Áæt he gode wolde geongordome / Áeodne, Áeowian (266b–268a: ,Auch in seinen Gedanken könne er nicht finden, dass er Gott in Jüngerschaft dienen wollte‘). Das ist nicht das, was wir bei Eva sehen. Dass es zwischen der Untreue Satans und derjenigen Evas (und Adams) eine typologische Beziehung gibt, soll nicht bestritten werden.14 Das ist ein theologischer Gemeinplatz. Dass aber die Gedanken Evas hier typologisch auf den satanischen Willen bezogen seien, geht viel zu weit.15 Bei der Frage nach Intentionen und subjektiver Disposition scheint es mir im Gegenteil um den Kontrast zu Satan zu gehen. Dazu mehr am Schluss. Doanes Argument trägt zu einem tieferen Verständnis der feudalen Thematik bei, die in dieser Szene sowie im Text insgesamt eine wichtige Rolle spielt. Meines Erachtens gelingt es ihm nicht, überzeugend gegen Evas gute Absichten zu argumentieren. Andere Leser sehen in der Versuchung Adams genau das Gegenteil, nämlich den Versuch, Evas Schuld gegenüber der biblischen Vorlage und der patristischen Tradition bedeutend zu mindern. Diese Interpretationen heben darauf ab, wie der Dämon aus dem Misserfolg mit Adam dazulernt, mit dem Ergebnis, dass er bei Eva viel schlauer zu Werke geht. Das hat mehrere Aspekte. Zum einen scheint er zwischen den Gesprächen seine äußerliche Erscheinung zu ändern. Adam gegenüber erscheint er als Schlange (on wyrmes l„c: 491b), Eva aber wird später von einem ,schönen Boten, Gottes gutem Engel‘ sprechen (Áes boda sciene, godes engel gúd: 656b–657a). Zum andern spricht der Versucher Eva nicht direkt auf den verbotenen Baum an, wie er es mit Adam getan hatte und wie es in der Bibel steht, sondern auf dem Umweg über die Beziehung mit ihrem Mann, dessen Verhältnis mit Gott als gestört repräsentiert wird. Das Raffinierte an dieser Taktik ist, dass sie patriarchale Vorstellungen von idealem Frauenverhalten instrumentalisiert. Nach der patristischen Auslegung der Bibel waren es Evas Eitelkeit, Übermut und sinnlich orientierte Natur, die der Schlange erlaubten, sie zu verführen. Man kann argumentieren, dass diese Eigenschaften in „Genesis B“ später eine Rolle spielen, als der Versucher Eva für die Gottesvision einnimmt. Gehör verschafft er sich aber zuerst dadurch, dass er sie als Helferin eines in Schwierigkeiten steckenden Ehegatten anredet. Das hat eine biblische und auch eine zeitgenössisch-soziale Resonanz. Die biblische liegt darin, dass die erste Frau ja als ,Gehilfin‘ (adiutorium) für den ersten Mann erschaffen wurde. Obwohl ein Wort für Gehilfin nicht im Text 14 Doane [Anm. 1], S. 112. 15 Doane [Anm. 1], S. 122 und 138.

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erscheint – die Erschaffung Evas, sofern eine Erzählung darüber in der altsächsischen Vorlage gestanden hatte, wurde nicht übernommen, und der im Manuskript vorausgehende Teil der „Genesis A“ erzählt sie auch nicht – ist es hier kaum zu übersehen, dass der Dämon Eva in eben dieser Rolle anspricht. Das heißt, er fordert sie nicht direkt zur selbstständigen intellektuellen Denkarbeit über Gottes Gesetz heraus wie Adam. Vielmehr repräsentiert er das Verbot als Objekt des Streites zwischen ihrem Mann und Gott, bei dem sie eine helfende Rolle spielen kann. Eine komplementäre, zeitgenössisch-soziale Dimension diskutiert Jane Chance in ihrem Buch „Woman as Hero in Old English Literature“. Bei den Angelsachsen lag, wie Chance betont, das weltliche Rollenideal der adligen Frau darin, als Friedenstifterin bei Streitigkeiten zwischen verfeindeten Männern und Völkern zu agieren. Das tat sie, indem sie bei Friedensverhandlungen unter verfehdeten Gruppen als Braut weggeschenkt wurde und als Mutter die Blutlinien vermischte; indem sie als Ehefrau über den Trink- und Schenkritualen in der Methalle präsidierte, dort Konflikte nicht aufkommen ließ und ihrem Gatten mit Rat beistand. Die Worte, die dieses weibliche Ideal beschreiben, sind die kenningartigen Bildungen friÅusibb (,Friedenspfand‘) und freoÅuwebbe (,Friedensweberin‘).16 Nach Chance liegt der Grund für Evas Scheitern in der „Genesis B“ darin, dass es dem Dämon gelingt, Eva als eine solche ,Friedensweberin‘ anzusprechen. Sie weist darauf hin, dass er sie zuallererst als fürsorgliche Mutter anredet: cwæÅ Áæt sceaÅena mæst eallum heora eaforum æfter siÅÅan wurde on worulde (549b–551a: ,[Der Dämon] sagte ihr, dass das der größte Schaden für all ihr Nachkommen auf Erden werden würde‘). Als nächstes kommt die oben diskutierte Aufforderung, ihrem Gatten in dem Konflikt mit Gott zu helfen, indem sie ihm Rat gibt. Dazu Chance: „The tempter […] appeals to Eve’s emotional investment in the role of peace-weaver as a way of ameliorating the hostility that may exist between God and his retainer Adam“.17 In diesem Sinne interpretiert die Autorin den Bezug auf Evas w–cran hige. Sie verweist auf weitere Bedeu16 Chance, Jane: Woman as Hero in Old English Literature. Syracuse, New York 1986, S. 1 – 11. Vgl. ähnliche Argumentation bei Hill, Thomas D.: Pilate’s Visionary Wife and the Innocence of Eve: An Old Saxon Source for the Old English „Genesis B“. Journal of English and Germanic Philology 101 (2002), S. 170 – 184, hier S. 183. Chances Analyse wird aufgenommen und weitergeführt bei Overing, Gillian: On Reading Eve: Genesis B and the Reader’s Desire. In: Speaking Two Languages: Traditional Disciplines and Contemporary Theory in Medieval Studies. Hg. v. Frantzen, Allan. Albany 1991, S. 35 – 63; Belanoff, Patricia: The Fall (?) of the Old English Female Poetic Image. Papers of the Modern Language Association 104 (1989), S. 822 – 831. Kritik zur Darstellung Evas als friÅusibb übt Scheck, Helene: Reform and Resistance. Formations of Female Subjectivity in Early Medieval Ecclesiastical Culture. New York, 2008, hier S. 103 – 119. 17 Chance [Anm. 16], S. 73.

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tungsdimensionen des Adjektivs w–c, das auch ,nachgiebig‘, ,biegsam‘, und ,weich‘ bedeuten kann. Ihr Fazit: Thus Eve fails here not because she is unintelligent or inferior to Adam but because she has not been trained to resist, to fight, to remain strong against an adversary, and because this „best of women“ in an Anglo-Saxon society would have been trained instead to concede, to ameliorate, and to harmonize.18

Die Bemerkung über Evas wacra hige wäre dann nicht pejorativ zu verstehen, sondern als sachliche, ja quasi-anthropologische Erklärung: So denken Frauen, so sind sie nun einmal beschaffen. Nicht zu vernachlässigen ist hierbei die Begründung, warum sie so beschaffen sind: hæfde hire wacran hige metod gemearcod, Áæt heo hire mod ongan lætan æfter Áam larum (590b–592a: ,ihr hatte der Messende eine weichere Denkart zugeteilt, so dass sie ihren Sinn nach diesen Lehren zu richten begann‘). In dem Moment, wo Eva durch ihre besondere Denkweise schuldig wird, muss der Hinweis auf deren ultimative Autorschaft die persönlich-subjektive Verantwortung stark relativieren. Das ist sicherlich mit ein Grund, warum die Darstellung von Evas Vergehen als Urhandlung des Sündenfalls im agenslosen Passiv formuliert wird: ne wearÅ wyrse dæd monnum gemearcod (594b–595a: ,Nie wurde den Menschen eine schlimmere Tat zugeteilt‘). Hier werden die Menschen als Opfer eines fast impersonalen Geschehens dargestellt, eines von oben gemearcod-Werdens, das auch Evas Vergehen umfasst und bedingt.19 Wie verhält es sich mit dem zweiten Teil der Versuchung Evas, die Vision Gottes? Hier werde ich mich kurz fassen. Die ,augustinisch-orthodoxe‘ Forschungsrichtung tendiert dazu, die Vision weniger als Täuschung denn als willentliche Selbsttäuschung und Selbstausdruck eines substanzhaft böse werdenden Willens zu interpretieren. Nach Doane z. B. ist die Vision teilweise 18 Chance [Anm. 16], S. 74. 19 Es scheint mir möglich, dass die kontinentalsächsische Quelle, wenn dort auch von metod die Rede war, was wahrscheinlich ist, Gott weniger als – wie bekanntlich im „Heliand“ – eine impersonale, meistens auf negative Art und Weise wirkende Schicksalsmacht intendiert hätte, deren Beziehung zur Macht Gottes nicht präzisiert wird. Vgl. die beiden „Heliand“Passagen 126 – 128 (That ni scal an is lib ¯ a gio l„Åes anb„tan, uu„nes an is uueroldi: sú hab ¯ ed im uurdgiscapu, metod gimarcod endi maht godes, ,Dass er nie im Leben starkes Getränk zu sich nehmen soll, Wein in dieser Welt. So hat es ihm das Schicksal bestimmt und die Macht Gottes.‘) und 510b–512a (Thú gifragn ic, that iru thar sorga gistúd, that sie thiu mikila maht metodes tedÞlda, wrÞÅ wurdigiscapu, ,Dann habe ich gehört, dass ihr Trauriges geschah – dass sie die große Macht des Messenden trennte, das böse Schicksal‘.) Vgl. auch die Komposita metodogiscapu und metodigisceftie, die in den Versen 2190 und 2210 auf ähnliche Weise benutzt werden (dagegen 4827, wo metodogiscapu schwerlich anders als eine Umschreibung von Gottes Plan verstanden werden kann). Zur Schicksalsdarstellung im „Heliand“ Augustyn, Prisca: The Semiotics of Fate, Death, and the Soul in Germanic Culture. The Christianization of Old Saxon. Frankfurt a. M. 2002 (Berkeley Insights in Linguistics and Semiotics 50), S. 57 – 106.

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Alexander Sager

Ergebnis eines halluzinatorischen Zaubers durch den Dämon, großteils aber Ausdruck von Evas eigenen Begierden und Wünschen. Der Teufel schlägt ihr eine Vision vor, sie aber ist es, die ihr den Inhalt liefert, die Erscheinung des thronenden, von seinen Engeln umgebenen Gottes.20 Eva sei auch nicht automatisch zu glauben, wenn sie sagt, der Bote sei ihr als lichter Engel erschienen. Das könne Teil des Selbstbetrugs und vielleicht auch eine Taktik sein, ihrerseits Adam zu täuschen.21 Die Motivationen, die Eva dabei unterstellt werden, sind der Patristik entlehnt: Sinnlichkeit, superbia, der satanische Wunsch, Adams Autorität in Frage zu stellen und zu usurpieren. Unlängst ist ein Artikel vom Anglisten Thomas Hill erschienen, der eine neue Sicht – oder vielleicht eine neue alte Sicht – auf diesen Teil der Dichtung erlaubt.22 Hill verweist auf eine kleine Szene im „Heliand“, die frappante Parallelen zur „Genesis B“ aufweist – so frappante, dass es mir fast unverständlich ist, wie sie noch niemand bemerkt haben konnte. Ich rede von der Vision, die Satan der Ehefrau von Pilatus gibt, als er – der Teufel – verzweifelt versucht, die Kreuzigung zu verhindern und so die Erlösung des Menschengeschlechts im letzten Moment zu vereiteln: Hie thero is br˜di bigann, thera idis opanl„co unhiuri f„ond uuunder túgian, that sia an uuordhelpon Criste uu–ri, that hie muosti quicc libbian, drohtin manno. (5442b–5446a) That uu„f uuard thuo an forahton, su„do an sorogon, thuo iru thiu gisiuni qu–mun thuru thes dernien d–d an dages liohte, an helidhelme bihelid. Thuo siu te iru hÞrren anbúd, that uu„f mid iro uuordon endi im te uu–ren hiet selbon seggian, huat iro thar te gisiunion quam thuru thena hÞlagan mann, endi im helpan bad, formon is ferhe. (5449b–5456a) ,Seiner Gemahlin begann er, der ungeheuere Feind, vor Augen der Frau ein Wunder zu zeigen, damit sie durch ihr Wort brächte Hilfe dem Heliand, damit er behielte sein Leben, der Sterblichen König […] Die Frau geriet in Furcht, sehr in Sorgen, als ihr die Visionen kamen durch des Betrügers Tat bei Tageslicht, verhüllt mit einem Tarnhelm. Dann sandte sie ihrem Gatten, die Frau, eine Botschaft und ließ ihm wahrhaft sagen, was als Vision ihr gekommen war durch diesen heiligen Mann, und sie bat ihm zu helfen, zu schützen sein Leben.‘

20 Doane [Anm. 1], S. 145 – 146. 21 Doane [Anm. 1], S. 145 – 153. 22 Hill [Anm. 16].

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Die Parallelen sind folgende: In beiden Fällen handelt es sich um eine wahre geistige Vision, die einer sonst unschuldigen Frau durch einen Teufel zuteil wird. In beiden Fällen versucht der Teufel, den göttlichen Plan zu verhindern. Beide sind Visionen im Wachzustand. Und in beiden Szenen trägt der Teufel einen Tarnhelm (hæleÅhelm). Dieses letzte Detail war natürlich schon längst bemerkt worden, aber vor Hills Artikel 2002 hat offenbar niemand die beiden Episoden insgesamt miteinander verglichen. Für ihn ist wahrscheinlich, dass die „Heliand“-Episode die unmittelbare Quelle der Darstellung in der „Genesis B“ bildet. Hills Beitrag ist vor allem eine Quellenstudie, er ist betont vorsichtig, was die Folgen davon für die literarische Interpretation der „Genesis B“ betrifft. Trotzdem macht er am Ende Argumente geltend, die gegen die einseitige Auslegung des Textes als eines verlängerten Arms der patristischen Kommentartradition gerichtet sind und die den germanischen Hintergrund wieder stark betonen: „Genesis B“ is clearly a Christian poem, but it is also a poem written (originally) in Old Saxon alliterative meter and one which draws on Germanic literary tradition in a variety of ways. The account of the fall in „Genesis B“ is therefore necessarily both Christian and Germanic, and from one perspective the account of the fall of Adam and Eve is the story of a feud, which like so many feuds in Germanic heroic lore was initiated inadvertently. More precisely it is the story of a man and woman who unintentionally forfeited the protection and favor of their lord, but who continue to respect his authority and desperately wish to be restored to his favor. In order to tell this Germanic story of the fall, the poet needed to explore the motives of Eve rather more deeply than the author of the Biblical text. It was also important in the development of his narrative that Eve be, at least subjectively innocent; so, in order to exonerate her, the poet adapted a narrative episode from the great Old Saxon verse narrative of the Gospels which must have been one of the first written literary texts in his language.23

Hill beschreibt den Sündenfall der „Genesis B“ als im allgemeinen Sinn ,tragisch‘: Der gute Wille wird frustriert, gute Absichten werden untergraben, die Hoffnung der menschlichen Unschuld und Freude wird zunichte gemacht durch die böse Feindschaft des Teufels und seines Boten. Bei Eva allein aber sehen wir, meine ich, eine zusätzliche Dimension der tragischen Ironie. Die besondere Raffinesse der Teufelslist besteht darin, dass eine Frau ihr umso sicherer erliegen muss, je mehr sie versteht (holdne hyge), je vorbildhafter sie sich verhält in ,traditionellem‘ Sinne, desto treuer sie ihrer von Gott ,zugemessenen‘ Natur als Gehilfin ihres Mannes bleibt.

23 Hill [Anm. 16], S. 183 – 184.

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III.

Alexander Sager

Das Nachspiel im Garten24

Der Teil der „Genesis B“, mit der eine augustinische Auslegung am schwierigsten zurechtkommt, hat mit dem Verhalten von Eva und Adam nach dem eigentlichen Sündenfall zu tun. Soweit ich weiß, ist diese Episode nie im Lichte der zeitgenössischen Exegese zu den relevanten Bibelstellen besprochen worden.25 Wie wir gesehen haben, weicht die Handlung auch hier von der Bibel ab: Statt eines Versuchs, sich der Verantwortung zu entziehen, zeigt das Paar sofort Einsicht in seinen Fehler, bekennt Reue, bittet Gott um eine angemessene Strafe und gelobt Besserung. Alle drei Aspekte einer modellhaften Buße – contritio, confessio, satisfactio – sind hier repräsentiert.26 Die theologischen Konsequenzen dieser Abweichung von der sakralen Handlung wiegen schwer, meines Erachtens sehr viel schwerer als bei der Versuchung Adams oder der Vision Evas. Denn es sind vor allem die Hartnäckigkeit und Verantwortungslosigkeit Adams und Evas, die die harte Strafen, die zum Verlust des Paradieses hinzukamen, als gerecht und verdient erscheinen lassen. Und mehr noch: Für die mittelalterlichen Bibelkommentatoren war es besonders ihr Verhalten nach dem Essen vom Baum, was konkretes Zeugnis ablegte für ihr Denken vor dem eigentlichen Akt. Das geht sehr klar aus einer autoritativen und später breit rezipierten Stelle aus De Genesi ad litteram des Augustinus hervor, wo er Adams und Evas Ausreden vor Gott (Gen. 3: 12 – 13) auslegt: Et dixit Adam, Mulier quam dedisti mecum, haec mihi dedit a ligno, et edi. Eia superbia! numquid dixit, Peccavi? Habet confusionis deformitatem, et non habet confessionis humilitatem. Ad hoc ista conscripta sunt […], ut advertamus, quo morbo superbiae laborent homines hodie […]. Et dixit Dominus Deus mulieri, Quid hoc fecisti? Et dixit 24 Eine starke Erweiterung von diesem Teil, erst nach Abfassung des vorliegenden Beitrages erforscht und geschrieben, ist inzwischen schon erschienen: Sager, Alexander: After the Apple: Repentance in Genesis B and its Continental Context. In: Journal of English and Germanic Philology 112.3 (2013), S. 292–310. 25 Wenigstens nicht bei Burchmore [Anm. 3], die den exegetischen Hintergrund zu den anderen Episoden am ausführlichsten aufarbeitet, einschließlich vieler Zitate aus Augustinus’ „De Genesi ad litteram“ (siehe unten). Doane erwähnt die Episode kaum [Anm. 1], S. 152. 26 Reue/contritio: ,Von selbst verstanden sie, dass sie [Gottes] Wort verdreht hatten. Das Weib trauerte und klagte mit reuigem Gemüt. Sie hatte die Huld Gottes, seine Lehre, verlassen‘ (769b–772a: selfe forstodon / his word onwended. Áæt wif gnornode / hof hreowigmode: hæfde hyldo godes, / lare forlæten). Schuldbekenntnis/confessio und Bereitschaft zur Wiedergutmachung/satisfactio: ,Oft fielen sie zusammen zum Gebet, redeten den Herrn des Sieges an, riefen zu Gott, dem Herrscher des Himmels, und baten ihn, dass sie eine Strafe haben sollten, die sie eifrig abbüßen wollten, weil sie seinen Befehl gebrochen hatten‘. (777b–783a: Hwilum to gebede feollon / sinhiwan somed, and sigedrihten / godne gretton and god nemdon, / heofones waldend, and hine bædon / Áæt hie his hearmsceare habban mosten, / georne fulgangan, Áa hie godes hæfdon / bodscipe abrocen).

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mulier, Serpens seduxit me, et manducavi. Nec ista confitetur peccatum, sed in alterum refert, impari sexu, pari fastu. […] Restabant labores, dolores mortis, et omnis contritio saeculi, et gratia Dei qua tempore opportuno subvenit hominibus, quos afflictos docuit non de seipsis debere praesumere.27 ,Da sprach Adam: ,Das Weib, das du mir gegeben hast, gab mir von dem Baum, und ich aß‘. Ach, welcher Hochmut! Sagte er nicht etwa: ,Ich habe gesündigt?‘ Er hatte die Deformität der Verwirrung, nicht die Demut der Schuldbekenntnis. Diese Dinge wurden deshalb geschrieben […], damit wir sehen können, unter was für einer Krankheit des Hochmuts die Menschen heute leben […]. Da sprach Gott der Herr zum Weibe: ,Warum hast du das getan?‘ Das Weib sprach: ,Die Schlange betrog mich, so dass ich aß.‘ Auch sie gestand die Sünde nicht, sondern verwies auf einen anderen – ungleich [war sie] im Geschlecht, aber gleich in der Arroganz! […] Das Ergebnis war Mühsal, die Schmerzen des Todes und die Zerknirschung der ganzen Welt und auch die Gnade Gottes, die den Menschen zur gelegenen Zeit kommt und sie unter Leiden lehrt, dass sie sich nicht erdreisten sollten.‘

Die Aufnahme dieser Passage im Bibelkommentar des Fuldischen Abts Hrabanus Maurus bedeutet höchstwahrscheinlich, dass sie eine – wenn nicht die – Standardauslegung der entsprechenden Bibelstellen war in zeitlicher und wohl auch örtlicher Nähe (Fulda) zur Entstehung der „Genesis B“.28 Wenn dies zutrifft, dann hat die Interpretation dieses Textes ein umso größeres Problem, je enger sie sich auf die traditionelle Exegese stützen will. Man kann argumentieren, dass Adams Versuchung dazu da ist, um das paulinische Wort Adam non est seductus und das damit einhergehende Geschlechterverständnis abzurufen. Man kann argumentieren, dass Evas Vision deren sinnlich orientierte und übermütig-anmaßende Natur widerspiegelt. Völlig unmöglich dürfte es dagegen sein, in den bußfertigen Sündern der „Genesis B“ Figuren zu sehen, die eine augustinische Lektüre des biblischen Nachspiels im Garten auch nur im Entferntesten tragen könnten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der ursprüngliche Text eine Szene enthalten hätte, in der Gott die Sünder zur Rede stellt (Im Junius Manuskript gibt es eine solche Szene, ein Teil von der sogenannten „Genesis A“ von späterer und rein angelsächsischer Provenienz). In Bezug auf theologische oder dogmatische Gesichtspunkte jedoch – und davon geht die exegetische 27 Aurelius Augustinus: De Genesi ad litteram, 11. 47 – 48. In: Patrologia Latina Bd. 34, col. 0448 – 0449. 28 Hrabanus, Commentariorum in Genesim libri quatuor, Patrologia Latina Bd. 107, col. 493B – C. In gekürzter Form auch schon bei Alcuin, Interrogationes et responsiones in Genesin, Patrologia Latina Bd. 100, col. 524 A – B; etwas abgewandelt bei Notkers Kommentar zu Psalm 119, 21 (increspasti superbos): Mahta Got zeuu„uelon uu–r adam uu–re. do er fr–geta. Adam vbi es? Vu–r bist du chad er. s„d d˜ an demo statu nebist. an demo ih dih kescuúf. Dar neuuoltost d˜ s„n. uu–r bist du danne n˜. –ne in miseria? Neist daz increpando gesprochen? unde neist uns di˜ increpatio hereditaria uuordeni˜ in unseren manigfalten erumnis? (Die Schriften Notkers und seine Schule. Hg. v. Piper, Paul. Freiburg 1895, Bd. 2, S. 505).

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Forschungsrichtung ja in erster Linie aus – könnte eine solche Episode nur darin bestehen, dass Gott die Geisteshaltung bestätigt, die er bei Adam und Eva vorfindet. Wenn das biblische Nachspiel im Garten Einsicht in die Sündenpsychologie der biblischen Versuchung gewährt, so muss dasselbe gelten für die „Genesis B“. Wenn das uneinsichtige Verhalten des biblischen Paares von dessen superbia und bösem Willen auch vor der Ursünde zeugt, dann müsste das bußfertige Verhalten in der „Genesis B“ gerade für exegetisch orientierte Leser – sowohl heutige als auch mittelalterliche – als ein demonstratives Zeichen dafür gewertet werden, dass der Hochmut und der böse Wille hier nicht vorhanden sind. Wenigstens nicht bei Eva und Adam. Denn sie sagen doch „peccavimus!“, sie haben confessionis humilitatem.29 Die superbia sieht in der „Genesis B“ anders aus. Wir sehen sie bei Satan, der sich nach seinem „Sündenfall“ nur weiter in trotzige Auflehnung und larmoyante Selbstgerechtigkeit hineinsteigert. Diese Haltung wird auch explizit genannt: ofermod (262b, 272a, 338a). Nirgends wird dieser Begriff mit Adam oder Eva assoziiert. Hier wird offenbar ein starker Kontrast zu Satan und zum satanischen Modus der Auflehnung aufgebaut. Die Episode hat eine ganz interessante theologische Nebenfolge: Anders als bei den meisten poetischen Genesisdarstellungen macht sie die „Genesis B“ ungeeignet als Vorlage zur Mitteilung der kirchlichen Doktrin der Erbsünde. Wenn Menschen so exemplarisch bußfertig sind, wie Eva und Adam hier dargestellt werden, müsste ihnen nach kirchlicher Doktrin vergeben werden. Deshalb glaube ich, dass der ursprüngliche Text eben keine Unterredung mit Gott darstellte. Was hätte der nämlich anders tun können als dem Paar zu verzeihen und es wieder in seine Huld aufzunehmen? Alles andere wäre unchristlich. Das bedeutet nicht, dass der Text einen theologisch unorthodoxen Standpunkt vertritt. Es bedeutet nur, dass die Erbsünde nicht zu den Lehren gehörte, die der Text illustrieren wollte. Oder dass es hier um andere Lehren geht, deren Exemplifizierung durch eine traditionelle Darstellung des Nachspiels im Garten nicht gefördert wäre. Wirklich unorthodox wäre der Text nur dann gewesen, wenn er der Botschaft der Erbsünde explizit vorgebaut hätte – indem er etwa eine wie oben angedeutete Unterredung mitsamt Versöhnung mit Gott dargestellt hätte.30 Das tut er aber nicht. Er geht dem Erbsündenkomplex einfach aus dem Weg. 29 Auch in der Fortsetzungsszene der „Genesis A“ betonen Adam und Eva Gott gegenüber, dass sie gesündigt haben und sich sehr schämen (Adam: 869 – 70; 885; Eva: 896 – 902) (Genesis A: A New Edition. Hg. v. Doane, Alger. Madison 1978, S. 119 – 123). 30 Gelegentlich wird die Idee thematisiert, dass sich die Ursünder mit Gott noch hätten im Garten versöhnen können, wenn sie nur bußfertig gewesen wären. Z. B. bei Avitus von Vienne im dritten Buch seines Bibelepos (MHG Auct. ant. 6. 2, S. 224 – 235; vgl. die Diskussion bei Hoffmann, Manfred: Principles of Structure and Unity in Latin Biblical Epic. In: Poetry and Exegesis in Premodern Latin Christianity : The Encounter between Classical

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Warum? Ich halte es für wahrscheinlich, dass das theologische Hauptanliegen des Textes im selben praktisch-pastoralen Bereich angesiedelt ist, von dem auch die vielen volkssprachigen Beichtformeln dieser Epoche zeugen: in der Verfestigung einer christlichen Bußpraxis unter den Laien. Weil Adam und Eva paradigmatische Sünder sind (,alle haben wir in Adam gesündigt‘), so kann man sich pastorale Szenarien vorstellen, wo es von Vorteil wäre, sie auch als modellhafte Büßer zu präsentieren. Die Bußkultur dürfte auch in den späteren Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts – so die jüngeren Datierungstendenzen in der Forschung – in der sächsischen Kirche noch unvollendet genug gewesen sein, um solche taktische Freiheit von der sakralen Überlieferung zu rechtfertigen, auch – oder besonders – in einer so charismatischen Erzählung. Auch die Beteuerung, Eva handle aus ,treuen Gedanken‘, würde in diesem Zusammenhang eine natürlich-menschliche Erklärung finden: Es ist immer leichter, Menschen zur Bekenntnis von Schuld zu bewegen, wenn man sie wissen lässt, man schreibe ihnen gute – oder wenigstens keine bösen – Absichten zu. Das bringt uns am Schluss wieder zu Eva. Es ist wohl auch kein Zufall, dass im Text zuerst von ihrer individuellen Reue die Rede ist (770b–772a). Bis zu Adams ausführlicher Rüge (790 – 820) hat sie also selbst und unabhängig von ihrem Mann den ersten und wichtigsten Schritt im Bußprozess schon geleistet – den geistigen Schritt, auf den es ankommt. Von einem allzu ,schwachen‘ Intellekt zeugt das nicht, vielmehr von der einfühlsamen, ,weichen‘ Denkart der Friedensweberin – einer Denkart, die am Ende auch eine gewisse Selbstreflexion impliziert. Wenn die Versuchung durch den Dämon die Nachgiebigkeit und Anfälligkeit von w„fes wac geÁoht und w–cran hige demonstriert, zeigen diese am Ende doch eine innere, rettende Stärke.

and Christian Strategies of Interpretation. Hg. v. Otten, Willemien und Pollmann, Karla. Leiden 2007, S. 139 – 146, hier S. 141 – 142). Dieselbe Idee liegt hinter Notkers Aussage zu Psalm 70: Adam solta fliÞhen zuú dir. er flúh vone dir [Anm. 27, S. 276].

Markus Stock (Toronto)

Lesbarkeit. Herrscher und Verräter im „Alexander“ Rudolfs von Ems

I

Ambivalenzen der Alexandertraditionen

Für die meisten mittelhochdeutschen Alexanderepen beginnt das Leben Alexanders des Großen im Betrug und endet im Verrat. Selbst diejenigen Texte, die das durch die lateinischen Bearbeitungen des griechischen Alexanderromans im Westen verbreitete Skandalon der Zeugung Alexanders durch den betrügerischen Pharao-Magier Nektanabus ablehnen, erkennen die Virulenz des Motivs noch in der Negation an: Noch sprechint manige lugenÞre Daz er eines gouchelÞres sun wÞre, Alexander, dar ih ˜ von sagen: Si liegent als búse zagen, alle, di is ie ged–hten, wande er was rehte kunincslahte („Straßburger Alexander“, V. 83 – 88).1 1 Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg. v. Lienert, Elisabeth. Stuttgart 2007 (RUB 18508); s. a. „Vorauer Alexander“ (ebd.), V. 71 – 76, und die Quelle dieser Invektive, Alberics „Alexander“-Fragment; Mölk, Ulrich u. Holtus, Günter : Alberics Alexanderfragment. Neuausgabe und Kommentar. In: ZfrPh 115 (1999), S. 582 – 625, hier S. 591, V. 27 – 32. Die narrative Virulenz der Zeugung und Geburt Alexanders in der mittelhochdeutschen Literatur hat in den letzten zwölf Jahren einige Forschungsaufmerksamkeit erhalten: Stock, Markus: Alexander in der Echokammer. Intertextualität in Ulrichs von Etzenbach Montagewerk. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hg. v. Henkel, Nikolaus u. a. Tübingen 2003, S. 113 – 134, hier S. 124 – 131; Braun, Manuel: Vom Gott gezeugt: Alexander und Jesus. Zum Fortleben des Mythos in den Alexanderromanen des christlichen Mittelalters. In: ZfdPh 123 (2004), S. 40 – 66; Kragl, Florian: De ortu Alexandri multiplicis. Nektanebus ze diute getihtet, in: Troianalexandrina 6 (2006), S. 35 – 80; Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 80 – 92; Stock, Markus: Alexanders Orte: Narrative ,Bewältigungen‘ und Transformationen in der lateinischen und mittelhochdeutschen Alexanderepik. In: Antikes Erzählen. Narrative Transformationen von Antike in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Heinze, Anna u. a. Berlin, Boston 2013 (Transformationen der Antike 27), S. 9–25, hier S. 11–15; Zimmermann, Julia: Narrative Lust am Betrug. Zur Nekt–nabusEpisode in Rudolfs von Ems ,Alexander‘, in diesem Band, S. 261–279.

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Markus Stock

Dasselbe gilt für das Ende im Verrat, die Vergiftung Alexanders in Babylon: Sogar der „Straßburger Alexander“, der dem Makedonenherrscher gegen alle Überlieferung nach einem ruhelosen Erobererleben einen zwölfjährigen Endabschnitt als griechischer Friedensherrscher zugesteht, präsentiert, wenngleich in Abbreviatur und ohne die sonst gebräuchliche szenische Ausschmückung, Alexanders Ende in üblicher Gewaltsamkeit: Dú wart ime vergeben. / Sinte ne mohter niwit leben, / wandime s„n houbet gare zespielt.2 Diese Marken legen den Rahmen von Alexanders Leben fest, sind aber nur die vielbeachteten Rand- und Höhepunkte einer ganzen Reihe von Verrats- und Verdachtsepisoden, in denen Krisen einer auf den Herrscher und seinen Körper zentrierten Machtausübung und -repräsentation durchgespielt werden. Die mittelalterlichen Alexanderepen weisen nämlich, darin den antiken Überlieferungen folgend, zahlreiche, oft wiedererzählte Kernepisoden auf, an denen der Umgang mit Verrat, Verratsverdacht, mit Verdächtigen und Vertrauten gezeigt, diskutiert und sinnstiftend modifiziert werden konnte. Dieser Umgang und seine Varianten werden dann besonders augenfällig, wenn man die Gegebenheiten mittelhochdeutscher Alexandererzählungen im Auge behält, die auf multiplen Überlieferungstraditionen fußen und sich in jedem ihrer Exemplare immer wieder neu auf die lateinischen Traditionen zurückbeziehen. Dadurch gewinnt diese Konstellation an Komplexität, denn die Sinnstiftungen in diesen Kernepisoden tendieren zu Hybridität und verraten historisch-intertextuelle Tiefe, auf die sich die gegebenen Gestaltungen zumindest implizit einlassen müssen. Im Folgenden will ich zwei Episoden besprechen, in denen vermeintliche oder wirkliche Regizid-Versuche im Zentrum stehen. Diese Episoden sind nicht nur aufschlussreich für die literarischen Gestaltungen von Verstellung und Betrug, um die es in diesem Band geht, sondern auch für die historische Konturierung der mit diesen eng zusammenhängenden sozialen Interaktionsform: Beobachtung und Beobachtungsbeobachtung und, verbunden mit diesen, Lesen und Lesbarkeit, in erster Linie Lesbarkeit von Interaktionspartnern.3 In der Hauptsache, aber nicht ausschließlich, werde ich mich dabei auf den „Alexander“

2 Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman [Anm. 1]; für eine komparatistische Studie der letzten Tage Alexanders in mittelalterlicher Gestaltung s. Alexander the Great in the Middle Ages: Ten Studies on the Last Days of Alexander in Literary and Historical Writings. Hg. v. Aerts, Willem J. u. a. Nijmegen 1978. 3 Dazu grundlegend Wenzel, Horst: Partizipation und Mimesis. Die Lesbarkeit der Körper am Hof und in der höfischen Literatur. In: Materialität der Kommunikation. Hg. v. Gumbrecht, Hans Ulrich u. Pfeiffer, K. Ludwig. Frankfurt a. M. 1988 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 750), S. 178 – 202; Philipowski, Katharina: Die Gestalt des Unsichtbaren. Narrative Konzeptionen des Inneren in der höfischen Erzählliteratur. Berlin, Boston 2013 (Hermaea 131), S. 1–33 und S. 237–311.

Lesbarkeit

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Rudolfs von Ems beziehen, einen Fragment gebliebenen höfischen Alexanderroman des 13. Jahrhunderts.4 Wie jeder andere mittelhochdeutsche Alexandertext muss Rudolfs Fragment mit erheblichem Traditionsdruck und bedeutendem Eigengewicht der vorgängigen Informationen und Narrationen über Alexander den Großen umgehen. Rudolf reagiert darauf unter anderem in mehreren Buchprologen mit einem expliziten Programm der Quellenbehandlung und mit einer Stildiskussion.5 Allerdings bleiben, wie ich zeigen werde, die Ambivalenzen und intertextuellen Brüche im Text trotz dieses metapoetischen Versuchs der Harmonisierung bestehen. Dies hängt auch mit der Eigenheit des Feldes, von dem dieser Traditionsdruck ausgeht, zusammen. Schriftlichkeit spielt von Beginn der Tradition an, wahrscheinlich von Alexander noch selbst befördert, eine große Rolle.6 Darstellungen der schillernden Vita Alexanders waren offenbar im Rahmen dieser Verschriftlichungsvorgänge sehr früh intensiven Deutungsprozessen unterworfen und die Vita hat (offenbar ebenfalls bereits sehr früh) unterschiedliche Deutungen erfahren. So scheint die Ambivalenz, die oftmals auch im mittelalterlichen Umgang mit dem Makedonenherrscher zu beobachten ist, ein früh entstandenes, im Feld fortgeschriebenes Phänomen zu sein. Diese Archi-Ambivalenzen, die alten Sinndeutungsspannungen im Erzählen über Alexander, gewinnen zwar mit dem Eintritt in ein christliches Deutungsschema teilweise an Brisanz, aber es darf nicht übersehen werden, dass die neuen Deutungen oft auf diesen alten Spannungen aufruhen: Dazu gehört auch der Themenkomplex ,Verrat‘, der eine prominente Stellung in der Alexandertradition einnimmt. Ein Modell von Literarizität, das darauf baut, dass ein komplexer Text ambiguisierend auf einen vorgegebenen Stoff reagiert, ist daher für das mittelalterliche Erzählen über Alexander fehl am Platz. Das textuell offene und grundlegend ambige Feld erfordert vielmehr eine andere interpretatorische Praxis. Diese sollte einbeziehen, dass die mittelalterliche Alexanderliteratur eine 4 Zitiert wird nach Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Hg. v. Junk, Victor. Leipzig 1928 f. (BLVS 272. 274), repr. Darmstadt 1970. 5 Dazu Schmitz, Silvia: Die ,Autorität‘ des mittelalterlichen Autors im Spannungsfeld von Literatur und Überlieferung. In: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Hg. v. Fohrmann, Jürgen u. a. Bielefeld 1999, S. 465 – 483, hier S. 472 – 478; Schmitt, Stefanie: Inszenierungen von Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman. Tübingen 2005 (MTU 129), S. 114 – 126; dies.: Autorisierung des Erzählens in Romanen mit historischen Stoffen? Überlegungen zu Rudolfs von Ems ,Alexander‘ und Konrads von Würzburg ,Trojanerkrieg‘. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hg. v. Kellner, Beate u. a. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 187 – 201, hier S. 189 – 195. 6 Cartledge, Paul: Alexander the Great. The Hunt for a New Past. New York 2005, S. 267 – 294; zu den Versuchen einer ,Bewältigung‘ der antiken Ambivalenzen durch mittelalterliche Texte s. Stock, Alexanders Orte [Anm. 1], S. 9–11.

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Reaktion auf die textuelle Offenheit und thematische Ambivalenz der lateinischen Vorlagentexte ist. So entsteht eine Spannung zwischen dem Willen zur Vereindeutigung der volkssprachlichen Texte und dem genannten Eigengewicht der vorgängigen Informationen und Erzählungen über Alexander den Großen, welche die Offenheit und Ambivalenz latent oder offenbar wieder einbringen. Rudolfs von Ems „Alexander“ geht auf zwei Traditionen zurück, was gelegentlich die Ambivalenzen verstärkt und Widersprüche hervorruft: Die eine, über viele Vermittlungstufen, ist der griechische Alexanderroman. Der Archipresbyter Leo hat ihn im zehnten Jahrhundert ins Lateinische übersetzt, nachdem er, wenn man dem begleitenden Paratext Glauben schenken kann, ihn während einer diplomatischen Mission in einer Bibliothek in Konstantinopel entdeckt hatte.7 Dieser Text wurde zur einflussreichsten Alexandererzählung des lateinischen Westens. In seinen weitverbreiteten erweiterten Fassungen wird er im Allgemeinen als „Historia de Preliis Alexandri Magni“ (HdP) bezeichnet.8 Gemeinhin liest man in der Forschung, dass diese in drei interpolierten Redaktionen (J1, J2, J3) überliefert sind. Wenn man aber genauer hinsieht, löst sich die scharfe Trennung dieser Redaktionen allerdings auf in etwas, was man als eine offene, bewegliche Textualität bezeichnen könnte, deren Aggregatzustände weder theoretisch ausreichend reflektiert noch methodologisch aufgearbeitet oder philologisch beschrieben sind.9 Wichtiger noch für Rudolfs „Alexander“ ist der im zwölften Jahrhundert wiederentdeckte Text von Curtius Rufus, eine spätantik-lateinischen Alexandervita, die rhetorisch und historiographisch akzentuiert ist.10 Nicht nur Rudolf, sondern alle deutschen Alexander-Texte des hohen und späten Mittelalters schließen in ihren Wiedererzählungen der Alexandervita unmittelbar oder mittelbar an eine oder mehrere dieser Traditionen an. Wie das gesamte Feld – der Befund ließe sich auf die gesamte Alexanderüberlieferung

7 Die Historia de Preliis Alexandri Magni:(Der lateinische Alexanderroman des Mittelalters): Synoptische Edition der Rezensionen des Leo Archipresbyter und der interpolierten Fassungen J1, J2, J3, (Buch I und II). Hg. v. Bergmeister, Hermann-Josef. Meisenheim am Glan 1975 (Beiträge zur klassischen Philologie 65), S. 2 f. 8 Zitiert wird nach: Die Historia de Preliis Alexandri Magni [Anm. 7]. 9 Wichtige Hinweise dazu bei Schnell, Rüdiger : Liber Alexandri Magni. Die Alexandergeschichte der Handschrift Paris, BibliothÀque Nationale, n.a.l. 310. München 1989 (MTU 96), S. 32 – 34 u. 58 – 62. 10 Zitiert wird nach: Quintus Curtius: History of Alexander. With an English Translation by Rolfe, John C. 2 Bde. Cambridge, Mass., 1946 (Loeb Classical Library 368. 369), repr. 2006. Zum historisch-politischen Ort und Interesse der spätantiken Alexandergeschichtsschreibung s. Spencer, Diana: The Roman Alexander : Reading a Cultural Myth, Exeter 2002, und Hahn, Thomas: East and West, Cosmopolitan and Imperial in the Roman Alexander. In: Alexander the Great in the Middle Ages: Transcultural Perspectives. Hg. v. Stock, Markus. Toronto 2015 [im Druck].

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von Westeuropa bis nach Persien und Malaysia ausweiten11 – gruppiert sich die mittelalterliche deutsche Tradition um feste Kerne, um Szenen und Situationen, die immer wieder in den Texten auftauchen. Diese Kerne sind oft besonders prägnante Szenen, narrative Ausgestaltungen von Faszinationspunkten der Vita, thematisieren Grenz- und Transgressionserfahrungen, Extreme des Wissens, Erweiterung der Horizonte; gleichzeitig aber beinhalten sie nicht selten auch erzählte Ausfaltungen bestimmter für ihre Kultur relevanter Diskussionen und Probleme.12

II

Der Körper des Herrschers

Einige dieser narrativen Kerne problematisieren den Makedonenherrscher in seinem Verhältnis zu Vertrauten und Untergebenen. Dies ist ein oft behandeltes Thema, da Macht im Rahmen vieler Alexander-Viten fast vollständig auf den Herrscher zugeschnitten ist.13 Dass Verrat und Verschwörung in diesen Texten häufig thematisiert werden, ist früh in der Tradition angelegt, was wohl auf historische Tatsachenspuren schließen lässt. Das Thema weckte aber auch im Mittelalter, wahrscheinlich wegen seiner Relevanz für Machtfragen, besondere Aufmerksamkeit, und in den meisten mittelalterlichen Alexandertexten wird ihm quantitativ und qualitativ viel Gewicht beigemessen. Verrat, Verratsverdacht und der Umgang mit dem Verräter oder dem des Verrats Verdächtigten sind also im Zusammenhang mittelalterlicher Herrschaftsausübung brisant. An ihnen kann narrativ entfaltet werden, ob und wie eine auf personale Bindung aufgebaute Herrschaftsausübung funktionieren kann. Verrat ist die akute Krise in einem solchen Modell, aber latent ist er als Problem immer vorhanden. Herrschaftsausübung auf der Grundlage personaler Bindung setzt „Mechanismen des Vertrauens“ voraus, wie Hans-Jürgen 11 S. Stock, Markus: The Medieval Alexander : Transcultural Ambivalences. In: Stock [Anm. 10] [im Druck]. 12 Meine Verwendung des Begriffs ,Kern‘ stimmt mit dem Begriff der ,Erzählkerne‘, wie JanDirk Müller [Anm. 1] ihn versteht, in dem Sinne überein, dass es auch mir um prägnante Szenen im epischen Erzählen geht, anhand deren relevante Gesellschaftsprobleme narrativ verhandelt werden. Allerdings scheint es mir für die Alexanderüberlieferung darüber hinausgehend wichtig zu sein, dass diese Verhandlungen in historischer Überlieferung, dem Immer-Wieder-Erzählten, verdichtet werden. S. a. meine Rezension in JEGP 110 (2011), S. 271 – 273. 13 Wieder weicht hier vor allem der „Straßburger Alexander“ ab, der der „Dialektik der vasallitischen Machtkette“ besondere Bedeutung beimisst: dazu Schlechtweg-Jahn, Ralf: Macht und Gewalt im deutschsprachigen Alexanderroman. Trier 2006 (LIR 37), S. 58 – 68, hier S. 58.

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Bachorski es formuliert hat, „gutwillige Unterstellungen“,14 dass alle Seiten sich der Bedeutung von systeminterner Aufrichtigkeit in einem solchen auf personaler Bindung beruhenden Modell bewusst sind und dementsprechend handeln. Daraus ergibt sich die besondere Brisanz von Verrat und Verstellung und auch die Wichtigkeit, Zeichen des Verrats zu erkennen. Auch vor dem Hintergrund der Bemühungen um eine Neubewertung von Rudolfs „Alexander“ könnte ein erneuter Blick auf diese Problematik hilfreich sein. Zuletzt hat Ralf Schlechtweg-Jahn im Rahmen seiner Analyse der „Möglichkeiten und Grenzen von Machtkommunikation“15 in Rudolfs „Alexander“ auf die Bedeutung dieses Themenfelds für den Text hingewiesen. Schlechtweg-Jahn plädiert für eine Abkehr von der Konzentration auf den höfischen Herrscherglanz Alexanders und seiner Idealisierung16 und für eine Konzentration auf die „innere Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit charismatischer Macht“ (S. 87) in diesem Text. Damit bietet er einen willkommenen Neuansatz für die Beurteilung des „Alexander“. Darüber hinaus kann dieser Fokus auch den Blick dafür schärfen, wie bestimmte Erzählkerne in der Alexander-Überlieferung entscheidende Probleme von Herrschaft verhandeln. Dabei lohnt es sich, die lateinische Tradition einzubeziehen, da sie für die Verratsszenen besonders aufschlussreiche Vergleiche anbietet. Das Problemfeld ,Verrat‘ wird oft dann aktiviert, wenn Herrscher und Herrschaft Schwäche zeigen. Eine solche Situation der Schwäche ist das Thema eines weithin überlieferten Kerns des mittelalterlichen Erzählens über Alexander : seine schwere Erkrankung kurz vor der entscheidenden Schlacht gegen den Perserkönig Darius. Zu bedenken ist hierbei, dass die auf den Herrscher als Person zugeschnittene Herrschaftskonzeption eine auf den Körper bezogene ist und sich als solche im Körper oder am Körper des Königs realisiert. Da die mittelalterlichen Autoren Alexander auch als heilsgeschichtlich relevanten Herrscher sahen, muss die Gefährdung des sterblichen Körpers vor dem Sieg über die Perser ein besonders heikler Moment sein. Für die deutsche Tradition scheint spätestens mit Rudolf von Ems die Vorstellung einer gottgegebenen 14 Bachorski, Hans-Jürgen: Lügende Wörter, verstellte Körper, falsche Schrift. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. v. Wenzel, Horst u. a. Berlin 1997, S. 344 – 364, hier S. 354. 15 Schlechtweg-Jahn [Anm. 13], S. 87. 16 Dies ist vor allem gegen die einflussreiche Arbeit Brackerts gerichtet (Brackert, Helmut: Rudolf von Ems. Dichtung und Geschichte. Heidelberg 1968). Zurecht kritisch äußert sich auch Stefanie Schmitt über die These Brackerts, dass Rudolf den „Alexander“ als idealisierenden Fürstenspiegel für die Staufer geschrieben habe. Schmitt, Stefanie: Alexander monarchus. Heilsgeschichte als Herrschaftslegitimation in Rudolfs von Ems Alexander. In: Herrschaft, Ideologie und Geschichtskonzeption in Alexanderdichtungen des Mittelalters. Hg. v. Mölk, Ulrich u. a. Göttingen 2002 (Literatur und Kulturräume 2), S. 290 – 331, hier S. 316 – 322.

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Herrschergewalt Alexanders trotz seines vorchristlichen Heidentums akzeptiert gewesen zu sein. Er ist es, der die translatio imperii, die Übertragung gottgegebener Weltherrschaft, von der Persern auf die Griechen vollzieht. In dieser Vorstellung existiert imperiale Herrschaftsgewalt unabhängig von ihrer jeweiligen Ausübung durch einzelne Herrscher, gleichzeitig aber ist der einzelne Herrscher auch die aktuelle Verkörperung oder Sichtbarmachung dieser Gewalt. Die Erkrankung Alexanders gefährdet neben seinem Leben auch die Möglichkeit der Verkörperung überpersönlicher imperialer Herrschergewalt, die ihm erst nach dem Sieg über Darius zukommen wird.17 Alexander erkrankt aufgrund seiner ihn in allen Traditionen kennzeichnenden Waghalsigkeit und Sorglosigkeit. Ein Bad in einem eiskalten Fluss führt einen schockähnlichen Zustand und hohes Fieber herbei. Für die hochmittelalterlichen Autoren musste die Brisanz dieser Situation klar sein: Eine Erkrankung Alexander gefährdet nicht nur sein Leben, sondern zieht im umrissenen Sinne auch eine potenzielle Gefährdung der ganzen Gefolgschaft und vielleicht sogar der heilsgeschichtlichen translatio imperii nach sich. Diese Schwäche, zunächst somatisch als Krankheit des Königs narrativ ausgefaltet, zeigt sich vor dem Hintergrund dieser Konzeption des Königskörpers als die schwerste Krise, in die Alexanders Heerzug bis zu diesem Punkt geraten ist. In dem Maße, in dem der Herrscherkörper über sich selbst hinaus auf ein ,körperliches‘ Verständnis von Macht und ihrer Repräsentation verweist, ist Siechtum dieses Körpers eine Ordnungskrise.18 Diese somatische Akzentuierung findet ihre Entsprechung in der zentralen Bedeutung des königlichen Arztes, in dessen Hand es liegt, ob die Krise einem guten oder schlechten Ende zugeführt werden kann: Die Heilung des Herrschers ist die Wiederherstellung der Ordnung, sein Tod deren Erschütterung. An diesem Punkt nun setzt der Text an, um das Konzept ,Vertrauen‘ zu befragen, was besonders Bachorski in seiner Studie zu Lüge, Verstellung und der Rolle von Schriftlichkeit in mittelhochdeutscher Epik herausgestellt hat.19 Alexanders Arzt Philipp empfiehlt als Heilmittel einen von ihm selbst bereiteten Heiltrank, doch Alexander erhält einen warnenden Brief von einem seiner Fürsten, Parmenius:20 Der Arzt versuche, bestochen vom Perserkönig Darius, 17 Zum allgemeinen herrschaftstheoretischen Hintergrund s. Kantorowicz, Ernst H.: The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology. Princeton 1957 (dt.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990 [dtv 4465]); zu Rudolf von Ems bes. Schmitt [Anm. 15]; allgemeiner zur heilsgeschichtlichen Funktionalisierung Alexanders Grubmüller, Klaus: Instrumentum Dei, Exemplum vanitatis, Speculum principis: Interpretations of Alexander in Medieval German Literature. A Survey. In: Stock [Anm. 10] [im Druck]. 18 Sehr deutlich wird dies etwa auch bei Anfortas in Wolframs „Parzival“. 19 Bachorski [Anm. 14]. 20 Leo, J1, J2 und J3 unterscheiden sich in dieser Szene nicht wesentlich; der bequeme Vergleich

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Alexander zu vergiften. Die folgende in den meisten Texten ausgeführte Szene hat ikonisch verdichtete Qualität: Alexander empfängt den Trank in der einen, hält dabei den Brief in der anderen Hand und blickt seinem Arzt in diesem Moment in die Augen: Alexander accepta ipsa potione cum una manu et in alia tenens epistolam respiciebat in faciem Philippi medici (,Während Alexander denselben gerade erhaltenen Trank in der einen Hand und den Brief in der anderen hielt, sah er dem Arzt Philipp ins Gesicht‘; HdP J2, II, 47, 10). Wie ist diese Szene zu lesen? Bachorskis Interpretation bietet hier keine Stütze, da sie auf einer Lektüre der Szene in der „Historia de Preliis“ beruht, die vom Textbefund her nicht gedeckt ist.21 Laut Bachorski zeige Alexander dem Arzt den Brief und warte dann auf dessen Reaktion, bevor er trinke. So wäre die Probe auf die Wahrheit des Briefes nicht einfach der Umstand, dass Alexander nicht tot umfällt, denn die Probe erfolgt ausdrücklich vor dem Trank: Alexander zeigt dem Arzt den Brief, bevor er die Medizin trinkt, und entscheidet sich dann aufgrund des Umstandes, dass der Arzt ob dieser Anschuldigung nicht erbleicht, zu trinken. (ebd.)

Dieser Vorgang ist allerdings in den lateinischen Texten, die Bachorski zitiert, nicht zu entdecken (s. auch Curtius Rufus, III, vi, 9):22 Die Probe erfolgt gar nicht vor der Einnahme des Trankes; ja man könnte sogar für das Gegenteil plädieren, nämlich dass es der Kernpunkt der Szene ist, dass es eben keine Probe vor der über Leben und Tod Alexanders entscheidenden Einnahme des Trankes gibt. Das scheint mir nicht nur für die Symbolik der Passage entscheidend, sondern auch für eine Logik des Vertrauens, die Bachorski erst in Rudolfs Text ausgeführt glaubt, die aber in der Tat schon in den lateinischen Vorlagen voll ausgebildet ist. In keinem lateinischen Text liest der Arzt den Brief vorher, es wird nur gesagt, dass Alexander den Brief in der Hand hält. Ganz im Gegenteil wird ausdrücklich betont, dass Alexander den Brief erst nach der Einnahme des Tranks dem Arzt zum Lesen gibt, der den Verdacht dann von sich weist (so HdP J2, II, 47, 11 – 13). In der Curtius-Tradition beobachtet Alexander den Arzt genau beim Lesen, um möglicherweise eine verdächtige Aufgeregtheit zu entdecken; er überprüft, ob das Vertrauen in seinen Arzt gerechtfertigt war : tum epistolam ist möglich in Die Historia de Preliis Alexandri Magni [Anm. 7], S. 128 – 131; ganz ähnlich auch der Liber Alexandri Magni [Anm. 9], Z. 579 – 606. Alle Übersetzungen in diesem Beitrag stammen, wenn nicht anders vermerkt, von mir. 21 Bachorski [Anm. 14], S. 361. 22 Anders ist dies nur bei Johann Hartlieb, der erklärt, dass Alexander aufgrund seiner Kenntnis der „Physiognomia“ des Aristoteles schon bevor er trinkt, wegen seiner Fähigkeit, dessen Antlitz zu lesen, weiß, dass der Arzt ehrlich ist; Johann Hartliebs Alexander. Hg. v. Pawis, Reinhard. München, Zürich 1991 (MTU 97), Z. 1669 – 1712, hier bes. Z. 1683 – 1692; zum Zusammenhang dieser Vorstellung mit der Rezeption der pseudo-aristotelischen „Secreta-Secretorum“-Tradition s. Ehlert, Trude: Deutschsprachige Alexanderdichtung des Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte. Frankfurt a. M. 1989, S. 225, mit weiterer Literatur.

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legere Philippum iubet nec a vultu legentis movit oculos, ratus aliquas conscientiae notas in ipso ore posse deprehendere (,Da befahl er Philipp, den Brief zu lesen, und wandte seine Augen nicht vom Antlitz des Lesenden ab, da er meinte, irgendwelche Zeichen von Schuldbewußtsein entdecken zu können‘; Curtius Rufus, III, vi, 9 – 10). In allen Texten zeigt das Gesicht des Arztes keine verräterischen Zeichen; der König wird gesund. Die Szene, die einigermaßen stabil in allen Geschichten überliefert ist, zeigt einen Herrscher, der sich seines Status’ und seiner Rolle würdig erweist, indem er souverän und autonom entscheidet, was er für richtig hält, nämlich dem Arzt zu trauen, nicht aber seinem Heerführer. In diesem Zusammenhang könnte es auch wichtig sein, dass der Arzt ihm zuredet, den Trank einzunehmen: Die Präsenz mündlicher Rede überbietet die schriftliche Repräsentation der Verleumdung des Parmenius.23 Erst nach seiner Entscheidung, den Trank zu sich zu nehmen, liest Alexander fast distanziert im Gesicht des Arztes, ob seine Einschätzung richtig war. Alexanders Lektüre der Miene des Arztes ist in diesem Moment bereits abgelöst von eigenen Handlungsoptionen, da sich sein Schicksal mit der Einnahme des Trankes entschieden hat. Curtius Rufus bringt dies auf den Punkt, als er Alexander nach Einnahme des Trankes zu seinem Arzt sagen lässt: et nunc crede me non minus pro tua fide quam pro mea salute esse sollicitum (,und nun glaube mir, dass ich nicht weniger um deine Treue als um meine Gesundheit besorgt bin‘; Curtius Rufus, III, vi, 12). Im Kern geht es um die Frage, wie sich angesichts der Unlesbarkeit ,innerer‘ Motive ein Modell von Herrschaft, das auf Vertrauen gründet, bewähren kann. Ausgestaltet wird es als eine Sache zwischen zwei Männern; es ist die Bewährung des Vertrauens in der Heimlichkeit der Kammer. Körperliche Präsenz der Figuren ist wichtiger und ,wahrer‘ als die nur in schriftlicher Form präsente Intervention des Heerführers Parmenius. Die Schrift also lügt und wird der Wahrheit einer Kultur der Ko-Präsenz gegenübergestellt: Dies wird auch dadurch betont, dass Alexander den Arzt nach seiner Heilung umarmt (HdP J2, II, 47, 14): Vertrauen geht hier mit körperlicher Nähe, Lüge mit schriftlich medialisierter Nachricht einher.24 Der Schreiber des Briefes, Parmenius, wird, aufgrund seiner Verleumdung und eines zusätzlichen Vergehens, auf das ich gleich kommen werde, in der „Historia de Preliis“-Tradition kurz befragt, für schuldig befunden und geköpft (HdP J2, II, 47, 16). Der Körper des Parmenius, der sich als der eigentliche Verräter herausstellt, wird erst im Untergang sichtbar, als er, durch die Enthauptung, zerstört wird. Die mittelhochdeutsche Überlieferung folgt in dieser Passage der lateinischen im Großen und Ganzen recht genau. Auch Rudolf von Ems nimmt die 23 Bachorski [Anm. 14], S. 360 f. 24 Diese Gegenüberstellung hat Bachorski [Anm. 14], S. 360 f., herausgearbeitet.

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Konstellation in ihren Kernzügen auf und akzentuiert erwartbare Punkte: Die Erkrankung Alexander manifestiert sich als Krise in grúzer unmaht (V. 5735) des Herrschers; unklar ist, ob er iemer mÞ genesn (V. 5734) würde. Im Sinne des oben umrissenen Herrschaftskonzepts nehmen Alexanders Leute als Gemeinschaft (man beachte die Doppelung von al) die unmaht als kollektive Krise wahr : die s„ne wurden al unvrú sie spr–chen al gel„che also „wÞ owÞ! waz sol diz s„n? sol uns der liebe herre m„n sú wunderl„che sterben, sú müezen wir verderben.“ (V. 5737 – 5742)

Auffällig ist, dass Rudolf die die lateinischen Texte prägende Spannung herausnimmt, indem er betont, dass Alexander seinem Arzt ohne jeden Zweifel vertraut und vor Einnahme des Tranks ruhig schläft: die naht er –ne zw„vel slief (V. 5797). Dies ist die auffälligste Abänderung gegenüber den lateinischen Quellen. Herrscherliches Selbstvertrauen, Vertrauen auf die eigene Erfahrung, wird so zum Trumpf, der alle Ambiguitäten wegwischt. Daher muss bei Rudolf der Herrscher auch nicht in der folgenden Szene, der Einnahme des Trankes, im ikonischen Zentralbild der Ambiguität gezeigt werden, das traditionell diese Szene begleitet: Es wird nicht gesagt, dass Alexander die materialen Repräsentanten der widerstreitenden, über sein Leben entscheidenden Positionen, also Brief und Trank, in jeweils einer Hand hält. Vielmehr betont der Text, dass Alexander aufgrund seiner Vertrauenserfahrung dem Arzt den Brief zunächst vorenthält, da er ihn so treu weiß: dem arz–t er behielt den brief / wan er wess in sú stæte (V. 5798 f.). Entsprechend stehen im entscheidenden Moment nur Trank und der (nun doch traditionsgemäß zögernde? prüfende?) Blick Alexanders (V. 5808) und die verbale Bekräftigung der Vertrauenserfahrung durch den Arzt im Mittelpunkt: ,trinc! l–z allen zw„vel s„n‘ (V. 5810). Danach erst gibt Alexander ihm den Brief, woraufhin die Geschehnisfolge wieder wie in den lateinischen Texten verläuft.

III

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Die Episode um den Arzt Philipp führt verschiedene Formen des Lesens vor. Da ist, banal, die Lektüre des Briefes; da ist aber auch der Körper des Arztes als potenzielles Lektüreobjekt. Die Performativitätsforschung hat hinlänglich gezeigt, dass dies mehr ist als eine bequeme Metapher : Die Lesbarkeit der Körper scheint ein hervorragendes Merkmal mittelalterlicher symbolischer Kommu-

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nikation zu sein.25 Richtig gelesen sind die Körper von sozial Interagierenden Quellen entscheidender Informationen. Dies ist natürlich nicht nur ein mittelalterliches Phänomen. Präsenzkultur und das Lesen der Körper bleiben zentrale Elemente eines höfischen Machtdiskurses bis weit in die Neuzeit hinein. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts sagt Knigge in seinem ätzenden Kapitel über den „Umgang mit Hofleuten und ihresgleichen“: „Die Hofleute lesen besser Mienen als gedruckte Sachen; das ist fast ihr einziges Studium.“26 Dies entspricht dem besonders von Wolfgang Haubrichs herausgestellten Befund, dass mit der Neuzeit nicht notwendig medial-kulturelle Grundmarken modifiziert werden,27 wenngleich sich ihre Inhalte, vor allem aber, so ließe sich wohl hinzufügen, ihre Position und Wertigkeit in Machtdiskursen ändern. Allerdings wäre es falsch, die Szene bei Rudolf von Ems ganz auf den in die Tradition eingeschriebenen Gegensatz zwischen ,wahrer‘ Körperpräsenz und ,lügender‘ Schrift zu reduzieren, denn Alexander entscheidet über sein eigenes Leben nicht im Rahmen bestimmter äußerer medialer Gegebenheiten, sondern aufgrund einer nicht weiter thematisierten Vertrauenserfahrung in seinem Inneren: Alexander weiß (v. 5799), dass der Arzt zuverlässig ist, und ,liest‘ dessen Antlitz eben erst nach Einnahme des Trankes. Beide Formen des Lesens sind also dem souveränen Akt des Nicht-Lesens, oder zumindest einem Lesen, das nicht externe Objekte hat, nachgeordnet: dem Lesen in der auf Erinnerung beruhenden eigenen Erfahrung des Herrschers. Es ist daher wohl kein Zufall, dass gerade Rudolf von Ems, der besonders die Ambivalenzen der Tradition zu entschärfen sucht, auch diese Szene verändert und ihr ikonisches Zentralbild ausläßt: Bei ihm hat Alexander eben nicht gleichzeitig Brief und Trank in den Händen. Die Entscheidung über die Vertrauenswürdigkeit des Arztes ist in dem Moment gefallen, als der Arzt in die Erzählung tritt. Bei Rudolf ist der Herrscher a priori allen Herausforderungen immer schon gewachsen, wenn sie eintreten: Daher muss das Einnehmen des Trankes nicht als Vertrauensvorschusses dem Arzt gegenüber und die ganze Szene nicht als Selbstgefährdung des Herrschers, sondern kann als seine souveräne Meisterschaft gestaltet werden. 25 Wenzel [Anm. 3]; s. a. besonders ,Aufführung‘ und ,Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Müller, Jan-Dirk. Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 17); Philipowski, Katharina: Geste und Inszenierung. Wahrheit und Lesbarkeit von Körpern im höfischen Epos. In: PBB 122 (2000), S. 455 – 477; Müller, Jan-Dirk: Visualität, Geste, Schrift. In: ZfdPh 122 (2003), S. 118 – 132; Philipowski, Katharina: Erzählte Emotionen, vermittelte Gegenwart. Zeichen und Präsenz in der literaturwissenschaftlichen Emotionstheorie. In: PBB 130 (2008), S. 62 – 81; Philipowski [Anm. 3], S. 292–303. 26 Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen [Hannover 31790]. Hg. v. Ueding, Gert. Frankfurt a. M. 1977; s. dazu auch Wenzel [Anm. 3], S. 182. 27 Haubrichs, Wolfgang: Bilder, Körper und Konstrukte. Ansätze einer kulturellen Epochensemantik in der philologischen Mediävistik. In: LiLi 100 (1995), S. 28 – 57.

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Die Philotas-Affäre

In der Episode um den Arzt Philipp, wie sie die Historia de Preliis -Tradition erzählt,28 sind zwei Verratsepisoden aufgehoben: der vermeintliche Verrat, dessen der Arzt Alexanders, Philipp, per Brief bezichtigt wird, und ein zweiter, wirklicher, den der Arzt selbst seltsam spät offenlegt, dass nämlich der Briefeschreiber Parmenius zunächst versucht habe, ihn zum Anschlag auf Alexander anzustiften: ,Maxime imperator, fac venire illum hominem, qui tibi direxit hanc epistolam, quoniam ille monuit me talia facere‘ (,Höchster Kaiser, lass jenen Mann kommen, der dir diesen Brief geschickt hat, denn jener hat mich aufgefordert, dir solches anzutun‘; HdP J2, II, 47, 15). Dadurch also wird Parmenius nicht nur in der erzählschematischen Rolle des Adligen gezeigt, der einem anderen die Nähe zum Herrscher neidet, sondern auch in der Rolle eines den Herrschermord planenden Verräters. Diese seltsame, überdeterminierte Doppelkonstruktion verdankt sich wohl einer Verdichtung, wie sie in einem an narrativen Kernen orientierten Erzählen vorkommt. Hier sind in der Tat zwei Episoden, die wahrscheinlich sogar historische Wurzeln haben, als narratives Kondensat von Ergebnissen zusammengezogen. Diese Ergebnisse sind die Entschuldung des Arztes und die Hinrichtung des Parmenius. Hinter dieser Hinrichtung steht ein viel größerer Komplex, der historisch um Alexanders Heerführer Parmenion und dessen Sohn, Philotas, kreist: die Philotas-Affäre, die der Historiker Ernst Badian als den „Justizmord“ an Philotas und den „Mord“ Parmenions im Auftrag Alexanders bezeichnet hat.29 Dieser ganze Handlungsteil ist in der „Historia de Preliis“-Tradition nicht vorhanden, aber sein Ergebnis, der Tod Parmenions, erscheint auch in der „Historia de Preliis“. Hier ist dieses Ergebnis allerdings völlig losgelöst von der Philotas-Affäre und wird bereits, quasi nach vorne verschoben, in der Arzt-Episode präsentiert. Im Text des Curtius Rufus dagegen sind beide Ereignisse – wahrscheinlich historisch korrekter – auseinandergelegt, 28 Zu den historischen Grundlagen und der Darstellung bei den frühen griechischen Historiographen s. Badian, Ernst: Conspiracies. In: Alexander the Great in Fact and Fiction. Hg. v. Bosworth, A. Brian u. Baynham, E. J. Oxford 2000, S. 50 – 95, hier S. 60 f. 29 Badian [Anm. 28]; zustimmend Cartledge [Anm. 6], S. 100; etwas vorsichtiger Barceló, Pedro: Alexander der Große. Darmstadt 2007, S. 174 f. Zum größeren Zusammenhang der Affäre mit Alexanders orientalisierender Tendenz, die bei konservativen makedonischen Adligen spätestens seit dem Besuch Siwas und dem Beginn der Deifizierung Alexanders im Selbstentwurf als Sohn Amons kritikwürdig zu werden schien, s. Heckel, Waldemar : Alexanders Conquest of Asia. In: Alexander the Great: A New History. Hg. v. dems. u. Trittle, Lawrence. Chichester 2009, S. 26 – 52. Einen Überblick über die Bewertungen in der Überlieferung bietet Willing, Matthias: Die „Philotasaffäre“ als Kristallisationspunkt von antiker Überlieferung und moderner Geschichtsschreibung. In: Das Altertum 42 (1997), S. 101 – 120.

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wenngleich durch vielerlei Bezüge verbunden. Hier verleumdet Parmenion den Arzt, wird aber von diesem nicht als Verschwörer bezichtigt. Daher hat die Episode keine Konsequenz für Parmenion. Erst als er später in die sogenannte Philotas-Affäre verwickelt wird, erinnert man sich an seine frühere Tat, was ihn zusätzlich belastet.30 Vor besondere erzählerische Schwierigkeiten stellt diese inhaltlich-narrative Varianz lediglich Rudolf von Ems, der sowohl die „Historia de Preliis“ als auch Curtius Rufus für seinen „Alexander“ benutzt hat. Er löst dies, indem er zwei unterschiedliche Figuren aus der einen macht, es gibt also einen Parmenius, der im Rahmen der Arzt-Episode hingerichtet wird (wie in der „Historia de Preliis“Tradition); der Heerführer Parmenion ist davon unbetroffen und wird erst später in eine Verrats- und Verdachtsgeschichte um seinen Sohn Philotas verwickelt (wie in der Curtius-Rufus-Tradition) und dann ebenfalls enthauptet. Curtius Rufus liefert die ausführlichste Darstellung der Philotas-Affäre. Sie wird neben Rudolf von Ems auch von Walter von Ch–tillon (ca. 1170/90) in seinem auf Curtius beruhenden kunstvollen lateinischen Hexameterepos aufgenommen.31 Dieses wiederum ist die Quelle für Ulrichs von Etzenbach „Alexander“, in dem die Philotas-Affäre dementsprechend auch vorkommt.32 In beiden lateinischen Texten nimmt sie einen auffällig breiten Raum ein; bei Walter von Ch–tillon ist sie die längste Einzelepisode überhaupt.33 Philotas, Anführer der makedonischen Fußtruppen und Sohn des Heerführers Parmenion, und damit Mitglied des makedonischen Hochadels, wird angeklagt, eine Verschwörung im Umkreis Alexanders nicht angezeigt zu haben. Sein Schweigen wird von Alexander und hohen Amtsträgern als Mitwisserschaft ausgelegt, ja ihm wird die geheime Planung eines Umsturzes zur Last gelegt. Die Passage nimmt in allen vier Texten eine gewichtige Rolle ein. Die distanzierte Erzählerstimme im Text des spätantiken Historiographen Curtius Rufus lässt, wie schon bei der Arzt-Episode, nicht erkennen, ob die Anschuldigungen gerechtfertigt sind; der Text kritisiert aber implizit, dass Alexander in der Art seiner Anschuldigungen und der Verhandlung des Falles ungerecht ist. Während aber in der Arzt-Episode der Trank als Mittel der Vereindeutigung dient (die Wahrheit wird am Körper des genesenden Herrschers selbst erwiesen), bleiben

30 Zur Gestaltung der Philotas-Affäre bei Curtius Rufus s. Rutz, Werner : Zur Erzählungskunst des Q. Curtius Rufus. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II, 34, 2, Berlin, New York 1986, S. 2329 – 2357, hier S. 2348 – 2350. 31 Galteri de Castellione Alexandreis. Hg. v. Colker, Marvin L. Padua 1978, VIII, 80 – 334. 32 Ulrich von Eschenbach: Alexander. Hg. v. Toischer, Wendelin. Tübingen 1888 (BLVS 183), V. 17971 – 18606. 33 The Alexandreis of Walter of Ch–tillon: A Twelfth-Century Epic, transl. by Townsend, David. Peterborough, Ontario, 2007, S. 204.

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in der Philotas-Passage bis zum Schluß Unsicherheiten bestehen: Damit werden bei Curtius Wissen um und Erkennen von Verrat selbst zum Thema. Das Verhältnis zwischen Herrscher- und Vasallenkörper ist hier ein ganz anderes als in der Arzt-Episode: Der Herrscher wird als stark und mächtig dargestellt. Er ist zudem von einer Gruppe Adliger umgeben, die sowohl bei Curtius als auch bei Rudolf deutlich Einfluss nehmen. Es geht hier weniger um persönliches Vertrauen als um politisches Verfahren. Die ganze Szene hat den Charakter der öffentlichen Inszenierung. Dieser Aspekt spielt auch in Rudolfs Text eine gewisse Rolle. Bereits in der Arzt-Episode weicht Rudolf in diesem einen Punkt entscheidend von den anderen Texten ab, indem er eigens erwähnt, dass Alexander Parmenius vor den fürsten houpten (,vor den Fürsten enthaupten‘, V. 5833) läßt. Dies deutet auf die Erzeugung einer Adelsöffentlichkeit, eines Rechtsraumes hin, dient aber auch, wie explizit gesagt wird, der Abschreckung weiterer Fürstenverschwörungen. Damit sind diese als Möglichkeit bereits im Text angelegt, und die Philotas-Affäre löst beide hier angedeuteten erzählerischen Optionen ein: die Fürstenverschwörung und die Verschiebung der Problematik in einen öffentlichen Raum.34 In Rudolfs „Alexander“ spielt sich die Verhandlung um Philotas vollständig in einem solchen höfischen Rechtsraum ab,35 was in markiertem Gegensatz zur Arztepisode steht.36 Szenen der Heimlichkeit finden sich nur am Anfang der ganzen Episode, als Dimnus gegenüber seinem Vertrauten (bei Curtius Rufus: gegenüber seinem Geliebten), seine Pläne zur Ermordung Alexanders äußert (V. 18861 – 18914; Curtius Rufus VI, vii, 1 – 15). Dimnus, der einzig sichere Verräter in dieser Episode und damit auch derjenige, der sicher seine Mitverschwörer benennen könnte, nimmt sich bei Curtius früh im Verfahren das Leben 34 In den anderen Versionen einschließlich der lateinischen wird nur die Hinrichtungsart genannt, über die Situation der Hinrichtung wird nichts gesagt. Der Straßburger Alexander [Anm. 1] betont lediglich, dass der Verräter vor Alexanders Augen getötet wird: Perminen h„z er sl–n / ze s„ner anesihte (V. 2154 f.). 35 Diskutiert wird der Komplex Herrschaft und Verrat bei Stackmann, Karl: Der Alten Werdekeit. Rudolfs Alexander und der Roman des Q. Curtius Rufus. In: Festschrift Josef Quint. Hg. v. Moser, Hugo u. a. Bonn 1964, S. 215 – 230, hier S. 222 f. Weiterhin mit Berücksichtigung der Philotas-Szene Wisbey, Roy : Das Alexanderbild Rudolfs von Ems. Berlin 1966 (Philologische Studien und Quellen 31), S. 70 – 73; Brackert [Anm. 16], S. 120 – 122; Schnell, Rüdiger : Rudolf von Ems. Studien zur inneren Einheit seines Gesamtwerkes. Bern 1969 (Basler Studien 41), S. 121 – 123; Schouwink, Wilfried: Fortuna im Alexanderroman Rudolfs von Ems. Studien zum Verhältnis von Fortuna und Virtus bei einem Autor der späten Stauferzeit. Göppingen 1977 (GAG 212), S. 151 f.; Cölln, Jan: Werdekeit. Zur literarischen Konstruktion ethischen Verhaltens und seiner Bewertung in Rudolfs von Ems Alexander. In: Mölk [Anm. 16], S. 332 – 357, hier S. 351 – 353; zusammenfassend Schlechtweg-Jahn [Anm. 13], S. 134 – 143. 36 Ausführliche Zusammenfassungen der Episode finden sich bei Cölln [Anm. 35], S. 351 – 353, und Schlechtweg-Jahn [Anm. 13], S. 135 – 140.

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(Curtius Rufus VI, vii, 30; bei Rudolf wird er vom Selbstmord abgehalten, wenig später aber auf Befehl Alexanders hingerichtet, V. 19085 – 19088). So bleibt bei Curtius die Schuld des bald ins Zentrum rückenden Philotas ganz unklar. Im Gegensatz dazu entschuldigen Rudolf von Ems und Ulrich von Etzenbach Philotas, offenbar unabhängig voneinander. Bei Ulrich gerät seine Hinrichtung zum Justizirrtum, den der Erzähler extensiv beklagt (Ulrich von Etzenbach, V. 18585 – 18606); bei Rudolf wird Philotas sogar freigesprochen (V. 20034). Während später das Geschehen vor allem in der öffentliche Sphäre stattfindet, steht bei Curtius und Rudolf ein Zwiegespräch zwischen Alexander und Philotas am Anfang (im abgegrenzten Raum des königlichen Zelts bei Curtius Rufus, VI, vii, 31 – 35; ohne genauere Ortsangabe bei Rudolf, V. 19089 – 19150). In diesem Gespräch bringt Philotas Alexander zumindest dazu, ihn nicht als Verschwörer zu verhaften, wenngleich er auch nicht direkt von Alexander exkulpiert wird. Dann aber läßt Alexander Philotas auf Anraten seiner Fürsten, die den Verdächtigen für einen Verräter und den Drahtzieher der Verschwörung halten, doch festnehmen (V. 19255; genauso Curtius Rufus VI, viii, 21). Im deutschen Text hält Alexander ihn zwar, wie Rudolf ausdrücklich erwähnt, vom Volk fern, um ihn vor einer Vorverurteilung zu schützen: verborgen wart Philútas daz im niht geschæhe sú in daz povel sæhe, wan ez h–t manec man daz leben von povels ruofe gegebn (V. 19272 – 19276);

aber im palas (V. 19294) wird Philotas zusammen mit anderen Verdächtigen einer Schar von Fürsten vorgeführt. Zu beobachten ist also zunächst die Abschottung des Vorgangs vom povel (V. 19274) und seinem groz gemenge / von michelem gedrenge (V. 19269 f.) und dann die Erzeugung einer ausgewählten Rechtsöffentlichkeit. Die Verhandlung findet im palas, also räumlich vom gemenge getrennt statt, bleibt aber dennoch eine offenl„che (V. 19296) verhandelte Sache. Wie in der lateinischen Quelle wird auch die Leiche des Verräters Dimnus gebracht und öffentlich zusammen mit den Verdächtigen ausgestellt (V. 19293 – 19295). Wenngleich unklar ist, wer genau anwesend sind (die Formulierung vor der schar im selben Vers deutet auf einen größeren Kreis hin), wird dennoch sofort deutlich, dass nur die anwesenden adligen herren Partner der öffentlichen Kommunikation sind, da Alexander sie direkt anspricht (V. 19301). Alexanders Anklagerede beschwört seinen eigenen Tod; Rudolfs Text ist hier deutlich evokativer als der von Curtius oder Walter : er sprach: ,ir herren m„ne man schouwet unde sehet an wie ich iu allen s„ erslagn!

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waz sol ich mÞre d– von sagn wan daz mich die valschen zagn in ir muote h–nt erslagn?‘ (V. 19301 – 19306)

Alexanders Rede stellt der physisch präsenten, sichtbaren Leiche des Verräters sein eigenes Bild als erschlagener König gegenüber, ein Bild, das freilich nur im Inneren, im muote der Verschwörer existiere. Die Adelsöffentlichkeit wird dazu gebracht, dieses vermeintliche oder zutreffende Wunschbild im Inneren der Verdächtigen zu sehen (schouwet unde sehet an): Rhetorische Emphase also soll das Kernproblem im Umgang mit dem Verratsverdacht, die Unmöglichkeit, die innere Motivation des Gegenüber zu ,sehen‘, verdecken. Alexanders Rede präsentiert das Ziel der Verschwörung, seinen eigenen Tod, als sichtbares, wenngleich virtuelles, Ereignis. Danach klagt Alexander in einer langen Rede Philotas und seinen Vater Parmenion als diejenigen an, die den r–t gefasst hätten, ihn zu töten. Philotas verteidigt sich. Er nimmt unter anderem die von Alexander geschaffene Situation in seine gleichfalls lange Rede auf, präsentiert sich selbst als legitimes Mitglied der Adelsöffentlichkeit und versucht, die Lage zu seinen Gunsten zu wenden, indem er die Anwesenden als Seinesgleichen anspricht: Ir herren die genúzen m„n / die von art ouch vürsten s„n (V. 19605 f.). In allen Fassungen wird Philotas nach seiner Rede auf Anraten missgünstiger Fürsten gefoltert. Bei Rudolf spricht Philotas unter Folter, ohne sich aber selbst zu belasten, von einem Verschwörungsplan, der seinem Vater angetragen wurde. Er und einige seiner Gefährten werden freigesprochen, sein Vater Parmenion, der sich in Medien befindet, dagegen im Auftrag Alexanders erst getötet und dann geköpft: man sluoc im daz houbet abe,/ daz ander teil truoc man ze grabe / […]. / dem küneg Alexander / wart daz houbet dú gesant. (V. 20447 – 20451).37 Wie zu sehen ist, gleicht die zweite große Verratsepisode in Rudolfs Alexander der ersten im Ergebnis: der Enthauptung des als Verräter wahrgenommenen Parmenius/Parmenion. Die Doppelung dieses Kerns ist traditionsgeschichtlich zu erklären als Ergebnis der von Rudolf auch programmatisch ausgeführten (V. 8045 – 8062) Benutzung mehrfacher Quellen, die dazu dient, eine verbürgte und wahrheitsgemäße neue deutsche Fassung zu erzählen.38 Diese Verwendung teilweise widersprüchlicher Quellen erzeugt Spannungen, fördert hier aber auch die Verhandlung einer analogen Problematik unter verschiedenen Vorzeichen. In mancherlei Hinsicht ist diese Passage nämlich ein Gegenstück zur zuerst Besprochenen: In der Philotas-Episode sieht man den Herrscher ganz überwiegend in öffentlicher Verhandlung und in der Beratung mit Fürsten, nicht aber allein. Die Gefährdung des Königs ist virtuell und wird als solche von Alexander 37 Genauso bei Curtius Rufus [Anm. 10], VII, ii, 32. 38 Dazu v. a. Schmitz [Anm. 5].

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explizit angezeigt, wenn er das Bild seiner eigenen Ermordung sprachlich als Phantasie und potenziellen Wunsch der Verdächtigen heraufbeschwört. Anders als in der Arzt-Episode haben die Fürsten im Rat einen großen Anteil an der Verhandlung und der Verhandlungsführung; so geht die Initiative zur Folterung des Verdächtigen von ihnen aus. Insgesamt aber, dies hat auch SchlechtwegJahn herausgestellt, herrscht auf der Ebene unterhalb des Herrschers n„t (Hass und Missgunst), der die Motive einiger Fürsten sowohl in der Verhandlung über Philotas als auch in der folgenden Tötung seines Vaters bestimmt.39 Gegenüber dem Kammerspiel zwischen Herrscher und Arzt steht hier die große Bühne höfischer Politik. Gedeutet werden die Worte des Verdächtigen, nicht seine Körperzeichen; diese Worte des Philotas werden allerdings in die Welt gezwungen durch Folter, also die Schmerzeinwirkung auf seinen Körper. Zumindest Curtius Rufus (VI, xi, 13 – 19) und in seiner Folge Walter von Ch–tillon (VIII, 306 – 322) bezweifeln explizit die Verwertbarkeit der Aussage. Rudolf dagegen stilisiert Philotas zum standhaften Märtyrer, der trotz extremer Folter an seiner Unschuld festhält (V. 19952 – 19964); diese Abänderung dient der Vorbereitung seines wenig später erfolgenden Freispruchs. So findet Rudolfs „Alexander“ auch in der zweiten, in seiner Vorlage deutlich ambivalenter gestalteten wichtigen Verratsverdachtepisode zur Gewissheit, allerdings dieses Mal ohne die Überprüfung der Korrektheit dieser Gewissheit am Leib des Herrschers. Warum aber wird Philotas gerettet? Die Friktionen in Rudolfs Text sind unübersehbar und zeigen sich besonders drastisch am Ende, wenn der Sohn überlebt, der Vater aber getötet wird. Die Rettung des Philotas kann als der Versuch gesehen werden, mit einer vereindeutigenden narrativen Geste auf die Ambivalenzen der Tradition zu reagieren. Curtius Rufus sät in diesem Fall gezielt Unbehagen an Alexanders Verhalten und kreidet implizit seine Hybris, Unberechenbarkeit und fehlende Fairness an, indem er Philotas recht positiv und die Beweislage gegen ihn extrem dünn zeichnet. Rudolf verhandelt sozusagen den Fall neu, und Philotas bekommt Recht. Anders als bei Curtius darf Philotas bei Rudolf am Leben bleiben, was vor allem einem Ziel dient: den Richter, Alexander selbst, zu entlasten. Freilich sind damit die Ambivalenzen nicht aus dem Text entfernt. Der Befund ließe sich nun stützen und erweitern im Hinblick auf die Behandlung der Philotas-Affäre bei Ulrich von Etzenbach, der anderen volkssprachlichen ,Berufungsverhandlung‘ des 13. Jahrhunderts. Hier wird der Ver39 N„t ist der Motor der ganzen Episode: Bereits ganz am Anfang wird darauf hingewiesen (V. 18772 – 18774). Zudem nährt der n„t, der durch die werdekeit Alexanders ausgelöst wird, Regizid-Gedanken; s. auch Schnell [Anm. 35], S. 121, und Schlechtweg-Jahn [Anm. 13], S. 140 – 143.

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dächtige zwar nicht gerettet, aber von vornherein in rhetorischer Emphase vom Erzähler als Nicht-Verräter gekennzeichnet, eingeleitet durch eine Dreiheit qualifizierender Adjekte: der edle süeze werde man / deheine schult het mÞ daran / sunder aleine daz / daz er sich daran vergaz / daz er den künc niht warnet. (Ulrich von Etzenbach, V. 17985 – 89). Auch Alexander wird entlastet, hätte er doch, so der Text, Philotas leben lassen, wenn nicht bestimmte Fürsten den König stark beeinflusst hätten (Ulrich von Etzenbach, V. 18379 – 18386). Der Curtius-Text dagegen lässt völlig offen, ob Parmenion und Philotas des Verrats schuldig sind oder nicht. Es ist offensichtlich, dass die beiden mittelhochdeutschen Erzähler diese Spannung, die sowohl eine moralische als auch eine narrative ist, nicht in ihren Texten walten lassen wollten.

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Vertrauen, Verfahren und Sichtbarkeit

Was oder wer in den hier besprochenen Szenen ein Verräter ist, lässt sich an den Figuren nicht ablesen. Diese Unsicherheit löst erzählerische Energie aus. Rudolf von Ems bietet zwei Möglichkeiten der Reaktion auf diese Unwägbarkeit. Eine Strategie, auf Verratsverdacht zu reagieren, ist Vertrauen. Sie wird in der Szene um den Arzt Philipp narrativ ausgefaltet. Dies ist, meine ich, auch der Grund, warum diese Szene um den unschuldigen Arzt kreist, während der eigentliche Verräter erst im Prozeß seiner Vernichtung kurz in Erscheinung tritt. Bedingung für den Erfolg dieser Strategie ist die Herrschaftseignung des Königs: Da dieser sicher in seinem Urteil ist (–ne zw„vel), kann er erfolgreich die Entscheidung darüber treffen, welche der beiden Quellen, die widerstreitende, aber lebensund ordnungsentscheidende Informationen liefern, vertrauenswürdig ist. Obwohl hierbei auch ein medialer Gegensatz zwischen defizienter, die Kommunikation ,zerdehnender‘40 Schrift und positiv bewertetem, ,präsentem‘ Wort (einschließlich der Möglichkeit der Berührung durch Körper- und Sichtkontakt) inszeniert wird, gibt dennoch nicht ein Vorgang des Lesens in der gegebenen Situation, sondern die unmittelbar sich einstellende Vertrauensgewissheit des Herrschers den Ausschlag. Rudolf von Ems hat die körperliche Unmittelbarkeit dieser im Verhältnis mit sich selbst erzielten Vertrauensgewissheit besonders herausgearbeitet, indem er nicht nur die Krise, sondern auch das Vertrauen in den Richtigen sich körperlich, im ungestörten Schlaf, ausdrücken lässt: die naht er –ne zw„vel slief (V. 5797). 40 Zum Begriff Ehlich, Konrad: Text und sprachliches Handeln. In: Schrift und Gedächtnis. Hg. v. Assmann, Aleida u. a. München 1983, S. 24 – 43; differenzierend Oesterreicher, Wulf: Revisited: die ,zerdehnte Sprechsituation‘. In: PBB 130 (2008), S. 1 – 21.

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Eine andere Strategie ist das öffentliche Verfahren.41 Sie kommt in der Philotas-Episode zum Tragen. Diese allerdings erscheint bei Rudolf als störanfällig, vor allem wegen des n„des, des Hasses, der Mißgunst potenziell beteiligter Personen. Anders als in der Arzt-Episode ist das Verfahren auf Öffentlichkeit angewiesen, wobei Rudolf genau zwischen zwei unterschiedlich gewichteten Öffentlichkeiten unterscheidet. Auf der einen Seite steht die allgemeine Öffentlichkeit, das povel, dessen Neigung zum Gerede und damit Unfähigkeit zur Partizipation an geregeltem Verfahren es als Teilnehmer ungeeignet macht. Auf der anderen steht eine ausgewähltere Öffentlichkeit, in der die Verhandlung durchgeführt wird; Kommunikationspartner der Verhandlung sind dann nur die herren. Rudolf arbeitet mit einer Quelle, in der die gesamte Affäre Teil eines größeren Zusammenhangs ist, in dem Alexander zunehmend als kritikwürdig eingestuft wird. Sein „Alexander“ arbeitet dieser Tendenz sichtlich entgegen, aber ganz gelingt dies nicht. So ist die Anklage Alexanders, die persuasiv und mit stark visualisierender Rhetorik arbeitet, letztlich, wie sich später in Rudolfs „Alexander“ herausstellt, unbegründet, da Philotas sich selbst entlasten kann. Der Vorgang, der zu dieser Entlastung führt, ist wegen der unterdeterminierten Verschiebungen in der impliziten Bewertung des Geschehen kaum motiviert. Dass das Philotas-Verfahren bei Rudolf seltsam chaotisch wirkt,42 hängt zudem mit einem Faktor zusammen, der auf einer anderen Ebene angesiedelt ist, aber direkt auf die narrative Gestaltung und erzählerische Wertung Einfluss nimmt. Philotas muss, anders als bei Curtius (dem Rudolf gleichwohl vergleichsweise eng folgt), gerettet werden und daher an einem gewissen Punkt als Unschuldiger erscheinen, was bei Rudolf vor allem der Affirmation des Herrschers dient. Anders gesagt: Rudolf liest Curtius sehr genau und erkennt, wie der Text die Hinrichtung des Philotas als implizite Kritik an Alexander, dem Verurteiler, selbst funktionalisiert. Im Versuch, Eindeutigkeit zu schaffen, arbeitet Rudolf der Gestaltung durch Curtius entgegen. Rudolf inszeniert das Verfahren als initiales Fehl-Lesen Alexanders, der den unzugänglichen muot der Verdächtigen zumindest in Philotas’ Fall falsch interpretiert, und als folgende Korrektur, in deren Verlauf der Verratsverdacht auf Philotas’ Vater verschoben und dieser hingerichtet wird. Freilich bleibt die Lösung schal, und Rudolf gesteht Philotas nicht einmal zu, die Hinrichtung des eigenen Vaters in irgendeiner Form zu 41 Es wäre aber verfehlt, in diesen Strategien eine entwicklungsgeschichtliche Linie hin zu ,rationaleren‘ Formen, im Sinne von ,von Vertrauen zu Verfahren‘ zu suchen; vielmehr handelt es sich bei beiden um grundsätzlich in mittelalterlichen (und wohl auch antiken) literarischen Verhandlungen von Machtfragen angelegte Formen. 42 Eine Tendenz zur Rationalität, die sich darin äußere, dass „der Rat zur Beratung durch spezialisierte Experten wird“, kann man in dieser Szene nicht beobachten; vgl. aber Schlechtweg-Jahn [Anm. 13], S. 142.

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kommentieren. Curtius Rufus dagegen macht genau die potenzielle Nichtlesbarkeit des Verräters und das Nichtwissenkönnen von Schuld und Unschuld zum Thema. Hier zeigt sich Curtius als der reflektiertere Historiograph, Rudolf von Ems dagegen als der emphatischere Moralist, jedenfalls wenn man die Episode im Hinblick auf den Herrscher liest. Diese Moral hat ihren Preis: Bei Rudolf behält Philotas das Leben, aber sein Vater verliert es. Erzählerisch kann das nicht aufgefangen werden, und Rudolfs „Alexander“ geht kommentarlos über dieses Problem hinweg. Rudolfs „Alexander“ partizipiert hier aber nicht nur am Durchspielen epischer Spekulationen über die Bedeutung von Vertrauen und Verfahren für die herrscherliche Lebens- und Machtsicherung, sondern auch an einer weiter reichenden literarischen Thematisierung von Sichtbarkeit und Wahrnehmung in aristokratischer Interaktion. Nicht nur hier, sondern auch in verschiedensten hochmittelalterlichen deutschen literarischen Gattungen, Texten und Szenen sind „Lesbarkeit und Nicht-Lesbarkeit ambivalent konnotiert.“43 Mehr als die lateinische Vorlage orientiert sich Rudolfs Text bei der Thematisierung der konfliktreichen Nicht-Lesbarkeit innerer Motivationen am „Postulat der Sichtbarkeit.“44 So lassen sich die hier besprochenen Szenen auch auf die Differenzierung von ,Außen‘ und ,Innen‘ im höfischen Diskurs und in der höfischen Epik hin perspektivieren45 und damit in einen literarhistorischen Kontext einordnen, in dem „Täuschung, Verstellung und Verkennen“ als „komplexe und vielschichtige Erzählmotive“46 die Lesbarkeit des menschlichen ,Inneren‘ und überhaupt ,Innen‘ und ,Außen‘ thematieren. Dabei ist nebensächlich, ob die hochmittelalterliche volkssprachliche Literatur dieses Innere als Erzählthema „entdeckt“, oder aber lediglich eine „lange Tradition“ neu aufgreift:47 Dass das Thema literaturfähig ist und in der höfischen Literatur zentral verhandelt wird, bleibt ein wichtiger kulturgeschichtlicher Befund jenseits von Fragen von Genese und ,Entdeckung‘. Dass man das Menscheninnere nicht lesen und dass dies besonders an den Komplexen Lüge, Verrat und Betrug durchgespielt werden 43 Philipowski [Anm. 3], S. 264. 44 Müller [Anm. 1], S. 317 45 Dazu Müller [Anm. 1], S. 339–361; Philipowski [Anm. 3], S. 237–311. Zum größeren Komplex von Sichtbarkeit in der mittelalterlichen Literatur : Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. Hg. v. Bauschke, Ricarda u. a. Berlin 2011; darin u. a. der Beitrag von Stock, Markus: Sich sehen lassen. Die Visibilität des Helden und der höfische Sichtraum im König Rother, S. 228–239, mit weiterer Literatur ; und: Visibilität des Unsichtbaren. Sehen und Verstehen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. RathmannLutz, Anja. Zürich 2011; darin bes. Lechtermann, Christina: „von dem ritter der dem andern solt volgen da er hien ffflre“. Über die Sichtbarkeit von Zeichen im Prosa-Lancelot, S. 27–51. 46 Philipowski [Anm. 3], S. 264. 47 S. die Diskussion zwischen Müller und Philipowski; Zitate: Müller [Anm. 1], S. 317; Philipowski [Anm. 3], S. 237.

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kann – das führen alle besprochenen Beispiele vor. Narrativität ist hier das Vehikel, mit dem das Innere als „etwas sonst Unerkanntes und Unerkennbares allererst greifbar“48 wird; sie dient dazu „im Horizont des höfischen Sichtbarkeitspostulats“ darzustellen, „was sich prima facie der Sichtbarkeit entzieht, unanschaulich oder – wie das Innere – unanschaubar ist“.49 Im Rahmen dieser generellen Thematik geht es in den diskutierten Partien aus Rudolfs „Alexander“ aber auch darum, dass und wie sich das Innere des Gegenüber gerade nicht lesen lässt: Sie betonen die Unverfügbarkeit innerer Motivationen und das NichtWissen-Können der inneren Vorgänge des Gegenüber. Wie andere Texte der Zeit balanciert der „Alexander“ hier also auf der „Grenzlinie zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Innen und Außen“,50 aber indem er – der spätantiken Quelle folgend – letztlich die Unverfügbarkeit des Inneren markiert, überschreitet er die Grenze nur in hypotetischer Figurenrhetorik (Alexanders Rede vom ,sichtbaren‘ Regizit-Szenario im muote der Verschwörer) oder läßt dieses Überschreiten ganz im Impliziten, wenn in der Arzt-Episode das unverfügbare Innere des Arztes und Alexanders Entscheidung in der Vertrauensbindung im Einklang sind. Dies wird aber gerade nicht ,gezeigt‘, sondern nur in äußerer Handlung und im Ergebnis deutlich.51

48 49 50 51

Müller [Anm. 1], S. 317. Müller [Anm. 1], S. 318. Müller [Anm. 1], S. 318. Der Diskussionsstand zur Forschung entspricht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in etwa dem von 2011, dem Jahr der ersten Abgabe dieses Beitrags. Wegen ihrer Bedeutung für das hier diskutierte Thema habe ich lediglich am Ende des Beitrags eine kurze und in vielen Punkten zu ergänzende Diskussion der neueren Forschung zu Lesbarkeit und Unlesbarkeit sowie Außen und Innen im höfischen Erzählen hinzugefügt, die mit dem wichtigen Buch von Philipowski [Anm. 3] in den letzten Jahren entscheidend weitergekommen ist und sich mit den hier besprochenen Themen stark berührt. Nicht mehr eingearbeitet werden konnten die vielen neuen Einsichten zur europäischen Alexandertradition, welche die Gruppe um Catherine Gaullier-Bougassas in den letzten Jahren in beeindruckender Fülle in der Buchreihe Alexander redivivus der Fachöffentlichkeit vorgestellt hat. S. bes. La fascination pour Alexandre le Grand dans les litt¦ratures europ¦ennes (Xe–XVIe siÀcle). R¦inventions d’un mythe. 4 Bd.e. Hg. v. Gaullier-Bougassas, Catherine. Turnhout 2014 (Alexander redivivus 5).

Julia Zimmermann (München)

Narrative Lust am Betrug. Zur Nektânabus-Erzählung in Rudolfs von Ems „Alexander“

I. Im Jahr 2003 publizierte Rainer Warning einen Beitrag mit dem Titel „Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im ,Tristan‘“,1 in dem er sich gegen eine „Tristan“-Lektüre richtet, die, abgesehen von einer oft unvermerkten Psychologisierung der Protagonisten, dem hermeneutischen Vorurteil der Tragik aufgesessen sei. „Wo Tragik angesagt ist,“ so Warning, müsse aber heruntergespielt werden, „daß deren Opfer zunächst einmal kräftig lügen, daß sie unerschöpflich sind im Erfinden von Listen, ja daß ein Großteil des Gottfriedschen „Tristan“ von einem Imaginären lebt, das sich speist aus dem Spiel von List und Gegenlist.“2 Jenseits einer „argumentativen Direttissima“ vom Liebestrank über die Minnegrotte zum Liebestod, der ja „dummerweise nur bei Wagner ,richtig‘ gegeben“ sei,3 richtet Warning deshalb den analytischen Fokus auf die sonst in der Forschung eher vernachlässigten Listen-Episoden, die er mit seinem narratologischen Konzept eines ,Erzählens im Paradigma‘ zu fassen sucht.4 Entgegen einer Narrationsstruktur, die bei einer Geschichte Anfang, Mitte und Ende im narrativen Dreischritt syntagmatisch-teleologisch organisiert, tritt

1 Warning, Rainer: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im „Tristan“. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hg. von Neumann, Gerhart u. Warning, Rainer. Freiburg im Breisgau 2003 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 98), S. 175 – 212. 2 Ebd., S. 177. 3 Ebd. 4 Warning unternimmt dies ausgehend einerseits von Hugo Kuhns Überlegungen insbesondere zum Konzept der legitim-illegitimen Minneehe, in der er „eine fast oxymorale Verquickung von Transgression und Normativität“ sieht (S. 178), und andererseits von Walther Haugs These, der zufolge das Strukturprinzip des „Tristan“ in der immer wieder neuen Variation eines Spiels des Helden gegen die Welt, in einer langen Reihe von Abwandlungen des Betrugsspiels gegen die höfische Gesellschaft zu finden sei. Haug, Walther : Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Darmstadt 1985, hier S. 193.

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beim Erzählen im Paradigma die Linearität des Erzählens zurück.5 Paradigmatisches Erzählen im Sinne Warnings ist eines im Zeichen der Reihung, der variierenden Wiederholung; ein Erzählen, das der Profilierung sowohl von Analogien als auch von Differenzen dienen kann und bei dem es nicht um Kontingenzbewältigung, sondern nachgerade um Kontingenzexposition geht. Es zeichnet sich durch ein dichtes ana- und kataphorisches Relationsgefüge aus, das einen Textraum durch die Erschaffung einer Vielzahl von Relationen konstituiert und bei dem die dargestellten Figuren, Ereignisse, Konstellationen oder auch Werte durchaus ihre Eindeutigkeit verlieren können. Durch diesen Verlust produziert wiederum der Textraum beständig unterschiedliche Semantiken.6 Die eigentliche Schwierigkeit einer „Tristan“-Lektüre besteht nun nach Warning in der angemessenen Semantisierung jenes gleichsam spielerischen, auf kurzw„le ausgerichteten Erzählens, das bei Gottfried ebenso wie in anderen „Tristan“-Versionen als eine Quelle des Imaginären die narrative Lust an der List erkennen lasse, „ein Erzählen, das kurzweilig sein will und gleichwohl entschieden mehr als ein Schwank.“7 Sein analytischer Durchlauf des ListenParadigmas im „Tristan“ lässt ihn zu dem Befund kommen, dass insbesondere bei Gottfried die Opposition von Norm und Transgression dekonstruiert werde: Was das dekonstruktive Spiel des „Tristan“-Schemas entfaltet, ist weder etwas Gesellschaftsfernes noch gar etwas Gesellschaftszerstörendes, sondern etwas Gesellschaftskonstitutives: die Dekonstruktion der Opposition von Norm und Transgression und damit die Kulturimmanenz auch der Transgression.8

Diese Dekonstruktion sei Thema des „Tristan“-Schemas, und dieses Thema werde eben durchgespielt in Form eines Erzählens im Paradigma, das wiederum Ausdruck einer potentiellen Unabschließbarkeit dieses Spiels ist. Warning pointiert seine Überlegungen mit dem Befund, dass Tragik im „Tristan“ abwesend sei und dass dies wohl der Grund sei, „weshalb er in allen Varianten, die auf 5 Siehe ausführlicher hierzu Warning, Rainer : Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176 – 209. Mit Blick auf kleinere Erzählformen des Mittelalters so auch Strohschneider, Peter : Kippfiguren. Erzählmuster des Schwankromans und ökonomische Kulturmuster in Strickers „Amis“. In: Text und Kontext. Hg. von Müller, Jan-Dirk. München 2007 (Schriften des historischen Kollegs, Kolloquien 64), S. 163 – 190, hier insb. S. 163 – 166, mit Verweis auf Warning. 6 Warning [Anm. 1] spricht in diesem Zusammenhang von einem „dekonstruktiven Spiel der Terme“ (S. 186), das durch eine Entmarkierung der im Text enthaltenen Oppositionen entsteht: Die Terme oszillieren zwischen den Polen der einstigen Opposition. 7 Warning [Anm. 1], S. 187. 8 Ebd. Was Warning dabei als Dekonstruktion dieser Opposition versteht, meint „nicht einfach Rechtfertigung permanenten Ehebruchs, sondern die Aufwertung eines Bereichs der Intimität und des Geheimnisses, welche das Allianzdispositiv aus sich selbst hervortreibt“ (S. 201).

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uns gekommen sind, lustvoll erzählt werden konnte, mit jener Insistenz auf den Listen, denen auch Gottfried sich nicht verschließen wollte.“9 Ausgehend von Warnings Überlegungen zum „Tristan“ möchte ich im Folgenden mein besonderes Augenmerk auf eine in der Forschung bereits vielbeachtete Episode im Alexanderroman des Rudolf vom Ems richten, um dabei der Frage nachzugehen, inwiefern diese Episode in ähnlichem Sinne eine narrative Lust an List und Betrug erkennen lässt, vor allem aber, um zu hinterfragen, inwiefern man jenseits der analytischen Gesamtschau auf eine epische Großerzählung, wie Warning sie für den „Tristan“ unternimmt,10 auch mit Blick auf eine einzelne Episode eines mittelhochdeutschen Romans bereits von einem Erzählen im Paradigma sprechen kann.11

II. Wie im „Tristan“ so sind auch im Alexanderroman des 13. Jahrhunderts Magie und Listen, sind Verstellungen und Täuschungen insbesondere in der Erzählung von der Zeugung Alexanders – in der sogenannten Nectanebus-Episode – im Spiel:12 Entgegen u. a. etwa der biblischen Überlieferung, nach der Alexander der 9 Ebd., S. 212. 10 Dass sich Warnings Überlegungen zum paradigmatischen Erzählen auch insbesondere für die Analyse des „Parzival“ und des „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach fruchtbar machen lassen, zeigen u. a. die Studien von Bulang, Tobias u. Kellner, Beate: Wolframs „Willehalm“: Poetische Verfahren als Reflexion des Heidenkriegs. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG Symposion 2006. Hg. von Strohschneider, Peter. Berlin/New York 2009, S. 123 – 160; Kellner, Beate: ein maere wil i’u niuwen. Spielräume der Fiktionalität in Wolframs von Eschenbach „Parzival“. In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Hg. von Peters, Ursula u. Warning, Rainer. München 2009, S. 175 – 203 sowie die Dissertationsschrift von Richter, Julia: Spiegelungen. Paradigmatisches Erzählen in Wolframs „Parzival“ (Diss. Universität Zürich 2010). 11 Dies hieße konkret, dass das Argument der Episodizität, das Warning ebenfalls für ein Erzählen im Paradigma in Anspruch nimmt, gleichsam außer Kraft gesetzt wäre. Zum Argument der Episodizität siehe Warning [Anm. 1]. S. 178 f. An anderer Stelle seiner Ausführungen fasst Warning das „Erzählen im Paradigma“ in Auseinandersetzung mit Jacobson und Lotman freilich als „ein Erzählen, dessen Äquivalenzbeziehungen gerade nicht formal vorgegeben sind, sondern über Sequenzierung des Erzählflusses selbst […].“ Ebd., S. 182. Die Begriffe ,Sequenzierung‘ und ,Episodizität‘ sind zumindest in dem hier angesprochenen Beitrag Warnings zur „narrativen Lust an der List“ nicht klar zu trennen. 12 Zur Nectanebus-Episode siehe u. a. bereits: Friede, Susanne: Alexanders Kindheit in der französischen Zehnsilberfassung und im „Roman d’Alexandre“. Fälle literarischer ,Nationalisierung‘ des Alexanderstoffs. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hg v. Cölln, Jan u. a. Göttingen 2000, S. 82 – 203; Cölln, Jan: werdekeit. Zur erzählerischen Konstruktion ethischen Verhaltens und seiner Bewertung in Rudolfs von Ems „Alexander“. In: Herrschaft, Ideologie

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Große Sohn des makedonischen Königs Philipp gewesen ist,13 gibt es bereits in der Antike Kunde darüber, dass der Welteroberer vom Gott Ammon abstamme.14 Diese mythische Herkunftsfabel des außergewöhnlichen Helden ist freilich schon im späthellenistischen Alexanderroman des dritten Jahrhunderts, in darauf folgenden lateinischen Übertragungen ebenso wie in den meisten lateinischen und volkssprachigen Alexandererzählungen des Mittelalters ihres mythischen Gehalts weitgehend entledigt und gegen eine Ehebruchsgeschichte ausgetauscht: Mag sie [die spätantike Erzählung von der Zeugung und Geburt Alexanders des Großen] auch ursprünglich der Mythisierung des Makedonenkönigs und unbesiegbaren Welteroberers gedient haben, so ist sie im griechischen Alexanderroman des PseudoKallisthenes schon ironisch gebrochen. Die Epiphanie wird durch Zauberei nur vorgespiegelt, und an die Stelle der Auszeichnung durch göttliche Herkunft tritt der Makel illegitimer Geburt.15

Die lateinische Tradition (nach der „Historia de preliis“, J2-Fassung bzw. der sog. „Orosius-Rezension“) vermittelt die Handlung wie folgt:16 Nectanebus, der durch Weisheit und Zauberkraft ausgezeichnete König von Ägypten, erfährt durch ein Wachsschiffchen-Orakel von der künftigen Niederlage der Ägypter gegen die einfallenden Perser. Als ägyptischer Wahrsager verkleidet flieht er deshalb nach Makedonien. In Abwesenheit des kriegführenden Königs Philipp entbrennt Nectanebus in Begierde zur schönen makedonischen Königin Olympias. Nach einem Beweis seiner Fähigkeiten als

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und Geschichtskonzeption in Alexanderdichtungen des Mittelalters. Hg. v. Mölk, Ulrich. In Zusammenarbeit mit Kerstin Börst u. a. Göttingen 2002, S. 332 – 357, hier S. 334 – 341; Braun, Manuel: Von Gott gezeugt – Alexander und Jesus. Zum Fortleben des Mythos in den Alexanderromanen des christlichen Mittelalters. In: ZfdPh 123 (2004), S. 40 – 66; Kartschoke, Dieter: Epiphanie und Gewissen. Zur Nectanebus-Erzählung in den deutschen Alexander-Romanen des 13. Jahrhunderts. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hg. von Baisch, Martin u. a. Königstein 2005, S. 170 – 185; Kragl, Florian: De ortu Alexandri multiplicis Nektanebus ze diute getihtet. In: Troianalexandrina 6 (2006), S. 35 – 80; Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 80 – 92. 1 Makk 1,1 – 3: Et factum est postquam percussit Alexander Philippi Macedo qui primus regnavit in Graecia egressus de terra Cetthim Darium regem Persarum et Medorum […]. Siehe hierzu u. a. Braun [Anm. 12], S. 40 f. Kartschoke [Anm. 12], S. 170. Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: „Historia de preliis Alexandri Magni“ (Der lateinische Alexanderroman des Mittelalters). Synoptische Edition der Rezensionen des Leo Archipresbyter und der interpolierten Fassungen J1, J2, J3, (Buch I und II). Hg. v. Bergmeister, Hermann-Josef. Meisenheim/Glan 1975 (Beiträge zur klassischen Philologie 65). Die Übersetzung nach: Das Buch von Alexander, dem edlen und weisen König von Makedonien. Mit den Miniaturen der Leipziger Handschrift. Hg. v. Kirsch, Wolfgang. Leipzig 1991. Die Zeugungsgeschichte ist nach Kartschoke [Anm. 12], S. 183, Anm. 5, in den Rezensionen J1, J2 und J3 relativ einheitlich.

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Wahrsager prophezeit er der Königin, ihr werde noch in dieser Nacht der Gott Ammon beiwohnen. Durch zauberkräftige Kräuter bewirkt Nectanebus ein „teuflisches Gaukelspiel“ (3,15: incantationem per diabolica figmenta), so dass der Königin der Gott Ammon als Traumbild erscheint, mit ihr schläft und ihr die Empfängnis eines Beschützers verheißt. Als Olympias dem Ägypter am nächsten Tag von ihrem Traum berichtet, verheißt er ihr per veritatem (4,2) Wirklichkeit jenseits des Traums: Sie solle ihm eine Kammer neben der ihren einrichten, dann werde der Gott zuerst als Drache zu ihr kommen und anschließend in Menschengestalt, ihm, Nectanebus, ähnlich. Wenn er dies vollbringe, so entgegnet Olympias dem Zauberer, werde sie ihn als den Vater des Kindes ansehen. Daraufhin verwandelt sich Nectanebus durch zauberische Beschwörungen, wohnt der Königin bei und verheißt ihr einen heroischen Sohn. „Also“, so lautet es im Text, „ward Olympias betrogen, da sie einem Menschen beiwohnte und glaubte, er sei ein Gott“.17 Einzig in der Formulierung Taliter decepta est Olimpiadis ist in der lat. „Historia de preliis“ J2 im Kontext der Zeugungsgeschichte Alexanders im Übrigen tatsächlich von Betrug die Rede. Als die schwangere Olympias den Zorn des heimkehrenden Ehemanns fürchtet, beruhigt der Ägypter sie, indem er ihr erneut den Beistand Ammons verspricht. In einem weiteren Traumbild wird nunmehr König Philipp getäuscht, wenn dieser sieht, wie der Gott Olympias beschläft und versiegelt. Ein Traumdeuter wertet diesen Traum entsprechend als Hinweis auf den künftigen Ammonsohn, der ihm, Philipp, geboren werde. Philipps Glaube an die göttliche Zeugung seines noch ungeborenen Sohnes wird noch bestärkt durch zwei von Nectanebus verursachte Drachen-Erscheinungen. Neben diesen widerfährt Philipp noch ein weiteres Zeichen der Vorausdeutung: Als er eines Tages im Palast sitzt, setzt sich ein Vogel in seinen Schoß und legt ein Ei. Das Ei fällt zu Boden, zerbricht, eine kleine Schlange kriecht heraus, umrundet das Ei und stirbt, als sie wieder in das Ei hineinschlüpfen will. Verstört ruft Philipp einen Deuter, der ihm erklärt: „Dir wird ein Sohn geboren werden, der soll nach deinem Tode regieren. Er wird die ganze Welt umkreisen und alle bezwingen, aber jung sterben.“18 In dem antiken Fatum ist das Schicksal Alexanders schon antizipiert, ist der bekannte und historisch verbürgte Ausgang der Erzählung in Gestalt des Todes des Helden bereits in dessen Zeugungsgeschichte gesetzt. Zur Geburt des Kindes bewirkt der Aufruhr der Elemente, bewirken Blitz, Donner, Hagel, Erdbeben und andere Wunderzeichen bei König Philipp solch einen Schrecken, dass er das monströs aussehende Kind erneut als „von Gott 17 „Historia de preliis“ J2, 4,8: Taliter decepter est Olimpiadis, concumbens cum homine quasi cum deo. 18 „Historia de preliis“ J2, 8,4: Rex Philippe, nascetur tibi filius, qui debet regnare post tuum obitum et circuire totum mundum subiugando sibi omnes, et antequam revertatur in terram nativitatis sue, in parvis annis morietur.

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gezeugt“ bestätigt (10,2: intellego hunc a deo esse conceptum) und verspricht, es aufzuziehen, als sei es sein leiblicher Sohn. Erst als der Knabe bereits zwölf Jahre alt ist, bedauert der König die mangelnde Ähnlichkeit zwischen sich und Alexander. Darüber besorgt fragt Olympias erneut den Nectanebus um Rat, der sie nach einem Blick in die Sterne beruhigen kann. Der junge Alexander, der die Deutung des Ägypters ebenfalls zu hören bekommt, bittet den Weissager daraufhin um Unterweisung in Sternenkunde und fragt, ob Nectanebus die Art seines eigenen Todes kenne. Dieser erwidert, er wisse wohl, dass er von der Hand seines eigenen Sohnes sterben werde. Als Nectanebus dem Alexander in der darauf folgenden Nacht die Sterne erklärt, stößt der Junge den Ägypter in einen Graben und verspottet seine Künste. Der Sterbende offenbart ihm, dass er sein Vater sei. Alexander trägt den Leichnam zu seiner Mutter, auch sie bestätigt „Nectanebus war dein Vater“ (13,19: Nectanebus pater tuus fuit). Diesen Sachverhalt stuft Alexander als mütterliche Torheit (13,20: stultitia) ein. Im Nachfolgenden wird sich Alexander die paradoxe Verdreifachung des Vaters – je nach Situation – zu Nutze machen: Gegenüber den Brahmanen, Amazonen oder der Königin Kandakis wird er sich wiederholt als Sohn des Gottes Ammon ausgeben, während der Machtübernahme in Ägypten als Sohn des ägyptischen Magierkönigs und u. a. im Kampf gegen Darius und die Perser als Sohn König Philipps.19 Auf Grundlage des hier referierten Erzählplots dürfte deutlich geworden sein: In der Nectanebus-Episode geht es um die durch zauberkräftige List gewonnene Fähigkeit zur Verstellung und um die in betrügerischer Absicht verursachten manipulierten Träume durch den Ägypter, um die Verwirrung sinnlicher Wahrnehmung und Täuschung der Olympias und schließlich um die Verheimlichung bzw. Vertuschung des Geschehenen gegenüber König Philipp. Kurzum: Es geht um Betrug in Gestalt eines Ehebruchs, dem Alexander der Große seine Existenz verdankt.

19 Zu den unterschiedlichen Vaterfiguren siehe auch Friede [Anm. 12], S. 91 f., die neben den genannten drei Figuren auch noch Aristoteles als Vaterfigur anführt, sowie Kragl [Anm. 12], S. 43 f. Darüber hinaus ist im Kontext der ,Vielväterschaft‘ Alexanders auch noch an (den späten) Darius zu denken, der als Sterbender beispielsweise bei Rudolf von Ems Alexander als „Sohn“ bezeichnet; vgl. V. 15011 – 15046. Siehe hierzu auch Schmitt, Stephanie: Alexander monarchus. Heilsgeschichte als Herrschaftslegitimation in Rudolfs von Ems „Alexander“. In: Herrschaft, Ideologie und Geschichtskonzeption in Alexanderdichtungen des Mittelalters. In Zusammenarbeit mit Börst, Kerstin u. a. hg. von Mölk, Ulrich. Göttingen 2002, S. 290 – 331.

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III. Von diesem Betrug wissen auch die frühen volkssprachigen Fassungen, obwohl sie sich nachhaltig bemühen, die außerordentlichen Umstände der Zeugung sowie die daraus resultierende Illegitimität der Geburt Alexanders abzustreiten. Dem Pfaffen Lamprecht (und mit ihm dem „Vorauer“ und „Straßburger Alexander“) gelingt die Tilgung des Betrugs ebenso wenig wie sie in der Vorlage, dem „Roman d’Alexandre“ des Alberic von PisanÅon, gelingt.20 Jan-Dirk Müller bemerkt treffend, dass bei Lamprecht zwar eine genealogisch korrekte und eindeutige Herkunft des Welteroberers von Philipp propagiert wird, aber dennoch narrative „Narben“ des Betrugs in zwei Bemerkungen erkennbar bleiben:21 Wenn Lamprecht nämlich 1. rigoros die Unterstellung „böser Lügner“ abweist, die behaupten, Alexander sei der Sohn eines Betrügers, eines goukel–res sun (V. 72) gewesen, und wenn er sich 2. ebenso darüber empört, dass wiederum búse lugen–re fälschlicherweise meinen, ein durch Alexanders Hand ermordeter „Lehrer“ (gemeint ist Nectanebus) sei gar dessen Vater gewesen.22 Wenngleich beide Bemerkungen eigentlich das Gegenteil bewirken sollen, untergraben sie allein durch ihr Vorhandensein gleichwohl Lamprechts Bemühungen, Alexander genealogische Normalität zuzuschreiben und den Ehebruch der Mutter aus seiner Fassung des Alexanderlebens zu eliminieren. Mit seiner Verneinung wird dem Betrug nachgerade Präsenz eingeräumt.23 Die weiteren mittelalterlichen Fassungen des Alexanderlebens, die die Nectanebus-Episode auserzählen, differenzieren bei der narrativen Inszenierung des Betrugs zum Teil erheblich, etwa durch variierende Formen des Wissens vom 20 Lamprecht beruft sich auf Alberic von PisanÅon, der ebenfalls die Erzählung von Alexanders unehelicher Zeugung zurückweist. Siehe hierzu Ehlert, Trude: Deutschsprachige Alexanderdichtung des Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte. (Europäische Hochschulschriften Reihe I, Bd. 1174) Frankfurt am Main 1989, S. 19 und Mölk, Ulrich: Alberics Alexanderlied. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hg. v. Cölln, Jan u. a. Göttingen 2000, S. 21 – 36, hier S. 22 f. u. 33 f. Auch in der „Alexandreis“ Walters von Ch–tillon wird die Zeugungsepisode um Nectanebus ausdrücklich abgewiesen (I,43 f.); siehe hierzu Braun [Anm. 12], S. 53. Zur Abstammungslegende in den französischen Texten siehe Friede [Anm. 12], S. 92 – 104. 21 Müller [Anm. 12], S. 81 – 84 mit Verweis auf die Studie von Manuel Braun [Anm. 10]. 22 „Vorauer Alexander“, V. 71 f.: N˜ sprechent búse lugen–re, / daz er eines goukel–res sun w–re; V. 231/233 f.: N˜ sprechent búse lugen–re, / daz der s„n vater w–re. Vgl. „Straßburger Alexander“, V. 83 f. u. V. 265/266 f. Hier zitiert nach der Ausgabe: Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übersetzt und kommentiert von Lienert, Elisabeth. Stuttgart 2007. 23 In der lateinischen Geschichtsschreibung des Mittelalters wird die Sage von der Herkunft Alexanders von Nectanebus ebenfalls als unwahr erachtet, siehe hierzu Mölk, Ulrich: Einführung zu: Internationalität nationaler Literaturen. Hg. von Schöning, Udo. Göttingen 2000 (Internationalität nationaler Literaturen, Sonderband), S. 50.

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Betrogensein: So begreift Olympias beispielsweise im Alexanderroman des Pseudo-Kallisthenes ebenso wie in Seifrits Fassung erst nach der Tötung des Nectanebus, dass dieser sie betrogen het (V. 738).24 Bis dahin war sie davon ausgegangen, das sey beslaffen hiet ain gatt (V. 417). In der „Historia de preliis“, im „Basler Alexander“ oder auch bei Rudolf von Ems weiß Olympias hingegen bereits vor dem Tod des ägyptischen Königs von dem Betrug an ihr. Unterschiedlich motiviert ist auch der Grund für die Tötung des Weissagers: In der „Historia de preliis“ erhält er den tödlichen Schubs in den Graben, weil Alexander im Unwissen über die eigene Herkunft die Prophezeiung des Nectanebus widerlegen will, dass dieser einst durch den eigenen Sohn getötet werde. Im „Wernigeroder Alexander“ bringt ihn Alexander indes erst nach der Offenbarung der Vaterschaft als Strafe für den Betrug an der Mutter um.25 Schließlich ist auch die Rolle des betrogenen Philipps unterschiedlich herausgearbeitet: Während die meisten Versionen dem makedonischen König mehr oder minder starke Zweifel an seiner Vaterschaft zuschreiben, freut sich der König etwa bei Ulrich von Etzenbach gänzlich unhinterfragt über die Aussicht auf einen leiblichen Thronfolger, so dass die sonst zum Einsatz kommenden manipulierten Traumvisionen bzw. die „zauberische Fernhypnose“26 zur Abkehr aller Zweifel gar nicht mehr notwendig sind. Die Szenen des Betrugs an Philipp sowie der Bericht von der Tötung des Nectanebus sind entsprechend bei Ulrich ausgespart. Im Folgenden möchte ich mein besonderes Augenmerk auf die Nekt–nabusEpisode im Alexanderroman des Rudolf vom Ems richten (V. 107 – 2096),27 weil diese mit Blick auf die Betrugsthematik die zweifellos avancierteste Verarbeitung der Vorgaben bietet. Zwar folgt Rudolf zu Beginn seiner Erzählung vom Leben Alexanders recht genau der ihm als Vorlage dienenden J2-Fassung der „Historia de preliis“,28 um so bemerkenswerter sind aber die Abweichungen: Anstatt die 24 Hier und nachfolgend zitiert nach der Ausgabe: Seifrits Alexander. Aus der Straßburger Handschrift hg. von Gereke, Paul. Berlin 1932 (Deutsche Texte des Mittelalters 36). 25 „Wernigeroder Alexander“, V. 334 – 346: ,Du host die muter mein betrögen, / Du sprecht du werst der Got / Amon on allen spot: / Dez müst du hie sterben / Und jemerlich verderben. / Bistu der vater mein, / So müstu daz haubt dein / Geben umb die posheit / Die du mein muter angeleit / Host‘, und slug in zu tod nider, / Daz er nimer mer wider / Kom heim in Egipten land: / So het in sein kunst geschand. Hier zitiert nach der Ausgabe: Der Grosse Alexander aus der Wernigeroder Handschrift. Hg. von Guth, Gustav. Berlin 1908 (Deutsche Texte des Mittelalters 13). 26 Kartschoke [Anm. 12], S. 177. 27 Hier und im Nachfolgenden zitiert nach der Ausgabe: Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Zum ersten Male hg. von Junk, Victor. Erster Teil: Buch 1 – 3. Leipzig 1928 (Bibliothek des Stuttgarter Litterarischen Vereins 272). 28 Rudolf von Ems folgt in der Vorgeschichte des „Alexander“ bis V. 5014 relativ dicht der „Historia de preliis“ in der Fassung J2 (der sogenannten Orosius-Rezension). Zu den Vorlagen von Rudolfs „Alexander“ siehe u. a. den Artikel von Walliczek, Wolfgang: Rudolf von

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gesamte Episode wie seine Vorgänger im Bemühen um die Herstellung genealogischer Normalität oder – wenn man so will – heilsgeschichtlicher Verwertbarkeit als Lügengespinst zu verwerfen oder gar zu streichen, dehnt er sie sogar noch gegenüber der Vorlage mit den Momenten von Lüge, List, Betrug, Gegenbetrug und Verstellung in solchem Maße, dass man nachgerade von einem narrativen Insistieren auf dem Betrug sprechen könnte. Warum aber Dehnung und Erweiterung anstelle eines raschen Voranschreitens zur Schilderung der außergewöhnlichen Geburt des Helden, von dem die Erzählung handeln soll, der Heroengeburt eben, deren Darlegung wohl als „Signum des Außerordentlichen“29 genügt hätte? Die auffallende Vielzahl der bei Rudolf präsentierten Varianten des betriegens30 lässt sich – soviel kann vorab festgehalten werden – weder sinnfällig auf inhaltlicher Ebene erklären, noch begründen mit einem Bemühen um die Re-Mythisierung des Geschehens, eine Re-Mythisierung, bei der – wie Manuel Braun durchaus überzeugend festhält – „der christliche an die Stelle des antiken Mythos“ getreten ist.31 Die narrative Proliferation der Betrugssequenzen ist auch nicht zurückführen auf ein erzählerisches Sich-Abarbeiten am Problem genealogischer Legitimität, wie Jan-Dirk Müller es mit Blick auf den Antagonismus zwischen traditionaler Ordnung und heroischer Exorbitanz für die Erzählungen von Alexander im Allgemeinen veranschlagt.32 Gerade weil sich die Betrugsthematik so breit und auffällig wie bei Rudolf nirgends sonst in den Alexanderromanen findet, kann es auch nicht um die schlichte Einbeziehung und Einarbeitung aller möglichen narrativ ergiebigen Quellen in einen höfischen Versroman inklusive eines romanhaften „qui pro quo von Gott und Mensch“33 gehen, wie es schließlich Dieter Kartschoke für Rudolfs „Alexander“ vermutet. Dies würde allenfalls die Übernahme der bereits aus der Tradition vorgegebenen Betrugssequenzen begründen, nicht aber die weiteren, darüber hinausgehenden Varianten des betriegens. Abseits der hier nur schlaglichtartig angesprochenen Forschungspositionen möchte ich im Nachfolgenden versuchen, die auffallende Vervielfältigung der

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Ems. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage, Band 8. Berlin/New York 19922, Sp. 322 – 345, hier Sp. 332 f. sowie Ehlert, [Anm. 20], S. 115 mit weiterer Literatur in Anm. 64. Solchermaßen begründet Lienert, Elisabeth: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 56, das Auserzählen der Geschichte von der illegitimen Herkunft Alexanders. Nach dem Mittelhochdeutschen Handwörterbuch von Lexer, Matthias. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1872 – 1878 mit einer Einleitung von Gärtner, Kurt. 3 Bde. Stuttgart 1992, hier Bd. 1, Sp. 240, bedeutet mhd. betriegen – verlocken, betrügen, betören, verblenden. Braun [Anm. 12], S. 52. Darum geht es nach Müller [Anm. 12], S. 80 – 92, hier S. 80, recht grundsätzlich in den mittelalterlichen Erzählungen über Alexander den Großen. Kartschoke [Anm. 12], S. 174.

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Betrugs-Szenen bei Rudolf auf struktureller Ebene zu fassen. Ausgehend von der Vermutung, dass die in der rezenten Forschung zum Thema oft bemerkten Inkohärenzen in Rudolfs Version der Geschichte wohl nicht zuletzt in der Vielzahl der Betrugs-Varianten begründet sind,34 soll dabei hinterfragt werden, auf welche Weise die Nekt–nabus-Episode eine narrative Lust an List und Betrug35 erkennen lässt und inwiefern man – in einem ähnlichen Sinne wie Rainer Warning es für den „Tristan“ beansprucht – bereits hier von einem Erzählen im Paradigma sprechen kann. Zugespitzt gefragt: Öffnet sich auch bei Rudolf über eine paradigmatische Erzählführung in der Nekt–nabus-Episode jenseits des Syntagmas der Alexandervita eine Ebene der Reflexion, auf der die angesprochenen Inkohärenzen durch den Gewinn zusätzlicher semantischer Dimensionen greifbar werden? Im Kontext dieser Fragestellung dürfte zunächst die enge Anlehnung der Dichtkunst Rudolfs an Gottfried als literarisches Vorbild von Bedeutung sein. Jan Cölln hat bereits darauf hingewiesen, dass diese Anbindung auf verschiedenen Ebenen des Textes sichtbar wird: Neben der Orientierung des Rudolfschen „Alexander“-Prologs am „Tristan“-Prolog bereite so auch der Beginn der Nekt–nabus-Episode „auf eine Re-Formulierung der bekannten Ehebruchsgeschichte von Nektanabus, Olimpias und Philipp auf Basis des stofffremden Leitmodells des „Tristan“ vor.“36 Zwar sei die Tristan-Isolde-Marke-Konstellation „natürlich eine ganz andere“, gleichwohl habe Rudolf aber seine lateinische Vorlage unübersehbar (sogar bis in Reimkorrespondenzen hinein) nach dem literarischen Vorbild des „Tristan“ zu einem Fall höfischer Liebeskasuistik gemacht.37 Die Vermutung, dass Rudolf sich mit dem Einbringen des BetrugsParadigmas in der Nekt–nabus-Geschichte auch in struktureller Hinsicht am „Tristan“ ein Vorbild genommen haben könnte, kommt folglich nicht von ungefähr. Wenn auch anders als im „Tristan“ motiviert, spielt die Auflösung der Opposition von Norm und Transgression durchaus auch im „Alexander“ insofern eine Rolle, als bereits die transgressive Minne in Gestalt des Ehebruchs paradoxerweise für den genealogischen Normalfall sorgt: „Es gibt einen Thronfolger.“38 Beim vergleichenden Blick von der Ehebruchsgeschichte im „Tristan“ 34 Die Inkohärenzen vermerken u. a. Braun [Anm. 12], S. 51 – 53 und Kragl [Anm. 12], S. 42. 35 Im „Tristan“ meint das Listen-Paradigma eine Verkettung von Lügengeschichten, während in der Begrifflichkeit des „Alexander“ das Wort mhd. list gleichsam hybridisiert ist, es kann für teuflische Zauberkunst ebenso stehen wie für die Septem artes, für die Fähigkeiten eines Nekt–nebus ebenso wie für die des Aristoteles. 36 Cölln [Anm. 12], S. 335. 37 Ebd., S. 340. Zwar dürfe man solche Übereinstimmungen nicht interpretatorisch als markierte Intertextualität überstrapazieren; sie belegen aber dennoch – so Cölln – Rudolfs enge Orientierung am literarischen Vorbild (S. 336). 38 Müller [Anm. 12], S. 88.

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zum Ehebruch der Nekt–nabus-Episode scheint freilich eine Verschiebung stattgefunden zu haben, bei der der Akzent nicht mehr (ausschließlich) auf einer Dekonstruktion der Opposition von Norm und Transgression liegt, sondern vielmehr auf der von Anbeginn an gegebenen Aufweichung der semantischen Opposition von Wahrheit und Lüge. Genau diese immer wieder durchgespielte Oppositionierung bzw. Überlagerung von Wahrheit und Lüge kann eben nicht syntagmatisch entfaltet werden, sondern erfolgt bei Rudolf durch ein Erzählen im Paradigma, d. h. durch die Paradigmatisierung der Betrugssequenzen.

IV. Bei Rudolf erfolgt die Eröffnung des Betrugs-Paradigmas bereits einleitend mit der Vorstellung der Nekt–nabus-Figur : Während in den meisten Versionen die Flucht des Zauberers aus Ägypten dadurch motiviert ist, dass ein Orakel aus Wachsschiffchen die Niederlage gegen feindliche Angreifer offenbart, ist bei Rudolf mit einem Zweig aus Ebenholz als lúz noch eine weitere Instanz der konkreten Unheilsprophezeiung vorangestellt.39 Das Orakel ist verdoppelt: Sú sage ich iu wie erz bevant. ein holz ist EbÞnus genant, daz niemÞr verbrinnet swie heiz ez gewinnet, des nam er in die hant ein r„s, er begunde in mange w„s s„ne kunst erzeigen d–, mit kunst twanc er den tiuvel s– daz er kam und lÞrte s„n lúz daz ez sich kÞrte. dar n–ch als im solde erg–n, er sach als ich vernomen h–n, s„n lúz an allen enden n–ch vluste sich wenden: s„n liezen allenthalp verlús, der v„nde lúz den sic erkús. zehant als in das lúz betrouc und im des siges w–n erlouc, 39 Das Ebenholzzweig-Orakel ist auch in der „Historia de preliis“ angeführt, hier verweist es aber zunächst nur unspezifisch auf „eine Flotte von Schiffen“ (1,2: classis navium), die sich dem Reich des Nectanebus nähern. Erst das Wachsschiffchen-Orakel zeigt dann, dass „die ägyptischen Götter die Schiffe der Barbaren“ (1,9: quomodo dii Egiptiorum gubernabant in navigiis barbarorum) lenken, wodurch die kommende Niederlage Ägyptens zur Gewissheit wird.

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er begunde machen mit w„sl„chen sachen von wahse kleiniu schiffel„n [… ] (V. 311 – 331).

Erst dann folgt also das Wachsschiffchen-Orakel, das nochmals auf die Niederlage hindeutet. In Anbetracht der auf der Handlungsebene recht unmotiviert anmutenden narrativen Dopplung der Prophezeiung scheint vor allem der Reimpaarvers zehant als in das lúz betrouc / unde im des siges w–n erlouc (V. 327 f.) signifikant, denn durch diesen ist Nekt–nabus, der künftige Lügner und Betrüger gegenüber dem makedonischen Königshaus, an dieser Stelle als Opfer eines betriegens in Szene gesetzt. Dass man in diesem Kontext nicht von „Betrug“ im modernen Sinne sprechen kann, entbehrt jeden Zweifels – ich übersetze die beiden Verse „als ihn das Orakel im Stich ließ und ihm die Hoffnung auf einen Sieg vorenthielt“. Gleichwohl präfiguriert das gereimte betriegen/ liegen, verstanden als narrativer Marker, bereits hier das nachfolgende Betrugsszenario um Alexanders Zeugung. Die im Orakel inszenierte, nachgerade oxymorale Verquickung von Betrügen und Wahrsagen (letzteres durchaus im doppelten Wortsinn) weist folglich darauf hin, dass die semantische Opposition von Wahrheit und Lüge von vornherein instabil ist, weil sie einem Verlust von Eindeutigkeit unterliegt. Nachdem Nekt–nabus, getarnt als ägyptischer Weissager, nach Makedonien geflüchtet ist, kommt es zur Begegnung zwischen ihm und der schönen Olimpias, die als Inbegriff höfischer site und w„pl„cher kiusche (V. 432) präsentiert wird und der der Ägypter, dargestellt im Bild höfischer Minne, sogleich verfällt. Wie Manuel Braun in seinem Beitrag zur Nekt–nabus-Episode bemerkt hat, ist der nachfolgende Ehebruch bei Rudolf als höfische Minneintrige inszeniert und neu motiviert:40 Während sich die Olympias der „Historia de preliis“ J2 lediglich über eine drohende Verstoßung durch Philipp sorgt, fragt Rudolfs Olimpias den Ägypter nach ihrer Zukunft, weil sie aufgrund eines von rehter w–rheit (V. 649) zugetragenen Gerüchtes fürchtet, wegen ihrer Kinderlosigkeit von Philipp verstoßen und durch eine andere Ehefrau ersetzt zu werden. Sie bittet Nekt–nabus, dieses drohende Schicksal abzuwenden – hilf mir daz es niht geschehe (V. 659). Dieser beruhigt sie, indem er das Gerücht als Lüge verwirft: ,vrouwe‘, sprach er, ,l– die klage! ez ist ein lügen, d˜ bist betrogn swer dirs jach, h–t gelogn‘ (V. 664 – 666).

Mit Blick auf die Betrugs-Thematik scheint zunächst die vorausgreifend anmutende Darstellung der Königin als Figur, die dem liegen und betriegen Anderer offensichtlich leicht zum Opfer fällt, signifikant. Diese Leichtgläubigkeit 40 Braun [Anm. 12], S. 64.

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wird sich mit Nekt–nabus genau derjenige zu Nutze machen, der als Wahrsager hier ein Gerücht als Lug und Trug entlarvt und damit den Weg für eine weitere Variante des betriegens durch seine eigene Wahrsagerei ebnet. Dass Nekt–nabus die vom dynastischen Standpunkt aus berechtigte Sorge der Olimpias abwehrt und ihr stattdessen das vorhersagt, was tatsächlich eintreten wird, mutet in der Darstellung Rudolfs freilich insofern irritierend an, als im Wechsel von Gerücht und dessen Widerlegung Wahrheit und Lüge überblendet sind: Wenn Nekt–nabus das von w–rheit zugetragene Gerücht als ein lügen abtut, um dann (wahrheitsgemäß) zu prophezeien, dass Olimpias erst Jahre später und nur für kurze Zeit von Philipp verstoßen werde, zeigt sich, dass das Gerücht sehr wohl Wahrheitsgehalt hat: doch wirt ein teil der rede w–r (V. 667). Noch irritierender ist in diesem Zusammenhang aber, dass die tugendsame Königin trotz des als unwahr erachteten Gerüchts über die ihr drohende Verstoßung im Nachfolgenden mehr als bereit zum Ehebruch sein wird, um endlich den ersehnten Thronfolger zu empfangen. Analog zur „Historia de preliis“ folgt bei Rudolf die betrügerische Prophezeiung des Nekt–nabus, der Königin werde der Gott Ammon im Traum erscheinen, mit ihr schlafen und sie berhaft machen (V. 695). Mit dieser Prophezeiung rückt neben dem Spiel mit der Oppositionierung von Wahrheit und Lüge auch bei Rudolf ein Oszillieren von Norm und Transgression ins Licht: Weil Anstand und kiusche der Königin Merkmal höfischer Normativität sind, muss die transgressive Minne gegenüber Olimpias folglich aufgewertet und legitim gemacht werden. Dies geschieht durch eine erlogene Anbindung an die Transzendenz, die als Verheißung eines von Gott gezeugten Sohns eingebracht wird. Diese Verheißung lässt offenbar für Olimpias das moralisch Fragwürdige ihres Verhaltens zunächst tendenziell in Vergessenheit geraten. Entsprechend entschuldigt der Erzähler den Ehebruch der Königin ausgerechnet mit ihrer großen Liebe zu Philipp: Philippe ir man der degen w„s, swie er trüege húhen pr„s, s„n liebe tiure erkoufet wart, dú er was an der hervart. geminnet wart der got durch in ˜f der miete gewin und ˜f des lúnes húhen solt daz er ir solde wesen holt: si haete es anders niht get–n. d– vür süllen wir ez h–n (V. 751 – 760).

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Gerade der letzte Vers ist durchaus als ein augenzwinkernder Erzählerkommentar zu werten,41 – freilich handelt es sich um ein Augenzwinkern, dessen Ironie an dieser Stelle ihre Referenz, d. h. die Transgression des Ehebruchs, geradezu provokant evoziert und in den Mittelpunkt rückt.42 Im Anschluss an das Traumgesicht redet Nekt–nabus der Königin am nächsten Tag ein, dass ihr der Gott gleich in der darauf folgenden Nacht in w–rheit – also leibhaftig – als Drache und dann in Gestalt des Nekt–nabus beiwohnen wolle, so dass die außereheliche Affäre kraft der zouberl„chen sachen (V. 802) des Nekt–nabus ihren Lauf nehmen kann. Im Bild durchaus wechselseitiger sexueller Lust wird der Liebesakt vollzogen und die Königin geschwängert.43 Nach der erneuten Prophezeiung des vermeintlichen Gottes, dass der Königin ein Heldensohn geboren werde, heißt es lapidar : sus h–te s„ der list betrogn, / ir h–te ir gote w–n erlogn (V. 843 f.). Wodurch dann auch das Taliter decepter est Olimpiadis, concumbens cum homine quasi cum deo (4,8) der lateinischen Vorlage eingeholt wäre. Doch genau dabei bleibt es eben nicht. Während die Tradition – und an erster Stelle ist hier natürlich erneut Rudolfs Hauptquelle, die „Historia de preliis“ J2, zu nennen – durchaus die Option bereithielt, es zumindest beim einmaligen Ehebruch zu belassen, wählt Rudolf den mehrfachen, ja andauernden Ehebruch, der jenseits der Kindeszeugung fortgesetzt wird (so auch bei Pseudo-Kallisthenes oder bei Ulrich von Etzenbach). Das Moment gegenseitigen Begehrens wird dabei noch gesteigert, wenn Nekt–nabus’ Betrug durch sein tiefes Minneempfinden entschuldigt wird, vor allem aber, wenn Olimpias sich auf die Nachricht hin, dass ihr Gott jederzeit über sie verfügen könne, schmückt und offenkundig sehr erfreut ist: ouch lebte n–ch dem willen s„n der meister mit der küneg„n. swenne er wolde komen zir, sú sprach er ,liebiu vrouwe, dir kumt d„n got sus oder sú‘, si zierte sich und was s„n vrú, sú huop er sich zuo zir dar – (V. 845 – 851).

41 Müller [Anm. 12], S. 86: „Der augenzwinkernde Erzählkommentar ironisiert die Überschreibung der außerehelichen Affäre der Königin durch das genealogische Interesse.“ 42 Damit kommt der Ironie die Funktion zu, die Warning [Anm. 1], S. 196, ihr auch im „Tristan“ mit Blick auf die Episode der Rückführung Isoldes von Gandin und der in diesem Kontext erfolgten Liebesnacht (V. 13431 ff.) zuschreibt. Anders interpretiert Braun [Anm. 12], S. 52. 43 Zur Darstellung der gegenseitigen Zuneigung von Nekt–nabus und Olimpias siehe Kartschoke [Anm. 12], S. 175.

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Als die Königin dann endlich den Betrug an ihr durchschaut, erweitert der Erzähler das Paradigma gegenüber der Vorlage noch um einen weiteren Betrug, der auch auf formaler Ebene durch die für Rudolf so charakteristische Verwendung des grammatischen Kreuzreims noch besonders exponiert ist. Nunmehr betrügt Olimpias auch den Nekt–nabus, indem sie ihm ihre Liebe nur vorheuchelt: dú diu vrouwe wart gewar daz s„n witze s„ betrouc und ir sú spaehl„che louc, si begunde in ouch betriegen und an tr˜tschaft liegen (V. 852 – 856).

Mit dem Gegenbetrug ist Olimpias in das Lügen- und Betrügenparadigma integriert. Das Transgressive der außerehelichen Affäre wird damit wieder in den Blickpunkt gerückt und sogar verschärft, denn Olimpias setzt nicht allein die Liebesbeziehung zum Zauberer noch nach der Kindeszeugung fort, sie wird darüber hinaus durch ihr bewusstes Agieren sogar aktive Teilnehmerin der Minneintrige.44 Wenn Olimpias dann aber im Anschluss an einen Erzählerkommentar über heimliche Liebe, „einem Lieblingsgegenstand höfischer Minnekasuistik“45, nachdrücklich ihre schuld reflektiert,46 wenn dem bewussten Ehebruch unmittelbares Schuldbewusstsein folgt, dann sind Norm und Transgression, sind triuwe und Liebesbetrug, sind Schuld und Unschuld und Wahrheit und Lüge so eng verwoben, ja teilweise überblendet, dass sie in ihrer Oppositionalität wiederum labilisiert sind. Tatsächlich betrogen ist von nun an allein König Philipp „in seiner MarkeRolle“47: Gleichsam in Umkehrung ihrer einstigen Sorge über einen möglichen Verstoß wegen Kinderlosigkeit muss Olimpias nunmehr fürchten, von Philipp wegen der Folgen ihres Seitensprungs verstoßen zu werden: Weil die Schwangerschaft in absentia gegenüber dem König folglich plausibilisiert werden muss, kommen erneut des Nekt–nabus Zauberkräfte zum Einsatz. Im Text eindeutig als paradigmatischer Rückbezug auf seinen vergangenen Betrug an Olimpias markiert und erneut durch den grammatischen Kreuzreim von betriegen und liegen hervorgehoben, heißt es von Nekt–nabus nun: 44 Vgl. Cölln [Anm. 12], S. 338. 45 Müller [Anm. 12], S. 86. Jan Cölln [Anm. 12], S. 336 f. hat sich um eine Übersetzung dieser äußerst komplexen Textpassage bemüht, anders als Cölln verstehe ich den Kommentar als moralische Entlastung des betrügerischen Verhaltens des minnebetörten Nekt–nabus. 46 V. 881 – 883: wan sú der künec wider kumt, / unschuldigen mich kleine vrumt, / wan ich leider schuldig bin. 47 Cölln [Anm. 12], S. 340.

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mit zouberl„chen dingen s„nen list er schouwen liez, daz saf er ˜z dem kr˜te stiez und twanc den tiuvel d– mite nach s„nem alten zoubersite daz er Philippen dort betrüge und mit dem selben liste im lüge d– mite s„n w„p was betrogn unz ir ir minne was erlogn (V. 912 – 920).

Im ergaukelten Traum sieht Philipp, wie der Gott Ammon mit Olimpias schläft. Der Gott behauptet, dass an seiner Statt ihr Ehemann Philipp bei ihr gelegen und sie geschwängert habe. Nachdem auch ein eilends herbeigerufener Traumdeuter dieses manipulierte Gesicht als w–rheit (V. 977) wertet und die doppelte Vaterschaft von Gott und König bestätigt,48 ist Philipps möglicher Zorn schon im Vorab abgewehrt. Dass es sich freilich trotz aller Träume und Deutungen um einen groß angelegten Betrug handelt, stellt der Erzähler nochmals kommentierend in einem Wortspiel mit den narrativen Markern list, liegen und betriegen, letztere erneut imgrammatischen Reim akzentuiert, überdeutlich heraus: dirre list wart erhabn daz sie Philippen alsú trügn und im ˜f die rede lügn daz sie in wol möhten triegen und an den schulden liegen (V. 962 – 966).

An diesem Betrug partizipiert Olimpias mithin als ,Mitbetrügerin‘, denn das pluralisch verwendete sie triegen verweist nicht allein anaphorisch auf den Betrug der Olimpias, das an den schulden liegen aktualisiert auch wieder die Frage nach Schuld und Unschuld der Königin. Der geprellte Philipp, auf struktureller Ebene als Betrogener nunmehr ebenfalls in das Paradigma integriert, kann dann bei seiner Heimkehr gegenüber der schuldbewussten Gattin verlautbaren: d˜ bist unschuldec (V. 1061), womit Wahrheit und Lüge, Schuld und Unschuld erneut in harter Fügung zusammengerückt sind. Während auf der Handlungsebene Philipps Glaube an die Wahrhaftigkeit seiner Traumvisionen und der Drachenerscheinungen49 ungetrübt ist, betont der Erzähler unablässig, dass der erhoffte Sohn Resultat und Philipp somit Opfer eines Betrugs ist: Im Kontext der oben angesprochenen Episode, in der ein Vogel Philipp ein Ei in den Schoß legt, aus dem eine Schlange kriecht, geht der Erzähler 48 V. 977 – 981: benamn, ez ist ein w–rheit / daz d„n w„p von gote treit, / niht von menschen l„be. / dir wirt von d„nem w„be / geborn ein sun […]. 49 Die zweite Drachen-Erscheinung beim Festmahl dient allein dazu, der Hoföffentlichkeit die wundersame Schwangerschaft Olympias als eine von Gott verursachte zu suggerieren. Die Hoföffentlichkeit ist insofern ebenfalls um die Wahrheit betrogen.

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erneut über die „Historia de preliis“ hinaus. Aus Gründen der Wahrheitsfindung will er nämlich die einzelnen Elemente der sonderbaren Erscheinung deuten: der muoz mir des volge jehn, / wil er die w–rheit ane sehn (V. 1179 f.). Ei und Kind sind in dieser Deutung der sippe des Königs zugerechnet, das vogel„n wird hingegen mit dem Zauberer Nekt–nabus identifiziert, der dem König einen Erben untergeschoben habe: daz ei br–ht im daz vogel„n: der vogel muoz gel„chet s„n dem w„sen zouberaere, des zouberl„chiu maere im einen erben h–nt ertrogn (V. 1185 – 1189).

Im narrativen Überschuss ist der Betrug an Philipp erneut und ohne jede Beschönigung exponiert, wenn es im Text heißt, dass der König dieses „Kuckucksei“ angenommen und den dadurch gewonnenen Sohn durch den w–n / daz er von gote w–nde h–n (V. 1195 f.) anerkannt habe. Schließlich endet die Nekt–nabus-Episode dort, wo sie einst in Ägypten begonnen hatte: bei der für Nekt–nabus offenbar stets unheilvollen Wahrheit: Wenn der zwölfjährige Alexander darüber nachsinnt, wie er den Wahrsager ze lügen möhte bringen (V. 2012), werden Wahrheit und Lüge noch einmal verschränkt. Mit dem Argument ,ich weiz von w–rheit wol / daz dich d„n kint niht toeten sol‘ (V. 2013 f.) ermordet Alexander Nekt–nabus, um dessen Vorhersage ad absurdum zu führen – und bekommt von dem Sterbenden prompt erwidert: ,n˜ maht˜ die w–rheit sehn daz ich dir niht gelogen h–n: d˜ bist m„n kint –n allen w–n. ich bin von dir tút gelegn‘ (V. 2042 – 2045).

Das Betrugsparadigma kommt mit seiner Aufdeckung zum Erliegen. Entsprechend muss auch eine letzte Lüge der Olimpias gegenüber Alexander in Wahrheit verkehrt werden: Auf seine Frage nach dem Vater lügt sie zuerst: ,daz ist Philippe‘ (V. 2055), muss dann aber seinem Befehl zur Wahrheit nachgeben: er twanc s„ daz si seite alsus / ,d„n vater ist Nekt–nabus‘ (V. 2059 f.). Alexander, dessen Existenz auf einer transgressiven Minneintrige fußt, tadelt seine Mutter abschließend nicht nur ob ihrer tumpheit (V. 2068), der Erzähler macht ihn sogar zum Anwalt der höfischen Norm, wenn der Sohn der Mutter vorhält, dass sie froh sein könne, in dieser Geschichte nicht all ihre Þre (V. 2072) verloren zu haben.50 Mit dem Erliegen des Paradigmas werden solchermaßen aneinander50 V. 2067 – 2074: ,Zew–re, liebiu muoter m„n, / daz möhte wol d„n tumpheit s„n / diu dich von rehten witzen schiet / und d„nem herzen daz geriet / daz d˜ in ze vriunde erkür: / daz d˜ niht al d„n Þre vlür, / des maht˜ wol wesen vrú.‘

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gekoppelt folglich auch Norm und Wahrheit wieder in eindeutige Opposition zu Transgression und Lüge gerückt.

V. Will man die am Text ausgemachten Beobachtungen Revue passieren lassen, so lässt sich zugespitzt resümieren: In seiner Wiedererzählung der Geschichte über Alexanders Zeugung und Geburt orientiert sich Rudolf von Ems zwar eng an seiner Quelle, der „Historia de preliis“ J2, mit Blick auf die Betrugsthematik greift er aber weit über diese Quelle hinaus, indem er seine Version der Geschichte, teilweise narrativ überschüssig anmutend, mit Momenten von Lüge, List, Betrug, Gegenbetrug und Verstellung in auffallendem Maße streckt. Der Vergleich mit der Vorlage, aber auch mit anderen Versionen zeigt also, dass der Gang der Handlung zwar durch die Tradition vorgeprägt ist, seine Zielgerichtetheit indes konstant unterlaufen, die lineare Erzählführung durch den Einbau der verschiedenen Betrugssequenzen zerdehnt, ja nachgerade aufgelöst wird. Die Struktur der Episode gibt sich dabei als ein komplexes Bauwerk zu erkennen, bei dem die Momente des betriegens über den Aufbau eines paradigmatischen Bezugssystems, dessen Verknüpfung über Korrespondenzen und Analogien, über ein ana- und kataphorisches Relationsgefüge erfolgt, in verschiedenen Facetten variiert werden. Jenseits des Syntagmas wird auf diese Weise eine Ebene der Reflexion eröffnet, die den Blick auf zusätzliche semantische Dimensionen lenkt. Die Geschichte von der Herkunft und Geburt Alexanders ist geprägt von Widersprüchen und Uneindeutigkeiten, um deren Tilgung sich die verschiedenen Erzählungen über Alexander oftmals im Sinne eines „Abarbeitens“51 bemüht zeigen, nicht ohne dabei freilich Spuren zu hinterlassen. (Neben der in der Tradition durchaus variierenden Antwort auf die prekäre Frage nach der genealogischen Legitimität Alexanders – als Sohn eines Gottes, eines ägyptischen Magiers oder des makedonischen Königs, die nachgerade durch die Präsenz der Möglichkeiten – bei gleichzeitiger Herausstellung der Exorbitanz des Helden – verwischt erscheint, ist es u. a. auch die dichte Abfolge der Prophezeiungen, Orakel und Traumvisionen, welche insofern Zweideutigkeiten produziert, als vielfach nicht immer klar erkennbar ist, wo antikes Fatum und Manipulation differenzierbar sind. Das ,echte‘ Orakel verkündet die Wahrheit aber ebenso wie es – zumindest teilweise – auch das ergaukelte vermag.) Widersprüche und Uneindeutigkeiten exponiert Rudolf in seiner Version gerade durch die Sequenzierung der Betrugsmomente, durch die neben der Opposition von Norm und Transgression, die im Moment des Ehebruchs verankert ist, vor 51 Müller [Anm. 12], S. 81.

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allem die semantische Opposition von Wahrheit und Lüge dekonstruiert wird. Dabei geht es nach Warning freilich nicht um eine sukzessive Dekonstruktion, sondern um eine von vornherein entmarkierte, um ein Durcharbeiten der Oppositionen, das in die Offenheit von Fragen mündet.52 Genau diese immer wieder durchgespielte Dekonstruktion der Opposition, dieses Oszillieren von Wahrheit und Lüge kann bei Rudolf eben nicht syntagmatisch entfaltet werden, sondern erfolgt durch ein Erzählen im Paradigma. Solch ein spielerisches Durcharbeiten der semantischen Opposition von Wahrheit und Lüge, das in die Offenheit von Fragen überführt, dürfte bei der Gestaltung einer von vornherein ambigue angelegten literarischen Identität des Helden nicht nur dienlich gewesen sein, es exponiert die in der Tradition angelegten Uneindeutigkeiten und Ambiguitäten sogar noch. Vielleicht mag das auch der Grund dafür sein, warum die Nekt–nabus-Episode und die in ihr verankerte Herkunftsgeschichte des Helden bei Rudolf von Ems mit so deutlicher narrativer Lust an List und Betrug als Quelle des Imaginären erzählt werden kann.53

52 Warning [Anm. 1], S. 186. 53 Ich danke Matthias Meyer herzlich für den Hinweis darauf, dass sich eine weitere interessante Parallele zwischen Gottfried und Rudolf auch im Blick auf die gleichermaßen mit Momenten der List behaftete Vielfalt der Vaterfiguren von Tristan bzw. Alexander ergibt.