Denken jenseits von Dichotomien: Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext [1. Aufl.] 9783839425909

In previous research on »Muslim« thinkers and philosophers, the dichotomously applied terms »modern« and »Islam« are cen

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
Intellektuelle Bewegung im Islam im Zeitalter der Moderne Ein historischer Überblick
Jalāl Āl-e Ahmad und der Diskurs gharbzadegi
'Ali Shari'ati und die islamische Ideologie
'Abdolkarim Sorush: Der religiöse Intellektuelle
Mostafā Malekyān: Die Affinität zwischen Rationalität und Spiritualität
Schlusswort
Internetquellen
Anhang
Der amerikanische Ehemann
Rückkehr zu sich selbst
Der demokratisch-religiöse Staat
Über das Verhältnis von Islam und Liberalismus
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Denken jenseits von Dichotomien: Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext [1. Aufl.]
 9783839425909

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Abbas Poya Denken jenseits von Dichotomien

Globaler lokaler Islam

Für Elias und Noah

Abbas Poya (PD Dr. phil.) leitet die Nachwuchsforschergruppe »Norm, Normativität und Normenwandel« an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie des islamischen Rechts, Religiöser Pluralismus und die Idee der Toleranz, Normenwandel und das Konzept der Gerechtigkeit, Intellektuelle Geschichte im Islam, Moderne intellektuelle Diskurse im Iran und Geschichte/soziale Struktur/Literatur in Afghanistan.

Abbas Poya

Denken jenseits von Dichotomien Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Irina / photocase.com Lektorat: Abbas Poya, Karoline Tschuggnall Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2590-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2590-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 Einleitung | 9 Intellektuelle Bewegung im Islam im Zeitalter der Moderne Ein historischer Überblick | 37 JalÁl Àl-e Ahmad und der Diskurs gharbzadegi | 63 ÝAli ShariÝati und die islamische Ideologie | 95 ÝAbdolkarim Sorush: Der religiöse Intellektuelle | 131 MostafÁ MalekyÁn: Die Affinität zwischen Rationalität und Spiritualität | 171 Schlusswort | 199 Literatur | 211 Internetquellen | 223 Anhang | 225 JalÁl Àl-e Ahmad Der amerikanische Ehemann | 231 ÝAli ShariÝati Rückkehr zu sich selbst | 243 ÝAbdolkarim Sorush Der demokratisch-religiöse Staat | 249 MostafÁ MalekyÁn Über das Verhältnis von Islam und Liberalismus | 261

Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist um einen Perspektiven-/Paradigmenwechsel bei der Analyse muslimischer Diskurse bemüht. Ziel der Studie ist es, anhand einiger Texte ausgewählter iranischer Autoren den Wandlungsprozess in den gegenwärtigen intellektuell-religiösen Auseinandersetzungen im Lichte global vorherrschender postkolonialer Zustände zu untersuchen. Die heutige Welt ist postkolonial, weil einerseits eine euro-amerikanische Vormachtstellung, wenn auch an sich widersprüchlich und nicht unwidersprochen, die mit dem Kolonialismus begann, inzwischen in den unterschiedlichsten Lebens- oder Wissensbereichen sichtbar und wirksam ist, und weil andererseits die „Anderen“ das „Westliche“ längst in das „Eigene“ integriert und neue ‚vermischte‘ Konzepte entworfen haben. Durch diesen Zustand sind Analysekategorien wie modern/westlich, traditionell oder/und authentisch unbrauchbar geworden. Wer den Grenzgang wagt, kann die Komplexität heutiger Gesellschaften und Gedanken verstehen. Auch die hier behandelten Autoren zeichnen sich durch ihre hybride und die Grenzen des „Eigenen“ und des „Westlichen“ überschreitende Argumentationsweise aus, sich mit sozialen/ethischen/politischen Fragen auseinanderzusetzen. Dabei sind sie stets darauf bedacht, dem „Eigenen“ – Wissenstradierungen und -konstruktionen, die aus den für modern befundenen westlichen Theorien ausgeblendet wurden/werden – einen Platz in ihren Argumentationen einzuräumen. Auf diese Weise entstehen hybride Ideen, die schwer mit dichotomisierenden Kategorien wie modern/westlich oder traditionell/islam(ist)isch zu erfassen sind. So diskutieren die vorgestellten Autoren Konzepte wie die Verwestlichung, die islamische Ideologie, den demokratisch-religiösen Staat oder die rationalisierte Religion – intellektuelle Entwürfe, die ihre Anstrengungen zur Lösung sozialpolitischer

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Probleme in Iran und in der islamischen Welt zeigen, und in welche sowohl sogenannte islamische/orientalische Ideen als auch vermeintlich säkulare/westliche Vorstellungen eingeflossen sind. Das vorliegende Buch hätte nicht in dieser Form entstehen können ohne die Unterstützung zahlreicher Menschen, die meine Bemühungen mit Sympathie, Geduld und Tatkraft begleitet haben. Insbesondere haben Tanja Amini, Nabiela Farouq, Marianus Hundhammer, Stefanie Karl, Philipp Farid Suleiman, Jonas Wegerer und Miriam Younes auf unterschiedliche Art und Weise dieses Buchprojekt unterstützt. Ihnen allen möchte ich hier herzlich danken. Kien Nghi Ha und Markus Schmitz danke ich sehr für viele anregende Gespräche und ihre Schriften, deren Einfluss an mehreren Stellen dieser Arbeit erkennbar ist. PD Dr. Rainer Brunner, PD Dr. Benjamin Jokisch, Prof. Johanna Pink, Prof. Ulrich Rebstock, Prof. Maurus Reinkowski sind mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Ihnen allen sei an dieser Stelle von Herzen gedankt. Außerdem bin ich Karoline Tschuggnall, die den Text lektoriert und ihm den letzten Schliff gegeben hat, zu großem Dank verpflichtet. Die finanziellen Mittel zur Drucklegung des Buches wurden dankenswerterweise vom BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) bereitgestellt. Die KollegInnen am DIRS (Department IslamischReligiöse Studien) der Universität Erlangen-Nürnberg, Prof. Maha El KaisyFriemuth, Prof. Harry Behr, Prof. Reza Hajatpour, Dr. Tarek Badawia und Dr. Lars Allolio-Näcke haben das Anliegen wohlwollend unterstützt. Ihnen allen bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Meine Frau Mariam Popal hat den meisten Anteil an dem intellektuellen Reifeprozess des Buches. Oft hat sie meine im Kern analytische Herangehensweise durch ihre „pfiffige“ dekonstruktivistische Sichtweise korrigiert und ihr die notwendige kritische Schärfe verliehen. Ihr gilt mein größter Dank. Vor allem möchte ich mich aber bei meinen Kindern Elias und Noah bedanken, weil sie mit ihrer Art, die Welt zu sehen, mich stets daran erinnert haben, dass es noch wichtigere Dinge im Leben gibt, als wissenschaftliche Texte zu produzieren. Ihr werdet es mir hoffentlich verzeihen, wenn ich in vielen Arbeitsphasen für Euch nicht erreichbar blieb. Abbas Poya Nürnberg 2014

Einleitung „Ich glaube, die kulturelle Identität ist nicht fixiert, sie ist immer hybrid.“1

Im Mai 2010 erhielt der ehemalige islamische Revolutionswächter Akbar Ganji den Milton Friedman Liberty Prize,2 benannt nach dem bekannten amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler, der für eine konsequent freie Marktwirtschaft sowie für den Liberalismus steht. Geprägt von den islamisch-revolutionären Ideen ShariÝatis und fasziniert von Khomeinis Charisma beteiligte sich der junge Ganji (geb. 1960) an den Demonstrationen und Straßenschlachten gegen das Schah-Regime. Nach dem Sieg der Islamischen Revolution 1979 war er immer an vorderster Front zu sehen: als Mitglied der Islamischen Revolutionsgarde, zeitweise als Leibwächter von Revolutionsführer Ayatollah Khomeini, als Mitstreiter von SaÝid HajjÁreyan, einem der Mitbegründer des Geheimdienstministeriums, und als Kulturvertreter der iranischen Botschaft in der Türkei. In den 1990er Jahren, nach dem Tod von Khomeini, mischte er sich in die Reihen der eslÁh-talabÁn („Reformwilligen“), die sich aus einst revolutionären und später von den Entwicklungen enttäuschten AktivistInnen rekrutierten. Diese Bewegung wurde theoretisch stark von ÝAbdolkarim Sorush beeinflusst, der den durch revolutionäre DenkerInnen wie ÝAli ShariÝati „ideologisierten“ Islam konsequent kritisiert und für eine „liberale“ Islamauffassung steht. Ganji engagierte sich nicht mehr für die herrschende islamische

1

Hall, Stuart (2000): „Die Formierung eines Diaspora-Intellektuellen“ (Interview). In: Ders. (Hrsg.): Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften. Bd. 3. Hamburg, S. 8-33, hier S. 48.

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http://www.cato.org/special/friedman/ganji/index.html (11.07.2011).

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Staatsform, zu deren Verfestigung er selbst praktisch und theoretisch beigetragen hat, sondern explizit gegen sie. Inzwischen hatte er sich auch als Journalist und Schriftsteller einen Namen gemacht: Seine zumeist scharf formulierten und entlarvenden Berichte und Beiträge erschienen in einflussreichen kritisch-intellektuellen Zeitschriften wie KeyÁn, RÁh-e Nou und JÁmeÝe. Das brachte ihm einen langen und qualvollen Gefängnisaufenthalt ein, gegen den es massive nationale und internationale Proteste gab. Er kam schließlich frei und lebt seit 2006 in den USA – in eben jenem Land, das ihm einst als Feindesland galt. Seitdem kämpft Ganji gegen die herrschende religiöse Obrigkeit und für die Errichtung eines demokratisch-säkularen iranischen Staats. Dies wurde auch als Begründung bei der Preisverleihung herangezogen.3 Milton Friedmans Lebensweg (1912-2006) dagegen war bürgerlich und konservativ. Geboren in New York City, studierte er an der Chicago University Ökonomie. Nach seiner Promotion über Income from Independent Professional Practice an der Columbia University begann er 1946 seine Lehrtätigkeit an der Chicago University – eine Tätigkeit, die er bis 1976 ausübte. In diesen Jahren prägte Friedman die sogenannte Chicagoer Schule in der Ökonomie maßgeblich mit, die unter anderem für eine konsequent freie Marktwirtschaft und Verdrängung staatlicher Aktivitäten in der Wirtschaft eintrat. Friedman war auch Mentor einer Gruppe von chilenischen Ökonomen, die unter der Militärdiktatur Pinochets eine neue liberale Wirtschaftsordnung in Chile mitgestalteten. Sein Besuch in Chile, sein Treffen mit Pinochet und seine unkritische Haltung gegenüber der Diktatur und den Menschenrechtsverletzungen führten 1976, anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an ihn, zu Protesten. Später distanzierte sich Friedman allerdings von der Militärdiktatur Pinochets und bezeichnete sie als ein „grausames“ Regime. Friedman war Mitglied der Republikanischen Partei, gehörte allerdings deren liberalem Flügel an. 1988 erhielt Friedman aus den Händen des US-Präsidenten Ronald Reagan die Presidential Medal of Freedom, die höchste zivile Auszeichnung in den USA.4

3

Zur Biographie Ganjis und seinem politischen Werdegang vgl. Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.) (2001): Eine Konferenz und ihre Folgen. Iran nach den Wahlen. Münster, S. 256; http://www.rasekhoon.net/mashahir/Show-904157.aspx (01.03.2014); http://zamaaneh.com/news/2010/04/post_12792.html (01.03.2014).

4

Zur Biographie Friedmans vgl. Ebenstein, Lenny (2007): Milton Friedman. A Biography. New York.

Einleitung | 11

Zwei Lebenseinstellungen, die zunächst unterschiedlicher kaum sein könnten, sich dann aber im Jahr 2010 durch die Verleihung des Milton Friedman Liberty Prize an Akbar Ganji doch treffen. Im Gegensatz zu Friedmans gradlinigem Lebenslauf lassen sich in Ganjis Biographie und in seinem Denken einige Brüche erkennen, die schließlich dazu geführt haben, dass er von einer Stiftung, die Friedmans Namen und seine Ideen weitertragen möchte, geehrt wurde. Es wäre allerdings abwegig anzunehmen, dass Ganji sich aufgrund seines Aufenthaltes in den USA der Verteidigung US-amerikanischer Staatsräson verschrieben hätte. In seiner Rede bei der Preisverleihung kritisierte er die Rolle der „westlichen Mächte“ und insbesondere die der amerikanischen Regierung bei der Einsetzung diktatorischer Regime im Nahen Osten, und stellte fest, dass die Menschen im Nahen Osten unter „säkular diktatorischen und korrupten Regierungen leben, die durch amerikanische und andere westliche Regierungen unterstützt werden“. Auch warf er der amerikanischen Politik vor, den „Fundamentalismus“ gefördert zu haben.5 Ganjis Lebens- und Denkweg spiegelt die geistig-politischen Biographien vieler zeitgenössischer iranischer Intellektueller und AktivistInnen wider. Der Umbruch in seiner Lebensgeschichte illustriert den Wandel der geistigen Haltung vieler Iraner und Iranerinnen, die seinerzeit für die Islamische Revolution standen, ja sie tatkräftig unterstützten, nach jahrelangen Erfahrungen mit den epistemologischen Überzeugungen und politischen Wirklichkeiten in der Islamischen Republik ihr aber den Rücken zuwendeten und jetzt für „Demokratie“, „Liberalismus“ und „Säkularismus“ kämpfen und dabei gleichzeitig ihren kritischen Standpunkt gegenüber „westlichen“ Politikpraktiken und Kulturpolitiken beibehalten. Im vorliegenden Buch geht es jedoch nicht um die Biographie Ganjis, sondern vielmehr um die Rekonstruktion der politischen Ideen und intellektuellen Strömungen, die solche Biographien begleitet und nachhaltig geprägt haben. Es soll genau dieser ideelle Transformationsprozess anhand der Schriften ausgewählter iranischer Denker dargestellt werden. Dabei werden die Positionen jener Intellektuellen herangezogen, die die herrschenden Diskurse unmittelbar vor und nach der Revolution beeinflusst haben und bis in die Gegenwart prägen.

5

Das Video der Rede Ganjis ist auf der Internetseite des CATO abzurufen: http:// www.cato.org/special/friedman/ganji/index.html (11.07.2011).

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Alles in allem sind bei den politisch-intellektuellen Diskursen der Jahrzehnte in Iran drei Tendenzen zu beobachten. Während die einen der Überzeugung sind, dass die Religion für alle gesellschaftlichen Fragen Antworten parat habe, und dass das islamisch-religiöse System das einzig richtige Staatsmodell für die iranische Gesellschaft darstelle, suchen die anderen den Ausweg aus dem politisch-sozialen Dilemma in nicht-religiösen politisch-philosophischen Konzepten. Eine dritte Gruppe ist der Meinung, dass die islamische Religion aus der iranischen Tradition – auch der politischen – nicht wegzudenken sei. Die Auslegung religiöser Konzepte, durch wen auch immer, müsse sich jedoch an den sozialpolitischen Umständen der heutigen Zeit messen lassen. Die erste Position wird sowohl von vielen Geistlichen als auch von einigen Intellektuellen vertreten. Dabei argumentieren die Intellektuellen unter anderem mit der Philosophie Heideggers und sind daher auch als „Heideggerianer“ (heidegereyÁn)6 bekannt. Vertreter dieser Bewegung sind beispielsweise RezÁ DÁvari ArdakÁni, Präsident der iranischen Wissenschaftsakademie, GholÁm-ÝAli HaddÁd ÝÀdel, früherer Parlamentspräsident sowie Mehdi Golshani, Physiker, Philosoph und Direktor des Institute for Humanities and Cultural Studies in Teheran. Am bekanntesten ist der Philosoph RezÁ DÁvari, der das „westliche Demokratiemodell“, das auf einer Trennung von Politik und Religion basiert, ablehnt.7 Er steht in der Tradition von Ahmad Fardid (1910/12-1994), dem bekennenden Heideggerianer, der als Ziehvater der konservativen Intellektuellen bezeichnet wird. Fardid betrachtet die Geschichte als Schauplatz eines ständigen Kampfes gegen die

6

Sowohl bei der Bezeichnung Heideggerianer als auch bei der Gegenbezeichnung Popperianer handelt es sich um Fremdzuschreibungen, von denen sich die Bezeichneten in der Regel distanzieren. Vgl. dazu u.a. DÁvaris Interview mit der Online-Zeitschrift Hamshahri in: http://hamshahrionline.ir/print/65615 (20.10.2013). Zu einer chronologischen Untersuchung des Begriffs vgl. ÝIsÁ NezhÁd, Mohammad (2003): „JarayÁnshenÁsi-ye tafakkor-e heidegari-ye dini dar irÁn“. In: Houze 119/2003, Onlineausgabe: http://www.hawzah.net/fa/magazine/magart/4518/7337/ 91382 (20.10.2013).

7

Zu RezÁ DÁvari und seinen Gedanken vgl. u.a. DÁvari ArdakÁni, RezÁ (2001a): Andiše va tamaddon-e gharbi. Teheran; DÁvari ArdakÁni, RezÁ (2001b): Tamaddon va tafakkor-e Èarbi. Teheran; DÁvari ArdakÁnÐ, RezÁ (1990): Dar bÁre-ye gharb. Teheran.

Einleitung | 13

„Verwestlichung“ (gharbzadegi). Gemäß seiner Auffassung stellt gharbzadegi eine Haltung dar, nach der die „Vernunft“ (Ýaql) die zentrale Stelle im menschlichen Denken und Handeln einnimmt. Diese Haltung habe ihren Anfang schon in der altgriechischen Kultur und beherrsche auch in der Gegenwart die materielle und geistige Welt „des Westens“. Die „westliche Kultur“ lege keinen Wert auf das „Gottesrecht“ (haqqollÁh); für sie seien nur noch die „Menschenrechte“ (haqqonnÁs) wichtig. Vom Zeitalter der Aufklärung bis in die Gegenwart hinein sei sie geprägt von fortdauernder „Selbstentfremdung“. Die muslimische bzw. iranische Gesellschaft befinde sich sogar im Prozess einer „mehrfachen Selbstentfremdung“, da diese nicht einmal über die vernunftorientierte Lebensführung, die sie vom „Westen“ übernommen hat, reflektiert. Die aus „dem Westen“ importierten Gesellschaftsmodelle führten zur Entfremdung der iranischen Gesellschaft und seien daher zu bekämpfen.8 Die diametral entgegengesetzte Position wird von den „säkularen Intellektuellen“ eingenommen. Diese gehören einem breiten Spektrum von linksmarxistischen bis liberalwestlichen DenkerInnen an. Sie setzen sich sowohl in Iran selbst als auch außerhalb des Landes für eine Gesellschaftsstruktur ohne religiösen Bezug ein. Auch wenn sie in kleinen intellektuellen und akademischen Kreisen bekannt sind, ist es ihnen jedoch nie gelungen, eine breite Akzeptanz für ihre Ideen zu erlangen. Dazu gehören Intellektuelle wie JavƗd TabƗtabƗyi, BƗbak Ahmadi und RƗmin JahƗnbaglu, die ihre Bekanntheit insbesondere durch ihre Aktivitäten im Land erlangt haben, sowie Mohammad RezƗ Nikfar und ƖrƗmesh DustdƗr, die in Deutschland tätig sind. JavƗd TabƗtabƗyi will in der iranischen Geistesgeschichte einen Prozess des zavÁl-e andishe-ye seyÁsi („Niedergangs des politischen Denkens“) beobachtet haben. Dies sei eine historische Entwicklung, die daraus resultiert, dass Rationalismus durch religiöses Denken ersetzt wurde. Das Primat der Religion habe die Vernunft in Iran getötet, und der iranische Geist wurde damit seiner Rationalität beraubt. Geprägt durch seine neohegelianische, dialektisch-idealistische Denkungsart wünscht sich TabƗtabƗyi

8

Zu Ahmad Fardid vgl. Poya, Abbas (2009): „Fremd- und Selbstbilder im Gegendiskurs. Überlegungen zum Begriff Gharbzadegi bei Fardid (1910/121994) und Àl-e AÎmad (1923-1969)“. In: Jokisch, Benjamin [u.a.] (Hrsg.): Fremde, Freunde und Kurioses. Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn. Berlin; New York, S. 453-476, hier S. 454-460.

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eine Wiederbelebung des Geistes und des Intellektes in Iran.9 In gleicher Absicht, jedoch viel prägnanter, argumentiert auch ƖrƗmesh DustdƗr. Er spricht vom „Verstummen des Denkens in der religiösen Kultur“ (emtenƗҵ-e tafakkor dar farhang-e dini) in seinem gleichnamigen, 2004 in Paris erschienenen Hauptwerk. Seiner Ansicht nach ist ein Muslim, der sich dem göttlichen Willen unterordnet, nicht in der Lage, frei zu denken. Daher sei es auch unmöglich, in einer islamisch geprägten Gesellschaft von vernunftorientierten Werten wie Demokratie oder Menschenrechten zu sprechen. Für ihn liegt die heutige Misere der iranischen Gesellschaft in ihrer mit religiösen Vorstellungen umwobenen Geschichte. Die Iraner müssen sich möglichst „entreligionisieren“, um ihre sozialpolitischen Probleme lösen zu können.10 Quasi als Synthese zu beiden oben genannten Positionen sind die hier behandelten Protagonisten zu verstehen, die sich zum Teil auch als „religiöse Intellektuelle“ bezeichnen. Sie bedienen sich der als europäisch geltenden Theorien, Konzepte und Begriffe wie Ideologie, soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Menschenrechte und Säkularismus, konstruieren jedoch durch eine islamisch-schiitisch geprägte Argumentation spezifisch iranische Modelle. Dabei werden diese Begriffe nicht als europäisch oder fremd verstanden, sondern scheinen längst verinnerlicht, als Islam-inhärente Konzepte gedacht und dem spezifischen Kontext angepasst zu werden. Von ihrem Standpunkt aus wären die säkularen DenkerInnen Iran-fremd und die konservativen weltfremd. Zuerst wird JalÁl Àl-e Ahmad (1923-1969) behandelt werden. Als politischer Schriftsteller hat Àl-e Ahmad in verschiedenen Genres wie Journalismus, Kurzgeschichte, Reisebericht und Sachbuch prominente Werke verfasst und einen eigenen Schreibstil entwickelt, der von vielen jüngeren SchriftstellerInnen seiner Zeit geschätzt wurde. Er wird aber vor allem mit dem Thema gharbzadegi („Verwestlichung“), dem Titel seines gleichnamigen Buches, in Verbindung gebracht – ein Buch, „welches immer wieder

9

Zu JavƗd TabƗtabƗyis These vom „Niedergang des Denkens“ in der iranischislamischen Geistesgeschichte vgl. sein Buch (2004): ZavÁl-e andishe-ye seyÁsi dar iran. Teheran.

10 Zu ÀrÁmesh DustdÁrs Ideen vgl. seine drei wichtigen Werke: DustdÁr, ÀrÁmeš (2004): EmtenƗ‫ޏ‬-e tafakkor dar farhang-e dini. Paris; DustdÁr, ÀrÁmeš (2002): MolƗhezƗt-e falsafi dar din va ‫ޏ‬elm. Vincennes; DustdÁr, ÀrÁmeš (1999): DeraপsheshhƗ-ye tire. Vincennes.

Einleitung | 15

als Schlüsseltext für die Islamische Revolution von 1979 bezeichnet wird“.11 Das Werk hat bei seinem Erscheinen und bis in die ersten Jahre der Islamischen Republik eine große Resonanz unter den politischen Aktivisten und Intellektuellen erfahren. Auch wenn Àl-e Ahmad kein religiöser Erneuerer oder islamischer Ideologe war, so schreibt er doch in seinem Konzept des Kampfes gegen die „westliche“ Hegemonie den ÝolamÁÞ („Religionsgelehrten“) eine zentrale Rolle zu und hebt hervor, dass die ÝolamÁÞ immer gegen den Imperialismus Widerstand geleistet und nie ein korrumpierendes und dem Kolonialismus dienendes Protokoll unterschrieben hätten. Àl-e Ahmad, der sich von den Linken enttäuscht fühlte und ihnen Unterwürfigkeit gegenüber russischen Interessen vorwarf, machte bei seinen Bemühungen um die politische und kulturelle Eigenständigkeit Irans die ersten vagen Versuche, auf die Religion und die religiösen Institutionen zurückzugreifen. Er wurde aber nie konkret und schlug kein elaboriertes Konzept vor. Anders hingegen der islamische Ideologe ÝAli ShariÝati (1933-1977), der mit seinen islamisch-revolutionären Thesen den politischen und intellektuellen Nerv der Zeit bestens traf. Er bediente sich der Marx’schen Gesellschafts- und Geschichtstheorie, des antikolonialistischen und antiimperialistischen Gedankenguts von Frantz Fanon und mancher 1968er Intellektuellen in Europa, ebenso wie einer religiös-islamischen Sprachsymbolik. Dabei wirkte seine Sprache weder abgehoben intellektuell oder importiert „westlich“ noch religiös konservativ oder traditionell trocken. Er fand vielmehr genau die Worte und die Denkmuster, auf die Intellektuelle wie Àl-e Ahmad hinsteuerten: eine authentische und nicht von Europa entliehene Ideologie, welche die Menschen aufrütteln und inspirieren konnte und sollte. Das bis dahin vorherrschende Islamverständnis in Iran war eher reaktionär als revolutionär. Die damals dominante revolutionäre Ideologie, der Marxismus, war aber dem Weltbild und der Sprache weiter Bevölkerungsgruppen fremd. In dieser Situation wurde die islamische Ideologie ShariÝatis als Allheilmittel wahrgenommen, um die begeisterten AktivistIn-

11 Vgl. Franz, Lenze (2008): Der Nativist JalƗl Ɩl-e AÎmad und die Verwestlichung Irans im 20. Jahrhundert. Eine Analyse der ethnographischen Monographien AwrƗzƗn, TƗt-nešƯnhƗ-ye bolnjk-e ZahrƗ und ÊazƯre-ye Ìarg, dorr-e yatƯm-e ÌalƯۜ unter besonderer Berücksichtigung seiner Programmschrift „Gharbzadegi“. Berlin, S. 117.

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nen aus dem geistigen Dilemma herauszuführen. Sie löste nicht nur bei den jungen StudentInnen und AkademikerInnen, sondern auch bei vielen Geistlichen revolutionäre Sehnsüchte aus und prägte maßgeblich die Entstehung und Entwicklung der Islamischen Revolution/Republik. ÝAbdolkarim Sorush (geb. 1945) gehörte zunächst zu den begeisterten jungen Revolutionsbefürwortern und zählte schon in den ersten Jahren der Islamischen Republik zur neuen intellektuellen Elite des Landes. Dabei trug er praktisch und theoretisch zur Verfestigung des neuen politischen Systems bei, welches sich vor allem durch das Prinzip der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ (velÁyat-e faqih) auszeichnet. Doch spätestens mit dem Tod des Revolutionsführers Khomeini (1989) schlug Sorush einen anderen Weg ein. Er war der erste renommierte Denker der Islamischen Republik, der sich kritisch mit den theoretischen Grundlagen des Systems auseinandersetzte und versuchte, die Ideologisierung des Islam zu demaskieren. Seine Auseinandersetzung mit der marxistischen Ideologie in den ersten Jahren der Islamischen Republik, die unter anderem zu seiner Beliebtheit bei der geistlichen Führung und den traditionellen Gelehrten beigetragen hatte, kann als ein erster Schritt in seinem lebenslangen Kampf gegen „ideologische Haltungen“ angesehen werden. Hierbei bediente er sich vor allem der erkenntnistheoretischen und politischen Ideen Karl Raimund Poppers, was ihm und seinen Anhängern die Bezeichnung „Popperianer“ (pupereyÁn)12 einbrachte. In der Folge setzte er sich kritisch mit ShariÝati und seiner islamischen Ideologie auseinander. Diese Auseinandersetzung führte konsequenterweise zu einer Kritik des herrschenden Staatsmodells velÁyat-e faqih („Herrschaft der Rechtsgelehrten“), dem er das Konzept eines „demokratisch-religiösen Staats“ (hokumat-e demokrÁtik-e dini) entgegenstellte. MostafÁ MalekyÁn (geb. 1956) wird als letzter der hier behandelten Denker und Aktivisten angeführt – nicht nur, weil er der jüngste ist, sondern weil er in seiner Kritik der vorherrschenden Islamvorstellung einen ganz eigenen Ansatz verfolgt. Er plädiert für eine „rationalisierte Religion“ und meint damit ein Religionsverständnis nach „rationalen“ Maßstäben. Der zentrale Punkt in seinen Untersuchungen ist hierbei die Frage nach „Rationalität und Spiritualität“ (ÝaqlƗneyyat wa maÝnaweyyat). Sein Anliegen ist es zu zeigen, wie diese beiden einander scheinbar widersprechenden

12 Vgl. oben, Anm. 6.

Einleitung | 17

Kategorien miteinander zu vereinbaren sind. Er stellt zunächst fest, dass die heutigen Menschen, ganz gleich wo sie leben, insgesamt ein „modernes“ Leben führen. Auf der anderen Seite konstatiert MalekyÁn, dass sich die Mehrheit der Menschen zu einer bestimmten Form der Religiosität bekennt. Indem der moderne Mensch religiös lebe oder leben wolle, entstehe das Problem, dass ihn das traditionelle Verständnis von Religion nicht zufrieden stelle. MalekyÁn findet schließlich in dem Begriff maÝnaweyyat („Spiritualität“) die Möglichkeit, die religiösen Sehnsüchte des Menschen mit den modernen Lebensvorstellungen und -praxen zu harmonisieren. Er spricht bewusst von „Spiritualität“ statt von „Religion“ (din) bzw. „Religiosität“ (tadayyon) und will damit offensichtlich die Exklusivität, die mit Begriffen wie religiös oder islamisch einhergeht, vermeiden.

Dichotomischer Forschungsansatz In der Literatur werden die hier zu behandelnden Gedankengänge gewöhnlich mit Hilfe dichotomisierter und dichotomisierender Begriffspaare wie Moderne und Islam diskutiert, wobei Moderne meist mit „Westen“, „Säkularisierung“, „Reformierung“ und neuerdings „Globalisierung“, Islam mit „Orient“, „Religion“, „Tradition“ und „Partikularisierung“ synonym gesetzt werden. Nach diesem Schema werden die jeweiligen Haltungen entweder als „modern“ und „säkular“ oder „nativistisch“ und „partikularistisch“ beschrieben. So werden die intellektuellen Bemühungen liberal denkender AkteurInnen um sozialpolitische Veränderungen in ihren Gesellschaften als Versuche zur „Modernisierung“ oder „Entpolitisierung“ des Islam und letztlich als Bestrebungen gedeutet, an das „moderne“, „westliche“ Lebensmodell anzuknüpfen.13 Damit gerät der dichotomische Ansatz immer

13 Vgl. beispielsweise Beyer, Peter (1994): Religion and Globalization. London, S. 1-10 u. 93f.; Jahanbakhsh, Forough (2001): Islam, Democracy and Religious Modernism in Iran (1953 - 2000). From Bazargan to Soroush. Leiden [u.a.]; Boroujerdi, Mehrzad (2001): Iranian Intellectuals and the West. The Tormented Triumph of Nativism. New York; Amirpur, Katajun (2003): Die Entpolitisierung des Islam. ‫ޏ‬Abdolkarim Sorušs Denken und Wirkung in der Islamischen Republik Iran. Würzburg; Rajaee, Farhang (2007): Islamism and modernism. The changing discourse in Iran. Univ. of Texas Press.

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wieder – bewusst oder unbewusst – in die Falle eines Eurozentrismus, indem die europäische Kultur trotz ihrer historischen Widersprüche konstruktivistisch als ein kollektiver Maßstab dargestellt wird und bestimmte Haltungen als partikularistisch oder nativistisch bezeichnet werden, weil in ihnen ein Widerspruch zu den als global oder „westlich“ angenommenen Strukturen vermutet wird. Die BefürworterInnen dichotomischer Forschungsansätze können ihre Arbeitsweise unter anderem damit begründen, dass die Ideenträger nicht selten selbst diese Terminologie benutzen und in intellektuellen Auseinandersetzungen wiederholt auch dichotomisch einsetzen. Abgesehen davon, dass dies einmal mehr die Effekte der Orientalisierung des Selbst zeigt14, ist bei den Ideenträgern zu beobachten, dass sie gedanklich diese angebliche Diskrepanz bzw. Dichotomie zu überwinden versuchen. So konstruieren sie eine „islamische Ideologie“ oder eine „demokratisch-religiöse Regierungsform“ oder auch eine „rationalisierte Religion“ – konzeptionelle Vorschläge zur Lösung sozial-politischer Probleme, in welche sowohl die sogenannten islamischen/orientalischen Ideen als auch die vermeintlichen säkularen/westlichen Vorstellungen eingeflossen sind. Daher lassen sich ihre Ideen nicht gänzlich erfassen, wenn sie nur anhand der dichotomisierten Konzepte modern und säkular oder traditionell und religiös behandelt werden. Gleichzeitig sehen die hier behandelten Denker aus Iran ihre Herangehensweisen als Teil eines kulturellen Prozesses, der sich nicht nur in Iran, sondern global abspielt. Wenn es also um die Dispute über Religion und Moderne oder Islam und Säkularismus geht, wird an Diskussionen angeknüpft, die nicht spezifisch iranisch oder islamisch sind, sondern ebenso von den ReligionswissenschaftlerInnen und PhilosophInnen „des Westens“ geführt werden. Eben dieser Aspekt, die Diskurse in Iran als Teil globaler Diskurse anzusehen und dementsprechend zu verorten, fehlt bei vielen Arbeiten zu diesem Thema.15 Gewöhnlich wird über diese Diskurse als etwas Fremdes und Exotisches diskutiert, die „dort drüben“ Relevanz haben, und von denen „wir im Westen“ nicht betroffen sind.

14 Chakrabarty, Dipesh (2008): Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Differences. Princeton University Press, siehe insbesondere S. 117-148. 15 Als Beispiel seien hier die oben erwähnten Arbeiten von Lenze und Amirpur erwähnt.

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Durch die einseitige, rein dichotomische und kulturgeographische Verortung ihrer Werke werden darüber hinaus weitere Aspekte in den Denkwelten der genannten Intellektuellen außer Acht gelassen. Insbesondere wird übersehen, dass die islamische Religion für sie vor allem deswegen wichtig ist, weil sie den einzigen ihnen verbliebenen kulturellen Identitätsraum darstellt. Alle anderen kulturellen Felder von der Philosophie bis zur Kunst werden vom „Westen“ dominiert. Wenn Àl-e Ahmad oder ShariÝati den Islam, die Schia oder die ÝolamÁÞ als Thema aufgriffen, wollten sie damit auch ihrem Widerstand gegen die epistemologische Hegemonie „des Westens“ Ausdruck verleihen. Wenn Sorush, dessen Argumentation letztendlich auf ein zwar minimalistisches, aber säkulares politisches System hinausläuft, in seinen politischen und philosophischen Konzeptionen immer wieder die Religion oder den Islam thematisiert, so will er damit ein eigenes, für die iranische Gesellschaft nachvollziehbares Konzept entwickeln. Auch MalekyÁn sucht eine überkonfessionelle, global verständliche und somit kommunikable Sprache zu finden, indem er für eine „rationalisierte Religion“ argumentiert. Diese Auseinandersetzungen mit der islamischen Religion zielen nicht nur auf die Reformierung bestimmter islamischer Vorstellungen und damit auf den Kampf gegen den alleinigen Anspruch der religiösen Gelehrten auf die Interpretation der islamischen Quellen ab. Sie zeugen gleichzeitig von dem Bestreben, gegen die hegemoniale „westliche Kultur“ Widerstand zu leisten und andere Räume der Identitätsstiftung, z.B. durch eine islamisch-religiös geprägte Epistemologie, zu ergründen. Dichotomisierte Ansätze greifen also oft zu kurz und führen in manchen Fällen zu Verklärung. Boroujerdi und anlehnend an ihn auch Lenze versuchen beispielsweise aufzuzeigen, wie die kritische Haltung eines Àl-e Ahmads gegen den wachsenden Einfluss „des Westens“ in Iran als nativistische Bestrebung und somit als Widerstand gegen die „europäische Industriekultur“ verstanden werden kann, eine Haltung, mit der Àl-e Ahmad „indigene Werte“ wiederzubeleben oder eigene „kulturelle Authentizität“ zu bewahren suchte.16 Lenze weist zwar darauf hin, dass sich Àl-e Ahmad „in seinem Buch nicht per se gegen den Westen und seine Technisierung“ wende, vielmehr verurteile er die „westliche Expansion“ bzw. den „Kolonialismus“ und die „falsche“ und „unreflektierte“ Adoption „westlicher

16 Vgl. Boroujerdi, Mehrzad (2001): Iranian Intellectuals. The Tormented Triumph of Nativism. New York, S. 14-15; Lenze (2008): S. 38.

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Konzepte“ durch den „iranischen Staat“ und Teile der „eigenen Bevölkerung“.17 Letzten Endes impliziert Boroujerdis/Lenzes Sichtweise der Dinge die eurozentrische Verengung, in der der „nativistische“ Mensch – und damit Àl-e Ahmad – als mitleiderweckendes, beleidigtes, trotziges und enttäuschtes Individuum dargestellt wird, welches „trotz Anpassung an die westlichen Gepflogenheiten“ vom Westen zurückgewiesen wird. „Durch diese Zurückweisung wendet sich das Individuum seiner ursprünglichen Kultur zu und tritt in Opposition zum Westen“.18 Àl-e Ahmad war jedoch zu realistisch und zu pragmatisch, um sich Illusionen hinzugeben. Er sah ein, dass es keine Fluchtmöglichkeit vor Industrialisierung und Modernisierung gab und plädierte dafür, dass IranerInnen selbst die Technik beherrschen sollten.19 Mit seiner Kritik am Westen und an der aus dem Westen importierten Technik forderte Àl-e Ahmad die iranische Gesellschaft und Politik vielmehr zu einer souveränen Haltung auf. Auf der anderen Seite ist zwar bei religiösen Intellektuellen wie Sorush der Versuch zu beobachten, gegen das in die iranische Verfassung aufgenommene Prinzip der „absoluten Herrschaft der religiösen Autorität“ (velÁyat-e motlaqe-ye faqih) zu argumentieren. Daraus ist aber schwer abzuleiten, dass Sorush und andere religiöse Intellektuelle den Islam „entpolitisieren“ wollen – wie es Amirpur festgestellt zu haben glaubte. Diese AntivelÁyat-e faqih-Haltung selbst ist eine politische Haltung und steht in Übereinstimmung mit dem Islamverständnis, welches diese Denker vertreten. Anders ausgedrückt: Gegen religiös legitimierte Herrschaft zu argumentieren, heißt noch lange nicht, Religion und in diesem Fall den Islam als politisch neutral zu verstehen. Gerade Sorush plädiert für einen „demokratischreligiösen Staat“ (hokumat-e demokrÁtik-e dini), also eine Regierungsform, die sich an demokratische Spielregeln hält und gleichzeitig auf die religiös geprägte Kultur des Landes achtet. Bei einem Gespräch mit Abdullahi Ahmad an-NaÝim vermerkt Wolfgang Schäuble in einer bemerkenswert differenzierten Art, er sei wie an-NaÝim der Auffassung, „dass der Staat nicht religiös sein kann. Aber Politik und Religion können auch nicht ganz ge-

17 Lenze (2008): S. 177. 18 So beschreibt Franz Lenze in Anlehnung an Linton die nativistische Haltung. Vgl. Lenze (2008): S. 37. 19 Vgl. beispielsweise Àl-e Ahmads Ausführungen in Gharbzadegi, Teheran 1962, S. 28-29 und 117-119.

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trennt werden“20. Zu postulieren, dass politische Fragen nicht religiös beantwortet werden können, wie Sorush es tut, ist im Kern eine säkularistische Forderung. Aber auch ein säkularer freiheitlicher Verfassungsstaat lebt, wie Schäuble feststellt, „von Voraussetzungen, die er nicht selbst schaffen kann“21. Zu diesen Voraussetzungen gehört im Falle des Iran der Islam als kulturhistorische Größe, die in einem postkolonialen Kontext mit all seiner Komplexität auch die Hauptressource des politischen Denkens eines Sorushs bildet. Auch die Kategorisierung konservativer Islamvorstellungen als partikularistisch rührt von einer dichotomischen Sichtweise her und ist problematisch. Peter Beyer, der prominente kanadische Religionssoziologe, versucht in seinem international viel beachteten Werk Religion and Globalization verschiedene religiöse Haltungen nicht wie in den bisherigen Forschungen im Lichte von Säkularisierung oder Modernisierung zu sehen, sondern sie zur Globalisierung in Bezug zu setzen. Dabei geht er auf die Frage ein, welche Reaktionen das Phänomen Globalisierung in konkreten Kontexten bei den religiösen AkteurInnen hervorruft. Die kommunikative Vernetzung einer globalisierten Welt habe zur Folge, dass die religiösen AkteurInnen sich mit der Gefahr konfrontiert sähen, ihre religiösen Wahrheiten relativiert zu finden. Gemäß Beyer kann die Reaktion der Religion auf die relativierende Kraft der Globalisierung in zwei Formen stattfinden: Versuchen die religiösen AkteurInnen, sich von der partikularen Tradition loszulösen und sich der globalen Kultur zu öffnen, so beschreibt er sie als „liberal“; versuchen sie die partikulare Tradition zu revitalisieren und angesichts der Globalisierung nur wenige Veränderungen zuzulassen, so bezeichnet er sie als „konservativ“. Als Beispiel für eine konservative Haltung nennt Beyer die Islamische Revolution in Iran.22 Jedoch kann die islamische Haltung, auch in ihrer konservativsten Prägung, sowohl nach ihrem eigenen Selbstverständnis wie auch als real existierendes Phänomen kaum als partikularistisch definiert werden. Ihre VertreterInnen verstehen sich vielmehr als global und agieren global.

20 Schäuble, Wolfgang (2009): „Islam und deutsches Religionsverfassungsrecht“. In: Europa im Nahen Osten. Der Nahe Osten in Europa. Carl Heinrich Becker Lecture der Fritz Thyssen Stiftung, S. 62. 21 Ebd. 22 Vgl. Beyer (1994): S. 1-10; 93f.

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Ziel der vorliegenden Studie Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den Wandlungsprozess im Diskurs der religiös geprägten Intellektuellen Irans, wie eingangs am Beispiel von Ganji illustriert, anhand der Schriften einiger Denker zu veranschaulichen. Trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze können einige übergreifende Merkmale ausgemacht werden, die ihr Denken verbinden: a) Sie sind politisch motivierte Intellektuelle. Nicht nur ihr Denken hat direkt oder indirekt mit den politischen Umständen in Iran oder in der Welt zu tun; sie greifen auch bewusst in die politischen Diskurse ein. Diese Feststellung soll nicht suggerieren, es gäbe neben dem politischen ein unpolitisches Denken. Es geht hier vielmehr um den direkten Bezug zu aktuellen politisch relevanten Fragen, der diesen Intellektuellen gemein ist. So können sie alle als Widerständler gegen die herrschenden Wissenskategorien angesehen werden. Während Àl-e Ahmad und ShariÝati, also die Akteure, die in der Zeit vor der Islamischen Republik gewirkt haben, sich gegen die vom „westlich“ orientierten Schah-Regime und vom „Westen“ unterstützten Politiken und Kulturpraktiken gestellt haben, argumentieren Sorush und MalekyÁn gegen die von der Islamischen Republik vertretenen Sichtweisen. Dabei spielt Religion/Islam eine zentrale Rolle. Einerseits stellt die Religion/der Islam offensichtlich die einzige ihnen verbliebene Identitätsgröße dar, durch die sie sich historisch verorten und gegen die kulturelle Hegemonie „des Westens“ behaupten können und wollen. Andererseits können sie den Kampf gegen ein starres Islamverständnis der religiösen Gelehrten nur über ein anderes Verständnis der Religion gewinnen. Hier sprechen sie vom Kampf der „Religion gegen die Religion“ (ShariÝati) oder vom Kampf gegen den „Gelehrtenislam“ (islÁm-e feqÁhati) (Sorush) oder von „Spiritualität statt Religiosität“ (MalekyÁn). b) Ihre Ideen sind durchaus als hybrid zu bezeichnen und damit symptomatisch für das globale Zeitalter. Inzwischen spricht kaum jemand mehr von genuinen Kulturen oder Identitäten; jede Kultur und damit jede Idee oder Identität wird als „unrein und vermischt“ angesehen.23 Bei der An-

23 So der Titel des Buches von Ha, Kien Nghi (2010): Unrein und Vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen „Rassenbastarde“. Bielefeld. Mehr zu dem Thema Hybridität der Kulturen und Identitäten vgl. vom selben Autor (2005): Hype um Hybridität. Kultu-

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wendung des Begriffs Hybridität in dieser Arbeit spielt es jedoch eine Rolle, inwieweit sie das augenscheinliche und das überwiegende Merkmal eines Gedankens oder einer Idee darstellt. Die Argumentation eines Rechtsgelehrten, die ausschließlich mit Koran- oder Hadith-Stellen oder mit traditionell islamischen Begrifflichkeiten arbeitet, wird nicht in erster Linie mit dem Begriff der Hybridität beschrieben werden, selbst wenn bei einer näheren ideengeschichtlichen oder wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung seiner Argumentationslinien ebenfalls Synkretismus festzustellen wäre.24 Die hier behandelten Denker bedienen sich jedoch offensichtlich sowohl der traditionell-islamisch als auch der modern-europäisch zu bezeichnenden Gedanken und Begrifflichkeiten. c) Damit sind sie weder als rein islamisch/iranisch/orientalisch noch als vollkommen modern/westlich/europäisch zu verorten. Sie sind offensichtlich vielfältige Zwischenwege gegangen. Ihre Situation wird bestens in einem persischen Gedicht beschrieben, welchem man in ihren Texten immer wieder begegnet:25 „na dar masjed gozÁrandam ke rend ast“ „na dar meykhÁne ke-in khammÁr khÁm ast“ „meyÁn-e masjed-o meykhÁne rÁhi-st“ „gharibam, ÝÁsheqam in rÁh kodÁm ast“ „Ich darf die Moschee nicht betreten, denn sie halten mich für einen Libertin.“ „Ich darf nicht in die Weinschenke gehen, denn sie halten mich für unreif.“ „Es gibt einen Weg zwischen Moschee und Weinschenke.“ „Ich bin fremd und erfüllt von Leidenschaft – wo ist dieser Weg!“

In Anbetracht dessen, dass es sich bei den hier behandelten Autoren um politisch motivierte Denker und intellektuelle Widerständler handelt, deren

reller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld; Burke, Peter (2010): Cultural hybridity. Cambridge. 24 In Bezug auf die Entstehung des islamischen Rechts stellt Benjamin Jokisch dessen Hybridität fest und zeigt, wie dieses aus einer lebhaften Interaktion zwischen Kulturen entstand. Siehe hierzu: Jokisch, Benjamin (2007): Islamic Imperial Law. Harun-Al-Rashid's Codification Project. Berlin. 25 Vgl. M.A., S. 24.

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Denkwelten sich durch Hybridität und die Suche nach einem neuen Dazwischen auszeichnen und mit Blick auf die Tatsache, dass sie zeitlich und geographisch gesehen postkolonial (hier zunächst im direkten Wortsinn als nachkolonial gemeint) agieren, scheinen postkoloniale Ansätze einen geeigneten theoretischen Rahmen anzubieten, um ihr Denken als möglichst Ganzes zu erfassen. Dabei geht es mir nicht um die Aufarbeitung oder Übertragung sämtlicher als postkolonial geltender Theorien, sondern um bestimmte Aspekte des Postkolonialismus, die dem Forschungsziel der Arbeit dienen. Daher gebrauche ich im Folgenden den Begriff Postkolonialität statt Postkolonialismus26, aus zwei Gründen: 1) Die hier zu behandelnden Autoren beschäftigen sich kaum explizit mit den Theorien und den TheoretikerInnen des Postkolonialismus. Daher werden sie in der postkolonialen Theorietradition auch selten wahrgenommen. Das mag zudem daran liegen, dass der Postkolonialismus als eine vorwiegend aus der linksmarxistischen akademischen Tradition stammende Theorie verstanden wird und bisher kaum mit religiös-islamisch argumentierenden KritikerInnen in Verbindung gebracht wurde. Nicht einmal die Gedanken eines Àl-e Ahmads oder ShariÝatis sind Gegenstand postkolonialer Diskussionen, obwohl sie sich beide in ihren Theorien oft der Denkmuster und Weltbilder der postkolonialen VordenkerInnen bedienen und zum größten Teil von deren Warte aus argumentieren.27 Um einem eventuellen Einwand vorzubeugen, dass es sich hier gar nicht um postkolonialistische Denker handle, ziehe ich somit den deskriptiven Begriff Postkolonialität vor. Die hier behandelten Ideenträger können freilich geographisch, historisch, aber auch epistemologisch als postkolonial bezeichnet werden. Sie stehen offensichtlich nicht in der als modern und westlich angenommenen

26 Auch Walter D. Mignolo unterscheidet, allerdings aus anderen Gründen, zwischen den beiden Begriffen. Vgl. Mignolo, Walter D. (2000): Local Histories/ Global Designs. Coloniality. Subaltern Knowledges, and Border Thinking. Princeton, S. 92-93. 27 Als Beispiel kann hier auf die Rezeption Fanons in den Texten von ShariÝati hingewiesen werden, den ShariÝati als eine seiner „Gottheiten“ (maÝbud-hÁ) bezeichnet. Gleichzeitig gibt es einige Parallelen zwischen Àl-e Ahmads Beschreibungen der „Verwestlichung“ (gharbzadegi) und den Ausführungen Aimé Césaires und Fanons zum Kolonialismus. Vgl. die Kapitel über Àl-e Ahmad und ShariÝati in diesem Buch.

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Denktradition, sondern versuchen, Lösungswege für einen in politischgesellschaftlicher Hinsicht postkolonialen Zustand aufzuzeigen. Die Studie wird weiterführend zeigen, dass a) postkolonialistische Denkansätze parallel zu und sogar vor den diasporischen AkademikerInnen gerade von indigenen DenkerInnen aufgegriffen wurden;28 und dass b) postkoloniale Theorien sich auch im Zusammenhang mit islamisch-religiösem Denken und Handeln entwickelten.29 2) Das postkoloniale Denken ist als ein durchaus widersprüchliches Ensemble von politischen Haltungen und akademischen Theorieansätzen zu begreifen. Es herrscht keine Einigkeit darüber, wer als postkolonialer Vordenker zu bezeichnen ist. Während etwa in den einschlägigen Werken zum Postkolonialismus Edward Said neben Homi Bhabha und Gayatry Spivak als einer der Ikonen der postkolonialen Theorien angeführt wird30, bekräftigt Said selbst in einem Interview mit Bezug auf die postkolonialen KritikerInnen: „[…] I do not think I belong to that“31. Als kritischer und interdisziplinärer Methodenansatz ist der Postkolonialismus so facettenreich und wird so unterschiedlich aufgefasst, dass es angebrachter wäre, von Postkolonialismen zu sprechen. Der gemeinsame Nenner aller dieser Ismen würde aber das Faktum der Postkolonialität darstellen, die nicht nur die Zeit nach dem Kolonialismus umschreibt, sondern und vor allem andere Erzählper-

28 Markus Schmitz als einer der wenigen Ausnahmen versucht in seiner kulturüberspannenden Rezeptionsanalyse zu Said und seinen Werken die arabischislamischen Vordenker der in der Diaspora ausgelösten Orientalismus-Debatte und damit der postkolonialen Kritik zu würdigen. Er porträtiert z.B. al-Afghani als einen „antikolonialen Theoretiker“, der schon fast ein Jahrhundert vor Said die essentialisierenden und eurozentristischen Vorstellungen zu entkräften versuchte. Vgl. Schmitz, Markus (2008): Kulturkritik ohne Zentrum. Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation. Bielefeld, S. 139ff. 29 Als einer der wenigen Beiträge zu den Zusammenhängen zwischen den postkolonialen Theorien und den Religious Studies vgl. Joy, Morny (2001): „Postcolonial Reflections – Challenges for Religious Studies“. In: Method & Theory in the Study of Religion (13), S. 177-195. 30 Vgl. z.B. Castro Varela, Maria do Mar/Dhawan, Nikita (2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld, S. 29ff. 31 Said, Edward (1998): Interview, Interventions. International Journal of Postcolonial Studies 1.1 (1998), S. 82.

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spektiven als die traditionell europäischen. Damit also das Ziel der vorliegenden Arbeit, die theoretisch-epistemologische Verortung der hier behandelten Autoren, nicht aus dem Blick gerät und sich nicht in den unzähligen und widersprüchlichen Theorien des Postkolonialismus verliert, soll der Begriff Postkolonialität das Gemeinsame dieser heterogenen Ansätze umschreiben. Dabei gehe ich nicht von einem geschlossenen Theoriesystem aus. Vielmehr will ich damit auf die Postkolonialität als eine wichtige Bedingung des geistigen Schaffens der im Zentrum dieser Studie stehenden Personen aufmerksam machen.

Postkolonialität Bei dem Begriff Postkolonialität geht es mir um die historisch-theoretische Verortung dessen, was ich als wichtigste Aspekte der hier zu behandelnden Diskurse erachte: politisch motiviert und intellektuell widerständisch, hybrid und auf einem neuen Weg des Dazwischens oder des Überschreitens. Diese Merkmale sind nach meiner Beobachtung am ehesten in der postkolonialen Denktradition zu finden.32 Gayatri Chakravorty Spivak benutzt den Begriff der Postkolonialität in einem weiteren, auch für meinen Ansatz zentralen Sinne. Sie gebraucht „postcoloniality“ als eine historisch bedingte Umschreibung unterschiedlichster globaler politisch-epistemologisch-ökonomischer Strukturen der Gegenwart: „Let us learn to discriminate the terms colonialism – in the European formation stretching from the mid-eighteenth to the mid-twentieth centuries – neocolonialism – dominant economic, political, and culturalist maneuvers emerging in our century after the uneven dissolution of the territorial empires – and postcoloniality – the contemporary global condition, since the first term is supposed to have passed or be passing into the second.“33

32 Zur Genese des Begriffs Postkolonialismus vgl. Ashcroft, Bill [u.a.] (2000): Post-Colonial Studies. The Key Concepts. London, S. 186-192. 33 Spivac, Giatri Chakravarty (1999): A Critique of Postcolonial Reason: Toward a History of the Vanishing Present. Harvard University Press, S. 172.

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Als wissenschaftliches Forschungsfeld haben sich die Postcolonial Studies erst in den 1970er Jahren zunächst an den amerikanischen Universitäten etabliert. Dieser neue akademisch-kritische Trend wurde durch Edward Saids Buch Orientalism ausgelöst, welches „von vielen als ‚Gründungsdokument‘ der postkolonialen Studien gesehen wird“34. Inzwischen werden die Postcolonial Studies auch an den europäischen Universitäten als eine interdisziplinäre Herangehensweise diskutiert. Postkoloniale Theorien sind aus den Lehrinhalten im Bereich der Literatur-, Kultur- und generell der Geisteswissenschaften nicht mehr wegzudenken. Die ersten postkolonialen Ansätze finden sich bereits in den Analysen von Frantz Fanon (1925-1961). Seine zwei wichtigsten Werke Schwarze Haut, weiße Masken35 und Die Verdammten dieser Erde36 gelten als Pionierarbeiten postkolonialer Theorien, als Postcolonialism avant la lettre, und werden in kaum einer kritischen Untersuchung zum Kolonialismus außer Acht gelassen. Diese Bücher wurden schon in den 1970er Jahren ins Persische übersetzt und prägten die kritischen Intellektuellen Irans nachhaltig. Insbesondere ÝAli ShariÝati, der in seiner Studienzeit in Paris persönliche Kontakte zu Fanon pflegte und das Vorwort zur persischen Übersetzung von Les damnés de la terre geschrieben hatte, war von dessen Ideen beeindruckt und trug maßgeblich zu Fanons Bekanntheit in Iran bei. In seinen Werken setzt sich Fanon einerseits mit den Auswirkungen der kolonialen Unterdrückungsmechanismen auf die sozialen Verhältnisse in den kolonisierenden Gesellschaften selbst und andererseits mit dem geistigen und kulturellen Erbe des Kolonialismus in den kolonisierten Ländern auseinander. Ihm geht es dabei nicht um die bloße Beschreibung der kolonialen Zustände; vielmehr arbeitet er unterschiedliche Formen des Widerstands gegen den Kolonialismus, also der Dekolonisation heraus. Dekolonisation bedeutet für ihn das Erkämpfen der Möglichkeit, sein eigenes Ich zu konstruieren. Schon vor Fanon thematisierte der ebenfalls aus Martinique stammende Poet und Aktivist Aimé Césaire (1913-2008), Verfasser eines der einfluss-

34 Castro Varela (2005): S. 29. 35 Fanon, Frantz (1980): Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt a.M. 36 Fanon, Frantz (1976): Die Verdammten dieser Erde. Hamburg.

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reichsten antikolonialen Texte Discours sur le colonialisme37, die physische und kulturelle Gewalt des Kolonialismus und insbesondere die „Verdinglichung“ kolonisierter Subjekte. Er stellt in seinem Buch fest, dass das Ziel der Kolonisation nicht die Verbreitung menschlicher Werte oder des Christentums war, sondern die Ausplünderung der natürlichen und menschlichen Ressourcen der kolonialisierten Gebiete.38 Auch er beschreibt – wie wir später bei Àl-e Ahmads Darstellung der „Verwestlichung“ lesen werden – Kolonialismus als ein Krebsgeschwür, das sich in die kolonisierte Gesellschaft eingenistet habe.39 Césaire war nicht nur Schriftsteller, er war gleichzeitig Mitglied der Französischen Nationalversammlung (1945-1993) und Bürgermeister von Fort-de France (1945-2001). Césaire sah sich keinesfalls als Feind Europas. Mit Verweis auf den europäischen Humanismus klagte er vielmehr die Brutalität des Kolonialismus an, strafte den postulierten Humanismus Lügen und entlarvte ihn als rhetorisches Vehikel der Machtlegitimation.40 Fanon und Césaire als Vordenker postkolonialer Theorien zeigten nicht nur, wie der Kolonialismus sich der WissenschaftlerInnen und ihres Wissens bedient hat. Sie sind selbst durch und durch politisch und stellen ihr intellektuelles Vermögen in den Dienst einer politischen Forderung, der Dekolonisation. Es wird als eine der Prämissen postkolonialen Denkens angesehen, dass es keine unpolitische Wissenschaft gibt. Damit stellt Postkolonialität „eine politisch motivierte Analysekategorie“41 dar, deren WortführerInnen sich bewusst gleichzeitig als politische AktivistInnen ansehen. Edward Said beispielsweise war es „ein Gräuel, als Literaturwissenschaftler und politischer Aktivist beschrieben zu werden, denn die wissenschaftliche Praxis musste für ihn, sollte sie sinnreich sein, immer im Kontakt mit der aktuellen Alltagswelt bleiben. Insoweit sah sich der Literaturwissenschaftler gleichzeitig als politischer Aktivist“42. Daher betrachten postkoloniale

37 Der Text ist unter dem Titel „Rede über den Kolonialismus“ (2010 [1968]) auch auf Deutsch erschienen in: Césaire, Aimé (2010): Rede über den Kolonialismus und andere Texte. Berlin, S. 77-122. 38 Césaire (2010): S. 8. 39 Ebd.: S. 12. 40 Ebd.: S. 26-27. 41 Ha, Kein Nghi (1999): Ethnizität und Migration. Einstiege. Grundbegriffe der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie. Münster, S. 84. 42 Castro Varela (2005): S. 30.

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TheoretikerInnen Postkolonialität nicht als historische Epoche, die nach dem Kolonialismus eingetreten sei, sondern vor allem als eine Widerstandsform gegen die koloniale Herrschaft und ihre fortwährenden Effekte.43 Gleichzeitig ist der postkoloniale Forschungsansatz um die Verschiebung der Erzählperspektive bemüht. Danach stellt die Kolonisierung „keine lokale und marginale Nebenhandlung“ dar, die innerhalb eines größeren europäischen historischen Kontextes stattgefunden hat. Kolonisierung ist vielmehr das zentrale „welthistorische Ereignis“, das auch den historischen Prozess in Westeuropa seit 1492 erklärt. Die Forschung tauscht somit die eurozentrische Erzählperspektive der Geschichte mit der Sicht vielfältiger „Peripherien“.44 Von diesem Geschichtsverständnis ausgehend können Kulturen und Identitäten nur als hybrid und vermischt verstanden werden. „Die Auffassung, nur die multikulturellen Städte der Ersten Welt seien ‚diasporaisiert‘, ist ein Phantasiegebilde, das nur von denjenigen aufrechterhalten werden kann, die nie in den hybridisierten Räumen einer sogenannten ‚kolonialen‘ Dritt-Welt-Stadt gelebt haben“.45 Der „kulturelle Tauschverkehr“ stellt das zentrale Charakteristikum der heutigen Gesellschaften dar und zwar nicht nur in den westeuropäischen Metropolen, sondern überall auf der Welt. In einigen neueren Forschungen werden viele oben erwähnte postkoloniale Komponenten, insbesondere die der kulturellen Hybridität, unter dem Begriff der Transkulturalität subsumiert. Dabei vertreten manche die Meinung, dass man mit einem transkulturellen Forschungsansatz „die Prämissen der Post Colonial Studies“ überdenken muss.46 Sie sehen in den postkolonialen Theorien eine besondere Fokussierung auf das historische Moment der Kolonialisierung. So „[verspricht] für sie der Begriff der Transkulturali-

43 Loomba, Ania (1998): Colonialism/Postcolonialism. London & New York, S. 10. 44 Hierzu vgl. Chakrabarty, Dipesch (2002): „Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte“. In: Conrad, Sebastian & Randeria, Shalini (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.; New York, S. 283-312. 45 Hall, Stuart (2002): „Wann gab es ‚das Postkoloniale‘? Denken an der Grenze“. In: Sebastian Conrad [u.a.] (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.; New York, S. 219-246, hier S. 230-232. 46 Kimmich, Dorothee & Schahadat, Schamma (Hrsg.) (2012): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld, S. 7.

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tät, nicht nur den der Interkulturalität oder Multikulturalität, sondern auch den des Postkolonialismus abzulösen; dem Zeitalter der Kolonialisierung und der Dekolonialisierung wird keine historische Sonderstellung mehr eingeräumt“47. Der Begriff Transkulturalität geht auf den kubanischen Ethnologen Fernando Ortiz (1881-1969) zurück, der bereits 1940 in seinem Hauptwerk Kontrapunkt des Tabaks und des Zuckers den Begriff geprägt hat. 1992 griff die Sprachwissenschaftlerin Mary Louise Pratt in ihrer einflussreichen Studie Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation48 den Terminus auf und trug zur Verbreitung des Konzeptes vor allem innerhalb der Geisteswissenschaften im anglophonen Raum entscheidend bei. Unter dem Begriff „transculturation“ versteht Pratt eine Form des von Kolonialismus und Versklavung gekennzeichneten Interagierens in bestimmten Räumen (contact zones), die von asymmetrischen Machtstrukturen durchzogen sind.49 Pratt fängt mit dem Begriff die Veränderung und Neuentstehung von hybriden Kulturphänomenen und deren unter Gewalt geformten Rahmenbedingungen ein. Dabei schwingen sowohl „Kolonialismus“ als auch daraus erwachsene asymmetrische Strukturen der Macht im Begriff der „transculturation“ mit, ja bedingen ihn geradezu. Im deutschsprachigen Raum ist jedoch vor allem der Philosoph Wolfgang Welsch mit seinem Verständnis von Transkulturalität in den kulturwissenschaftlichen Debatten rezipiert worden.50 Welschs Transkulturalitätsbegriff basiert im Gegensatz zu dem Pratts, der nicht von einem stabilen, zentrierten Wissen ausgeht, auf einer eher klassisch humanistischen Epistemologie.51

47 Ebd.: S. 8. 48 London 1992. 49 Vgl. Pratt, Mary Louise (1992): Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation. London, S. 4. 50 Welsch widmet sich der Thematik in zahlreichen Publikationen. Besonders prägnant findet sich seine Idee der Transkulturalität in den zwei folgenden Beiträgen: Welsch, Wolfgang (1992): „Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen“. In: Information Philosophie 2/S. 5-20. Ders (2009): „Was ist eigentlich Transkulturalität?“. In: Darowska, Lucyna & Machold, Claudia (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zur Kultur, Bildung und Differenz. Bielefeldt, S. 39-66. 51 Vgl. ebd.

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Als kulturwissenschaftliches Paradigma grenzt sich Transkulturalität von dem traditionellen (Herderschen) Kulturbegriff ab, der auf eine soziale Homogenisierung zielt. ForscherInnen, die mit Transkulturalität in diesem Sinne arbeiten, distanzieren sich auch von ähnlich anmutenden Konzepten wie Interkulturalität und Multikulturalität. Mit dem Konzept der Interkulturalität sucht man zwar nach Wegen zu beschreiben, wie Kulturen miteinander kommunizieren und sich miteinander vertragen; man geht dabei aber von einem traditionellen Verständnis von Kultur aus, nämlich von angenommenen konstanten und unverwechselbaren Bestandteilen jeder Kultur, die für diese spezifisch und in einer anderen Kultur als nicht vorhanden gelten. Das Konzept der Multikulturalität sucht nach Chancen der Verständigung und der gegenseitigen Anerkennung von unterschiedlichen Lebensvorstellungen und -praktiken, aber auch dieses Konzept bleibt im Kern dem traditionellen Kulturverständnis treu. Auch hier geht man von konstanten Größen in einer bestimmten Kultur aus, die in anderen Kulturen nicht zu beobachten sind. Mit dem Begriff transkulturell will man die heutigen Gesellschaften umschreiben, die durch „eine Öffnung, Dynamisierung und vielfältige wechselseitige Durchdringung der Kulturen“52 gekennzeichnet sind. Auch wenn der Terminus Transkulturalität gezielt das Vermischtsein von Kulturen zum Ausdruck bringt, sich vehement von Vorstellungen geschlossener und einheitlicher Kulturräume verabschiedet und konsequent mit scheinbar stabilen Kategorien von Eigenheit und Fremdheit bricht, nimmt der transkulturelle Ansatz bei der Analyse gegenwärtiger Lebensweisen und Vorstellungen weniger den Zustand der Postkolonialität und die mit ihr einhergegangenen Formen und mannigfaltigen und mannigfachen Effekte von Gewalt in den Blick. Daher wird auch dem politischen Aspekt der kulturellen Diskurse wenig Gewicht beigemessen bzw. ihm ein anderes Gewicht verliehen, indem asymmetrische (Macht-)Verhältnisse, die historisch gewachsen sind, nicht in Betracht gezogen werden. Darüber hinaus kann der Begriff Transkulturalität kaum das ungleiche Verhältnis bei der unvermeidlichen kulturellen Transformation aufzeigen. Gerade diese Aspekte sind bei der Untersuchung der hier zur Diskussion stehenden Denkweisen jedoch zentral, die von kolonial bedingten, ideellen, einseitig geprägten contact zones im Pratt’schen Sinne zeugen. Insofern werden im

52 Kimmich, Dorothee & Schahadat, Schamma (Hrsg.) (2012): S. 8.

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Folgenden zwar Begriffe wie Transkulturalität oder Mischkulturalität verwendet, jedoch im postkolonialen Sinne von Hybridität und Vermischung verstanden, welche von komplexen Relationen von Gewalt durchzogen und wirkmächtig werden. Dass Mischkulturalität oder Transkulturalität ein weltweites Phänomen ist, wurde auch im Rahmen der Globalisierungsdebatte mehrfach festgestellt: „Wir leben längst in einer Weltgesellschaft, und zwar in dem Sinn, daß die Vorstellung geschlossener Räume fiktiv wird, kein Land, keine Gruppe kann sich gegeneinander ausschließen. Damit prallen die verschiedenen ökonomischen, kulturellen, politischen Formen aufeinander, und die Selbstverständlichkeiten, auch des westlichen Modells, müssen sich neu rechtfertigen.“53

Globalität in dieser Bedeutung macht die Tatsache sichtbar, dass Transkulturalität und der Austausch von Ideen und Kulturgütern keine Besonderheit der heutigen Zeit sind. Eine „reine“ Kultur gab es niemals. Kulturen sind im Grunde erst dann entstanden, als „Fremde“ dazukamen. Oder wie Terry Eagleton argumentiert: „Kultur, das sind die anderen.“54 Auch die Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts, die in der Regel von dem traditionellen Kugelmodell der Kultur, d.h. vom „internen Homogenitätsgebot“ und „externen Abgrenzungsgebot“ ausgingen,55 bekräftigten, dass die Genese einer Kultur durch den Austausch mit anderen Kulturen bedingt wird. Hegel bemerkt in Bezug auf die griechische Kultur: „[…] es ist allen bekannt, dass die Anfänge der Bildung mit der Ankunft der Fremden in Griechenland zusammenhängen.“56 Er hält es für eine „oberflächliche Torheit, sich vorzustellen, dass ein schönes und wahrhaft freies Leben so aus der

53 Beck, Ulrich (2007): Was ist Globalisierung? Frankfurt a.M., S. 27-28. 54 Eagleton, Terry (2001): Was ist Kultur? Eine Einführung. München, S. 41. 55 Vgl. Welsch, Wolfgang (2012): „Was ist eigentlich Transkulturalität?“. In: Kimmich, Dorothee & Schahadat, Schamma (Hrsg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld, S. 25-40, hier S. 26-28. 56 G. W. Friedrich Hegel (1970): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 12. Frankfurt a.M., S. 280.

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einfachen Entwicklung eines in seiner Blutsverwandtschaft und Freundschaft bleibenden Geschlechts hervorgehen könnte“57. Im Zusammenhang mit der europäischen Kultur stellt Herder fest, dass die „ganze Kultur des nord-, öst-, und westlichen Europa ein Gewächs aus römisch-griechischarabischem Samen“58 sei. Kulturelle Hybridität, Transkulturalität oder Hyperkulturalität59 sind so kein Spezifikum der Moderne. Dennoch ist die moderne Transkulturalität mit dem Kolonialismus aufs engste verbunden. Außerdem kann im modernen Zeitalter, in dem wegen des rasanten Fortschritts der Kommunikationstechnologie ein breiterer horizontaler Informationsfluss zu beobachten ist, die Mischkulturalität niemandem mehr entgehen. Dies drückt sich bereits in simplen Beobachtungen wie der folgenden aus: „[Wie ist es zu interpretieren,] wenn marokkanische Mädchen in Amsterdam ThaiBoxen veranstalten, Asiaten in London rappen, irische Bagels, chinesische Tacos produziert werden, Indianer in New York den mardi gras feiern und mexikanische Schülerinnen beim Tanzen in griechischen Togas Isidora Duncan nacheifern? Wie ist es zu interpretieren, wenn Peter Brook das Mahabharata auf die Bühne bringt oder Ariane Mnouchkine ein Shakespeare-Stück im Kabuki-Stil im Pariser Théâtre Soleil inszeniert? Kulturelle Erfahrungen, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, gehorchen nie der Tendenz der Vereinheitlichung und Standardisierung.“60

57 Ebd.: S. 278. 58 Vgl. Herder, J. Gottfried (1984): Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Werke. Hrsg. v. W. Pross. Bd. I. München, S. 619. 59 Byung-Chul Han spricht von Hyperkulturalität und konstatiert hinsichtlich der Globalisierung Folgendes: „Die Globalisierung von heute ist mehr als ein Austausch zwischen Orten. Daß bestimmte kulturelle Formen von einem Ort zu einem anderen Ort wandern, daß ein Ort einen anderen Ort kulturell beeinflußt, macht noch keine Globalisierung. Die Globalisierung von heute verändert den Ort als solchen. Sie ent-innerlicht ihn, nimmt ihm jene ‚Spitze‘, die einen Ort beseelt.“ Han, Byung-Chul (2005): Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung. Berlin, S. 40. 60 Nederveen Pieterse, Jan (1998): „Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural“. In: Beck, Ulrich (1998): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a.M., S. 101, modifiziert und zitiert nach Beck (2007): S. 154.

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Den TheoretikerInnen der Postkolonialität und der Cultural Studies, als deren wichtigste WortführerInnen unter anderem Edward Said, Homi Bhabha, Stuart Hall, bell hooks, Gayatri Spivak und Paul Gilroy gelten, geht es zwar einerseits um den intellektuellen Widerstand gegen die herrschende eurozentristische Episteme und damit um die Dekonstruktion europäischer Bilder von sich und von „Anderen“. Es geht ihnen aber zugleich um das Erkämpfen von Zwischenräumen und eines Darüberhinaus. So macht der indo-angloamerikanische Literaturwissenschaftler Homi Bhabha über die problematischen Grenzziehungen zwischen den KolonisatorInnen und den Kolonisierten hinaus einen „Dritten Raum“61 aus und thematisiert damit die Komplexität und das Aushandeln von ungleichen Begegnungen, die durchaus nicht linear verlaufen. In ihren Analysen versuchen die postkolonialen TheoretikerInnen Dichotomien wie Demokratie/Despotie, zivilisiert/primitiv, fortschrittlich/rückschrittlich und rational/irrational, die bei der Definition von europäischen und nichteuropäischen Kulturen bestimmend sind, zu dekonstruieren. Darüber hinaus zeigen sie in ihren Untersuchungen auf, wie Vorstellungen von nichteuropäischen Menschen und Kulturen nicht nur durch die physisch-militärische Gewalt – insbesondere in der Kolonialzeit –, sondern vor allem durch die Wissensproduktion und Definitionshoheit, die mit der ökonomischen und militärischen Dominanz des „Westens“ einhergehen, bis ins Materielle, Körperliche und Alltägliche hinein geprägt und geformt wurden. Sie wollen die Vorstellung von Zentrum und Peripherie verrücken und dabei die andauernde Wirkungsmacht Europas in Frage stellen, um zu neuen Epistemologien zu gelangen.62 Der Blick fokussiert nicht mehr die kolonisierte, sondern auch die kolonisierende Welt. So problematisiert man die „Ambivalenz des kolonialen Diskurses“ und den „Ort der Identifikation als Raum der Spaltung“63. Bezeichnenderweise beschreibt der aus Jamaika stammende britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall das nachkoloniale Verhältnis folgendermaßen: „Genau in dem Moment, als Britannien sich endlich davon überzeugt hatte, dass es sich entkolonisieren und die anderen loswerden muss, kommen wir alle zurück nach

61 Vgl. Castro Varela (2005): S. 87. 62 Hierzu vgl. Ashcroft (1989): The Empire Writes Back. London & New York. 63 Schmitz (2008): S. 253.

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Hause. Als sie die Flagge einholten, bestiegen wir den Bananendampfer und segelten direkt nach London“.64

Die Suche nach Zwischenräumen hat auch mit der Tatsache zu tun, dass postkoloniale theoretische Ansätze in ihrer heutigen Prägung weitgehend mit dem Phänomen der Migration in Verbindung stehen.65 „Die globale Zirkulation von Zeichen, Waren und Informationen und die weltweiten Wanderungsbewegungen von Menschen unterschiedlicher nationaler, ökonomischer, kultureller und religiöser Herkunft“66, die es eigentlich immer gegeben hat, die im Internetzeitalter nur intensiver und sichtbarer sind, werden als Voraussetzungen dafür angesehen, neue Ansätze zur Identitätsfindung zu entwickeln. Genau um diese Situation zu beschreiben, hat Homi Bhabha das Bild des Dritten Raumes geprägt.67 Mit dem Begriff will Bhabha einen Schritt weiter als Said gehen und „ein drittes ebenso post-orientalistisches wie post-okzidentalistisches Äußerungsfeld“ eröffnen.68 Einfacher formuliert: „Für die Migranten lösen sich die Grenzen zwischen Heimat und Fremde auf, sie leben in einem ‚Raum des Dazwischen‘ (in between-space), in dem es darum geht, sich selbstständig und erneut in den Wechseln zwischen ‚zu Hause‘ (home) und ‚anderswo‘ (abroad) zu verorten.“69 Zusammengefasst lassen sich innerhalb der komplexen und umstrittenen postkolonialen Theorieansätze die drei folgenden für die vorliegende Arbeit relevanten Merkmale von Postkolonialität feststellen: a) Postkolonialität beschreibt eine politisch motivierte intellektuelle Haltung, deren WortführerInnen sich bewusst als politische AktivistInnen ansehen. b) Sie

64 Hall, Stuart (1994): „Das Lokale und das Globale: Globalisierung und Ethnizität“. In: Ders. Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg, S. 44-65, hier S. 48. 65 Polemisch und zugespitzt wirft Arif Dirlik, ein ausgewiesener Kenner des modernen China, dem Postkolonialismus vor, dass er „hauptsächlich von emigrierten Dritte-Welt-Intellektuellen“ konstruiert worden sei. Vgl. Derlik, Arif (1994): „The Postkolonial Aura: Third World Criticism in the Age of Global Capitalism“. In: Critical Inquiry. Vol. 20, No.2, S. 328-356, hier S. 347. 66 Eickelpasch, Rolf /Claudia Rademacher (2004): Identität. Bielefeld, S. 64-65. 67 Zum Begriff des „Dritten Raumes“ siehe Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen, S. 55ff. 68 Schmitz (2008): S. 253. 69 Eickelpasch (2004): S. 66.

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stellt eine transkulturelle Bewegung zwischen dort und hier, zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, zwischen dem Eigenen und dem Anderen dar, um dann schließlich c) nach neuen nicht-binären, nicht-hierarchischen diskursiven und politischen Räumen zu suchen. In diesem theoretischen Rahmen Ideengeschichte und in diesem Fall den intellektuellen Transformationsprozess des heutigen Irans zu untersuchen, heißt, ein „uniformes“ Verständnis des Untersuchungsthemas abzulegen und vielmehr die Notwendigkeit einer „Kontextsensibilität“ zu erkennen.70 Konkret heißt dies, die zu untersuchenden Ideenwelten nicht selektiv, sondern als möglichst Ganzes zu betrachten und dabei zu bedenken, dass sie Teil von global und äußerst komplex verlaufenden Diskursen sind, bevor sie mit Bezeichnungen wie modern oder konservativ, islamistisch oder säkular, global oder partikular belegt werden. Versieht man sie mit dem einen oder dem anderen Attribut, lässt sich immer auch das Gegenteilige durch andere Textstellen beweisen. Gleichzeitig darf bei der Betrachtung der Globalität nicht von einem bestimmten geographischen und epistemologischen Fixpunkt ausgegangen und Globalität auf bestimmte Vorstellungen beschränkt werden. Eine fundamentalistische oder konservative Haltung ist genauso global und in allen kulturellen und religiösen Prägungen vorzufinden wie eine liberale oder säkulare. Die vorliegende Untersuchung soll veranschaulichen, dass die hier behandelten politisch-gesellschaftlichen und philosophisch-moralischen Konzepte weder als gänzlich islamisch/iranisch noch als durchgängig modern/westlich bezeichnet werden können; sie sind durch biographische, historische und globale Umstände bedingt und mit dichotomischen Ansätzen nicht mehr – auf keinen Fall als Ganzes – zu erfassen.

70 Vgl. Castro Varela (2005): S. 24.

Intellektuelle Bewegung im Islam im Zeitalter der Moderne Ein historischer Überblick

Die hier vorgestellten Denkweisen, die sich durch Hybridität, Postkolonialität und Transkulturalität auszeichnen, und die einerseits eine deutliche Unzufriedenheit mit dem Ist-Zustand in Iran und andererseits ein ständiges Bemühen um ein Dazwischen aufweisen, führen eine intellektuelle Bewegung fort, welche in der islamischen Welt mit dem Kolonialismus ansetzte. Als Vordenker dieser Bewegung ging der kosmopolitische Aktivist und Gelehrte Jamal ad-Din al-Afghani (1838-1897) in die moderne Geschichte des Islam ein. Diese intellektuelle Bewegung wird in der arabischen Welt insbesondere mit Mohammad Abduh (1849-1905) assoziiert und im indischen Kontext mit dem Namen Mohammad Iqbal (1877-1938) in Verbindung gebracht. Um das intellektuell-religiöse Denken in Iran zu verstehen, ist eine kurze Auseinandersetzung mit diesen drei wichtigen Vordenkern unentbehrlich. Der europäische Kolonialismus ist eine einschneidende Epoche der Weltgeschichte und damit auch der Geschichte der islamischen Welt. Eroberungen, Usurpationen, Fremdherrschaften und Landnahmen gab es immer in der Geschichte. Der Kolonialismus, oder wie Osterhammel ihn beschreibt, der „neuzeitliche/moderne Kolonialismus“1, ist jedoch in vielerlei Hinsicht einzigartig. Dabei ist unter anderem das weltumspannende Ausmaß des Kolonialismus zu nennen. Zwischen etwa 1500 und 1920 werden fast alle Räume und Völker der Erde direkt oder indirekt von europäischen

1

Osterhammel, Jürgen (1995): Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München, S. 7 bzw. 19.

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Mächten kontrolliert: die Amerikas, ganz Afrika, nahezu das gesamte Ozeanien und der größere Teil des asiatischen Kontinents.2 In den muslimischen Gebieten begann die Kolonialzeit im 16. Jahrhundert als Portugal einzelne Niederlassungen im Indischen Ozean gründete. Zu großen Erschütterungen in der muslimischen Welt kam es aber, als Napoleon 1798 in Ägypten einmarschierte. Damit fiel eins der traditionsreichsten muslimischen Zentren dem europäischen Kolonialismus in die Hände. Nach und nach gerieten viele weitere muslimische Gebiete in politische, militärische und wirtschaftliche Abhängigkeit von Europa.3 Zu wesentlichen Merkmalen des Kolonialismus zählt Osterhammel folgende Punkte: 1) Im Kolonialismus wird „eine gesamte Gesellschaft ihrer historischen Eigenentwicklung beraubt, fremdgesteuert und auf die vornehmlich wirtschaftlichen Bedürfnisse und Interessen der Kolonialherren hin umgepolt“. Der Kolonialismus beruhe daher auf dem Willen, „periphere“ Gesellschaften den „Metropolen“ dienlich zu machen.4 2) Der Kolonialismus legt kaum Wert auf die kulturellen und religiösen Vorstellungen und Praktiken der Kolonisierten. Wissen wurde vielmehr zur Kontrolle und Machtausübung benutzt. „Von den Kolonisierten wurde eine weitgehende Akkulturation an die Werte und Gepflogenheiten Europas erwartet, ohne daß es […] zu einer nennenswerten Gegen-Akkulturation der Kolonisatoren durch Übernahme aus den beherrschten Zivilisationen kam.“ Dieser Vorgang wurde im 19. Jh. mit angeblich unüberwindbaren „rassischen“ Hierarchien begründet.5 3) Dem modernen Kolonialismus liegt „die Überzeugung von der eigenen kulturellen Höherwertigkeit zugrunde“. Kolonisierung wurde „zur Erfüllung eines universellen Auftrags stilisiert“ und „als Beitrag zu einem göttlichen Heilsplan der Heidenmission, als weltliches Mandat zur ‚Zivilisierung‘ der ‚Barbaren‘ oder ‚Wilden‘, als privilegiert zu tragende ‚Bürde des weißen Mannes‘ usw.“ interpretiert, ideologisiert und idealisiert.6

2 3

Osterhammel (1995): S. 8. Zu den kolonialen Erfahrungen der muslimischen Welt vgl. Schulze, Reinhard (1994): Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert. München, S. 27ff.

4

Osterhammel (1995): S. 19.

5

Ebd.: S. 20.

6

Ebd.

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Neben der Unterdrückung kolonisierter Gesellschaften, der Ausmerzung ganzer Völker oder der Missionierung ist das Besondere am europäischen Kolonialismus das Bild der Kolonisierenden von sich und von den anderen, welches ihnen half, ihre Taten zu rechtfertigen, ja zu legitimieren – ein Bild, das so stark durch diskursive und strukturelle Praktiken Wirkung entfalten konnte, dass es sogar zum Teil von den Kolonisierten selbst übernommen und für wahr gehalten wurde.7 Dabei fühlte sich der/die weiße Europäer/in moralisch verpflichtet, den anderen Völkern ‚zu helfen‘, ganz gleich ob dieses ‚Engagement‘ religiös oder humanistisch begründet wurde. Auch wenn der langwierige und gewaltvolle Prozess der Kolonisierung dazu führte, dass auf der einen Seite die mächtigen Kolonisierenden standen und auf der anderen Seite die machtlosen Kolonisierten, konnte Homi K. Bhabha in seinen einflussreichen Arbeiten aufzeigen, wie fragil und komplex diese Machtasymmetrie stets gewesen ist und wie sie von den Kolonisierten auf unterschiedliche Weisen benutzt wurde um auf diversen Ebenen Widerstand zu leisten.8 Mit der Einnahme Ägyptens geriet auch die muslimische Welt in diese Machtkonfiguration mit all ihren Effekten, die bis tief in die Diskurse und Psyche der Menschen hinein wirken konnten. Insofern ist die intellektuelle Geschichte in den muslimischen Ländern seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum von der Geschichte des Kolonialismus zu trennen. Viele muslimische DenkerInnen und AktivistInnen stellten fest, dass die islamische Welt in eine Schieflage geraten war.9 Das Unterlegenheitsempfinden war bei den MuslimInnen umso erdrückender, je mehr sie mit einer

7

Das Bild und seine psychologischen Folgen diskutiert Frantz Fanon in seinem Buch Schwarze Haut, weiße Masken. Auch der an der University of Chicago lehrende indische Historiker Dipesh Chakrabarty macht auf diesen Umstand der Wissensproduktion in der Entwicklung der asymmetrischen Beziehungen zwischen Europa und der übrigen Welt aufmerksam und unterzieht ihn einer Analyse. Vgl. Chakrabarty (2002).

8

Vgl. Bhabha (2000).

9

Peters, Rudolph (2010): „Revivalist Movements in Islam from the Eighteenth to the Twentieth Century and the Role of Islam in Modern History: Anticolonialism and Nationalism“. In: Werner Ende & Udo Steinbach (Hrsg.): Islam in the World Today. A Handbook of Politics, Religion, Culture, and Society. Ithaca & London, S. 70-104, hier S. 82-83.

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vergangenen, machtvollen und gloriosen Geschichte argumentierten, in der sie große Reiche, beachtliche wissenschaftliche, literarische, künstlerische Errungenschaften und schließlich eine Weltreligion hervorbrachten, wie es der Orientalist Bernard Lewis festgestellt hat.10 Viele muslimische Intellektuelle beschäftigten sich in der Tat mit der Frage, wo die Ursachen für dieses Inferioritätsempfinden zu suchen sind. Während einige die Ursache in der abhanden gekommenen Religiosität der Musliminnen und Muslime sahen und für eine mehr orthodoxe Haltung plädierten, verorteten andere das Problem gerade in der islamischen Orthodoxie und sprachen sich für das Loslösen vom Islam und für die Übernahme westlicher politischer Konzepte ebenso wie kultureller Werte aus. Eine Vielzahl anderer DenkerInnen betrachtete wiederum beide Positionen als extrem und suchten nach einem Zwischenweg, indem sie sich einerseits für die Wahrung einer zwar stark reformierten, jedoch religiösen islamischen Identität einsetzten und andererseits für mehr Korrespondenz mit den westlichen wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften argumentierten. Da letztere Haltung eine ganze Bandbreite an intellektuellen Richtungen in der muslimischen Welt prägt und auch von den hier behandelten iranischen Denkern gepflegt wird, werde ich im Folgenden kurz auf sie eingehen. Als Vordenker dieser Position des Zwischenwegs wird Jamal al-Din alAfghani (1838-1897) angesehen. Er gilt als der wichtigste muslimische Denker und Aktivist der Neuzeit und als Gründer der islamischen Moderne und des Panislamismus. Über seinen Geburtsort gibt es unterschiedliche Meinungen. Während einige, unter anderem sein Schüler Abduh, angeben, dass er aus der Ortschaft AsÝadƗbƗd in der afghanischen Provinz Konar kam, sind andere ForscherInnen der Meinung, dass er aus der fast gleichnamigen Stadt AsadƗbƗd im Westen Irans, in der Nähe der Stadt HamadƗn stammte. Al-Afghani hatte eine klassische islamische Ausbildung und beschäftigte sich gleichzeitig mit Philosophie und Mystik. Er bereiste alle wichtigen islamischen Zentren der damaligen Zeit, von Teheran bis Najaf, von Kairo bis Mekka und von Istanbul bis Kalkutta und Delhi. Er verbrachte auch Zeit in einigen wichtigen europäischen Städten wie London, Paris und Sankt Petersburg. Ganz gleich wo er sich aufhielt, scharten sich junge politisch interessierte AktivistInnen um ihn. Al-Afghani setzte eine breite

10 Vgl. Lewis, Bernard (1975): The World of Islam: Faith, People, Culture (Great Civilizations). London.

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Erneuerungsbewegung in Gang, die von vielen Geistlichen und Intellektuellen in Kairo, Istanbul, Teheran und Indien getragen wurde.11 Insgesamt können bei ihm drei zentrale Anliegen ausgemacht werden: Zum einen visierte er eine Einheit der MuslimInnen an. Zur Erreichung dieses Ziels suchte er die Nähe zur politischen Elite in der islamischen Welt, um sie zum geschlossenen politischen Handeln zu bewegen. In diesem Sinne setzte er sich zum weiteren zum Ziel, die muslimische Welt vor der politischen, wirtschaftlichen, militärischen und wissenschaftlichen Dominanz Europas zu befreien. So plädierte er für die Rückbesinnung der MuslimInnen auf ihren vergangenen zivilisatorischen Glanz. Gleichzeitig stellten für ihn die herkömmlichen islamischen Vorstellungen und Praktiken ein Hindernis für den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt dar. Daher forderte er einen reformierten Islam, der sich westliche Technologie und Wissenschaft zu eigen macht. Den Grund für das Inferioritätsempfinden der muslimischen Welt sah al-Afghani in der fehlenden Einigkeit unter den MuslimInnen, sowie in der orthodoxen Form des Islam, wie sie von der Mehrheit der Religionsgelehrten gepredigt und gepflegt wurde.12 Al-Afghani wird als Vordenker einer Vielzahl von islamisch geprägten Strömungen des 20. Jahrhunderts gesehen, dazu zählen auch die des Panislamismus, des Salafismus, des Islamismus und des Reformismus. Seine Gedanken haben auch die moderne iranische intellektuelle Geschichte von der Konstitutionellen Revolution (1905-1911) bis zur Islamischen Revolution (1979) geprägt. Bei den hier behandelten Autoren wird er, wie wir später sehen werden, insbesondere von ShariÝati rezipiert. Seine Ideen sind aber im Grunde auch bei den drei anderen Akteuren präsent. Schließlich sind sie alle bestrebt, islamische Religion und muslimische Gesellschaften zu erneuern. Und die Renaissance des Islam, wie es ShariÝati in einer knappen Formulierung auf den Punkt bringt, hat ohne Zweifel mit al-Afghani angefangen.13

11 Zu Leben und Wirken von al-Afghani vgl. den Standardwerk von Keddie, Nikki R. (1972): Sayyid JamÁl ad-DÐn ‘al-AfghÁnÐ’: A Political Biography, Berkeley. 12 Keddie, Nikki R. (2005): „Sayyid Jamal al-Din al-Afghani“. In: Rahnema, Ali (ed.): Pioneers of Islamic revival. New updated edition with major new introduction. Beirut & London, S. 11-29; Peters (2010): S. 91-96. 13 http://www.shariati.com/farsi/tavalodeislam/tavalodeislam2.html (10.7.2014)

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Al-Afghani starb 1897 in der Türkei und wurde dort beerdigt. 1944 überführte man seine Überreste aus der Türkei nach Afghanistan, wo sie auf dem Hauptcampus der Universität Kabul beigesetzt wurden. Al-Afghanis Ideen wurden in modifizierter Form von Mohammad Abduh (1849-1905) fortgetragen. Abduh hatte eine fundierte traditionelle islamische Ausbildung, kam aber durch al-Afghani mit den philosophischen, sozialpolitischen und literarischen Werken europäischer Kultur in Berührung. Diese Mischung von westlichem Gedankengut und muslimischen Vorstellungen hat auch sein ganzes politisches und geistiges Engagement geprägt. Er gilt als der bekannteste und hervorragendste Schüler von al-Afghani. Mit knapp 22 Jahren lernte er al-Afghani während dessen ungefähr achtjährigen Aufenthalts in Kairo kennen. Später gab er gemeinsam mit al-Afghani aus dem Pariser Exil die einflussreiche Zeitschrift al-Ýurwa al-wothqÁ („das feste Band“) heraus.14 Abduh verfolgte wie sein Mentor die Idee der Einheit und Unabhängigkeit der muslimischen Gesellschaften und die Reform religiöser Vorstellungen und Praktiken. Er wusste jedoch, dass diese Ziele nicht von heute auf morgen realisierbar sind. Während al-Afghani diese Ziele rasch und mit Hilfe der politischen Herrscher und intellektuellen Elite erreichen wollte, versuchte Abduh sie mit kleinen und konkreten Schritten zu realisieren.15 In seinen Aktivitäten wurde Abduh von der Überzeugung geleitet, dass der Islam nicht im Widerspruch zur westlichen Moderne steht, ja dass er sogar die besten Voraussetzungen für modernen Fortschritt bietet. Diese Haltung war mit ein Grund dafür, sich von den traditionellen Lehrpolitiken und -inhalten der Azhar-Universität zu distanzieren und sich Zeit seines Lebens vor allem für Bildungseinrichtungen einzusetzen, in denen eine neue Religionsanschauung bzw. Religionslehre vermittelt wurden, und die

14 Die Bezeichnung al-Ýurwa al-wothqÁ („das feste Band“) ist eine Anspielung auf den Koranvers 2:256 oder 31:22. Die Zeitschrift konnte zwischen März und Oktober 1884 achtzehn Mal erscheinen. Dann wurde sie jedoch von den Briten aufgrund ihrer panislamischen und antikolonialen Haltung verboten, fand trotz alldem auch hernach noch viele LeserInnen und war besonders einflussreich unter den reformorientierten Gebildeten in der islamischen Welt. 15 Mehr zu Abduh vgl. Haddad, Yvonne (2005): „Muhammad Abduh: pioneer of Islamic reform“. In: Rahnema, Ali & Haddad, Yvonne (ed.): Pioneers of Islamic revival. New updated edition with major new introduction. Beirut & London, S. 30-63; Peters (2010): S. 96-100.

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den Weg zum technisch-wissenschaftlichen Fortschritt und zur politischkulturellen Unabhängigkeit ebnen sollten.16 Den Grund für die oft so beschriebene Inferiorität der muslimischen Welt, für ihre Uneinigkeit und Unterlegenheit gegenüber den westlichen Ländern suchte Abduh zum einen in der Unkenntnis der eigenen Religion bzw. in einem falschen Glauben und zum anderen in einer despotischen Herrschaftsform, die jegliche Reformversuche verhinderte. Abduh unternahm praktische Schritte, um seine gewünschten Veränderungen voranzutreiben. Er setzte sich für ein verbessertes Bildungssystem und damit für die Reform herkömmlicher religiöser Vorstellungen und Praktiken ein. Er plädierte für das Praktizieren des EjtehÁd und damit für eine eigenständige und von den Lasten vergangener Gelehrtenmeinungen befreite Herangehensweise an den Islam. Auf diese Weise lehnte er es ab, die überkommenen und über Generationen weiter tradierten Islaminterpretationen und Rechtauslegungen absolut zu setzen und sie nur nachzuahmen (taqlid), ohne eine zeitgemäße Interpretation des Islam zu unternehmen. Gleichzeitig machte er sich dafür stark, dass die islamischen Konfessionen und darüber hinaus die Weltreligionen ihre gegenseitigen Vorurteile abbauten und sich aufeinander zubewegten.17 Was die muslimische Welt anbelangt, sollte die Initiative die religiösen Streitigkeiten beilegen und die Einheit muslimischer Gesellschaften erzielen – eine Aufgabe, der sich später noch viele weitere Gelehrte und Intellektuelle in der islamischen Welt verschrieben. Insbesondere aber die Idee des EjtehÁd und der Kampf gegen das taqlid inspirierten später kommende DenkerInnen. Auch in der heutigen Zeit gehen einige Intellektuelle – wie etwa ÝAbdolkarim Sorush – im Rahmen dieser Diskussionen soweit, eine eigenständige Meinungsbildung (EjtehÁd) nicht nur im Bereich der Rechtsfragen für legitim zu halten, sondern diese per se auch im Bereich der Glaubensfragen zu fordern. Damit zielen sie auf eine tolerante Haltung nicht nur unter diversen islamischen Konfessionen, sondern auch im Umgang mit allen anderen möglichen Lebensvorstellungen und -entwürfen.18

16 Vgl. ebd. 17 Ebd. 18 Mehr zu diesem Thema vgl. Poya, Abbas (2003): Anerkennung des I÷tihÁd – Legitimation der Toleranz. Möglichkeiten innerer und äußerer Toleranz im Islam am Beispiel der IÊtihÁd-Diskussion. Berlin.

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Die „islamische Renaissance“ mit der Vorstellung einer Anknüpfung an eine vergangene muslimische Hochkultur, der Einheit der MuslimInnen und der Bekämpfung des westlichen Kolonialismus erfasste auf unterschiedliche Weisen die Diskurse und politischen Bestrebungen in der ganzen islamischen Welt. Im indischen Kontext wurden diese Ideen insbesondere von Mohammad Iqbal (1877-1938) weitergeführt. Seine Schriften wurden auch von den muslimischen Intellektuellen in Iran rezipiert, was sicherlich nicht zuletzt daran lag, dass er seine wichtigen Poesiewerke in Persisch verfasst hatte und seine Ideen so einem breiteren farsi-sprachigen Publikum zugänglich waren. Iqbal setzte nach dem Studium der Philosophie in Lahore seine akademische Ausbildung 1905-1907 in Cambridge, München und Heidelberg fort. In Europa studierte er Rechtswissenschaft und Philosophie und promovierte an der Universität München in Philosophie. Er sprach offen über seine Bewunderung für die europäischen Wissenschaften und Philosophien, sah sie aber als Fortsetzung globaler kultureller Errungenschaften, zu denen auch die MuslimInnen der Vergangenheit ihren Beitrag geleistet hätten: „Es gab einmal eine Zeit, als das europäische Denken von der Welt des Islam inspiriert wurde. […] die europäische Kultur ist auf ihrer intellektuellen Seite nichts als eine Fortentwicklung einiger der wichtigsten Phasen der Kultur des Islam.“19

Zu seinen wichtigsten Poesie-Werken gehören „Die Geheimnisse des Selbst“ (asrÁr-e-khudi) 1915, sowie „Die Botschaft des Ostens“ (payÁm-emashreq) 1923, die er offensichtlich mit Blick auf Goethes West-östlicher Divan geschrieben hatte. Iqbal hinterließ jedoch nicht nur ein breit gefächertes dichterisches Werk, er prägte auch nachhaltig die Politik in der Region und den intellektuellen Diskurs in der ganzen islamischen Welt. Iqbal verstarb 1938 in Lahore und erlebte somit nicht mehr die Gründung des Staates Pakistan im Jahre 1947. Es waren aber seine Idee der Rückkehr zum „islamischen Mutterland“ und seine Bemühungen um die Einheit und Eigenständigkeit der MuslimInnen, die maßgeblich den Entstehungsprozess des Staates Pakistan vorantrieben und zum Erfolg brachten. Daher gilt er

19 Iqbal, Muhammad (2003): Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam (aus dem Englischen übersetzt von Axel Monte und Thomas Stemmer). Berlin, S. 30.

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nach wie vor als geistiger Vater Pakistans und einer der Vordenker des islamischen Wiedererwachens.20 In seinem im Jahr 1930 in London erschienenen Werk The Reconstruction of Religious Thought in Islam (übersetzt ins Deutsche als „Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam“) formulierte Iqbal seine Antwort auf die immer von neuem gestellte Frage, wie der vergangene dynamische Geist der muslimischen Kultur wieder belebt werden kann. Dabei versuchte er mit dem Dualismus zwischen dem Rationalen und dem Spirituellen zu brechen, indem er die Rationalität als einen inhärenten Bestandteil der religiösen Kultur des Islam, angefangen bei dem Propheten Mohammad, ansah.21 Damit wollte er wie im Falle von al-Afghani und Abduh den angenommenen Kern der islamischen Botschaft von den sich über Jahrhunderte angehäuften Lehrtraditionen und -meinungen einerseits und von den besonders im indischen Kontext auffallenden mystisch-asketischen Lebenseinstellungen andererseits befreien. Dabei wies er stets auf die Grenzen des Intellektes hin.22 Bereits in dem Buch asrÁr-e-khudi hatte Iqbal versucht, die Grenzen des rationalen Denkens aufzuzeigen, indem er dem „Intellekt“ (Ýaql) den Begriff „Liebe“ (Ýishq) gegenüberstellte und dafür argumentierte, dass man mit Ýishq viel mehr erreichen könne als mit Ýaql, dem bloßen Verstand.23 Dabei verstand er Ýishq als „creative love“24, als intuitive, engagierte und bewusste Liebe zu sich, zu seinem Schicksal und dem Schicksal anderer Gesellschaftsmitglieder. Nur eine solche Liebe könne die befähigende Kraft geben, sich über rational berechnende Lebensauffassung hinwegzusetzen und sich seinen religiösen und sozialen Verantwortungen hinzugeben. „Thus while Ýishq perfects self-hood, borrowed rationality negates it and becomes suitable only to the slave mentality.“25 Des Weiteren lehnte Iqbal ein statisches Verständnis vom Islam ab, sah in ihm stattdessen eine dynamische, produzierende und stets in Bewegung

20 Vgl. Fazlur Rahman (1984): „Muhammd IqbÁl and Atatürk’s Reforms“. In: JNES 43/2, S. 157-162. 21 Vgl. Iqbal (2003): S. 25-26. 22 Vgl. ebd.: S. 24-52 und 152ff. 23 Zu diesen zwei zentralen Begriffen bei Iqbal vgl. Fazlur Rahman (1984): S. 157162. 24 So interpretiert Fazlur Rahman den Begriff Ýishq bei Iqbal. Ebd.: S. 158. 25 Ebd.

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bleibende Kultur. Dies zeigt sich für ihn im Prinzip des EjtehÁd26 – einem Prinzip, das in der islamischen Rechtsfindungsprozedur zentral gesetzt wird und seinen Ursprung, wie Iqbal es in der bekannten Gelehrtenattitüde rezipiert, im Koran und in der Prophetentradition hat.27 Die kulturelle Entwicklung sei jedoch, so Iqbal, durch das Zusammenspiel der konservativen Kräfte und politischen Eliten, durch die Verbreitung von mystischen Lebenseinstellungen und schließlich durch die Zerstörung von wissenschaftlichen Zentren wie Bagdad im 13. Jahrhundert zum Stillstand gekommen.28 So fordert er ein Ende der von oben, von den Gelehrten vorgegebenen Denk- und Lebensordnung und die Entfesselung von individuellen Kräften: „Die einzige wirksame Kraft, die den Kräften des Zerfalls in einem Volk entgegenarbeitet, ist das Hegen von auf sich konzentrierten Individuen. Allein solche Individuen offenbaren die Tiefe des Lebens. Sie enthüllen neue Standards, in deren Licht wir zu erkennen beginnen, daß unsere Umwelt nicht völlig unverletzlich ist und der Revision bedarf.“29

Islamisch-intellektuelles Denken in Iran Die drei wichtigen Aspekte des islamischen Intellektualismus – (Pan-)Islamismus, Antikolonialismus und Reformismus, die wir bereits anhand der vorangegangenen Beispiele erläutert haben –, sind auch im iranischen Kontext zu beobachten. Im Grunde sind diese Themen bis in die heutige Zeit, wenn auch mit modifizierten Akzentuierungen, in den in Iran geführten intellektuellen Diskursen und politischen Auseinandersetzungen präsent. Ein wichtiger Grund dafür mag wohl nicht zuletzt die weiter bestehende asymmetrische globale Machtverteilung sein, welche den Westen begünstigt und zugleich „konstruiert“. Auch wenn man große Veränderungen weltweit beobachten kann, sind die politischen Vorzeichen und der Rahmen unserer Diskurse und Denkschemata gleich geblieben bzw. stark vom Westen geprägt. Diese sind damit auch bestimmend für intellektuelle Gegenpositio-

26 Iqbal (2003): S. 174-176. 27 Ebd.: S. 176. 28 Ebd.: S. 177-179. 29 Ebd.: S. 179.

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nen und alternative Modelle weltweit. Der Begriff Panislamismus ist zwar mittlerweile kaum mehr in Gebrauch, Islam, „Islamismus“ (islÁmgarÁyi) und „Fundamentalismus“ (bonyÁdgarÁyi) bestimmen jedoch immer noch die aktuellen Diskussionen. Der Begriff Antikolonialismus wird weniger gebraucht, „Verwestlichung“ (gharbzadegi) und „kulturelle Invasion“ (tahÁjom-e farhangi) stellen aber wichtige akademische und politische Themen in Iran dar. Schließlich ist „Reform/-ismus“ (eslÁh/-talabi) nach wie vor ein zentraler politischer wie intellektueller Streitpunkt. Die islamisch-intellektuellen Debatten in Iran sind allerdings zugleich durch andere historische Bedingungen und von weiteren parallel laufenden Diskursen geprägt.

Zarenreich/Sowjetunion/Marxismus Wir haben bereits festgestellt, dass eine neue intellektuelle Bewegung in der islamischen Welt mit dem modernen Kolonialismus ansetzte. Die Begegnung Irans mit „der Moderne“, oder anders ausgedrückt, die koloniale Erfahrung Irans hatte allerdings ihre Besonderheiten. Während man in den arabischen und afrikanischen Ländern oder im indischen Kontext hauptsächlich mit dem europäischen Kolonialismus konfrontiert war, erfuhr man in Iran gleichzeitig die kolonialen Bestrebungen des zaristischen und später des sozialistischen Russlands. Die Einflussnahme des großen nördlichen Nachbarlandes auf die Politik und Kultur in Iran begann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während die Briten, die bereits seit dem 18. Jahrhundert in der Region präsent waren, die südlichen Gebiete des Landes unter ihre Kontrolle brachten, annektierten die Russen große Teile des Nordirans und zwangen mit militärischer Stärke die politischen Entscheidungsträger in Iran zur Unterschrift der demütigenden Abkommen des Gulestan (1813) und Turkmanchai (1828). Durch diese Abkommen verlor Iran u.a. weite Teile seiner Hoheitsgebiete an Russland.30 So hatte nicht nur Britannien, sondern auch das zaristische Russland jahrzehntelang einen großen imperialen Einfluss auf die politischen Entwicklungen in Iran, wie Ervand Abrahamian im folgenden Zitat treffend formuliert:

30 Vgl. Abrahamian, Ervand (2008): A History of Modern Iran. Cambridge, S. 36.

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„Their representatives became key players in Iranian politics – so much so they had a hand not only in making and unmaking ministers but also in stabilizing the monarchy and influencing the line of succession throughout the century.“31

Die geographische Nähe zu Russland und die bestehenden familiären Bindungen jenseits der neuen künstlich gezogenen Grenzen schufen für viele IranerInnengute Voraussetzungen dafür, transkulturellen Verkehr nicht nur mit Russland, sondern über Russland hinaus mit den westlichen Ländern zu pflegen. Einer der bekanntesten und umstrittensten Intellektuellen Irans im 19. Jahrhundert war MirzÁ Fath ÝAli ÀkhundzÁdeh (1812-1878). Sein Werdegang ist bezeichnend für viele ProtagonistInnen jener Zeit. Er wurde in der Stadt Nukha in der heutigen Republik Aserbaidschan geboren – einer Stadt, die er bis zu seinem 16. Lebensjahr als einen Teil Irans erlebte. Nach dem Abkommen von Turkmanchai (1828) wurde sie dann aber dem zaristischen Reich zugerechnet. Mit 23 Jahren ging ÀkhundzÁdeh nach Tiflis und stand bis zum Ende seines Lebens als Dolmetscher im Dienste der georgischen Regierung. ÀkhundzÁdeh interessierte sich für Literatur und insbesondere für Theater. Er schrieb einige Theaterstücke, in denen er auch sozialpolitische Fragen, u.a. die der Emanzipation von Frauen und feministische Ansätze, thematisierte. Auch ihn beschäftigte die Frage der „Superiorität Europas“. Dabei erörterte er sein politisches Denken im Rahmen eines Diskurses, der ebenfalls die muslimische Welt prägt, und der von einer Trennung von Religion und Politik ausgeht. ÀkhundzÁdeh war der Meinung, dass der Erfolg des Westens mit der Trennung zwischen Religion und Politik zu tun hat, und schlug deshalb vor, auch in Iran das Religiöse aus der öffentlichen Sphäre zu verbannen. Darüber hinaus argumentierte er für einen iranischen Nationalismus, der sich auf ein „goldenes Zeitalter“ des vorislamischen Irans berief.32 Zum nationalen Fortschritt in Iran hatte ÀkhundzÁdeh unter anderem den konkreten Vorschlag, der später auch von vielen anderen übernommen wurde,33 dass man die persische Schrift refor-

31 Ebd. 32 Mehr zu ÀkhundzÁdeh und seinen Ideen vgl. Vahdat, Farzin (200): God and Juggernaut. Iran’s Intellectual Encounter with Modernity. New York, S. 42-48. 33 Über den sprachlichen Nationalismus siehe unten, Abschnitt Nationalismus.

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mieren und statt der arabischen Schrift das lateinische Alphabet einführen müsse.34 ÀkhundzÁdehs „modernistische“ und „nationalistische“ Ideen haben die damaligen politisch-intellektuellen Diskurse nachhaltig geprägt und schwangen bei der Konstitutionellen Revolution (1905-1911) mit. Seine Ideen beeinflussten zweifelsohne einige VordenkerInnen und WegbereiterInnen der Konstitutionellen Revolution wie MirzÁ Malkum KhÁn (1833-1908) und MirzÁ ÀqÁ KhÁn KermÁni (1853-1896).35 Die Revolution richtete sich zunächst gegen die absolutistische Herrschaftsweise der Kadscharen, die bereits seit 1779 das Land regierten und jede mögliche politische Reform mit großer Vehemenz bekämpften. Ziel der revolutionären Kräfte war es aber vor allem, ein System zu schaffen, in dem die politische Elite nicht wie zuvor durch Abstammung und Zuspruch der Gelehrten, sondern durch freie Wahlen legitimiert werden sollte. Genau dieser Punkt führte später zu Zwietracht unter den Revolutionären, da einige eine konsequent mashrute („konstitutionelle“) und andere unbedingt eine mashruÝe („Scharia-konforme“) Regierungsform wollten. Die Revolution verfehlte ihre Ziele und scheiterte letztendlich zum einen an den inneren Zerwürfnissen der Koalition und zum anderen an der britisch-russischen Einflussnahme. „Diese wurde umso stärker, als Anfang des 20. Jahrhunderts in Iran Erdöl entdeckt wurde. Die erste Konzession ging an die Anglo-Persian Oil Company.“36 Nichtsdestotrotz erfolgten durch die Konstitutionelle Revolution am Ende freie Wahlen, die Etablierung eines Parlaments und eine neue Verfassung. Man hob aber kraft späterer Ergänzungen die religiösen Komponenten besonders hervor, unter anderem dass die Schia die offizielle Religion des Landes darstellt, dass als Oberhaupt des Staates nur ein schiitischer Muslim fungieren kann, und dass die Gesetze des Landes in Übereinstimmung mit dem Islam stehen müssen.37 Die asymmetrische Iran-Russland-Beziehung hat die politisch-intellektuellen Diskurse in Iran auch nach dem 1. Weltkrieg insofern geprägt, als

34 Ebd.: S. 44. 35 Zu MirzÁ Malkum KhÁn und MirzÁ ÀqÁ KhÁn KermÁni vgl. ebd.: S. 30-42. 36 Steinbach, Udo (2007): „Die widerspruchsvolle ‚Republik‘ – Iran auf dem Weg zu einer regionalen Vormacht?“, in: FES-Analyse: Iran, S. 4. 37 Zur Konstitutionellen Revolution in Iran vgl. Afary, Janet (1996): The Iranian Constitutional Revolution, 1906-1911. Grassroots Democracy, Social Democracy, and the Origin of Feminism. New York.

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dass man in den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen stets starken sozialistischen/marxistischen Elementen begegnet. Ähnlich wie in der Auseinandersetzung mit dem westlichen Kolonialismus beschäftigte man sich auch im Falle Russlands mit den das Land prägenden Diskursen (etwa des Marxismus-Leninismus). Während einige sie ablehnten, nahmen andere Anleihen bei ihnen und entwickelten sie für ihre antikolonialen Denkbestrebungen im Kontext des Iran weiter. Die Geschichte der kommunistischen Bewegung in Iran kann man so bis ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Praktisch gleichzeitig mit dem Aufkommen des Marxismus in Europa lassen sich kleine aber einflussreiche kommunistische Gruppen in vielen Orten der Welt beobachten, die den Marxismus als eine antikapitalistische Ideologie vertraten. In Iran waren vor allem im Norden und hier insbesondere im iranischen Aserbaidschan, in geographischer Nähe zu Russland bzw. zum (russischen) Aserbaidschan, kommunistische Gruppierungen aktiv. Der Einfluss der kommunistischen Bewegung auf die durch den Ersten Weltkrieg verursachten brüchigen politischen Strukturen wurde so groß, dass sie sich im Stande sah, 1920 für eine kurze Zeit eine von der Zentralregierung in Teheran unabhängige Iranische Sowjetrepublik auszurufen. Die im Juni 1920 gegründete Kommunistische Partei Irans wurde von Reza Khan, dem Gründer der neuen Pahlavi-Dynastie, nicht geduldet und schließlich verboten.38 Mit der Gründung der hezb-e tudeh-e irÁn („Partei der Massen des Iran“) im Jahre 1941 fand die kommunistische Bewegung eine neue Plattform für ihre politischen Aktivitäten in Iran. Die Partei stand stets im Verdacht, eine enge Beziehung zu Russland zu unterhalten, und konnte sich trotz wiederholt auferlegter Verbote und einiger Spaltungen bis Anfang der 1980er Jahre als die größte und einflussreichste marxistische Partei in Iran etablieren. Ungeachtet jedoch einer kritiklosen Unterstützung der offiziellen Politik der Islamischen Republik durch die Partei, wurde 1982 eine große Anzahl ihrer Mitglieder und Führungskader verhaftet und zum Teil hingerichtet.39 Obwohl die tudeh-Partei als Handlanger der Sowjetunion angesehen wurde, genoss der Marxismus bis zum Erfolg der Islamischen Revolution im Jahr 1979 eine immer größer werdende Beliebtheit vor allem bei den

38 Zur Anfangszeit der kommunistischen Bewegung in Iran vgl. http://www.iran chamber.com/history/tudeh/tudeh_party01.php (10.01.2014). 39 Vgl. ebd.

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Studierenden und in den akademischen und gebildeten Kreisen. Viele junge Menschen fühlten sich trotz oder gerader wegen einer strengen religiösen Erziehung – wie wir im Fall von Àl-e Ahmad sehen werden – von den marxistischen Ideen angesprochen. In den späten 1960er und den 1970er Jahren sind vor allem aus den kritischen studentischen Kreisen einige militante Organisationen hervorgegangen, die fast ausschließlich maoistisch/marxistisch orientiert waren. Einige junge ehemalige Mitglieder der tudeh-Partei gründeten im Zusammenschluss mit einigen nationalistischen AktivistInnen die marxistische Untergrundorganisation der fedÁÞeyÁn-e khalq („Volksfedayyin“). Die wichtigste, als islamisch angesehene und vor allem von ÝAli ShariÝatis Ideen beeinflusste Untergrundorganisation jener Zeit, die mojÁhedin-e khalq („Volksmodschahidin“), war ebenfalls in großen Teilen durch marxistisches Gedankengut geprägt.40 Dieser Zustand stellte eine schwere Herausforderung für die religiösen AktivistInnen dar. Muslimische DenkerInnen reagierten auf diese bis in ihre eigenen Diskurse hinein vorgedrungene „Gefahr“, indem sie sich entweder – wie ShariÝati – viele marxistische Ideen einverleibten und islamisch umformulierten, oder indem sie – wie Sorush – ihnen „islamisch-liberale“ Ideen entgegenhielten und sie auf diese Weise bekämpften.

Nationalismus Neben dem Marxismus hat, wie bereits angemerkt, ein weiterer Diskurs, nämlich der des Nationalismus, den islamischen Intellektualismus in Iran geprägt. Die ersten nationalistischen Ideen kamen Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts und insbesondere im Laufe der Konstitutionellen Revolution auf. Mit ÀkhundzÁdeh und MirzÁ Malkum KhÁn haben wir bereits auf zwei wichtige intellektuelle Vordenker der Konstitutionellen Revolution hingewiesen, deren Ideen ausgeprägte nationalistische Züge erkennen ließen. Als ein weiterer Ideologe des iranischen Nationalismus gilt Sayyed Hasan TaqizÁdeh (1878-1970). Bei allen diesen Protagonisten und beson-

40 Zu der Frage, wie die tudeh-Partei immer mehr an Popularität verlor und wie neue maoistische/marxistische Gruppen entstanden, vgl. Abrahamian, Ervand (2008): A History of Modern Iran. New York, S. 148f.; Keddie, Nikki R. (2003): Modern Iran. Roots and Results of Revolution. Yale University Press, S. 218f.

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ders deutlich bei TaqizÁdeh ging die Idee des Nationalismus Hand in Hand mit der Forderung nach totaler Anpassung an die europäischen Wertmaßstäbe und Lebensstile, der sogenannten Verwestlichung – ein negativ konnotierter Begriff, der von KritikerInnen prominent gemacht wurde. TaqizÁdeh erklärte, dass das nationale Wohl der IranerInnen eine durchgehende und tiefgreifende Europäisierung, und zwar „von Innen und von Außen“41 erforderlich mache. Nach der Konstitutionellen Revolution standen die Modernisierungsbemühungen in Iran zwar unter dem Einfluss der kemalistischen Bewegung in der benachbarten Türkei. Der iranische Nationalismus stellte aber stets einen zentralen Punkt dieses Modernisierungsprozesses dar. So wurde das Land nicht mehr Persien sondern Iran („Land der Arier“) genannt.42 Mit der Berufung auf die „Arier“ wollte man Iran von den benachbarten „Turkvölkern“ und „Semiten“ abheben und eine iranische Identität mythologisieren. Hinter der „Arier“-Ideologie verbargen sich gleichzeitig die politischen Annäherungsversuche des Iran an Deutschland.43 Es gab in allen sozialen, politischen und erzieherischen Bereichen eindeutige Bemühungen, vorislamische Traditionen wiederzubeleben.44 Man mythologisierte die vorislamischen iranischen Dynastien wie die Achämeniden und Sassaniden zu großen, zivilisationsstiftenden Hochkulturen, die nicht nur bereits Werte wie Gerechtigkeit und Religionsfreiheit kannten und respektierten, sondern auch Kultur und Wissenschaften förderten. Zur Konstruktion derartiger Mythen trugen historischen und archäologischen Studien von EuropäerInnen wesentlich bei.45

41 Vgl. Ansari, Ali M. (2012): The Politics of Nationalism in Modern Iran. New York, S. 46. 42 Im Jahr 1935 wurde „Persien“ zu „Iran“ umbenannt. Vgl. Ahmadi, Ghazal (2001): Iran als Spielball der Mächte? Die internationalen Verflechtungen des Iran unter Reza Schah und die anglo-sowjetische Invasion 1941. Frankfurt a.M., S. 9, Anm. 2. Die Grundlage für den Arya-Mythos in Iran lieferten u.a. Orientalisten wie Sir William Jones, der die These vertreten hatte, dass Iran der Ort sei, von dem aus die „Menschenrasse“ nach der Sintflut sich fortbewegt habe. Ansari (2012): S. 13. 43 Steinbach (2007): S. 4. 44 Ebd. 45 Zur nationalistischen Mythologisierung in Iran und dem Beitrag der europäischen Wissensproduktion vgl. Ansari (2012): S. 165ff.

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Offiziell hat man zwar den Islam aufgrund seiner starken Verankerung in der religiös geprägten Gesellschaft nie direkt angreifen wollen/können. Die implizite Botschaft eines solchen Eigenbildes war/ist jedoch, dass die arabischen MuslimInnen die ganzen zivilisatorischen Errungenschaften Irans zerstört hätten. Ein Bild, das immer wieder in den verschiedensten iranischen Diskursen auftaucht. Insgesamt war/ist ein Ressentiment gegenüber den AraberInnen in Iran zu beobachten, wie sie auch der Aufmerksamkeit eines britischen Kaufmannes aus den 1950er Jahren nicht entgangen ist: „Most Iranians recent being called Middle Easterners and are positively insulted when compared or identified with Arabs. They regard themselves as members of the Aryan family […]“.46

Die politisch-soziale „Modernisierung“, die von Reza Schah (1878-1944), dem Gründer der Pahlavi-Dynastie, auf eine regressive Art eingeleitet, und vom zweiten Pahlavi, Mohammad Reza Schah (1919-1980), mit noch pompöseren Inszenierungen weitergeführt wurde, spiegelte eine groteske Mischung von Nachahmung und Nationalismus wider. Sie fand ihren Höhenpunkt in der „Weißen Revolution“, die ein umfassendes und langfristiges Reformprogramm zur Modernisierung Irans beinhaltete und im Jahr 1963 in Angriff genommen wurde. Als wichtige Ziele der „Weißen Revolution“ wurden folgende Punkte formuliert: Die Abschaffung des Feudalsystems, die Verstaatlichung aller Wälder und Weideflächen, die Privatisierung staatlicher Industrieunternehmen, die Gewinnbeteiligung der ArbeiterInnen und Angestellten an Unternehmen, allgemeines aktives und passives Wahlrecht für Frauen sowie die Bekämpfung des Analphabetentums durch den Aufbau eines Hilfslehrerkorps (Armee des Wissens).47 Diese durchaus als fortschrittlich zu bezeichnenden Ziele wurden aber zum einen mit einem derart schnellen Tempo und einer so deutlichen Orientierung am westlichen Vorbild verfolgt, dass nicht nur die Geistlichen sie bekämpfen wollten, sondern sie auch von vielen Intellektuellen als Versuche zur kritiklosen „Verwestlichung“ des Landes angesehen und abgelehnt wurden. In der vor-

46 Zitiert nach Ansari (2012): S. 165. 47 Vgl. Afkhami, Gholam Reza (2009): The life and times of the Shah, UC Press, S. 231.

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liegenden Studie wird diese intellektuelle Position insbesondere in den Werken Àl-e Ahmads und ShariÝatis deutlich. Zur Skepsis gegenüber der „Weißen Revolution“ hat auch die Tatsache beigetragen, dass die sozialen Reformansätze ohne politische Reform vorgenommen wurden. Darüber hinaus gingen diese Reformversuche mit starken nationalistischen und hegemonialen Bestrebungen einher. In einem Interview mit der Zeitschrift Der Spiegel vom Januar 1974 sagte Mohammad Reza Schah bezogen auf die Zukunft Irans: „In zehn Jahren werden wir das sein, was Sie heute sind, Sie [Deutschland], die Franzosen oder die Briten.“48 Im selben Interview bekräftigte er seine – angesichts der Tatsache, dass er von einer deutschen Zeitschrift interviewt wurde – fast naiv anmutende nationalistische/rassistische Einstellung: „Die Juden sind Semiten, und die Araber sind auch Semiten. Wir sind Arier, und ihr Deutschen seid Arier.“49 Ein derartiger, sich rassistischer Annahmen bedienender Nationalismus ist zwar bei den religiösen AkteurInnen nicht zu beobachten, aber auch in deren Ausführungen ist eine beachtliche Portion nationalistischer Ressentiments festzustellen. Obgleich für alle religiös motivierten AktivistInnen Irans beispielsweise al-Afghani einen Vorbildcharakter hat, ist in den iranischen Diskursen selten eine Denkart zu beobachten, die über das nationale Dilemma hinausgeht, anders als bei al-Afghani selbst, der über die kulturellen, historischen und religiösen Grenzen seines Landes hinausgedacht und gehandelt hatte. Al-Afghani sah die Einheit der MuslimInnen als eine wichtige Voraussetzung für den Kampf gegen den Kolonialismus und für die Wiederherstellung von muslimischer Eigenständigkeit und Macht an. Um Gehör für sein Anliegen – Zusammenschluss der muslimischen Welt – zu finden, machte er seine wahrscheinlich iranische Herkunft und seine schiitische Erziehung, Ausbildung und Überzeugung fast unkenntlich. Für den iranischen Intellektualismus und darunter auch für die religiösen Intellektuellen spielt die nationalistische Haltung eine kaum zu übersehende Rolle. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass man al-Afghani schließlich in die Obhut der iranischen Nation stellte – anstatt etwa seine panislamische

48 Das Interview wurde in der Spiegelausgabe vom 07.01.1974 veröffentlicht und ist online abrufbar unter URL http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41794683. html (15.01.2014). 49 Ebd.

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Denkart anzuerkennen. Sogar seinen selbst gewählten und seine iranische Herkunft verdeckenden Namen al-Afghani änderte man kurzerhand in der iranischen Literatur zu AsadÁbÁdi – eine Bezeichnung, die auf seinen angeblichen Geburtsort in Iran anspielt. Wie bereits konstatiert, ist der Nationalismus eine wichtige Komponente sämtlicher moderner Diskurse in Iran, die von vielen intellektuellen Stimmen getragen und als Erbe einer alten und glorreichen Tradition angesehen wird – eine Tradition, deren Wurzel in der vorislamischen Zeit gesucht wird. Die arabisch-islamische Eroberung des Gebietes im 7. Jahrhundert wird dabei stets ambig betrachtet. Während die säkularen DenkerInnen die „Islamisierung“ des Landes verantwortlich dafür machen, dass die IranerInnen ihre vorislamischen zivilisatorischen Entwicklungen nicht mehr fortsetzen konnten, versuchen die religiösen AkteurInnen die „iranischen“ Beiträge zur islamischen Kultur hervorzuheben, um die wichtige Rolle der IranerInnen bei der Entstehung einer großen islamischen Zivilisation zu betonen.50 Die nationalistische Haltung wird unter anderem dadurch legitimiert, dass in der islamischen Geistesgeschichte viele aus dem historischen Iran stammende Gelehrte einen beachtlichen Beitrag zur Entfaltung der Naturwissenschaften, Medizin, Philosophie und religiösen Wissenschaften in arabischer und persischer Sprache geleistet hatten. Ferner wird zuweilen eine iranische Ausprägung islamischer Kultur behauptet, so habe sich „schon früh eine [angeblich] eigenständige iranische Ausprägung auf nahezu allen Gebieten der ‚islamischen‘ Kultur, insbesondere auf den Gebieten der Dichtung, Malerei, Architektur und der dekorativen Kunst“ entwickelt.51 Die nationalistische Bewegung in Iran hat(te) allerdings, wie in sämtlichen anderen afrikanischen und asiatischen Ländern einen antikolonialen Aspekt. Diese Dimension des iranischen Nationalismus lässt sich insbesondere in den Bemühungen des iranischen Premierministers Mohammad Mosaddeq (1882-1967) um die Verstaatlichung der iranischen Ölindustrie be-

50 Ein Paradebeispiel für derartige Argumentationen stellt das zweibändige und vor der Islamischen Revolution erschienene Werk KhadamÁt-e motaqÁbel-e eslÁm va irÁn („Die gegenseitigen Dienste von Iran und Islam“) dar. Der Autor des Buches ist der bekannte und insbesondere um die Revolutionszeit populär gewordene Ayatollah MortazÁ Motahhari (1920-1979). 51 Steinbach (2007): S. 3.

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obachten. Mosaddeq, der aus einer aristokratischen Familie stammte und in der ersten Phase seiner politischen Laufbahn sich mehr als einmal gegen Beschlüsse des durch die Konstitutionelle Revolution eingesetzten Parlaments stellte,52 wurde 1951 mit der Unterstützung einer mehrheitlich nationalistischen Allianz zum Premierminister gewählt. Die iranische Ölindustrie wurde von der Anglo-Iranian Oil Company (AIOC) kontrolliert. Dabei bekam die britische Seite 80 Prozent der Gewinne und die iranische Seite nur 20 Prozent. Nach seiner Wahl als Premierminister strebte Mosaddeq eine Gewinnbeteiligung der iranischen Seite auf 50 Prozent an. Die Briten setzten alle Mittel ein, um ein iranisches Einlenken zu erzwingen. So beantragten sie ein Schiedsverfahrens vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und verhängten eine Seeblockade des Persischen Golfs mit Kriegsschiffen. Durch letztere Maßnahme sollte aufgrund von Einbußen beim Ölgeschäft das Land in eine wirtschaftliche Krise stürzen. Schließlich schalteten sich die USA in das politische Geschehen ein und führten mit Unterstützung der Anhänger des unter Mosaddeq mit wenig Macht ausgestatteten Mohammd Reza Schahs einen Putsch gegen den demokratisch gewählten Premierminister des Landes. Die Entmachtung von Mosaddeq erfolgte am 19. August 1953 durch die „Operation Ajax“, während man bereits seit Monaten die Regierung von Mosaddeq durch die noch andauernde Wirtschaftskrise, die damit einhergehenden sozialen Unruhen, die Zersplitterung seiner Anhängerschaft und schließlich die blutig ausgetragenen Straßenschlachten unter massiven Druck gesetzt hatte. Mosaddeq hat seine politischen Ziele nicht erreichen können, seine Ära blieb aber im iranischen Kollektivgedächtnis – unter anderem auch bei den religiösen Intellektuellen – als eine zwar gescheiterte, aber wichtige Widerstandszeit gegen neokoloniale Bestrebungen, an die man immer wieder anknüpfen könne und müsse. Auch in der Ära der Islamischen Republik, in der die Islamität alle anderen Diskurse überschattet hat, scheint der iranische Nationalismus kaum an Einfluss eingebüßt zu haben, was beispielsweise daran abzulesen ist, dass alle anderen – sogar islamischen – religiösen Formen oder die sprachliche Vielfalt des Landes ignoriert und die schiitische Tradition sowie die

52 Vgl. Shamshiri, Mehdi (2011): Zendegi nÁme-ye Mohammad Mossadeq. Az tavallod tÁ pÁyÁn-e tahsilÁt va akhz-e tÁbeÝiyat-e suÞis. lulu.com (12.02.2014), S. 120.

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persische Sprache als einzig nationale Identitätsmerkmale der IranerInnen hochgehalten werden. Wie stark im heutigen Iran neben der Schia auf die persische Sprache als ein wichtiges nationales Merkmal fokussiert wird, zeigt ein aktueller Fall. Anfang 2014 wurde ein TV-Mitarbeiter seines Jobs enthoben, weil er zum wiederholten Mal den Begriff SMS anstelle des neu erschaffenen persischen Worts payÁmak verwendete. Der politisch einflussreiche Leiter der „Akademie der persischen Sprache und Literatur“ (farhangestÁn-e zabÁn va adab-e fÁrsi),53 GholÁm ÝAli HaddÁd ÝÀdel, begrüßte die Vorgehensweise der TV-Leitung und stellte in diesem Zusammenhang fest: „Islam ist eine wichtige Größe unserer nationalen Identität. Wir besitzen aber neben dem Islam auch eine weitere Identitätsgröße. Und dabei handelt es sich um die alte persische Sprache und Literatur.“54

Mit Islam meinte er freilich – wie in der iranischen Rhetorik üblich – die Schia. Diese nationalistische Haltung kennzeichnet deutlich auch die Werke der unterschiedlichen hier vorgestellten iranischen DenkerInnen.

Schia Was genau das Iranische ausmacht, wird von Zeit zu Zeit und je nach politischer Lage unterschiedlich verstanden. Für die religiös motivierten Akteure stellt die Zwölferschia ein wichtiges Merkmal ihrer nationalen Identität dar. Nach dem Tod des Propheten im Jahr 632 kam es unter seinen engsten Weggefährten zu Auseinandersetzungen um die politische Frage, wer die muslimische Gemeinde führen sollte. Während sich eine Mehrheit für Abu

53 Die farhangestÁn-e zabÁn va adab-e fÁrsi ist die Nachfolgeorganisation der farhangestÁn, welche der Wissenschaftler und Politiker Mohammad ÝAli Foroughi (1877-1942) gegründet hatte. Er sah die Aufgabe der „Akademie der Sprache“ darin, „den kulturellen und zivilen Nationalismus“ zu kultivieren. Ansari, Ali M. (2012): S. 100. Mehr zur farhangestÁn und ihrer Rolle beim Konstituieren der iranischen Nationalismus vgl. ebd.: S. 97-109. 54 http://www.bbc.co.uk/persian/arts/2014/01/140109_l41_language_book_hadad. shtml (12.02.2014).

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Bakr, einen der ersten MuslimInnen und den Schwiegervater des Propheten, als seinen Nachfolger aussprach, sah eine Minderheit ÝAli, den Vetter und Schwiegersohn des Propheten, als seinen legitimen Nachfolger an. Die letztere Gruppe scheiterte mit ihrer Forderung und ging als „AnhängerInnen“ (shiÝa) ÝAlis in die Geschichte ein. Die Spaltung nahm später nicht nur kriegerische, sondern auch theologische bzw. rituell-rechtliche Züge an. Die Schiiten gabelten sich im Laufe der Zeit in unterschiedliche Richtungen. Eine der wichtigsten Prägungen, die heute auch die Majorität unter den Schiiten bildet und die Staatskonfession Irans darstellt, ist die Zwölferschia. Ihr liegt insbesondere die Überzeugung zugrunde, dass nach dem Tod des Propheten die muslimische Gemeinde von zwölf aufeinanderfolgenden Imamen geleitet wird, und zwar sowohl in religiöser als auch politischer Hinsicht. Der zwölfte und damit letzte Imam lebt nun seit über tausend Jahren in der „großen Verborgenheit“ (ghaibat-e kobrÁ) und wird dem Glauben nach einst zurückkehren, um die Welt mit Gerechtigkeit zu erfüllen.55 Auch schon vor der Gründung der Safawidendynastie im Jahre 1501 gab es freilich viele iranische Schiiten. Die große Mehrheit der Schiiten lebte allerdings nicht auf dem Gebiet des heutigen Iran und die Mehrheit der Einwohner Irans war sunnitisch geprägt. Vor diesem Datum lagen die Herrschaftsgebiete der schiitischen Dynastien zumeist außerhalb dieses Gebietes. Die in dieser Region herrschenden Dynastien waren mit Ausnahme der Dynastie der Buyiden (945-1055) ausschließlich sunnitisch geprägt.56 Als eine einende Konfession des Landes hat sich die Zwölferschia erst im 16. Jahrhundert durch die turkstämmige safawidische Dynastie (1501– 1722) etabliert. Auf diese Epoche und die mit ihr einhergehenden sozialpolitischen und religiösen Strukturen/Institutionen ist auch das heutige islamische Staatswesen zurückzuführen. Um den Schiitisierungsprozess stärker voranzutreiben, ließen die Safawiden sogar viele ÝolamÁÞ aus den schiitischen Hochburgen beispielsweise von der arabischen Golfküste und aus dem heutigen Südlibanon in die iranischen Gebiete kommen.57 Den schiitischen Safawiden gelang durch Anwendung von Gewalt, Verfolgungspolitik sowie gezielte Missionierung, die sprachlich, religiös und kulturell hetero-

55 Detailliert zur Schia vgl. Halm, Heinz (1988): Die Schia. Darmstadt. 56 Keddie (2003): S. 8. 57 Vgl. Halm (1988): S. 111f.

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genen Völker des Raumes des heutigen Iran unter eine Herrschaftsformation zusammenzubringen. Dieser historische Umstand gilt manchen ForscherInnen als die Grundsteinlegung für ein persisches „Nationalbewusstsein“58, welches die iranischen Diskurse und Selbstbilder bis in die heutige Zeit nachhaltig geprägt hat. Mit der Schiitisierungspolitik wollten die Safawiden für die unter ihrer Herrschaft lebenden Menschen eine eigene Identität konstruieren, und sich damit von den Nachbarstaaten, mit denen sie in Konflikt standen, abgrenzen. Im Westen waren sie in eine lang andauernde kriegerische Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich verwickelt. Im Osten führten sie Krieg gegen die rebellierenden Stämme auf dem heutigen Gebiet Afghanistans und gegen die indischen Großmoguln. Im Nordosten standen sie im Konflikt mit den Usbeken der Dschaniden-Dynastie.59 Die Auseinandersetzungen mit den sunnitisch geprägten Nachbarstaaten erforderten die Stärkung eines vereinheitlichenden Bewusstseins durch flächendeckende Schiitisierung der beherrschten Gebiete, sicher nicht zuletzt um sie kontrollieren zu können. Insofern ist die Schia in Iran nicht eine bloße religiöse Überzeugung; sie ist gleichzeitig ein wichtiger Bestandteil des nationalen Bewusstseins des Landes. Die „Gelehrten“ (ÝolamÁÞ) spielen in Iran bis in die heutige Zeit unter anderem deswegen eine wichtige gesellschaftliche Rolle, weil sie sich bewusst stets als Wahrer allgemeiner/nationaler Interessen des Landes in Szene setzen können. Auch Heinz Halm argumentiert in diese Richtung und stellt über den Einfluss der ÝolamÁÞ und ihre „nationale“ Rolle im 19. Jahrhundert folgendes fest: „Der gesellschaftliche Einfluß der iranischen MollÁs im 19. Jahrhundert war in erster Linie durch die Doppelrolle bedingt, die sie – durchaus auch in eigenen Interessen – übernahmen: sie traten einerseits auf als Wahrer der Interessen der Bevölkerung gegenüber dem fremdstämmigen (turkmenischen) Herrscherhaus der Qadscharen, und sie verstanden sich andererseits als Wahrer der iranischen Interessen gegenüber den zunehmenden, vor allem wirtschaftlichen europäischen Einflüssen.

58 So W. Hinz, zitiert nach Halm (1988): S. 103. 59 Vgl. Keddie (2003): S. 10-11.

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Diese populäre, ‚nationale‘ Rolle spielen sie noch heute, und ohne diese Komponente ihres Wirkens müßte die Revolution von 1979 unverständlich bleiben.“60

Daher nehmen die ÝolamÁÞ auch in der antikolonialen Theoriebildung von Àl-e Ahmd und ShariÝati, die vor der Islamischen Revolution wirkten, einen prominenten Platz ein. Die nachrevolutionären Akteure Sorush und MalekyÁn stehen zwar in Opposition zu den herrschenden Gelehrten, sie pflegen aber auch eine starke religiös/schiitisch gefärbte Haltung/Sprache. Das schiitische Denken weist bestimmte Elemente auf, die nicht unbedingt auf dem heutigen Gebiet Irans und nach der Etablierung der Schia dort als „Nationalkonfession“ entwickelt worden sind.61 Sie haben jedoch die iranische Schia politisch wie intellektuell nachhaltig geprägt. Ein zentrales Element der schiitischen Geistesgeschichte stellt der rechtstheoretische Begriff EjtehÁd dar. Der Begriff hat seine Wurzeln in der sunnitischen Rechtsmethodik und bekräftigt die Möglichkeit, dass ein qualifizierter Gelehrter im Stande ist, kraft eigenständig entwickelter Rechtsfindungsmethoden religiöse und rechtliche Normen zu bestimmen. Die Quintessenz der EjtehÁd-Idee besteht darin, dass kein Gelehrter den Anspruch auf die absolute Wahrheit erheben kann. Damit ist auch der Weg für religiöse Erneuerungen offen. Bei den Sunniten hat man diese Möglichkeit bis Ende des 9. und Anfang des 10. Jahrhunderts ausgiebig wahrgenommen. Danach hatte man in der Tat nur eingeschränkt den EjtehÁd praktiziert, sich mehr und mehr mit der Interpretation vorangehender Gelehrtenmeinungen beschäftigt und aufgrund der Autorität früherer Entscheidungen kaum gewagt, neue methodische und theoretische Ansätze und damit völlig neue Normenverständnisse zu entwickeln. Die Schiiten jedoch hielten weiter am Begriff EjtehÁd fest und sorgten mit Hilfe dieses Rechtsfindungsinstruments immer wieder für dynamische Momente in den theologischen und politischen Diskursen.62 Ohne das Verständnis des EjtehÁd und anderer spezifisch schiitisch geformter Institutionen wie der emÁmat („Führung der Gemeinde“),

60 Halm, Heinz (2005): Die Schiiten. München, S. 86. 61 Keddie (2003): S. 9. 62 Eingehend zu dem Begriff EjtehÁd und seinen diversen Prägungen vgl. Poya, Abbas (2003): Anerkennung des I÷tihÁd – Legitimation der Toleranz. Möglichkeiten innerer und äußerer Toleranz im Islam am Beispiel der IÊtihÁdDiskussion. Berlin.

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khoms („Ein-fünftel“, Steuerabgabe an Gelehrte), marjaÝeyyat („Gelehrter als Instanz der Nachahmung“) kann auch das ambivalente und komplexe Gefüge zwischen Geschichte, Politik und Religion in der Schia kaum erfasst werden. 63 Wie wir später sehen werden, spielt der Begriff EjtehÁd bei den heutigen iranisch-muslimischen Intellektuellen eine zentrale Rolle. Mit Bezug auf den dem Islam inhärenten Begriff EjtehÁd können die iranischen Intellektuellen ihre politischen Ansätze, die über die rituell-rechtlichen Themen hinausgehen und die grundlegende Fragen wie die nach individuellen Freiheiten umfassen, begründen. Auch die sunnitisch geprägten Intellektuellen arbeiten oft mit dem Begriff EjtehÁd. Der Argumentationsgang bei muslimischen Intellektuellen sunnitischer Prägung erweist sich jedoch viel schwieriger, da hier zunächst überhaupt gegen die „Schließung des Tors des EjtehÁd“64 argumentiert werden muss, bevor man eine inhaltliche Debatte zur Neuformierung einzelner Normverständnisse anstoßen kann. Zusammenfassend ist in Bezug auf die moderne Geschichte Irans und speziell im Zusammenhang mit den religiös motivierten Diskursen in Iran festzuhalten, dass sie zwar von den allgemein in der islamischen Welt geführten Debatten über (Pan-)Islamismus, Reformismus und Antikolonialismus geprägt, aber zugleich auch stark von den parallel laufenden Strömungen des Marxismus, Nationalismus und Schiismus beeinflusst sind.65 Dies zeigt einerseits den hybriden Charakter islamisch-intellektueller Diskurse und andererseits ihre spezifisch iranische Ausprägung auf.

63 Vgl. Halm (1988): S. 34ff., 136ff.; Halm (2005): S. 82ff. 64 Zur Frage, ob und ab wann das Tor des EjtehÁd geschlossen sei, vgl. Hallaq, Wael (1984): Was the Gate of Ijtihad closed? In: International Journal of Middle East Studies, 16/1. Cambridge, S. 3-41. 65 Auf diese Verquickung von Marxismus, Nationalismus und Islamismus (Schiismus) in der modernen Geschichte Irans verweist auch Ansari (2012): S. 294295.

JalÁl Àl-e Ahmad und der Diskurs gharbzadegi 1

JalÁl Àl-e Ahmad2 wurde im Dezember 1923 in eine Theologenfamilie in Teheran hineingeboren. Er sollte, so der Wunsch des Vaters, eine geistliche Laufbahn einschlagen. Àl-e Ahmad hatte allerdings eigene Ideen und interessierte sich beruflich sowie politisch für Dinge, die den Vorstellungen der Familie und insbesondere des Vaters kaum entfernter hätten sein können.

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Das vorliegende Kapitel ist die aktualisierte, inhaltlich überarbeitete und methodisch gänzlich modifizierte Version eines Teils meines folgenden Artikels: „Fremdund Selbstbilder im Gegendiskurs. Überlegungen zum Begriff ‚Gharbzadegi‘ bei Fardid (1910/12-1994) und Àl-e Ahmad (1923-1969)“. In: Jokisch, Benjamin [u.a.] (Hrsg.) (2009): Fremde, Freunde und Kurioses. Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn. Berlin; New York, S. 453-476.

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Zu Àl-e Ahmad als einem kritischen Denker und Schriftsteller liegen – sowohl in der westlichen als auch in der iranischen Forschung – zahlreiche Analysen vor. Hier sei nur auf einige wesentliche verwiesen: Hillmann, Michael C. (Hrsg.) (1982): Iranian society. An anthology of writings by Jalal Al-e Ahmad. Mazda (1982); Hanson, Brad (1983): „The ‚Westoxication‘ of Iran. Depictions and Reactions of Behrangi, Al-e Ahmed, and ShariÝati“. In: International Journal of Middle East Studies 15(1983): p. 1-23.; Dabashi, Hamid (1993): Theology of Discontent. The Ideological Foundations of the Islamic Revolution in Iran. New York, S. 39-101; Mirsepassi, Ali (2000): Intellectual Discourse and the Politics of Modernization. Negotiating Modernity in Iran. Cambridge, S. 97-114; Sarkhosh, Soussa (2000): „Verwestlichung versus Modernisierung. Gegenwärtige Diskurse in Iran“. In: Best, Günter & Kößler, Reinhart (Hrsg.): Subjekte und Systeme. Soziologische und anthropologische Annäherungen. Festschrift für Christian Sigrist zum 65. Geburtstag. Frankfurt a.M., S. 249-257; Boroujerdi

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Zwei Monate vor Àl-e Ahmads Geburt kam Reza Khan (später Reza Schah), einstiger Kriegs- und Premierminister, durch einen Putsch an die Macht. Zunächst wurde dieser durch die Geistlichen Irans unterstützt. Auf diese Weise gelang es ihm, sich die Sympathie der Bevölkerungsmehrheit zu sichern. In den ersten Jahren nach der Machtübernahme durch Reza Schah genossen die Geistlichen noch ein gewisses Maß an staatlichen Zuwendungen. Jedoch änderte sich Reza Schahs Regierungsstil bald und er ordnete mit einer Reihe von Reformen eine Art Säkularisierung nach dem Vorbild der Türkei an. Zu den spektakulärsten und konfliktschürendsten Maßnahmen gehörten das Verbot der Moharram-Zeremonien, das Schleierverbot für Frauen in der Öffentlichkeit und das Verbot des Tragens des Turbans mit einigen Ausnahmen für die Geistlichen. Die ab 1927 erlassenen Gesetze beinhalteten nicht nur Einschränkungen, sondern auch Pflichten – beispielsweise die Wehrpflicht – für die ÝolamÁÞ, von denen diese ursprünglich befreit waren.3 Wenn man bedenkt, dass derartige Maßnahmen nicht nur die religiösen Gefühle einer Familie wie der von Àl-e Ahmad tief verletzten, sondern auch ihre Einnahmen massiv beschränkten,4 ist leicht zu

(2001): S. 65-76; Pistor-Hatam, Anja (2003): „Islamisches Erbe und westlicher Einfluss. Der Literat JalÁl Àl-e Ahmad (1923-69) zur Kultur in Iran“. In: Periplus. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte 13, S. 84-98; Lenze (2008); Dastgheyb, ÝAbdol-ÝAli (1992): Naqd-e ÁthÁre JalÁl-e Àl-e Ahmad. Teheran; HÁshemi, Mohammad Mansur (2004): Hoveyyat-andishÁn va mirÁ×-e fekri-ye Ahmad Fardid. Teheran, S. 147-171. Den meisten biographischen Angaben zu Àl-e Ahmad in der Sekundärliteratur liegt die folgende elfseitige Selbstbeschreibung vor: Àl-e Ahmad, JalÁl (1997): „Mathalan sharh-e ahvÁlÁt“. In: Ders. Yek chÁh va du chÁle va mathalan sharh-e ahvÁlÁt Teheran, S. 69-80. Hier wird mit Bezug auf diese Quelle auch die Sekundärliteratur herangezogen. 3

Vgl. Lenze (2008): S. 17-18.

4

Zum Beispiel stellt die alljährliche Moharram-Zeremonie nicht nur einen tief verwurzelten schiitischen Kult dar; sie ist für viele Geistliche zudem eine gute Einnahmequelle. Indem sie an derartigen Zeremonien Predigten halten, erhalten sie von den TeilnehmerInnen ein nicht unbeachtliches Honorar. Durch die neuen Anordnungen Reza Schahs verloren die Geistlichen diese Einnahmequelle. Darüber hinaus wurde durch die Justizreform und die Einführung öffentlicher Notare die Beurkundung allgemeiner Verträge sowie von Eheverträgen dem Klerus genommen.

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rekonstruieren, dass schon früh Widerstand gegen die Monarchie und deren UnterstützerInnen und Vorbilder, allen voran „den Westen“, bei Àl-e Ahmad aufkeimte. Nach Abschluss der Grundschule wurde Àl-e Ahmad von seinem Vater auf den Basar geschickt, um die knappe Familienkasse aufzubessern. Gleichzeitig wurde ihm eine geistliche Ausbildung an der traditionsreichen Madrese-ye Marwi zuteil. Ein erstes offensichtliches Zeichen des Widerstands gegen den strengen Vater ist Àl-e Ahmads Entscheidung, parallel zu den vom Vater angeordneten Tätigkeiten zusätzlich die nach dem europäischen Muster gegründete Schule DÁr-o-l-Fonun zu besuchen, ohne die Erlaubnis seines Vaters einzuholen. Hier hatte er wohl auch seinen ersten Kontakt mit den ÝolamÁÞ-kritischen Schriften und Ideen Kasravis (18901946).5 Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erklärte Iran seine Neutralität. Besonders in der Kriegszeit bekamen die Erdölvorkommen des Landes eine strategisch wichtige Bedeutung. Deutschland war kurz vor dem Beginn des Kriegs Irans größter Handelspartner. Insbesondere im Verkehrs- und Wirtschaftsbereich bestand eine rege Zusammenarbeit mit Deutschland. Über 2000 deutsche Berater waren in der Zeit in Iran tätig. Auch die nationalsozialistische Ideologie Deutschlands schien Reza Schah zu interessieren. Hierbei standen nicht der deutsche Rassenwahn und der Antisemitismus im Vordergrund. Er sah in einer nationalistischen Ideologie vielmehr eine Möglichkeit, den Kommunismus zu bekämpfen. Nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 planten die Alliierten eine Nachschublinie, den sogenannten Persischen Korridor durch den Iran. Großbritannien forderte vom Iran, alle deutschen Staatsangehörigen auszuweisen. Iran lehnte die Forderung aufgrund der erklärten Neutralität ab. Daraufhin marschierten Großbritannien und die Sowjetunion am 25. August 1941 in das Land ein. Durch einen politischen Winkelzug gelang es Reza Schah, seinen Sohn Mohammad Reza als neuen Staatschef einzusetzen, bevor er nach Südafrika ins Exil ging.6 Um sich abzusichern, musste der junge und unerfahrene Mohammad Reza Pahlavi Zugeständnisse an die hungernde Bevölkerung und insbesondere die ÝolamÁÞ machen. Die Passionsspiele im Monat Moharram wurden wie-

5

Dabashi (1993): S. 45-46.

6

Lenze (2008): S. 19.

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der erlaubt, das Schleierverbot wurde aufgehoben und das Partei- und Zeitungsverbot außer Kraft gesetzt. So kam es, dass die kommunistische TudehPartei, als eine der ersten Parteien, am 2. Oktober 1941 gegründet wurde.7 1943 schloss Àl-e Ahmad seine schulische Ausbildung am DÁr-o-lFonun ab und schrieb sich für das Fach Persische Literatur an der Universität von Teheran ein. Sein Vater stimmte dem jedoch nicht zu und schickte ihn zu seinem Bruder nach Najaf in den Irak, da er dort ein geistliches Studium beginnen sollte. Nach einem dreimonatigen Aufenthalt dort beschloss Àl-e Ahmad aber, über mehrere Umwege zurück nach Teheran zu reisen. Nach seiner Rückkehr schrieb sich Àl-e Ahmad erneut an der Universität von Teheran ein. Mehr als der Lehrinhalt interessierten ihn die politischen und sozialen Aktivitäten an der Universität und in den akademischen Kreisen, so dass er unterschiedliche Vereine und Organisationen besuchte und kennenlernte. Mit einigen Freunden gründete er bald selbst den „Reformverein“ (anjoman-e eslÁh). Durch seine Aktivitäten im anjoman-e eslÁh kam er mit der kommunistischen Tudeh-Partei in Kontakt. Sein Interesse war geweckt und er begann, sich mit marxistischen Texten und Theorien zu beschäftigen. Ein Jahr später trat er der Tudeh-Partei bei. Nach einem schnellen Aufstieg in der Parteihierarchie wurde er 1945 in die wichtige Industriestadt ÀbÁdÁn entsandt um die dortigen ArbeiterInnen zu organisieren.8 Auch als politisch aktiver Mensch hatte sich Àl-e Ahmad für die Literatur interessiert. Die Bekanntschaft mit SÁdeq HedÁyat und NimÁ Yushij, den zwei wichtigsten Literaten seiner Zeit, prägte ihn besonders. SÁdeq HedÁyat, der als Gründungsvater der modernen iranischen Fiktion bezeichnet wird, hat in Àl-e Ahmads Schreib- und Denkstill deutliche Spuren hinterlassen. Und mit NimÁ Yushij, der als Gründungsvater der modernen iranischen Poesie gilt, verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Àl-e Ahmads erste Erzählungen erschienen noch in seiner Studentenzeit in der Zeitschrift Sokhan, die von SÁdeq HedÁyat mitherausgegeben wurde. Die Motive seiner Erzählungen waren zumeist das Alltags-, Bauern-, und Dorfleben. Und überall spielen das Religiöse und die Folklore eine ent-

7

Zur Geschichte der Partei vgl.: http://www.iranchamber.com/history/tudeh/tu deh_party01.php (01.03.2014) und die offizielle Internetseite der Partei: http:// www.tudehpartyiran.org/detuch_geschichte.htm (21.08.2011).

8

Dabashi (1993): S. 47.

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scheidende Rolle, so auch in seiner ersten Kurzgeschichte ZeyÁrat („Pilgerfahrt“), eine gesellschaftskritische Erzählung mit volksreligiösen Motiven.9 1946 schloss er sein Studium an der Universität von Teheran ab. Eine Fortsetzung der Ausbildung in Form einer Promotion strebte er nicht an; eine Entscheidung, über die er sich später zufrieden äußert. Mit dem Studium an der Universität, dem Abbruch der religiösen Ausbildung und dann der Mitgliedschaft in der kommunistischen Tudeh-Partei wurde die Beziehung zu seinem Vater nachhaltig zerstört, insbesondere als er entgegen dem Wunsch seines Vaters Lehrer wurde. Die Differenzen erschienen zu groß und schließlich unüberwindbar. Àl-e Ahmad litt augenscheinlich darunter und schrieb nicht ohne Bedauern, dass er sich erst wieder am Sterbebett seines Vaters mit ihm versöhnte.10 Im selben Jahr lernte er Khalil-e Maleki kennen, seinen, wie er selbst sagte, geistigen Ziehvater. Maleki war ebenfalls Mitglied der Tudeh-Partei und ein parteiinterner Kritiker und Idealist. Beide opponierten gegen den Führungsstil und die direkte Einflussnahme durch die Moskauer KPdSU. Diese Haltung barg einigen Zündstoff, welcher sich 1948 bei der Spaltung der Tudeh-Partei entlud. Maleki, Àl-e Ahmad und ihre AnhängerInnen traten gemeinsam aus der Partei aus. 1950 war ein bedeutendes Jahr für Àl-e Ahmad. In diesem Jahr heiratete er Simin DÁneshvar, eine Schriftstellerin und Dozentin für Ästhetik, die Anfang 2012 in Teheran verstarb. Àl-e Ahmads Beziehung zu DÁneshvar schienen durch viel Fürsorge, Humor und Liebe gekennzeichnet gewesen zu sein, welchen DÁneshvar in dem Buch Ghorub-e jalÁl literarisch Ausdruck verlieh.11 Sie waren einander nicht nur in ihren schriftstellerischen Tätigkeiten und politischen Aktivitäten Inspirationsquellen. Àl-e Ahmad litt stark unter dem zerstörten Verhältnis zu seinem Vater und seiner Familie, die seine Ehe ablehnten, und erfuhr in seiner Beziehung zu DÁneshvar einen Ruhepol für sein Schaffen und Werden.12 Obwohl Àl-e Ahmad einige Zeit keinen parteipolitischen Aktivitäten nachging, konnte er sich noch nicht endgültig von der Politik verabschieden; er pflegte weiterhin eine intensive Beziehung zu Maleki. Mit Hilfe von

9

Àl-e Ahmad, JalÁl (1999): „ZeyÁrat“. In: Ders. Did-o-bÁzdid. Teheran, S. 38-53.

10 Dahbashi, ÝAli (Hrsg.) (1985): YÁdnÁme-ye jalÁl Al-e ahmad. Teheran, S. 384. 11 DÁneshvar, Simin (1981): Ghorub-e JalÁl. Teheran. 12 Vgl. ebd.: S. 15f.

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Mozaffar BaqÁyi, einem weiteren politischen Aktivisten und Zeitungsherausgeber, gründeten sie die „Partei der Werktätigen des iranischen Volks“ (hezb-e zahmatkeshÁn-e mellat-e irÁn). Ganz oben auf der politischen Agenda jener Tage stand die massive Ausbeutung iranischer Rohstoffe durch die Briten. Insbesondere Mohammad Mosaddeq griff mit seiner „Nationalen Front“ (jebhe-ye melli) das Thema auf und versuchte die Bevölkerung gegen diese Politik zu mobilisieren, mit dem Ziel, das iranische Erdöl zu verstaatlichen. Unter anderem durch die Unterstützung der Partei der Werktätigen des iranischen Volks schaffte es Mosaddeq 1951 zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden. Die Anglo-Iranian Oil-Company wurde verstaatlicht. Großbritannien war verständlicherweise gegen den neuen politischen Kurs und die entsprechenden wirtschaftlichen Entscheidungen in Iran, die seiner imperialen Politik massiv entgegen wirkten. 1953 kam es zu einem von Großbritannien und den USA geplanten Putsch. Mosaddeq und Maleki wurden festgenommen. Àl-e Ahmad wurde durch Repressionen mundtot gemacht. Er kehrte der politischen Aktivität nun endgültig den Rücken zu und wandte sich von diesem Zeitpunkt an seiner Arbeit als Lehrer, seinen Reisen und damit auch seinen Veröffentlichungen zu. 1961 erschien schließlich Gharbzadegi („Verwestlichung“). Schriftstellerisch war Àl-e Ahmad in verschiedenen Genres erfolgreich tätig: als Übersetzer, Journalist, Essayist sowie als Autor von Kurzgeschichten und Sachbüchern. Aber auch als Schriftsteller blieb er politisch. Dabei sah er sich verpflichtet, soziale Veränderungen zu erwirken. Bei seinen Übersetzungen13 fällt auf, dass er sich meist kürzere und politisch kritische Texte aussuchte. Seine Kurzgeschichten14 dienen der Darstellung so-

13 Zu den Autoren, die er übersetzt hat, gehören Albert Camus, Mother Jones, Jean Cocteau, W. H. Auden und Ernst Jünger. Hierzu siehe Àl-e Ahmad, JalÁl (1994): Adab va honar-e bigÁne (Fremde Literatur und Kunst). Teheran; Àl-e Ahmad, JalÁl (o.J.): ArzyÁbi-ye shetÁbzade (Hastige Analyse). Teheran; des Weiteren hat er das Buch Rhinocéros von Eugène Ionesco unter dem Titel Kargadan ins Persische übersetzt. 14 Seine Kurzgeschichten sind in verschiedenen Sammelwerken zusammengestellt wie Did-o-bÁzdid, Teheran 2003; Zan-e zeyÁdi, Teheran 2004; seine bekannteste Novelle ist Modir-e madrese, Teheran 2004.

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zialer und politischer Missstände. In seinen Sachbüchern15 beschäftigt er sich ausschließlich mit den politischen Aspekten seiner Themen und dies immer nach demselben Motto: Was erkenne ich als einen Missstand und wie kann er beseitigt werden? Er sah sich weder als Philosoph noch als Historiker, doch führte er philosophische Diskussionen und beschäftigte sich mit historischen Gegebenheiten. Ohne Zweifel ist Gharbzadegi sein bekanntestes und meist diskutiertes Buch, auf das sich auch die vorliegende Untersuchung konzentriert. Bereits im Alter von 46 Jahren starb Àl-e Ahmad 1969 in seiner Herkunftsstadt AsÁlem in der Provinz GilÁn eines plötzlichen Todes. Der frühe Tod von Àl-e Ahmad wurde zum Anlass für Spekulationen, ob er durch den Geheimdienst SÁvÁk des Schahs getötet wurde. Seine Ehefrau DÁneshvar hielt die Spekulationen jedoch für haltlos und sprach von einer durch übertriebenen Alkohol- und Zigarettenkonsum verursachten Embolie als Todesursache.16 Die Todesursache wie auch sein testamentarischer Wunsch, seinen Leichnam den Medizinstudenten zwecks anatomischer Untersuchung zur Verfügung zu stellen, zeigen einmal mehr, dass seine Haltung zur Religion viel stärker politisch-gesellschaftliche Beweggründe hatte als religiöse. Sein Wunsch, den man als Verstoß gegen das traditionelle SchariaVerständnis verstand, wurde aber nicht erfüllt. Er wurde in einer Moschee in Teheran begraben.

Religion als Identitätsgröße Diese Episoden aus Àl-e Ahmads Biographie sind für seine Haltung zur Religion und religiösen Themen bezeichnend. Alles hatte im Dienste der gesellschaftspolitischen Veränderungen zu stehen, auch die Religion. Er hat sich nicht um die religiösen Praktiken und Annahmen gekümmert, es sei

15 Neben vielen kleineren Artikeln sind vor allem zwei Bücher für sein Werk bedeutend: Das eine ist Gharbzadegi, Teheran 1964, welches diesem Kapitel zugrunde liegt, und das andere ist Dar khedmat va kheyÁnat-e rushanfekrÁn, Teheran 1978. 16 Vgl. Golshiri, Hushang (1997): JedÁl-e naqsh bÁ naqqÁsh dar ÁthÁr-e simin dÁneshvar. Tehran, S. 10.

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denn, sie hatten eine soziale/politische Botschaft, wie seine Entscheidung, auf die Pilgerfahrt nach Mekka zu gehen und danach einen Bericht über seine Pilgererfahrung zu schreiben.17 Auch wenn Àl-e Ahmad nicht als religiöser Erneuerer bezeichnet werden kann, stand er bestimmten religiösen Praktiken und Vorstellungen kritisch gegenüber. Nach eigenen Angaben hatte er einige Schriften verfasst, bei denen es um die Erneuerung religiöser Vorstellungen ging, diese jedoch zumeist nicht veröffentlicht. Nur eine religiös-kritische Abhandlung, die er aus dem Arabischen unter dem Titel ÝAzÁdÁrihÁ-ye nÁ-mashruÝ („Religiös unerlaubte Trauerzeremonien“) übersetzt hatte, lag in veröffentlichter Form vor. In dem Traktat wurden die schiitischen Trauerzeremonien kritisiert – eine Kritik, die auch von anderen Intellektuellen in Iran geteilt wurde. Alle Exemplare des Heftes waren innerhalb von zwei Tagen vergriffen. Nach anfänglicher Freude über die große Resonanz kam die Ernüchterung: Die religiösen BÁzÁris („Geschäftsleute“) sollen alles auf einmal gekauft und verbrannt haben.18 So war Àl-e Ahmad einerseits bestimmten religiösen Erscheinungen und Praktiken gegenüber kritisch gesinnt, andererseits haben ihn religiöse Vereine und Kreise oft angezogen. Während seines Studiums an der Fakultät für Literatur war er Mitglied in verschiedenen religiösen Vereinen. Auch bei der Bekämpfung „westlicher“ Einflüsse in der iranischen Gesellschaft räumt Àl-e Ahmad den ÝolamÁÞ eine zentrale Rolle ein und hebt hervor, dass die ÝolamÁÞ immer Widerstand gegen den Imperialismus geleistet und nie ein unterwürfiges und dem Kolonialismus dienendes Protokoll unterschrieben hätten. Ob er damit „zugleich eine Rückbesinnung auf islamische Werte, die bis dahin besonders bei Intellektuellen als Hindernis für den Fortschritt gelten“19, fordern wollte, kann nur im Sinne einer dichotomisierenden Analyse bejaht werden. Vor dem Hintergrund des kolonialen Kontextes

17 Der mehrmals aufgelegte und über weite Strecken emotional geschriebene Bericht wurde unter dem Titel Khasi dar miqÁt veröffentlicht. Insgesamt gibt es fünf Orte in der Nähe von Mekka, die als Weihestätten festgelegt sind. An diesen Orten treten die PilgerInnen auf ihrem Weg Richtung Mekka in den „Weihezustand“ (ihrÁm). 18 Àl-e Ahmad, JalÁl (1997): „Mathalan sharh-e ahvÁlÁt“. In: Ders. Yek chÁh va du chÁle va mathalan sharh-e ahvÁlÁt. Teheran, S. 72. 19 Lenze (2008): S. 120.

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seiner Zeit jedoch können seine Ausführungen bezüglich der historischgesellschaftlichen Rolle der ÝolamÁÞ vielmehr als das Öffnen eines diskursiven Raumes verstanden werden, in dem Religion/Islam in einer anderen Denk- und Analyseformation als in den herrschenden Epistemen betrachtet werden kann. Um die Infiltrierung der „eigenen“ Kultur durch „den Westen“ zu bekämpfen, versucht Àl-e Ahmad einerseits die Religion, wenn auch nicht genau definiert, als Dreh- und Angelpunkt kultureller und sozialer Identität darzustellen.20 Andererseits argumentiert er vehement dahingehend, dass die traditionellen ÝolamÁÞ und die Intellektuellen zusammenarbeiten müssen. „Nur im Zusammenschluss beider Gruppen, glaubt er, liege eine Möglichkeit, der ÇarbzadegÐ entgegen zu wirken“21. Nimmermüde betont Àl-e Ahmad dabei den Stellenwert der ÝolamÁÞ in einem antikolonialisischen Prozess: „Schiitische Geistliche sind wegen ihrer Verteidigung der Bräuche eine Art Widerstandskraft gegenüber dem Angriff des Kolonialismus, welcher der erste Schritt der kulturellen Plünderung jedes Gebiets ist. In dieser Hinsicht sind die Geistlichen ein Bollwerk gegen die gharbzadegi […]“.22

Àl-e Ahmad spricht den Geistlichen die Rolle der Oppositionsführer aus zwei Gründen zu: „Zum einen, weil die ÝolamÁÞ einen sehr großen Rückhalt in der Bevölkerung haben, zum anderen, weil sie wegen ihrer traditionellen und religiös-bestätigten Führungsrolle die Fähigkeit besitzen, die Opposition gegen das Pahlavi-Regime zu führen“23. Er fordert die Intellektuellen, die seiner Meinung nach zumeist „westlich“ orientiert sind, auf, nach eigenen „östlichen“ (sharqi) Werten zu suchen und unter der Leitung der Geistlichen den Kampf gegen gharbzadegi und das Schah-Regime zu führen.24 Dies ist bis heute eines der zentralen Anliegen der islamischen Führung

20 Vgl. Wells, Robert (1982): Jalal Al-e Ahmad. Writer and political activist. Edinburgh, S. 98. 21 Lenze (2008): S. 169. 22 Àl-e Ahmad, JalÁl (1978): Dar khedmat va kheyÁnat-e rushanfekrÁn. Teheran, S. 32-33; zitiert nach Lenze (2008): S. 170. 23 Lenze (2008): S. 171. 24 Ebd.

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Irans. Sie versucht unter dem Motto vahdat-e houze va dÁneshgÁh („Einigung von houze und Universität“), die geistige Führung des Klerus auch in den Universitäten zu etablieren, ein Versuch, der von vielen Intellektuellen massiv kritisiert wurde und bisher kaum realisiert werden konnte. Trotz dieser wesentlichen Rolle, die Àl-e Ahmad den Geistlichen zuschreibt, ist Religion nicht das zentrale Thema in seinen Werken. Er beschäftigt sich zwar in seinen Kurzgeschichten oder Reiseberichten mit religiösen Erscheinungen, setzt sich aber mit ihnen nicht aus philosophischen, theologischen oder religionswissenschaftlichen Perspektiven auseinander, wie es etwa ShariÝati oder Sorush machen. Vielmehr begreift er Religion als Phänomen alltäglicher, populärer Kultur. Das Thema, dem er sich hauptsächlich gewidmet hat und mit dem er auch heute assoziiert wird, ist gharbzadegi. In diesem Rahmen erwähnt er die Geistlichkeit als ein gesellschaftspolitisches und bürgernahes Faktum und damit als eine entscheidende intellektuelle Widerstandsgröße gegen den Imperialismus und Kolonialismus.

Gharbzadegi – eine Krankheit Wie Arnold Hottinger konstatiert, stellt der Begriff gharbzadegi („Verwestlichung“), „das wichtigste Thema der Geschichte der jüngsten zweihundert Jahre im Nahen Osten dar“25. Darunter wird zunächst im Allgemeinen „das Eindringen von Objekten, Techniken, Organisationsformen, Vorstellungen, Theorien, Wissenszweigen, die nicht aus der eigenen Kultur stammen“26, verstanden, wobei die historische Reflexion der mannigfaltigen Effekte des Kolonialismus in diesem geographischen Raum einen wichtigen Aspekt des Begriffs darstellt. Auch innerhalb der iranischen Intelligenzija rankt sich insbesondere in den letzten Jahrzehnten ein zentraler Diskurs um den Begriff gharbzadegi, der ebenfalls auf die materielle und geistige Beeinflussung durch den „Westen“ verweist. Hier umspannt der Begriff allerdings ambivalent ein Konglomerat an Kritiken der epistemologischen, politischen und ökonomischen Einflussnahme auf unterschiedlichste Lebensbereiche vor dem Hintergrund historisch bedingter vielschichtiger kolonialer bzw.

25 Hottinger, Arnold (1988): Die Araber vor ihrer Zukunft. Geschichte und Problematik der Verwestlichung. Zürich, S. 45. 26 Ebd.

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postkolonialer Strukturen. Verständlicherweise gibt es kein sinnverwandtes Wort für den Begriff gharbzadegi in den europäischen Sprachen. Es wurde aber immer wieder versucht, eine annähernd genaue Übersetzung des Begriffs vorzunehmen. Im Englischen wurde gharbzadegi verschieden übersetzt: „Westoxication“, „Weststruckness“, „Westomania“, „Westernitis“, „Westamination“ und „Blighted by the West“27, wobei die Wortschöpfung „Westoxication“ dem Sinn der gharbzadegi wahrscheinlich am nächsten steht. In Anbetracht der Ausführungen Àl-e Ahmads zu diesem Begriff, wie wir sie später diskutieren werden, gibt auch die deutsche Übersetzung von gharbzadegi als „Verwestlichung“ nicht das Phänomen, das Àl-e Ahmad mit dem Begriff verbindet, als Ganzes wieder. Im Folgenden wird daher der Ausdruck im Original verwendet. Gharbzadegi bezeichnet eine Haltung, die mit der angenommenen iranisch-islamischen Identität nicht in Einklang steht, sondern eher von westlich-fremden Kulturelementen geprägt ist, jedoch, und das ist dem deutschen Begriff Verwestlichung nicht wirklich abzulesen, historisch stark mit dem Kolonialismus und der europäischen Hegemonie zusammenhängt. Vor allem drückt der Begriff eine Fundamentalkritik an Werthaltungen aus, welche unhinterfragt, kontextunabhängig und ohne historische Reflexion der politischen Machtzusammenhänge, die vom „Westen“ (bzw. „Orient“) postulierten Werte und Politiken befürworten. Auf diese Weise wird „der Westen“ zum Maßstab und die hegemoniale Politik gerechtfertigt. Gleichzeitig werden damit implizit auch andere Wissensformationen und kulturelle Räume und Lebensarten abgewertet, statt dieser Machtkonstellation kritisch eine Alternative entgegen zu setzen. Somit fasst der Begriff in erster Linie eine Kritik an den iranischen Diskursen und den Denkmechanismen des Mainstream, und hat weniger „den Westen“ im Blick, sondern vielmehr die Suche nach alternativen Wegen in der Ökonomie wie der Epistemologie. Je nach Standpunkt wird daher die „eigene“ Identität bzw. Kultur unterschiedlich definiert und nuanciert. Die „eigene“ Kultur wird manchmal als nur iranisch, mal als nur islamisch und öfters als iranisch-islamisch bezeichnet. Dementsprechend gibt es unterschiedliche Auffassungen, welche alltäglichen Verhaltensweisen und intellektuellen Haltungen als unkritisch und politisch desolat, ergo „verwestlicht“ zu betrachten sind. In einem Punkt besteht jedoch Konsens unter den iranischen Intellektuellen, die sich

27 Vgl. Hanson, Brad (1983): S. 1, Anm. 1.

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mit diesem Thema beschäftigen: die „verwestlichte“ Haltung gilt als eine „krankmachende“ und „destruktive“ Haltung, in der die Ursache der seit Jahrzehnten herrschenden politischen, wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Missstände zu suchen sei. Das vor mittlerweile fünfzig Jahren erschienene Buch Gharbzadegi von JalÁl Àl-e Ahmad ist das wohl erste Werk, welches sich diesen Diskurs explizit zum Titel gemacht hat. Es wurde nicht nur in den damaligen intellektuellen Kreisen mit großem Interesse aufgenommen und diskutiert, sondern hat die kommenden Generationen und die politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nachhaltig geprägt. Inzwischen sind in Iran und in der Fachliteratur das Thema gharbzadegi und der Name Àl-e Ahmads nicht mehr voneinander zu trennen. Àl-e Ahmad verrät allerdings schon am Anfang des Buches, dass er den Titel von Ahmad Fardid entliehen hat.28 Der charismatische Philosophiedozent Fardid wird in der Tat übereinstimmend als Schöpfer des Begriffs gharbzadegi angesehen.29 Dabei wird jedoch nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Fardids Definition des Begriffs sich grundlegend von Àl-e Ahmads Verständnis unterscheidet.30 Schon zu Àl-e Ahmads Lebenszeit wurde konstatiert, dass Gharbzadegi kein historisch fundiertes oder theoretisch durchstrukturiertes Buch darstellt. Das war auch nicht Àl-e Ahmads Anliegen. Als Schriftsteller und politischer Aktivist versuchte er mit dem Buch vielmehr eine bestimmte politische Botschaft zum Ausdruck zu bringen und das öffentliche Interesse zu wecken. Er arbeitete dabei eklektisch und war darum bemüht, eine andere Lesart der Geschichte zu ermöglichen. Àl-e Ahmad selbst hat sich in einem Interview bezogen auf die Frage, ob es nicht möglich sei, dass einige

28 Vgl. Àl-e Ahmad (1964): S. 16. 29 Vgl. ebd.; NarÁqi, EhsÁn (1975): JÁmeÝe, jawÁnÁn, dÁneshgÁh. Diruz, emruz, fardÁ. Teheran, S. 317; Àshuri, DÁryush (2005): MÁ va moderneyyat. Osture-ye falsafe dar meyÁn-e mÁ. BÁzdidi az Ahmad-e Fardid va nazareyye-ye gharbzadegi. Teheran, S. 306; ein Indiz dafür, dass gharbzadegi eine ziemlich neue Wortschöpfung darstellt, ist die Tatsache, dass der Begriff in keinem der drei bekannten und vor der Islamischen Revolution verfassten Wörterbüchern, LoghatnÁme-ye dehkhodÁ, Farhange moÝin, Farhange Ýamid, aufgeführt wurde. 30 HÁshemi (2004): S. 148; Àshuri (2005): S. 306; diese Unterscheidung wird auch von Fardid explizit und von Àl-e Ahmad implizit bestätigt. Vgl. HÁshemi (2004): S. 16.

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der historischen Belege für seine These gar nichts mit den historischen Tatsachen zu tun haben, sondern seinem „Gutdünken“ (saliqe) entstammen, folgendermaßen geäußert: „Es ist möglich. Ich sehe mich in Gharbzadegi nicht als Historiker. Wie ich in der Malerei kein Experte bin, bin ich auch in der Geschichte kein Experte. […] Ich muss zu jedem Thema meine Auslegung (bardÁsht) haben. Und zwangsweise habe ich auch zur Geschichte meine Auslegung. Das Konzept, welches ich in Gharbzadegi von der zeitgenössischen Geschichte entworfen habe, ist meiner Meinung nach eine neue Auslegung […], die [noch] niemand vorgelegt hat. Ich habe Gegebenheiten beobachtet. Sie sind möglicherweise, wie Sie es ausgedrückt haben, mit den historischen Tatsachen nicht identisch“.31

Gerade diese Haltung, keine Geschichtswissenschaft zu betreiben und gleichzeitig bestimmte Annahmen als historische Tatsachen darzustellen, um dominante Objektivierungen von historischen Geschehnissen als solche in Frage zu stellen, und daraus politisch-programmatische Konsequenzen zu ziehen, macht allerdings die Diskussion über gharbzadegi noch schwieriger und die Auseinandersetzung mit Àl-e Ahmad umso notwendiger. In seiner politischen bzw. polemischen Art stellt er beispielsweise die bekannten Gründe für den technischen Fortschritt im „Westen“ wie die Renaissance, die „Entdeckung“ Amerikas, die Erfindung der Elektrizität und der Dampfmaschine etc. kategorisch in Frage, ohne seine Position mit etwas anderem zu belegen als mit der Feststellung, dass diese Zusammenhänge vom „Westen“ selbst konstruiert worden sind. Seine Darstellung der historischen Entwicklungen ähnelt einem Kippbild; er liest, so könnte man sagen, die Geschichte gegen den Strich: Als sich die christliche Welt im Mittelalter durch die islamische Welt massiv bedroht gefühlt habe, sei sie wachgerüttelt worden. Zu einer Zeit, in der die islamische Welt von Córdoba bis nach Zentralasien bedeutende Lehrzentren beherbergte, hätten die Christen die Kreuzzüge begonnen. In den Jahrhunderten des Kreuzrittertums sei die Grundlage für die Entlehnung von Erkenntnissen aus den islamischen Wissenschaften gelegt worden. So habe sich „der Westen“ einer fünf- bis sechshundertjährigen Tradition der Erkenntnisgewinnung bemächtigt und sei nach sieben bis acht Jahrhunderten über die Industrialisierung

31 Àl-e Ahmad (o.J.): S. 84.

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und Technologie eine Hegemonialmacht geworden.32 Und so kommt Àl-e Ahmad nach der oben kurz skizzierten Geschichtsinterpretation zu folgendem programmatischen (Be-)Schluss: „Wenn der christliche Westen aufgrund seiner Angst vor Vernichtung und Zerstörung durch die islamische Bedrohung plötzlich erwacht war, in Stellung ging, angriff und sich so rettete, ist es jetzt nicht an der Zeit, dass wir uns auch von der vernichtenden westlichen Macht bedroht fühlen, aufstehen, in Stellung gehen und angreifen?“33

Vor diesem Hintergrund scheint Dabashi Recht zu haben, wenn er über Àl-e Ahmad sagt: „Men of conviction like Àl-e Ahmad speak with their sentiments not their minds, act with their courage not their prudence, write with their anxieties not their deliberations, and lead with their hopes not with their strategies. The place their historical exigencies afford them can be assayed only in terms of the aspirations they invoke, the convictions they personify, the maledictions they ideologize, and ultimately the public and private miseries they so deeply resent. The ‚No‘ they ever so loudly deliver screams of the insidious tyranny that has robbed them of their public and private dignity. Speaking for generations of betrayed hopes and against the overwhelming indignities of his own time, Al-e Ahmad simply said ‚No‘“.34

Man hätte allerdings nur die Hälfte von Àl-e Ahmads Gedankenwelt berücksichtigt, wenn man ihn ausschließlich als einen Neinsager bezeichnen würde. Er hat zu den vorhandenen Missständen in Iran und weltweit Nein gesagt, aber er war als politischer Mensch immer – wie auch hier zu zeigen sein wird – darum bemüht, alternative Lösungswege und Verbesserungskonzepte vorzuschlagen. Diese bipolare, dekonstruktivistische Denkweise ist auch bei seiner Auseinandersetzung mit dem Thema gharbzadegi zu beobachten. Das Buch Gharbzadegi wurde im Jahr 1961 zunächst als Bericht für den damaligen „Rat der Kulturziele Irans“ (shurÁ-ye hadaf-e farhang-e

32 Àl-e Ahmad (1964): S. 58ff. 33 Ebd.: S. 59-60. 34 Dabashi (1993): S. 40-41.

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irÁn) geschrieben. Der Beitrag, der alles andere als eine positive Bilanz der politisch-kulturellen Lage war, wurde in dem Sammelbericht des Rates nicht veröffentlicht. Ein Jahr später gab Àl-e Ahmad im Selbstverlag eine überarbeitete Fassung desselben heraus.35 Bald zählte das Buch Gharbzadegi zu den Standardwerken in den intellektuell-kritischen Kreisen in Iran und wurde bis heute mehrmals aufgelegt. Seit der Erscheinung des Buches hat sich die iranische Gesellschaft in vieler Hinsicht verändert. Die markanteste Zäsur ihrer jüngsten Geschichte stellt ohne Zweifel die Islamische Revolution (1978-1979) dar. Zu dieser haben auch der Diskurs gharbzadegi und damit das gleichnamige Buch von Àl-e Ahmad ihren Beitrag geleistet, obgleich die Islamische Republik insbesondere mit dem politischen System der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ (velÁyat-e faqih) kaum Àl-e Ahmads Wunschvorstellungen von einem Staat und von der iranischen Gesellschaft entsprechen dürfte. Nichtsdestotrotz hatte seine Schrift einen großen Einfluss auf die iranischen Intellektuellen und politisch-sozial engagierten Gelehrten. Sie formte eine Protestsprache, die von Schah-Gegnern aller politischen Richtungen benutzt wurde, und die einen starken Einfluss auf die Islamische Revolution hatte.36 Àl-e Ahmad bezeichnet gharbzadegi als eine „Krankheit“ (bimÁri) und beschreibt sie als eine „Choleraepidemie“ (vabÁzadegi), die von außerhalb komme und sich im günstigen Umfeld ausbreite.37 Die Entstehungsgeschichte des Buches, wie Àl-e Ahmad selbst berichtet, lässt allerdings vermuten, dass er diese Metaphern von Ernst Jünger übernommen hat. Als Àl-e Ahmad gerade dabei war, seinen vom Rat der Kulturziele Irans ignorierten Bericht zur selbständigen Veröffentlichung vorzubereiten, wurde er durch einen Kollegen, Mahmud Human, auf das Buch Über die Linie von Ernst Jünger aufmerksam. Human sei der Meinung gewesen, so berichtet Àl-e Ahmad, dass beide dieselbe Problematik, wenn auch aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, beschrieben.38 Jünger, der sich in seiner Abhandlung

35 Àl-e Ahmad (1964): S. 15-16; HÁshemi (2004): S. 148. 36 Vgl. Dabashi (1993): S. 41, 73-74. 37 Àl-e Ahmad (1964): S. 21. 38 Ebd.: S. 15; da Àl-e Ahmad kein Deutsch konnte, hatte er sich das Traktat Über die Linie von Human vortragen und übersetzen lassen und die übersetzte Lektüre selbst niedergeschrieben. Das gemeinsame Werk wurde dann unter dem Titel „ÝObur az khatt“ (Teheran 1967) veröffentlicht.

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mit dem Nihilismus auseinandersetzt, bedient sich oft solcher Metaphern und gelangt bei seinen Erörterungen unter anderem zu folgenden Ansichten: „Eine gute Definition des Nihilismus würde der Sichtbar-Machung des Krebserregers zu vergleichen sein“39, oder: „Primär kann nicht behauptet werden, dass der Nihilismus auf Krankheit beruhe, ja selbst auf Décadence, obwohl beide gewiss im Überflusse anzutreffen sind“.40 Mit Verweis auf die Tatsache, dass Àl-e Ahmad das Buch Über die Linie gelesen hatte als er an seinem Konzept gharbzadegi arbeitete, versuchen Ian Buruma und Avishai Margalit ihre These des Okzidentalismus zu bekräftigen. Sie gehen in ihrem gleichnamigen Buch davon aus, dass die verbreitete „antiwestliche Haltung“ in vielen nicht „westlichen“ Gesellschaften, die sie als „okzidentalistisch“ beschreiben, keine originäre und selbständig errungene Haltung darstelle, sondern ihre Wurzel in der „westlichen Kultur“ selbst habe, welche als ausmachbare und scheinbar (geschichts-)unabhängige Entität vorausgesetzt wird. Und so kommen sie anhand des einen Beispiels zu der pauschalen und orientalisierenden Feststellung: „Jünger hatte ähnlich wie einige andere deutsche Intellektuelle der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts starken Einfluss auf muslimische Kreise.“41

Ali Mirsepassi argumentiert aus einer anderen Perspektive, die eher eine Transformation ideengeschichtlicher Phänomene beschreibt. Er stellt zwar ein binäres Verständnis der intellektuellen Diskurse in Iran in Frage, bekräftigt jedoch, dass die „antiwestliche“ und „antimoderne“ Haltung in den islamisch geprägten Ländern ihre intellektuellen Wurzeln in europäischen philosophischen Theorien hat. In seinem 2010 erschienenen Buch Political Islam, Iran, and the Enlightenment: Philosophies of Hope and Despair hebt Mirsepassi besonders hervor, dass die Wurzeln des Phänomens des politischen Islam u.a. in Iran in den antimodernen philosophischen Ansätzen in Europa und insbesondere bei Heidegger zu suchen sind. Die antiliberale Bewegung im 20. Jahrhundert habe zweimal große Wellen geschlagen: zum

39 Jünger, Ernst (1950): Über die Linie. Frankfurt a.M., S. 11; die Hervorhebung ist von mir. 40 Ebd.: S. 17; die Hervorhebung ist von mir. 41 Buruma, Ian/Avishai Margalit (2004): Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde. München, S. 59.

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einen als die Philosophie Heideggers die antiaufklärerische Tradition von Maistre, Rivarol, Nietzsche, Kierkegaard und Jünger fortsetzte, faschistisches Gedankengut begünstigte und zum Zweiten Weltkrieg führte, und zum anderen als die intellektuellen AnhängerInnen Heideggers in Iran das Land mit der Islamischen Revolution überzogen. Mirsepassi zufolge schlug der existentialistische Diskurs Heideggers in Iran in eine islamischiranische Ideologie um, welche die aufklärerische Forderung der Bevölkerung nach politischen Freiheiten überrannte.42 Unabhängig davon, ob dem Saidschen Orientalismus, der einem übermächtigen und imperialen Diskurs entstammt, tatsächlich ein aus Ohnmacht entstandener Okzidentalismus, entgegen gestellt werden kann, ist es schwer nachweisbar, dass Àl-e Ahmad allein unter dem Einfluss von Jünger sich „dem Westen“ gegenüber kritisch positioniert hatte. Die binären Begriffe des Westens (gharb) und des Orients (sharq) stellen für Àl-e Ahmad zwei Metaphern dar. Geprägt von Dritte-Welt-Theorien versteht er „den Westen“ weder als eine geographische noch als eine einfache politische Größe, sondern als eine wirtschaftliche und technische Hegemonialmacht, die über den Rest der Welt bestimmt. Für Àl-e Ahmad steht die Bezeichnung Westen nicht nur für Europa und Nordamerika, sondern auch für andere Industriestaaten wie Russland und Japan.43 Mit

42 Vgl. Mirsepassi, Ali (2010): Political Islam, Iran, and the Enlightenment. Philosophies of Hope and Despair. Cambridge, S. 1-15. 43 In seinen Analysen hat der Begriff Westen eine ähnlich dekonstruktive Funktion wie der Ausdruck Weißsein in der Rassismusforschung. Weißsein als kritische Analysekategorie hat sich seit den 1980er Jahren als Paradigmenwechsel in der angloamerikanischen Rassismusforschung etabliert und wird auch seit 2005 in den deutschsprachigen Forschungen in diesem Zusammenhang diskutiert. Die Kategorie soll aber nicht als Beschreibung einer bestimmten Farbe oder eines bestimmten Phänotyps zugeordneter Menschengruppe verstanden werden; ganz im Gegenteil will das Konzept Weißsein rassistisch begründete Herrschaftsverhältnisse oder Dominanzkulturen analysieren und diskursiv und epistemologisch dekonstruieren. Zur Weißseinsforschung in den USA vgl. Delgado, Richard & Stefanovic, Jean (Hrsg.) (1997): Critical Whiteness Studies. Looking Behind the Mirror. Philadelphia; für Deutschland vgl. Eggers, Maureen Maisha [u.a.] (Hrsg.) (2005): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster.

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„Orient“ beschreibt er alle Gesellschaften, die selbst nichts produzieren könnten und die Konsumenten „des Westens“ darstellten und ergo „verwestlicht“ seien.44 Diesen Gedanken auf die Spitze treibend versteht er unter „Westen“ die in jeder Hinsicht gesättigten Länder und unter „Orient“ die hungernden Länder.45 Dabei geht es Àl-e Ahmad nicht um eine anti-westliche Argumentation im engeren Sinne, die sich ausschließlich gegen alles europäische und nordamerikanische richtet; er stellt sich vielmehr gegen jegliche wirtschaftliche und kulturelle Ausbeutung und Unterdrückung, ganz gleich welches Land oder welche Macht diese betreiben. Zusammenfassend stellt Àl-e Ahmad seine These gharbzadegi folgendermaßen dar: Die verwestlichte – und in diesem Fall die iranische – Gesellschaft sei nicht im Stande gewesen, ihre eigene kulturhistorische Identität zu bewahren und sich vor der Invasion einer übermächtigen westlichen Technik (er spricht immer von Maschinen, mÁshin) zu schützen, ja sie sei schlicht von ihr überrannt worden. Der einzige Weg, sich aus dieser Misere zu retten, sei es, so sein Vorschlag, die Technik selbst zu beherrschen, oder wie er es ausdrückt, selbst die Maschine zu bauen. Mit Bezug auf George Bernanos Buch La France contre les robots weist er gleichzeitig darauf hin, dass die Beherrschung der Technik die Gefahr mit sich bringe, wiederum von ihr beherrscht zu werden (mÁshinzadegi).46 Àl-e Ahmad ist zwar der Technisierung und Industrialisierung gegenüber skeptisch eingestellt und warnt vor ihren zerstörerischen Folgen, sieht aber keine Alternative. Sollte man sich gegen den Prozess der Industrialisierung bzw. der Technisierung stellen, würde man von ihm gewaltsam überrannt werden. Daher müsse man sie kontrollieren und sich nicht von ihr einnehmen lassen.47 Für Àl-e Ahmad beschränkt sich gharbzadegi jedoch nicht nur auf die Technik und das Materielle. Alle Phänomene, die im Leben, der Kultur und der Denkweise eines Sozius eine Rolle spielten, und die keine Bindung zur Vergangenheit und Geschichte der Gemeinschaft aufwiesen, seien fremde und „verwestlichte“ Erscheinungen.48 Àl-e Ahmad macht das Phänomen gharbzadegi an bestimmten Merkmalen fest, die eines sexistischen Zuges

44 Vgl. Àl-e Ahmad (1964): S. 21-22. 45 Ebd.: S. 22-23. 46 Ebd.: S. 28-29. 47 Ebd.: S. 117-119. 48 Ebd.: S. 34.

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nicht entbehren und teilweise den begrifflich-kulturellen Binarismus nicht überwinden können. Als gharbzade sieht er den Menschen an, der „in der Luft hänge“ (moÝallaq dar fazÁ), „charakterlos“ (asil nist), „opportunistisch“ (nÁn be nerkh-e ruz khur), „bequem“ (rÁhat talab), „ein Alles- und Nichtskönner“ (hame kÁre va hich kÁre), „feminisiert“ (zan-sefat), und „dem Westen ausgeliefert“ (chashm be dast va dahÁn-e gharb dÁrad) sei. Der gharbzade kenne sich in der politischen Szene „des Westens“ besser aus als in der „eigenen“; und wenn er etwas über seine eigene Geschichte und Kultur erfahren wolle, suche er es in den „westlichen“ und orientalistischen Untersuchungen.49 Es ist nicht zu übersehen, dass Àl-e Ahmad mit seinem gharbzadegiDiskurs insbesondere auf die Entlarvung einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe abzielt, nämlich auf die liberalen und Schah-treuen Intellektuellen. Diese Vermutung lässt sich dadurch bestätigen, dass Àl-e Ahmad in seinem anderen populären Sachbuch Dar khedmat va kheyÁnat-e roushanfekrÁn die „verräterischen“ regimetreuen Intellektuellen ähnlich charakterisiert.50

Ursprung der gharbzadegi Wenn man Àl-e Ahmads Text liest, entsteht der Eindruck, man rase in einem atemberaubend schnellen Fahrzeug durch unterschiedlichste Gegenden und Landschaften. Àl-e Ahmad will vieles sagen bzw. schreiben, will keine Zeit verlieren und seine geistigen Entdeckungen möglichst rasch an sein Publikum herantragen. Vielleicht war diese geistige Haltung auch der Grund für seinen von vielen geschätzten und eine ganze Generation von iranischen SchriftstellerInnen prägenden Schreibstil. Er formuliert kurz und bündig und oft nahe an der gesprochenen Sprache. In seinen Sätzen und oft auch Halbsätzen steht für ihn nicht die Beachtung der grammatikalischen Feinheiten und Regeln im Vordergrund, sondern die Kraft und Wirkung des Ausdrucks. Dieses Bestreben, möglichst schnell vieles zum Ausdruck zu bringen, führt ihn dann einerseits zu verallgemeinernden historischen und politischen Urteilen und andererseits zu einer widersprüchlichen und mit seinen eigenen Ansprüchen nicht kompatiblen Sprache.

49 Vgl. ebd.: S. 141-151. 50 Vgl. Àl-e Ahmad (1978): S. 44-46.

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Mit der Bezeichnung gharbzadegi will er einen Zustand beschreiben, der seit Jahrhunderten in der Beziehung zwischen „dem Orient“ bzw. Iran und „dem Westen“ bestehe – einen Zustand der Unterlegenheit „des Orients“, des Iran auf der einen Seite und der Überlegenheit „des Westens“ auf der anderen. Ausgehend von den globalen modernen politisch-wirtschaftlichen Umständen interpretiert Àl-e Ahmad die Welt als binäres und dichotomes Feld, in dem „der Westen“ die Kategorie der Hegemonialmacht repräsentiert und „der Orient“ und der Iran die Rolle der Kolonisierten einnehmen. Stellenweise verliert sich Àl-e Ahmads politische Kritik in verschwörungstheoretischen Vorstellungen, insbesondere dann, wenn er diesen Beziehungskomplex auf die aus der nationaliranischen Geschichtstradierung übernommenen Bedrohungsszenarien überträgt. Dabei wird das Bild des Westens mit den historischen Feindbildern nationaler iranischer Geschichtsnarrationen in eins gesetzt, weswegen Àl-e Ahmad bemüht ist, keine europäischen Geschichtsquellen zu zitieren. Nach seiner Auslegung wurde dieser asymmetrische Zustand bewusst und gezielt vom Westen herbeigeführt. In manchen seiner Äußerungen kommt eine gewisse „Eigenschuld“ an diesen Machtverhältnissen zum Ausdruck, die er aber nicht theoretisch ausführt. So sieht er „den Westen“ mit seinen kolonialen Machtbestrebungen nicht nur verantwortlich für die heutige Unterlegenheit „des Orients“. Er verfolgt die Spuren der westlich-europäischen Machtetablierung bis ins Mittelalter und darüber hinaus bis in die vorislamische Zeit zurück. Nach seinem Geschichtsverständnis habe man in Iran seit eh und je in Richtung des Westens geblickt.51 In der Nachfolgezeit Alexanders des Großen meint er auf die ersten Erscheinungen der gharbzadegi gestoßen zu sein.52 Als Ursache einer solchen zum Westen hin orientierten Lebenshaltung in dieser Region vermutet er die natürliche Flucht vor dem Mutterland Indien in die geographisch entgegengesetzte Richtung, die Flucht vor den aus dem Nordosten kommenden Angriffen nomadischer Gruppen oder aber die Sehnsucht nach dem feuchten Klima des Westens.53 Hinter den mongolischen Eroberungszügen vermutet er gar westlich-christliche Akteure. Er ist davon überzeugt, dass die blutigen und zerstörerischen Angriffswellen Timurs (1336-1405) von

51 Vgl. Àl-e Ahmad (1964): S. 39. 52 Vgl. ebd.: S. 46. 53 Vgl. ebd.: S. 40-50.

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den EuropäerInnen gewünscht und erwartet wurden. Zur Untermauerung seiner These zitiert er Ibn Khaldun.54 Ibn Khaldun (1332-1406) berichtet, so Àl-e Ahmad, von den Vorhersagen einiger bekannter Gelehrter seiner Zeit über die bevorstehenden Angriffe Timurs. So hätten der damalige Prediger Konstantinopels, Abu ÝAli BÁdis, und der jüdische Arzt des spanischen Königs Ben Alfonso Ibn Khaldun von dem baldigen Erscheinen Timurs in der Region berichtet. Die Tatsache, dass die eine Quelle ein Prediger aus Konstantinopel, einer erst kurz zuvor von den muslimischen Osmanen besiegten Stadt, ist, und dass die zweite Quelle der Arzt eines europäischen Königshofs war, weise, so Àl-e Ahmad, darauf hin, dass die EuropäerInnen den Angriff von Timurs Truppen schon geahnt und erwartet hätten.55 In diesem Stil sieht er bei allen politisch-gesellschaftlich bedeutenden Momenten in der islamischen Welt bzw. in Iran westliche Finger im Spiel: bei der Schiitisierung Irans in der Anfangsphase der Safawidenzeit, bei den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den safawidischen Herrschern und den Osmanen, bei der Entstehung der Bahai-Bewegung in der Qajaren-Zeit, bei der Niederlage des Osmanischen Reichs und schließlich bei der Konstitutionellen Revolution in Iran.56 In diese Weltanschauung passt auch seine Verurteilung der OrientalistInnen, und das schon lange Zeit vor Edward W. Saids Analysen. Wo Said seine kritische Analyse differenziert und anhand eines breit angelegten Quellenmaterials durchführt, leiden Àl-e Ahmads Ausführungen an Verallgemeinerungen und Ungenauigkeiten. Àl-e Ahmad sieht in den Orientalisten „zweifelhafte Gestalten“, die als „Mittelsmänner“ (dallÁl) des Kolonialismus tätig sind, und „Schmarotzer“, die in den Wurzeln des Kolonialismus nisten. Er beschreibt die Orientalisten als jene, die in ihrer eigenen westlichen Heimat keine beruflichen Möglichkeiten gehabt und sich daher eine orientalische Sprache angeeignet hätten, um im offiziellen oder geheimen Dienste der auswärtigen Ämter ihrer Länder zu stehen. Daher ist Àl-e

54 Wobei er schon vorher, als er über die „europäische Verschwörung“ bezüglich der Mongolenangriffe berichtet, und nachher, wenn er über den angeblich von Europa aus gesteuerten Safawiden-Osmanen-Krieg spricht, sich auf die Angaben einer westlichen Quelle, nämlich René Groussets Buch La Face de L’Asie bezieht. Vgl. Àl-e Ahmad (1964): S. 63-64; 70-71. 55 Vgl. ebd.: S. 62-68. 56 Vgl. ebd.: S. 32.

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Ahmad empört darüber, dass „der Orientale“/der Iraner auch in seinen geisteswissenschaftlichen Untersuchungen Wert auf die „westlichen Forschungen“ legt. Als die schlimmste Erscheinung der gharbzadegi empfindet er die selbstverleugnende Haltung vieler iranischer Denker und politischer Akteure, die zur Unterstützung ihrer Meinungen mit westlichen bzw. orientalistischen Forschungsergebnissen hantierten, anstatt sich auf ihre eigenen Erfahrungen zu verlassen.57 Diese Aussagen werden allerdings nicht im Rahmen einer wissenschaftlichen Abhandlung vorgetragen, sondern bleiben thesenhaft und daher aus heutiger Perspektive vage und unpräzise. Welcher Orientale sich wo und wann auf westliche Forschungen stützt, oder welche/r Orientalist/in und mit welchen Belegen als kolonialistisch zu bezeichnen ist, sind Detailfragen, die ihn nicht interessieren. Er zielt vielmehr auf das Gefühl politischer Ausbeutung und epistemischer Unterdrückung, welches viele Intellektuelle seiner Zeit in Iran und überhaupt in den Ländern des Südens erfuhren. Seine Äußerungen bleiben teilweise widersprüchlich und paradox und erinnern dabei an die Analysen Sandar L. Gilmans und Dipesh Chakrabartys, die feststellen, wie das kolonisierte Subjekt die Kolonisation und das hegemoniale Bild internalisiert und sich selbst als Mangelwesen wahrzunehmen lernt.58 Seine Feststellungen irritieren umso mehr als er im selben Atemzug „westliche“ Wissenschaftsgenerierung kritisiert und die Möglichkeiten, Methoden und ergo die Relevanz wissenschaftlicher Arbeit im „Westen“ hervorhebt: „Sicherlich ist es angebracht, zu sagen, dass der westliche Mensch mit seinen Universitäts- und Forschungsmitteln und mit seinen vollen Bibliotheken sogar bei der Erkenntnis der orientalischen Sprachen, Religion und Literatur über wissenschaftliche Methoden, bessere Möglichkeiten und eine offenere Sicht verfügt. Damit sind

57 Ebd.: S. 151-153. 58 Vgl. Gilman, Sandar L. (1993): Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt a.M.; ders.: (2005): „Die jüdische Nase: Sind Juden/Jüdinnen weiß? Oder die Geschichte der Nasenchirurgie“. In: Maureen Maisha Eggers, Maureen Maisha [u.a.] (Hrsg) (2005): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster, S. 394-415; Chakrabarty (2008).

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seine Aussagen und Meinungen denen des Orientalen selbst, der weder über wissenschaftliche Methoden noch über die Forschungsmittel verfügt, zu bevorzugen“.59

Seine Kritik ist grundsätzlich von einer Zweischneidigkeit, einer Doppelbindung, geprägt, die postkoloniale Kritiken ebenso kennzeichnet wie sie auf den von Bhabha theoretisch evozierten Dritten Raum des Da-Zwischen verweist. So nimmt er von der Kritik auch die damalige politische Führung des Iran nicht aus. Er spottet etwa über die iranische politische Kultur, in der man sich nur den Anschein der Demokratie gebe, und in der keine Spur von „westlichen“ demokratischen Möglichkeiten wie Redefreiheit, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit zu finden seien.60 Während Àl-e Ahmad „dem Westen“ Rassismus und Kolonialismus vorwirft, sind in seinen eigenen nationalistisch formulierten Ausführungen immer wieder Ausdrucksformen und Feststellungen zu finden, die genauso rassifizierend und vorurteilsbehaftet klingen. Dies macht das Lesen seiner Schriften bisweilen schwierig und schwächt seinen Argumentationsgang enorm. Zur politischen Nachkriegshaltung Japans, das sich nach der gewaltvollen Erfahrung mit den USA sowohl wirtschaftlich als auch militärisch den US-amerikanischen Vorgaben untergeordnet hätte, sagt er, dass „sie [die Japaner] von Grund auf Araber geworden sind“ (az bikh Ýarab shode-and)61. Formulierungen wie az bikh Ýarab shodan („von Grund auf Araber werden“) im Sinne von „an nichts glauben, kategorisch verneinen“ oder az bikh Ýarab budan („von Grund auf Araber sein“)62 im Sinne von „nichts wissen, keine Ahnung haben“ sind gebräuchlich in der iranischen Umgangssprache, mit all den negativen Konnotationen bezüglich „der Araber“. Hier erhalten seine Schriften einen iranisch-nationalistischen Ton, den er nicht weiter reflektiert. Eine Seite später formuliert er die Begründung für seine Feststellung, dass Afrika günstige Voraussetzungen gehabt habe, kolonialisiert zu werden, folgendermaßen:

59 Àl-e Ahmad (1964): S. 153-154. 60 Vgl. ebd.: S. 170-171. 61 Ebd.: S. 29. 62 Zu diesen Redewendungen und ihrer Bedeutung vgl. Anvari, Hasan (2002): Farhang-e sokhan. Bd. 2. Teheran, S. 1120.

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„Denn in Afrika, abgesehen von seinen reichlich vorhandenen Rohstoffen (Gold, Diamanten, Kupfer, Elfenbein und vieles andere), standen die Einheimischen auf keiner Grundlage einer breiten städtischen und religiösen Tradition. Jeder Stamm hatte seinen eigenen Gott, seinen eigenen Häuptling, seine eigenen Sitten und seine eigene Sprache; und wie zerstreut waren sie und ergo wie beherrschbar. Und das Allerwichtigste war, dass die Einheimischen alle nackt herumliefen“.63

Seine Vorstellungen über Afrika ähneln deutlich den Darstellungen „der Afrikaner“ in den westlich-kolonialistischen Berichten und Filmen über Afrika – Vorstellungen und Sichtweisen, die er im Grunde verurteilt. Hier bleibt er erstaunlich unkritisch und übernimmt hegemoniale Kulturvorstellungen über den europäischen Anderen, von denen er sich als Iraner scheinbar in einer hierarchischen Vorstellung distanziert. Es bleibt die Frage, inwiefern hier die europäischen Rassentheorien des 19. Jahrhunderts übernommen und nationalistisch verarbeitet sind und anti-arabische Ressentiments in diesem neuen historischen Kontext auf „Afrika“ projiziert werden. Àl-e Ahmad äußert sich oftmals auch in seiner Polemik diskriminierend, indem er Religionszugehörigkeit oder Herkunft von Autoren anführt, um ihre Meinungen zu diskeditieren. Er unterstützt beispielsweise die Position von FazlollÁh Nuri (1843-1909)64, der gegen die konstitutionelle Bewegung war, und verunglimpft demgegenüber seine Gegner, die nicht nur aus Intellektuellen bestanden, als „verwestlicht“. Abwertend schreibt er über sie: „[…] die Führer unserer verwestlichten Intellektuellen waren der christliche Malkom KhÁn und der sozialdemokratische und aus dem Kaukasus stammende TÁlibuf.“65

63 Àl-e Ahmad (1964): S. 30-31. 64 Sheykh FazlollÁh Nuri wurde in Najaf als Ayatollah ausgebildet und galt später in Iran als marjaÝ-e taqlid („Quelle der Nachahmung“). Er spielte bei der Konstitutionellen Revolution eine aktive und zugleich kontroverse Rolle. Während er in der Anfangsphase die Bewegung unterstützte, stellte er sich später gegen sie. Für diese Haltung musste er mit seinem Leben bezahlen. Zu ihm vgl. Dabashi, Hamid (1995): „Nuri, FazlollÁh“. In: The Oxford Encyclopedia of the Modern Islamic World. Oxford University Press. 65 Àl-e Ahmad (1964): S. 78. MirzÁ Malkom KhÁn (1833-1908) stand für eine politische und kulturelle Veränderung Irans und für die Reform der persischen

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Kampf gegen gharbzadegi Als sozialpolitisch engagierter Schriftsteller will Àl-e Ahmad das Phänomen gharbzadegi nicht nur analysieren; ihm geht es vor allem darum, Strategien zur Bekämpfung dieser „Epidemie“ zu entwickeln. In dieser Hinsicht bleiben seine Aussagen jedoch, wie bereits angemerkt, vage und stellen mehr politische Parolen als präzise Lösungswege dar. Manchmal münden seine Überlegungen auch in eine grundsätzliche Absage an „den Westen“. Dies ist jedoch nicht der bestimmende Tenor seiner Ausführungen. In ihnen kommt vielmehr eine Doppelbindung zum Ausdruck, die die damalige politische Situation des Iran beschreibt. Er findet das Weiterbestehen des „verwestlichten“ Zustands unerträglich, weil dieser den „Ausverkauf“ der einheimischen Ressourcen in jeder Hinsicht bedeute.66 Die Moderne und die mit ihr verbundene Technik und Industrialisierung abzulehnen und sich um eine traditionelle Lebensweise zu bemühen, hält er jedoch für genauso falsch wie unmöglich, denn man werde, ob man es wolle oder nicht, vom gewaltigen Prozess der Technisierung überrollt. Sein Vorschlag ist, selbst die Technik zu beherrschen und zwar allseitig; sie als Sprungbrett zu benutzen und zu versuchen, möglichst weit damit zu kommen. Gleichzeitig weist er auf die Gefahr der mÁshinzadegi, d.h. der Automatisierung vieler Abläufe des Alltagslebens, hin, mit der auch die „westlichen“ Gesellschaften zu kämpfen hätten und plädiert für die rechtzeitige Ergreifung von Präventivmaßnahmen. Kolonialismus, Faschismus,

Sprache. Malkom KhÁn machte neben seiner intellektuellen Tätigkeit eine militärische und diplomatische Karriere. Unter anderem war er iranischer Botschafter in London und der bevollmächtigte Gesandte Irans in Italien. Zu Malkom KhÁn vgl. Parsinejad, Iraj (2003): A History of Literary Criticism in Iran (1866-1951). Literary Criticism in the Works of Enlightened Thinkers of Iran. Akhundzade, Kermani, Malkom, Talebof, MaragheÞi, Kasravi and Hedayat. Maryland, S. 95f.; ÝAbd-o-r-Rahim NajjÁrzÁde Tabrizi, bekannt als TÁlibuf (1834-1911), war stark beeindruckt vom wissenschaftlichen Stand, politischen System und den sozialen Freiheiten in Europa. Er vertrat die Ansicht, dass nur Wissenschaft, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit der iranischen Gesellschaft Fortschritt ermöglichen könnten. TÁlibuf hat seine Ideen vor allem schriftstellerisch umgesetzt. Vgl. Pasinejad (2003): S. 121f. 66 Vgl. Àl-e Ahmad (1964): S. 59-60.

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Nihilismus, Neokolonialismus und dadurch bedingte menschliche Katastrophen (beispielsweise die zwei Weltkriege) sowie gesellschaftliche Probleme (vor allem psychisch bedingte Verhaltensstörungen) seien, so die Feststellung Àl-e Ahmads, durch mÁshinzadegi hervorgerufen. Er stellt offensichtlich einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen und der Weiterentwicklung von Technik und dem mit ihr verbundenen Phänomen mÁshinzadegi her. Bei der Antwort auf die sich zwangsläufig ergebende Frage, wie die „orientalische“ bzw. iranische Gesellschaft diese Folgen einer Technisierung umgehen könne, greift er wieder auf die Erfahrung der „westlichen“ Gesellschaften zurück. Diese hätten, so Àl-e Ahmad, bei ihrer Kolonialisierung der orientalischen Länder nicht nur die materiellen Reichtümer der kolonialisierten Länder mit nach Hause genommen, sondern auch ihre spirituellen Güter. So sei nun „der westliche Mensch“ in Kunst, Literatur und Musik durch seine „geistige Raubbeute“ aus Afrika und Asien bereichert. Aus Langeweile und Überdruss gegenüber der eigenen Kunst, Musik und Literatur flüchteten die EuropäerInnen zu den orientalischen geistigen Errungenschaften. Um sich vor der Gefahr der mÁshinzadegi und eines Atomkrieges zu wappnen, könnten sie sich jetzt auch in der Politik nach orientalischem Stil richten. Somit plädiert Àl-e Ahmad dafür, parallel zu der Bemühung um die Beherrschung der westlichen Technik, die eigenen spirituellen, künstlerischen und geistigen Reichtümer zu mobilisieren.67 Am Schluss seiner Ausführungen bleibt Àl-e Ahmad allerdings eher pessimistisch, was die Zukunft „des Westens“ und die Heilungsbemühungen „des Orients“ anbelangt. Bezugnehmend auf den Roman Die Pest von Albert Camus, das Theaterstück Rhinocéros von Eugene Ionesco und den Film Das siebte Siegel von Ingmar Bergmann prophezeit er das Scheitern jeglicher Bemühungen um Besserung.68 Die „Pest“ gharbzadegi werde sich über alle verbreiten und die Menschen würden, statt aus dieser „Epidemie“ Lehren zu ziehen und über Alternativen nachzudenken, diesen Trend noch mit höherem Tempo fortsetzen.69

67 Vgl. ebd.: S. 197-208. 68 Vgl. ebd.: S. 223-227. 69 Ebd.: S. 224.

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Rezeption der gharbzadegi Der Diskurs um gharbzadegi wurde auch nach dem Ableben Àl-e Ahmads weiter fortgesetzt. Schon einige seiner Zeitgenossen, die wie er zunächst von Fardids Thesen stark beeindruckt waren, haben diese Rhetorik zeitweise aufgegriffen und weiter geführt. EhsÁn NarÁqi (1926-2012), Soziologe und jahrelanger Führungsfunktionär bei der UNESCO, publizierte 1974 das Buch Ghorbat-e gharb („Vereinsamung des Westens“), in dem er dafür plädierte, dass die orientalischen Gesellschaften mit der Imitation der westlichen Kultur aufhören und zu ihrer eigenen Kultur zurückkehren sollten.70 Der Philosoph und Kulturkritiker DÁryush ShÁygÁn (geb. 1935) ist ein weiterer bekannter iranischer Denker, der in seinem 1977 veröffentlichten Buch ÀseyÁ dar barÁbar-e gharb („Asien versus Westen“) den asiatischen Intellektuellen vorwarf, dass sie sich in einer „zweifachen Fantasie“ (tawahhom-e mozÁÝaf) befänden, wenn sie die Gefahren, die mit dem technischen Fortschritt einhergehen, nicht sähen und ihr spirituell-geistiges Erbe gegen die „westliche kulturelle Invasion“ nicht verteidigten.71 In einer ganz anderen Dimension bediente sich auch ÝAli ShariÝati (1933-1977) des gharbzadegi-Diskurses, um sein Konzept der islamischen Ideologie zu entwerfen. ShariÝati, der nach seinem Tod als der Ideologe der Islamischen Revolution bezeichnet wurde, beschrieb die Gesellschaft und die meisten Intellektuellen seiner Zeit als der eigenen Kultur Entfremdete und an die westliche Kultur Assimilierte und forderte sein Publikum zur Rückkehr zum eigenen Ich auf.72 Bei der Entstehung der Islamischen Revolution bzw. der Islamischen Republik in Iran spielte die Diskussion über das Thema gharbzadegi eine wichtige Rolle. So wurde die Abschaffung der Monarchie immer mit dem Beenden der westlich-amerikanischen Einflussnahme auf die iranische Politik, mit der Beseitigung westlich-europäischer Erscheinungen in allen kulturellen und gesellschaftlichen Bereichen und mit der Befreiung von gharbzadegi in Verbindung gebracht. In der nachrevolutionären Ära hat sich vor allem RezÁ DÁvari (geb. 1933) mit seiner harschen Kritik am

70 Vgl. Boroujerdi (2001): S. 136-140; HÁshemi (2004): S. 173f. 71 Vgl. Boroujerdi (2001): S. 147-155; HÁshemi (2004): S. 291f. 72 Vgl. Boroujerdi (2001): S. 105-115; ShariÝati, ÝAli (1978c): BÁzgasht (gesammelte Werke 4). o. O., S. 95-98, S. 242-255.

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„westlichen Projekt“ der „offenen Gesellschaft“ einen Namen gemacht. Der Philosophiedozent und Verteidiger der offiziellen Linie der Islamischen Republik ist vielleicht der bekannteste Schüler Fardids und hegt noch immer eine große Sympathie für dessen Ansichten. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen versucht er zu belegen, dass die westliche Zivilisation sich in einer selbstverschuldeten Krise befindet. Seit der Renaissance habe sich, so DÁvari, der Westen im Namen der Wissenschaftlichkeit von der Metaphysik entfernt und ausschließlich dem Humanismus, Materialismus und Rationalismus zugewandt. Das habe dazu geführt, dass der Mensch durch die Technik nicht befreit, sondern versklavt worden sei. Der einzige Rettungsweg für die Moderne sei es, so DÁvari weiter, sich vom Humanismus zu trennen und Gott hinzugeben.73 Auch heute, nach über drei Jahrzehnten des triumphalen Sieges der islamistischen Kräfte, wird die Debatte um gharbzadegi heftiger denn je geführt. Die aktuellen politischen und intellektuellen Diskussionen sind von dem Begriff gharbzadegi oder der neueren Wortschöpfung tahÁjom-e farhangi („kulturelle Invasion“) stark geprägt. Unter diesem Titel wurde 1997 ein Buch veröffentlicht, in dem die Reden von Ayatollah MesbÁh Yazdi bezüglich der „westlichen kulturellen Invasion“ zusammengestellt wurden. MesbÁh Yazdi, dem ein großer Wirkungskreis zugesprochen wird, gilt als der geistige Vater Ahmadinejads, des ehemaligen iranischen Präsidenten, und dessen Politik. Er ist für seine rigorose Haltung gegenüber den reformorientierten Geistlichen und Intellektuellen bekannt. Das Buch, welches innerhalb von vier Jahren sechsmal aufgelegt wurde,74 besteht aus vier Kapiteln. Allein die Titel dieser Kapitel zeigen, wie sehr sich der Binarismus verschärft hat: Das erste Kapitel behandelt das Thema „Kulturelle Invasion oder die Grundlage für die Herrschaft der Nichtgläubigen über die Muslime“ (tahÁjom-e farhangi yÁ zamine-ye tasallot-e koffÁr bar mosalmÁnÁn). Im zweiten Teil geht es um „Die islamischen Prinzipien und Werte und die Gefahr einer kulturellen Invasion“ (osul va arzeshhÁ-ye eslÁmi va khatar-e tahÁjom-e farhangi). Das dritte Kapitel diskutiert „Die islamische Revolution und die Gefahr einer kulturellen Invasion“ (enqelÁb-e eslÁmi va khatar-e tahÁjom-e farhangi). Und schließlich trägt das vierte Kapitel den

73 Vgl. HÁshemi (2004): S. 199f. 74 Die mir zur Verfügung stehende Ausgabe stammt aus dem Jahr 2001.

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Titel: „Die kulturelle Invasion und die Wege der Verteidigung“ (tahÁjom-e farhangi va rÁhkÁrhÁ-ye defÁÝi).75 Auffällig ist, dass die Diskussion über „den Westen“ und die von ihm ausgehenden Gefahren für die iranische Gesellschaft, die zu Beginn hauptsächlich von den „Hut-tragenden“ (mokallÁ) Intellektuellen geführt wurde, nun zunehmend von den „Turban-tragenden“ (moÝammam) Gelehrten dominiert wird. Daraus kann geschlossen werden, dass nach wie vor die Notwendigkeit gesehen wird, den gharbzadegi-Diskurs im Rahmen einer Kritik neo-kolonialer Verhältnisse zu führen; aber ebenso kann man feststellen, dass der Diskurs zunehmend von Seiten der Regierung instrumentalisiert wird, um die Menschen durch Angebote an Identitäts- und Selbstbildern für gezielte politische Zwecke zu mobilisieren.

Ausblick Hinter Àl-e Ahmads Theorie der gharbzadegi, die seine Generation und die späteren politisch-gesellschaftlichen DenkerInnen und AktivistInnen nachhaltig geprägt hat, steckt ohne Zweifel ein großer und unbedingter Wille zur sozialen und politischen Veränderung. Seine Überlegungen sind allerdings nicht frei von Widersprüchen und Verallgemeinerungen, die den postkolonialen Zustand einer Doppelbindung widerspiegeln. Àl-e Ahmad fordert einerseits die Rückbesinnung auf die eigenen geistigen Ursprünge. Zur Untermauerung seiner Thesen verwendet er andererseits größtenteils europäisch-philosophische Quellen, die längst Teil iranischer Diskurse geworden sind, ohne diese Tatsache zu reflektieren. Insgesamt herrscht im Buch ein von „westlichen“ AutorInnen gespeister Nihilismus. Und dort, wo er auf persische oder arabische Quellen zurückgreift, handelt es sich oftmals um neue Interpretationsversuche im Lichte der asymmetrischen globalen Strukturen, welche er bemüht ist, mit Hilfe seiner Quellen neu zu deuten bzw. zu ihrer Veränderung beizutragen, statt sich einem „Zurück zu den Wurzeln“ zu verschreiben. Àl-e Ahmads Theorie der gharbzadegi zeichnet sich darüber hinaus durch folgende Merkmale aus: Das Postulat einer ausgedehnten gharbzadegi bis in die vorislamische Geschichte Irans und über die Region hinaus, die

75 Hierzu vgl. MesbÁh Yazdi, Mohammad Taqi (2001): TahÁjom-e farhangi. Qom.

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Verquickung der gharbzadegi mit der Verschwörungstheorie einer übermächtigen Hegemonialmacht, die Verteufelung der Technik und die Ausweglosigkeit aus diesem Teufelskreis. Obwohl seit Erscheinen des Buches Gharbzadegi mittlerweile fünfzig Jahre vergangen sind, und obwohl der Diskurs gharbzadegi schon damals nicht als neues Phänomen, sondern spätestens seit der Konstitutionellen Revolution in einigen Kreisen als herrschende „Krankheit“ empfunden und beschrieben wurde, ist das Thema gharbzadegi oder tahÁjom-e farhangi heute aktueller denn je. Inzwischen lässt sich jedoch bei vielen iranischen AutorInnen auch eine kritische Haltung gegenüber der gharbzadegi-These beobachten. Mohammd Mansur HÁshemi etwa hält die unklare und undifferenzierte Herangehensweise Àl-e Ahmads an die Idee der gharbzadegi für problematisch. Àl-e Ahmad wolle über die so genannte gharbzadegi diskutieren, um sie zu bekämpfen. Seine Ausführungen liefen jedoch darauf hinaus, gharbzadegi nicht als eine von Innen verursachte „Krankheit“ anzusehen, sondern als ein von Außen, nämlich vom „Westen“, verursachtes Übel. Und somit versuche er nicht nur gharbzadegi zu bekämpfen, sondern darüber hinaus auch „den Westen“.76 HÁshemi kritisiert zudem die These, dass man die Technik beherrschen könne, ohne „verwestlicht“ zu werden und ohne seine „orientalische Identität“ zu verlieren. Er wirft Àl-e Ahmad vor, trotz dieses Wunsches kaum eine Vorstellung von den kulturellen und philosophischen Grundlagen der modernen Welt gehabt zu haben. Er habe nicht begriffen, dass technologischer Fortschritt auch einen epistemologischen Wandel voraussetze. Seine Kritik an Àl-e Ahmad fasst er folgendermaßen zusammen: „Erstens konnten und können wir nicht mit jeder Weltanschauung über Technologie verfügen. […] Zweitens, selbst wenn wir über die Technologie verfügten und uns von der politischen Überlegenheit (seytare-ye seyÁsi) des Westens befreiten, so würden wir unsere vorherige ‚kulturelle Eigenart‘ nicht mehr besitzen“.77

Offensichtlich erscheint HÁshemi, der von den Erfahrungen der Islamischen Republik geprägt ist, die Theorie der gharbzadegi im Sinne einer von außen gesteuerten epidemischen „Krankheit“ als unsachgemäß und unproduktiv.

76 HÁshemi (2004): S. 149. 77 Ebd.: S. 155.

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Sie sei weder argumentativ überzeugend noch habe sie zur Lösung politisch-gesellschaftlicher Missstände in Iran Wesentliches beigetragen.78 Fest steht allerdings, dass der gharbzadegi-Diskurs oft in einem binären Vokabular stecken bleibt, das schematische und dichotome Kulturverständnisse voraussetzt und dadurch den Eindruck von voneinander getrennten Kulturräumen erweckt, obwohl damit der Diskurs selbst untergraben wird, welcher von europäischen Anleihen aus anderen Gebieten der Welt ausgeht und die Befreiung von Vorherrschaft und die Sichtbarmachung von globalen ökonomischen, kulturellen und epistemologischen Machtverhältnissen zum Ziel hat. So gesehen ist auch „der Westen“ „veröstlicht“ und ein Produkt gewaltvoller Begegnungen. Fest steht aber zudem, dass man in Anbetracht der politisch-wirtschaftlichen Machtverhältnisse, der massenhaften, weltweiten Migrationsbewegungen und des Globalisierungsprozesses, welche auch westeuropäische Lebensvorstellungen und -praxen geprägt haben, in postmoderne Weltverhältnisse eingetreten ist und die „VerwestlichungVeröstlichung“ als eine Mischform des Denkens und Handelns mit allem, was für und gegen sie sprechen mag, nicht mehr aufhalten kann. Trotz der hier aufgeführten Kritikpunkte an Àl-e Ahmad und seinem Konzept gharbzadegi kann er durchaus als eine/r der VordenkerInnen der Orientalismuskritik bzw. des Postkolonialismus bezeichnet werden. Geprägt durch biographische Begebenheiten und politisch-soziale Ereignisse seiner Zeit und beeinflusst von teils marxistischen und teils Dritte-WeltTheorien tat sich Àl-e Ahmad vor allem als ein politischer Schriftsteller hervor, der die vorherrschenden kolonialistischen Verhältnisse im eigenen Land und darüber hinaus in der Welt kritisch zu analysieren und zu bekämpfen versuchte. Dabei bediente er sich einer Sprache, die über weite Strecken polemisch, ausschweifend und verallgemeinernd gewesen ist, und die – wie im vorliegenden Kapitel versucht wurde – kritisch aufzuarbeiten ist. Als Alternative zu den „vom Westen“ unkritisch und unreflektiert übernommenen technischen und kulturellen Gütern plädierte er für eine Rückbesinnung auf das Eigene – eine Aufforderung, die nativistisch anklingen mag, jedoch vielmehr im Sinne der politischen Unabhängigkeit und kulturellen Selbständigkeit zu verstehen ist. Um sein Anliegen, Kampf gegen die „westlichen“ Einflüsse bzw. die gharbzadegi, zu realisieren, brachte er oft die Religion und die Geistlichen ins Spiel. Seine eigene Biographie lässt je-

78 Ebd.: S. 150ff.

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doch darauf schließen, dass ihm nicht an der Errichtung eines islamischen Staates lag. In der Religion und den ÝolamÁÞ sah er bloß die einzigen von fremden Einflüssen in gewissem Sinne noch unberührt gebliebenen Institutionen, die Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Authentizität symbolisierten.

ÝAli ShariÝati und die islamische Ideologie „Der Intellektuelle […] ist an die Gesellschaft engagiert, jedoch nicht an ihr Sein, sondern an ihre Existenz, mit anderen Worten: an ihren Veränderungsprozeß. Er kann als Führer des Volkes nur in dramatisch geballten Situationen in Erscheinung treten, weil er nur in diesen vom Volke akzeptiert und angefordert wird. Er muß seine ursprünglich kritische, bestreitende Aufgabe verleugnen, sobald er als inspirierter, messianischer Revolutionär Wirkungsträger des geschichtlichen Prozesses wird, und vollends dann, wenn ein Umwälzungsprozeß vollzogen ist und er die Macht in Händen hält. Er steht auf schlechtem Fuße mit der Macht: mit der feindlichen selbstverständlich, aber auch mit der eigenen, die für ihn Selbstentfremdung wird.“1

ÝAli ShariÝati wurde 1933 in MazinÁn in der Provinz KhorÁsÁn geboren.2 Sein Vater, Mohammad Taqi ShariÝati (1907-1987), war ein bekannter Religionslehrer, politischer Aktivist und Koraninterpret, der 1941 den „Verein

1

Améry, Jean (2004): „Jean-Paul Sartres Engagement (1968)“. In: Ders. (Hrsg.): Werke. Aufsätze zur Philosophie. Stuttgart, S. 47-67, hier S. 62-63.

2

Zur Biographie ShariÝatis vgl. seine eigene kurze Ausführung in MajmuÝe-ye ÁthÁr („Gesammelte Werke“) 33/1, S. 1-4 (im Folgenden immer als GW abgekürzt); Abrahamian, Ervand (1982): Iran Between Two Revolutions. Princeton, S. 464-473; Rahnema, Ali (1998): An Islamic Utopian. A Political Biography of Ali ShariÝati. New York; ShariÝat-Razavi, PurÁn (2009): Tarhi az yek zendagi. Bd. 1. Teheran.

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zur Verkündung islamischer Wahrheiten“ (kÁnun-e nashr-e haqÁyeq-e islÁm) gründete. Unter seinem Einfluss lernte ÝAli ShariÝati schon in jungen Jahren politische und religiös-progressive Ideen kennen. Die damalige politische Szene wurde von zwei Bewegungen dominiert, der kommunistischen Tudeh-Partei und der nationalistisch ausgerichteten Jebhe-ye Milli („Nationale Front“). Während die politisch aktiven religiösen Kräfte zumeist mit der Jebhe-ye Milli sympathisierten, versuchten sie gleichzeitig ein „sozialistisches“ Image des Islam zu pflegen. Dadurch konnten sie sich auch auf Diskursfeldern wie der sozialen Gerechtigkeit, die von den Linken dominiert wurden und vielen StudentInnen verlockend erschienen, behaupten. 1955 mit gerade 22 Jahren übersetzte ShariÝati auf Empfehlung seines Vaters das Buch Abu Zar, susyÁlist-e khodÁparast („Abu Zar, ein sozialistischer Monotheist“) des linken ägyptischen Schriftstellers ÝAbd al-Hamid Jauda al-SahhÁr (1913-1974)3, der sich um eine revolutionäre und sozialistisch angehauchte Darstellung des Aufstands des Prophetengefährten Abu Zar gegen das medinensische Establishment bemüht. Es lässt sich also bereits zu diesem Zeitpunkt eine Überschneidung linker (marxistischer) und religiös-islamischer Ideen in der Biographie ShariÝatis beobachten. Nach dem Schulabschluss, dem Besuch des Lehrerkollegiums und anschließender kurzer Lehrtätigkeit begann ShariÝati 1956 sein Studium an der Fakultät für Literatur der Universität Mashhad. Mit einem Stipendium des iranischen Staats begab sich ShariÝati 1959 nach Paris, um an der Sorbonne im Fachbereich Philologie zu promovieren. Hier pflegte er intensiven Kontakt zu den politisch aktiven und zumeist links orientierten Studentengruppen, die insbesondere während des Algerienkrieges Massenproteste organisierten. Er selbst setzte sich jedoch vor allem mit den politischen Fragen in Iran auseinander und arbeitete mit den iranischen studentischen Organisationen zusammen. Seine Aktivitäten waren dabei hauptsächlich

3

Der Titel des Buches im Original lautet schlicht Abu Zar al-GhaffÁri. In der Übersetzung wird der Zusatz „sosiÁlist-e khodÁ-parast“ hinzugefügt, der gleichzeitig ein Hinweis auf die damalige politische Orientierung ShariÝatis beinhaltet. In der Zeit war er Mitglied einer kleinen politischen Gruppe Nahzat-e khodÁparastÁn-e sosyÁlist („Bewegung der sozialistischen Monotheisten“), die 1943 gegründet wurde und sich später in die anderen politischen Parteien aufgelöst hat. Zu der Bewegung und seinem Gründer Mohammad Nakhshab vgl. Abrahamian (1982): S. 463.

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schriftstellerischer Natur. Er publizierte regelmäßig in verschiedenen Organen iranischer ExilstudentInnen und in al-MojÁhed, dem offiziellen Organ der algerischen FLN (Front de Libération Nationale). ShariÝati selbst macht unterschiedliche Angaben über sein Studienfach in Paris. An einigen Stellen behauptet er, dass er Geschichte und Soziologie studiert habe4; an anderer Stelle spricht er von Religionssoziologie5, und an einer wieder anderen Stelle gibt er an, dass er in Kulturgeschichte promoviert habe.6 Diese Ungenauigkeit mag daher rühren, dass er teilweise unterschiedlichen Disziplinen nachgegangen ist, wobei sich seine Interessen mit seinen politischen Aktivitäten überkreuzten. Aus den biographischen Angaben kann also geschlossen werden, dass sich ShariÝati für gesellschaftskulturelle Fragen interessierte, so dass er ein mehr oder weniger interdisziplinäres kulturwissenschaftliches Studium betrieben hat. Schließlich schloss er sein Studium in Philologie unter der Betreuung des Iranisten Gilbert Lazard ab. Bei der Promotionsarbeit handelte es sich um eine Textedition eines mittelalterlichen persischen Buches über die FazÁÞel-e balkh („Meriten von Balkh“).7 Intellektuell wurde er in seiner Studienzeit in Paris vor allem durch drei geistige Strömungen geprägt. So war er einerseits von den damals in den französischen akademischen Kreisen vorherrschenden neomarxistischen und existenzialistischen Theorien fasziniert; damit ging seine Begeisterung für Denker wie Jean-Paul Sartre einher. Auf der andren Seite kam er durch sein Studium der orientalischen Philologie mit dem Orientalisten Luis Massignon in Kontakt und war von dessen Forschungen zur islamischen Mystik beeindruckt. Ebenso rezipierte er die Ideen der antikolonialistischen und postkolonialen Vordenker Aimé Césaire und Frantz Fanon. Dabei reflektierte ShariÝati diese Gedanken und Erkenntnisse vor dem Hintergrund des politischen Widerstandes in Iran. Während er beispielsweise eines der Werke Luis Massignons, Salman-e Pak, übersetzte und veröffentlichte, ließ er die Übersetzung eines anderen Werkes von Massignon al-Hallaj nicht drucken, weil er davon ausging, dass derartige Untersuchungen nicht der Sache der Menschen in Iran dienten. Er stellte in diesem Zusammenhang

4

ShariÝati: GW 28, S. 57; GW 31, S. 316.

5

ShariÝati: GW 28, S. 71.

6

ShariÝati: GW 33/1, S. 2.

7

Rahnema (1998): S. 118.

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fest: „Die Leiden, Bedürfnisse, Ideale und der soziale, religiöse, kulturelle Zustand der Menschen [in Iran] haben keine Gemeinsamkeiten mit diesen Texten“.8 Dieselbe Haltung pflegt ShariÝati, wenn es sich um die antikolonialen Gedanken Fanons, Césaires oder Àl-e Ahmads geht. Dabei sind ShariÝatis Ideen einerseits von einer „Nègritude“-Haltung geprägt – einer essentialisierenden Widerstandshaltung, die in diesem Fall „den Islam“ als gemeinsame Essenz und Idee betont. Andererseits schwebt ihm aber kein Zurück vor. Vielmehr nutzt er die Religion als einen Antriebsmotor sowohl für politischen Widerstand als auch für eine Utopie des Danach.9 1964 kehrte ShariÝati nach Iran zurück. Bereits bei seiner Einreise aus der Türkei war er den Schikanen des Regimes ausgesetzt. Aufgrund seiner politischen Aktivitäten in Frankreich und wegen Einfuhr „verbotener Bücher“ wurde er verhaftet.10 Zwar wurde er bald freigelassen, bekam aber zunächst keine Anstellung als Universitätsdozent. Nachdem er einige Zeit als Lehrer gearbeitet hat, wurde er schließlich im Jahre 1966 an der Universität Mashhad eingestellt. Sehr bald gewann er durch seine Vorlesungen bei den Studierenden und darüber hinaus durch seine Schriften bei vielen politisch und religiös interessierten Gesellschaftsgruppen eine immer größer werdende Anhängerschaft. Er war ein charismatischer Redner, den eine Aura umgab, die bald viele faszinierte. Er wurde zu Vorträgen in verschiedene Universitäten und kulturelle Zentren eingeladen. In Teheran wurde er zum Dauerredner der neugegründeten (Eröffnung 1964), reformerisch ausgerichteten und technisch mit den neuesten Möglichkeiten ausgestatteten Plattform hoseyneyye-ye ershÁd. Seine rhetorisch faszinierenden und inhaltlich aus Islam, Marxismus, Existenzialismus und antikolonialistischen Theorien synkretistisch zusammengesetzten Reden brachten politisch und intellektuell unterschiedlich gesinnte Menschengruppen in der hoseyneyye-ye ershÁd zusammen. Auf dieser Plattform erschienen ebenfalls viele traditionell ausgebildete Reformgelehrten, allen voran MortazÁ Motahhari (1920-1979), ein Schüler und Vertrauter Kho-

8

ShariÝati: GW 4, S. 301-304.; zu diesem Punkt vgl. auch ShariÝat-Razavi (2005):

9

Vgl. ShariÝati: GW 20, S. 360-362 und 374, Anm. 1.

S. 91f. 10 Vgl. Akhavi, Shahrough (1995): „SharÐÝatÐ, ÝAlГ. In: The Oxford Encyclopedia of the Modern Islamic World. Bd. 4. New York, S. 47; J. G. J. ter Haar Lemma (1977): „SharÐÝatÐ, ÝAlГ. In: EI2. Leiden, S. 328.

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meinis und späteres Mitglied des Revolutionsrats. ShariÝatis Thesen, in denen er nicht nur das politische, sondern auch das religiöse Establishment scharf kritisierte, schreckten jedoch nicht nur konservativ eingestellte Gelehrte wie Ayatollah MilÁni (1896-1975) ab, sondern auch seine aus den Gelehrtenreihen stammenden Mitstreiter wie den oben genannten MortazÁ Motahhari. Möglicherweise haben hier auch Gefühle wie Neid eine Rolle gespielt, da ShariÝati als charismatischer und eloquenter Redner eine große Zuhörerschaft anziehen konnte. Tatsache ist jedoch, dass sich Motahhari aus seinem eigenen intellektuellen Selbstverständnis heraus nicht mit den antiklerikalen, synkretistisch zusammengesetzten und marxistisch beeinflussten Ideen ShariÝatis anfreunden konnte.11 Ab 1970 brachen Motahhari und einige andere Gelehrte ihre Zusammenarbeit mit der hoseyneaye-ye ershÁd ab und so wurde die Plattform von nun an nur noch mit dem Namen ShariÝati in Verbindung gebracht. Aus den Reihen seines begeisterten Publikums wählten einige den Weg des bewaffneten Kampfes gegen das Schah-Regime. Dies lieferte einen weiteren Grund für die iranische Regierung, das Institut 1972 zu schließen. In Folge wurde ShariÝati verhaftet und erst am 20. März 1975 freigelassen. Nach zwei Jahren Hausarrest konnte er unter seinem eingetragenen, aber anscheinend bis dahin dem Geheimdienst noch nicht geläufigen Namen MazinÁni nach England ausreisen, wo er kurz darauf am 19. Juni 1977 verstarb.12 Lange Zeit gab es wilde Spekulationen über die Todesursache, doch geht man inzwischen davon aus, dass ShariÝati an einem Herzinfarkt starb.13 Damalige oppositionelle Gruppen in Iran nahmen seinen Tod zum Anlass, gegen die Regierung zu mobilisieren. Es ging das Gerücht um, ShariÝati sei durch den Geheimdienst des Schah umgebracht worden. In den ersten Mo-

11 Vgl. Motahhari, MortazÁ (1983): „IslÁmshenÁsi yÁ islÁmsarÁyi“. In: Abu-l-Hasani (Monzer), ÝAli (Hrsg.): Shahid motahhari efshÁgar-e touteÞe. Qom, S. 417-435. 12 Vgl. Rahnema (1998): S. 368. 13 ÝAbdolkarim Sorush, der sich damals in London aufhielt und sich sogar ShariÝatis Leichnam angesehen hatte, berichtet, dass weder die Todesumstände noch die Autopsie auf fremden Einfluss schließen ließen. Wie bei vielen anderen politisch relevanten Personen damaliger Zeit wie Samad Behrangi, Àl-e Ahmad oder MostafÁ Khomeini, dem Sohn des Ayatollah Khomeini, wurde auch ShariÝatis Tod politisch instrumentalisiert und dem Schah-Regime zur Last gelegt. Vgl. Sorush, ÝAbdolkarim (2000a): ÀÞin-e shahryÁri va dindÁri. Teheran, S. 370.

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naten vor und nach der Islamischen Revolution sah man neben Bildern Khomeinis auch sein Konterfei bei politischen Demonstrationen und Versammlungen. In der Anfangsphase der Islamischen Republik wurde ShariÝati häufig als Ideologe oder auch als Lehrer der Revolution bezeichnet bzw. gefeiert – Bezeichnungen, die seinen eigenen Ausführungen entstammen. Oft beschrieb er sich selbst als „Lehrer der jungen Generation“14 – einer Generation, die eine entscheidende Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung der Islamischen Revolution spielte und die meisten Opfer zu beklagen hatte. Viele dieser jungen Gefolgsleute haben später – kurioserweise auch wieder unter dem Einfluss der Lehren ShariÝatis – dem islamischen Regime den Rücken gekehrt und der neuen politischen Elite den Kampf angesagt.15 So erwarb sich ShariÝati als eindrucksvoller und einflussreicher Theoretiker einen bedeutenden Platz in der Geschichte des zeitgenössischen Denkens in Iran.

ShariÝati – ein Synkretist Sieht man sich die „Gesammelten Werke“ (majmuÝe-ye ÁthÁr) ShariÝatis an, ist der Umfang seines geistigen Schaffens imponierend, ja gerade erdrückend. 38 Werkbände mit durchschnittlich 300 Seiten von einem Denker vorzufinden, der gleichzeitig politisch aktiv war, einige Jahre im Gefängnis verbrachte und mit 44 Jahren starb, beeindruckt unweigerlich. Bei den gesammelten Werken handelt es sich zumeist um Niederschriften von ShariÝatis Reden oder Vorlesungen, die zum Teil von ihm selbst überprüft wurden. Ein beachtlicher Teil dieser Schriften wurde unter seinem Namen herausgegeben, ohne dass er sie selbst redigiert hatte. Nichtsdestotrotz sind sie Ausdruck einer großen schöpferischen Kraft, vor allem wenn man berücksichtigt, dass ShariÝati die unterschiedlichsten Themenbereiche behandelte. ShariÝati selbst teilt seine geistigen Produktionen in einem für ihn charakteristischen poetischen Stil folgendermaßen ein:

14 ShariÝati: GW 21, S. 256. 15 Abgesehen von den militanten Gruppen wie die ForqÁn und Volksmudjahidin, die sich als AnhängerInnen von ShariÝatis Ideen verstanden haben, sehen ebenfalls die meisten religiös orientierten Protestgruppen ihre Haltung durch ShariÝatis Lehren bestätigt.

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„Meine Existenz gilt nur dem Wort und mein Leben einzig dem Aussprechen ebenjenes Wortes, aber auf drei Arten: durch Sprechen, Unterrichten und Schreiben. Das, was nur die Leute mögen, ist das Sprechen; das, was sowohl ich als auch die Leute schätzen, ist das Unterrichten; das, was mich zufrieden stellt und bei dem ich fühle, dass ich dadurch nicht arbeite, sondern lebe, ist das Schreiben! Auch meine Schriften bestehen aus drei Arten: den sich auf die Gesellschaft, auf den Islam und auf die Wüste beziehenden Schriften. Das, was nur den Leuten gefällt, sind die auf die Gesellschaft bezogenen Werke und das, was sowohl mir als auch den Leuten gefällt, sind die den Islam betreffenden Schriften. Und das, was mich selbst zufrieden stellt und bei dem ich fühle, dass ich dadurch nicht arbeite und – was sage ich – nicht die Schriftstellerei betreibe, sondern lebe, sind die Schriften, welche die Wüste betreffen.“16

„Wüste“ ist der Titel eines relativ kurzen Textes17, in dem er über sein Heimatdorf und seine asketisch lebenden Vorfahren schreibt. Dabei verwendet er das Wort Wüste als Metapher für das Unendliche, Ewige, aber auch für das Einsame und umschreibt damit seine Begeisterung für das Mystische in rhetorisch rührenden und packenden Formulierungen. Mit den Wüsten-Schriften meint er wohl alle von ihm verfassten Texte, die keine gesellschaftlichen, politischen und religiösen Sachverhalte zum Thema haben, sondern vielmehr seine „Selbstgespräche“ darstellen.18 Als „verantwortungsbewusster Intellektueller“ (roushanfekr-e masÞul), als den er sich offensichtlich ansah,19 beschäftigte er sich allerdings in seinen Reden und Vorlesungen vielmehr mit Sachthemen, die, wie er selbst sagt, entweder den Islam oder die Gesellschaft betrafen. Insgesamt schuf ShariÝati viel mehr in mündlicher als in schriftlicher Form und vermittelte den Eindruck, als ob er die Oralität gerne pflegte und

16 ShariÝati: GW 13, S. 209. 17 Ebd.: S. 235-261. 18 Zu dieser Kategorie sind alle im Band 13 seiner Gesammelten Werke unter dem Titel Hobut dar kavir („Absturz in der Wüste“) zusammengefassten Texte zu zählen. Wahrscheinlich gehören zu dieser Kategorie ebenfalls die Goft-o-guhÁ-ye tanhÁyi („Selbtsgespräche“), die als Band 33/1-2 erschienen sind. 19 Vgl. u.a. seine zwei Beiträge: „Der Intellektuelle und seine Verantwortung in der Gesellschaft“ (roushanfekr va masÞuleyyat-e ou dar jÁmeÝe) und „Wer ist ein verantwortungsbewusster Intellektueller“ (roushanfekr-e masÞul kist) in ShariÝati: GW 20, die offensichtlich eine Selbstbeschreibung darstellen.

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keinen Wert auf Literalität legte. Da, wo er auch Schriftliches verfasste, kümmerte er sich wenig um die Autorisierung seiner Aussagen oder um die Literaturangeben zu seinen Zitaten. Das mag auch mit seinen Lebensumständen als politisch aktiver Intellektueller zusammenhängen, die ihm wenig Zeit ließen, sich um „Schreibtischarbeit“ zu kümmern. Darüber hinaus schuf er fiktive Figuren wie Chandel, auf den er in seinen Schriften immer wieder auf eine Weise Bezug nahm, dass der Eindruck entstand, er sei eine reale Person. Nach ShariÝatis Beschreibungen stellt Chandel einen mit vielen Talenten ausgestatteten Universitätsprofessor dar, der ein genialer Schriftsteller und Denker gewesen ist und zugleich mit Camus und Sartre befreundet war. In Wirklichkeit existierte eine solche Person nicht; ShariÝati kreierte sie und ließ sie Dinge aussprechen, über die er selbst nicht sprechen konnte oder wollte.20 Ganz gleich ob es sich um das Schriftliche oder Mündliche bei ShariÝati handelt, seine Sprache ist poetisch, zum Teil gereimt und mit vielen Bildern, Namen und Metaphern geschmückt. Er hatte zwar hin und wieder gedichtet, aber manchmal sind komplette Teile seiner prosaischen Schriften in lyrischer Form verfasst, wie zum Beispiel Gebet I und Gebet II21 oder Freiheit, O gesegnete Freiheit.22 Er war grundsätzlich bemüht, wohlklingende und rhetorisch eindrucksvolle Sätze zu formulieren, die später in den religiös-revolutionären Kreisen zu wegweisenden Parolen umfunktioniert wurden: etwa „O Gott, bewahre meinen Glauben vor meinen Komplexen“; oder „O Gott, belehre Du mich, wie ich zu leben habe, ich werde dann selbst wissen, wie ich zu sterben habe.“23 Solche Formulierungen weisen gleichzeitig auf eine weitere Lebenskomponente von AktivistInnen wie ShariÝati hin, nämlich auf die ständige Konfrontation mit dem Tod. Das Thema Tod ist bei ihm sehr präsent; der Tod wird fast schon herbeigesehnt. Sicher ist dies auch im Zusammenhang mit seiner politischen Arbeit zu sehen, in deren Umfeld viele Todes-, Folter- und Gefängnisopfer zu beklagen waren. Es hat aber auch mit seiner Persönlichkeit zu tun. Denn ShariÝati hatte nach eigenen Angaben schon

20 Zu dieser mysteriösen Figur und ihrer Rolle in den Schriften und Gedankenspielen ShariÝatis vgl. Rahnema (1998): S. 161ff. 21 ShariÝati: GW 8, S. 98-124. 22 ShariÝati: GW 2, S. 117-128. 23 ShariÝati: GW 8, S. 98 bzw. 107.

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seit seiner Jugendzeit einen Hang zum Pessimismus, empfand das Leben eher als eine Last und unternahm auch einen Selbstmordversuch.24 Was bereits im Zusammenhang mit Àl-e Ahmad festgestellt wurde, ist auch bei ShariÝati zu beobachten, dass nämlich seine Reden bzw. Schriften den Eindruck vermitteln, als ob er in einer denkbar kurzen Zeit umfassende Themen abarbeiten wollte. Seine Selbstbeschreibung zu Beginn eines seiner zahlreichen Vorträge ist bezeichnend für ihn: Er fühle sich nicht wohl, er sei müde und erschöpft, dürfte eigentlich nicht zum Vortrag erscheinen; er habe jedoch das Gefühl, dass er bald nicht mehr lebe, dass er bald nicht mehr unter seinen ZuhörerInnen sein werde, weshalb er jede Gelegenheit als eine (möglicherweise) letzte ansehe und in jedem Zustand erscheinen und mitteilen wolle, was er zu sagen habe.25 In ShariÝatis Werken wimmelt es zwar buchstäblich von Persönlichkeiten aller Couleur, ist seine selektive Herangehensweise nicht zu übersehen. Obwohl nach der schiitischen Überzeugung alle zwölf Imame gleichwertig sind und sie gemeinsam mit dem Propheten und dessen Tochter FÁteme traditionell ebenbürtig verehrt werden, nehmen bei ShariÝati ÝAli, der erste schiitische Imam, FÁteme, die Ehefrau ÝAlis, Hosein, der dritte Imam, und seine Schwester Zainab großen Raum ein. Das sind diejenigen heiligen schiitischen Figuren, die – den islamischen Quellen nach zu schließen – offensichtlicher und kämpferischer gegen die herrschenden politischen Umstände Widerstand geleistet hatten. ÝAli symbolisiert nach ShariÝati nicht nur die wahren schiitischen Vorstellungen, sondern er verkörpere das Idealbild, nach dem die Menschheit suche.26 Mit FÁteme und Zainab kreiert ShariÝati seine Vorstellung von der Frau, wie sie sein soll: das Idealbild einer Tochter, einer Schwester, einer Mutter, einer Ehefrau, aber vor allem das Idealbild einer engagierten Kämpferin für Freiheit und soziale Gerechtigkeit.27 Und Hosein versinnbildliche den intellektuellen, revolutionären und verantwortungsbewussten Menschen, den die heutige Zeit so sehr misse.28 Unter den Prophetengefährten sind vor allem Abu Zar und SalmÁn für

24 Vgl. ShariÝati: GW 33/1, S. 5-7. 25 ShariÝati: GW 23, S. 137. 26 ShariÝati: GW 26, S. 135-136. 27 Vgl. ShariÝati: GW 21, S. 202-203. 28 Vgl. ShariÝati: GW 19.

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ihn wichtig und wegweisend.29 Darüber hinaus stellt in den Ausführungen ShariÝatis Horr eine zentrale Figur dar.30 Horr diente dem umayyadischen Kalifen Yazid als Offizier, wechselte jedoch später die Fronten, indem er sich Hosein in seinem ungleichen und aussichtlosen Kampf gegen den Kalifen anschloss. Diese Namen stehen für große Vorbilder, die sich durch ihr Beharren auf dem islamischen Glauben und durch ihre Opferbereitschaft im Kampf gegen Unterdrückung auszeichneten. Vor allem Abu Zar wird von ShariÝati als Idealtypus bezeichnet. Abu Zar kam aus ärmeren Verhältnissen, widersetzte sich der ungerechten Art der Verteilung des Reichtums durch den dritten Kalifen ÝOthmÁn und musste dabei viel Leid über sich ergehen lassen. ShariÝati stellt ihm häufig Abu ÝAli (Avicenna) gegenüber. Seiner Ansicht nach sei es das Ziel des Islam, Menschen wie Abu Zar zu formen und nicht solche wie Abu ÝAli.31 Von den westlichen AutorInnen, denen er mit großer Achtung und fast mit einer Art mystischer Liebe in seinen Werken bzw. Reden begegnet, sind insbesondere George Gurvitch, Jaques Berg und Louis Massignon zu erwähnen.32 Darüber hinaus nennt und zitiert er oft Jean Paul Sartre, Karl Jaspers, Erich Fromm, Gabriel Marcel, Maurice Maeterlinck und Martin Heidegger. Vor allem Massignon übt eine große Faszination auf ihn aus. In einem Beitrag unter dem bezeichnenden Titel MaÝbudhÁ-ye man („Meine Gottheiten“)33 beschreibt er Massignon als einen großen, ehrwürdigen, schönen, genialen und gelehrsamen Geist, der eine bunte Mischung von bestmöglichen menschlichen Charakteristika in sich vereine.34 Derartige Formulierungen sind keine Seltenheiten in den Schriften ShariÝatis. Auch George Gur-

29 Abu Zar wurde ein ganzer Band (3) gewidmet; zu SalmÁn vgl. seine kommentierte Übersetzung des Werks von Louis Massignon in: ShariÝati (2002): GW 28, S. 291-412. 30 ShariÝati: GW 2, S. 213-247. 31 Hierzu vgl. ShariÝati: GW 3. 32 Vgl. ShariÝati: GW 13, S. 315ff. 33 Ebd.: S. 315-343; mit maÝbud ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der wörtliche Sinn „Gottheit“, sondern „Meister“ gemeint. In dem Beitrag listet ShariÝati einige Personen auf, von denen er nach eigenen Angaben geistig und ideell geprägt worden war. Neben Massignon, den er über alles verehrt, nennt er noch Sartre, Gurvitch, Fanon und seinen Vater. 34 Ebd.: S. 316.

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vitch bezeichnet er als das Genie der Soziologie weltweit.35 Darüber hinaus ist er von Aimé Césaire und insbesondere von Frantz Fanon beeindruckt.36 In seinen Ausführungen nimmt er auch auf unzählige iranische und muslimische Intellektuelle und Aktivisten von Àl-e Ahmad bis Sayyed Qotb Bezug. Zwei Personen spielen aber eine zentrale Rolle bei ihm: Der aus Indien stammende Dichter und Philosoph Mohammad Iqbal (1877-1938), welcher als geistiger Vordenker Pakistans angesehen wird, und Jamal al-Din alAfghani (1838-1897), den ShariÝati nach der in Iran üblichen Bezeichnung AsadÁbÁdi nennt, und den er als einen der bedeutendsten Gründungsväter der islamischen Bewegung der Gegenwart beschreibt. In Iqbal sieht er fast einen Übermenschen, ein Ebenbild ÝAlis, der durch seine geistigen Erfahrungen sowohl im Orient wie im Okzident, die richtigen Antworten auf die gesellschaftspolitischen Fragen in Iran habe. Denn ShariÝati stellt fest, dass IranerInnen nicht nur mit den spezifischen Problemen eines Dritt-Welt-Landes wie Armut, Ungebildet-Sein und Elend konfrontiert seien; sie hätten gleichzeitig durch die materielle und geistige Hegemonie des Westens mit den typischen Problemen einer westlichen Gesellschaft zu kämpfen:37 „Ich stehe zwischen zwei Epochen und finde in mir alle widersprüchlichen Leiden dieser Epochen wieder.“38

Diese Feststellung bestätigt einmal mehr, wie vielfältig/hybrid die geistigen Quellen ShariÝatis gewesen sind. Dieser Punkt erklärt gleichzeitig, warum es so schwer ist, ShariÝati auf eine bestimmte Linie festzulegen, und warum seine Anhängerschaft aus so unterschiedlichen politischen Lagern kommt. Er war selbst von allen dominanten geistigen Strömungen seiner Zeit beeinflusst und übernahm eklektisch jeweils das, was ihn emotional und ideologisch ansprach. ShariÝati zählt an einer Stelle die vier hauptsächlichen geistigen Strömungen auf, die aktuelle Fragen seiner Zeit beantworten könnten: 1. der Liberalismus, 2. der Marxismus, 3. der Existentialismus und 4. die Religion. So entwirft er mit Bezug auf alle vier Weltsichten sein ideales Bild des Menschen und beschreibt ihn als ein edles, freies, (selbst-)bewusstes,

35 Ebd.: S. 321. 36 ShariÝati: GW 2, S. 168; GW 5, S. 79-80. 37 Vgl. ShariÝati: GW 5, S. 28. 38 Ebd.

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kreatives, idealistisches und moralisches Wesen.39 Seine Kritiken am Westen oder Liberalismus oder auch Marxismus dürfen nicht den Eindruck erwecken, als ob er blind alles verteidige, was als islamisch bezeichnet wird. Er kritisiert genauso rigoros die Religion und ihre offiziellen Vertreter, die „Geistlichen“ (ruhÁneyyun). So formuliert ShariÝati einerseits die sehnsüchtigsten Beschreibungen zu Ehren der Freiheit, interpretiert die Geschichte über weite Strecken marxistisch, sieht sich als Schüler von Jean-Paul Sartre und kreiert andererseits ein Weltbild, das durch und durch mystisch-religiös und islamisch-schiitisch gefärbt ist. Wie eklektisch er gedacht hat, kann am Beispiel seiner Definition des Begriffs touhid, der die erste islamische Glaubensgrundlage darstellt, illustriert werden. Laut ShariÝati stellt touhid als „Weltanschauung“ (jahÁnbini) den „Unterbau“ (zirbenÁ) der islamischen Ideologie dar und umfasst den Blick des Individuums auf das Universum, den Menschen, die Gesellschaft und die Geschichte. Die Kernelemente dieser Weltsicht seien die Einheit der Physik mit der Metaphysik, die Einheit des Menschen mit der Natur, die Einheit des Menschen mit dem Menschen und die Einheit Gottes mit dem Universum und mit dem Menschen.40 ShariÝatis Formulierungen hier verraten seinen Hang zur Mystik und insbesondere zum Konzept vahdat-e vojud („Einheit der Existenz“). Er selbst lehnt eine Parallelität seines touhid-Schemas mit der Mystik allerdings rigoros ab.41 Touhid hat für ShariÝati nicht nur den allgemein bekannten theologischen Aspekt, sondern vor allem die Dimension der gesellschaftlichen Kohäsion, welche sehr zentral sei, jedoch häufig vernachlässigt werde: „Die Sicht des touhids stammt aus der Epoche (der ersten Kommune), in welcher die Menschen gleich waren, denn es gab nur ein ‚wir‘ in der Gesellschaft; und die Widerspiegelung des ‚wir‘ im Himmel fand in Form eines Gottes statt.“42

ShariÝati begründet über sein touhid-Konzept auch ein ideales Geschichtsbild, welches utopisch in die Zukunft gerichtet ist. Ähnlich wie andere postkoloniale DenkerInnen, beispielsweise Frantz Fanon, baut er so in seine

39 Vgl. ShariÝati: GW 24, S. 46-49. 40 Vgl. ShariÝati: GW 16, S. 39. 41 Ebd. 42 ShariÝati: GW 11, S. 122.

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Gegenerzählung und Kritik gleichzeitig ein utopisches Bild der Gleichheit und Gleichrangigkeit ein. Gleichwohl geht er dabei von geradezu naturgegebenen und nicht von konstruierten Zuständen aus; zumindest problematisiert er die historische Erzeugtheit dieser Konzepte nicht. Vielmehr geht es ihm um ein Überwinden bestehender Ungerechtigkeit, die mit diesen Konzepten begründet und aufrechterhalten wird: „Im gesellschaftlichen Zusammenhang stellt touhid eine wahre Einheit aller Gruppen, Klassen und Rassen dar; denn die Menschen gehen alle aus einer Kraft und Religion, nämlich touhid hervor.“43

In seiner sozialistischen Interpretation des touhid spitzt ShariÝati diesen Gedanken dann zu: „Der Kampf [für die Sache] des touhids in der ganzen Geschichte heißt nichts anders als der Kampf der Menschen für die Gleichberechtigung der Rassen und Klassen.“44

Diese Idee der Gleichheit versucht er auch etymologisch zu ergründen. Laut ShariÝati sind die Begriffe Menschen (Arabisch: nÁs) und Gott (Arabisch: AllÁh) dort, wo sie im Koran oder in den religiösen Sprüchen in Bezug auf gesellschaftliche Fragen verwendet werden, austauschbar. Wenn beispielsweise gesagt werde, al-hokm-o le-llÁh („Herrschaft gehört Gott“) oder al-mÁl-o le-llÁh („Eigentum gehört Gott“), hieße das, dass die Herrschaft und das Eigentum der Menschheit gehörten.45 Die unübliche und auffallend eklektische Herangehensweise ShariÝatis an die islamischen Themen, welche zweifellos viel Sympathie bei den jungen wissbegierigen und politisch interessierten StudentInnen und auch bei vielen jüngeren Geistlichen auslöste, konnten die traditionellen und sogar die reformorientierten Gelehrten nicht mehr kritiklos hinnehmen. Einige Großayatollahs wie Ayatollah MilÁni (1896-1975) erließen Fatwas gegen ihn und seine Schriften, bezeichneten seine Werke als islamisch inakzeptabel und bezichtigten ihn gar der Häresie. Lokale Mullahs und Prediger versuchten in ihren Schriften und Predigten ihn und seine Ideen als nicht isla-

43 Ebd.: S. 136. 44 Ebd.: S. 145. 45 ShariÝati: GW 16, S. 68-69.

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misch und antischiitisch zu deklarieren.46 Diese Entwicklung war für ShariÝati, der mit seinen neuen Ansätzen die Schia revitalisieren wollte, zwar nicht unerwartet, jedoch eine bittere Enttäuschung. Noch schmerzlicher war für ihn, dass seine MitstreiterInnen aus den Reihen der Gelehrten, allen voran MortazÁ Motahhari, ihn heftig zu kritisieren begannen. Motahhari beschreibt ShariÝatis wohl wichtigstes Werk IslÁm-shenÁsi („Islamwissenschaft“), in dem er seine Hauptideen über den Islam, dessen Geschichte und dessen Konzeption als Ideologie vorträgt, als IslÁm-sarÁyi („Islam-Fantasterei“), die inhaltlich mit dem Islam nichts zu tun habe, sondern sich vielmehr aus Sozialismus, historischem Materialismus und Existenzialismus speise. Ihn selbst bezeichnet Motahhari als arroganten komplexbeladenen Autor, der in Unkenntnis der islamischen Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft schreibe.47 ShariÝati wurde von den etablierten und zumeist regimetreuen Intellektuellen wie auch von den linken kritischen AktivistInnen entweder nicht ernst genommen oder als ein Werkzeug im Dienste der reaktionären religiösen Kräfte angesehen.48 In einem Brief an seinen Vater bringt ShariÝati seine Niedergeschlagenheit zum Ausdruck und beklagt seine Situation ironisch folgendermaßen: Wäre ich ein traditioneller Gläubiger, so hätte ich alle Schlüssel des Paradieses in der Hand; wäre ich ein moderner marxistischer oder existenzialistischer Intellektueller, so hätte ich für alle Probleme Lösungen parat; was soll ich tun, da ich keiner von beiden bin, die letztlich dasselbe darstellen.49 Hier zieht ShariÝati interessanterweise eine Parallele zwischen Tradition- und Moderne-Konformität und formuliert vage und resignativ-ironisierend seine Kritik an beiden Standpunkten. ShariÝati ist in der Tat keiner der beiden Haltungen zuzuschreiben. Seine Gedanken bewegen sich vielmehr an den Bruchstellen zwischen sozial-philosophischen und religiös-reformistischen Ideen, um eine visionäre, utopische Zukunft von Gerechtigkeit zu formulieren.

46 Vgl. ShariÝat-Razavi (2009): S. 284ff., insbesondere S. 174ff. 47 Zu Motahharis Kritik an EslÁm-shenÁsi vgl. Motahhari (1983): S. 417-435; vgl. auch ShariÝat-Razavi (2009): S. 284ff., insbesondere S. 285, Anm. 3 und 4. 48 Zu Stellungnahmen derartiger Intellektueller zu ShariÝati und seinen Ideen vgl. ShariÝat-Razavi (2009): S. 343-364. 49 ShariÝati: GW 1, S. 23-24.

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Islam, Ideologie und Intellektueller „[…] Und Islam stellt für uns heute insbesondere eine Ideologie dar.“50 So fasst ShariÝati sein Verständnis bzw. seine Erwartung von Islam zusammen. Islam, so ShariÝati weiter, sei kein Sammelsurium von dogmatischen Glaubensvorstellungen, überkommenen und heiligen Traditionen und Bräuchen oder alten Erkenntnissen und Kulturgütern. Er sei eine vollkommene Ideologie, die uns die Welt, den Menschen, die Geschichtsphilosophie und das gesellschaftliche System erklärt.51 Wie später Sorush zu Recht feststellt,52 ist die Ideologisierung des Islam das Hauptanliegen ShariÝatis, welches sein ganzes intellektuelles und politisches Leben kennzeichnet. Sein unanfechtbares Vorbild, Abu Zar, dessen Biographie ShariÝati mit gerade 22 Jahren aus dem Arabischen übersetzt hatte, verkörperte für ihn den „wahren“ Islam – den Islam, der zu sozialer Gerechtigkeit und zum Aufstand gegen das Ungerechte auffordert. Dieses idealisierte Bild Abu Zars prägte ihn und seine Gedanken nachhaltig. Bezeichnenderweise schreibt er in einem seiner unzähligen Kommentare zu Abu Zar folgendes: „[…] ich habe meinem geliebten Vorbild, Abu Zar GhaffÁri, dem ich meinen Islam, meine Schia, mein Motiv, meine Schmerzen, mein Brandmal und meine Parole verdanke, zu folgen. Als er in Medine und in ShÁm aufschrie und übermäßig reagierte, was ‚gar nicht ratsam‘ war; und statt wie ‚die Leute der Wissenschaft, der Analyse und der Kritik‘ sich hinzusetzen und behutsam und schrittweise und in aller ‚Höflichkeit‘ und ohne Lärm die ‚Wahrheiten‘ einiger Bekannten und Spezialisten preiszugeben, und zwar in einer Sprache, die ‚keinen verdächtig macht‘, und die keine Schwierigkeiten macht, geht er mit einem Kamelknochen in der Hand direkt auf den Kalifen des Propheten und den Befehlshaber der Gläubigen los und schreit ihn an: O, ÝOthmÁn, du hast die Armen arm gemacht und die Reichen reich.“53

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass in ShariÝatis Ausführungen der Ausdruck Ideologie eine zentrale Rolle einnimmt. Seiner Ansicht nach kann

50 ShariÝati: GW 5, S. 141. 51 Ebd.: S. 141. 52 Vgl. Sorush (1996a): S. 98f. 53 ShariÝati, ÝAli (2002): S. 300; zitiert nach Sorush (1996a): S. 99.

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nur eine ideologische Haltung das Leben wertvoll und lohnend machen. Für ihn ist wichtig und entscheidend, ob eine Auseinandersetzung mit dem Islam, dessen Geschichte und Traditionen ideologischer oder nur rein wissenschaftlicher/philosophischer Natur ist. Während die erste Herangehensweise den wahren islamischen Zielen und damit der gesellschaftlichen Veränderung diene, führten die letztgenannten Versuche zur Ent- und Verfremdung der Menschen und würden zur Bestätigung der bestehenden Verhältnisse instrumentalisiert. Anders als in der etwa zur selben Zeit aufkommenden marxistischkritischen Theorie Louis Althussers, in der Ideologie im Sinne von umfassender Herrschaftsideologie und zur „Reproduktion von Produktionsverhältnissen“ verstanden wird54, dient das Konzept der Ideologie bei ShariÝati dem Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Darüber hinaus existiert für Althusser Ideologie immer in Praxisformen und materieller Praxis und ist nicht bloßes Bewusstsein der Realität, sondern die imaginäre Beziehung der Individuen zu ihren realen Lebensverhältnissen.55 Auch in diesem Punkt stellen die Ausführungen ShariÝatis die Ideologie-Theorie Althussers auf den Kopf. Für ShariÝati stellt Ideologie nämlich ein revolutionäres Bewusstsein dar, welches die Realität zu verändern versucht. ShariÝati verbindet noch in einer konventionellen Weise Ideologie mit einer politischen Denkrichtung, während er Wissenschaft und Philosophie als von Ideologien getrennt denkt. Allerdings geht es ShariÝati nicht darum, Fachbegriffe und Wissensbereiche auseinanderzuhalten. In seiner eklektischen Redeweise versucht er vielmehr seinem eigenen Ansinnen ein Gerüst zu geben und die politische Relevanz des Denkens bzw. eines Denksystems durch die Verknüpfung mit dem Begriff der Ideologie zu untermauern und zu erläutern. Während die wahre und erstrebenswerte Islamauffassung, so ShariÝati, durch sozial engagierte Muslime wie Abu Zar, ÝAmmÁr YÁser, einen weiteren Prophetengefährten, oder Hosein verkörpert werde, stünden Ibn SinÁ (Avicenna), als typischer Philosoph und Wissenschaftler, und HallÁj, als Sinnbild des mit sich beschäftigten Mystikers, für eine unpolitische Haltung der islamischen Denktradition.56 Eine kritische islamische Ideologie in sei-

54 Vgl. Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Positionen. Hamburg, S. 108-168. 55 Ebd. 56 Vgl. ShariÝati: GW 27, S. 18-24.

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nem Sinne diene dem Kampf für die Entstehung einer gerechten, freiheitlichen und revolutionären Gesellschaft, die von „verantwortungsbewussten Intellektuellen“ (roushanfekr-e masÞul) geführt wird. Damit distanziert er sich sowohl von den traditionellen schiitischen Vorstellungen, welche er als reaktionäre, klerikale und (post-)safawidische Schia bezeichnet,57 als auch von den Intellektuellen, die „dem Westen“, in seiner liberalen oder marxistischen Prägung, nur nach dem Munde sprächen und kein eigenständiges und ihrem eigenen gesellschaftlichen Kontext entsprechendes Konzept hätten.58 Die Intellektuellen als TrägerInnen der islamischen Ideologie haben gemäß ShariÝati einen schweren Stand; denn sie gehörten keiner der etablierten geistigen Führerschaften an. Der Typus des verantwortungsvollen Intellektuellen könne weder in den „traditionellen Lehrstätten“ (houze) noch in den modern ausgerichteten Akademien (Universitäten) gefunden werden. Zum Glück, so stellt ShariÝati hoffnungsfroh fest, gibt es zwischen diesen beiden Gruppen Menschen, die außerhalb des herrschenden Zeitgeistes denken, die nicht durch ihr Umfeld geprägt sind, sondern ihr Umfeld prägen, und die – und hier bezieht sich ShariÝati auf Aussagen Sartres im Vorwort zu Fanons Werk Die Verdammten der Erde – nicht das wiedergeben, was aus Europa importiert wird, sondern das, was sie eigenständig denken und sagen.59 Für ShariÝati zeichnet es die Intellektuellen aus, dass sie die besonderen politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge der Zeit und des Raums erkennen, sich um entsprechende Veränderungen bemühen und die anderen mit ihrer historischen Verantwortung vertraut machen. Insofern hätten die Intellektuellen die Rolle der Propheten in der Gesellschaft. Sie seien weder PhilosophInnen noch WissenschaftlerInnen, sie gehörten wie die Propheten der Masse an und versuchten diese zu einer „schöpferischen“ und „kreativen“ Quelle unermesslicher Genialität und Sprungfähigkeit umzuwandeln.60 Indem ShariÝati die Intellektuellen zu den Propheten ihrer

57 Zu seiner Dichotomisierung der „Ýalidischen“ Schia gegen die „safawidische“ Schia vgl. ShariÝati, ÝAli (2003): TashayyoÝ-e Ýalavi va tashayyoÝ-e safavi (GW 9). Teheran. 58 Vgl. ShariÝati: GW 27, S. 18ff. 59 ShariÝati: GW 20, S. 359. 60 Vgl. ShariÝati: GW 20, S. 255-257.

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Zeit erklärt, essentialisiert er gleichzeitig eine Gesellschaftsgruppe und bekräftigt so, dass im Gegensatz zu WissenschaftlerInnen, „die immer wieder zum Instrument der Ignoranz und Unterdrückung werden können, die Intellektuellen natürlich und unweigerlich die Finsternis und den Ausbeuter bekämpfen. Denn Wissen ist gleich Macht und Intellektualität gleich Licht.“61 Für ShariÝati existieren die Intellektuellen nicht als Abstraktum. Sie müssen sich vielmehr verorten und zwar historisch, gesellschaftlich und geographisch, damit sie überhaupt als intellektuell gelten und wirksam werden.62 Intellektualität sei nicht eine Wissenschaftsdisziplin, die man im Westen oder anderswo lerne und mit nach Hause bringe. Derartige Intellektuelle bezeichnet ShariÝati als „Täuscher/Fälscher“ (Ýavazi), die in ihren Gesellschaften „witzige Katastrophen“ (fÁjeÝe-hÁye khandedÁr) verursacht haben.63 In wissenschaftlichen Fragen, so ShariÝati weiter, mag es übereinstimmende und logisch aufgebaute Verifizierungs- und Falsifizierungskriterien geben. In gesellschaftlichen Angelegenheiten spiele ein anderes Kriterium die entscheidende Rolle, nämlich die „Geographie einer Äußerung“ (joghrÁfeyÁ-ye harf). Intellektuelle müssten daher erwägen, ob ihre Äußerung in einem spezifischen zeitlichen und räumlichen Kontext richtig oder falsch sei.64 In der Verantwortung der Intellektuellen liege es, den eigentlichen Grund der Dekadenz und des Rückschrittes ihrer Gesellschaft ausfindig zu machen, ihr diesen Grund beizubringen und sich um umsichtige, durchdachte und realisierbare Lösungswege zu bemühen.65 Und so stellt ShariÝati in einem Gespräch mit Àl-e Ahmad die Frage: „Denken Sie nicht, bevor wir als Intellektuelle irgendwas tun oder sagen, ist unsere größte und dringende Aufgabe, zu sehen, wo wir Muslime und muslimische Gesellschaften in der Geschichte stehen? Leben wir tatsächlich im europäischen 20. Jahrhundert, um ihre Lösungswege als unsere vorzuschlagen und ihre SchriftstellerInnen, TheoretikerInnen und IdeologInnen zu übersetzen? […] Haben wir die Herrschaftszeit der Religion über die Masse hinter uns? Ist die Kultur unserer Gesell-

61 Ebd.: S. 258. 62 Vgl. ebd.: S. 265. 63 Vgl. ebd.: S. 266-267. 64 Vgl. ebd.: S. 273-274. 65 Vgl. ebd.: S. 278-279.

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schaft eine moderne und rationale? Eine Descartesche Kultur? Befinden wir uns [noch] im Mittelalter? In der Reformationszeit? In der Renaissance oder in der Französischen Revolution?“ 66

Abschließend hebt ShariÝati hervor: „Dann müssen wir zuerst feststellen, in welcher historischen Epoche wir uns befinden, damit es klar wird, was es mit den Lösungsvorschlägen der Intellektuellen auf sich hat und wo dabei die Menschen stehen.“67

Intellektueller zu sein ist für ShariÝati kein Beruf; jede/r könne als Intelektuelle/r agieren, sie/er müsse nur einen gewissen Grad an Erkenntnis erreichen und eine besondere Mission erfüllen. Intellektuelle müssen ihren spezifisch historischen und gesellschaftlichen Kontext erfassen, sich dementsprechend politisch positionieren und aktiv für den Wandel des Istzustands in einen Sollzustand eintreten.68 ShariÝati formuliert zugleich, was für ihn Kritik und kritisches Denken bzw. Handeln bedeuten.69 Hier ist interessanterweise eine Parallele festzustellen zu Saids später ausgearbeiteten Konzepten von säkularer Kritik und des organischen Intellektuellen. Beide grenzen den „säkularen Kritiker“/ Intellektuellen von ExpertInnen und WissenschaftlerInnen ab, die im Rahmen eines akzeptierten Systems arbeiten und sich darin so artikulieren, dass sie gewisse Affiliationen, um es mit Said zu sagen, bewahren können. Ihre Kritik bleibe so immer einem Lager verbunden und loyal. Damit unterscheidet sich diese Art von Kritik von der säkularen Kritik der organischen Intellektuellen, die unabhängig von Lagerdenken handeln und sprechen, und auf diese Weise einer kritischen Position verpflichtet bleiben.70 Diese Definition eines roushanfekr von ShariÝati wie auch die Rolle des Intellektuellen, die Said in seinen Ausführungen erwähnt, ähneln wiederum stark der Definition des organischen Intellektuellen, wie sie der italienische mar-

66 Ebd.: S. 281. 67 Ebd. 68 Vgl. ebd.: S. 249-294. 69 Vgl. ebd. 70 Vgl. Siddiqi, Yumna (2005): „Edward Said, Humanism, and Secular Criticism“. In: Alif: Journal of Comparative Poetics 25 (2005), S. 65-88.

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xistische Denker Antonio Gramsci vornimmt. Nach Gramsci sind dies DenkerInnen, die aus der eigenen Klasse „organisch“ heranwachsen. Solche Intellektuelle unterscheiden sich von „traditionellen Intellektuellen“, die sich als eine eigene Klasse verstünden und versuchten (scheinbar neutrales) Wissen in wissenschaftlicher Manier zu produzieren. „Organische Intellektuelle“ dagegen strebten danach, sprachlich und durch kulturelle Praxen die Gefühle und Erfahrungen der entrechteten Gruppe, der sie entstammten, zum Ausdruck zu bringen – eine Aufgabe, welche diese selbst nicht bewältigen kann.71 Der/Die „organische Intellektuelle“, wie auch Kaya feststellt, „dient der Interessenerhebung seiner/ihrer sich neu organisierenden Klasse oder Gruppe, die die Eingliederung in das System und ihren Platz in der Verteilung der Ressourcen einnehmen will. Sie versucht die soziale, politische und kulturelle Hegemonie der dominierenden Gruppen zu sprengen.“72 Damit stehen die „organischen Intellektuellen“ – wie bei ShariÝati die „prophetischen Intellektuellen“ – für die Rechte und Interessen der untergeordneten Gesellschaftsgruppen. Die Versuche, eine islamische Ideologie zu konstruieren, verführen auch ShariÝati zu Essentialisierungen, z.B. der Essentialisierung der Figur „des Orientalen“ – ein Vorgang, den wir aus der Négritude-Bewegung kennen. Ihre AnhängerInnen sprechen ebenfalls von der Essenz eines „Schwarzseins“, welches sich von „Weißsein“ wesenhaft unterscheide.73 Das überrascht insofern, weil Frantz Fanon, mit dessen Schriften ShariÝati vertraut gewesen sein muss, von dieser Haltung Abstand nimmt. Aus den Schriften ShariÝatis lässt sich so erschließen, dass er unhinterfragt identifikationszuweisende Elemente des kolonialen Diskurses über „den Orientalen“ und den „Rückstand des Orients“ übernimmt. Er hebt hervor, dass der/die IranerIn nicht vergessen dürfe, dass er/sie ein/e „Orientale“ (sharqi) sei, dass

71 Zu den Begriffen organischer bzw. traditioneller Intellektueller bei Gramsci Vgl. Gramsci, Antonio (1992): Gefängnishefte. Bd. 3, Heft 4. Hamburg, S. 513ff. sowie Bd. 7, Heft 12, Hamburg 1996, S. 1498ff. 72 Kaya, Ayhan (2007): „Rap-Pädagogik. Erziehung zur Kritikfähigkeit“. In: Kimminich, Eva [u.a.] (Hrsg.) (2007): Express yourself! Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground. Bielefeld, S. 117-133, hier S. 124. 73 Mehr zu der Négritude-Bewegung und ihren VordenkerInnen vgl. Yaba, Alphonse (1983): Negritude. Eine kulturelle Emanzipationsbewegung in der Sackgasse? Göttingen.

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er/sie der „Dritten Welt“ (donyÁ-ye sevvom) angehöre, und dass er/sie in einer verschobenen Zeit lebe: „[Der/die IranerIn] befindet sich in diesem Jahrhundert, obgleich er/sie in diesem Jahrhundert nicht lebt“.74 Auf diese Weise versucht ShariÝati, die schon etablierten Begriffe und Bezeichnungen für sein pragmatisches bzw. programmatisches Islam-Konzept zu nutzen. Grundsätzlich hält er von Wissenschaftlichkeit im Sinne einer bloßen Beschäftigung mit Theorien nichts. Er legt viel mehr Wert – tausendmal mehr, wie er es selbst ausdrückt – auf die praktischen Erfahrungen.75 Auch hier lässt sich eine Ähnlichkeit zwischen ShariÝati und den späteren postkolonialen DenkerInnen, insbesondere Edward Said und Gayatri C. Spivak, konstatieren, die sich als WissenschaftlerInnen wie auch als AktivistInnen definieren und generell Philosophie und die Praxis des Handelns als sich ergänzende Faktoren von Wissensproduktion und Welt-/Realitätskonstruktion verstehen. Indem ShariÝati hier nun am Begriff Orientale festhält, will er sich, den Binarismus übernehmend, gegen „den Westen“ als eine Hegemonialmacht positionieren. Er gebraucht den Binarismus jedoch auch, um Kritik am universalen Anspruch europäischer Epistemologien und Geschichtsbilder zu üben – ein Versuch, der dem gleich kommt, was der indische Historiker Dipesh Chakrabarty später „Provincializing Europe“ nennt.76 ShariÝatis Kritik an den westlich geprägten Intellektuellen richtet sich nicht grundsätzlich gegen die Ideen und philosophischen Annahmen der Moderne, vielmehr will er anderen Erfahrungen und theoretischen Schlüssen diskursiven Raum zur Artikulation zubilligen. Diese Erfahrungen resultieren ebenfalls aus kolonialen Begegnungen, und stehen in krassem Gegensatz zu den humanistischen Zielen europäischen Denkens jener Zeit. So können diese Kritiken im Sinne einer postmodernen Auseinandersetzung mit der Moderne verstanden werden. Wir sind „orientalisch“, so führt ShariÝati seine Kritik weiter aus, und so müssen wir Widerstand leisten gegen „den Westen“, der versucht, seine Kultur, seine Lebensphilosophie und seine Vorstellungen, wie der Mensch zu leben hat, zu verabsolutieren und uns aufzuzwingen und uns damit unserer Identität und unserer Werte zu berauben. 77

74 ShariÝati: GW 5, S. 139-140. 75 ShariÝati: GW 21, S. 262. 76 Vgl. Chakrabarty (2008). 77 ShariÝati: GW 5, S. 139-140.

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Im Grunde geht ShariÝati von der Aufteilung der Welt in binär zueinander stehende Kategorien aus, den Unterdrückern und den Unterdrückten, ohne dabei eine Gendersensibilität an den Tag zu legen. Mit der „Dritten Welt“ meint er „die Unterdrückten“ oder wie Fanon es bezeichnet „die Verdammten der Erde“, die alle dasselbe Schicksal teilen und für dieselbe Sache kämpfen.78 Darüber hinaus müssen wir, so ShariÝati weiter, uns bewusst machen, dass wir uns im 20. Jahrhundert befinden und uns mit den neuesten Erkenntnissen auseinandersetzen. Wir dürfen nicht, so seine Aufforderung, uns in den althergebrachten Ideen und Traditionen verlieren und uns damit von den aktuellen Geschehnissen, Gedanken und Diskursen, die unser Leben bestimmen, ablenken lassen. Und schließlich sind wir, so ShariÝati weiter, Muslime und als solche solle der Islam für uns als eine Ideologie fungieren, im Sinne einer widerständigen Selbstbezeichnung vor dem Hintergrund westlicher Hegemonie.79 Kurzum, Geschichtsbewusstsein, Selbstpositionierung gegen die westliche Vorherrschaft, Rückkehr zum Orient, Solidarisierung mit dem Rest der Welt und zu diesem Zweck dr Entwurf einer islamischen Weltanschauung als einer dynamischen Ideologie stellen ShariÝatis Forderungen an seine Generation dar. Dabei sieht er sich in der Tradition muslimischer Intellektueller und AktivistInnen wie al-Afghani und Iqbal.80 Weder der Erwerb wissenschaftlicher oder philosophischer Erkenntnisse noch die Beherrschung von Technik seien vorerst für die unterdrückten Gesellschaften in ihrem Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit wichtig; viel wichtiger seien der Besitz eines Ideals, Selbstbewusstsein und die Konstruktion einer Ideologie und Glauben daran. Verfüge eine Gesellschaft über diese Merkmale, könne sie sich gegen westliche Hegemonie behaupten, sich von ihr befreien und danach leicht Zugang zu den Wissenschaften und zu anderen Möglichkeiten bekommen.81 Indem ShariÝati im iranisch-islamischen Kontext den Islam oder die Schia als gesellschaftsbildende und -einende politische Kraft revitalisieren will, beabsichtigt er nicht nur den Weg al-Afghanis und Iqbals fortzusetzen. Er sieht sich gleichsam in der Tradition nicht-muslimischer postkolonialer

78 Ebd. 79 Ebd.: S. 140. 80 Vgl. ebd.: S. 141-142. 81 ShariÝati: GW 20, S. 184-186.

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VordenkerInnen wie Aimé Césaire und Frantz Fanon. Deren Ansätze versucht er in Bezug auf den Iran, bzw. auf islamische Länder zu kontextualisieren. Ihre Ablehnung europäischer Weltbilder bzw. Episteme und die „Rückkehr zu sich“ (bÁzgasht be khish) sind nach ShariÝatis Konzept berechtigte und erstrebenswerte Forderungen. Im iranischen Kontext bedeute dies jedoch mit religiösen und islamisch-schiitischen Symboliken zu arbeiten. Dementsprechend hält er die Intellektuellen, die in Iran die Thesen von Césaire oder Fanon vertreten, ohne sie zu kontextualisieren, genauso für unreflektierte NachahmerInnen wie jene sich als liberal bezeichnenden Intellektuellen, die Iran von heute auf morgen amerikanisieren oder europäisieren wollen.82 Genau in diesem Sinne argumentiert ShariÝati, wenn er von Nationalismus spricht und ihn verteidigt. Er unterscheidet zwischen dem europäischen Nationalismus, der in Nationalsozialismus und Faschismus mündete, und den nationalistischen Bewegungen in Afrika und Lateinamerika. Diese Nationalismen stellten eine „natürliche Reaktion“ (Ýaks-o-lÝamal-e tabiÝi) und einen „Protest“ (eÝterÁz) gegen die politischen, ökonomischen und kulturellen Hegemoniebestrebungen „des Westens“ dar, und dienten der Unabhängigkeit und Freiheit unterdrückter Gesellschaften.83 Daher interpretiert er die Schia als eine iranisch-nationalistische Erscheinung. Dabei verwischen manchmal die Grenzen zwischen einem antikolonialistischen Ideologieentwurf und dem Nationalismus im Sinne einer rassifizierenden Auslegung historischer Phänomene. So kommt er zur Schlussfolgerung: „die Schia ist die Begegnungsstätte des semitischen Geists und des arischen Geistes, die von Anbeginn der Geschichte gegeneinander gekämpft haben.“84

An anderer Stelle beschreibt er die „iranische Genialität“ (nobugh-e irÁni) als den wichtigsten Grund zur Entstehung und Entwicklung der muslimischen Kultur im 8.-10. Jahrhundert, im „goldenen Zeitalter der islamischen Zivilisation“.85 Während er zunächst jegliche „nationalistische Krankheit“ von sich weist, stellt er jedoch im selben Abschnitt mit einer Anspielung

82 Vgl. ShariÝati: GW 4, S. 21f.; GW 20, S. 283. 83 Vgl. ShariÝati: GW 4, S. 184-186. 84 ShariÝati: GW 27, S. 297. 85 ShariÝati: GW 5, S. 115.

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auf die iranische Schia fest, dass in den schwierigsten Phasen der islamischen Geschichte der „iranische Gedanke“ (andishe-ye irÁni) den „wahren Islam“ habe erfassen können.86 Trotz dieser Begeisterung für die Schia hat er eine vehemente Ablehnungshaltung gegen die safawidische Herrschaft in Iran, obwohl sie zum ersten Mal in der islamischen Geschichte die ZwölferSchia als Staatsreligion etabliert hat. Diese Haltung ist einerseits darauf zurückzuführen, dass ShariÝati die „safawidische Schia“ (shiÝe-ye safavi) als eine reaktionäre und den Staatsinteressen dienende Auffassung betrachtet und andererseits auf seine Sympathie für den islamischen Internationalismus, dem er sich als Gegengewicht zur westlichen kolonisierenden Übermacht verschrieben hat, und der durch die Safawiden, so ShariÝati, zunichte gemacht wurde.87 Obwohl ShariÝati bei der Konzipierung seiner Ideen von einer sozialistischen Gerechtigkeitsdefinition und der marxistischen Geschichtsinterpretation so stark geprägt ist, dass sogar einige reformorientierte Gelehrte wie MortazÁ Motahhari sein Islamverständnis als „Islam-Fantasterei“ bezeichneten, die viel mehr kommunistisch-materialistischen Gehalt hat als islamischen,88 hält er weder vom Marxismus als Ideologie noch von den MarxistInnen als politische AktivistInnen viel. Auch diese Paradoxie ist im Lichte seines von Pragmatismus geleiteten Synkretismus zu sehen, mit dessen Hilfe ShariÝati versucht, für den schiitischen Iran eine geeignete islamischrevolutionäre Ideologie zu entwerfen. Im Gegensatz zu Sorush und anderen, die auf theoretisch-philosophischer Ebene den Marxismus zu bekämpfen versuchen, argumentiert ShariÝati pragmatisch und mit Bezug auf die historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeiten gegen den Marxismus. Er hebt hervor, dass es in den lateinamerikanischen Ländern wie Kuba nicht die traditionsreichen kommunistischen Gruppen gewesen sind, die die Menschen in Bewegung gesetzt und die Freiheit erkämpft hatten; vielmehr hätten nationalistisch gerichtete FreiheitskämpferInnen wie Fidel Castro oder Che Guevara dies bewirken können. Auch in Algerien seien es die Islam-konformen Gruppen und VordenkerInnen gewesen, die den antikolonialen Krieg gewannen und nicht die kommunistischen Organisationen.89

86 Ebd.: S. 115. 87 ShariÝati: GW 27, S. 154. 88 Vgl. Motahhari (1983): S. 417-435. 89 ShariÝati: GW 4, S. 187-188.

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Wenn ShariÝati von Islam oder Schia spricht und deren Symboliken wiederbeleben will, darf dies weniger als ein Plädoyer für einen traditionellen Islam oder als Hofieren eines religiösen Staats verstanden werden. Viel entscheidender für ihn ist, ob jemand sozial engagiert ist und politisch für eine gerechte Sache kämpft. Daher stellt er in einem Brief an seinen Vater fest, dass für ihn der „feueranbetende“ [sic!] Gandhi vielmehr einen Schiiten darstelle als Ayatollah BehbahÁni [der Gegner der Konstitutionellen Revolution]. Er betrachte Mohammad BÁqer Majlesi, den Großayatollah der safawidischen Zeit, als Sunniten und halte dagegen Ahmad Ibn Hanbal, der eine konsequente Haltung gegen die abbasidische Obrigkeit pflegte, und Abu Hanifa, der trotz Prügel von Seiten der umayyadischen wie auch abbasidischen Statthalter kein staatliches Amt annehmen wollte, für schiitisch. ShariÝati geht in dem Brief noch einen Schritt weiter und hält fest, dass für ihn der „jüdische“ George Gurvitch, welcher gegen den HitlerFaschismus Widerstand geleistet hatte und gleichzeitig gegen die Bluttaten der Juden in Palästina protestierte, der Schia näher sei als der zeitgenössische großschiitische Ayatollah MilÁni.90 In seinem Bemühen, den „verschlafenen“ Islam zu einer politisch motivierten und sozial engagierten Ideologie umzufunktionieren, kritisiert ShariÝati jedwede andere geistige Beschäftigung. Bei einem Versuch, die Ideologie mit Philosophie und Wissenschaft zu vergleichen, schreibt er: „Die Ideologie ist ein Glauben, welcher auf Selbstbewusstsein, Führung, Rettung, Vollendung, Wert, Ideal und Verantwortung aufbaut. Die Philosophie und die Wissenschaft bringen eine Erkenntnis hervor, die Ideologie findet das Gute und das Böse heraus. Die Philosophie und die Wissenschaft gehen nicht über die Grenze der Erkenntnis hinaus, die Ideologie führt. Die Philosophie und die Wissenschaft bilden den Spiegel der Natur, der Gesellschaft und der Menschen, die Ideologie ist die Hand. Die Philosophie und die Wissenschaft sind das Bewusstsein, die wahre und vollkommene Ideologie wird durch das Selbstbewusstsein verwirklicht. Die Philosophie und die Wissenschaft erklären die Werte, die Ideologie vernichtet und erschafft die Werte. Die Philosophie und die Wissenschaft beschreiben und entdecken dich, die Ideologie erschafft dich. Die Philosophie und die Wissenschaft bringen den

90 ShariÝati: GW 1, S. 12-13.

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Philosophen und den Gelehrten hervor, die Ideologie den kämpfenden Intellektuellen.“91

Daher legt ShariÝati keinen Wert auf Wissen als solches, weil er es als nicht neutral betrachtet. Er schätze, so schreibt er an einer anderen Stelle, den Wert derjenigen, die keine Gelehrten sind höher als den derjenigen, „die ihr Gehirn mit Wissen gefüllt und vergiftet haben“. Denn die ersteren könnten mit ihrem gesunden und intuitiven Talent denken und zumindest die einfachen Probleme ihres Alltags begreifen. „Aber diejenigen, die ein [mit Wissen] gefülltes Gehirn besitzen, haben ein unnatürliches und ungesundes Gehirnvermögen. Und sie sind nicht im Stande, einfache Sachen zu verstehen.“92

EjtehÁd als „Theorie der Permanenten Revolution“ Zusammen mit Alexander Parvus (1867-1924) ist Leo Trotzki (1879-1940) als Vater des Konzepts der Permanenten Revolution in die Geschichte eingegangen. Mit Blick auf die Rückständigkeit Russlands und das niedrige Niveau der kapitalistischen Entwicklung dort hielt Trotzki die Durchsetzung gesellschaftlicher Veränderungen im Zuge einer bürgerlichen Revolution, nach dem Vorbild von Westeuropa, für nicht möglich. Die Bourgeoisie in Russland war ihm zufolge zu schwach zur Lösung der demokratischen Aufgaben. Daher sollte die Arbeiterklasse die Führung der demokratischen Revolution übernehmen. Da die „Diktatur des Proletariats“ gezwungen sein werde, weitgehende Eingriffe in die bürgerlichen Eigentumsrechte vorzunehmen, wachse die demokratische Revolution in die sozialistische hinein. Allein dadurch werde sie schon zur „Permanenten Revolution“. Gleichzeitig könne jede Revolution unter Führung der Arbeiterklasse ausschließlich unter der Voraussetzung einer Weltrevolution Erfolg haben. Würde letztere nicht eintreten, so sei erstere zum Scheitern verurteilt.93 Die

91 ShariÝati: GW 7, S. 93-94. 92 ShariÝati: GW 27, S. 3-4. 93 Vgl. Trotzki, Leo (1981): Die permanente Revolution. Frankfurt a.M.; Löwy, Michael (1987): Revolution ohne Grenzen. Die Theorie der permanenten Revolution. Frankfurt a.M.

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zwangsläufige Einmündung einer zunächst „demokratischen Revolution“ in eine sozialistische einerseits und eine für den Bestand der sozialistischen Revolution im Kerngebiet (Russland) lebenswichtige Fortsetzung der Revolution in aller Welt andererseits bilden die Eckpfeiler der „Theorie der Permanenten Revolution“ nach Trotzki. Auch der Vordenker des revolutionären Islam bzw. der islamischen Ideologie, ShariÝati, plädiert in seiner eklektischen Art für eine „Permanente Revolution“. Mit Verweis darauf, dass „einer der bekannten Theoretiker der Revolution“ das Konzept einer permanenten Revolution entworfen habe und ohne Trotzki beim Namen zu nennen,94 hält ShariÝati das Modell auch für den Islam als eine revolutionäre Ideologie für notwendig und findet es in dem Begriff EjtehÁd („ständiges Bemühen um eigenständige Meinungsbildung“) wieder.95 Er braucht den Begriff EjtehÁd, um sein ideales gesellschaftliches Konzept ommat va emÁmat („Gemeinschaft und Führung“) vor der Stagnation zu bewahren. In der von ihm entworfenen ommat würden zwar die BürgerInnen in einer Demokratie leben, jedoch in einer vom imÁm, dem selbstbewussten revolutionären Intellektuellen, geführten Demokratie, in einer, wie ShariÝti sie beschreibt, „pflichtbewussten Demokratie“ (demokrÁsi-ye motaÝahhed): „Als Mitglieder der ommat glauben die BürgerInnen an die Führung und zeigen ihr gegenüber Gehorsamkeit, allerdings eine selbst und frei gewählte Gehorsamkeit“.96

In der revolutionären Phase solle nicht viel Wert auf „Demokratie“, sondern vielmehr auf eine „gute Führung“ (rahbari-ye shÁyesteh) gelegt werden, da die BürgerInnen noch nicht so weit seien, die „gute Führung“ zu erkennen.97 Nach ShariÝati besitzt die islamische Ideologie auch das passende Instrument dazu, die revolutionäre Dynamik später beizubehalten. Er sieht im Konzept des EjtehÁd die Möglichkeit ständiger Neubesinnung. Dieses Konzept und Verständnis von EjtehÁd ähnelt in gewisser Weise dem

94 ShariÝati: GW 35/1, S. 221. 95 Zum Konzept EjtehÁd bei ShariÝati vgl. auch: Ibrahim, Mir Mohammad (2004): Ijtihad: a need of the hour: a case study of Ali Shariati, in: Islam and the Modern Age 35, S. 123-141. 96 ShariÝati: GW 26, S. 495. 97 Vgl. ebd.: S. 619-620.

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dekonstruktivistischen Ansatz des poststrukturalistischen algerisch-französischen Philosophen Jacques Derrida, wobei es nicht nur auf semiotischer, sprachlich-philosophischer Ebene formuliert ist, sondern stark eine sozialpolitische Dimension aufweist. Um eine hierarchisierende Denk- und Handelspraxis vorzubeugen, spricht Derrida von der ständig zu vollziehenden Dekonstruktion, die Binarismen nicht nur aufdeckt, sondern durch das Aufdecken von Aporien im Text über sie hinaus weist.98 Der Rückgriff auf den Begriff EjtehÁd als ein in der islamischen Geistesgeschichte bekanntes und damit vertrautes Zeichen und Instrumentarium zur Rechtfertigung intellektueller Erneuerungen ist ein üblicher Vorgang, insbesondere in Bezug auf die Frage der Positionierung des Islam in der „Moderne“. Wie sich die Religion, die durch bestimmte überzeitlich gültige Konstanten definiert wird, den sich verändernden Lebenswirklichkeiten anpasst, und wie eine Praxis des Denkens gefunden werden kann, welche es ermöglicht, den Islam gemäß der neuen Gegebenheiten auszulegen; um solche Fragen beantworten zu können, stützen sich sowohl die traditionell ausgebildeten Gelehrten als auch die aus der islamischen Überzeugung heraus agierenden Intellektuellen auf den Begriff EjtehÁd. Er stellt eine vornehmlich in der islamischen Rechtswissenschaft herangewachsene und de facto über die Grenzen des Rechts hinaus praktizierte Methode zur eigenständigen Meinungsbildung dar. Während der EjtehÁd traditionell nur im Bereich des Rechts – und hier auch nur in Bezug auf die Fragen, die durch den Text (Koran und Sunna) nicht konkret geregelt sind – zugelassen ist, haben die heutigen Gelehrten diese Grenzen der „legitimen“ EjtehÁd-Anwendung längst überschritten. Einer der bekanntesten Ayatollahs Irans, MakÁrem ShirÁzi, hält z.B. „das Spionieren“ (tajassos), das nach eigener Darstellung aufgrund von Textaussagen, Konsensus und Vernunft verboten ist, in einem islamischen Staat für zulässig und sogar für „geboten“ (wÁjeb).99 In diesem Sinne bekräftigt auch Ayatollah Montazeri (1922-2009), der designierte Nachfolger von Khomeini

98 Derrida, Jaques (1987): „Dekonstruktion“. In: Falter. Wiener Stadtzeitung. Beilage zum „Falter“, Nr. 22a/87, S. 11 u. 12; Roetzer, Florian (1999): Gespräch mit Jacques Derrida. Jonathan Culler Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek. 99 ShirÁzi, MakÁrim (1995): „EqterÁh“. In: Naqd va nazar. Jahrgang 2/5. Qom, S. 16-17.

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bis 1989, dass in der Schia das Tor des EjtehÁd im Bereich des Rechts „uneingeschränkt“ (motlaq) geöffnet sei.100 Die muslimischen Intellektuellen gebrauchen den Terminus EjtehÁd in einem viel umfassenderen Sinne als in seiner herkömmlichen Bedeutung eines Instrumentariums zur Anpassung des Rechts an neue Gegebenheiten der Zeit und des Raums. Ganz eindeutig fordert etwa Sorush, über die Grenzen der „Rechtslehre“ (feqh) hinaus in den „religiösen Grundlagen“ (osul) EjtehÁd zu praktizieren. Im Hinblick auf moderne Begründungen klassischer Standpunkte zu den Fragen der „Apostasie“ (ertedÁd) oder des „Angriffskriegs“ (jihÁd ebtedÁÞi) plädiert er für eine Haltung im Sinne der Menschenrechte nach dem humanistischen Ideal. Zudem bekräftigt er, dass nur im Lichte einer grundlegend anderen erkenntnistheoretischen und anthropologischen Haltung angemessene Antworten auf moderne Fragen gegeben werden können, wobei er sich hier an muslimische intellektuelle Kreise richtet.101 Denn „die moderne Welt ist nicht die Welt neuer Rechtsfragen, sie ist die Welt neuer Grundprinzipien. Und solange die Gelehrten ausschließlich an neue Rechtslösungen denken, werden sie keine grundlegenden Lösungswege vorschlagen können“102. Auch MalekyÁn arbeitet mit EjtehÁd-Ansätzen und geht auf diese Weise in seinen Ausführungen über das herkömmliche Islamverständnis hinaus.103 Wie so oft, übernimmt ShariÝati auch in diesem Zusammenhang die Rolle des Pioniers; er ist einer der ersten DenkerInnen Irans, der den EjtehÁd als Methode zur Ermöglichung permanenter Erneuerung herausarbeiten wollte. Ausgehend von der Überzeugung, dass jede politische und geistige Bewegung schließlich in einen starren Zustand übergehen und ihre anfängliche Dynamik verlieren würde, stellt er fest, dass der Islam mit dieser Gefahr nicht konfrontiert ist. Denn es gebe im Islam neben dem Prinzip amr-e be maÝruf va nahye az monkar („Auffordern zum Guten und Untersagen des

100 Montazeri, Hosein-ÝAli (2003): „Feqh dar tarÁzu“. In: AdÁlatnejad, SaÝid (Hrsg.): Andar bÁb-e ejtehÁd. Dar bÁre-ye kÁrÁmadi-ye feqh-e eslÁmi dar donyÁ-ye emruz. Teheran, S. 36. 101 Sorush, ÝAbdolkarim (2003a): S. 22. 102 Ebd.: S. 24. 103 Vgl. unten, Kapitel über MalekyÁn.

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Schlechten“) und der Möglichkeit zum „Auswandern“ (hejrat) auch das Prinzip des EjtehÁd. 104 Für ihn stellt der EjtehÁd den Motor einer sich immer wieder zu erneuernden Islaminterpretation dar. Gerade mit Hilfe dieses Instrumentariums sieht er sich in der Lage, seine islamische Ideologie zu konzipieren. Dabei beschäftigt er sich kaum mit den rechtstheologischen Hintergründen des Begriffs, sondern vielmehr mit dessen sozial-historischer Brauchbarkeit.105 Dementsprechend definiert er den EjtehÁd als „freie und selbständige wissenschaftliche Bemühung“ um ein „vollwertiges“ und „fortschrittliches“ Verständnis des Islam. Damit sei der EjtehÁd das wichtigste Mittel zur fortwährenden Beweglichkeit, Lebendigkeit und Erneuerung der Kultur, des Geistes und des Rechtssystems im Islam.106 So versteht er den EjtehÁd als Theorie der „Permanenten Revolution“ auf epistemologischer Ebene. Auf diese Weise sieht er keinen Widerspruch zwischen der muslimischen glaubensgeschichtlichen Annahme, dass Mohammad der letzte Prophet, „das Siegel der Propheten“ (khÁtam al-anbeyÁÞ) sei, und der historischen Entwicklung der muslimischen Gesellschaft(en), da der EjtehÁd eine ständige Hinterfragung und Neuorientierung ermögliche. Der Islam werde so nicht einer bestimmten historischen Epoche verhaftet bleiben, sondern durch den EjtehÁd sich ständig von Neuem verändern.107 ShariÝati fordert daher dazu auf, sich auf höchstem akademischem Niveau und mit Indienstnahme aller möglichen wissenschaftlichen Disziplinen, von der Religionswissenschaft bis zur Geschichte und von der Philosophie bis zur Orientalistik, um ein „richtiges“ Verständnis des Islam und der islamischen Kultur zu bemühen.108 Auch viele seiner kritischen Äußerungen gegenüber den orthodoxen Vertretern des Islam rühren daher, dass er vehement für die Öffnung des Tors des EjtehÁd und gegen das Konzept des taqlid („Nachahmung“) argumentiert – ein Konzept, welches die Befolgung von Rechtsmeinungen der Gelehrten durch die einfache Bevölkerung legitimiert. ShariÝati lehnt

104 ShariÝati: GW 17, S. 65-67. 105 Zu ShariÝatis Auslegung des EjtehÁd vgl. u.a. GW 17, S. 65-67; GW 35/1, S. 214-225. 106 ShariÝati: GW 35/1, S. 220. 107 Ebd.: S. 223-224. 108 Ebd.: S. 224-225.

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dieses Konzept zwar nicht kategorisch ab und hält es sogar für nachvollziehbar, solange es als Konsultierung eines Experten, eines Gelehrten bei fachlichen Fragen verstanden und praktiziert wird. Taqlid dürfe aber nicht zur Bankrotterklärung der „individuellen“ Vernunft missbraucht werden.109 Er plädiert mit Bezug auf den bekannten Prophetenspruch, „die Meinungsverschiedenheit der Gelehrten meiner Gemeinde ist ein Segen“, für mehr geistigen Streit und mehr rationale Auseinandersetzung.110 In Bezug auf die Religion stellt er folgendes fest: „Religion ist eine Wahrheit; sie darf aber jeder anders verstehen […] sie darf auch jeder Interpret mittels eigener Methode und Wahrnehmung verstehen.“111

Und ganz allgemein konstatiert er: „Einheit im Denken, im Untersuchen, im Glauben heißt nichts anders als Tod des Glaubens, Stagnation des Verstands und Stillstand des Denkens.“112

Kritik an ShariÝati Es gibt unzählige kritische Auseinandersetzungen mit ShariÝati und seinen Gedanken, in denen vor allem auf die Widersprüchlichkeiten, Übertreibungen und Unachtsamkeiten bei ihm hingewiesen wird.113 ShariÝati hat insgesamt eine nahezu romantisierende und eklektischaffektive Herangehensweise an seine Themen und spricht und arbeitet nicht

109 ShariÝati: GW 26, S. 178. 110 Ebd.: S. 174. 111 Ebd.: S. 175. 112 Ebd.: S. 179. 113 PurÁn ShariÝat-Razavi, ShariÝatis Ehefrau, gibt in ihrem Buch einen Überblick zu diesen Kritiken. Siehe hierzu: ShariÝat-Razavi (2005): Tarhi az yek zendegi. Bd. 2. Teheran, S. 173-364. Für eine umfassende Untersuchung siehe auch: HÁshemi, Mohammad Mansur (2006): „Din, ideÞuluji, enqelÁb“. In: DinandishÁn-e motajadded. Roushanfekri-ye dini az shariÝati tÁ malekyÁn. Teheran, S. 81-113. In Anlehnung unter anderem an die beiden oben genannten Bücher werden im Folgenden einige Kritiken an ShariÝatis Werk herausgearbeitet.

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in einem, wie es die indisch-amerikanische Denkerin Gayatri Chakravorty Spivak es nennt, „disinterested style“, der gemeinhin mit Wissenschaftlichkeit konnotiert ist. Einerseits ist bei ihm eine ausgeprägte Empfindlichkeit gegen das Ungerechte, ganz gleich in welcher Form und unter welchem Namen es geschieht, zu beobachten. Andererseits ist es sein ideologisches Ziel, die iranische schiitische „Masse“ gegen das politische System zu mobilisieren. Wenn es um bestimmte islamisch-schiitische Vorstellungen geht, die insbesondere von nicht religiösen Intellektuellen als vormodern und ungerecht kritisiert werden, versucht ShariÝati häufig, diese als gerechte und geeignete soziale Lösungen zu rechtfertigen und neu zu beleben. Er kritisiert z.B. auf der einen Seite die Institution der „Vielehe“ (taÝddod-e zouje), wie sie praktiziert und verstanden wird, nämlich als Legitimierung des sexuellen Triebs des Mannes, lehnt sie jedoch nicht kategorisch ab. Er rechtfertigt sie sogar in androzentrischer und heteronormativer Weise, in dem er an der „Vielehe“ als gesellschaftsordnendes Prinzip festhält, denn diese Institution sei dafür gedacht, in einer sozialen Situation, wie etwa in einer Kriegszeit, in der es mehr Frauen als Männer gebe, und in der viele Frauen und damit vielleicht auch ihre Kinder ohne Schutz und ohne finanzielle Unterstützung dastünden, zur Lösung des gesellschaftlichen Problems beizutragen.114 Dass Frauen sich durchaus selbst finanzieren oder möglicherweise andere sexuelle Ausrichtungen haben können oder etwa auch selbst am Krieg beteiligt sein können/wollen, spart er aus. Auch die Institution der „Zeitehe“ (ezdevÁj-e movaqqat) nimmt er trotz ihres Missbrauchs, der insbesondere Frauen in ausweglose Sackgassen führen kann, in Schutz. ShariÝati sieht ein, dass die „Zeitehe“ in ihrer praktizierten Form zwar als „hässlich“ und „abscheulich“ angesehen werden kann, plädiert jedoch für eine „wissenschaftliche, im Sinne einer soziologischen und insbesondere einer psychologischen Auseinandersetzung“ mit dem Phänomen der „Zeitehe“, denn sie sei „nicht nur die größte, sondern die einzige Lösungsmöglichkeit der sexuellen Krise der jungen Generation in der heutigen Welt“.115 Nicht nur diese fast naiv anmutende Herangehensweise macht ihn angreifbar. Auch sind einige Widersprüche in seiner Haltung festzustellen. Er selbst betont mehrmals, „wissenschaftlich“ zu arbeiten und in seinen Urteilen „gerecht“ und „objektiv“ zu bleiben. Gleichzeitig sind seine Schriften

114 Vgl. ShariÝati: GW 21, S. 252-255. 115 Ebd.: S. 255.

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voll von affektiven Bekundungen für Personen und Themen, ganz gleich wie umstritten diese auch sein mögen. Auch sind seine Reden von einer beißend-ironischen Ausdrucksweise geprägt. Kritik heißt für ihn in einigen Fällen, den anderen zu diskreditieren. In seiner Kritik an einem Artikel des Kulturkritikers DÁryush Àshuri etwa, lässt sich ShariÝati zu einer regelrechten Beschimpfung des Autors verleiten.116 Der zunächst links und später liberal orientiere Àshuri (geb. 1938) nimmt in seinem 1967 veröffentlichten Beitrag117 Partei für den israelischen Staat, befürwortet seine Gründung, lobt die militärischen Siege Israels gegen die arabischen Länder und kritisiert die in Iran verbreitete proarabische Haltung als eine letztlich proimperialistische und kapitalistische Haltung. ShariÝatis Kritik an ihm, die über weite Strecken nachvollziehbar bleibt, schweift jedoch an manchen Stellen in persönliche und beleidigende Formulierungen aus. ShariÝati versucht Àshuris Behauptungen nicht nur als ahistorisch, anachronistisch und widersprüchlich zu entkräften, er beschreibt ihn zugleich als einen „sich verkaufenden Intellektuellen“118, der in „Torheit Genialität besitzt“119, und der aus einer „wahnsinnigen Liebe zum Zionismus“ in „Wahnfieber“ verfallen sei.120 Am eklatantesten jedoch ist, dass ShariÝati zur Abwertung von Àshuri gegen ihn hetzt, indem er ihn als „rassisch jüdisch“ bezeichnet.121 Diese Seite ShariÝatis wird in der Sekundärliteratur nicht gebührend thematisiert. Auch werden diese Formen von Nationalismen und Rassismen, die im iranischen Selbstverständnis virulent sind, nicht reflektiert oder weiter hinterfragt. ShariÝati verfällt ebenso in Übertreibungen, wenn es um Lobgesänge für seine Idole und islamgeschichtlich geprägten Themen geht. Seine grenzenund kritiklose Begeisterung etwa für al-Afghani, Iqbal oder Massignon verleiten ihn zu historisch nicht mehr belegbaren Behauptungen. Über Iqbal schreibt er an einer Stelle, dass er heute in der „Weltphilosophie“ behandelt

116 ShariÝati: GW 35/2, S. 608-640. 117 Der Beitrag unter dem Titel „Zedd-e sehyunism va zedd-e emperiÁlism dar sharq“ („Antizionismus und Antiimperialismus im Orient“) wurde 1967 in der Zeitschrift Ferdousi gedruckt. 118 ShariÝati: GW 35/2, S. 632. 119 Ebd.: S. 626. 120 Ebd.: S. 637. 121 Ebd.: S. 633, Anm. 1.

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werde.122 Angebrachter wäre es vielleicht gewesen, die Frage zu stellen, warum er das (immer noch) nicht wird. Dass Iqbal in der jüngeren europäischen Philosophiegeschichte diese Stellung nicht hat, kann man im Sinne von ShariÝati noch als ein Resultat kolonialistischer Denkmuster ansehen. Er wird aber nicht einmal in den islamischen akademischen Kreisen als ein Philosoph von Weltrang betrachtet und behandelt. Dies kann als ein Hinweis gewertet werden, dass ein dekolonisierender, emanzipierender Prozess auf erkenntnistheoretischer Ebene noch nicht stattgefunden hat. Nicht einmal in den iranischen nachrevolutionären universitären Kreisen erlangte Iqbals Schriften diese Stellung. Zwar sagt dies nichts über die eigentliche Qualität von Iqbal aus, doch sind ShariÝatis rhetorische Bemühungen, ihm einen seiner Ansicht nach angemessenen Platz in der Philosophiegeschichte zu verschaffen, problematisch. Darüber hinaus stellt ShariÝati in seinen Werken historische Behauptungen auf, die zumindest zweifelhaft sind. An einer Stelle konstatiert er beispielsweise: „Wir selbst waren in Iran innerhalb eben dieser letzten hundert Jahre im Vergleich zu Japan 50 Jahre weiter fortgeschritten und entwickelt. Woher kommt [nun] dieser Entwicklungssprung in Japan? Er kommt daher, dass sie die Spiritualität in die wirtschaftliche Produktion hineingebracht haben.“123

Dieser unachtsame Vergleich hängt zum Teil mit seiner kritischen Haltung gegenüber der etablierten Wissenschaftlichkeit zusammen. ShariÝati hielt grundsätzlich nicht viel von der Wissenschaft und den WissenschaftlerInnen. Ihm ging es vor allem um eine Rhetorik der Begeisterung für kritische und revolutionäre Aussagen, die eine Veränderung nach sich ziehen sollen; so ist ShariÝati vielmehr von den „aufopferungsbereiten“ statt den „wissenden“ Menschen begeistert: „Für den Westen ist eher ein ungebildeter Spartakus nützlich als eine Akademie gefüllt mit Sokrates, Platon und Aristoteles und für den Orient ist ein Abu Zar, ein arabischer Beduine, wirkungsvoller als einhundert Avicennas, Averroës und MollÁ SadrÁs.“124

122 ShariÝati: GW 5, S. 11. 123 ShariÝati: GW 10, S. 69. 124 ShariÝati: GW 30, S. 566.

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Darüber hinaus ist es schwierig, zu welchem Sachverhalt auch immer, eine einheitliche Meinung von ShariÝati zu finden. Zu oft erscheinen seine Aussagen auf den ersten Blick widersprüchlich. Dabei ist es immer hilfreich, kontextabhängig zu hinterfragen, wen und was er in welchem Zusammenhang genau meint. Während er an einer Stelle z.B. die ÝolamÁÞ lobt – und die antikolonial und politisch aktiven Gelehrten meint –, kritisiert er sie an einer anderen Stelle rigoros – und hier zielt er auf die passiven und eigennützig agierenden Geistlichen ab. Er kann an einer Stelle die vergangenheitsorientierte Haltung „der Orientalen“ in Frage stellen, um in einem anderen Fall dieselbe Haltung zu unterstützen.125 Einerseits hat er seine Probleme mit „rationaler Herangehensweise“, andererseits trauert er einer eigenen Kultur nach, in der die „rationalen Wissenschaften“ (Ýolum-e Ýaqli) durch die „textbezogenen Wissenschaften“ (Ýolum-e naqli) ersetzt worden seien.126 Auf der einen Seite wertet er Avicenna gegenüber Abu Zar ab. Auf der anderen Seite führt er ihn neben Averroës als die Größen an, die im Mittelalter, in einer Zeit, in der „Europa von Unwissenheit beherrscht war“, die Fackeln der Wissenschaft und Philosophie hochgehalten hätten.127 Er kritisiert die Geistlichen, weil sie unter anderem dogmatisch seien, ist jedoch in seinen eigenen Überzeugungen selbst dogmatisch und spricht von „gutem Dogmatismus“.128 Wie auch aus seiner Biographie hervorgeht, hatte ShariÝati weder die Zeit noch die Gelassenheit eines Akademikers im herkömmlichen Sinne. Er war vielmehr ein politisch motivierter Theoretiker, der seine Ideen unter Zuhilfenahme aller rhetorischen Möglichkeiten zu formulieren versuchte. Und wahrscheinlich war seine große „Schwäche“ sein „Romantizismus“, der sich in seinen stark idealistischen Vorstellungen von Begriffen wie Mensch, Revolution, Liebe, Demokratie widerspiegelt. Von diesem „Romantizismus“ lebt auch die über Generationen anhaltende Begeisterung für seine Schriften. Die romantisierende Haltung ShariÝatis wird später von der Generation der Intellektuellen, die die islamische Revolution bzw. Republik erfahren hat, als das Gefährliche an ShariÝatis Denksystem beschrieben und gerne mit Popper dekonstruiert:

125 Vgl. ShariÝati: GW 12, S. 122-124. 126 ShariÝati: GW 5, S. 237. 127 ShariÝati: GW 31, S. 16. 128 Siehe hierzu ShariÝati: GW 4, S. 128.

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„Aber von allen politischen Idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht der gefährlichste. Ein solcher Wunsch führt unvermeidlich zu dem Versuch, anderen Menschen unsere Ordnung ‚höherer‘ Werte aufzuzwingen, um ihnen so die Einsicht in Dinge zu verschaffen, die uns für ihr Glück am wichtigsten zu sein scheinen; also gleichsam zu dem Versuch ihre Seelen zu retten. Dieser Wunsch führt zu Utopismus und Romantizismus. Wir alle haben das sichere Gefühl, daß jedermann in der schönen, der vollkommenen Gemeinschaft unserer Träume glücklich sein würde. Und zweifellos wäre eine Welt, in der wir uns alle lieben, der Himmel auf Erden. […] der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle.“129

Nicht zuletzt durch diese Kritik an ShariÝati entstand in der nachrevolutionären Zeit in Iran eine geistige Bewegung, deren AnhängerInnen als PopperianerInnen130 bekannt wurden. Geprägt wurde diese Gruppe insbesondere von ÝAbdolkarim Sorush.

129 Popper, Karl R. (2003): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II. Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen. 8. Aufl. Tübingen, S. 277. 130 Vgl. oben, Anm. 6 und den Online-Beitrag: http://dabestanonline.com/?part= news&inc=news&id=3583 (20.10.2013).

ÝAbdolkarim Sorush: Der religiöse Intellektuelle

ÝAbdolkarim Sorush wurde 1945 unter dem bürgerlichen Namen Hosein HÁj FarajollÁh DabbÁgh in einfachen und traditionellen Verhältnissen in Teheran geboren. Er besuchte die bekannte Privatschule ÝAlavi, die von einigen religiös engagierten Geschäftsleuten konzipiert und gegründet wurde. Zielsetzung der Schule war es, den Kindern neben dem „normalen“ Schulwissen auch islamische Bildung zukommen zu lassen, um sie zu „religiösen Spezialisten“ (motadayyen-e motrakhasses) auszubilden.1 Schon in seiner Schulzeit wurde Sorush mit der islamischen Theologie und Philosophie vertraut und kam mit dem Gedankengut des Reformgelehrten MortazÁ Motahhari, des Theologiephilosophen Mohammd Hosein TabÁtabÁÞi und des revolutionären Denkers ÝAli ShariÝati in Berührung. In seiner Schulzeit wurde er Mitglied der Anjoman-e hojjateyye, einer Vereinigung, die sich die schiitische Überzeugung des Erwartens des 12. Imams und den Kampf gegen die Bahai auf ihre Fahne schrieb. Nach kurzer Zeit brach Sorush allerdings seinen Kontakt zur Anjoman-e hojjateyye mit der Begründung ab, dass deren Aktivitäten nicht mehr mit seinen Überzeugungen in Einklang ständen.2 Nach dem Abschluss des Pharmaziestudiums ging er nach London und promovierte am Chelsea College im Fach Chemie. Dort studierte

1

http://www.bbc.co.uk/persian/iran/story/2006/11/061128_a_alavi_school.shtml

2

Sorush (2000a): S. 367; die Vereinigung Anjoman-e hojjateyye hat nach der Re-

(01.03.2014). volution ihre Haltung geändert und sich vielmehr mit der Bekämpfung „marxistischer Ideologien“ befasst. Sie fiel aus ungeklärten Gründen bei Khomeini in Ungnade und wurde verboten. Vgl. ebd.

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er gleichzeitig Wissenschaftsphilosophie.3 Weder in seiner Schulzeit noch in der Studienzeit trat Sorush als politischer Aktivist hervor.4 In diesen Jahren beschäftigte er sich einerseits mit den philosophischen Theorien des noch immer einflussreichen Theologiephilosophen MollÁ SadrÁ (15711641) und dem mystischen Denken von MoulÁna (1207-1273), HÁfez (1320-1389) und Faiz KÁshÁni (1007-1090 h.). Andererseits setzte er sich mit „westlicher“ Philosophie und insbesondere mit der politischen Philosophie und Erkenntnistheorie von Karl Raimund Popper auseinander.5 Vor allem zwei Personen haben Sorush und sein Denken nachhaltig geprägt: Zum einen MoulÁnÁ, dessen poetische und umfassende Werke Sorush größtenteils auswendig kennt und in fast all seinen Reden und Schriften immer wieder zitiert. So beschreibt er sein Verhältnis zu MoulÁnÁ als eine „Herzenssache“ und „Liebesbeziehung“.6 Zum anderen ist er in seiner politischen und philosophischen Haltung maßgeblich von den Ideen des kritischen Rationalisten Karl Raimund Popper (1902-1994) beeinflusst – was Sorush und seinen AnhängerInnen im inneriranischen intellektuellen Diskurs die Bezeichnung PopperianerInnen eingebracht hat.7 Nach eigenen Angaben stieß Sorush 1973 im Buch A Hundred Years of Philosophy von

3

Sorush (2000): S. 369.

4

Vgl. ebd.: S. 365-368.

5

Vgl. Sorush, ÝAbdolkarim (1994c): Qesse-ye arbÁb-e maÝrefat. Teheran, S. 21.

6

http://www.drsoroush.com/Persian/Interviews/P-INT-ShahrvandPoper.html (01.03.2014).

7

Abgesehen von der Frage, inwieweit Sorush von Poppers Ideen beeinflusst wurde, hat er nach eigenen Angaben maßgeblich dazu beigetragen, dass Popper in Iran gelesen und bekannt wurde. In einem langen Interview, in dem Sorush zu seinem Lebenslauf, seinen politisch-philosophischen Ideen und seinen Ansichten zum Thema Film in Iran befragt wird, sagt er zu seiner Rolle bei der Verbreitung der Ideen von Popper in Iran folgendes: „[…] ich denke, dass die IranerInnen über mich Popper kennengelernt haben. Zwar wurde sein Buch Das Elend des Historismus schon früher in Iran übersetzt, jedoch interessierte sich niemand für ihn und seine Ideen, bis ich kam. Überhaupt habe ich das Fach der Wissenschaftsphilosophie in Iran begründet und verschiedene Wissenschaftstheorien und darunter die von Popper unterrichtet. Also, ich bin nicht nur mit Poppers Ideen vertraut, ich habe sie auch den IranerInnen bekannt gemacht.“ Siehe hierzu: Sorush (2000a): S. 395.

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John Passmore8 zum ersten Mal auf Popper und seine Philosophie. Die kurze Darstellung Poppers dort und vor allem dessen Theorie der Falsifikation haben ihn, so Sorush weiter, sehr überzeugt. So habe er sich in seinem Philosophiestudium in Chelsea mit Popper und seinen Ideen intensiver auseinandergesetzt. Popper habe zwar zu jener Zeit in der Nähe von London gelebt, es sei aber zu keiner persönlichen Begegnung zwischen den beiden gekommen.9 In Sorushs späterer politisch-philosophischer Haltung, die kurz als antiideologisch, liberal und religiös-mystisch beschrieben werden kann, lässt sich der starke Einfluss von MoulÁnÁ und Popper erkennen. Im Gegensatz zu ShariÝati, der in seiner Studienzeit in Paris intensive Kontakte zur revolutionär-linken Studentenbewegung, den kritisch-linken Intellektuellen wie Sartre und den ebenfalls links orientierten postkolonialen Vordenkern wie Frantz Fanon und Aimé Césaire pflegte, trat Sorush unter den religiösen muslimischen Studentengruppen wie der Islamic Student Association in Erscheinung und hielt seine Reden im Rahmen ihres Forums, ImÁm bÁra, später KÁnun-e touvhid. Diese Reden wurden später zu Büchern zusammengestellt, welche auch bei vielen Gelehrten in Iran breite Resonanz fanden. Aus dieser Zeit stammen unter anderem Falsafe-ye tÁrikh10 („Geschichtsphilosophie“) und NehÁd-e nÁ-ÁrÁm-e jahÁn11 („Die dynamische Natur des Universums“). In Falsafe-ye tÁrikh setzt er sich mit den Ansichten einiger Philosophen der historischen Dialektik wie Hegel und Marx auseinander und kritisiert deren Wahrnehmung der Geschichte als einen auf ein bestimmtes Ziel hin gesteuerten und ergo vorhersehbaren und planbaren Prozess. In NehÁd-e nÁ-ÁrÁm-e jahÁn versucht Sorush mit Bezug auf die Philosophie MollÁ SadrÁs und seiner Theorie der „substantiellen Bewegung“ (harakat-e jouhari)12 zu einer philosophischen Erklärung der Geschichte und der Welt zu gelangen und sie der marxistisch-

8

Passmore, John (1959): A Hundred Years of Philosophy. London.

9

Vgl. http://www.drsoroush.com/Persian/Interviews/P-INT-ShahrvandPoper.html (01.03.2014).

10 Sorush, ÝAbdolkarim (1978c): Falsafe-ye tÁrikh. 1. Aufl. Teheran. 11 Sorush, ÝAbdolkarim (1978d): NehÁd-e nÁ-ÁrÁm-e jahÁn. 1. Aufl. Teheran. 12 Zur Person MollÁ SadrÁ und seiner Theorie harakat-e jouhari vgl. Razavi Rad, Mohammd (2007): Molla SadrÁs Philosophie interkulturell gelesen. Nordhausen, S. 11-22.

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dialektischen Geschichtserklärung entgegenzusetzen. Dies sind die ersten Versuche Sorushs, mit Hilfe analytischer Philosophie ideologisches Denken im Allgemeinen und den Marxismus, der in Iran unter den jungen Gebildeten stark verbreitet war, im Besonderen zu bekämpfen. In diesem Sinne sind auch einige andere seiner Veröffentlichungen dieser Zeit zu verstehen, wie Naqdi va darÁmadi bar tazÁdd-e deyÁlektiki13 („Kritik an dem und Einführung in den dialektischen Widerspruch“), Che kesi mitavÁnad mobÁreze konad14 („Wer kann Widerstand leisten“), DogmÁtism-e neqÁbdÁr („Verschleierter Dogmatismus“) und Az tÁrikh parasti tÁ khodÁ parasti15 („Von Geschichtsverehrung bis Gottesanbetung“). Mit dem Sieg der Islamischen Revolution kam Sorush nach Iran zurück und gehörte schon bald, auch dank seines geistigen Beitrags zur Kritik des Marxismus, zur neuen intellektuellen Elite des Landes.16 Vor allem seine Fernsehauftritte, in denen er für eine genuin islamische Ethik und Wertevorstellung eintrat, verschafften ihm auch in der breiten Bevölkerung einen gewissen Bekanntheitsgrad. Darüber hinaus sind seine Streitgespräche mit den großen iranischen Theoretikern und Vertretern des Marxismus legendär. Er brillierte durch seine Wortgewandtheit und seine enorme Kenntnis sowohl der traditionellen theologischen und philosophischen Diskussionen als auch der neusten philosophischen Ansätze im „Westen“. Er wurde Mitglied des „Stabs der Kulturrevolution“ (setÁd-e enqelÁb-e farhangi), später „Oberster Rat der Kulturrevolution“ (shurÁ-ye ÝÁli-ye enqelÁb-e farhangi), der 1980 zur Islamisierung des Bildungssystems von Ayatollah Khomeini ins Leben gerufen wurde. In diesem Zuge wurden die Universitäten geschlossen und die als „linksmarxistisch“ oder „liberalwestlich“ eingestuften DozentInnen entlassen – eine umstrittene Phase in der Biographie Sorushs, die ihm auch heute noch viel Kritik einbringt.

13 Sorush, ÝAbdolkarim (1978e): Naqdi va darÁmadi bar tazÁdd-e deyÁlektiki. 1. Aufl. Teheran. 14 Siehe hierzu: Sorush (1978b). 15 Sorush, ÝAbdolkarim (1978a): Az tÁrikh parasti tÁ khodÁ parasti. 1. Aufl. Teheran. 16 Sorush schildert selbst, wie seine anti-marxistischen Schriften von den einflussreichen Gelehrten gelesen und gelobt wurden, und wie dies möglicherweise mit ein Grund dafür gewesen ist, dass er als Mitglied des Stabs der Kulturrevolution einberufen wurde. Vgl. Sorush (2000a): S. 373f.

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Als Popperianer, der für eine „offene Gesellschaft“ einstand, konnte Sorush nicht lange mit dem islamisch-ideologischen Kurs der neuen politischen und intellektuellen Elite zufrieden sein. Mit der Zeit distanzierte er sich vom offiziellen Diskurs und stieg 1983 auch aus dem Obersten Rat der Kulturrevolution aus. Fortan widmete er sich der Lehre und Forschung und provozierte mit seinen neuen kritischen Ansätzen immer wieder seine alten MitstreiterInnen. Im Anschluss an seine jahrelange Kritik am Marxismus, die ihm viel Sympathie und Bekanntheit einbrachte, fing er bereits in den 1980er und besonders in den 1990er Jahren an, die Konzipierung des Islam als Ideologie zu kritisieren. Dabei setzte er sich nicht nur mit der islamischen Ideologie ShariÝatis auseinander, sondern auch mit der dogmatischen Haltung der Gelehrten, die Geisteswissenschaften islamisch zu konzipieren.17 Konsequenterweise gerieten Sorushs Vorstellungen in eine direkte Konfrontation mit dem offiziellen politischen Konzept der velÁyat-e faqih („Herrschaft der Rechtsgelehrten“). Diesem begegnete er mit einem Gegenentwurf, dem „demokratisch-religiösen Staat“ (hokumat-e demokratik-e dini).18 Darüber hinaus zog er die Legitimation des politischen Systems in Zweifel, indem er das Monopol „der Geistlichkeit auf eine einzige Lesbarkeit der Religion“ ablehnte19, und die These aufstellte, dass das Prinzip der Gerechtigkeit und nicht der Religiosität für die Legitimation eines politischen Systems maßgeblich sei.20 Sorush warf sogar manchen Mainstream-Lesarten des Islam Faschismus vor und warnte vor einem Leben auf Kosten der Religion.21 So brach Sorush alle Brücken zum politischen Establishment und zu den traditionellen Gelehrten ab. Er verlor seine akademi-

17 Vgl. Matin-asgari, Afshin (1997): „ÝAbdolkarim Sorush and the Secularization of Islamic Thought in Iran“. In: Iranian Studies 30, 1-2/1997, S. 95-115, hier S. 97 u. 104. 18 Sorush (1996a): S. 273-283. 19 Vgl. Amirpur, Katajun (1997): „ÝAbdolkarÐm SorÙsh. Iranischer Intellektueller“. In: Orient 38, 1/1997, S. 5-7, hier S. 6. 20 Vgl. Sorush, ÝAbdolkarim (2000c): RÁzdÁni va roushanfekri va dindÁri. Teheran, S. 68. 21 Vgl. Sorush (2000c): S. 79-86; zu der Frage, wie die Religion für den Unterhaltserwerb der Geistlichen instrumentalisiert wird, vgl. auch Amirpur, Katajun (1996): „Ein iranischer Luther? – ÝAbdolkarÐm SorÙshs Kritik an der schiitischen Geistlichkeit“. In: Orient 37, 3/1996, S. 465-481, hier S. 471ff.

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sche Stellung in Iran und arbeitet seit 2000 als Gastwissenschaftler oder Gastprofessor an ausländischen Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen.22

Religiöser Intellektualismus „Religiöser Intellektualismus“ (roushanfekri-ye dini) stellt ein zentrales Thema der intellektuellen Diskussionen im heutigen Iran dar und ist eng mit Sorushs Namen verbunden. Unter der sich vor allem nach der Islamischen Revolution im intellektuellen Sprachgebrauch etablierten Bezeichnung religiöse Intellektuelle werden im Allgemeinen die geistigen AkteurInnen verstanden, die aus einer religiös motivierten Argumentation heraus der offiziellen politischen Theorie und Praxis in der Islamischen Republik kritisch gegenüber stehen. Beobachtet man die AkteurInnen des „religiösen Intellektualismus“ (beispielsweise ShariÝati, Sorush, Shabestari, MalekyÁn) und ihre RezipientInnen, die zumeist der gebildeten Schicht entstammen, also AkademikerInnen und StudentInnen, und die von ihnen beeinflusste politische Bewegung der eslÁh-talabÁn („Reformwilligen“), welche insbesondere die gebildete Mittelschicht repräsentiert, ist eine verblüffende Parallelität zwischen dem Begriff des religiösen Intellektualismus in den deutschen sozialwissenschaftlichen Debatten und demselben Begriff im iranischen Kontext festzustellen. Schon im Zusammenhang mit der Frömmigkeit der Katholiken im 19. Jahrhundert sprach man als Gegenstück zur „Massenreligiosität“, die von der Amtskirche organisiert wurde und für die Tradition maßgebend war, von „religiösem Intellektualismus“, welcher auf den „biblischen Schriften als Motivationsgrundlage religiöser Handlungen und als Legitimationsgrundlage religiöser Forderungen“ beruhte.23 Insgesamt geht man für die Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik von einer Fülle von

22 Vgl. Sorushs eigene Homepage http://www.drsoroush.com/Biography-E.htm (01.03.2014). 23 Vgl. Ebertz, Michael N. (1979): „Die Organisierung von Massenreligiosität im 19. Jahrhundert. Soziologische Aspekte zur Frömmigkeitsforschung“. In: Jahrbuch für Volkskunde 2 (1979), S. 38-72, hier S. 71.

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„Sinnstiftungsangeboten“ der Intellektuellen aus, „mit denen sie hofften, das weltanschauliche Vakuum füllen zu können“24. So sprach Friedrich Wilhelm Graf in diesem Zusammenhang von einem „neuen Typus des religiösen Intellektuellen“, der von herkömmlichen Institutionen frustriert auf eine tiefgreifende Religionsreform hinarbeitete.25 Man sah, wie es auch heute im iranisch-religiösen Diskurs beobachtet wird, im deutschen Kontext Rationalität als ein „Kriterium an, um auszumachen, was Volksfrömmigkeit und Elitefrömmigkeit ihrem eigentlichen Wesen nach waren und sein wollten“26. Während die Volkfrömmigkeit als „naiv“ und „unreflektiert“ beschrieben wurde, sah man die Religiosität der intellektuellen Elite als „philosophisch-spekulativ“, „durchdacht“ und „reflektiert“ an.27 Diese Kategorisierung wurde von Max Weber religionssoziologisch theoretisiert, indem er bei der Erklärung mannigfaltiger Frömmigkeitsarten von der Annahme ausging, „daß intellektuell Geschulte, die gemeinhin sozial privilegierten Schichten entstammen, andere Erlösungsvorstellungen hegen als Angehörige nicht privilegierter Schichten, denen der Intellektualismus ökonomisch und sozial unzugänglich ist“28. So hielt Weber Folgendes fest: „Stets ist die Erlösung, die der Intellektuelle sucht, eine Erlösung von ‚innerer Not‘ und daher einerseits lebensfremderen, andererseits prinzipielleren und systematischer erfassten Charakters, als die Erlösung von äußerer Not, welche den Nicht-Privilegierten Schichten eignet.“29 Weber unter-

24 Panesar, Rita (2006): Medien religiöser Sinnstiftung. Der ‚Volkserzieher‘, die Zeitschriften des ‚Deutschen Monistenbundes‘ und die ‚Neue Metaphysische Rundschau‘ 1897 – 1936. Stuttgart, S. 24. 25 Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm (2000): „Alter Geist und neuer Mensch. Religiöse Zukunftserwartungen um 1900“. In: Frevert, Ute (Hrsg.): Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900. Göttingen, S. 185-228, hier S. 197f. 26 Schreiner, Klaus (1992): „Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes? Zur sozialen Verfaßtheit laikaler Frömmigkeit im späten Mittelalter“. In: Ders. (Hrsg.): Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge. München, S. 1-26, hier S. 3. 27 Kebl, Alios (1974): „Antike Volksfrömmigkeit und das Christentum“. In: Kirchengeschichte als Missionsgeschichte. Bd. 1. München, S. 313. 28 Schreiner (1992): S. 4. 29 Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen, S. 307.

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schied allerdings zwischen religiöser Praxis der „westlichen Intellektuellen“ und der der sogenannten „asiatischen Intellektuellenkultur“: „Wo immer eine intellektuelle Schicht den ‚Sinn‘ der Welt und des eignen Lebens denkend zu ergründen – und nach dem Misserfolg dieser unmittelbar rationalistischen Bemühung – erlebnismäßig zu erfassen und dies Erleben dann, indirekt rationalistisch, ins Bewusstsein zu erheben trachtet, wird sie der Weg irgendwie in die stillen hinterweltlichen Gefilde indischer unformbarer Mystik führen. Und wo andererseits ein Stand von Intellektuellen, unter Verzicht auf jenes weltentfliehende Bemühen, statt dessen bewusst und absichtsvoll an der Anmut und Würde der schönen Geste das höchste mögliche Ziel innerweltlicher Vorstellung findet, da gelangt sie irgendwie zum konfuzianischen Vornehmheitsideal. Aus diesen beiden, sich kreuzenden und ineinanderschiebenden Komponenten ist aber ein wesentlicher Teil aller asiatischen Intellektuellenkultur zusammengesetzt. Der Gedanke, durch schlichtes Handeln gemäß der ‚Forderung des Tages‘ jene Beziehung zur realen Welt zu gewinnen, welche allem spezifisch occidentalen Sinn von ‚Persönlichkeit‘ zugrunde liegt, bleibt ihr ebenso fern wie der rein sachliche Rationalismus des Westens, der die Welt praktisch durch Aufdecken ihrer eignen unpersönlichen Gesetzlichkeiten zu meistern trachtet.“30

Auch Weber ging offensichtlich von verallgemeinernden, dichotomisierenden und geographisch bestimmten Kategorisierungen aus, wenn es um die Definitionen von Begriffen ging. Dabei wurde grundsätzlich zwischen den Begriffen im „eigenen“, „westlichen“ Kontext und in den „anderen“ Kulturräumen unterschieden. Derartige grundsätzliche, quasi ontologisierende Unterscheidungen beobachtet man jedoch bei den hier behandelten Autoren nicht. In einem Interview mit der Zeitschrift GozÁresh-e film im Jahre 1999 fasst Sorush zusammen, was er unter „religiösem Intellektualismus“ versteht: „Intellektualität, ganz gleich ob sie religiös oder nicht religiös ist, heißt, sich an der Grenze zwischen Tradition und Moderne zu bewegen. In Gesellschaften wie unserer, welche den Übergang von der Tradition in die Moderne erleben, sind die Intel-

30 Weber, Max (1920): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Allgemeiner Charakter der asiatischen Religiosität. Bd. 2. Tübingen, S. 377.

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lektuellen Kinder dieser Übergangsphase. […] Religiöse Intellektualität entsteht auch dann, wenn Religion bzw. das traditionelle Verständnis von Religion in die Moderne oder vom Zeitalter der Mythen in das entmythologisierte Zeitalter übergeht.“31

Aus seinen Ausführungen geht allerdings nicht deutlich hervor, wo er die zeitlichen und inhaltlichen Grenzen setzt, wenn er von „Tradition“ und „Moderne“ spricht. Gemäß Sorush zählen Jamal al-Din al-Afghani und Mohammd Abduh, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. gewirkt haben, genauso zu den religiösen Intellektuellen wie der zeitgenössische iranische Aktivist ÝAli ShariÝati. Auch bei einigen mittelalterlichen Persönlichkeiten wie dem Dichter Shamsoddin Mohammad HÁfez und dem Rechtsgelehrten Abu HÁmed al-GhazÁli findet er „viele Spuren“ eines religiösen Intellektuellen.32 Sorush zählt gleichzeitig MortazÁ Motahhari, der ShariÝatis Ideen vehement kritisierte, zu den religiösen Intellektuellen.33 An einer anderen Stelle unterscheidet er jedoch zwischen den „religiösen Gelehrten“ (ÝÁlemÁn-e dini), zu denen ohne Zweifel Abduh und Motahhari zu zählen sind, und den „religiösen Intellektuellen“ (roushanfekrÁn-e dini). Den religiösen Gelehrten sei ausschließlich die „Authentizität“ (kholus) religiöser Erkenntnisse wichtig, während die religiösen Intellektuellen darüber hinaus um die „Fähigkeit“ (tavÁnÁÞi) des religiösen Denkens bemüht seien, indem sie „Authentizität“ kontextbedingt zu interpretieren versuchten.34 Im Grunde geht es Sorush bei seinem Konzept des religiösen Intellektuellen um einen bestimmten Typus des Denkers, ganz gleich ob er eine klassisch-religiöse oder modern-universitäre Ausbildung hat. Entscheidend ist, dass er/sie als ein/e „transzendentale/r“ (rÁzdÁn), „kritische/r“ (nÁqed), „kämpferische/r“ (mobÁrez) und „vielfältige/r“ (chand-manbaÝi) Akteur/in mit modernen Denkansätzen vertraut ist und neue Ideen produziert.35

31 Sorush (2000a): S. 372. 32 Vgl. Sorush, ÝAbdolkarÐm (1988): RÁzdÁni va roushanfekri va dindÁri. Teheran, S. 304 u. 326. 33 Vgl. ebd.: S. 304. 34 Ebd.: S. 316f. 35 Vgl. Sorush, ÝAbdolkarÐm (2000c): RÁzdÁni va roushanfekri va dindÁri. Teheran, S. 47.

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Für Sorush zeichnen sich religiöse Intellektuelle durch folgende Merkmale aus: Zum einen setzten sie sich zunächst theoretisch mit den gesellschaftlichen Problemen auseinander. Nicht jede/r „KämpferIn“ (mobÁrez) sei ein/e Intellektuelle/r; man sei dies erst, wenn man sich über das „Wissen“ (Ýilm) und „Denken“ (fekr) den Problemen annähere.36 Des Weiteren sollen sich religiöse Intellektuelle über ihr „Gebiet“ (houze) hinauswagen. Dabei definiert Sorush „Gebiet“ sowohl als geographische Größe als auch als wissenschaftliches Fachgebiet. Für ihn ist das Auswandern und die damit verbundene Öffnung neuer Horizonte wichtig, aber noch wichtiger ist es ihm, den Rahmen der eigenen Disziplin zu verlassen und sich andere Blickwinkel zu eröffnen.37 Darüber hinaus sei den religiösen Intellektuellen im Gegensatz zu den nicht religiösen Intellektuellen Religion wichtig. Die religiösen Intellektuellen seien nicht nur selbst religiös; sie seien auch der Überzeugung, dass Religion passende Antworten auf die aktuellen und komplexen Fragen der Menschen habe. Daher müssen religiöse Intellektuelle die heutigen ökonomischen sowie theoretischen Problemfelder erkennen. In diesem Zusammenhang spricht Sorush von „moderner Religiosität“ (dindÁri-ye Ýasri), die der/die religiöse Intellektuelle verkörpern solle:38 „Religion sei das Zuhause der religiösen Intellektuellen – ein Zuhause, welches sie selbst aufbauen und nicht vorgefertigt kaufen. [Denn] ein fertiges Haus kaufen, heißt imitieren und nicht reflektieren.“39

Als viertes Merkmal der religiösen Intellektuellen stellt Sorush fest, dass sie einerseits um die „Authentizität“ (kholus) und andererseits um die „Fähigkeit“ (tavÁnÁÝi) der Religion bemüht seien. Religiöse Erkenntnisse, so Sorush weiter, gingen mit dem Phänomen „Vermischt-Sein“ (elteqÁt) einher. ElteqÁt sei unabdingbar, wenn man sich andere Sichtweisen eröffne. Auch sei das Sich-Öffnen eine wesentliche Bedingung für die Entwicklung religiöser Erkenntnisse, der Herausbildung des religiösen Intellektuellen und einer modernen Religiosität.40 So kommt Sorush zu einer weiteren

36 Ebd.: S. 305f. 37 Ebd.: S. 306f. 38 Ebd.: S. 308f. 39 Ebd.: S. 311. 40 Ebd.: S. 312-313.

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Eigenschaft religiöser Intellektueller, nämlich dass sie sich gegen Aberglauben im religiösen Denken erheben und damit einem gesellschaftlichen Kampf nicht ausweichen.41 Bei der Aufzählung der oben genannten Merkmale eines religiösen Intellektuellen verharrt Sorush auffallend lange beim religiösen Intellektualismus als einem „vermischten“ (elteqÁti) Projekt. Der Begriff elteqÁt ist in Iran im Allgemeinen negativ belegt und wird zumeist von MainstreamGelehrten verwendet, um die Gedanken anderer AktivistInnen, darunter auch religiöser Intellektueller, als „nicht authentisch“ und „unrein“ zu beschreiben. Auf diese (Be-)Deutung anspielend vertritt Sorush die Meinung, dass ein „authentisches“ Religionsverständnis nichts bringe, solange es nicht gleichzeitig anwendbar – das heißt zeitgemäß – sei. Darunter versteht er, dass religiöse Erkenntnisse im Austausch mit anderen Denkansätzen und theoretischen Konzepten zu stehen haben. Und dies bedeute wiederum, die Frage der „Vermischung“ anders anzugehen. Was nütze, so seine rhetorische Kritik, ein angeblich „authentisches“ Religionsverständnis, welches der Angst vor „Unreinheit“ entspringe, aber für die heutige Zeit keine Früchte trage.42 Das Konzept des religiösen Intellektualismus verdeutlicht ebenso wie das zweite ihm wichtige Konzept des demokratisch-religiösen Staats Sorushs Bemühungen, über die engen und dichotom gesetzten Grenzen der „eigenen“ und „fremden“ Denktraditionen hinauszugehen und ein neues, „vermischtes“ Denkmodell zu entwerfen – dies trotz der Beredsamkeit seiner KritikerInnen, die zum Teil aus den eigenen Reihen kommen, und derartige Konzepte für abwegig und paradox halten.43 Sorush argumentiert, dass er die iranische Gesellschaft und die iranischen Intellektuellen am Übergang zwischen Moderne und Tradition sieht und damit eine konzeptionelle „Vermischung“ für unvermeidbar hält. Daher erblickt er auch in ShariÝati ein prägnantes Beispiel für einen religiösen Intellektuellen, welcher die oben aufgezählten Eigenschaften bestens verkörpere. ShariÝati habe einerseits die islamische Kultur gekannt, noch mehr,

41 Ebd.: S. 323. 42 Vgl. ebd.: S. 312-322. 43 Vgl. MalekyÁn, MostafÁ (2006a): „Goftogu dar bÁre-ye hÁkemeyyat-e dini“. In: Ders. MoshtÁqi va mahjuri. GoftoguhÁyi dar bÁb-e farhang va din. Teheran, S. 341-362, hier S. 342; Shabestari, M. Mojtahed (2004): TaÞammolÁti dar qerÁÝat-e ensÁni az din. Teheran, S. 150.

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sie geliebt. Darüber hinaus habe er „die Sprache der Menschen“ beherrscht, deren Leiden erkannt und mit ihnen als ihr Freund und Helfer gesprochen. Des Weiteren habe er die Rettung der Menschen in Iran darin gesehen, die Religion wiederzubeleben.44 Später schränkt Sorush diese Lesart ShariÝatis insofern ein, dass er von einer überhöhten Darstellung Abstand zu gewinnen bemüht ist und betont, dass er ShariÝatis Gedanken und Praktiken nicht für fehlerfrei hält. Diese Fehler müssten auch unter dem Gesichtspunkt kritisch erörtert werden, dass ShariÝati die Zweckmäßigkeit des religiösen Denkens wichtig war, und dass ihm auf diesem Weg möglicherweise Fehler unterlaufen sind.45 Ein zentraler Fehler, den Sorush nicht nur bei ShariÝati festzustellen meint, ist die Verankerung eines (geradezu naiven) Glaubens an dogmatische und ideologische Konzepte, ohne kritische Reflexion.

Ideologiekritik Angesichts der Tatsache, dass dem Begriff Ideologie verschiedenste Bedeutungen, die sich zum Teil auch widersprechen, zugeschrieben werden, gibt es, wie Terry Eagleton feststellt, „bis heute noch keine angemessene Definition des Begriffs“46. Im Großen und Ganzen versteht Sorush Ideologie als ein handlungsorientiertes dogmatisches Denksystem, welches von seinen TrägerInnen zur Mobilisierung eingesetzt wird, um bestimmte gesellschaftspolitische Ziele zu erreichen. Am Nächsten kommt sein Ideologieverständnis der Definition des Begriffs durch den Philosophen Martin Seliger. Laut ihm ist Ideologie: „[die] Menge von Ideen, durch die man Mittel und Ziele organisierter gesellschaftlicher Handlungen postuliert, erklärt und rechtfertigt. Als gesellschaftliche Handlungen werden besonders politische Handlungen verstanden, gleichgültig, ob sie auf den Erhalt, die Verbesserung, Zerstörung oder Restauration einer bestimmten Gesellschaftsordnung abzielen.“47

44 Vgl. ebd.: S. 298. 45 Vgl. ebd.: S. 320. 46 Vgl. Eagleton, Terry (1993): Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart 1993, S. 7. 47 Seliger, Martin (1976): Ideology and Politics. London, S. 11.

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Diese Definitionen von Ideologie bringt den Begriff mit politisch motivierten Bewegungen in Zusammenhang, impliziert aber, da sie die „eigenen“ und im mehrheitsgesellschaftlichen Konsens verankerten Werte und Vorstellungen nicht als „ideologische“ mit einbezieht, einen quasi ideologiefreien Raum, den es nicht geben kann. Zutreffender wäre es daher mit Althusser48 von normalisierten und markierten ideologischen Denkformen auszugehen, die jeweils kontextuell miteinander in einem Zusammenhang stehen und verschiedentlich aufeinander verweisen. Sorush geht in seiner eher impliziten Definition von Ideologie eher von bestimmten Diskursen in Iran aus, die er im oben erwähnten Sinne ideologisch geprägt sieht, und setzt hier mit seiner Kritik an. Alle ihm dogmatisch erscheinenden Denkkonzepte, vom Konzept gharbzadegi bis zum Marxismus und Szientismus, von der islamischen Ideologie ShariÝatis bis hin zu dem Konzept der velÁyat-e faqih („Herrschaft der Rechtsgelehrten“) werden dabei verhandelt. Im Folgenden werde ich mich auf Themen beschränken, die im Rahmen eines religiös-intellektuellen Diskurses von Relevanz sind: gharabzadegi, islamische Ideologie und velÁyat-e faqih. Als rationalistischer Erkenntnistheoretiker, als den er sich selbst sieht, legt Sorush besonderen Wert auf „Rationalität“ und hält den „ideologisierenden Konzepten“ stets vor, dass sie Vernunft bzw. Vernünftigkeit bekämpften, ohne den eigenen ideologischen Blickwinkel als solchen zu reflektieren. An einer Stelle hebt er hervor, dass eine große Schwäche bzw. Gefahr der Ideologien darin liege, dass sie den Verstand verachteten, sich für vollkommen hielten und so keine kritische Rationalität duldeten und die „Ratio“ nur solange tolerierten, solange diese ihnen nicht widerspreche.49 Bei der Feststellung von antirationalen Qualitäten von Ideologien macht Sorush sogar keinen Unterschied zwischen einer islamischen und einer faschistischen Ideologie. Mit dem Hinweis auf die faschistische Ideologie bekräftigt er, dass der Faschismus keinen Wert auf Vernunft lege, und dass er die Ratio und die Wissenschaft in den Dienst des Hasses stelle.50 So schlussfolgert er:

48 Zu Althussers Verständnis von Ideologie vgl. Althusser (1977): S. 108ff. 49 Sorush (1996a): S. 139-140. 50 Ebd.: S. 140.

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„Entwirft ein/e DenkerIn für eine Gesellschaft oder für eine Religion ein ideologisches Konzept, so richtet er/sie für das Denken einen Richtplatz ein.“51

Was er dabei jedoch außer Acht lässt, ist, dass sich faschistische Ideologien oftmals auf „Rationalität“ bezogen haben und Unrecht stets auch „rational“ begründen konnten und können. „Rationalität“ ist insofern nicht frei von Prämissen und der Logik des Ausschlusses. Sorush hält jedoch vielmehr an einem wertfreien und allen Menschen zugänglichen, kommunizierbaren Verständnis von Rationalität fest. Ein weiteres Beispiel einer antirationalen ideologischen Haltung, auf das Sorush stets hinweist, ist die ehemalige Sowjetunion. Dort habe man nach einem bestimmten ideologischen Bild ein politisches System errichtet, welches DenkerInnen und SchriftstellerInnen misshandelte und kein eigenständiges Denken geduldet habe.52 In einer ideologisierten Gesellschaft habe niemand den Mut, alles mit der Waage der eigenen Vernunft zu messen, und nichts hinzunehmen, solange es nicht durch den eigenen Verstand bestätigt würde. Als eine Folge eines antirationalen und ideologisierten Gesellschaftsklimas betrachtet Sorush bis zu einem gewissen Grad auch die Streitigkeiten zwischen den Sunniten und den Schiiten. Beide Seiten könnten sich nicht von den festgefahrenen Positionen und ständig wiederholten Argumenten befreien und sie durch neue Ansätze beleuchten.53 Indem Sorush ideologische Denkmuster, die er kritisiert, dekonstruiert, entwirft er selbst Gegenkonzepte. So spricht er beispielsweise von hokumat-e demokrÁtik-e dini („demokratisch-religiösem Staat“) als Gegenkonzept zur velÁyat-e faqih („Herrschaft der Rechtsgelehrten“), oder von religiösem Intellektualismus als die passende Antwort auf die aktuellen und spezifisch iranischen Fragen. Insofern könnte ihm, mit Eagleton gesprochen, vorgehalten werden, dass „Ideologie wie Mundgeruch immer das [ist], was die anderen haben“54. Sorush selbst sieht sich jedoch nicht in der Rolle des Ideologen, sondern vielmehr als jemand, der der Religion ihre angemessene Stellung zurückgeben möchte und sie von den einengenden und missbräuchlichen Ideologisierungsversuchen „der anderen“ befreien will.

51 Ebd.: S. 141 52 Ebd.: S. 142. 53 Vgl. ebd.: S. 143. 54 Vgl. Eagleton (1993): S. 8.

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Gharbzadegi – ein Konstrukt Im Gegensatz zu Àl-e Ahmad und ShariÝati vertritt Sorush die Meinung, dass der Begriff gharbzadegi („Verwestlichung“) einen irreführenden Diskurs darstellt, der den Menschen in Iran nicht weiter bringt. Sorush hält den bisherigen Verlauf der Diskussionen in Iran über „den Westen“ für falsch und kontraproduktiv. Er bezeichnet unter anderem den Diskurs gharbzadegi als „pure Finsternis“, oder in seiner eigenen Formulierung, als „Finsternis in Finsternis“ (zolmat dar zolmat).55 Sorush konstatiert fast resigniert: „Wir selbst haben den ‚Westen‘ konstruiert, und nun liegen wir niedergeschlagen vor ihm.“56

Die Anfangsphase der Islamischen Republik war rhetorisch stark anti-amerikanisch und anti-westlich geprägt. Dies hing vor allem mit den gewaltvollen Erfahrungen mit den US-amerikanischen/westlichen Politiken in Iran und deren Unterstützung des Schah-Regimes zusammen. Auch wenn man die Parole „weder östlich noch westlich, [nur] islamische Republik“ (na sharqi, na gharbi, jomhuri-ye islÁmi) für die politische Strategie des Landes erklärt hatte, wurden doch der anti-amerikanischen und anti-westlichen Haltung bis in die Gegenwart hinein immer ein größeres Gewicht beigemessen. Angesichts eines solchen politischen und intellektuellen Klimas bewegte sich Sorush mit seiner zwar differenzierteren jedoch bejahenden Haltung gegenüber Demokratie und Liberalismus auf dünnem Eis. Er musste sich zuweilen selbst gegen die Kritik, er sei gharbzade („verwestlicht“), verteidigen. Sorush seinerseits versucht, aufzuzeigen, dass seinen GegnerInnen jede wissenschaftliche Redlichkeit fehle, und dass sie ein unreflektiertes Verständnis vom „Westen“ hätten.57 Indem Sorush, wie bereits zitiert, den Westen als Konstrukt iranischorientalischer Gedanken ansieht, erweckt er den Eindruck, als ob er Saids These der Konstruiertheit des Orients durch den Westen umkehren würde.

55 http://www.drsoroush.com/Persian/Interviews/P-INT-ShahrvandPoper.html (01.03.2014). 56 Sorush, ÝAbdolkarim (1987a): Tafarroj-e sonÝ. GoftÁrhÁyi dar maqulÁt-e akhlÁq va sanÝat va Ýilm-e ensÁni. Teheran, S. 233. 57 Ebd.

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Der Westen, so Sorush, ist durch die iranisch-orientalischen Intellektuellen kreiert worden, um ihre „Unfähigkeiten“ zu rechtfertigen. Sorush wirft in diesem Zusammenhang seinen GegnerInnen einen gewissen Okzidentalismus vor. Okzidentalismus stellt für ihn wie bei Buruma/Margalit den Gegenpol zum Orientalismus dar.58 Sorush hält seinen KritikerInnen, die ihm Liberalismus und Verwestlichung vorwerfen, entgegen, dass sie historizistisch und essenzialistisch argumentierten. Es werde vom Westen gesprochen, als ob es sich dabei um eine einheitliche Größe handle, ohne die Vielschichtigkeiten und Ambivalenzen des Westens zu berücksichtigen. Dementsprechend gehe man dann davon aus, dass dieses einheitliche Wesen ausschließlich böse sein könne. So verhindere man jegliche sachliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen und werde vielmehr vor die Wahl gestellt, entweder den Westen als Ganzes zu akzeptieren oder ihn wiederum als Ganzes abzulehnen. Dabei bekräftigt Sorush, dass die KritikerInnen des Westens in ihrem Denkansatz von westlichen Historizisten und Essenzialisten, allen voran Hegel, Marx, Spengler und Heidegger geprägt seien.59 Diese Philosophen, so Sorush weiter, haben alle die Geschichte so interpretiert, als ob diese – wie der Mensch – aus Körper und Geist bestünde, sich über verschiedene Lebensabschnitte entwickle, und insgesamt einen

58 Buruma, Ian/Margalit, Avishai Margalit (2004): Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde. München; Wien 2005. 59 Vgl. Sorush, ÝAbdolkarim (1987b): „GharbeyÁn va hosn va qobh-e shoÞun va atvÁr-e ÁnÁn“. In: Ders. Tafarroj-e sonÝ. GoftÁrhÁyi dar maqulÁt-e akhlÁq va sanÝat va Ýilm-e ensÁni. Teheran, S. 228-239, hier S. 228 ff; gewisse Ähnlichkeiten zwischen Sorushs Ausführungen und Argumentationen von Ian Buruma und Avishai Margalit, wie sie Jahre später in ihrem gemeinsamen Buch Okzidentalismsus ausführen, sind nicht zu übersehen. Die beiden Letzteren vertreten ebenfalls die These, dass die antiwestlichen Haltungen in den asiatischen und islamischen Ländern, welche sie als Okzidentalismus bezeichnen, ihre Wurzeln im Westen selbst hätten. Sie sprechen dabei von einer antiwestlichen Konferenz, die 1942 in Kyoto abgehalten wurde, an der „eine Reihe angesehener japanischer Wissenschaftler und Intellektueller“ und […] „Philosophen der buddhistisch-hegelianischen Schule von Kyoto“ teilnahm. Vgl. Buruma (2004): S. 9.

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bestimmten Fortgang aufweise.60 Sorush plädiert dafür, statt vom „Westen“ von „WestlerInnen“, statt von „westlicher Philosophie“ von „westlichen PhilosophInnen“, statt von „westlicher Kunst“ von „westlichen KünstlerInnen“ zu sprechen. Nur so würde die Konstruktion eines angeblichen „westlichen Geistes“ (ruh-e gharbi)61 verhindert und eine differenzierte Debattenkultur ermöglicht.62 Die hegelianischen KämpferInnen gegen den Westen, so Sorush weiter, gehen von zwei unbegründeten Prämissen aus: Zum einen sähen sie hinter allen westlichen Erscheinungen ein „böses Wesen“, zum anderen glaubten sie, dass der Westen nur „Böses“ vollbringe und über keine anderen Fähigkeiten und Möglichkeiten verfüge. Durch derartige Verallgemeinerungen würde jede kritische Auseinandersetzung mit den westlichen Theorien und Argumenten ausgeschlossen. Es könne den KritikerInnen jedoch vorgehalten werden, dass nicht alles Westliche unbedingt „böse“ sein müsse, und dass der angeblich „böse Westen“ vielleicht in Zukunft eine andere Haltung haben könne.63 Sorush wirft den KritikerInnen „des Westens“ Essentialismus vor, und dass sie in ihrer Aufnahmefähigkeit beschränkt seien, während die islamische Kultur schon früh gezeigt habe, dass sie keine Angst vor anderen Kulturerscheinungen habe und in der Lage sei, sich mit anderen auseinanderzusetzen, für sich das Richtige und Passende zu suchen und es in sich aufzunehmen und zu kultivieren.64 Trotz dieser kritischen Haltung lehnt Sorush das Konzept der gharbzadegi nicht grundsätzlich ab, betrachtet es jedoch nicht als ein übermächtiges politisches Phänomen. An einer anderen Stelle versucht er Àl-e Ahmad in Schutz zu nehmen, indem er ihm attestiert, dass er mit seinem Konzept gharbzadegi „uns“ vor der einseitigen Aufgabe eigener kultureller Reichtümer und der blinden Übernahme westlicher Technologie, Kulturgüter und Bräuche warnte.65 Sorush sieht jedoch im Gegensatz zu Àl-e Ahmad hinter der auch von ihm beobachteten „verwestlichten“ iranischen Kultur keine

60 Sorush (1987b): S. 231. 61 Buruma und Margalit thematisieren ebenfalls in einem Sonderkapitel „Der Geist des Westens“ die Konstruktion eines solchen Phänomens. Vgl. Buruma (2004): S. 79-102. 62 Vgl. Sorush (1987): S. 233. 63 Ebd.: S. 234f. 64 Ebd.: S. 237-238. 65 Vgl. Sorush (1988): S. 161.

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bewusste, von jemandem gesteuerte Strategie. Er stellt in diesem Zusammenhang Folgendes fest: „Wir dürfen nicht daran zweifeln, dass niemand am Kommen der westlichen Kultur in unser Land schuld war. Das war [das Resultat] der Begegnung einer starken Kultur mit einer schwerfälligen, angeschlagenen und schwachen Kultur.“66

Offensichtlich ist Sorush um einen reflektierten und distanzierten Umgang mit dem Thema der gharbzadegi bemüht. Eine kritiklose und nur bejahende Haltung gegenüber den „westlichen“ Geschichten, Politiken und Kulturen hält er für genauso abwegig wie undifferenziert. Daher bekräftigt er, dass zweifelsohne die EuropäerInnen genug hegemoniale, betrügerische, ungerechte und inhumane Politiken betrieben, „ehrenvolle“ Begriffe wie Freiheit, Kultur, Gleichheit, Entwicklung etc. missbraucht bzw. pervertiert hätten. Darüber hinaus hätten einige westliche politische Philosophien im Dienste derartiger Praktiken gestanden und sie rechtfertigt. Er warnt jedoch vor einem Generalverdacht und einer pauschal negierenden und den Verschwörungstheorien dienenden Position gegenüber „dem Westen“. Sorush zufolge darf man den Westen weder komplett akzeptieren noch vollkommen ablehnen. Das „Analysieren“ und „Aufnehmen“ von positiven Kulturelementen seien „die zwei großen Künste“ eines „scharfsinnigen“ Beobachters des Okzidents.67

Kritik an ShariÝatis Konzept der islamischen Ideologie „Eine Religion zu ideologisieren heißt, sie ihrer Zeitlosigkeit, Größe, Kraft und ihres Reichtums zu berauben, aus ihr einen niedrigen, kurzlebigen, geistlosen und dünnen Teich zu machen und gleichzeitig von ihrer Vollkommenheit zu sprechen. […] In Wahrheit ist Ideologie das Parteibuch eines aufständischen Menschen, der sich als Gott betrachtet und nicht nach der Interpretation der Welt trachtet, sondern nach ihrer Veränderung und zwar nach einer grundlegenden und radikalen Veränderung.“68

66 Ebd.: S. 160. 67 Sorush (1987b): S. 139. 68 Sorush (1996a): S. 122-123.

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So formuliert Sorush an einer Stelle seine Kritik an den Versuchen, allen voran ShariÝatis, aus der Religion Islam die Ideologie Islam zu kreieren. Beschreibt Sorush ShariÝati in einem seiner ersten Beiträge noch als „Erneuer des religiösen Denkens“, der zum „wertvollen kulturellen Erbe“ iranisch-islamischer Gesellschaft gehöre,69 folgten einige Jahre später seine ersten kritischen Reden zu ihm und seiner Idee der islamischen Ideologie, die kurz danach als Printversion erschienen.70 Nachdem Sorush feststellt, dass eines der wichtigsten Anliegen ShariaÝatis die Ideologisierung der Religion gewesen ist, versucht er zunächst den Begriff Ideologie zu definieren. Bezeichnenderweise teilt er die historischkulturellen Hintergründe einer Ideologie nicht in „westlich“, „östlich“ oder „islamisch“ ein. Er weist lediglich darauf hin, dass das Wort zunächst keine guten Assoziationen wecke. Man habe die Menschen als Ideologen bezeichnet, die man als gesellschafts- und wirklichkeitsfern und als TräumerInnen angesehen habe. Auch im Marxismus habe der Begriff eine negative Bedeutung. „Nach dem Marxismus stelle Ideologie den Schleier der Wirklichkeit dar, eine Art Täuschung des Verstandes, und verblende die Menschen, Wahrheiten zu sehen.“71 In einer positiven und weit verbreiteten Bedeutung heiße Ideologie jedoch eine systematische und strukturierte Lehre, die über klare Grundsätze verfüge und Werte und Ziele formuliere, nach denen Menschen sich in unterschiedlichen Situationen richten könnten. In diesem Sinne habe auch ShariÝati den Begriff Ideologie verstanden.72 Dann versucht Sorush, die wichtigen Charakteristika der Ideologien aufzulisten.73 Das erste wesentliche Merkmal einer Ideologie sei ihre „Funktion als eine Waffe“ für revolutionäre Ziele. Mit Bezug auf die be-

69 Vgl. Sorush, ÝAbdolkarim (1994b): „Doktor shariÝati va bÁzsÁsi fekr-e dini“. In: Ders. Qesse-ye arbÁb-e maÝrefat. Teheran, S. 381-440, hier S. 382-383. 70 Der Titel dieser drei Reden lautet Farbehtar az ideÞuluji; die Reden wurden zunächst an der ImÁm SÁdeq Moschee in Teheran gehalten und 1994 im gleichnamigen Buch (S. 97-156) veröffentlicht. Vgl. hierzu meine Rezension: Poya, Abbas (1997): „ÝAbdolkarƯm Surnjš, farbihtar az idiÞulnjžƯ“. In: Der Islam, 74/1997, S. 188-190. 71 Sorush (1996a): S. 103. 72 Vgl. ebd.: S. 104. 73 Vgl. ebd.: S. 106ff.

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kannte Formulierung Lenins, „ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis“, bekräftigt Sorush, dass die revolutionäre Theorie Ideologie sei, und dass sie im Dienste des revolutionären Kampfes stehe. Das zweite Merkmal einer Ideologie sei es, dass sie „klar“ (vÁzeh) und „scharf“ (qÁteÝ) formuliert werde. Ideologien vertrügen weder philosophischen Dissens oder wissenschaftlichen Zweifel noch mystische Toleranz. Daher seien sie auch oberflächlich und reduktionistisch. 74 Versuche man aus der Religion eine Ideologie zu kreieren, so könne man dies nur selektiv, indem man einige ihrer Aspekte herausstreiche und sie nicht als ein zusammenhängendes Ganzes berücksichtige. Eine weitere Eigenschaft der Ideologien sei ihre Vergänglichkeit. Ideologien dienten dazu, klare Grenzen zwischen Feind und Freund zu ziehen und ihre AnhängerInnen gegen ein bestimmtes Feindbild zu mobilisieren. Sei der Kampf zu Ende und existiere der vermeintliche Feind nicht mehr, verliere die Ideologie ihre Gültigkeit. Ideologien wollten also die Menschen mobilisieren und beabsichtigten nicht, nach der Wahrheit zu suchen.75 In einer ideologischen Denkweise müssten sich die Wahrheiten dem Mobilisierungsziel unterordnen und sich dementsprechend verbiegen lassen. Somit sei als ein weiteres Merkmal der Ideologien zu nennen, dass sie „rastlos“ (bi-tÁb), „ruhelos“ (nÁ-ÁrÁm), „ungeduldig“ (bi-tÁqat) und „unbedacht“ (bi-ehteyÁt) seien. Wer nach Wahrheit suche, könne es nur mit Bedacht und Geduld tun. Eine Ideologie wolle aber mobilisieren und vertrüge keine Geduld.76 Als ein weiteres Merkmal der Ideologien stellt Sorush fest, dass sie für die „Revolution“ (enqelÁb) geeignet seien und nicht für den „Aufbau“ (esteqrÁr) einer neuen Gesellschaft, dass sie daher der Gründungsphase angehörten und nicht der Errichtungszeit. Aus diesem Grund seien alle Ideologien mit der Frage konfrontiert, wie dieselben Theorien, mit deren Hilfe die Gesellschaft zur Revolution angestiftet wurde, auch nach dem Sieg gelten könnten. Um diesem theoretischen Dilemma vorzubeugen, hätten die RevolutionstheoretikerInnen von der „Revolution in der Revolution“ oder der „Permanenten Revolution“ gesprochen, die ShariÝati seinerseits in dem Begriff EjtehÁd gesucht habe.77 Nach Darstellung Sorushs wollten Revolu-

74 Ebd.: S. 106-107. 75 Vgl.: S. 107. 76 Ebd.: S. 108. 77 Ebd.: S. 110.

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tionäre wie ShariÝati im Grunde gar nicht, dass die dynamische revolutionäre Phase zu Ende gehe und die Phase des Aufbaus und der Errichtung einer neuen Gesellschaft eintrete, sonst würde die ideologische Interpretation der Religion ihre Bedeutung verlieren. Ein anderes Merkmal von Ideologien sei ihre Forderung nach Führung. Die BefürworterInnen von Ideologien, so Sorush, bräuchten eine Führungsfigur oder bestimmte Menschen, welche die Ideologie auslegten. Für ShariÝati, der aus dem Islam eine Ideologie zu konstruieren versucht habe, könne diese Aufgabe nur von den religiösen Gelehrten übernommen werden. Sie seien die einzigen, die die Kompetenz zur Führung der Gesellschaft haben, dabei dürften sie sich natürlich nicht als korrupt erweisen. Hier will Sorush einen Widerspruch in ShariÝatis Konzept ausmachen. Denn ShariÝati sei einerseits gegen die Existenz einer offiziellen Klasse der Geistlichkeit, konzipiere andererseits eine islamische Ideologie, die eine solche Klasse benötige.78 Sorush stellt das ideologische Anliegen ShariÝatis, das Ungerechte zu bekämpfen, nicht in Frage. Er bekräftigt in aller Deutlichkeit, dass ShariÝati ein ehrlicher, mutiger, talentierter und belesener muslimischer Denker gewesen sei, der sich der Sache des Islam gewidmet habe. Nur sein Ansatz, aus der Religion Islam die Ideologie Islam zu kreieren, sei „wissenschaftlich“ nicht haltbar und habe gesellschaftspolitisch schwere Folgen. Grundsätzlich umfasse Religion weit mehr als das Ideologische und dürfe nicht darauf reduziert werden. Religion/Islam umfasse alle Ziele, die man von einer islamischen Ideologie erhoffe, den Kampf für das Wohl aller BürgerInnen und die soziale Gerechtigkeit. Religion/Islam biete jedoch mehr als eine Ideologie. Man brauche Religion/Islam nicht in der Oberflächlichkeit verkommen zu lassen, indem man nur bestimmte Aspekte hervorhebe. Religionen seien für jedermann und für alle Zeiten, während Ideologien bestimmte Adressaten hätten und nur in einer revolutionären Phase wirkten.79 Gemäß Sorushs Argumentation kann Religion gar nicht ideologisiert werden. Sollte dies dennoch versucht werden, sei das Ergebnis nicht wünschenswert. Dabei verweist er darauf, dass religiöse Texte, allen voran der Koran, ganz eindeutig keine ideologischen Texte seien, weil ihre Adressa-

78 Vgl. ebd.: S. 116f. 79 Ebd.: S. 122f.

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ten Menschen aller Zeiten seien. Der Mensch sei ein komplexes Wesen und lebe in einer schwer fassbaren Welt. Dementsprechend könne Religion nur vieldeutig und komplex sein und sollte nicht in eine eindeutige, klare, oberflächliche und vergängliche Sprache eingepasst werden. Daher sei auch die Sprache der Religion magisch und vielschichtig; Religion spreche nicht nur eine bestimmte Gesellschaft an, sondern gelte für alle und in jeder Zeit. Damit Sorush seiner Kritik Ausdruck verleihen kann, bedient er sich zum Teil einer metaphorischen Sprache: Während Ideologie die Funktion einer Kleidung habe, sei Religion wie die Luft. Eine Kleidung könne nach bestimmten Maßen und für bestimmte Wetterlagen gemacht werden. Die Luft brauche jeder und in jeder Jahreszeit bzw. an jedem Ort.80 Mit Verweis auf die ehemalige Sowjetunion leitet Sorush den zweiten Teil seiner Argumentation gegen eine Ideologisierung des Islam ein. Dabei stellt er die Behauptung auf, dass die Ideologisierung der Religion nicht wünschenswert sei, auch wenn sie theoretisch möglich wäre. Denn in ideologischen Denksystemen würden bestimmte Personen und Sichtweisen vergöttert; dadurch entstünden Diktaturen und totalitäre Regime, in denen andere Meinungen diskreditiert und deren TrägerInnen eliminiert würden.81 In einer ideologisierten Gesellschaft gebe es keinen Platz für Pluralität und Toleranz, während Religion/Islam die Meinungsverschiedenheit, den EjtehÁd und den Pluralismus anerkenne.82 Das liege auch daran, dass Ideologien die plurale Vernunft nicht duldeten und stattdessen Hass propagierten.83 Sorushs Kritiken an Ideologien münden schließlich in eine humanistische Selbstpositionierung. Sorush stellt die Frage, ob Ideologien oder Religionen den Menschen dienen sollen oder umgekehrt. Er wirft den ideologischen Regimen vor, dass sie, auch wenn sie das Wohl der Menschen groß auf ihre Fahnen geschrieben haben, diese letztlich doch für ihre eigenen Interessen opfern. Wenn derartige Regime scheiterten, suchten sie die Schuld bei den Menschen und nicht bei sich selbst. Folgerichtig vertritt Sorush in Bezug auf Religion ebenfalls die Meinung, dass sie den Menschen dienen solle. Nicht nur der Mensch solle religiös sein, sondern auch die Religion müsse menschlich werden. In diesem Sinne kritisiert Sorush die ashÝaritische Schule, die in

80 Ebd.: S. 125ff. 81 Ebd.: S. 134ff. 82 Ebd.: S. 137. 83 Ebd.: S. 140.

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ihrer extremen Prägung davon ausgehe, dass Gott auch Unmögliches (sprich unzeitgemäße Verpflichtungen) von Menschen verlangen könne, und beschreibt deren Position als „ideologischen Starrsinn“. Sorush unterstützt bei dieser Frage die schiitisch-moÝtazelitische Sichtweise, welche die Religion „menschlich“ (ensÁni) zu verstehen versuchte.84 So kommt Sorush in Anlehnung an Popper zu dem Schluss: Ideologien, welche den Menschen das Paradies auf Erden versprächen, schickten sie in die Hölle.85

Kritik des Herrschaftssystems velÁyat-e faqih Im Zuge seiner Ideologiekritik setzt sich Sorush auch mit dem Konzept der velÁyat-e faqih („Herrschaft der Rechtsgelehrten“) auseinander. Wie Amirpur bekräftigt, ist zunächst in seinen Schriften eine klare Ablehnung der velÁyat-e faqih „als der Herrschaftsform der Islamischen Republik Iran“ schwer zu finden.86 Das mag zum Teil in den offensichtlichen Bemühungen Sorushs begründet sein, seine Kritik an den Politikformen und Praktiken der Islamischen Republik im Rahmen der bestehenden Verfassung des Landes zu äußern, in welcher das Herrschaftsprinzip der velÁyat-e faqih verankert ist. Dass Sorush aber eine vehement ablehnende Haltung gegen das Konzept der velÁyat-e faqih pflegt, ist nicht zu übersehen, obgleich er das Konzept eher auszuhöhlen versucht, als es direkt und explizit in Frage zu stellen. In seiner Rede Tahlil-e mafhum-e hokumat-e dini („Analyse des Begriffs des religiösen Staats“), welche er 1995 hielt und 1996 in der kritischen Zeitschrift keyÁn veröffentlichte, stellt Sorush zu Beginn fest, dass man im Allgemeinen unter der Bezeichnung religiöser Staat die Staatsform verstehe, die von den „Rechtsgelehrten“ (foqahÁÞ) anhand der Schariaquellen konzipiert sei und die Umsetzung der Scharia zum Ziel habe.87 Das ist eine eindeutige Anspielung auf das Konzept der velÁyat-e faqih, welches unter anderem von Ayatollah Khomeini im Rahmen einer Scharia-spezifischen Argumentation konstruiert wurde. Herkömmlich diskutieren die Ge-

84 Ebd.: S. 149. 85 Ebd.: S. 150; zur ähnlichen Formulierung bei Popper vgl. Popper (2003): S.277. 86 Vgl. Amirpur (2003): S. 58. 87 Vgl. Sorush, ÝAbdolkarim (1996b): „Tahlil-e mafhum-e hokumat-e dini“. In: KeyÁn 6/1996, S. 2-13, hier S. 2.

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lehrten den Terminus velÁyat-e faqih im Rahmen des Themas velÁyat-e seghÁr („Vormundschaft für die Minderjährigen/Waisenkinder“). Gemäß Ayatollah Khomeini fungiert beispielsweise der „Rechtsgelehrte“ (faqih) in einer islamischen Gesellschaft als Vormund der Nation wie der Vormund eines Minderjährigen.88 Dass der Theorie der velÁyat-e faqih die politisch ungünstige Annahme, das Volk sei minderjährig, zugrunde liegt, fällt inzwischen auch deren AnhängerInnen unangenehm auf. Sie versuchen daher den Begriff velÁyat ausschließlich als eine politische Kategorie im Sinne von Herrschaft zu deuten.89 Dennoch bleiben sie in ihrer Argumentation im Rahmen der „Jurisprudenz“ (fiqh). Sorush setzt hier an und versucht zu zeigen, dass die Diskussion über den Staat weder mit der Religion noch mit der Scharia zu tun habe; sie finde vielmehr „außerhalb der Jurisprudenz“ (farÁfiqhi) und sogar „außerhalb der Religion“ (farÁdini) statt.90 Seine These bekräftigt Sorush, indem er beschreibt, wie das Prinzip der velÁyat-e faqih von seinen AnhängerInnen verstanden wird. Die BefürworterInnen der velÁyat-e faqih gingen davon aus, dass die Herrschaft der Rechtsgelehrten die Fortsetzung der Herrschaft des Propheten und der Imame sei, und dass der Rechtsgelehrte dieselben Rechte und Machtkompetenzen habe wie der Prophet und die Imame. Eine solche Frage, die Frage nach Prophetentum und Imamat, so Sorush weiter, stelle eine theologische Frage dar und werde nicht im Rahmen der „Jurisprudenz“ (fiqh) diskutiert.91 Außerdem stellt für Sorush der Staat kein Kontrollorgan dar, sondern lediglich eine Schutzinstanz. Ein religiöser Staat soll gemäß Sorush vor allem daran interessiert sein, den Glauben der Menschen zu schützen. Das würde wiederum heißen, der Staat sei verpflichtet, für ein gesellschaftliches Klima zu sorgen, in dem jeder/jede im Stande sei, in Freiheit und ohne Zwang seinen/ihren Glauben zu erfahren und zu praktizieren. Eine feqhgeleitete Staatsform werde hingegen darauf Wert legen, dass alle sich an die Vorgaben der Scharia hielten. Eine solche Haltung wird nach Sorush

88 Vgl. Amirpur (2003): S. 45. 89 Zu derartigen Versuchen vgl. u.a. MesbÁh Yazdi, M. Taqi (1990): Hokumat-e islÁmi va velÁyat-e faqih. Teheran; Javadi Àmoli, ÝAbdollÁh (1989): PirÁmun-e vahy va rahbari. Qom. 90 Vgl. Sorush (1996b): S. 2. 91 Vgl. ebd.

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Angstgefühle, Heuchelei und Doppelmoral schüren.92 Für Sorush stellt eine Gesellschaft, in der die Glaubensfreiheit und freie religiöse Erfahrung nicht garantiert sind, keine religiöse Gesellschaft dar, auch wenn sie nach einer feqh-gerichtet Definition eine solche wäre.93 Sorush stellt dann die zwei klassischen Fragen zur politischen Führung: „Wer soll regieren?“ (haqq-e hokumat az Án-e kist?) und „Wie soll regiert werden?“ (chegune bÁyad hokumat kard?). Er ist der Meinung, dass die Antwort auf die erste Frage davon abhängt, wie die zweite Frage beantwortet wird.94 Damit will er offensichtlich hervorheben, dass eine freiheitliche Regierungsform nicht gewährleistet ist, wenn die Herrschaft der Rechtsgelehrten in einem absolutistischen Sinne verstanden wird, wie es im heutigen Iran der Fall ist. Daher bekräftigt er mit Bezug auf die iranische Verfassung, in der zur Überwachung des vali-ye faqih die Institution des „Expertenrats“ (majles-e khobragÁn) vorgesehen wurde, dass die politische Führung letztlich durch die BürgerInnen überwacht, kontrolliert und abgewählt werden kann.95 Um seine Position zu bekräftigen, stellt Sorush zwei weitere Fragen: Was sind die Ziele eines religiösen Staats und wie sollen sie umgesetzt werden. Als Antwort auf die erste Frage stellt er fest, dass die primären Ziele einer Regierung keine religiösen seien, sondern allgemeine und überkonfessionelle Ziele, wie z.B. Gerechtigkeit und Wohlstand. Solche Ziele oder Wertvorstellungen ergäben sich aus Vernunft und menschlicher Erfahrung und hätten mit religiösen Erfahrungen nichts zu tun, auch wenn sie in den religiösen Texten angesprochen und gefordert worden seien. Die zweite Frage, wie bestimmte politische Ziele umgesetzt werden müssten, habe ebenso wenig mit religiöser Überzeugung zu tun. Wie medizinische oder sonstige fachspezifische Fragen könnten auch Antworten auf solche politische Fragen nicht in den religiösen Texten gesucht werden. Gemäß Sorush ist auch ein religiöser Staat vornehmlich für die materiellen bzw. profanen Bedürfnisse seiner BürgerInnen zuständig; denn so werde es ihnen ermög-

92 Vgl. ebd.: S. 2. 93 Vgl. ebd.: S. 3. 94 Vgl. ebd.: S. 4f. 95 Vgl. ebd.: S. 4-6; gegen diese Relativierungsversuche des Prinzips der velÁyat-e faqih argumentieren dessen AnhängerInnen, dass auch der Expertenrat seine Legitimation durch den vali-ye faqih erhielt. Sorush entgegnet seinerseits, dass eine solche Annahme paradox, nicht logisch und unsinnig sei. Vgl. ebd.: S. 5.

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licht, selbst ihren sekundären Fragen, unter anderem ihren religiösen Fragen, nachzugehen.96 Verfolgt man Sorushs Argumentation genauer, stellt sich heraus, dass er im Endeffekt nichts anderes will als eine demokratische Regierungs- und Staatsform, die in einer religiösen Gesellschaft, sprich Iran, konsequenterweise auch für die Religiosität der BürgerInnen vom Vorteil ist. Zum gleichen Ergebnis kommt übrigens der kanadische Politikwissenschaftler und Philosoph Charles Taylor in seiner Analyse des Säkularismus. Taylor bekräftigt in seinem viel beachteten Buch Ein säkulares Zeitalter, dass in einer säkularen Gesellschaft, entgegen der ursprünglichen Annahme, nicht nur die Religion nicht geschwächt worden sei, sondern ganz im Gegenteil, eine säkulare Gesellschaft vielmehr Möglichkeiten zum Erhalt religiöser Werte wie die Bewahrung der Menschenrechte, Menschenwürde und die Bereitschaft, anderen zu helfen, biete.97 Genau mit derselben Begründung, dass also Demokratie bzw. Säkularismus den besten Schutz für die Religiosität der BürgerInnen darstelle, kritisiert Shabestari Sorushs Konzept des demokratisch-religiösen Staats. Für Shabestari ist eine Regierung entweder demokratisch oder nicht. Mit dem Zusatz religiös könne man nur vielen undemokratischen Maßnahmen Tür und Tor öffnen.98 Sorush ist sich selbst offensichtlich der Paradoxie seiner Theorie bewusst und räumt daher an einer weiteren Stelle Folgendes ein: „Ein religiöser Staat ist ebenfalls ein Staat, der durch seine Dienste indirekt die Religiosität seiner BürgerInnen schützt. Das heißt nicht, dass sich hier die Definition des Staats ändert, oder dass neue und spezielle staatliche Handlungsweisen aus der Religion abgeleitet werden. Daher hat ein religiöser Staat, der im Dienste der religiösen BürgerInnen steht, nur in einer religiösen Gesellschaft einen Sinn. Aber überall, sei es in einer religiösen oder nicht religiösen Gesellschaft, ist der Staat das Gleiche und hat den gleichen Charakter. Ob er religiös oder nicht religiös ist, ändert nichts an dessen Gehalt und Bedeutung.“99

96 Vgl. ebd.: S. 6-7. 97 Vgl. Taylor, Charles (2009): Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a.M. 98 Vgl. Shabestari, M. M. (2004): Ta‫ގ‬ammolÁti dar qerÁ‫ގ‬at-e ensÁni az din. Teheran, S. 150. 99 Vgl. Sorush (1996b): S. 10.

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Sorush ist dennoch darum bemüht, einen Unterschied zwischen einer religiösen und einer nicht religiösen Demokratie auszumachen, der jedoch nicht wirklich überzeugend wirkt. Den Unterschied sieht Sorush nicht in der Form, sondern in der Zielsetzung: „Ein religiöser Staat setzt sich zielbewusst für das materielle Wohl seiner Bürger ein, damit diese sich selbst um ihr sakrales Wohl kümmern.“100

In einem weiteren Beitrag DindÁri va ÁÞin-e shahreyÁri („Religiösität und Herrschaftsnormen“) führt er seine Kritik an der Herrschaft der Rechtsgelehrten weiter aus und unterscheidet dabei zwischen zwei Aspekten des Politischen, zwischen „Führung“ (modireyyat) und „Legitimation“ (mashruÝeyyat). Die Führung stelle auch in einem religiösen politischen Konzept etwas Weltliches dar. Daher solle sie durch menschliche Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse geformt und geprägt werden, und werde sie tatsächlich auch.101 Für eine religiöse Legitimation politischer Führung sieht Sorush zwei Möglichkeiten. Zum einen kann sie direkt auf Gott zurückgeführt werden. Nach diesem Erklärungsmuster sei der Imam bzw. der vali-ye faqih zu diesem Amt, Führung der Gesellschaft, bestimmt worden. Die zweite Möglichkeit ist, dass Gott den BürgerInnen die Aufgabe übertragen habe, ihre Herrscher nach bestimmten Kriterien zu wählen. Sorush macht deutlich, dass die Legitimation des vali-ye faqih meistens im ersten Sinne verstanden wird, ohne weiter darauf einzugehen. Dafür hebt er hervor, dass Herrschaft eine weltliche Angelegenheit sei und ihre Form sich nach gesellschaftlichem Kontext ändere. Mit dieser Art von Argumentation will er möglicherweise, ohne der politischen Führung zu nahe zu treten, ihr doch nahe legen, dass eine für eine vergangene Gesellschaft geeignete Staatsform für die heutige moderne Gesellschaft nicht richtig sein muss.102 In einer anderen Stellungnahme VelÁyat-e bÁteni va velÁyat-e seyÁsi („Innere Herrschaft und politische Herrschaft“) zu diesem Thema versucht Sorush erneut, das Prinzip der velÁyat-e faqih in Frage zu stellen. Die Rede

100 Vgl. ebd.: S. 11. 101 Vgl. Sorush, ÝAbdolkarim (2000b): „DindÁri va ÁÞin-e shahreyÁri“. In: Ders. ÀÞin-e shahreyÁri va dindÁri. SeyÁsat-nÁme 2. Teheran, S. 126-146, hier S. 142143. 102 Vgl. ebd.: S. 145.

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wurde zunächst 1998 gehalten und 1999 in der Zeitschrift keyÁn veröffentlicht. Dabei unterscheidet Sorush zwischen einer mystischen und einer politischen Bedeutung des Begriffs der velÁyat („Herrschaft“). Für einen Mystiker stelle der vali („Herrscher“) die Person dar, der man blind zu folgen habe. In dieser Bedeutung hätten auch die Schia und viele Mystiker den Propheten und die schiitischen Imame als vali aufgefasst. Gleichzeitig beschreibe vali aber die Person, die profane und weltliche Herrschaft ausübe. Nur in diesem Sinn könne auch die schiitische Überzeugung, dass der Prophet seinen Neffen ÝAli zum vali, zum Herrscher der muslimischen Gemeinde, ernannt hätte, verstanden werden. Eine innere „Herrschaft“ (velÁyat) im mystischen Sinne sei eine Qualität, eine Gabe, die man entweder habe oder nicht habe; dazu könne man nicht ernannt werden. Wenn nun die Rede von Imamat und in deren Folge von velÁyat-e faqih ist, so Sorushs Schlussfolgerung, müsse immer der zweite, politische und profane Sinn mitgedacht werden. In diesem Sinne hätten aber die BürgerInnen das Recht, den Herrscher zu kritisieren, seine Handlungen in Frage zu stellen und mit ihm wie mit einem gewöhnlichen Menschen umzugehen. Das Problem liegt nach Sorush darin, dass in der schiitischen Theologie und in den gegenwärtigen Diskussionen zwischen diesen Bedeutungsebenen des Begriffs vali nicht unterschieden werde, sodass die Imame und der vali faqih in ihren weltlichen Entscheidungen über jeder Kritik stünden und aus ihnen heilige und unantastbare Personen gemacht würden.103 Zusammengefasst versucht Sorush dem Konzept velÁyat-e faqih seine religiöse Bedeutung und damit seine Stellung als ein unanfechtbares Prinzip abzusprechen und es als ein politisches/weltliches Konzept darzustellen, welches Gegenstand intellektueller Auseinandersetzungen sein kann. In seinem letzten öffentlichen Brief an Ayatollah Khamenei, dem jetzigen religiös-politischen Oberhaupt, formuliert Sorush sein Verständnis vom Konzept velÁyat-e faqih folgendermaßen: „Ganz gewiss ist velÁyat-e faqih weder nach der Scharia noch nach der Vernunft vertretbar. Und viele Rechtsgelehrte und vernünftige Menschen sind dagegen. Aber

103 Vgl. Sorush, ÝAbdolkarim (1998): „VelÁyat-e bÁteni va velÁyat-e seyÁsi“. In: KeyÁn 8/1998/9, S. 10-20.

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wie auch immer, es bedeutet lediglich politische und keine spirituelle Herrschaft. Es heißt also nur Herrschaft und Führung des Rechtsgelehrten.“104

Der demokratisch-religiöse Staat – ein Konzept zwischen Religiosität und Säkularität Da Sorush Ideologien als oberflächlich, dogmatisch, intolerant und irrational kritisiert und dafür plädiert, „Rationalität“ (ÝaqlÁneyyat) und Pluralität im religiösen und politischen Denken mehr Platz einzuräumen, könnte sein gesellschaftspolitisches Konzept als ein säkulares verstanden werden. So will ihn zumindest der politische Aktivist Akbar Ganji verstanden haben. Ganji ist der Ansicht, dass die sogenannten religiösen Erneuerer im heutigen Iran wie Shabestari, MalekyÁn und Sorush säkulare Denker sind. In diesem Zusammenhang argumentiert er, dass Sorush die Verankerung der Bewegung des „religiösen Intellektualismus“ (roushanfekri-ye dini), zu deren WortführerInnen er selbst zähle, in der Moderne sehe. Er räume ein, dass Demokratie, Toleranz, Zivilgesellschaft, kritische Vernunft, Freiheit, Menschenrechte und Säkularismus geistige und gesellschaftliche Früchte der Moderne seien, und dass die religiösen Intellektuellen mit der Übernahme dieser geistigen Errungenschaften den Islam auf eine Art und Weise interpretierten, in der er in Einklang mit diesen Merkmalen, unter anderem mit dem Säkularismus, stehe. Aus diesem Grund, so Ganjis Schlussfolgerung, wollen die religiösen Intellektuellen einen modernen Islam und keine islamische Moderne, einen demokratischen Islam, keine islamische Demokratie, einen Islam, der in Einklang mit den Menschenrechten steht, keine islamischen Menschenrechte.105 Sorush selbst hat sich jedoch nie in dieser Deutlichkeit auf Seiten des Säkularismus positioniert. In seinen Werken spielen die drei Komponenten, Religion, Vernunft und Säkularismus, eine Rolle, aber keiner schreibt er eine übergeordnete Rolle zu. Vielmehr ist Sorush vom Zusammenspiel aller drei Faktoren überzeugt. Mit Arash Naraghi gesprochen zielt er darauf ab,

104 http://www.drsoroush.com/Persian/By_DrSoroush/P-NWS-13901001-baghbana ZeKhazanbBiKhabaratMibinam.html (01.03.2014). 105 http://www.roozonline.com/persian/news/newsitem/article/-e98eee935b.html (05.12.2011).

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neben dem Religiösen auch das Säkulare und das Rationale hervorzuheben und dabei klarzustellen, dass man ohne Anerkennung des Säkularen, den modernen politisch-gesellschaftlichen Herausforderungen nicht gerecht werden kann. Sorush, selbst überzeugter Muslim, will die Bedeutung des Religiösen nicht in Frage stellen. Insofern ist sein Anliegen ein „minimalistischer“ Säkularismus, im Gegensatz zu einem maximalistischen Säkularismus, welcher dem Religiösen wenig oder gar keine Rechnung trägt.106 Carl Schmitt hat über die moderne Staatslehre Folgendes geschrieben: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“.107 Sorush behauptet im Grunde dasselbe aber in Zusammenhang mit allen geistigen und emotionalen Bereichen des menschlichen Lebens.108 In diesem Sinne bekräftigt Sorush, dass alles, was früher mit Religion erklärt wurde, von den einfachen hygienischen Vorschriften bis zu den Naturereignissen und der Politikgestaltung, in der Moderne säkularisiert und durch Vernunft begründet wird. Unter dem Begriff der Säkularisierung lediglich die Trennung von Staat und Religion zu verstehen, stellt für ihn ein triviales Verständnis von Säkularisierung dar. In einem „säkularen Zeitalter“, und das ist viel grundlegender für Sorush, würden sowohl die Gedanken als auch die Motivationen säkularisiert, d.h., mensch-

106 Vgl. http://soroush.malakut.org/2005/12/post_8.php (01.03.2014); auch im Zusammenhang mit der Religion und den Anforderungen, die man an sie stellt, spricht Sorush von einer „minimalistischen und einer maximalistischen Religion“ (din-e aqalli va akthari). Ein maximalistisches Verständnis von Religion, so Sorush, erwartet von ihr, dass sie jedwede Fragen, ganz gleich ob sie politischer, theologischer oder naturwissenschaftlicher Natur sind, beantworten könne, und dass ergo ein religiöser Mensch nichts anders brauche, als sich nach den religiösen Vorgaben zu richten. Eine derartige Religiosität beschreibt Sorush als eine Art „Volkfrömmigkeit“, die auch von den Geistlichen unterstützt und vertreten wird. Das minimalistische Verständnis von Religion, für das Sorush offenkundig plädiert, räume der Religion zwar eine beschränkte Rolle im menschlichen Leben ein, überfordere sie jedoch nicht mit Fragen, die nicht in ihre Zuständigkeit fielen. Vgl. Sorush, ÝAbdolkarim (1999a): Bast-e tajrobe-ye nabavi. Teheran, S. 83-112. 107 Schmitt, Carl (1934): Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre der Souveränität. München, S. 49. 108 Sorush (2003b): S. 92.

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liche Handlungen bräuchten keine religiösen und Gott-bezogenen Motive, sondern sie würden durch die eigene Vernunft gesteuert. Auch für die wissenschaftlich-philosophischen Fragen brauche der Mensch keinen Gott mehr; sie würden kraft eigener Vernunft zu beantworten versucht.109 Genau vor einer solch ausufernden Säkularisierung will Sorush aber warnen, denn Säkularismus in diesem Sinne sei nicht gegen die Religion, sondern schlimmer noch, er verdränge und ersetze die Religion.110 Sorush hält für islamische Gesellschaften und darunter für Iran weitgehend den „demokratisch-religiösen Staat“ (hokumat-e demokrÁtik-e dini) für das geeignete politische Konzept. Denn in einer mehrheitlich religiösen Gesellschaft (sprich: Iran), so Sorushs Argumentation, kann die demokratisch gewählte Regierung, die nach der Definition von der Mehrheit gewählt wird, nur religiös (sprich: muslimisch) geprägt sein.111 Demokratie in einem religiösen Staat könne an folgenden Punkten gemessen werden: 1. dem Grad des Anteils der „kollektiven Vernunft“ (Ýaql-e jamÝi) und 2. dem Grad der Wertschätzung, die man den Menschenrechten entgegenbringt.112 So sei ein demokratischer Staat derjenige, in dem die „kollektive Vernunft“ als Entscheidungsinstanz angesehen werde. Ein nur religiös geführter Staat hingegen gebe diese Aufgabe in die Hand der Religion, obwohl man wisse, dass man es niemals mit Religion an sich, sondern nur mit einer Lesart von Religion zu tun habe. Daher plädiert Sorush selbst für einen demokratisch-religiösen Staat, dem sowohl die Religion als auch die demokratischen Spielregeln wichtig sind. Für die Religiosität der Regierungen sei es nötig, dass man die Religion als Wegweiserin und Schiedsrichterin bei Streitfragen anerkenne; und für die Demokratie sei es notwendig, dass man Religion zeitgemäß und in Übereinstimmung mit den Geboten der kollektiven Vernunft verstehe.113 Trotz der Berücksichtigung von Demokratie in Sorushs Konzept bleibt dennoch die Frage, was passiert, wenn die Gesellschaftsmehrheit sich trotz ihrer religiösen Prägung für eine nicht-religiöse Regierung entscheiden würde, oder wenn die Gesellschaftsmehrheit eine ideologische und damit

109 Ebd.: S. 70, 80-92. 110 Ebd.: S. 92. 111 Vgl. Sorush (1994c): S. 279. 112 Ebd.: S. 280. 113 Ebd.: S. 280f.

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eine, wie er selbst schreibt, diktatorische Regierung befürworten würde. Auf Basis dieser Wahrscheinlichkeiten halten es andere religiöse DenkerInnen wie Shabestari für nicht zielführend, „demokratisch“ durch das Attribut „religiös“ einzuschränken. Nach Shabestari ist es das eigentliche Ziel der Religion, Freiheit und Gerechtigkeit zu manifestieren. Religion biete kein bestimmtes Modell der Regierungsform. Jede Regierungsform, die mehr Freiheit und Gerechtigkeit gewährleiste, werde von der Religion unterstützt. In der heutigen Zeit sei die Demokratie das einzige Regierungssystem, welches Freiheit und Gerechtigkeit garantiere. Gläubige hätten keine Sonderrechte; sie könnten nur auf demokratischem Wege versuchen, an die politische Macht zu gelangen und sie zu erhalten.114 Shabestaris Ansicht nach können Gläubige, auch wenn sie in einer demokratischen Wahl siegen, nicht unter Verweis auf ihre Mehrheit die Scharia-Bestimmungen durchführen. Man könne nicht, so seine Argumentation, unter Hinweis auf die Mehrheitsentscheidung einige offensichtlich diskriminierende und mit den Menschenrechten nicht vereinbare Scharia-Vorgaben umsetzen. Dass aufgrund der Scharia-konformen Mehrheitsentscheidung Männer den Frauen gegenüber bevorzugt seien, oder religiöse/ethnische Zugehörigkeit für den gesellschaftlichen und politischen Status eine Rolle spielten, sei vielmehr faschistisch und habe mit Demokratie wenig zu tun. Shabestari geht noch einen Schritt weiter und stellt fest, dass die Abstimmung der Mehrheit allein nicht zur Demokratie führe; es müssten vor allem Freiheit und Gleichberechtigung, d.h. grundlegende Menschenrechte, in der Gesellschaft gewährleistet sein.115 Shabestari will nicht leugnen, dass es demokratische Muslime und Musliminnen oder eine demokratische Lesart des Islam gibt; er bekräftigt jedoch, dass es keine besondere Form der Demokratie namens „religiöse Demokratie“ oder „demokratisch-religiöse Staatsform“ geben könne.116 Auch Sorush fällt es offensichtlich schwer, den Platz der Religion in der politischen Sphäre explizit zu bestimmen. Im Großen und Ganzen ist er bemüht, eine Form des modernen Staats zu denken, der Religiösität in ihrem offenen und undogmatisierten Sinne zum Teil politischen Denkens erklärt; Religion soll Sorush zufolgenicht ausgeschlossen, aber der Miss-

114 Vgl. Shabestari (2004): S. 150. 115 Vgl. ebd.: S. 179. 116 Vgl. ebd.: S. 180.

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brauch religiösen Denkens als Herrschaftsform disqualifiziert werden. Des Weiteren sieht er im Säkularismus einen Weg, eine auf „Rationalität“ aufgebaute demokratisch-religiöse Staatsform zu erreichen. Generell räumt er ein, dass das moderne Leben auch im Bereich des Politischen „entzaubert“ (rÁz-zodÁyi) wurde. Dabei unterscheidet Sorush zwischen drei Aspekten der Politik: der „Planung“ (barnÁmeh-rizi), der „Leitung“ (modireyyat) und der „Legitimation“ (mashruÝeyyat). Weder beim Planen noch beim Leiten räumt er der Religion eine entscheidende Rolle ein: Planung sei die Aufgabe der Wissenschaft und nicht die der Religion oder der „Jurisprudenz“ (fiqh). Leitung könne weder religiös noch areligiös sein; Leitung könne nur von Fachkenntnis und Vernunft zehren. Bei der Frage der Legitimation eines politischen Systems sieht er zwar die Möglichkeit, diese religiös zu beantworten, interpretiert das Religiöse aber dahingehend, dass die Menschen kraft ihrer eigenen Vernunft politische Maßnahmen ergreifen, und dass dieses Verfahren im Einklang mit der Religion stehe.117 Insofern kann man zusammenfassend zu Sorushs politischer Theorie feststellen, dass seine Argumentationen auf dem Verständnis eines „minimalistischen“ Säkularismus fußen, welcher auf die spezifische Situation in Iran anwendbar scheint und den schiitisch-islamischen Wertvorstellungen Rechnung tragen soll.

Von religiösem Pluralismus zur „Erschaffenheit des Koran“ Dass der absolute Wahrheitsanspruch der Religionen mit einem Ausschlussmechanismus einhergeht, der zu unzähligen ökonomischen, politischen und militärischen Konflikten in der Geschichte und in der Gegenwart geführt hat, wird inzwischen auch von vielen kritischen Theologen wie Hans Küng diskutiert. Wie dieser Ausschlussmechanismus funktioniert, schildert Küng in einem kurzen Abschnitt pointiert: „Wenn Gott selbst mit uns ist, mit unserer Religion, Konfession, Nation, unserer Partei, dann ist gegenüber der Gegen-Partei, die dann ja logischerweise des Teufels

117 Vgl. Sorush (1999a): „RÁz va rÁz-zodÁyi“. In: Ders. Bast-e tajrobe-ye nabavi. Teheran, S. 321-374, hier S. 359ff.

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sein muß, alles erlaubt. Dann darf sogar im Namen Gottes hemmungslos verletzt, verbrannt, zerstört und gemordet werden.“118

Auch Sorush ist die religiöse Pluralität ein wichtiges Anliegen. Wie Küng geht Sorush in seiner Argumentation für den religiösen Pluralismus von historischen und gesellschaftlichen Erfahrungen bzw. Erkenntnissen aus und konstatiert, dass Menschen gewöhnlich an eine Religion nicht aufgrund wissenschaftlicher Untersuchung glaubten. Die meisten seien in eine religiöse Tradition hineingeboren worden. Auf der anderen Seite glaube „jede religiöse“ Person, dass ihre Überzeugung/ihr Gott die Menschen zum richtigen Weg führe. Nun stelle sich die Frage, wie eine Gesellschaft funktionieren könne, wenn es einerseits unterschiedliche Glaubensüberzeugungen gebe und andererseits theologisch von einem einzigen richtigen Glauben ausgegangen werde.119 Was Sorush hierfür vorschlägt, ist eine alte moÝtazelitische und in Theologie und Rechtswissenschaft eingehend diskutierte, aber bislang nur von einer Minderheit vertretene These: Man müsse davon ausgehen, dass „jeder Sachkundige Recht habe“ (koll-o mojtahed mosib), und dass, übertragen auf die religiösen Unterschiede, jede/r Gläubige im Recht sei. 120 Sorush sieht in der Anerkennung unterschiedlicher religiöser Überzeugungen und der religiösen Pluralität den Königsweg, um aus dem Dilemma der religiösen Konflikte herauszukommen. Der religiöse Pluralismus sei eine epistemologische und religionswissenschaftliche Theorie und bekräftige, dass verschiedene Religionen existieren dürften, und dass alle Gläubigen auf ihre Art und Weise Recht hätten. Der religiöse Pluralismus zeige auf, dass die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen offensichtlich nicht miteinander zu vereinbaren seien; das zeige aber auch, dass diese Pluralität ein natürliches Ereignis sei. Damit habe jeder Gläubige das Recht, seine Religion zu praktizieren, und sei in seinem Glauben „im Recht“ (moheqq).121 Sorush sieht den Pluralismus als Ergebnis der „Unreinheiten“ (nÁkhÁlesi) an, welche unweigerlich die Religion begleiten:

118 Küng, Hans & Kuschel, Karl-Josef (Hrsg.) (1993): Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus Weltreligionen. Hamburg, S. 23. 119 Vgl. Sorush, ÝAbdolkarim (1999b): SerÁthÁ-ye mostaqim. Teheran, S. alefff. 120 Zu einer ausführlichen Darstellung der These vgl. Poya (2003): S. 123-144. 121 Vgl. Sorush (1999b): S. alef-be.

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„Pluralität und Vielfalt sind natürlich, menschlich, von dieser Welt und unausweichlich [...] die Welt ist eine Welt der Unreinheiten [...] Der Grund für die Unreinheit [der Religionen] liegt auch darin, dass sie menschlich geworden sind.“122

Diese Unreinheiten dürfe man nicht ausschließlich mit den anderen Religionen verbinden und nur sie als „gefälscht“ (tahrifi) ansehen. Die Unreinheiten hingen nicht mit der Frage zusammen, ob Religionen und Konfessionen richtig sind oder nicht; sie seien vielmehr ein Resultat der Tatsache, dass die Religion auch ein historisches Phänomen darstelle.123 Damit stellt Sorush noch eine islamisch-schiitische Überzeugung in Frage. Traditionell gehen die Gelehrten davon aus, dass der Koran als der einzige heilige Text authentisch ist und die Texte der Bibel und Thora durch menschliche Eingriffe verfälscht wurden. Sorush schließt sich offensichtlich den Forschungen zur Koranfälschung124 an und ist der Meinung, dass auch der Koran nicht unbedingt authentisch ist. Allein die Tatsache, dass einige schiitische Gelehrte wie Kolaini in seinem Hadithwerk Usul al-kÁfi von der „Fälschung“ (tahrif) des Korans ausgingen, und Änderungen oder Weglassungen im Text bestätigten, zeige uns, wie groß die menschlichen Eingriffe in die religiöse Sphäre seien, und dass es kein Widerspruch sei, religiös und islamisch zu leben, trotz eines nicht authentischen Korans.125 Das alles solle aber nicht bedeuten, so Sorush weiter, dass jemand von seinem eigenen Glauben ablassen müsse. Es bedeute vielmehr, dass man das Wesen der Religion nicht auf einige wenige begrenzte Lehren einschränken und ausschließlich sich selbst als Erlöser/in betrachten dürfe.126 Sorush bekräftigt, dass die Pluralität an Deutungen religiöser Texte darauf hinweise, dass es keine offizielle Auslegung der Religion gebe, und dass ergo niemand sich zur Autorität bei der Interpretation von religiösen Texten erklären könne.127 Gleichzeitig räumt er ein, dass der religiöse Pluralismus keine „apriorische Erkenntnis“ (Ýelm-e bezzÁt/qazÁvat-e daraje avval)

122 Ebd.: S. 37. 123 Ebd. 124 Zum Thema Koranfälschung vgl. Brunner, Rainer: Die Schia und die Koranfälschung, Würzburg 2001. 125 Sorush (1999b): S. 39. 126 Ebd.: S. 35. 127 Ebd.: S. 6.

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sei, zu der die Religion oder der Islam auffordern würde. Er sei vielmehr eine „aposteriorische Erkenntnis“ (Ýelm-e belÝaraz/qazÁvat-e daraje dovvom), zu der man nach historischen Erfahrungen gelange. Es sei unbestritten, dass jeder Prophet zu seiner eigenen Religion auffordere und kein Pluralist sei. Indem er aber eine neue Religion gründe, verstärke er den religiösen Pluralismus.128 Sorush könnte allerdings vorgehalten werden, einem Wahrheitsrelativismus bzw. Glaubensrelativismus das Wort zu reden, und damit die Richtigkeit des eigenen schiitischen Glaubens in Frage zu stellen. Wenn man zur Anerkennung aller Religionen und Konfessionen auffordert und jede/n in ihrer/seiner Art der Glaubensvorstellung und -praxis im Recht sieht, wie Sorush es tut, stellt sich, konsequent weiter gedacht, die Frage, warum die Schia die richtige religiöse Überzeugung darstellen sollte. Sorush bekräftigt demgegenüber, dass er nicht sagen wolle, dass die Schia nicht im „Recht“ (haqq) sei, sondern dass sie „unrein“ (nÁ-khÁles) sei.129 Seit Sorush ins Exil gegangen ist, bringt er seine Kritiken an den traditionellen Vorstellungen vom Islam unverhohlener zum Ausdruck. Im Oktober 2007 führte Sorush ein Gespräch mit der holländischen Zeitschrift ZemZem, die sich mit muslimischen Fragen beschäftigt. Das Gespräch wurde von Michel Hoebink, Mitarbeiter des Radio Netherlands Worldwide geführt. Geprägt von der moÝtazelitischen rationalistischen Haltung, dass der Koran ein „erschaffenes Buch“ ist, und als Fortsetzung seiner Ausführungen in dem Werk Bast-e tajrobe-ye nabavi („Erweiterung prophetischer Erfahrung“) stellt Sorush in dem Gespräch die These auf, dass der Koran das „Produkt prophetischer Ratio“ sei. Das Interview löste eine Welle von sachlichen bis emotionalen Reaktionen aus. Viele Großayatollahs äußerten sich zu dieser These. Einige unter ihnen bezichtigten Sorush gar der Apostasie. Auch viele seiner MitdenkerInnen und MitstreiterInnen empörten sich über diese Äußerungen.130 Sorushs Aussagen sind jedoch im Grunde die Konsequenz seiner intellektuellen und gesellschaftspolitischen Haltung bis dahin.

128 Ebd.: S. 140-141. 129 Ebd.: S. 60. 130 Einige wichtige Stellungnahmen zu dieser These sind auf der Homepage Sorushs zusammengestellt.

Vgl.

http://www.drsoroush.com/Persian/On_DrSoroush/P-

CMO-Vahy%20va%20Quran.html (01.03.2014).

Sorush: Der religiöse Intellektuelle | 167

Schon bei der Antwort auf die Eingangsfrage der Zeitschrift, wie in der heutigen „entzauberten Welt“ ein Phänomen wie die Offenbarung zu verstehen ist, stellt Sorush eine traditionelle Vorstellung über den Koran in Frage und konstatiert – sich wohl der ganzen theologischen Diskussionen über die Unterscheidung zwischen „Offenbarung“ (vahy) und „Eingebung“ (elhÁm) bewusst –, dass vahy nichts anders als elhÁm darstelle, eine Erfahrung, die DichterInnen und MystikerInnen machten, wobei die tradierten Propheten dies auf einer höheren Ebene erfahren haben. In der heutigen Zeit könnten wir das vahy besser verstehen, wenn wir es mit Dichtung verglichen. Dichtung sei ein Erkenntnismittel und funktioniere anders als Philosophie und Wissenschaft. Um den Vergleich zwischen vahy und Dichtung zu untermauern, stellt Sorush weiter fest, dass ein/e Poet/in so handle, als ob er/sie von einer äußeren Quelle inspiriert werde. Damit sei Dichtung wie vahy eine Gabe, die neue Dimensionen und die Möglichkeit eröffne, die Welt auf eine andere Art und Weise zu beschreiben.131 Im zweiten Schritt bricht Sorush mit einer weiteren traditionellen Annahme, nämlich mit der Vorstellung, dass der Prophet beim Entstehen des Korans lediglich eine Vermittlerrolle hatte. Traditionell geht man davon aus, dass der Prophet über den Erzengel Gabriel die göttliche Botschaft, den Koran, empfangen und weiter an die Menschen gebracht hatte. Dementgegen stellt Sorush fest, dass der Prophet bei der Entstehung des Korans eine zentrale Rolle spielte. Einerseits habe sich der Prophet wie ein Dichter von einer äußeren Kraft beherrscht gefühlt. Auf der anderen Seite sei er dabei schöpferisch tätig gewesen. Sorush versucht damit nicht die metaphysische Seite des Korans in Frage zu stellen, er will nur den „menschlichen“ Aspekt der religiösen Schrift hervorheben. Indem der Prophet eine ungewöhnliche spirituelle Ebene erreicht habe, habe er das göttliche Wort erhalten. Indem er das Wort Gottes vermittelt habe, habe er den Text, den Koran, kreiert und sei mit seinem ganzen Wesen dabei präsent gewesen. Konkret heißt das, dass der Prophet mit seiner ganzen Geschichte, seinen wechselnden Stimmungen und psychischen Zuständen den Text des Korans geprägt habe:

131 http://www.rnw.nl/arabic/article/265034 (01.03.2014).

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„Wenn man den Koran liest, merkt man, dass er manchmal fröhlich und redegewandt ist und manchmal betrübt und in seiner Sprache gewöhnlich. Das Ganze hat den Text des Korans geprägt.“132

Da Sorush den Text des Korans als Produkt des menschlichen Propheten ansieht, muss er konsequenterweise die Existenz eventueller „Fehler“ im Koran einräumen. Er versucht nicht, einige aus heutiger Sich historisch oder naturwissenschaftlich unzulängliche Angaben im Koran zu rechtfertigen, und, wie einige traditionelle Koranexegeten, zu behaupten, dass diese deshalb entstanden seien, weil der Prophet auf der Ebene seiner Zeit gesprochen hätte. Für Sorush war der Prophet sozusagen das Kind seiner Zeit und hatte dasselbe Wissensniveau wie seine Zeitgenossen und konnte daher nicht wissen, was man heutzutage weiß.133 Sorush warnt am Ende des Gesprächs davor, zu glauben, dass der Koran ein nicht erschaffenes, ewiges und unveränderbares134 Wort Gottes sei, welches wortwörtlich praktiziert werden müsse. Eine solche Überzeugung würde in der heutigen Zeit Menschen „in eine schwierige Lage“ bringen.135 Meines Erachtens will Sorush mit der Formulierung „schwierige Lage“ auf die intolerante, fanatische und fundamentalistische Haltung einiger Muslime und Musliminnen anspielen, welche religiöse Texte „literalistisch“ deuten, alle in ihnen angeblich enthaltenen Vorgaben wie die hodud-Strafmaßnahmen konsequent umsetzen wollen und auf diese Weise ein bestimmtes Islamverständnis als maßgebend betrachten.

Fazit Adressiert an das iranische Regime betitelt Sorush einen seiner zuletzt veröffentlichten Briefe (Februar 2011) mit dem Satz: „Es gibt keinen Gott, bei

132 http://www.drsoroush.com/Persian/Interviews/P-CMO-KalameMohammad.html (01.03.2014). 133 Ebd. 134 In der arabischen Version des Gesprächs heißt die Formulierung „ein ewiges und unveränderbares Wort Gottes“; in der persischen Version steht: „ein nicht geschaffenes und ewiges Wort Gottes“. Hier habe ich beide Versionen kombiniert. 135 http://www.rnw.nl/arabic/article/265034 (01.03.2014).

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Gott, es gibt keinen Gott, keinen …“136 Das ist nicht Sorushs eigene Formulierung, sondern die seines Schwiegersohns, der nach einem qualvollen Gefängnisaufenthalt das Land verließ und in einem Telefongespräch Sorush schilderte, was ihm im Gefängnis widerfahren ist. Nach den Beschreibungen Sorushs hatten die Gefängnisqualen den politisch Unbeteiligten und Unschuldigen körperlich und psychisch demoliert. Am Telefon versucht Sorush ihm Trost zu spenden und spricht in gewohntem Ton davon, dass „Gott ihnen nicht verzeihen wird“. Daraufhin unterbricht der Schwiegersohn ihn und bringt seine ganze Verzweiflung und Wut mit dem zitierten Ausruf zum Ausdruck. Dass der junge, unschuldig gefolterte Hamid (so heißt der Schwiegersohn) den blasphemischen Satz ausspricht, ist für Sorush nachvollziehbar. Dass Sorush ihn zum Titel seines öffentlichen Briefs macht, liegt zum einen sicher darin begründet, dass er damit seine eigene Wut provokativ zum Ausdruck bringen und ergo seinem Schreiben mehr Aufmerksamkeit verleihen will. Sorush will meines Erachtens damit aber vor allem darauf verweisen, wie kontraproduktiv und folgenschwer das herrschende islamische System für den Glauben der Menschen in Iran ist. Und so beschreibt er am Ende des Briefes die Islamische Republik als „Nährboden der Ungläubigen“ (kÁferparvar), der zu verdammen sei.137 Sorushs Denkansätze eröffnen de/konstruierende Diskurse, in denen er einerseits gegen jegliches ideologisches, einfältiges und instrumentelles Verständnis der Religion/des Islam opponiert und andererseits für einen religiösen Intellektualismus eintritt, welcher das „vermischte“ Produkt einer Übergangszeit von der Tradition zur Moderne darstellt. Er bezeichnet auf der einen Seite die islamische Lesart der Mainstream-Gelehrten als faschistisch und entwirft auf der anderen Seite ein hybrides politisches Konzept, den demokratisch-religiösen Staat, welches der Religiosität der Gesellschaftsmehrheit Rechnung tragen soll und zugleich minimalen Anforderungen eines säkularisierten Regierungssystems gerecht werden kann. Dies ist auch der Grund, warum Sorush mit seinen enthierarchisierenden Theorien innerhalb der iranischen Intelligenzija weder von denjenigen akzeptiert wird, die für eine Übernahme „moderner“/„europäischer“ gesell-

136 http://www.drsoroush.com/Persian/By_DrSoroush/P-NWS-13891200-KhodaNist. html (01.03.2014). 137 http://www.drsoroush.com/Persian/By_DrSoroush/P-NWS-13891200-KhodaNist. html (01.03.2014).

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schaftspolitischer Konzepte stehen, den „Modernisten“ (tajaddodgarÁhÁ), ganz gleich ob sie linksmarxistisch oder westlich-liberal sind, noch von denjenigen, die für eine Islamisierung aller Lebensbereiche argumentieren, den „Islamisten“ (islÁmgarÁhÁ).138

138 Vgl. Cooper, John (1998): „The Limits of the Sacred. The Epistemology of ÝAbd al-Karim Soroush“. In: Cooper, John [u.a.] (Ed.): Islam and Modernity. Muslim Intellectuals Respond. London & New York, S. 39.

MostafÁ MalekyÁn: Die Affinität zwischen Rationalität und Spiritualität1 „Mich kümmern weder Kulturen, noch Zivilisationen, noch Religionen, noch Konfessionen, noch Ideologien […], weder ein bestimmter Ismus noch ein bestimmtes Denksystem. Mich interessieren die Menschen mit Fleisch und Knochen und Blut – Menschen, die kommen, leiden und gehen.“2

MostafÁ MalekyÁn3 ist ein in der westlichen Forschung relativ unbekannter iranischer Intellektueller. Er wurde 1956 in der Nähe von Isfahan geboren und stammt aus einem religiösen Elternhaus. Auch wenn MalekyÁn offiziell nie als ruhÁni („Geistlicher“) bezeichnet wird, hatte er jahrelang in der houze („traditioneller Lehrstätte“) studiert. Nachdem er sein Studium der Mechanik abgebrochen hatte, begann er an der Universität Teheran Philosophie zu

1

Das vorliegende Kapitel ist die aktualisierte, inhaltlich überarbeitete und methodisch gänzlich modifizierte Version meines folgenden Artikels: „Religiös und modern. Die Frage der Kompatibilität von Religion und Moderne in den Schriften von MuÒÔafÁ MalikyÁn“. In: Die Welt des Islams 1/2008, S. 1-22.

2

MalekyÁn, MostafÁ (2011): Interview: http://www.rahesabz.net/story/16387

3

Zu biographischen Angaben siehe u.a. MalekyÁn, MostafÁ (2003a): S. 15; Bei-

(01.03.2014). lage Andisheh zu der Zeitung EÝtemÁd (16.11.1387 h), abrufbar unter: http:// www.etemaad.ir/Released/87-11-16/181.htm#133730 (01.03.2014); MalekyÁn, MostafÁ (2013): Interview mit der Zeitschrift Mehr nÁmeh 32/2013, S. 50-54.

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studieren. Enttäuscht auch vom Philosophiestudium ging MalekyÁn zur houze von Qom, um dort die traditionellen Wissenschaften und insbesondere die islamische Philosophie zu studieren. Aufgrund seines Studiums an der Universität von Teheran und seiner Englischkenntnisse konnte er in der houze gleichzeitig als Lehrkraft arbeiten. Insgesamt blieb er achtzehn Jahre in Qom und machte sich als Dozent an verschiedenen Lehrzentren und als Herausgeber und Denker einen Namen. MalekyÁn arbeitete unter anderem einige Jahre im konservativ einzuschätzenden Institut Imam Khomeini, das unter der Leitung von Ayatollah MesbÁh Yazdi stand, der als ideologischer und geistiger Vater des vormaligen iranischen Staatspräsidenten AhmadinejÁd galt.4 MalekyÁns Haltung, theologische Themen kritisch und rational zu dis-

4

Mohammd Taqi MesbÁh Yazdi wurde 1934 in Yazd geboren; er begann 1952 mit dem Studium der islamischen Theologie in Qom und trat nach über 20 Jahren Ausbildung 1975 seine erste Stelle in der Bildungsabteilung des Instituts Dar RÁh-e Haqq an. Das Institut wurde 1964 von einigen Gelehrten gegründet, um den Islam gegen andere religiöse und ideologische Strömungen insbesondere des Christentums und des Marxismus zu verteidigen. Hierzu siehe die Homepage des Zentrums http://www.darrahehaq.com/ (01.03.2014). Mittlerweile ist MesbÁh Yazdi Leiter des ebenfalls in Qom befindlichen The Imam Khomeini Education & Research Institute. Dazu vgl. die Homepage des Instituts http:// www.qabas.org/ (01.03.2014). MesbÁh Yazdi ist gleichzeitig Mitglied des „Expertenrats“ (majles-e khobragÁn) und inzwischen auch öffentlich eine wichtige Instanz konservativer Kräfte innerhalb des Rats. Der Expertenrat, der alle acht Jahre gewählt wird, hat die Aufgabe, den geistigen Führer Irans, den Revolutionsführer, einzusetzen und verfügt zumindest über die theoretische Möglichkeit diesen auch wieder abzusetzen. Zum Expertenrat und seiner Struktur siehe seine Homepage http://www.majlesekhobregan.ir (01.03.2014). MesbÁh Yazdi ist bekannt für seine fundamentalistischen Ansichten und gilt als Ideologe der ehemaligen iranischen Regierung unter AhmadinejÁd. Vgl. Gerha, Birgit (2006): Präsident bläst zum Kulturkrieg. Bericht im Kölner Stadtanzeiger (31.01.2006); Amirpur, Katajun (2006): „Der Unfehlbare“. In: Die Zeit (14.12.2006). MesbÁh Yazdi hat zahlreiche Veröffentlichungen. Während er in seinen früheren Werken fast ausschließlich theologische und philosophische Themen diskutiert, setzt er sich in den letzteren hauptsächlich mit politischen Themen auseinander. Er warnt insbesondere davor, die „westliche Bedrohung“ nicht außer Acht zu lassen. Vgl. hierzu MesbÁh, Yazdi (1997b): TahÁjom-e farhangi. Qom. Mehr zu

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kutieren, vergrößerte die Kluft zwischen ihm und den traditionellen Gelehrten fortwährend. Bekannt wurde er zunächst durch seine Beiträge in der Zeitschrift naqd va nazar, eine für die herrschenden Verhältnisse in der houze progressiv-kritische Fachzeitschrift. Naqd va nazar erschien zum ersten Mal im Winter 1993/94 und wird nach wie vor publiziert. In der Zeitschrift diskutieren die zumeist in der houze ausgebildeten AutorInnen neue Ansätze für das Verständnis von Theologie, Recht und Politik im Islam. Nachdem allerdings kritische und innovative MitarbeiterInnen wie MalekyÁn nicht mehr mitwirken konnten, hat die Zeitschrift seit 2003/04 ein neues Herausgeberteam und verfolgt einen statischen Kurs. MalekyÁn kam später nach Teheran, um dort als Universitätsdozent an diversen Einrichtungen zu arbeiten und gleichzeitig in der in Teheran herausgegebenen kritischen Zeitschrift keyÁn mitzuwirken.5 Obwohl MalekyÁn nach eigenen Angaben selbst fundamentalistische und traditionalistische Phasen durchlebte, ist er nie mit Gewalt in Berührung gekommen. Er führt diesen „gewaltlosen Fundamentalismus“ auf seine grundsätzlich sentimentale Gemütslage zurück. Auch spricht er von seiner Skepsis gegenüber den klerikalen Lebensvorstellungen und -praktiken und dem traditionellen Religionsverständnis, die er während seines achtzehnjährigen Aufenthalts in Qom kennenlernte.6 Die sozialen Umstände in der Präsidentschaftszeit von Mahmud AhmadinejÁd (2005-2013), der eindeutig in der Gunst der Gelehrtenelite stand, und insbesondere die politischen Ereignisse in der Folge der Präsidentschaftswahl 2009 und das Vorgehen der fundamentalistisch und traditionalistisch eingestellten politischen Elite gegen die Massenproteste, die sich in der „Iranischen Grünen Bewegung“ (jonbesh-e sabz-e irÁn)7 ausdrückten, verstärkten MalekyÁns ablehnende Haltung gegenüber den konservativen Denkrichtungen. In diesen gesellschaftspolitisch bewegenden Momenten stellte sich MalekyÁn stets auf die Seite der Opposition. Dadurch verlor er 2009 alle seine universitären und außeruniversitären Ämter.8

ihm und seinen Werken vgl. seine Homepage: http://mesbahyazdi.org/english/ index.asp (01.03.2014). 5

MalekyÁn (2013): S. 50ff.

6

Ebd.

7

Zu der Grünen Bewegung in Iran vgl. Dabashi, Hamid (2010): Iran, the green movement and the USA: the fox and the paradox. London.

8

MalekyÁn (2013): S. 50ff.

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Insgesamt lässt sich bei MalekyÁn feststellen, dass er ein Theoretiker ist, der nicht durch Massenpublikationen, sondern durch eine präzise, fast minutiöse Ausdrucksweise hervorsticht. Das ist vermutlich auch einer der Gründe, warum er nicht so populär ist wie etwa Sorush, der sich über die Grenzen seines Landes hinaus als moderner islamischer Denker einen Namen gemacht hat. MalekyÁn wird allerdings auch gerade wegen seiner solide anmutenden und bescheidenen Sprache hoch geachtet. Gerade seine Sprache unterscheidet ihn von den anderen zeitgenössischen iranisch-muslimischen DenkerInnen. MalekyÁns Schreibstil wirkt zwar manchmal angesichts der unterschiedlichen Disziplinen, die er beherrscht, und die in seine Argumentation mit einfließen, prätentiös. Seine Ausführungen sind aber nicht wie bei vielen anderen, beispielsweise bei Sorush, gespickt mit unzähligen Koranpassagen, Hadith-Texten und Gedichtversen. Seine Texte zeichnen sich eben dadurch aus, dass er auf lange Abschweifungen und Exkurse verzichtet, die die eigentliche Aussage schwer nachvollziehbar machen. Er ist zwar ein Kenner von Koran und Hadith und außerdem bewandert in persischer Dichtung, bedient sich dieser aber kaum und nur dann, wenn sie tatsächlich Gegenstand seiner Ausführungen sind. Sein Bestreben sei es, so MalekyÁn selbst, nur im Rahmen der Vernunft zu argumentieren, und zwar nicht innerhalb des in der islamischen Tradition schon bekannten, eingeschränkten und Text-bezogenen Verständnisses von Vernunft, sondern bezogen auf eine moderne Auffassung des Vernunftbegriffes.9 Neben ÝAbdolkarim Sorush und Mojtahed Shabestari gehört MalekyÁn zu den Islam-revolutionären DenkerInnen, die insbesondere nach dem Tod von Ayatollah Khomeini den Versuch unternommen haben, „neue Versionen und Interpretationen des Islam“ öffentlich bekannt zu machen.10 Daher werden sie auch als Vordenker des Konzepts des religiösen Intellektualismus angesehen, wobei MalekyÁn, wie Shabestari, mit der Bezeichnung nicht einverstanden ist und sie gar als widersprüchlich kritisiert. Ein Konzept, das Religiosität im Namen führt, müsse der Religion auch in den politischen Entscheidungen Platz einräumen; und genau dies lehnt er ab. Die Haltung

9

Vgl. MalekyÁn, MostafÁ (2003a): „ChÁleshhÁ-ye din va modernism dar jahÁn-e eslÁm“. In: Khatt-e sevvom. Maschhad. 3&4/2003, S. 17.

10 Khosrokhavar, Farhad (2004): „Die Öffentlichkeit im Iran“. In: Göle, Nilüfer & Ammann, Ludwig (Hrsg.) (2004): Islam in Sicht. Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum. Bielefeld, S. 199.

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eines/einer religiösen Intellektuellen sei zwar im Vergleich zu den FundamentalistInnen oder TraditionalistInnen dem Säkularismus näher. Er selbst könne jedoch im strengen Sinne auch kein Säkularist sein. Nichtsdestotrotz stehe er für ein säkulares Programm, nämlich für die Zusammenführung von Spiritualität und Rationalität. Diesem Programm zufolge hätten die meisten gesellschaftspolitischen Entscheidungen keine religiöse Grundlage. Religion sei kein Gesetzesbuch, sondern lediglich ein „Rezept“ (noskheh).11 MalekyÁn stellt die iranischen Intellektuellen, ganz gleich ob sie als religiös oder als säkular bezeichnet werden, in die französische Tradition des Intellektualismus. In dieser Tradition sehe man die Hauptursache für soziale Probleme im herrschenden politischen System, daher seien auch ihre Adressaten immer die MachthaberInnen und die Regierenden. Er selbst sieht allerdings die Schwäche einer Gesellschaft – im Sinne von politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Problemen – in ihrer „Kultur“ begründet.12 Im Gegensatz zu den Botschaften anderer DenkerInnen ist der Adressat seines Projektes Spiritualität und Rationalität daher der/die Einzelne; er wolle damit weder die Gesellschaft als Ganzes noch einzig die Elite ansprechen.13 Die obigen Aussagen mögen den Eindruck erwecken, MalekyÁn sei kein politischer Denker. Seine Arbeiten enthalten jedoch klare politische Botschaften. Darüber hinaus zeigt sich MalekyÁn in den innenpolitischen Auseinandersetzungen Irans immer wieder als Gegner der fundamentalistischen Hardliner und setzt sich für die bürgerlichen Freiheiten ein. So unterschrieb er unter anderem gemeinsam mit über 380 iranischen Intellektuellen, AktivistInnen und SchriftstellerInnen einen Aufruf zur Freilassung des kritischen Journalisten Akbar Ganji. Letzterer saß sechs Jahre im Gefängnis, davon längere Zeit in Einzelhaft, nachdem er zusammen mit einigen anderen iranischen Gästen an einer von der Heinrich-Böll-Stiftung im April 2000 in Berlin veranstalteten Konferenz teilgenommen hatte.14 Auch bei den aktuellen politischen Auseinandersetzungen zwischen fundamentalistischen und reformistischen Kräften hat er immer für die ReformistInnen Position bezogen. Seine neuesten Beiträge erscheinen teilweise auf der

11 http://www.rahesabz.net/story/16513 (01.03.2014). 12 http://www.rahesabz.net/story/16513 (01.03.2014). 13 http://www.rahesabz.net/story/16513 (01.03.2014). 14 Vgl. Einleitung; http://www.bbc.co.uk./persian/iran/story/2005/07/050705_mjganji-letter.shtml (01.03.2014).

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Website Jaras, einer der Grünen Bewegung nahestehenden elektronischen Plattform.15 Wie bei allen anderen Akteuren, die hier behandelt werden, sticht auch bei MalekyÁn ein starkes Streben nach Transkulturalität ins Auge. Er bekennt sich zur Religiosität und sieht seine Aufgabe darin, ein modernes rational vertretbares Verständnis der Religion darzulegen. Gleichzeitig sieht er sich aber gezwungen, die traditionellen Lehrinhalte zu beherrschen. Denn der eigentliche Gegner sei seiner Meinung nach die traditionelle Geistlichkeit.16 Um sie zu entlarven und ihre Argumente zu entkräften, müsse man ihre Sprache, ihre Denkkonzepte und ihre Lehrinhalte beherrschen.17 Auf der anderen Seite verortet MalekyÁn seine Denkwelt maßgeblich in der analytischen Philosophie und im Existenzialismus. Er fordert mit Nachdruck dazu auf, dass man sich mehr mit den „westlichen Theologien“ auseinandersetzt, um hieraus Wissen für sich ableiten zu können.18 Das Vermischtsein und das Vermischen, das Unreine – und eben nicht Authentische, welches es nicht geben kann –, sind auch für die Denkansätze MalekyÁns charakteristisch und zeigen einmal mehr die Postkolonialität dieser modernen Diskurse in Iran auf. Insbesondere bei MalekyÁn wird deutlich, dass hegemoniale Strukturen zwar den Rahmen seines Denkens bilden, es ihm aber in erster Linie nicht um „den Westen“ oder das Phänomen gharbzadegi geht. MalekyÁn beschäftigt sich vielmehr aus dieser postkolonialen Situation heraus mit Denken, das über die bekannten und gesetzten philosophischen Grenzen hinaus auf etwas Neues verweist. Dies zeigt sich nicht nur implizit in der Wahl seiner Topoi. In manchen Textstellen wie im folgenden Textabschnitt macht er deutlich, dass dies eine Prämisse seiner Denkansätze ist: „Wir dürfen nicht darauf achten, woher eine Idee kommt, ob sie konstruiert ist oder nicht, ob sie aus dem Westen oder aus dem Orient stammt. In Bezug auf Gedanken müssen wir nur berücksichtigen, ob sie stimmen oder nicht. […] In der islamischen Philosophie wurde uns beigebracht, dass der Gedanke immateriell ist, d.h., dass er weder zeit- noch ortsgebunden ist. Wir nehmen diesen philosophisch-metaphysi-

15 http://www.rahesabz.net (01.03.2014). 16 MalekyÁn, MostafÁ (2009): Seh goftogu bÁ MalekyÁn. Din, maÝnaveyyat va roushanfekri-ye dini. Teheran, S. 103. 17 Ebd. 18 Vgl. MalekyÁn: Seh goftogu bÁ MalekyÁn, S. 91-92, 104.

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schen Satz ernst und halten den Gedanken für zeitlos und ortsunabhängig. Da wir den Gedanken für zeitlos halten, lieben wir keinen neuen Gedanken, bloß weil er neu ist, und keinen alten Gedanken, bloß weil er alt ist. Da wir andererseits den Gedanken für ortsunabhängig halten, achten wir dabei nicht auf das Attribut orientalisch oder westlich. Unsere Zuneigung für oder Abneigung gegen einen Gedanken rühren nicht von diesem Attribut her.“19

Sein zentrales Projekt befasst sich mit der „Rationalität und Spiritualität“ (ÝaqlÁniyyat wa maÝnawiyyat). Auch wenn er in seinen Äußerungen darauf beharrt, dass er nie in diesem Zusammenhang von einem „Projekt“ (projeh) gesprochen habe,20 schreibt er aber selbst im Vorwort des Buches RÁhi be rahÁyi21 („ein Weg zur Freiheit“), dass es sich bei dieser Aufsatzsammlung um Erläuterung „eines Projektes“ handle, dem er sich mit aller Kraft in den letzten acht Jahren gewidmet habe. Das Konzept, welches im Folgenden eingehend diskutiert wird, ist, wie er selbst ausführt, sowohl durch die Existenzphilosophie als auch durch die analytische Philosophie geprägt. Mit ihm werden unter Zuhilfenahme analytisch-philosophischer Ansätze die grundlegenden und im Existentialismus problematisierten Fragen wie Angst, Freiheit, Absurdität, Ekel, Sorge, Tod etc. erörtert.22

Rationalität und Spiritualität Für MalekyÁn stellt die Frage nach dem Zusammenhang von „Rationalität und Spiritualität“ (ÝaqlÁniyyat wa maÝnawiyyat) ein wichtiges Thema dar. Sein Anliegen dabei ist es zu zeigen, wie diese beiden scheinbar sich widersprechenden Kategorien miteinander zu vereinbaren sind. Denn, so MalekyÁn, der Mensch benötige sowohl das eine als auch das andere.23

19 MalekyÁn (2009): S. 92-93. 20 http://www.rahesabz.net/story/16318/ (01.03.2014). 21 MalekyÁn, MostafÁ (2002a): RÁhi be rahÁyi. JostÁrhÁyi dar ÝaqlÁniyyat va maÝnawiyyat. Teheran, S. 7. 22 Vgl. MalekyÁn (2009): S. 92-93. 23 MalekyÁn (2002a): S. 7; MalekyÁn, MostafÁ (2003b): „MaÝnaviyyat gouhar-e adyÁn I“. In: Sorush, ÝAbdolkarim [u.a.] (Hrsg.) (2003): Sonnat va sekulÁrism, S. 267-306, hier S. 267.

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Er stellt zunächst fest, dass, abgesehen von „einigen wenigen Ausnahmen“, die heutigen Menschen, gewollt oder ungewollt, mehr oder minder modern leben. Des Weiteren konstatiert MalekyÁn in Bezug auf „die Mehrheit der Menschen“, dass sie sich zur Religiosität bekennen würde. Dadurch jedoch, dass der moderne Mensch religiös lebt oder leben will, entstehe das Problem, dass ihn das traditionelle Verständnis von Religion nicht mehr zufrieden stelle.24 Der moderne Mensch wolle die Religion nicht aufgeben, weil er sein geistiges Gleichgewicht nicht verlieren möchte. Die traditionelle Religion antworte aber nicht auf alle seine Fragen, daher suche er nach einem neuzeitlichen Verständnis von Religion, und dies drücke sich in dem Begriff maÝnawiyyat („Spiritualität“) aus.25 Laut MalikyÁn ist „das traditionelle Verständnis“ von Religion für den heutigen Menschen weder aus einer realistischen noch aus einer pragmatischen Sicht vertretbar.26 Ein spiritueller Mensch, so MalekyÁn, geht a) ontologisch davon aus, dass das Universum nicht ausschließlich den physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzen untergeordnet ist, sondern mehr als das, was anhand dieser drei Wissenschaftsdisziplinen zu erfassen ist, bietet. Der spirituelle Mensch beobachte b) epistemologisch im Universum mehr als nur das, was durch Vernunft erfassbar ist. Für ihn stelle das Universum zwar kein „Rätsel“ (moÝammÁ) und keine „Frage“ (masÞala) dar. Das Universum sei für ihn vielmehr ein „Geheimnis“ (rÁz). Schließlich sei c) psychologisch der spirituelle Mensch mit seinem Istzustand nicht zufrieden und arbeite an seiner spirituellen und geistigen Entwicklung weiter.27 Alle religiösen Botschaften, so MalekyÁn, zielten im Kern auf die Spiritualität und damit auf diese drei Aspekte ab.28 MalekyÁn erklärt in einem Interview, warum er statt Religion den Begriff maÝnaveyyat benutzt und bekräftigt, dass maÝnaveyyat für ihn nichts anders ist als die „privatisierte Religion“ (din-e shakhsi shode), für die sich das Individuum kraft seines eigenen Denkvermögens und selbständig entscheidet. Der wichtigste Unterschied zwischen maÝnaveyyat und der historisch versteiften Religion sei, dass in der maÝnaveyyat die „Nachahmung“

24 MalekyÁn (2003b): S. 267-268. 25 Ebd.: S. 269. 26 Ebd. 27 http://www.rahesabz.net/story/16456 (01.03.2014). 28 http://www.rahesabz.net/story/16513 (01.03.2014).

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(taqlid) eine geringe Rolle spiele.29 Außerdem stellt MalekyÁn fest, dass in der maÝnaveyyat im Gegensatz zur Religion die Vernunft hoch geschätzt wird.30 Ohne Zweifel haben auch die politischen Erfahrungen, die MalekyÁn und seine Generation mit dem Islam/der Religion gemacht haben, einen wichtigen Teil dazu beigetragen, warum er statt von Religion nunmehr von Spiritualität spricht. Viele Menschen in Iran assoziieren mittlerweile mit den Begriffen Religion und Islam politische Gewalt und sind daher eher skeptisch, wenn diese als tonangebende Stichworte bei einer Diskussion erscheinen. Auch MalekyÁn bekräftigt stets, dass er mit der Verwendung des Begriffs Spiritualität die negativen Assoziationen, die mit dem Begriff Religion historisch wie aktuell in Verbindung gebracht werden, vermeiden wolle.31 Auf der anderen Seite will MalekyÁn mit Spiritualität ein überkonfessionelles Konzept entwickeln, das möglichst viele Menschen anspricht. Daher hebt er immer wieder hervor, dass er mit dem Begriff maÝnaveyyat versucht, religiöse Inhalte und Lehren zu rekonstruieren, jedoch nur diejenigen, die von allen Religionen vertreten werden und nicht einer besonderen Religion zuzuordnen sind.32 MalekyÁn versucht mit allen ihm vertrauten Wissenschaftsdisziplinen für Spiritualität statt Religion zu argumentierten. Nach seinem fast schon psychoanalytisch zu nennenden Ansatz ist das Ziel jedes Menschen in seinem Leben, „innere Zufriedenheit“ (rezÁyat-e bÁteni) zu finden. Diese innere Zufriedenheit sei erreicht, wenn man „Ruhe“ (ÁrÁmesh), „Freude“ (shÁdi) und „Hoffnung“ (omid) besitze; denn aus diesen drei Elementen bestehe das, was in der „experimentellen Psychologie“ (ravÁnshenÁsi-ye tajrobi) und in der „mystisch orientierten Psychologie“ (ravÁnshenÁsi-ye ÝerfÁni) als „innere Zufriedenheit“ bezeichnet werde.33 Auf der anderen Seite hänge die innere Zufriedenheit eines Menschen, historisch bzw. empirisch betrachtet, weder von einer bestimmten religiösen Überzeugung oder einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin noch von einer bestimmten Regie-

29 MalekyÁn (2009): S. 33-34. 30 Vgl. ebd.: S. 34. 31 MalekyÁn (2003c): „SekulÁrism va hokumat-e dini“. In: Sorush [u.a.] (Hrsg.) (2003): Sonnat va sekulÁrism. Teheran, S. 245-265, hier S. 263. 32 Vgl. ebd. 33 MalekyÁn (2003b): S. 307.

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rungsform ab. Glückselige Menschen fänden sich unter allen Regierungsformen, in allen Religionen und unabhängig von einem bestimmten Wissensgrad oder einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin. Das, was all diese Menschen verbinde, sei ihre Spiritualität.34 Der religiöse Mensch passe sich den modernen Anforderungen an, indem er in spirituellen Dimensionen denke und handle, und nicht in religiösen. Das entscheidende Merkmal der Moderne, so MalekyÁn, ist ihre Rationalität.35 Unter dem Begriff Ratio bzw. Vernunft versteht er nicht das in der islamischen bzw. schiitischen Denktradition bekannte und in verschiedenen Wissenschaften und insbesondere in der Rechtswissenschaft immer wieder angewandte Konzept von Vernunft.36 Er hält den überkommenen Begriff Ýaql, wie er in der islamischen Tradition angewandt wurde, zur Lösung der modernen Fragen für nicht tauglich. Auch in der „glorreichen Phase der islamischen Geschichte“, die bis ins 13. Jahrhundert andauerte, seien rationale Argumentationen zu beobachten; diese ließen sich jedoch mehr als „Text-bezogene Rationalität“ (ÝaqlÁneyyat-e matn mehvar) bezeichnen. Und eine Text-bezogene Rationalität mache aus der Vernunft ein Instrument zur Ermittlung und Verifizierung religiöser Lehren. Die Rationalität im modernen Sinne erkenne die Autorität des Textes nicht an. In der Moderne befasse sich die Vernunft mit dem „Text des Seins“ (matn-e hasti)37 und setze sich mit der „realen Welt“ (ÝÁlam-e vÁqeÝ) auseinander. Nach diesem Vernunftbegriff müsse sich die Religion richten, damit daraus Spiritualität entstehe. Seine rationale Haltung führt MalekyÁn im Bereich der Sittenlehre zum Pragmatismus. Die allererste Frage, welche sich einem spirituellen Menschen stelle, sei die folgende: „Was muss ich tun?“. Alle anderen Fragen, auch wenn es sich dabei um Fragen wie nach der Existenz Gottes oder einem Leben nach dem Tod handle, seien zweitrangig und würden erst dann berücksichtigt, wenn sie zur Lösung dieser Frage etwas beitragen könnten.38 Ein weiteres Merkmal eines spirituellen Menschen, so MalekyÁn

34 Ebd.: S. 308-310. 35 MalekyÁn (2003b): S. 273. 36 Zum Begriff der Vernunft im schiitischen Rechtsverständnis vgl. Poya (2003): S. 112-122. 37 Vgl. MalekyÁn (2003a): S. 17. 38 MalekyÁn (2009): S. 64.

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im Anschluss, sei die Fähigkeit, zwischen veränderbaren und unveränderbaren Dingen zu unterscheiden und sich ausschließlich mit ersteren zu befassen.39 Daher vertrete er auch in der Sittenlehre den Theologismus und nicht Deontologismus. Für ihn handelt der Mensch als Mensch nach seinen Vor- und Nachteilen.40 MalekyÁn fasst sein Projekt als eine Antwort auf die folgende Frage zusammen: „Wie sollen wir leben, damit wir selbst weniger leiden und den anderen weniger Leid zufügen“41. In einer kürzlich elektronisch erschienen Vortragsreihe konkretisiert MalekyÁn sein Projekt der Zusammenführung von Rationalität und Spiritualität und zeigt die Grenzen zwischen seinem Konzept und den Konzepten, die von den anderen religiösen Intellektuellen vertreten werden. Er beschreibt zunächst, was ein „ideales Leben“ (zendegi ÁrmÁni) ausmacht: Das Leben sei erst dann ideal, wenn man darin „Freude“ (khushi) und „Hilfsbereitschaft“ (khubi) empfinde und es für „sinnvoll“ (arzeshmand) halte. Während Freude ein Ausdruck von menschlichem Egoismus ist, bringe Hilfsbereitschaft einen anderen Aspekt menschlichen Lebens, den Altruismus, zum Vorschein. Der Mensch führe ein ideales Leben, indem er nicht nur sich, sondern auch den anderen Freude bereite. MalekyÁn stellt weiter fest: Trotz der empfundenen Freude und Hilfsbereitschaft könne der Mensch noch immer kein ideales Leben führen, es sei denn, er habe eine Antwort auf die Frage des Warum. Indem der Mensch weiß, warum er lebt, wird das Leben auch sinnvoll. Weist das Leben die drei oben erwähnten Merkmale auf, führt man, so MalekyÁn, ein ideales Leben.42 Gleichzeitig weist er darauf hin, dass nicht alle Voraussetzungen zur Führung eines idealen Lebens in der Hand des Menschen liegen. Es gebe Bedingungen, auf die dieser keinen Einfluss habe. Dazu gehören beispielsweise Schicksalsschläge. Es gebe außerdem Bedingungen, auf die der Mensch Einfluss habe, die jedoch nicht in der Hand des Einzelnen lägen, wie etwa vorgeformte Strukturen durch Institutionen wie Familie, Gesellschaft oder Politik. Es gebe allerdings Voraussetzungen, die der Mensch als ein Individuum selbst erfüllen könne und müsse, wenn er ein ideales Leben anstrebe. Hier setze sein Projekt an. Demnach ist MalekyÁns Antwort auf die Frage, wie

39 Ebd.: S. 65. 40 Ebd.: S. 41. 41 Vgl. ebd.: S. 94. 42 http://www.rahesabz.net/story/16318 (01.03.2014).

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sich ein ideales Leben gestalten lässt, das Konzept des vernünftigen und spirituellen Lebens.43 Dabei, so führt MalekyÁn weiter aus, ist es wichtig, darauf zu achten, dass weder Rationalität noch Spiritualität Lebensziele sind. Sie seien vielmehr nur Mittel im Dienste des Menschen und sollten Leid und Schmerz verringern. MalekyÁn bekräftigt damit abermals seine humanistische Einstellung, welche sich auch bei seinen politischen Äußerungen konsequent zeigt. Als die kulturhistorisch wertvollen Buddhastatuen in Afghanistan im März 2001 durch die Taliban zerstört wurden, war er der Ansicht, es sei im Vergleich zur Zerstörung der Buddhastatuen viel schlimmer, dass in Afghanistan Menschen umgebracht werden, weil das Leben eines Menschen im Mittelpunkt zu stehen habe. Er verurteile trotzdem die furchtbare Tat der Taliban, die Buddhastatuen zu zerstören, denn dadurch seien die Gefühle vieler Menschen verletzt worden.44 Auch das Rationale konkretisiert MalekyÁn, indem er es in drei Kategorien aufteilt: A) Die „spekulative Rationalität“ (ÝaqlÁneyyat-e nazari) gilt im Bereich des Theoretischen. Hierbei müsse der Mensch seine Überzeugungen durch Indizien, Beweise und Argumente bestätigen lassen. Jenen Überzeugungen, die wenig stichhaltig sind, sollte auch weniger Glauben geschenkt werden. B) Die „praktische Rationalität“ (ÝaqlÁneyyat-e Ýamali) meint, dass zwischen Mitteln und Zielen eine gewisse Verhältnismäßigkeit herrschen soll. Um bestimmte individuelle oder soziale Ziele zu erreichen, müsse darauf geachtet werden, ob die gewählten Mittel für die Ziele auch geeignet sind. C) Die „sprachliche Rationalität“ (ÝaqlÁneyyat-e goftÁri) bedeutet, dass die Sprache von „Unklarheiten“ (ebhÁm), „Zweideutigkeiten“ (ihÁm) und „Verwirrungen“ (ghomuz) befreit sein soll. Die Sprache solle dazu dienen, den Inhalt am deutlichsten zu vermitteln.45 Insgesamt zielt MalekyÁn mit seinem Projekt darauf ab, das Leben „fröhlicher“ und „schmerzfreier“ zu machen, indem er dafür plädiert, dass der Mensch in Bereichen des Denkens/Glaubens, des Handelns und des Ausdruckes rational verfährt. Gleichzeitig muss er ontologisch und epistemologisch wie auch psychologisch über die Grenzen des Materiellen hinausgehen und in sein Leben das Spirituelle einbinden.

43 http://www.rahesabz.net/story/16387 (01.03.2014). 44 Ebd. 45 http://www.rahesabz.net/story/16456 (01.03.2014).

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Liberalismus Ein Schwerpunkt in MalekyÁns Projekt ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Islam und Liberalismus. Auch bei diesem Thema ist er sichtlich darum bemüht, möglichst strukturiert auf die Fragestellung einzugehen und seine eigenen Lösungsvorschläge deutlich zu formulieren. Zunächst stellt MalekyÁn fest, dass eine liberale Haltung in drei Bereichen vorstellbar ist: in der „Sittenlehre“ (akhlÁq), in der „Politik“ (seyÁsat) und in der „Gotteslehre“ (elÁhiyyÁt).46 In ethischen Fragen liberal sein heiße, dass man sich keiner vorgegebenen Struktur im Bereich der Sittenlehre unterordne, sondern ganz im Gegenteil, Rigorosität in ethischen Einstellungen verneine. Extremismus führe nämlich zu „Scheinheiligkeit“ (khoshke moqaddasi) und diese sei abzulehnen.47 Ein liberaler Mensch würde auch Veränderungen in der Politik herbeiführen wollen, jedoch nicht abrupt oder revolutionär und mittels Gewalt. Der Liberalismus sei gegen Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund der „Rasse“, der Hautfarbe, des Geschlechts, der „ethnischen“ Zugehörigkeit oder der Nationalität und setze sich für die individuellen und gesellschaftlichen Freiheiten ein.48 Eine liberale Haltung in Bezug auf Religion lehne die Orthodoxie ab. Auch hier sei der Liberale gegen Rigorismus und Intoleranz, die aus einer Religion erwachsen könnten, wobei er den ursprünglichen spirituellen Gehalt der Religion bewahren wolle. MalekyÁn setzt hier zum einen voraus, dass der ursprüngliche Gehalt einer Religion unabhängig von den jeweiligen kulturellen Zeitepochen für jeden Menschen wertvoll und erstrebenswert ist, und zum anderen, dass die religiös geprägten Denkstrukturen der Vergangenheit für den heutigen Menschen weder nachvollziehbar noch akzeptabel sind, weshalb „der Liberale“ den ethischen Aspekt der Religion hervorhebe. Während die Orthodoxie viel Wert auf das Glaubensbekenntnis, den Kult und die Rituale lege, halte das liberale Verständnis das ethische Handeln für wichtiger.49

46 MalekyÁn, MostafÁ (2002b): „Sokhani dar chand va chun-e eslÁm va liberÁlism“. In: Ders. RÁhi be rahÁyi. Teheran, S. 93-106, hier S. 93; MalekyÁn spricht hier von „Metaphysik“ (elÁhiyyÁt); aus den späteren Ausführungen wird allerdings deutlich, dass er damit „Religion“ gemeint haben muss. 47 Ebd.: S. 93-95. 48 Ebd.: S. 95-96. 49 Ebd.: S. 96-97.

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Wie ist nun das Verhältnis zwischen Islam und einer liberalen Haltung zu verstehen? Für MalekyÁn gibt es nicht „den einen Islam“, sondern vielmehr verschiedene heterogene Lesarten. Die heutigen Islamauffassungen teilt er in drei große Kategorien ein: die „fundamentalistische“ (bonyÁdgarÁ), die „modernistische“ (tajaddodgarÁ) und die „traditionalistische“ (sonnatgarÁ). Der fundamentalistische Islam, zu dem er die Wahhabiyya und die Salafiyya zählt, sei strikt „Text-bezogen“ (nasgarÁ/naqlgarÁ). Sollte sich die fundamentalistische Auffassung überhaupt für die „argumentierende Vernunft“ (Ýaql-e estedlÁlgar) interessieren, dann nur als ein Instrument zur Verifizierung der Aussagen des Textes. Sie lehne den Pluralismus in jeder Hinsicht ab und trete für ein auf die Scharia gründendes politisches System ein. Darauf basiere auch ihre unnachgiebige Haltung gegenüber dem Westen und der westlichen Zivilisation.50 Der modernistische Islam, der gemäß MalekyÁn unter anderen von alAfghani und Abduh vertreten worden ist, räume der Vernunft eine über ihr traditionelles Verständnis hinausgehende Rolle ein. Für die ModernistInnen sei die Vernunft ein Instrument zur Herausarbeitung der Scharia-Bestimmungen und darüber hinaus eine (zusätzliche) Quelle neben dem Koran und dem Hadith. Im Streitfall zwischen der Textaussage und einer Vernunftentscheidung würden sie auf das Äußere des Textes zugunsten des Vernunftbeschlusses verzichten. Die ModernistInnen sähen die religiösen Bestimmungen nicht als unveränderbare Regeln an, sondern als zeit- und raumgebundene Entscheidungen. Dabei setzten sie Religion mit Sittenlehre gleich, und zwar mit einer „diesseitigen“ (injahÁni), „humanistischen“ (ensÁngarÁ) und „emotionalen“ (ehsÁsi) Sittenlehre. Ihr Ziel sei nicht die Errichtung eines auf der Scharia beruhenden Staats; sie seien vielmehr der Meinung, dass eine religiöse Gesellschaft auch in einem nicht religiösen Staat existieren könne. Auch träten die ModernistInnen sowohl für einen politischen wie auch für einen religiösen Pluralismus ein. Modernistische Muslime bejahten die westliche Zivilisation und Kultur in vielerlei Hinsicht und schätzten sie bei der Erfüllung der profanen und materiellen Bedürfnisse des Menschen als wichtig ein.51 Die TraditionalistInnen unter den Muslimen, zu denen MalekyÁn René Guénon bzw. ÝAbdolwahid YahyÁ (1887-1951), den zum Islam konvertier-

50 Ebd.: S. 99-100. 51 Ebd.: S. 100-102.

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ten französischen Philosophen, und Sayyed Hosain Nasr (geb. 1933) zählt, positioniert er zwischen FundamentalistInnen und ModernistInnen. Sie beschränkten wie die FundamentalistInnen die Rolle der „argumentierenden Vernunft“ (Ýaql-e estedlÁli) auf die Wahrheitsfindung im Text des Korans bzw. des Hadith und sähen sie im Gegenteil zu den ModernistInnen nicht als eine selbständige Quelle neben dem Text an. Sie räumten jedoch dem „intuitiven Intellekt“ (Ýaql-e shohudi) Platz ein, um mit ihm neben dem Text für die Religion argumentieren zu können. Für sie stelle allerdings nicht die Scharia das Ziel dar, sondern eine spirituelle, ethisch vertretbare Lebensführung, die auch in einem nicht religiösen Staat verwirklicht werden könne. Gleichzeitig bezeichneten die TraditionalistInnen die westliche Zivilisation und Kultur als Feind von Religiosität und Spiritualität. Während der fundamentalistische Islam den Liberalismus kategorisch ablehne und der modernistische Islam ihn in vielerlei Hinsicht unterstütze, könne der traditionalistische Islam ihn nur zum Teil billigen. Der/die Traditionalist/in akzeptiere den Liberalismus im Bereich der „Sittenlehre“ (akhlÁq), lehne ihn jedoch in der „Gotteslehre“ (elÁheyyÁt) ab und sei mit ihm im Bereich der Politik nur bedingt einverstanden.52

Toleranz Anhand des kontrovers und meist auch emotional diskutierten Themas „Toleranz“ (modÁra) soll nun im Folgenden gezeigt werden, wie MalekyÁn sein Projekt der Verknüpfung von Rationalität und Spiritualität konkret umsetzen will. Toleranz bedeutet für ihn Offenheit gegenüber Überzeugungen und Handlungen, die von den eigenen abweichen oder ihnen gar widersprechen.53 Er hält Toleranz für eine positive und erstrebenswerte Haltung, ganz gleich, ob sie für sich oder als Mittel zum Zweck betrachtet wird.54 Um seinen Standpunkt zu begründen, versucht MalekyÁn zunächst festzulegen, was Gegenstand der Toleranz ist und was daher toleriert werden muss. Glauben, Überzeugungen und alles, was im Bereich der inneren Haltung liegt, seien nicht Gegenstand der Toleranz, solange sie nicht in irgend-

52 Ebd.: S. 102-103. 53 Vgl. MalekyÁn (2002a): S. 113. 54 Vgl. ebd.: S. 113-114.

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einer Form geäußert werden. Denn es bestehe keine Möglichkeit, die innere Welt eines Menschen zu ergründen. Man könne erst dann von Toleranz sprechen, wenn diese sich auf Taten bzw. geäußerte Meinungen beziehe.55 Da, wo es sich nach MalekyÁns Ausführungen um Toleranz handelt, stellt sich die Frage, ob jede (geäußerte) Meinung bzw. Erkenntnis zu tolerieren sei. Zur Beantwortung dieser Frage begibt sich MalekyÁn in eine epistemologische Auseinandersetzung darüber, welche Arten von Meinungen es gibt. Grundsätzlich lassen sich MalekyÁn zufolge alle Meinungen in zwei Kategorien einteilen: „allgemeingültige“ (ÁfÁqi) und „persönliche“ (anfosi). Persönliche Meinungen seien, wenn überhaupt, nur individuell und nicht für jeden begründbar. Bei einer allgemeingültigen Meinung bestehe hingegen die Möglichkeit, sie für jeden zu begründen.56 Allgemeingültige Meinungen wiederum ließen sich in zwei Kategorien einteilen: allgemeingültige Meinungen bzw. Erkenntnisse, die schon als bewiesen gälten, und solche, die noch nicht begründet seien.57 MalekyÁn macht erst am Ende seiner Erörterungen deutlich, dass nur im Bereich der Mathematik, der Logik und einigen Bereichen der experimentellen Naturwissenschaften und Humanwissenschaften von allgemeingültigen Meinungen bzw. Erkenntnissen gesprochen werden könne.58 Alle anderen menschlichen Erkenntnisse und Meinungen – darunter die religiösen –

55 Vgl. ebd.: S. 115; auf das Gleiche läuft es hinaus, wenn Werner Becker versucht, zwischen „Duldung“ und „Anerkennung“ als zwei Erscheinungen der Toleranz zu unterscheiden. Es ist nach Becker unrealistisch, „von einem überzeugten Gläubigen einer der christlichen Konfessionen zu erwarten, er solle Mitglieder von Sekten als Gleichberechtigte im Anspruch auf die Religiosität anerkennen“. Und es sei ebenfalls unmöglich, von den Demokraten zu erwarten, Anhänger diktatorischer Überzeugungen als gleichwertige Opponenten anzuerkennen. Genauso sei es unmöglich, Gesellschaftsgruppen, die eine ablehnende Haltung gegenüber den Ausländern haben, zu ihrer Anerkennung zu bewegen. „Was realistischerweise jedoch von all diesen Menschen verlangt und erwartet werden kann, ist Tolerierung der Anderen im Sinne von Duldung“. Siehe hierzu: Becker, Werner (1996): Anerkennung und Toleranz. Über die politischen Tugenden der Demokratie. Erlangen, S. 8. 56 MalekyÁn (2002a): S. 116. 57 Ebd.: S. 117-118. 58 Ebd.: S. 126.

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seien entweder zwar universell, aber noch nicht erwiesen, oder zum großen Teil persönlich. Zum Bereich des Persönlichen gehörten alle „ontologischen“ (wojud shenÁkhti), „axiologischen“ (arzesh shenÁkhti) und der größte Teil der „deontologischen“ (wazifa shenÁkhti) Fragen, wie z.B. konkret die Frage nach der Existenz Gottes oder die Frage bezüglich des Lebens nach dem Tod.59 Im Bereich der persönlichen Meinungen geht MalekyÁn vom absoluten Pluralismus aus. In diesem Bereich habe jeder seine eigene persönliche Meinung, die nicht jeden überzeuge. Daher seien alle Meinungen zulässig. Im Bereich der allgemeingültigen Erkenntnisse spricht er vom Pluralismus auf der „Begründungsebene“ (maqÁm-e ethbÁt), aber nicht auf der „Ebene der Gewissheit“ (maqÁm-e thobut), denn man gehe in diesem Bereich von einer für alle begründbaren und damit konsensfähigen Meinung aus.60 Im Bereich der erwiesenen allgemeingültigen Meinungen stellt sich für ihn die Frage nach Meinungsverschiedenheit und damit nach Toleranz nicht, da hier die Möglichkeit zum Konsens bestehe.61 Anhand derselben Prämissen argumentiert MalekyÁn für die Demokra62 tie und in einer religiösen Gesellschaft für eine religiöse Demokratie, wobei er später von Säkularismus spricht. Da die religiösen Vorstellungen

59 Ebd.: S. 119-120, 126. 60 Es scheint, als ob MalekyÁn hier an die Theorie des kritischen Rationalismus von Popper anknüpft. Der kritische Rationalismus, auch Fallibilismus genannt, ist eine von Karl R. Popper und Hans Albert entwickelte Methode der Erkenntnisbegründung, die im Gegensatz zu positivistischen und relativistischen Ansätzen die Existenz eines wahren Glaubens oder einer Wahrheit nicht in Frage stellt (keine Wahrheitspluralität), jedoch die Möglichkeit einer definitiven und absoluten Wahrheitsbegründung ablehnt (Begründungspluralität). Nach der Methode des kritischen Rationalismus wird das menschliche Wissen als ständig verifizierbar betrachtet, mit lediglich provisorischem Charakter. Vgl. Sven Aurelius Meyer, Sichere Kenntnis von Recht und Tatsachen. Juristische Methode und Erkenntnistheorie, Zürich 1996, S. 70-76, 107. 61 Vgl. MalekyÁn (2002a): S. 118. 62 In seinem Text spricht MalekyÁn zunächst von „Säkularismus“ und nicht von „Demokratie“. Er muss jedoch – nach meinem Dafürhalten – Demokratie gemeint haben, denn er stellt in der Diskussion die „Entscheidung des Volkes“ (ÁrÁ-ye mardom) besonders heraus.

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zum größten Teil persönlich seien oder zumindest keine bewiesenen allgemeingültigen Meinungen darstellten, könnten sie nicht ohne Volksentscheidung zur Grundlage des politischen Systems erklärt werden, denn es gebe rational keinen Grund, eine persönliche oder nicht bewiesene allgemeingültige Vorstellung über eine andere zu stellen. Während man sich im Bereich der schon begründeten allgemeingültigen Meinungen, so MalekyÁn, nach den bewiesenen Ergebnissen zu richten habe und nicht nach der Mehrheitsmeinung, müsse man im Bereich der persönlichen Meinungen und der noch nicht bewiesenen allgemeingültigen Meinungen – vorausgesetzt, dass sie gesellschaftliche Konsequenzen haben – die Mehrheitsmeinung berücksichtigen. Wenn es sich dabei um eine mehrheitlich religiöse Gesellschaft handle und sie sich für eine religiöse Ordnung entscheide, so lebe man in einem demokratisch legitimierten politischen System.63

Feminismus und Patriarchat Auch am Thema Feminismus lassen sich die praktischen Folgen von MalekyÁns Projekt einer Verbindung von Rationalität und Spiritualität veranschaulichen. Im Gegensatz zu den anderen hier behandelten Autoren, Àl-e Ahmad, ShariÝati und Sorush, positioniert sich MalekyÁn positiv zu einer feministischen Haltung. Während Àl-e Ahmad und Sorush sich selten mit Feminismus als einer sozial-politischen und epistemischen Widerstandsbewegung beschäftigen, setzt sich ShariÝati im Rahmen einer islamischreligiösen Terminologie mit dem Thema „Frau“ (zan) auseinander und versucht seinen eigenen Idealtypus von Frau zu konstruieren, ohne dabei feministische Positionen explizit zu berücksichtigen.64 MalekyÁn beschäftigt sich dagegen mit dem Feminismus als einer politischen und geistigen Bewegung. Er ist mit den Schriften und Standpunkten einiger bekannter Feministinnen, wie Jane Flax, Sandra Harding, Nancy Hartsock, Hilary Rose und Dorothy Smith vertraut. Auffallend ist allerdings dabei, dass er sich nur wenig mit den neuen feministischen Ansätzen, etwa dem postkolonialen Standpunkt, befasst. Nichtsdestotrotz unterstreicht seine Haltung in dieser Frage einmal mehr seine besondere Denk- und Herangehensweise, auch

63 Vgl. MalekyÁn (2003c): S. 247-258. 64 Zu ShariÝatis Frauenbild vgl. ShariÝati (1994): Zan („Frau“). GW 21.

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wenn MalekyÁn von einem Zweigeschlechterbild ausgeht, ohne Genderdiskurse weiter zu berücksichtigen, und in seinen Erörterungen an einem essentialistischen Feminismus ansetzt. Seine Äußerungen wirken daher angepasst an seine eigenen Kategorisierungen, was der Komplexität von geschlechterkonstruierten Machtstrukturen nicht ganz gerecht wird. Ausgehend von den oben erwähnten Typologien, die MalekyÁn im heutigen Islam ausmacht, bekräftigt er in einem Interview, dass die FundamentalistInnen anstatt auf die „Essenz“ (ruh), auf das „Äußere“ (zÁher) der Religion Wert legen. Zum anderen pflegten sie eine stark „Scharia“/“Recht“ (feqh) orientierte Islamauffassung. Das führe zu einer patriarchalischen Islamauslegung. Die ModernistInnen dagegen achteten vielmehr auf die [essenzielle] Botschaft der Religion und hielten die Ethik und ethisches Handeln für maßgeblich. Daher stehe für sie, aber auch zum Teil für die Traditionalisten (sunnatgarÁyÁn), die den mystischen Aspekt im Islam besonders hervorheben, der Mensch im Fokus ihrer Weltanschauung und weniger die Unterscheidung zwischen Mann und Frau.65 MalekyÁn bestimmt die patriarchalische Sichtweise anhand von drei Merkmalen: sie halte die Frau a) für „minderwertiger“ (forumÁyetar) als den Mann, leite daraus b) rechtliche Vorteile für den Mann ab und erstelle gleichzeitig c) ausgehend vom Mann den Stammbaum der Familie.66 Dies lasse sich, so die Feststellung von MalekyÁn, am deutlichsten bei der fundamentalistischen Gesinnung beobachten. Der traditionalistische Islam sei aufgrund seiner humanistischen und moralistischen Prägung weniger patriarchalisch. Und im modernistischen Islam, welcher der Urteilskraft viel Platz einräume, aber auch die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung von 1948 formuliert wurden, als eine Errungenschaft der menschlichen Vernunft anerkenne, sei kaum patriarchales Denken zu finden.67 Mit Bezug auf Ken Wilber, den MalekyÁn als „einen der größten Menschenkenner unserer Zeit“ vorstellt, geht er selbst davon aus, dass es zwar auf einer ersten geistigen Ebene Unterschiede zwischen Mann und Frau gebe, diese sich jedoch auf anderen Ebenen nicht unterscheiden wür-

65 Vgl. MalekyÁn, MostafÁ (2006b): „Zan, Mard, kodÁm tasvir? EslÁm, Feminizm va mardsÁlÁri“. In: Ders. MoshtÁqi va mahjuri. GoftoguhÁyi dar bÁb-e farhang va seyÁsat. Teheran, S. 323-340, hier S. 323-324. 66 Vgl. ebd.: S. 325. 67 Vgl. ebd.: S. 326.

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den.68 MalekyÁn bestreitet nicht, dass die religiösen Texte viele patriarchalische Züge aufweisen. Er bekräftigt jedoch, dass modernistische Muslime in der heutigen Zeit durchaus in der Lage seien, sich über derartige Texte hinwegzusetzen und der [wahren] Botschaft der Religion zu folgen.69 MalekyÁn wirft den „Rechtsgelehrten“ (foqahÁÞ) Starrheit vor. Anstatt das religiöse bzw. islamische Denken auch in Bezug auf Frauen als einen stets fortschreitenden und sich weiter entwickelnden Diskurs zu verstehen, sehen sie die tradierte frühislamische Haltung zum Thema Frau als den endgültigen Maßstab an. Die damaligen Maßnahmen und Bestimmungen im Zusammenhang mit der Frau, so die Argumentation von MalekyÁn weiter, stellten zwar eine Verbesserung der Lage der Frauen in der damaligen Zeit dar. Diese Besserstellung dürfe jedoch nicht dort enden, sondern müsse vielmehr auch den heutigen Kriterien angepasst werden.70

Rationalisierte Religion Geht man von der Einteilung MalekyÁns der heutigen Islamauffassungen aus, wäre er selbst bei den ModernistInnen zu verorten, die nach seinen eigenen Angaben der menschlichen Urteilskraft viel Platz einräumen.71 Und so spricht er von „rationalisierter Religion“ (din-e ÝaqlÁniyyat yÁfte va ÝaqlÁni shode).72 Der Begriff „Vernunft“ (Ýaql) ist zwar in der schiitisch-religiösen Literatur ein vertrauter Terminus, doch stellt das Anliegen, die Religion zu rationalisieren, eine neue geistige Bewegung dar, die insbesondere nach dem Tod von Ayatollah Khomeini und speziell von den der Islamischen Revolution noch stark verbundenen, aber von der späteren politischen Entwicklung zutiefst enttäuschten Intellektuellen und Rechtsgelehrten in Iran verfolgt wird. Diese Bewegung breitet sich in allen geistlich-religiösen Bereichen aus. Ahmad QÁbel (1957-2012), der in Qom zum Mujtahed ausgebildet

68 Ebd.: S. 327; zur verschiedenen Bewusstseinsebenen bei Wilber, Ken (2005): Integrale Psychologie. Geist, Bewusstsein, Psychologie, Therapie. Freiburg, S. 221ff. 69 Ebd. 70 Vgl. ebd.: S. 334f. 71 Ebd.: S. 326. 72 MalekyÁn (2003b): S. 273.

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wurde und sich einige Jahre im Exil in Tadschikistan aufhielt, versuchte über eine eigene Internetseite sein Projekt einer „rationalen Scharia“ (shariÝat-e ÝaqlÁni) bekannt zu machen. Mit Bezug auf einen ursprünglich theologischen Grundsatz, wonach der Ausgangsstatus in allen Dingen die „rationale Indifferenz“ (isÁla al-ibÁha al-Ýaqliyya) ist, lässt er in allen Rechtsfragen das „Prinzip des Haftungsausschusses“ (isÁla al-barÁÞa) gelten. Damit stellt er das ganze islamische bzw. schiitische Rechtsfindungssystem auf den Kopf. Nach dem traditionellen Standpunkt sind alle religiösen Fragen vom „Gesetzgeber“ (shÁriÝ) geregelt. Der Bereich, in dem es keine Regelungen gibt, wird als „Freizone“ (mintaqat-o l-ferÁgh) bezeichnet und stellt den Spielraum der Vernunft dar. QÁbel zufolge ist zunächst alles durch die Vernunft zu regeln. Da, wo sich die Vernunft zurückhält – z.B. in bestimmten Kultfragen – ist schließlich die Scharia zuständig. Demnach müssen alle überlieferten und traditionell praktizierten Regeln einer Überprüfung durch die moderne Vernunft unterzogen werden. Dabei habe man sich primär nach der Vernunft und sekundär nach der Scharia zu richten. Daher spricht sich QÁbel für das Folgende aus: das gleiche Mündigkeitsalter für Jungen und Mädchen, die Glaubensfreiheit, die Abschaffung der Kategorie des Abtrünnigen, die Unterlassung von Angriffskrieg und Terror, die Zulassung des Genusses von nicht-islamisch geschlachtetem Fleisch, von Banktransaktionen und der Heirat mit jedem toleranten Menschen ungeachtet seiner religiösen Überzeugung, das Recht auf Scheidung auch für Frauen, die Gleichstellung von Frauen und Männern beim Erbrecht, die Ermöglichung jeglicher richterlicher, religiöser und politischer Funktion für Frauen, kein Kopftuchzwang für Frauen; und viele andere modern ausgelegte, von ihm jedoch islamisch begründete Rechtsbeschlüsse, die QÁbel im Rahmen seines Rechtsfindungskonzepts „rationale Scharia“ (shariÝat-e ÝaqlÁni) in Aussicht stellt.73 In dieser Tradition spricht auch MalekyÁn von Rationalität und Spiritualität oder rationalisierter Religion. Aus seinen gesamten Schriften geht hervor, dass er dem fundamentalistischen Islam entschieden entgegenwirken will.74 Gleichzeitig bezieht er deutlich Position gegen die traditionalis-

73 Vgl. QÁbel, Ahmad (2010): Dar moured-e Ýaql va sharÝ, S. 1-5 und ÝAql va sharÝ. Unter http://www.ghabel,persianblog.com/1383_10_ghabel_archive.html (20.9.2010). 74 Vgl. MalekyÁn (2003a): „ChÁleshhÁ-ye din va modernism dar jahÁn-e eslÁm“. In: Khatt-e sevvom (Zeitschrift). Maschhad 3&4/2003.

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tische Sicht. Nachdem er die TraditionalistInnen als diejenigen definiert, die für die Anerkennung und Befolgung der Tradition argumentieren,75 formuliert MalekyÁn als größte Kritik an der traditionalistischen Position, dass sie „autoritativ“ (taÝabbodi) und „imitativ“ (taqlidi) sei und sich daher jeder Argumentation entziehe. Rationalität und Freiheit seien aber die zwei „wesentlichen Bestandteile“ (moÞallifahÁ-ye asli) des menschlichen Lebens. Der/die Traditionalist/in bekämpfe aufgrund seines/ihres autoritativen und imitativen Charakters die Rationalität und die Freiheit und schüre damit „Fanatismus“ (taÝassob) und „Vorurteile“ (pishdÁvari). Darüber hinaus ermögliche diese Denkungsart auf gesellschaftspolitischer Ebene politischen Missbrauch, da sich die VerteidigerInnen der Tradition für berechtigt hielten, nur ihre eigenen Interessen zu schützen; auf der individuellen Ebene würde ein/e Traditionalist/in kein eigenes, sondern ein „geliehenes“ (ÝÁreyat) Leben führen.76 MalekyÁn verschont jedoch auch die modernistische Auffassung nicht mit Kritik. Seine Hauptkritik am Modernismus zielt auf eine Eigenschaft der Moderne ab, die er als „Szientismus“ (Ýelmzadegi) bezeichnet. In der Moderne würden die experimentellen Wissenschaften als der einzige Weg zum Erlangen des Wissens angesehen und die „Beschränkungen“ (mahdudiyyathÁ) dieser Wissenschaften vollkommen ausgeblendet. Durch diesen vorbehaltlosen Glauben an Wissenschaft werde vor allem die Spiritualität vernachlässigt, die dem Menschen Frieden, Freude und Hoffnung schenke.77 Trotz seiner Kritik, die der Beweggrund für seine Bemühung um die Verbindung der Rationalität mit der Spiritualität ist, stellt er nüchtern fest, dass allein die zwei Eigenschaften der Moderne, nämlich Rationalität und Freiheit, genügten, um die moderne Haltung trotz ihrer „Schwächen“ (kÁstihÁ) und „Defizite“ (kambudhÁ) als positiv anzuerkennen.78 Es muss, so fordert MalekyÁn auf, eine rationale Auslegung der Religion angestrebt werden; es

75 MalekyÁn (2002a): S. 357. 76 Ebd.: S. 369-370. Hierbei bezieht sich MalekyÁn auf Fritz Kunkel, der in seinem Buch Let’s be Normal schreibt, dass ein traditioneller Mensch nicht singe, weil er glücklich oder von seiner Stimme überzeugt sei; vielmehr denke er, dass seine Stimme dem anderen gefalle. 77 Ebd.: S. 366-370; 375-376. 78 MalekyÁn, MostafÁ (2002c): „Sonnat va tajaddod“. In: Ders.: Rahi be rahayi. JostÁrhÁyi dar ÝaqlÁniyyat va maÝnawiyyat, Teheran. S. 379.

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müsse nach einer „rationalisierten und rational gemachten Religion“ (din-e ÝaqlÁniyyat yÁfte va ÝaqlÁni shode) gesucht werden.79 Wie soll nun dieses Vorhaben realisiert werden? MalekyÁns Vorschlag ist eindeutig: Der Mensch soll die entscheidenden Merkmale der Moderne erkennen und dementsprechend die Religion auslegen. Modernes Denken sei in seiner ersten Eigenschaft „argumentativ“ (estedlÁli) und vertrage kein „autoritatives“ (taÝabbodi) Verständnis von Religion. In der Moderne werde nicht an etwas geglaubt, weil es einer Autorität entstamme; es müsse vielmehr argumentativ nachvollziehbar sein. Während das argumentative Denken zur „Autonomie“ (khodfarmÁyi) führe, verleite das autoritative zur „Heteronomie“ (digarfarmÁnfarmÁyi).80 Das zweite Merkmal der Neuzeit sei, dass an historische Tatsachen nicht ohne weiteres geglaubt werde. Jedes historische Ereignis werde mit Skepsis betrachtet und sorgfältig geprüft. Nach einem modernen Verständnis könne sich die Religion also nicht durch historische Geschehnisse begründen.81 Die moderne Welt sei drittens „diesseitig“ (injÁyi). Konkret heiße das, dass die Lösungswege für die anstehenden Fragen für hier und heute Erfolg versprechend sein müssen. Der moderne Mensch sei nicht mit dem Versprechen auf ein jenseitiges Leben dazu zu bringen, etwas zu tun oder zu unterlassen. Dementsprechend müssten auch die religiösen Argumente umformuliert werden.82 Als ein weiteres Merkmal der Moderne betrachtet MalekyÁn „das Ende der umfassenden Theorien“. In der Moderne gebe es keine Akzeptanz für große und umfassende Metaphysik bzw. Theorien, die alles erklären wollen. Hier müsse auch die Religion möglichst wenig metaphysisch sein, um überleben zu können.83 Ein fünftes Merkmal der Moderne sei „das Entsakralisieren“ der Personen. In der Moderne seien, was die Erkenntnis angehe, alle Menschen gleich. Jede/r dürfe sagen, was sie/er wolle, und jede/r könne akzeptieren, was sie/er wolle; es komme nur darauf an, wer die überzeugenderen Argumente habe. Auch eine moderne Religion müsse sich die-

79 MalekyÁn (2003b): S. 273. 80 Ebd.: S. 274-275. 81 Ebd.: S. 277-278. 82 Ebd.: S. 278-279. 83 Ebd.: S. 281-283.

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sem Entsakralisierungsprozess anpassen.84 Das sechste Merkmal der Moderne sei die Unterscheidung von lokalen und universalen Aussagen. In jeder Religion gebe es viele lokale, d.h. zeit- und raumgebundene Elemente, die nicht zum Wesen der Religion gehörten. In einer modernen Auslegung der Religion müssten lokale Elemente der Religion erkannt und außer Acht gelassen werden. Wäre der Islam nicht auf der Arabischen Halbinsel mit ihrem heißen Klima entstanden, hätte man bei der Beschreibung des Paradieses nicht davon gesprochen, dass es dort keine Sonne gebe.85 Sollte ein/e Engländer/in gesagt bekommen, so MalekyÁn weiter, dass es im Paradies keine Sonne gäbe, würde er/sie sagen: „Ach so, das Paradies sieht doch wie unser Land aus!“86 MalekyÁn stellt also pragmatisch oder, wie er selbst sagen würde, rational fest, dass die Religion des Islam in ihrer bisherigen orthodoxen Prägung dem modernen Denken und Leben widerspricht. Auf die Moderne könne aber nicht verzichtet werden, weil sie ein Faktum und zwar ein positiv zu bewertendes Faktum sei. Und auf die Religion dürfe nicht verzichtet werden, weil der Mensch ohne sie nicht vollkommen sei. In der Auseinandersetzung zwischen Religion und Moderne liegt nach MalekyÁn die Beweislast bei der Religion. In der Moderne konstatiert er nur den Mangel an Spiritualität; die Moderne sei aber überall präsent und jeder lebe nach ihren Maßstäben. Es sei die Religion, die sich nach modernen Maßstäben zu ändern habe, damit sie nicht als überholt erachtet werde.

Säkularismus Die „modernistische“/„vernunftgeleitete“ Haltung führt MalekyÁn am Ende seiner Analysen zu einem deutlichen Eintreten für ein säkulares politisches System. Die entscheidenden Kriterien dafür lägen im Bereich der Politik und der gesellschaftlichen Fragen wie etwa „Gerechtigkeit“ (ÝadÁlat) und

84 Ebd.: S. 283-285. 85 Offensichtlich bezieht sich MalekyÁn auf den Koranvers 76/13, in dem zur Beschreibung des Paradieses gesagt wird: „Sie liegen nun darin (behaglich) auf Ruhebetten und erleben (w. sehen) darin weder Sonne(nhitze) noch (schneidende) Kälte“. 86 MalekyÁn (2003b): S. 285-286.

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„Wahrheit“ (haqiqat). Hier dürfe man sich nicht am „Sakralen“ (amr-e moqaddas) orientieren. Ein politisches System sei dann gut, gerecht und opportun, wenn es sich von dem heiligen Buch als solchem trenne. Allein der Grund, dass eine Bestimmung von Gott oder dem Propheten stamme, dürfe sie nicht zum Gesetz werden lassen.87 MalekyÁn setzt bewusst „religiöse Herrschaft“ (hÁkemeyyat-e dini) gegen den Säkularismus und schlussfolgert: „Manchmal ist Säkularismus unabdingbar, um die Religiosität der Menschen zu schützen.“88 Eine religiöse Herrschaft, so die Argumentation von MalekyÁn, heißt immer Herrschaft einer bestimmten religiösen Auffassung. Dies bedeute wiederum, andere religiöse Einstellungen zu unterdrücken. Darüber hinaus verliere durch Vorherrschaft einer religiösen Lesart das religiöse Denken seine Dynamik.89 MalekyÁn räumt zwar ein, dass es eine tolerante Lesart der Religion geben kann. Sie könne aber nicht tolerant bleiben, sobald sie politische Herrschaftsansprüche erhebe. Nach MalekyÁn besteht ein essentieller Widerspruch zwischen politischem Anspruch der Religion einerseits und dem demokratischen Regierungssystem andererseits. In einem demokratischen System gingen die Entscheidungen letztlich auf das Wählervotum zurück. Eine religiöse Herrschaft dagegen müsse sich in bestimmten Fragen über das Wählervotum hinwegsetzen, um die Bezeichnung religiös zu verdienen.90 MalekyÁn lehnt nicht nur Sorushs Formulierung des religiösen Intellektualismus ab; er hält auch sein Konzept des demokratisch-religiösen Staates für abwegig und paradox. MalekyÁn stellt den Säkularismus als Garant für die demokratische Ausrichtung des politischen Systems und die Religiosität der Individuen dar. Der einzige Weg, die Religiosität der Menschen zu schützen, sei, dass der Staat nicht im Namen der Religion (im Endeffekt einer bestimmten Religion) herrscht.91 MalekyÁn bekräftigt, dass es nicht die Aufgabe der Religion ist, die rechtlichen Angelegenheiten der Menschen zu regeln; Religion ist dazu da, um die Beziehung der Menschen zu Gott zu regeln. Nur die rituellen Vorschriften der Scharia hätten einen all-

87 Vgl. MalekyÁn (2003c): S. 245-265. 88 MalekyÁn (2006a): S. 342. 89 Ebd. 90 Vgl. ebd.: S. 342ff. 91 Vgl. ebd.

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gemein gültigen Charakter, alle anderen Bestimmungen bezögen sich nur auf die Zeit des Propheten. Daher lehnt er eine Regierung ab, die nach religiösen Bestimmungen die politisch-gesellschaftlichen Angelegenheiten regeln will.92 Im Gegensatz zu Sorush, der immer darauf bedacht ist, dem Islamischen bzw. dem Religiösen in seinem Denken und seinen politischen Konzepten einen gleichgewichtigen Platz einzuräumen (von daher auch die Formulierung eines religiösen Intellektualismus oder demokratischreligiösen Staats), versucht MalekyÁn die Begriffe zu differenzieren und die Geltungsbereiche jeder Kategorie genau zu bestimmen. Auch in Bezug auf den Liberalismus hat er eine andere Herangehensweise als Sorush. Während Sorush noch von maximalistischem und minimalistischem Liberalismus spricht, um einen minimalistischen Liberalismus für die iranische Gesellschaft zu fordern, stellt MalekyÁn viel konsequenter fest: „Der modernistische Islam steht mit Liberalismus sowohl im Bereich der Sittenlehre als auch im Bereich der Politik wie auch im Bereich der Gotteslehre in Einklang. Tatsache ist, dass, wenn es auch unterschiedliche Formen des Liberalismus gibt, fast alle BefürworterInnen des modernistischen Islam überall in der islamischen Welt liberal sind.“93

Geprägt von den Erfahrungen der Islamischen Revolution/Republik steht MalekyÁn dem ideologischen, insbesondere religiös-ideologischen Denken kritisch gegenüber und setzt sich für weniger Religion in der Politik und mehr Säkularismus ein. So bezieht er deutlich Position gegen die im Grunde seit der Gründung der Islamischen Republik immer wieder angestrebten und neuerdings konkret in Angriff genommenen Maßnahmen, geisteswissenschaftliche Disziplinen zu islamisieren und zum Teil abzuschaffen. Er wirft dem politischen System in Iran ideologische Starrheit vor, die offenkundig Angst vor den geisteswissenschaftlichen Fächern habe. Geisteswissenschaften, so MalekyÁns Argumentation, versetzten uns in die Lage, ideologisches Denken zu verstehen und zu entlarven. Durch Geisteswissenschaften würden wir begreifen, wie unnütz eine Ideologie sei. Man bekämpfe, so MalekyÁn weiter, Ideologien nicht, indem man eine andere Ideologie entwickle. Die Bekämpfung von Geisteswissenschaften durch

92 Vgl. ebd.: S. 345-346. 93 MalekyÁn (2002b): S. 104.

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ideologische Systeme wie das stalinistische rühre daher, dass diese Regime befürchteten, durch Geisteswissenschaften entzaubert zu werden. Während ein ideologisches System Menschen einander entfremde, brächten geisteswissenschaftliche Erkenntnisse Menschen enger zusammen.94

Fazit Ausgehend von einer Problemauffassung, welche die Diskrepanz zwischen moderner Lebensphilosophie und religiöser Überzeugung als eine globale Frage darstellt, von der auch der muslimische Mensch als ein modern lebender Mensch betroffen ist, versucht MalekyÁn das Thema entlang einer geistig-kulturell grenzüberschreitenden Argumentationslinie zu diskutieren. Dabei verwendet er eine Sprache, die nicht eine genuin islamische Färbung trägt und damit einen überregionalen und interkulturellen Austausch eröffnen will. Das heißt aber nicht, dass er die islamische Kultur oder seine eigene islamisch geprägte Identität verleugnet. MalekyÁn bedient sich vielmehr einer Sprache, die gleichzeitig seine eigene Transregionalität und Transkulturalität offenlegt. MalekyÁn positioniert sich deutlicher und konsequenter als Sorush für eine säkulare Staatsform. Er hält die Spiritualität jedoch für ein erfülltes Leben unabdingbar – eine Spiritualität, die er bewusst von Religiosität trennt. Nicht nur weil der Begriff Religion historisch negative Assoziationen erwecken kann, sondern auch weil für ihn die Spiritualität die gemeinsame Essenz aller Religionen, und nicht nur die der monotheistischen ist. Darüber hinaus widerspricht laut MalekyÁn die Religiosität der Rationalität. Das wichtigste Merkmal religiöser Einstellung sei die „Frömmigkeit/Ergebenheit“ (taÝabbod) im Sinne eines Befolgens bestimmter Annahmen, ohne sie begründen zu müssen. Eine solche Praxis kann nicht auf Rationalität basieren.95 Insgesamt stellt MalekyÁns Denken einen „Fortschritt“ in den iranischislamischen Diskursen dar. Ich benutze „Fortschritt“ nicht im Sinne von linearer Entwicklung, sondern im Sinne von Voranschreiten oder Sich-mehrÖffnen, um die Grenzen althergebrachten Denkens zu überschreiten. Auch

94 Vgl. MalekyÁn (2006a): S. 341-362. 95 Siehe MalekyÁn (2013): S. 54.

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ein technischer „Fortschritt“ bedeutet mehr oder weniger, neue Möglichkeiten zu eröffnen. Diese Grenzüberschreitung im Denken MalekyÁns geht nach meinem Verständnis über Sorushs Bemühungen hinaus. Sorush versucht zwar, einengende sozialpolitische und religiöse Konzepte wie „Verwestlichung“ und die „islamische Ideologie“ oder die „Gelehrtenherrschaft“ zu durchbrechen, verliert sich jedoch in neue selbst entworfene Konzepte wie „demokratischreligiöser Staat“ oder „religiöser Intellektuelle“. MalekyÁn kann sich offensichtlich nicht mit all diesen inkludierenden Begriffen anfreunden und ist um noch mehr Öffnung, um ein Darüber-hinaus-Gehen bemüht. Daher bekräftigt er, dass für ihn eine Spiritualität ohne Freiheit kaum vorstellbar ist.96

96 Vgl. MalekyÁn (2003c): S. 263-264.

Schlusswort

In dem vorliegenden Buch wurden vier zeitgenössische iranische Autoren behandelt. JalÁl Àl-e Ahmad und ÝAli ShariÝati lebten vor der Islamischen Revolution und prägten nachhaltig die damaligen politisch-intellektuellen Diskurse. ÝAbdolkarim Sorush und MostafÁ MalekyÁn zählen hingegen zu den religiös-intellektuellen VordenkerInnen nach der Gründung der Islamischen Republik. Alle vier Denker zeichnen sich dadurch aus, dass einerseits die Religion/der Islam eine wichtige Rolle in ihren Denkwelten spielt, und andererseits ihre Ideen und Konzepte nicht mit dem konventionellen Verständnis von Islam übereinstimmen. Àl-e Ahmad, der – nach seiner Lebensführung zu urteilen – nur schwer als religiös im herkömmlichen Sinne zu bezeichnen ist, hat einen der zentralen Begriffe intellektuell-religiöser Diskurse der letzten Jahrzehnte in Iran geprägt, nämlich den Begriff der „Verwestlichung“ (gharbzadegi). Geformt durch biographische Begebenheiten und politisch-soziale Ereignisse seiner Zeit und beeinflusst von teils marxistischen, teils Dritte-WeltTheorien tat sich Àl-e Ahmad vor allem als ein politischer Schriftsteller hervor, der die vorherrschenden (post-)kolonialen Verhältnisse im eigenen Land und darüber hinaus in der Welt kritisch zu analysieren und zu bekämpfen versuchte. Als Alternative zu den vom „Westen“ unkritisch und unreflektiert adaptierten technischen und kulturellen Gütern plädierte er für eine Besinnung auf das Eigene – eine Aufforderung, die im Sinne der politischen Unabhängigkeit und kulturellen Selbständigkeit zu verstehen ist. Um sein Anliegen, den Kampf gegen „westliche Einflüsse“ bzw. die „Verwestlichung“, zu realisieren, brachte er oft die Religion und die Geistlichen ins Spiel. Seine eigene Biographie lässt jedoch darauf schließen, dass ihm nicht an der Errichtung eines islamischen Staates lag. In der Religion und den ÝolamÁÞ meinte er vielmehr die einzigen von europäischen Einflüssen

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noch unberührt gebliebenen Institutionen zu erkennen – Institutionen die Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Authentizität symbolisierten. Wie Àl-e Ahmad legt auch der zweite hier vorgestellte Autor, ÝAli ShariÝati, viel Wert auf die gesellschaftspolitische Rolle der Religion und ihrer traditionellen Träger, der Gelehrten, wobei er gleichzeitig die Widersprüchlichkeiten dieser Rollen deutlich zu machen und zu überbrücken versucht. Während ShariÝati einerseits die antikolonial agierenden und politisch aktiven ÝolamÁÞ lobt, kritisiert er sie andererseits rigoros und zielt hier auf die passiven und eigennützig denkenden Geistlichen ab. Für ShariÝati zentral ist der Entwurf einer kämpferischen und die gebildete Bevölkerungsgruppe mobilisierenden „islamischen Ideologie“ – eine Ideologie, die maßgeblich zur Entstehung der Islamischen Revolution in Iran beigetragen hat. ShariÝati meint mit Ideologie ein kritisches revolutionäres Bewusstsein, welches die Voraussetzung zur Veränderung der moralisch und sozial unerträglichen Wirklichkeit darstellt. Eine islamische Ideologie in diesem Sinne dient dem Kampf für die Errichtung einer gerechten, freiheitlichen und dynamischen Gesellschaft, die durch „verantwortungsbewusste Intellektuelle“ (roushanfekr-e masÞul) geführt wird. Auf diese Weise distanziert er sich von den traditionellen schiitischen Vorstellungen, welche er als reaktionäre, klerikale und safawidische Schia bezeichnet, aber auch von den Intellektuellen, die „dem Westen“ – in seiner liberalen oder marxistischen Prägung – nur nach dem Munde reden und kein eigenständiges und ihrem eigenen gesellschaftlichen Kontext entsprechendes Konzept entgegensetzen. Enttäuscht von den ideologisch/fanatisch geführten Politiken und Praktiken in der Islamischen Republik stellt Sorush, der dritte hier behandelte Denker, viele bis dahin geltende Überzeugungen intellektueller AkteurInnen in Frage. Sein größtes geistiges Verdienst stellt seine kritische Auseinandersetzung mit religiösen und politischen Dogmatismen dar, die er als Ideologien bezeichnet. In seiner Ideologiekritik befasst sich Sorush mit allen ihm starrsinnig erscheinenden Denkkonzepten wie gharbzadegi, Marxismus, Szientismus, islamischer Ideologie und velÁyat-e faqih. Gleichzeitig bringt er selbst Konzepte wie den religiösen Intellektualismus oder den demokratisch-religiösen Staat in die inneriranischen Diskussionen ein – Konzepte, die Sorushs Bemühungen deutlich machen, über die Grenzen der „eigenen“ und „fremden“ geistigen Traditionen hinauszudenken. So erörtert er unter anderem die Beziehung zwischen Demokratie und Religion und

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diskutiert die Möglichkeit einer „religiösen Demokratie“. Dabei unterscheidet er zwischen einem maximalistischen und einem minimalistischen Blick auf Religion. Einer maximalistischen Sicht zufolge könne alles von der Religion abgeleitet werden. Minimalistisch betrachtet, so Sorush weiter, können aber manche Werte nicht von der Religion abgeleitet werden, wie etwa der Respekt vor den Menschenrechten. Die maximalistische Sicht der Religion müsse daher durch die minimalistische ersetzt werden. In Sorushs Werken spielen die drei Komponenten, Religion, Vernunft und Säkularismus, eine wichtige Rolle. Dennoch schreibt er keiner eine übergeordnete Rolle zu, sondern versucht alle drei Faktoren gleichzeitig in ein Denkmodell zu integrieren. Er zielt in seinen Ausführungen darauf ab, neben dem Religiösen auch das Säkulare und das Rationale hervorzuheben und dabei klarzustellen, dass man ohne Anerkennung des Säkularen neben dem Religiösen den modernen gesellschaftspolitischen Herausforderungen nicht gerecht werden kann. Auch MalekyÁns geistiges Engagement ist geprägt von den Erfahrungen der Islamischen Revolution/Republik. Wie Sorush steht er ebenfalls dem ideologischen, insbesondere aber dem religiös-ideologischen Denken kritisch gegenüber und setzt sich für weniger Religion bzw. weniger religiösen Einfluss in der Politik ein und fordert ein stärkeres Maß an säkularen Strukturen des Staats. MalekyÁn positioniert sich in seinen weiteren Schriften deutlicher für den Säkularismus. Er hält allerdings die Spiritualität für eine unabdingbare Voraussetzung, um ein erfülltes Leben führen zu können. Dabei vermeidet er es bewusst, den Begriff Religiosität zu benutzen. Zum einen weil der Begriff Religion historisch und insbesondere in der heutigen iranischen Gesellschaft mit unangenehmen Erfahrungen assoziiert wird. Zum anderen weil Spiritualität, so MalekyÁn weiter, die gemeinsame Essenz aller Religionen und nicht nur der monotheistischen darstellt. Des Weiteren konstatiert MalekyÁn einen prinzipiellen Widerspruch zwischen dem Primat der Vernunft und der Dogmatik der Religion und plädiert daher für Spiritualität als einen dritten Weg, der keine blinde Befolgung bestimmter Normen, sondern eine bewusste Reflexion über die Grenzen des Materiellen/des Nur-rational-erfassbaren ist. MalekyÁn unterscheidet sich von Sorush insofern, dass er für eine klare Positionierung für den Säkularismus im öffentlichen Bereich steht, ohne die Bedeutung von Spiritualität im privaten Bereich außer Acht zu lassen. MalekyÁn lehnt Sorushs Konzepte des religiösen Intellektualismus und des

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demokratisch-religiösen Staats ab und hält sie für abwegig und paradox. Ihm zufolge sind nur in einem säkularen Staat Demokratie und Spiritualität garantiert. Damit ist MalekyÁn der einzige (und jüngste) der vorgestellten Denker, der sich explizit für einen von Spiritualität gekennzeichneten Säkularismus ausspricht und damit weit über Sorushs Ansätze hinaus geht – auch über die real-politischen Strukturen und jüngste Geschichte des Iran –, der aber mit diesem Ansatz und seinem persönlichen Werdegang umso mehr an ShariÝati und vor allem Àl-e Ahmad anzuschließen scheint. Denn ihm geht es weniger um die stringente Verfolgung einer politischen Idee, als vielmehr um die Suche nach offenen politischen Strukturen, die im Rahmen (post-)kolonialer Koordinaten und asymmetrischer Machtverhältnisse soziale und politische Strukturen (in Iran) ermöglichen sollen, die dynamisch und agil sind. Sein Denken mag daher auch das Ende einer intellektuellen Krise in der nachrevolutionären iranischen Geschichte und den Anfang anderer Denkformationen in Iran symbolisieren, indem es sich anderen, existentielleren Fragen öffnet, und dabei an frühere Denktraditionen in einer postkolonialen Welt anschließt. Bei allen, aber insbesondere bei den drei hier zuletzt behandelten Denkern ist eine intensive Korrespondenz mit den allgemein vorherrschenden Themen in der islamischen Welt zu beobachten, sei es die Rückbesinnung auf die eigene/islamische Kultur/Identität, sei es eine neue/moderne Lesart religiöser Texte/Normen und sei es der Widerstand gegen (post-)koloniale Verhältnisse oder gegen autorative Denk-/Herrschaftsformen. Ihre Theorien bleiben jedoch den spezifisch historischen/religiösen/kulturellen Begebenheiten Irans behaftet. Àl-e Ahmads sozialkritische Kurzgeschichten schildern (post-)koloniale Bedingungen der iranischen Gesellschaft, welche die Ausgangslage seiner Theorie der gharbzadegi bilden. Er bespricht jedoch kaum „ähnliche“ Umstände in anderen islamischen/asiatischen und afrikanischen Ländern. Auch ShariÝatis „islamische Ideologie“ ist im Grunde eine romantisierte „schiitische Ideologie“, in der die zentralen Figuren der Schia viel Raum einnehmen, so etwa ÝAli (der erste schiitische Imam und nach ShariÝati das Symbol des idealen Menschen), FÁteme (die Tochter des Propheten und Ehefrau von ÝAli und nach ShariÝati das Idealbild einer Frau) sowie Hosein (Sohn von ÝAli und FÁteme, dritter schiitischer Imam und die Verkörperung der „islamischen Ideologie“). Bei Sorush und MalekyÁn, die hauptsächlich nach der Islamischen Republik gewirkt haben, beobachtet man eine höhere „Ambiguitätstoleranz“

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in Bezug auf das, was die nationale/konfessionelle Empfindlichkeit anbelangt. Bei ihren Ausführungen nehmen sie kaum Bezug auf die innerislamischen Streitthemen; noch seltener nehmen sie Position für die schiitische Lesart der islamischen Geschichte. Nichtsdestotrotz sind auch ihre thematischen Schwerpunkte, ihre Herangehensweisen und ihre Lösungsvorschläge besonders „iranisch“ gefärbt. Wenn beispielsweise Sorush von religiösen Intellektuellen oder demokratisch-religiösem Staat spricht, hat er die Begebenheiten in Iran vor Augen. In anderen religiösen/islamischen Kontexten greift er diese Konzepte kaum oder gar nicht auf. Auch wenn sich MalekyÁn zu Themen wie ÝolamÁÞ („Gelehrten“), zu den Diskursen über Religion und Intellektualismus oder zu den religiösen Praktiken wie hejÁb („Schleier“) äußert, hat er fast ausschließlich die Umstände in Iran im Blick und setzt sich kaum eingehend mit den Situationen in anderen islamischen Gesellschaften auseinander. Betrachtet man die vier hier behandelten Protagonisten aus einer eurozentristischen Perspektive, d.h. ausgehend vom Westen und den hier geltenden Wissenskategorien, und versucht sie politisch und intellektuell einzuordnen, kann man Àl-e Ahmad und ShariÝati mit Attributen wie „nativistisch“, „antiwestlich“ oder „fundamentalistisch“ belegen, und Sorush und MalekyÁn als „modern“, „westlich“ oder „aufgeklärt“ bezeichnen. Diese Kategorisierungen sind jedoch umso verwunderlicher, wenn man beobachtet, dass Sorush und MalekyÁn eine viel konventionellere Religionspraxis pflegen als Àl-e Ahmad und ShariÝati. Die beiden letztgenannten Autoren führten vergleichsweise ein weitaus „westlicheres“ Leben. Darüber hinaus können diese Attribute – auch aus einer eurozentristischen Sicht – nur bedingt die jeweiligen Denker umschreiben. Die Schriften von Àl-e Ahmad und ShariÝati beinhalten streckenweise viel progressivere und „liberalere“ Ansichten als die von Sorush und MalekyÁn. Umgekehrt erscheinen die Gedanken von Sorush und MalekyÁn an vielen Stellen wiederum viel konventioneller und herkömmlicher als die von Àl-e Ahmad und ShariÝati. Darüber hinaus sind Beschreibungen wie westlich/modern oder antiwestlich/fundamentalistisch wertend und wenig aussagekräftig. Mit „westlich“ und „modern“ ist im europäischen Kontext eine Haltung gemeint, die für gut, positiv und anstrebenswert befunden wird. Beschreibt man jedoch eine Einstellung als „antiwestlich“ oder „fundamentalistisch“, wird sie für schlecht, negativ und ablehnungswürdig befunden. Nach welchen Kriterien wird aber eine Haltung beispielsweise als „westlich“ oder „antiwestlich“

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kategorisiert: danach, ob eine Haltung mit bestimmten Politiken des Westens in Einklang oder nicht in Einklang steht? Oder danach, ob eine Haltung zu europäischen, humanistischen und im Grunde global anerkannten Werten passt oder nicht? Die hier diskutierten Gedankengänge weisen beide Komponenten auf und können je nach Maßstab als westlich/modern oder antiwestlich/fundamentalistisch angesehen werden. Ferner ist zu berücksichtigen, dass bei den dichotomen und wertenden Ansätzen vergessen bzw. übersehen wird, dass dieselben Adjektive – westlich, modern oder antiwestlich, fundamentalistisch – in einem anderen, beispielsweise iranischen/arabischen/islamischen Kontext ganz und gar anders konnotiert sind. Um diese begrifflichen Ungereimtheiten und epistemologisch nicht nachvollziehbaren Kategorisierungen zu vermeiden, wurde hier, angelehnt an die postkolonialen Theorieansätze, für eine Verschiebung der Erzählperspektive plädiert. Dabei versuchte ich ausgehend von Biografien und sozialpolitischen Umständen der hier behandelten Akteure drei übergreifende Merkmale herauszuarbeiten, die insgesamt für die postkolonialen DenkerInnen bezeichnend sind. Die vorgestellten Autoren sind intellektuelle Widerständler im Sinne von kritischen Denkern mit hybriden Denkansätzen und auf der Suche nach neuen Wegen über das ihnen Bekannte hinaus. Ihr Widerstand ist allerdings je nach dem situativen Rahmen anders adressiert und entsprechend zu gewichten. Während die ersten beiden Autoren hauptsächlich gegen Politiken und Praktiken eines pro westlichen Regimes agierten, leisten Sorush und MalekyÁn gegen religiös-fanatische Vorgaben Widerstand. So gesehen können wir von einem intellektuellen Prozess sprechen, der sich von einer zunächst linksideologischen Haltung zu einem liberalsäkularen Habitus hin entwickelt. Dabei tragen das Linksideologische und das Liberalsäkulare in diesem Zusammenhang eine religiös-islamische Komponente in sich und zeigen damit eine Verschiebung der Bedeutungsebene dieser Begriffe auf, die herkömmlich eurozentrisch geprägt sind. Diese Entwicklung findet sich auch in vielen anderen Biographien, wie in der Einleitung anhand von Ganji dargestellt wurde. Ein weiteres „Symptom“ des postkolonialen Zustands, in dem sich auch die hier behandelten Autoren befinden, ist die Dominanz, ja die Autorität des „Westlichen“ in den unterschiedlichen Bereichen (des Politischen, Ökonomischen und Epistemologischen). Bei der Produktion ihrer Gedanken beziehen sich die hier vorgestellten Akteure oft auf „westliche“ wissenschaftliche Ergebnisse/Ansätze/Theorien. In einem ähnlichen Zusammen-

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hang spricht der postkoloniale indische Historiker Dipesh Chakrabarty in seiner einflussreichen Arbeit Provincializing Europe davon, dass diese eurozentrische Hegemonie diskursiv Wirkungsmacht entfaltet (hat). Chakrabarty weist auf die Asymmetrie in der postkolonialen Wissensproduktion hin, welche davon gekennzeichnet ist, dass nicht-europäische AutorInnen von sich als „westlich“ verstehenden WissenschaftlerInnen kaum zitiert werden, letztere dadurch jedoch nicht als unwissend oder ignorant erscheinen, während es sich umgekehrt HistorikerInnen aus dem Rest der Welt nicht ohne Reputationsverlust erlauben können, „westliche“ WissenschaftlerInnen nicht zu zitieren. Sowohl Àl-e Ahmad und ShariÝati, die vehement gegen die Dominanz der europäischen Kultur argumentieren, als auch Sorush und MalekyÁn, die für das Wissen bzw. die Wissenschaft keine Grenzen anerkennen wollen, bedienen sich zum größten Teil der westlichen TheoretikerInnen, um ihren Aussagen das erforderliche Gewicht zu verleihen und einen Ausweg aus einem postkolonialen politischen und epistemologischen Dilemma zu finden. Dadurch rezitieren sie jedoch nicht einfach westlichen DenkerInnen, sondern betten den Diskurs in einen anderen Zusammenhang ein; vielleicht bedeutet das auch, dass selbst im Benutzen europäischer Theorien Formen von anti-hegemonialem Denken und Überschreiten eurozentrischer (Selbst-)Bilder enthalten sind. Bezeichnenderweise stellt MalekyÁn bezüglich der Frage, warum er, wie viele andere, bei seiner Argumentation oft auf europäische DenkerInnen Bezug nimmt, Folgendes fest: Da man selbst über keine Persönlichkeiten oder Autoritäten verfügt, die den eigenen Aussagen das nötige Gewicht verleihen können, bezieht man sich stets – und nicht selten deplatziert – auf diese/n und jene/n westliche/n DenkerIn oder PhilosophIn, damit die eigenen Ideen die erwünschte Bedeutung erlangen und so akzeptabel werden.1 Diese Tatsache, die Adaption von westlichen Theorien für eigene Denkkonzepte, zeigt jedoch andererseits, dass die hier behandelten Denker sich als global agierende Theoretiker verstehen. Dabei sind sie immer darauf bedacht, das Eigene, das zumeist als das Religiöse aufgefasst wird, nicht aufzugeben. Auf diese Weise entstehen „vermischte“ Ideen, die schwer mit den dichotomisierenden Kategorien von modern, westlich und traditionell, islamistisch zu erfassen sind. So sprechen die vorgestellten iranischen Autoren von Verwestlichung, islamischer Ideologie, demokratisch-

1

Vgl. MalekyÁn (2009): S. 87-88.

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religiöser Regierungsform oder rationalisierter Religion – von Denkkonzepten, die ihre intellektuellen Anstrengungen zur Lösung (ihrer) sozialpolitischer Probleme zeigen, und in welche sowohl die sogenannten islamischen/orientalischen Ideen als auch die vermeintlichen säkularen/westlichen Vorstellungen eingeflossen sind. Hält man sich die hier diskutierten Gedanken als Ganzes vor Augen, stellen sie einen geistigen Prozess voller Diskrepanz, Disparität und Ambivalenzen dar. Über zwei Generationen haben islamisch-iranische Intellektuelle wie Àl-e Ahmad und ShariÝati über Verwestlichung diskutiert, um diesen Diskurs später mit Sorush und MalekyÁn zu dekonstruieren. Phasenweise waren ihre Ideen trotz aller Kritik am Marxismus doch von diesem stark beeinflusst. In einer späteren Phase ihres Denkens prägten sie einen eher anti-marxistischen Diskurs à la Popper. Sie theoretisierten und verbreiteten eine islamische Ideologie und machten sie zum dominanten intellektuellen Diskurs, der zu politischen Unruhen, Massenprotesten auf den Straßen, romantischer Revolutionsbegeisterung und schließlich einem nie da gewesenen politischen Umbruch führte. In einer weiteren Phase schließlich bedauerten sie die „logischen“ Folgen ihres eigenen intellektuellen Engagements, bewein(t)en die vermeidbaren Opfer ihrer eigenen politischen Predigten und bekämpf(t)en selbst die Radikalität, die mit der islamischen Ideologie einherging/-geht. Jüngere iranische ForscherInnen wie Mohammad Mansur HÁshemi halten darum diesen Intellektuellen vor, dass sie stets damit befasst gewesen sind, „Knoten aufzumachen, die sie selbst zugebunden hatten“2, und dass ihre Gedankenexperimente eine „sonderbare Erscheinung“ (tasvir-i Ýajib) darstellen3. Sie hätten das Projekt einer „Religion im Dienste des Diesseits“ entworfen, um später von der „Religion als sakrale Angelegenheit“ zu sprechen. Sie hätten über Jahre versucht, die Religion in die politische Sphäre hineinzubringen, um einige Zeit später zurückzurudern und zu versuchen, religiöse Angelegenheiten von politischen Fragen zu trennen. Sie seien diejenigen gewesen, die die Geisteswissenschaften zu islamisieren versuchten, um anschließend von den Geisteswissenschaften zu sprechen, die mit Attributen wie religiös oder islamisch nicht zu belegen sind. Sie hätten sich zu-

2

HÁshemi, Mohammad Mansur (2006): Din-andishÁn-e motajadded. Roushanfekri-ye dini az shariÝati ta malekyÁn. Teheran, S. 288.

3

Ebd.

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nächst als Nachfolger der Propheten angesehen und ein ander Mal jegliche Assoziationen in diese Richtung in Frage gestellt.4 Nichtsdestotrotz bezeugt solche Kritik einmal mehr die zentrale Rolle und Autorität dieser Denker in den modernen, postkolonialen Diskursen in Iran. Eine Beschäftigung mit ihnen ist unerlässlich, will man die heutige, geistespolitische Geschichte Irans verstehen. Zudem darf wohl angenommen werden, dass es an der hybriden Natur des islamisch-intellektuellen Diskurses liegt, dass er widersprüchlich, vermischt, komplex und nicht linear verlaufen ist bzw. verläuft. Diese Disparitäten/Brüche beziehen sich nicht nur auf den gesamten intellektuellen Prozess als eine „Einheit“; sie sind auch bei jedem einzelnen der behandelten Theoretiker zu beobachten. Mit Àl-e Ahmad beispielsweise begegnet man einem eklektischen Denker. Ein kommunistischer Parteigänger, der seine religiöse Erziehung, traditionelle Erscheinungsform und die rituellen Praktiken hinter sich lässt, sich „westlich“ (mit Krawatte und Anzug) kleidet, sozialistisch angehauchte, gesellschaftskritische Kurzgeschichten schreibt, in der prosowjetischen Tudeh-Partei eine schnelle Karriere macht und einige Zeit als Mitherausgeber des Parteiorgans MÁhnÁneme-ye mardom („Monatsblatt Volk“) arbeitet. Nach einigen Jahren findet er wieder zurück zu seinen religiösen Wurzeln, unternimmt eine Pilgerfahrt nach Mekka, schreibt einen leidenschaftlichen Reisebericht (Khasi dar miqÁt) darüber und rechnet in einem programmatischen Werk Gharbzadegi („Verwestlichung“) mit allen kolonialen Erscheinungen, seien es westliche oder sowjetische, ab.5 Die Eklektik seiner Schreibweise, wie auch die der anderen Autoren, ist keine prätentiöse Art, Wissen zur Schau zu stellen, sondern nährt sich geradezu aus der Vielschichtigkeit der Diskurse, in denen er sich bewegt. Bei ShariÝatis politisch-intellektuellen Tätigkeiten ist zwar ein roter Faden festzustellen, nämlich dass er sich bereits als Jugendlicher unter Einflussnahme seines gelehrten und politisch aktiven Vaters, Mohammad Taqi ShariÝati (1907-1987), für einen „progressiven“ Islam stark macht – ein Anliegen, das ihn bis zum Ende seines kurzen, aber bewegten Lebens begleitet. Die Koordinaten und Referenzen seines Denkgebäudes sind jedoch aus

4

Vgl. ebd.

5

Zu seinem komplexen Lebensweg vgl. seine kurze Autobiographie: Àl-e Ahmad (1997): S. 69-80.

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unterschiedlichen Traditionen zusammengestellt. In seinen Theorien laufen islamische, marxistische, existenzialistische, mystische und andere diskursive Stränge zusammen, um eine neue, islamisch-revolutionäre Ideologie zu konstruieren. Auch Sorush kann man im Großen und Ganzen einen einheitlichen Habitus, einen „gemäßigten“ und selten explosiven oder revolutionären Stil bescheinigen. Er denkt aber wie die drei anderen Theoretiker ständig entlang von Grenzen, die er schließlich auch überschreitet. Sorush hält einerseits an „Islamität“ als einer religiösen Vorstellung bzw. Praxis fest, lehnt andererseits aber viele über die Gelehrten tradierte islamische Annahmen ab. Säkularismus, Liberalismus und Demokratie betrachtet er letzten Endes als wichtige Voraussetzungen für eine „bessere“, auch religiös „bessere“ Gesellschaft, die er allerdings durch die Religion selbst begründet. Außerdem ist ein Bruch in Sorushs politischer Haltung vor und nach den 1990er Jahren festzustellen. Während in den Anfangsjahren der Islamischen Republik seine Affinität zur Gelehrtenherrschaft erkennbar ist, wandelt er sich mit der Zeit zum prominentesten Kritiker des politischen und intellektuellen Gedankenguts der Gelehrten und der Islamischen Republik. MalekyÁn stellt selbst über seine von vielen Brüchen gekennzeichnete politisch-geistige Entwicklung fest, dass er bisher fünf Etappen durchlaufen habe. In der ersten Phase, etwa zwischen 1973 und 1984, also in den wenigen Jahren vor und nach der Islamischen Revolution, war er ein Fundamentalist, allerdings ohne Gewaltambitionen, und vertrat Ideen wie die von Ayatollah Khomeini. Nachdem er vom fundamentalistischen Gedankengut enttäuscht wurde, hat er das Heil bei den TraditionalistInnen wie dem französischen Metaphysiker und zum Islam konvertierten René Guénon und dem iranischen Philosoph Hussein Nasr gesucht. Um 1988 überzeugten ihn auch die traditionalistischen Ideen nicht mehr, so hat er sich den ModernistInnen und den sogenannten religiösen Intellektuellen wie ShariÝati und Sorush zugewandt. Nachdem auch sie ihn nicht mehr zufrieden stellen konnten und er einige existenzialistische Gedankenexperimente unternahm, hat er schließlich 2001 die Lösung in der Idee ÝaqlÁneyyat va maÝnaveyyat („Rationalität und Spiritualität“) gefunden, die darauf abzielt, das Rationale mit dem Spirituellen in Einklang zu bringen.6

6

MalekyÁn (2013): S. 50-54.

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Die in diesem Buch vereinten Denker markieren eine Zeit in der iranischen intellektuellen Geschichte, die voller Brüche gewesen ist. Sie bezeugen gleichzeitig den transkulturellen Austausch, der im Grunde nicht nur ein Spezifikum der heutigen „globalisierten“ Welt darstellt, sondern durch den Zustand der Postkolonialität und der mit ihr einhergehenden Verschiebung der Erzählperspektive nur sichtbarer geworden ist. Und sie markieren einen weltweiten Prozess, der mit der Kolonisierung begann, dynamisch ist und unabgeschlossen bleibt.

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Anhang

Ganz gleich, wie sehr man in der Analyse darum bemüht ist, ein „authentisches“ Bild des jeweiligen Autors/der jeweiligen Autorin zu präsentieren, das Bild wird am Ende auch die Perspektive des Analytikers/der Analytikerin zeigen. Beim Übersetzen eines Textes hat man ebenso wenig die Möglichkeit, ihn dem Leser/der Leserin direkt zugänglich zu machen, insbesondere wenn es sich dabei um die Übersetzung ausgesuchter Textausschnitte handelt. Nichtsdestotrotz ist die Übersetzung zumindest bis zu einem gewissen Grade vom Korsett des theoretischen Rahmens einer analytischen Arbeit befreit. Ich nehme dabei Walter Benjamins Aussage als Ausgangspunkt, in der er die Aufgabe des Übersetzens zu umfassen versucht: „[Die Aufgabe des/der Übersetzenden] besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird.“1

Von jedem der hier behandelten Autoren wurde ein Text ins Deutsche übersetzt. Die Texte sind meiner Meinung nach charakteristisch für das hier als zentral erachtete Anliegen der einzelnen Autoren. Die in der Übersetzung vorgelegte Kurzgeschichte Shouhar-e emrikÁyi („Der amerikanische Ehemann“)2 kennzeichnet meiner Ansicht nach tref-

1

Benjamin, Walter (1977): Illuminationen – Ausgewählte Schriften I. Frankfurt a.M., S. 57.

2

Shouhar-e emrikÁyi wurde wie andere Werke Àl-e Ahmads in verschieden Verlagen aufgelegt. Der persische Text, welcher der vorliegenden Übersetzung zugrunde liegt, stammt aus dem Buch: Panj dÁstÁn, Teheran 1992, S. 67-82. Es liegt auf Deutsch noch die folgende Übersetzung vor: „Der amerikanische Ehe-

226 | Denken jenseits von Dichotomien

fend Àl-e Ahmads Schreibstill sowie sein politisches Denken. Als ein „extrovertierter“ Schriftsteller3 pflegte er eine Ausdrucksform, die seine Frau Simin DÁneshvar, selbst eine berühmte Schriftstellerin, als „telegraphisch, sensibel, scharfsinnig, wütend, direkt, herzlich, tugendhaft und stürmisch“ beschrieb.4 Àl-e Ahmads Sprache wurde ebenfalls als „nervös, kurz und zerhackt und gleichzeitig ausdrucksstark“ charakterisiert.5 Gleichzeitig spiegeln seine Texte ein gesellschaftspolitisches Bild wider, das er nicht nur kritisiert, sondern auch interventionistisch zu verändern versucht. Nicht zuletzt haben viele seiner Texte einen pädagogisch anmutenden Unterton. Diese widersprüchlichen Merkmale tauchen auch in der hier ausgewählten und übersetzten Kurzerzählung „Der amerikanische Ehemann“ auf, in der unterschiedliche Aspekte seiner Kritik zum Ausdruck kommen. Àl-e Ahmad diskutiert seine Kritiken am Kolonialismus und dessen Folgen in den islamischen Gesellschaften und speziell in Iran in zahlreichen Abhandlungen, auf die bereits hingewiesen wurde. Diese Kritikpunkte kommen jedoch in der hier vorgelegten Kurzgeschichte noch subtiler zum Ausdruck. Die Kurzgeschichte ist Àl-e Ahmads Metier und er versteht es dort unter Inanspruchnahme aller literarischen Möglichkeiten wie etwa der Metaphorik, der Ironie, des Zynismus, des Sarkasmus etc. seine Gedanken und Affekte zum Ausdruck zu bringen. Von ÝAli ShariÝati sind Textausschnitte aus dem Buch BÁzgasht be khishtan. BÁzgasht be kodÁm khishtan? („Rückkehr zu sich selbst. Rückkehr zu welchem selbst?“) in Übersetzung zu lesen. Das Buch gehört zu den wenigen Sammelbänden ShariÝatis, die vor der Islamischen Revolution und im europäischen Ausland herausgegeben wurden. Nach ShariÝatis Tod ist das Inte-

mann“, übersetzt von Tuka Ramin. In: Touradj Rahnema (Hrsg.) (1986): Frauen in Persien: Erzählungen. München, S. 112-120. Diese Übersetzung scheint allerdings auf einem stark verkürzten Text zu beruhen. Es gibt ebenfalls eine englische Übersetzung des Textes: Wilks, Judith (1997): „The American Husband“. In: Heshmat Moayyed (Hrsg.): Stories from Iran. Anthology 1921-1991. Washington, S. 155-167. 3

So beschreibt ihn der iranische Literaturkritiker ÝAbdolÝali Dastgheib. Vgl. http://www.bbc.co.uk/persian/arts/030912_la-taj-aleahmad.shtml (10.01.2014).

4

Vgl. ebd.

5

Ebd.

Anhang | 227

resse an ihm und seinen Gedanken explosionsartig gestiegen. Hinter seinem plötzlichen Tod im Londoner Exil wurde der Savak, der damalige iranische Geheimdienst vermutet. So wurde er bald zum Helden und Märtyrer der Islamischen Revolution. Seine leidenschaftlichen Reden und Schriften, in denen er einerseits die postkolonialen Zustände in Iran kritisierte und andererseits ein postrevolutionäres islamisches Ideal herbeizeichnete, wurden immer populärer. In Iran selbst hatte man kaum Möglichkeiten, derartige Schriften vor der Zensur des Schahs zu retten. Allem Anschein nach haben sich einige freiwillige iranische AktivistInnen im europäischen Ausland zusammengefunden, um die Vorträge und Schriften von ShariÝati redaktionell zu überarbeiten und zu veröffentlichen. Allerdings erfolgte die Islamische Revolution schnell und man verlegte die Arbeit bald nach Iran. Der 4. Band der Gesammelten Werke, aus dem die hier übersetzten Textausschnitte stammen, umfasst drei Texte: den Vortrag BÁzgasht be khishtan („Rückkehr zu sich selbst“) an der Universität Jondi ShÁpur in der Provinz AhwÁz. Der Vortrag wurde von den HerausgeberInnen redaktionell überarbeitet und niedergeschrieben. Ein weiterer Text ist eine lange und von ihm selbst verfasste Abhandlung unter dem Titel BÁzgasht be kodÁm khishtan? („Rückkehr zu welchem selbst?“). Diese wurde offensichtlich nach dem oben erwähnten Vortrag und als Antwort auf die dort gestellten Fragen abgefasst. Am Ende des Bandes erschien das von ShariÝati ins Persisch übersetzte geistige Testament von Frantz Fanon. Die Auswahl der Texte wurde, wie im Vorwort erwähnt wird, von den HerausgeberInnen getroffen. Der Bezug zwischen dem ersten und dem zweiten Text ist unverkennbar. Das geistige Testament von Fanon wurde offensichtlich deswegen in diesem Band platziert, weil ShariÝati in den beiden Beiträgen immer wieder auf ihn und seine Ideen Bezug nimmt. In seinen Ausführungen pflegt ShariÝati Fanons antikoloniale Haltung kritisch zu würdigen, seine These von der Distanz zu menschenverachtenden Politiken Europas und von der Rückkehr zu „wahren“ humanistischen Werten zu bekräftigen und schließlich sie im iranischen Kontext zu lesen. Genau aus diesem Grund habe ich mich für die Übersetzung dieser Textausschnitte entschieden. Sie charakterisieren meiner Ansicht nach zentrale Anliegen ShariÝatis, die hier diskutiert wurden: Kolonialismuskritik, Orientalismuskritik, Selbstkritik und Entwurf einer eigenen islamischen Ideologie.

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Der Übergang von einer stark revolutionär und links-ideologisch aufgeladenen Interpretation des Islam, die in der Zeit vor der Islamischen Revolution und in den ersten Jahren nach dem Erfolg der Revolution populär geworden war, hin zu einem anti-fundamentalistischen Islamverständnis, welches viele kritische DenkerInnen nach den Erfahrungen mit der Islamischen Republik zu formulieren versuchten, wurde von Sorush mit seiner Kritik an der „Islamischen Ideologie“ eingeleitet. Solange er damit die ideologische Lesart des Islam à la ShariÝati meinte, betrachteten ihn zwar einige AnhängerInnen ShariÝatis mit Argwohn, im Großen und Ganzen aber wurde er von den politisch Herrschenden geduldet. Erst als er seine Kritik an Ideologien auf die islamische Herrschaftsidelogie, nämlich die velÁyat-e faqih erweiterte, fiel er in Ungnade. Als Alternative zum herrschenden politischen System schlägt Sorush einen „demokratisch-religiösen Staat“ vor, ein Konzept, das die Hybridität schon im Namen trägt. Diese seine zentrale These diskutiert Sorush in dem hier übersetzten Beitrag. Der Text „Der demokratisch-religiöse Staat“ setzt sich aus zwei Reden Sorushs aus den Jahren 1991-92 zusammen. Die Vorträge wurden an zwei Orten, nämlich Teheran und Hamburg gehalten. Dieser Umstand darf als mehr als nur eine symbolische Bestätigung für die heutigen gemischten Kulturproduktionen verstanden werden. Zwei Jahre später (1994) erschien der Beitrag in dem Buch Farbihtar az ideÞuluji („Mehr als Ideologie“). In dem Band werden unterschiedliche Themen diskutiert wie „Imitation und Reflexion im Studium“, „Religiöser Glaube, religiöses Urteil“, „Was ist Ideologie?“, „ShariÝati und Religionssoziologie“, „Vernunft und Freiheit“, „Die kulturellen Grundlagen der Demokratie“, „Die Paradoxie der Ideologie des Modernismus“. Der Grundtenor all dieser Beiträge ist einerseits eine harsche Kritik an den zumeist marxistisch angehauchten Ideologien, die laut Sorush sowohl im Westen als auch im Orient, namentlich in Iran, zum sozialen und geistigen Unheil beigetragen haben. Zum anderen setzt er sich eindeutig für die Öffnung der Religion, Gesellschaft und Politik ein. Dabei nimmt er immer wieder auf Karl R. Popper und seine Ansätze in dem Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde Bezug und plädiert für ein politisches System, in dem die religiösen Überzeugungen mit den individuellen Freiheiten in Einklang gebracht werden. Der Artikel ist charakteristisch für Sorushs Gedanken und für den diskursiven Übergang der iranischen Gesellschaft dieser Zeit. Der Beitrag umfasst nicht nur Sorushs Hauptkritikpunkte an den islamischen Ideologien, sondern stellt ebenfalls

Anhang | 229

seinen Alternativvorschlag dar, der für die spezifischen und postkolonial geprägten politischen Zustände in Iran konzipiert wurde, und in den diskursive Stränge sowohl „westlicher“ als auch „orientalischer“ Philosophien Eingang gefunden haben. Der hier von MalekyÁn übersetzte Text Sokhani dar chand va chun-e eslÁm va liberÁlism („Einige Bemerkungen zu der Frage Islam und Liberalismus“) wurde 2002 in dem Buch RÁhi be rahÁyi. JostÁrhÁyi dar ÝaqlÁniyyat va maÝnaviyyat („Ein Weg zur Freiheit. Bemerkungen zur Rationalität und Spiritualität“) veröffentlicht. Mit diesem Buch leitet er sein „Lebensprojekt“ ein. Nach eigenen Angaben gelangt er nach einigen Irrungen und Verwirrungen durch unterschiedliche Denkströmungen von Traditionalismus bis hin zum Existenzialismus schließlich um das Jahr 2001 zur Erkenntnis, dass ein befriedigendes Leben nur durch Rationalität und Spiritualität erreicht werden könne.6 MalekyÁn setzt den intellektuellen Diskurs in der Islamischen Republik fort, der mit Sorush seinen Anfang genommen hat, und der den politischen und öffentlichen Spielraum der Religion bzw. des Islam einzuschränken versucht. MalekyÁn geht jedoch einen Schritt weiter, indem er im Gegensatz zu Sorush versucht, Kategorien wie Religion und Islam auf der einen Seite und Demokratie oder Liberalismus auf der anderen Seite differenzierter zu betrachten. Er hält die Formulierung „religiöser Intellektualismus“ genauso für paradox und wenig ergiebig wie das Konzept des „demokratisch-religiösen Staats“. Gemäß MalekyÁn kann ein/e Intellektuelle/r nur intellektuell, d.h. nach Maßgabe ihrer/seiner Vernunft handeln. Intellektuelles Denken könne, müsse aber nicht zwingend mit den Vorgaben der Religion übereinstimmen. Auch eine demokratische Regierungsform muss sich gemäß MalekyÁn nur an die demokratischen Spielregeln halten und nicht an religiösen Vorgaben. Insofern sind für ihn Sorushs Konzepte im Endeffekt widersprüchlich. Darüber hinaus führt er die Diskussion auf einer deutlich allgemeineren Ebene und damit auch in einer überkonfessionellen bzw. überregionalen Sprache. Er sieht das Spannungsverhältnis zwischen moderner Lebensphilosophie und religiöser Überzeugung als globales Problem, welches auch die muslimischen Gesellschaften prägt. So spricht er von Spiritualität an Stelle von Religiosität. Religiosität stellt für ihn eine besondere und nur für eine bestimmte historisch gewachsene Kultur ver-

6

Vgl. MalekyÁn (2013): S. 53.

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ständliche spirituelle Praxis dar. Spiritualität ist aber die gemeinsame Essenz aller Religionen, und nicht nur der monotheistischen. Dieser Wandel im intellektuellen Diskurs Irans kommt auf eine bemerkenswerte Art und Weise in dem als Übersetzung vorgelegten Text zum Ausdruck und soll daher hier einem größeren Publikum vorgestellt werden.

JalÁl Àl-e Ahmad Der amerikanische Ehemann1

… Wodka? Nein, danke. Ich vertrage keinen Wodka. Über Whisky lässt sich reden. Nur einen kleinen Schluck. Vielen Dank. Nein. Ich vertrage auch kein Wasser. Haben Sie kein Soda? Schade. Ach je, die schmutzigen Gewohnheiten dieses Mistkerls haben sich auch auf mich ausgewirkt. Wenn Sie wüssten, wie er Whisky Soda trank! Solange ich im Haus meines Papas lebte, hat Whisky nicht einmal meine Lippen berührt. Mein Papa trinkt selbst immer noch keinen Whisky, überhaupt keinen Alkohol. Nein, nicht dass er etwa gläubig oder religiös wäre. Aber gut, es war eben in meiner Familie nicht üblich. Aber das erste, was mir dieser Mistkerl beigebracht hat, war das Mixen von Whisky Soda. Immer wenn er von der Arbeit zurückkam, musste er im Flur schon seinen Whisky Soda bekommen, noch bevor er sich die Hände wusch. Wenn ich gewusst hätte, was er mit diesen Händen machte! … Wenn er nicht zu Hause war, überkam mich manchmal das Verlangen, von seinem Whisky zu kosten. Natürlich solange meine Tochter noch nicht auf der Welt war und ich vor lauter Einsamkeit nicht wusste, was ich tun sollte. Aber ich mochte das Zeug nicht. Es brannte ekelhaft in meiner Kehle. Wie sehr er auch darauf bestand, dass ich mittrinke – keine Chance. Aber als ich schwanger wurde, zwang er mich, Bier zu trinken. Er meinte, dass das gut für meine Milch sei. Aber niemals Whisky. Daran hatte ich mich nie gewöhnen können. Aber an jenem Tag, an dem ich von seinem Beruf erfuhr, trank ich unwillkürlich den Whisky in

1

Der Text mit dem Originaltitel Shouhar-e emrikÁyi wurde aus dem folgenden Buch entnommen: Àl-e Ahmad, JalÁl (1992): „Shouhar-e emrikÁyi“. In: Ders. Panj dÁstÁn. Teheran, S. 67-82.

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einem Zug aus. Ich goss mir einen ein. Dann schenkte ich seinem Girlfriend, seiner sogenannten früheren Verlobten, auch einen ein. Schließlich war sie es, die kam und mich aufklärte. Wir setzten uns zusammen, tranken Whisky und schütteten uns das Herz aus. Es flossen auch nicht wenige Tränen. Stellen Sie sich mal vor, eine Frau mit Abitur, hübsch – Sie sehen es ja selbst … – der Vater ein angesehener Mann, keine finanziellen Schwierigkeiten, mit Englischkenntnissen – die sich in keiner Hinsicht mit jedem beliebigen Mann hätte abfinden müssen – und dann so etwas?! Kann man sich so etwas überhaupt vorstellen? Es gibt so viele gebildete Männer in diesem Land, so viele Ingenieure und Ärzte … Aber letztlich rennen diese Idioten auch immer wieder los und holen sich europäische oder amerikanische Frauen. Sie heiraten die Briefträgerin aus ihrem Viertel oder die Kassiererin des Supermarkts an der Ecke oder die Zahnarzthelferin, die ihnen einmal Watte in die Zahnlücke gestopft hat. Und wie sie dann mit ihnen angeben und prahlen, als ob es Susan Howard, Shirley MacLaine oder Elizabeth Taylor wäre. Lassen Sie mich erzählen! Vor kurzem habe ich abends eines dieser Mädchen getroffen. Die vor zwei Monaten so einen Iraner geheiratet hatte und vor vierzehn Tagen hierhergekommen war. Man hatte ihrem Mann ein Telegramm geschickt, er solle kommen, er sei Kongressabgeordneter geworden. Der Vermieter hat mich dann quasi geholt, damit der ausländische Gast nicht so alleine ist und jemanden zum Reden hat, der seine Sprache beherrscht. Das war genau vor einer Woche. Mit ihrem texanischen Akzent und den paar Wörtern, die sie überhaupt nur kannte … nein, lachen Sie nicht, ich scherze nicht – riss sie ihren Mund so weit auf, dass es schon unbeschreiblich ist. Ihre Fingernägel waren noch immer rau. Es war offensichtlich, dass sie täglich haufenweise Geschirr gespült hat. Wissen Sie, was sie sagte? Sie sagte: „Wir sind gekommen und haben euch die Zivilisation gebracht. Von uns habt ihr gelernt, wie man mit dem Gasherd und der Waschmaschine umgeht …“ und so weiter. An ihren Händen sah man aber, dass sie in Texas die Wäsche noch im Waschzuber geschrubbt hat. Und dann solche Wichtigtuerei! Sie war die Tochter eines Viehtreibers. Aber der war nicht einer von denen, auf deren Land Öl entdeckt wird und die dann größenwahnsinnig werden. Nein, ihr Vater war so einer, der das Vieh anderer Leute hütet. Natürlich habe ich nichts dazu gesagt. Aber jemand anderes fiel ihr in gebrochenem Englisch ins Wort: „Wenn es das ist, was Sie mit Zivilisation meinen, dann kann die Firma, welche mit den Waschmaschinen auch Sie als Geschenk zu uns geschickt hat, gleich alles

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behalten.“ Natürlich verstand das Mädel nicht, worum es ging. Das heißt, sie verstand das Englisch des Mannes nicht. Notgedrungen übersetzte ich es für sie. Anstatt jedoch dem Kerl über den Mund zu fahren, meinte sie zu mir: „Du warst wohl eine mürrische Schlampe, dass dein Mann sich von Dir hat scheiden lassen?!“ Sie sagte das genau so deutlich. Um die scharfen Worte des Mannes wiedergutzumachen und sie aus ihrer Einsamkeit zu holen, hatte ich ihr mein Herz ausgeschüttet und ihr erzählt, dass ich in Amerika war, dass ich einen amerikanischen Ehemann hatte, dass ich mich schließlich scheiden ließ, und dass ich dann zurückgekehrt bin. Und als ich ihr erzählte, wo mein Ehemann arbeitete und wie ich mich aus diesem Grund von ihm scheiden ließ, wissen Sie, was sie da sagte? Sie sagte, daran sei nichts auszusetzen, man brauche sich für keine Arbeit zu schämen … Wahrscheinlich sei es eher so gewesen, dass seine Familie mich abgelehnt hätte, damit mein Kind nicht seinen Besitz erbe. Oder vielleicht sei ich zu mürrisch und zänkisch gewesen und solche Sachen. Sie hat sich kein bisschen zurückgehalten, obwohl sie doch gerade erst ein paar Tage hier war, sondern sich extrem aufgespielt. Da sieht man es wieder; ihr Ehemann war eben Parlamentsabgeordneter. Also, wenn diese Idioten nicht diese Flittchen heiraten würden, dann müsste ein Mädchen wie ich nicht durch die Hölle gehen … Nein, vielen Dank. Schenken Sie mir nicht so viel ein. Mir wird schlecht davon. Ein leerer Magen und Whisky! Nur noch ein Schluck, dann ist es genug. Wenn Sie noch ein kleines Stück Käse dazu hätten, wäre es nicht schlecht … Danke. Oh! Ist das Käse? Wieso ist er so weiß? Und so salzig! Woher kommt der? … Liqvan? Wo liegt das denn? … Kenne ich nicht. Ich kenne holländischen und dänischen Käse, aber diesen … mag ich überhaupt nicht. Mit Pistazien ist besser. Danke. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Ich lernte ihn im amerikanischen Club kennen. Seit einem Jahr ging ich zum Englischkurs. Sie wissen ja, was das für ein Schlamassel ist. Nachdem ich meinen Schulabschluss gemacht hatte, schrieb ich mich für die Aufnahmeprüfung an der Universität ein. Aber gut, Sie wissen ja; wie kann man die als einer von 20.000 oder 30.000 Leuten bestehen? So schlug mein Papa einen Sprachkurs vor. Da sei ich beschäftigt und würde auch noch eine Fremdsprache lernen. Und da war dieser Mistkerl Kursleiter. Er war groß, gut gebaut, blonde Haare. Ein echter Amerikaner. Und was für große Hände er hatte. Sie bedeckten das ganze Arbeitsheft. Kurz gesagt, wir gefielen einander. Von Anfang an. Er war auch sehr höflich. Zu allererst lud er mich zu einer Gemäldeausstellung ein. In den neuen Club in Ab-

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basabad. Das war diese Art von Kunst, wo sie einen Kopf ohne Körper malen oder Massen von Farbe zusammenkleistern oder ein Sofakissen zeichnen, das sie dann Mensch nennen, mit einem Becher auf dem Kopf, oder zwei braune Flecken auf zwei Meter Leinwand. Er hatte auch Papa und Mama eingeladen. Sie freuten sich riesig. Danach brachte er uns mit seinem eigenen Auto nach Hause. Und wie höflich er war. Er hielt uns die Autotür auf und solche Sachen, und dies alles für Papa und Mama, die immer noch kein Auto hatten. Ist ja klar, von da an nahm alles einfach seinen Lauf. Als nächstes lud er mich zu einer Tanzveranstaltung ein. Es war eines von ihren Festen. Ich glaube, es war „Thanksgiving“. Oh! Wie können Sie das nicht kennen? Es gibt Amerika und es gibt „Thanksgiving“. Das ist die Dankesfeier. Der Tag, an dem die Amerikaner die letzten Indianer beseitigt haben. Papa hatte es natürlich erlaubt. Und warum sollte er es auch nicht? Ich hatte ja außerhalb des Unterrichts niemanden, um mein Englisch zu verbessern. Und wenn man eine Sprache nicht spricht, dann hat die ganze Lernerei keinen Sinn. Außerdem hatten wir vereinbart, dass ich ihm Persisch beibringe. Natürlich außerhalb des Unterrichts. Er kam einmal in der Woche deswegen zu uns nach Hause. Wir haben uns also verabredet. Sie wissen gar nicht, was für ein Fest das war! Sie hatten in Kürbisse Löcher in Form von Augen, Nase und Mund geschnitten und darin Kerzen angezündet. Und was für Tänze! Jetzt verstand ich auch recht gut Englisch, so dass ich nicht am Rande stehen musste. Außerdem waren dort auch viele Iraner. Obwohl er mich an diesem Abend ebenfalls etwas gedrängt hatte, trank ich kein Bier. Ihm schien auch das zu gefallen. Denn, als er mich nach Hause brachte, gratulierte er meiner Mutter dazu, was für eine wunderbare Tochter sie hätte – was ich ihr dann übersetzte. Ich war zu einer halben Übersetzerin geworden. So waren wir acht Monate zusammen. Wir waren auf dem KarajStausee bootfahren, gingen ins Kino oder ins Museum oder auf den Bazar. Wir fuhren nach Schemiran und Schah Abdolazim und zu vielen anderen Orten, die ich wohl nie gesehen hätte, wäre er nicht gewesen. Am „Weihnachtsabend“ lud er uns schließlich zu sich nach Hause ein. Sie wissen doch, was der „Weihnachtsabend“ ist, oder? Papa und Mama waren auch da. Fefer war auch da. Sie kennen ihn nicht? Das ist doch der Name meines Bruders. Fereydun. Man hatte ihm zwei gebratene Truthähne aus Los Angeles geschickt … Oh! Also, was wissen Sie denn eigentlich? Das ist doch der Ort, an dem auch „Hollywood“ ist. Nein, nicht nur er hat welche bekommen. Man schickt sie allen, damit sie am Feiertag kein Heimweh ha-

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ben. Wenn man so jemanden wie diesen Mistkerl für solch’ einen Job nach Teheran schickt, bekommt er natürlich auch Truthähne, Bier, Zigaretten, Whisky und Schokolade. Glauben Sie mir, ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er ein Mörder, ein Dieb, ein Verbrecher oder ein Gangster gewesen wäre, aber nicht das … Danke, noch ein Schluck von dem Whisky. Oh, das scheint kein amerikanischer Whisky zu sein. Die trinken „Bourbon“. Es schmeckt ein bisschen erdig. Ja, das ist ein Scotch. Sehr erfrischend. So wie die Engländer selbst. Gut, wo war ich stehengeblieben? Ach ja. An jenem Abend machte er mir einen Heiratsantrag. Ganz formell beim Abendessen. Sogar dabei war ich selbst die Dolmetscherin. Interessant, oder? Niemand hat sich bis jetzt auf diese Art verlobt. Zuerst tranchierte er den Truthahn und legte uns auf. Danach öffnete er eine Flasche Champagner und goss davon auch meiner Mutter und meinem Vater ein. Er schenkte allen ein. Natürlich trank Mama nichts. Aber Papa. Ich nippte auch ein bisschen. Zuerst war es scharf und herb. Aber als die Schärfe schwand, blieb ein süßlicher Geschmack zurück. Dann bat er mich, meinem Vater zu sagen, dass er um meine Hand anhalte. Er bestand darauf, dass ich alles Satz für Satz und sehr genau übersetzte. Er habe seinen Militärdienst abgeleistet. Er müsse keine Steuern zahlen. Er hätte die Blutgruppe B. Er sei nicht krank, verdiene 1500 Dollar im Monat und wenn er zurückkehre, seien es 800 Dollar. In Washington habe er aber ein eigenes Haus, für das weder Miete anfiele noch er einen Kredit zurückzahlen müsse. Und dass seine Eltern zwar auch in Los Angeles lebten, aber sich nicht in sein Leben einmischten und so weiter. Papa war von Anfang an einverstanden gewesen. Er hatte selbst zu mir gesagt: „Pass’ gut auf mein Mädchen, nicht eine von Tausend wird die Frau eines Amerikaners. Das ist kein Spaß. Die anderen kriegen es einfach nicht hin.“ Ich habe seine Worte noch immer im Ohr: „Aber Du musst selbst entscheiden. Du bist diejenige, die mit dem Mann leben muss. Bitte ihn um eine Woche Bedenkzeit, damit Du genau überlegen kannst.“ Genau das haben wir auch gemacht. Natürlich war die Sache eigentlich von Anfang an klar. Die ganze Familie wusste davon. Es gab zwei, drei Einladungen, Partys und solche Sachen. Und wie viel Neid es gab! Und wie ihm die Mädchen vorgeführt wurden. Alle meine Cousinen haben sich mit mir wegen ihm zerstritten. Mein Vater hatte Recht gehabt. Es war wirklich kein Spaß. Alle Mädchen hätten sich das gewünscht. Aber der Typ hatte um meine Hand angehalten. Welchen Sinn hätte es gemacht, mich selbst zu opfern und ihm ein anderes Mädchen an meiner statt vorzuschlagen? Von all

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den Leuten murrte nur meine Großmutter. Sie sagte: „Es gibt in unserer Familie welche aus Kashan, aus Isfahan und sogar aus Buschehr. Das kennen wir alles. Aber einen Amerikaner hatten wir noch nicht. Woher sollen wir wissen, was für einer das ist? Was sollen wir mit einem Ehemann, über dessen Angelegenheiten wir nichts, aber auch gar nichts durch seine Familie oder seine Nachbarn herausfinden können?“ So tratschte und lästerte sie. Zur Hochzeit kam sie auch nicht. Sie fuhr extra nach Maschhad, um nicht dabei zu sein. Aber ich war überglücklich. Wir hatten einen bekannten Standesbeamten nach Hause bestellt. Die ganze Familie war versammelt und auch ein paar Amerikaner. Und wie viele Fotos von unserer Trauung gemacht wurden! Einer der Freunde meines Mannes filmte das Ganze sogar. Aber Gott bewahre uns vor diesen Amerikanern! Sie wollten alles ganz genau wissen. Stellten mir Fragen über Fragen. Ich war immerhin die Braut. Aber hatten sie das überhaupt kapiert? Wie heißt das? Warum reibt man die Zuckerhüte so gegeneinander? Was steht auf dem Brot? Woher kommt die wilde Raute? … Aber wie dem auch sei, es ging vorbei. Schon bei der Hochzeitsfeier stellten sie Leute aus unserer Familie, die schon ewig arbeitslos waren, als Fahrer ein. Als Morgengabe bestimmte er 100.000 Tuman. Bei der Trauung sprach er auch das islamische Glaubensbekenntnis aus. Mit welcher Mühe! Und wie wir lachten über seine Aussprache! Unsere Heirat sollte eben auch nach islamischem Recht gültig sein. Und sein Beruf? Gut, er war eben Englischlehrer. Und auf der Heiratsurkunde schrieb man dann Jurist. Zwei Botschaftsangehörige waren seine Trauzeugen. Ich hätte ihn für die Lüge, die er da erzählt hatte, ins Gefängnis werfen lassen können. Ich hätte ihn auf Schadensersatz verklagen können. Zumindest hätte ich ihn dazu zwingen können, noch weitere 600 Dollar zu den 400, die er für den Lebensunterhalt meiner Tochter zahlt, dazuzulegen. Aber was hätte das genützt? Ich wollte ihn nicht einmal mehr sehen. Ich wollte nicht einmal mehr eine Stunde mit ihm verbringen. Deshalb stimmte er auch schließlich zu, mir das Kind zu geben, denn sonst hätte er es nach ihrem eigenen Recht auch bei sich behalten können. Natürlich habe ich ihm die Morgengabe erlassen. Soll er sich doch mit dem Geld begraben lassen! Wenn Sie wüssten, wie er sein Geld verdient hat! Wie soll man sich aus so einem Geld eine Goldkette machen lassen und sie um den Hals tragen? Oder Fleisch und Reis kaufen und dann davon essen? Genau das Gleiche sagte an dem Tag auch das Mädchen – sein Ex-Girlfriend, seine Geliebte, seine Verlobte. Was weiß denn ich. Es war das erste und das letzte Mal,

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dass ich sie gesehen habe. Sie kam mit dem Flieger direkt von Los Angeles nach Washington. Gleich am Flughafen mietete sie sich ein Auto und kam direkt zu uns nach Hause. In den zwei Jahren, die ich bereits in Washington war, hat sich keiner aus seiner Familie bei uns gemeldet. Er sagte dazu, der Weg ist zu weit und alle haben viel zu tun und so weiter. So war es für mich auch angenehmer – ohne Aufpasser. Manchmal schrieb ich ihnen oder sie mir. Ich schickte ihnen auch Bilder von meiner Tochter. Sie schickten ihr Geburtstagsgeschenke. Fotos von ihrem ersten Geburtstag haben wir ihnen auch noch geschickt. Danach hörten wir nichts mehr, bis dieses Mädchen auftauchte. Sie begrüßte mich, stellte sich vor und fragte mich sehr höflich, ob ich mich so alleine nicht langweile und wie hübsch unsere Tochter sei und so weiter. Ich war mit der Waschmaschine zugange, an der irgendetwas kaputt war. Ohne jede Verlegenheit half sie mir. Wir reparierten die Waschmaschine und füllten die Wäsche ein. Dann setzten wir uns hin und sie begann, von sich zu erzählen. Sie sagte, er sei ihr Verlobter gewesen, als man ihn in den Koreakrieg geschickt habe. Nach dem Krieg wäre er nicht nach Los Angeles zurückgekommen, sondern hätte in Washington Arbeit gefunden. Nur Gott allein wisse, was man mit den jungen Männern in Korea gemacht hätte, dass sie nach ihrer Rückkehr bereit gewesen wären, eine solche Arbeit zu übernehmen. Da fragte ich: „Was denn für eine Arbeit?“ Sie war bass erstaunt, dass ich noch nicht wusste, welcher Arbeit mein Ehemann nachging. Sie sagte dann schnell, natürlich sei keine Arbeit eine Schande. Aber seine ganze Familie hätte aufgrund dieser Arbeit den Kontakt zu ihm abgebrochen. Was auch immer er ihnen erzählte, es hatte keinen Zweck … Nun bekam ich wahnsinnige Angst, er könnte ein Henker sein oder Vollzugsbeamter für die Gaskammer oder den elektrischen Stuhl. Aber sogar diese Art von Arbeit kann man als legale Tätigkeiten ansehen. Aber seinen Beruf? Als sie die Bezeichnung nannte, wurde mir so schwarz vor Augen, dass das Mädchen aufstand, zur Bar ging, die Whiskeyflasche herausnahm, mir ein Glas einschenkte – und für sich selbst auch. So ging es dann weiter … Er sei ihr dritter Verlobter gewesen, den sie so verliere. Einer von ihnen kam im Koreakrieg ums Leben. Der zweite sei in Vietnam geblieben, und der letzte entpuppte sich als so einer. Sie sagte, man könne gar nicht begreifen, warum selbst die, die zurückkommen, entweder solch’ seltsame Berufe ergreifen, oder durchdrehen und zu Dieben und Mördern werden … Und sie fragte mich, wie es möglich sei, dass ich bis jetzt nicht herausgefunden hätte, was mein Mann macht. Schließlich sei

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ich nicht die Tochter eines Hausmädchens, ein Waisenkind oder ein Straßenmädchen. Ich hätte Abitur, käme aus gutem Hause, sei hübsch und so weiter … Ja, danke schön. Ein weiterer wäre nicht schlecht. Ihre Gäste sind ja immer noch nicht gekommen. Meine Kehle wird richtig trocken. Das Schlimme daran war, dass ich begann, das Mädchen zu mögen. Sie war hübsch und adrett. Und sie sagte, dass sie seit sieben Jahren in Los Angeles versuche, entweder einen Ehemann zu finden oder ein Filmstar zu werden. Dann gingen wir gemeinsam die Wäsche aufhängen, setzten meine Tochter mit dem Kinderwagen ins Auto und fuhren zu dem Ort, an dem mein Mann arbeitete. Denn ich konnte es noch immer nicht glauben. Solange ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, hätte es keinen Zweck gehabt. Zuerst fuhren wir zu seinem Büro. Man begrüßte uns und fragte, wie man uns helfen könne. Und was für Bilder da aufgehängt waren, von Parks, Bäumen und Rasenflächen. Wenn man nicht Bescheid gewusst hätte, worum es hier geht, hätte man meinen können, sie würden Häuser für die Flitterwochen bauen. Und alles nach Maß: die Form, die Scharniere und Griffe auf beiden Seiten, Blumengestecke darauf. Die Holzart ganz nach Geschmack, den Stoff zum Ausschlagen und was für ein Trallala. Und die Kutsche, die ihn wegbrachte. Mit wie vielen Pferden? Oder, wenn es mehr zusagt, ein Auto – dann ist es billiger. Welches Modell? Wie viele Begleitpersonen benötigt werden und was sie dafür bekommen, um sich mehr oder weniger gefühlvoll zu geben. Welche Verwandten sie im Einzelnen darstellen sollen und welche Kleidung sie tragen müssen und in welcher Kirche … Ich weiß nicht, ob Sie genau verstehen, was ich Ihnen erzähle. Überall im Büro waren Werbebroschüren, Streichhölzer und Servietten mit bunten Bildern, Infos und Sprüchen wie „ewiger Schlaf in Samt“ oder „dieser oder jener Park ist ein zweiter Paradiesgarten“ und noch mehr solcher Sachen. Die Angestellten umschwärmten uns und fragten, ob wir es für eine Einzelperson oder für eine Familie wollten. Für wie viele Personen? Sie sagten, es lohne sich für die ganze Familie vorzusorgen, das sei 50 % billiger. Wir könnten auch in Raten zahlen … Mein Herz war kurz davor, zu zerspringen. Ich konnte nicht fassen, dass das der Beruf meines Mannes war. Er hatte doch gesagt, er sei Jurist – „lawyer“! Wortwörtlich. Letztendlich stellten wir uns vor und ließen uns die genaue Adresse geben, wo mein Mann arbeitet. Nein, wir wollten nicht, dass sie Verdacht schöpften. Wir sagten, sie sei die Schwester meines Mannes und aus Los Angeles gekommen, müsse aber an diesem Abend noch zurück. In einer dringenden Angelegen-

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heit wolle sie ihn sprechen, und ich wisse nicht genau, wo mein Ehemann heute arbeite … Dann gingen wir – direkt zu seinem Arbeitsplatz. Ich konnte es immer noch nicht glauben, bis ich ihn hinter einer Reihe von Buchsbäumen sah. Er hatte seine Ärmel hochgekrempelt, trug einen Arbeitsanzug und vermaß den Rasen. Er markierte ein Rechteck, warf den Presslufthammer an, grub die Seitenränder aus und ging zur nächsten Fläche. Danach kamen zwei Schwarze, hoben die Rasenplatten ab und luden sie auf einen kleinen Lastwagen. Dann kam mein Mann wieder, grub mit dem Presslufthammer die Erde weiter auf und die zwei Männer schaufelten sie auf einen anderen Lastwagen. So tauchte mein Mann aus der Grube auf und verschwand wieder darin. Und danach einer der beiden Schwarzen. Aber alle drei trugen die gleichen Arbeitsanzüge. Und wie exakt sie arbeiteten! Sie ließen auch nicht ein bisschen Erde auf den Rasen fallen. Wir beide saßen im Auto, beobachteten sie etwa eine halbe Stunde lang durch die Buchsbäume am Straßenrand und weinten uns die Augen aus. Ununterbrochen fuhren neben unserem Auto Lastwagen vorbei und luden entweder Erde und Rasen auf oder brachten neue Särge und reihten sie in der Erwartung auf dem Rasen auf, dass die Totengräber die Gruben fertigstellten. Es war die Zeit, als man die Soldaten aus Vietnam zurückbrachte. Gruppenweise. Zwei oder dreihundert pro Tag. So waren sie alle wahnsinnig beschäftigt. Außer dem Team meines Mannes arbeiteten noch zehn oder zwölf andere Teams dort. Jedes dieser Teams arbeitete auf einer Seite des Parks. Und was für ein Park! Er wird Arlington genannt. Bestimmt haben Sie schon davon gehört. Es gibt die amerikanische Hauptstadt und es gibt Arlington. Das ist in der ganzen Welt bekannt. Amerika und Arlington gehören zusammen. Das alles hat mir das Mädchen an diesem Tag erklärt. Sie sagte, dass dieser Ort seit den Unabhängigkeitskriegen berühmt geworden sei. Auch Kennedy ist dort beerdigt. Und die Leute kommen, um das Grab zu sehen. Es gibt eine Ehrenwache mit einer großen Zeremonie für die Wachablösung. Überall, wo du hinschaust, sind Rasen und kleine Hügel und darum herum Bäume und Buchsbaumhecken. Am Kopfende ist für jeden ein weißer Grabstein aufgestellt mit den Lebensdaten. Die Generäle hier, die Offiziere dort und die einfachen Soldaten ganz auf der anderen Seite. Das Mädchen sagte: „Schau nur, ganz nach der militärischen Ordnung!“ Ich weiß nicht, ob Sie genau verstehen, was ich Ihnen erzähle! Das Mädchen sagte: „Alle Anstrengungen Amerikas finden hier ihr Ende!“ … Wie war sie empfindsam! Sieben Jahre warten und dabei drei Verlobte ver-

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lieren! Sie zeigte mir die Grabmale der beiden und das von Kennedy und den Platz, an dem die Wachablösung stattfindet. Dann kehrten wir zurück. Ich hatte keine Lust auf Besichtigungen. Wir aßen auch draußen zu Mittag. Dann gingen wir ins Kino. Meine Tochter quengelte die ganze Zeit und ich verstand überhaupt nicht, worum es in dem Film ging. Um vier Uhr nachmittags brachte das Mädchen uns nach Hause und fuhr weg. Sie hatte ein günstiges Hin- und Rückflugticket gekauft und musste am selben Tag zurückfliegen. Und wissen Sie, was das letzte war, was sie sagte? Sie sagte: „Die waren alle so in die Welt des Krieges verwickelt, dass sie darüber unsere Welt ganz vergessen haben.“ … Und als mein Mann am Abend nach Hause kam, brachte ich das Thema dann zur Sprache. Das heißt, nachdem das Mädchen gegangen war, grübelte ich lange nach und beriet mich am Telefon mit meinen iranischen Freunden und Bekannten. Zuallererst erinnerte ich mich an den Tag, an dem er darauf bestand, Mesgarabad zu besuchen. Vor unserer Hochzeit. Es war so, als würden wir ins GolestanMuseum gehen. Ich wusste damals noch gar nicht, was Mesgarabad ist und wo es liegt. Ich sagte bereits, ohne ihn hätte ich viele Orte in Teheran nicht kennengelernt. Und auch an diesem Tag war mir der Ort eben unbekannt. Der Chauffeur aus seinem Büro wusste, wo es war. Und ich übersetzte mal wieder. Er stellte so viele Fragen über unsere Bestattungsriten. Ich hatte davon aber keine Ahnung. Der Chauffeur war Armenier und kannte daher unsere Bestattungsriten auch nicht. Aber er holte einen der Pförtner von Mesgarabad. Der erzählte dann und ich übersetzte. Damals verstand ich gar nicht, was er mit dieser Fragerei beabsichtigte. Aber ich erinnere mich, dass meine Großmutter diesen Vorfall als einen weiteren Grund zum Murren nutzte: „Was soll das bedeuten? Der gottlose Mann hält um die Hand unserer Tochter an und nimmt sie mit nach Mesgarabad?“ … Ich erinnere mich aber, dass an jenem Tag noch ein anderer Amerikaner dabei war. Als ich ihnen die Erklärungen des Pförtners übersetzte, sagte er zu meinem Mann: „Siehst du, die benutzen nicht mal Särge! In ein Stück Stoff wickeln kostet doch so gut wie nichts.“ … Ich kannte ihn. Er war Berater der Planungsabteilung. Ich glaube, die beiden hatten sogar vereinbart, mit der Planungsabteilung über diese Angelegenheiten zu sprechen. Und schauen Sie sich mich an, ich konnte mir damals auf das Gerede gar keinen Reim machen. Ich erinnere mich noch, wie er mir an jenem Tag, als er erfuhr, dass wir keine Särge benutzen, erzählte, sie würden ihre Verstorbenen wie für eine Hochzeit schminken und in Särge legen. Wenn es ältere Menschen seien,

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würden ihnen die Wangen mit Watte ausgepolstert und die Haare onduliert. Das sei alles sehr teuer. Beim Abendessen erzählte ich das dann meiner Großmutter. Sie war völlig irritiert und fing an zu schimpfen. Und an unserem Hochzeitstag fuhr sie dann nach Maschhad. Aber habe ich etwa begriffen, worum es ging? Sagen Sie selbst; ein zwanzigjähriges Mädchen, verlobt mit einem gutaussehenden, wohlhabenden und respektablen Amerikaner. Gab es denn überhaupt einen Grund zu zweifeln? Und was hatte ich schon mit Mesgarabad zu tun? Es dauerte eine ganze Weile, bis ich anfing, so über die Dinge nachzudenken wie meine Großmutter. In Washington kam es vor, dass er sich nach der Arbeit beschwerte, die Schwarzen nähmen ihnen die Arbeit weg. Und ich erinnere mich, dass ich ihn einmal fragte, ob auch Schwarze das Recht hätten, Richter zu werden? Ich hatte bis zum Schluss geglaubt, dass er „lawyer“, also Richter oder Jurist oder etwas Ähnliches sei. Wie auch immer, als er zur Tür herein kam, drückte ich ihm seinen Whiskey in die Hand, schenkte mir selbst auch einen ein, setzte mich ihm gegenüber und brachte das Thema zur Sprache. Ich hatte lange darüber nachgedacht und mir viele Ratschläge geholt. Einer meiner iranischen Freunde hatte am Telefon gesagt: „Ist doch klar! Die tun alle das Gleiche! Der ganzen Menschheit gegenüber!“ Ich antwortete ihm: „In so einem Moment fällt dir nichts besseres ein als politische Parolen?“. Natürlich wusste ich, dass mein Freund einen Groll gegen sie hegte. Sie hatten seine Papiere ungültig gemacht. Er durfte weder zurückkehren, noch bleiben. So war er gerade dabei, seine eigene Staatsbürgerschaft aufzugeben, um ägyptischer Staatsbürger zu werden. Ich hatte auch nicht den Nerv, ihm zu sagen, warum er denn dann in Amerika geblieben sei. Wissen Sie, was ein anderer meinte, der ein gutaussehender junger Mann war, und von dem ich mir immer gewünscht hatte, seine Frau zu werden? Er sagte: „Oh Mann! Anscheinend ist dir das schöne Leben in Amerika zu viel geworden!“ Wortwörtlich. Und wissen Sie, was er von Beruf war? Garnichts! Er ließ sich nur von zwei Amerikanerinnen aushalten. Glauben Sie nicht, dass ich betrunken bin und übertreibe. Eine der beiden Frauen war Lehrerin und die andere Stewardess. Und jede hatte ein eigenes Haus. Dieser Typ blieb drei Tage in dem einen Haus und vier Tage in dem anderen. Er lebte wie ein König. Er studierte nicht und verdiente auch kein Geld. Billige Devisen bekam er auch nicht. Aber er lebte wie ein Ölscheich. Er drängte alle Iraner, ihn zu besuchen, um mit seinem Haus und seinem guten Leben anzugeben. Und er schämte sich kein bisschen! Ja, so kommt es, dass ich mit 23

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Jahren meine Tochter nehmen und hierher zurückkommen muss. Gott möge ihm vergeben! Sobald ich den Telefonhörer auflegte, klingelte es schon wieder. Ich nahm den Hörer ab. Es war noch ein junger Iraner. Er stellte sich vor. Er sei ein Freund des anderen Mannes, studiere Jura und habe gehört, ich hätte ein Problem. Ob er mir irgendwie helfen könne? Und so weiter und so fort. Ich bat ihn zu kommen – und er kam. Wir saßen eine halbe Stunde zusammen, besprachen das Problem und trafen eine Entscheidung. Jetzt war ich beruhigt. Und als mein Mann nach Hause kam, wusste ich genau, was ich wollte. Ich saß bis zehn Uhr mit ihm zusammen, wir tranken Whiskey und ich machte ihm klar, dass ich nicht länger in Amerika bleiben würde. Wie sehr er auch darauf drängte, ich solle ihm sagen, wie ich es herausgefunden hätte, ich sagte nichts. Er dachte, seine Eltern oder seine Geschwister hätten ihn verraten. Ich sagte aber absolut nichts dazu. Und wie sehr er auch darauf bestand, wir sollten an jenem Abend spazieren oder ins Kino oder in den Club gehen, und die Sache morgen klären, gab ich doch nicht nach. Nachdem ich mein letztes Wort gesprochen hatte, ging ich in das Zimmer meiner Tochter, schloss die Tür hinter mir ab und fiel einfach um wie ein Brett. Ehrlich gesagt, ich war richtig betrunken. Genau wie jetzt. Am nächsten Morgen gingen wir zum Gericht. Es war amüsant, dass der Richter sagte, das sei eine Arbeit wie jede andere Arbeit auch und könne kein Scheidungsgrund sein … Ich entgegnete ihm: „Herr Richter, wenn Sie selbst eine Tochter hätten, würden Sie sie einem solchen Mann zur Frau geben?“. Er antwortete: „Leider habe ich keine Tochter.“ Ich sagte: „Was ist mit einer Schwiegertochter?“ Er erwiderte: „Die habe ich.“ Daraufhin ich: „Wenn Ihre Schwiegertochter morgen zu Ihnen sagen würde, dass ihr Ehemann, der sich anfangs als Lehrer ausgab, jetzt einer solchen Arbeit nachgeht, oder dass er überhaupt gelogen habe …“ Da mischte sich mein Mann ein und unterbrach mich. Er wollte nicht, dass der Richter von seinen Lügen erfährt. Ja, genau so hat er sich einverstanden erklärt. Er unterzeichnete die Unterhaltsregelung für meine Tochter, und ich ließ mir auch sofort das Geld für meinen Rückflug von ihm geben. Das war es also, dass ich mit einem Amerikaner verheiratet war. Bitte, seien Sie doch so freundlich und schenken Sie mir noch ein Glas Whiskey ein. Ich frage mich, warum Ihre Gäste nicht kommen … Aber … Oh, was bin ich doch für eine Idiotin! … Hoffentlich hat mich dieses Mädchen nicht ausgetrickst! Sein Girlfriend meine ich. Oder?

ÝAli ShariÝati Rückkehr zu sich selbst1

Was soll man machen angesichts der Tatsache, dass der Westen allen Menschen ihre natürlichen kulturellen, kreativen und autonomen Grundlagen entrissen und sie zu bedürftigen, jämmerlichen, abhängigen und nur noch reproduzierenden Sklaven gemacht hat? Ein Konzept, welches die Intellektuellen überall auf der Welt in den letzten fünfzehn Jahren zur Bekämpfung des Kolonialismus vorschlagen, ist die „Rückkehr zum eigenen Ich“. Ein guter Ansatz. Ich möchte aber hier die Frage aufwerfen, zu welchem Ich diese Rückkehr erfolgen sollte. Ist es das Ich, von dem Aimé Césaire spricht, oder mein iranisches Ich? Denn sein Selbstverständnis unterscheidet sich von meinem. Unser Selbstverständnis unterscheidet sich, wenn ich hier als ein iranischer Akademiker und Aimé Césaire oder Frantz Fanon als Akademiker aus Afrika oder den Antillen die Rückkehr zu sich selbst fordern. Nachdem wir von unserem eigenen Ich entleert wurden, waren wir, wie Karl Jaspers es ausdrückt, alle drei in Frankreich ausgebildet und gleich europäisiert, denn wir gingen alle in den Westen, waren Nachahmer und verwestlicht. Aber jetzt, wo wir zu den Wurzeln unserer eigenen Kultur zurückkehren wollen, müssen wir uns voneinander lösen, muss jeder in sein eigenes Zuhause zurückkehren. Aus diesem Grund muss jeder von uns Intellektuellen, die alle einstimmig von der Rückkehr zu sich selbst sprechen,

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Der Übersetzung liegen Textausschnitte aus dem folgenden Buch zugrunde: ShariÝati, ÝAli (1978d): BÁzgasht be khishtan. BÁzgasht be kodÁm khishtan? („Rückkehr zu sich Selbst. Rückkehr zu welchem Selbst?“) (GW 4). O.O., S. 21-33.

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sich die Frage stellen, zu welchem Ich er zurückzukehren will. Und dies ist eine Frage, welche in Iran noch nicht diskutiert wurde. Die Leitmotive afrikanischer Intellektueller, welche die Rückkehr zu sich selbst diskutierten, unterscheiden sich von denen der islamischen Gemeinschaft und des Iran. Der Kolonialismus hat in Afrika die Kultur auf andere Weise definiert als in den islamischen Ländern, dem kultivierten Orient und der iranischen Gesellschaft, die sowohl eine orientalisch zivilisierte Gesellschaft als auch eine islamisch zivilisierte Gesellschaft darstellt. Das, was unsere heutigen Intellektuellen in den letzten 15 Jahren äußerten, war in Wirklichkeit ein Nachplappern der Thesen von Aimé Césaire und Frantz Fanon. Und wir wissen – obgleich ich von diesen Thesen sehr überzeugt bin –, dass ein solches Nachplappern uns nicht hilft, denn der Westler hat mit mir, einem Muslim, Iraner und Orientalen auf die eine Art geredet und mit dem Schwarzafrikaner Aimé Césaire auf eine andere Art. Er sagte zur schwarzen Rasse, dass ihr Gehirn keine Zivilisation hervorbringen könne, da die Rassen auf der Welt von zwei unterschiedlichen Arten seien, nämlich kulturerschaffend und nicht kulturerschaffend. Und der NichtKulturerschaffende müsse für den Kulturerschaffenden die Schwerstarbeit und den Sklavendienst verrichten. Aber zu uns sagt er nicht, dass wir nicht kulturerschaffend seien. Er ist sogar recht höflich zu uns und schmiert uns Honig um das Maul, so dass wir vor Verlegenheit erröten. Die Westler sind zu uns gekommen und haben sich jahrelang bemüht, unsere steinernen Inschriften zu entdecken und sie zu entziffern. Unsere besten Werke und Manuskripte wurden in London und Paris abgedruckt und als größte kulturelle Zeugnisse der Welt angepriesen. Herr Gibb unterhält eine Stiftung für die Veröffentlichung unserer alten Handschriften. Sie halten es für eine gute Tat, unsere Vergangenheit zu loben. Insofern hat man uns nicht verachtet, die Westler rühmen uns und heben unsere Vergangenheit mehr hervor als wir selbst. Es ist ebenjener Westen, der zu dem intellektuellen Schwarzen [(seyÁhpust-e roushanfekr)] sagt, dass er keine Vergangenheit hätte, und dass er immer Sklave gewesen sei: Sklave der Araber, der Ägypter oder der Kopten und jetzt Sklave der Europäer. Also, was bedeutet nun die Rückkehr zu sich selbst? Was passiert? Er sagt zu dem Afrikaner, dass er keine Zivilisation besäße, zu uns aber sagt er, dass wir eine Zivilisation besessen hätten. Zu ihm sagt der Westler, dass er keine Kultur erschaffen könne, aber zu uns sagt er, dass wir eine Kultur hervorgebracht hätten. So leugnet er dem Afrikaner gegenüber dessen kulturelle Vergangenheit, und uns

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gegenüber verzerrt er die unsere. Und Verzerren ist schlimmer als Leugnen. Ich wünschte, sie hätten zu uns gesagt, dass wir in der Vergangenheit keine progressive Religion, keine Zivilisation, kein Buch, keine Wissenschaft, keine guten Sitten, ja, überhaupt nichts gehabt hätten, damit wir unserer eigenen Generation beweisen könnten, dass wir dies alles doch besaßen. Dies taten sie nicht. Mit Vergangenheit meine ich hier nicht die begrabene Vergangenheit, sondern die, welche noch immer existiert – ein lebendiges klassisches Zeitalter, das auch heute noch empfunden wird und mit dem wir noch leben. Eben jene Vergangenheit, die unsere kulturelle Identität ausmacht und auf welche wir uns stützen. Ja, eben jene Vergangenheit stellen sie mir verzerrt, dunkel, minderwertig, abscheulich und hässlich dar. Zu Aimé Césaire sagt der Westler, er habe nichts, und zu uns sagt er, dass wir alles gehabt hätten. Aber er zeichnet vor meinen Augen hässliche Portraits [von meiner Vergangenheit], so dass ich unter seinen westlichen Rockzipfel flüchte. Warum ist es heute so, dass für einen jungen Afrikaner die Rückkehr zur Altertümlichkeit, Rückwärtsgewandtheit und Vergangenheit kein Thema darstellt? Ein Schwarzer Intellektueller [(roushanfekr-e seyÁh)] ist stolz darauf, dass er Schwarz ist, dass er Afrikaner ist, und sogar dass er tribalistisch lebt – wobei seine afrikanische Vergangenheit keine ruhmreiche Vergangenheit darstellt. Aber ein iranischer, islamischer Akademiker im Orient ähnelt gar nicht den Iranern und den Muslimen. Er verspottet alles und führt uns die europäisierte Kultur vor. (S. 21-23) […] Zu welchem Selbst sollen wir also zurückkehren, zu welchem Ich? Sollen wir alle in einem unsinnigen, absolut gesetzten Konzept, genannt Menschlichkeit („Humanismus“) versinken? Humanismus und Internationalismus sind heute die Lügen, durch welche man unsere kulturelle Identität, ja unsere gesamte Existenz verneinen möchte, damit wir in einem unsinnigen und erlogenen Konzept von Menschheit, welche gar nicht existiert, verschwinden. Humanismus bedeutet die Teilhaberschaft aller Nationen an Bedeutung und Wahrheit. Es bedeutet den Zusammenschluss der Besitzenden mit den Besitzlosen. So aber wird die Beziehung zwischen uns, den Eingeborenen, den von eigener Identität und eigener Kultur entleerten Menschen, und den Europäern, die alles besitzen, zu einer Beziehung von Herr und Knecht – einer Beziehung, deren eine Seite mittellose und als Werkzeug eingesetzte Arbeiter bilden und deren andere Seite reiche Kapitalisten. Deswegen existiert auch nur der Europäer. Und wie es Sartre ausdrückt, nach Auffas-

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sung der Kolonisatoren gibt es nur 500 Millionen Menschen, die anderen zwei Milliarden und fünfhundert Millionen sind Eingeborene. [Es gibt also] nach Auffassung der Kolonisatoren den Eingeborenen und den Menschen, das heißt, den Orientalen und den Westler. Wenn also der Orientale teilhaben wollte – aufgrund dieses Humanismus, des westlichen Humanismus –, müsste er sich selbst in einem unsinnigen, verlogenen und phantastischen humanistischen System auflösen, und sein eigenes Ich und Wesen verleugnen, seine authentische Persönlichkeit und seine eigene Identität verneinen. Solange wir, wie sie es bezeichnen, Eingeborene und sie Menschen sind, ist jede Art von Teilhabe am Humanismus ein Verrat an unserer eigenen Existenz. So müssen wir uns von ihnen absondern und fernhalten, weil in dieser Gleichung die Beziehung zwischen ihnen und uns eine Beziehung von Kolonisiertem und Kolonisator ist, und was kann das wohl für eine Beziehung sein? Es ist eine Beziehung zwischen demjenigen, der aussaugt, und demjenigen, der ausgesaugt wird; demjenigen, der produziert, und demjenigen, der verbraucht; demjenigen, der sprechen darf, und demjenigen, der zuhören muss; demjenigen, der fortschreitet, und demjenigen, der imitiert. Und eine derartige Beziehung stellt die Beziehung zweier gegensätzlicher Pole dar. Es besteht also in Wahrheit keine wirkliche Verbindung, sondern es ist eine ganz und gar verlogene Beziehung. (S. 27-28) […] Wenn ich zu meinem rassisch definierten Ich zurückkehren sollte, würde ich in Rassismus, Faschismus und tribaler und rassistischer Ignoranz landen, und dies wäre eine regressive Hinwendung zum eigenen Ich. Ich möchte nicht sagen, dass Kunst ausschließlich bei den Iranern zu finden ist, sondern ich möchte sagen, dass meine Geschichte gezeigt hat, dass ich Künstler bin und auch Kunst geschaffen habe. Ich möchte sagen, dass ich ein Mensch bin und in der Geschichte auch bewiesen habe, dass ich es bin und so auch Schöpfer von Kultur und Verkörperung derGenialität. Wenn also die Rückkehr zur Rasse erfolgen sollte, so ist das Rassismus, Faschismus und Rechtsradikalismus. Es ist ein dummer und ignoranter Chauvinismus. Es ist die Rückkehr zum Eingeborenennationalismus und zu engstirnigen Mauern des Traditionalismus. Es ist die Rückkehr zu ethnischer und tribaler Erstarrung. Ich möchte nicht zur Rasse zurückkehren; ich möchte nicht zu den klassischen einheimischen Mauern zurückkehren; ich möchte die Menschen nicht in die Verherrlichung von Blut und Boden treiben. (S. 28-29) […]

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Wir haben ein antikes Selbst aus der Zeit der Achämeniden, der Sassaniden, der Aschkaniden und aus der Zeit vor ihnen. Sollen wir zu diesem zurückkehren? […] Jenes Ich ist ein antiquiertes Selbstverständnis, ein altertümliches Selbstverständnis, ein Selbstverständnis, welches der Geschichte angehört, und zu dem wir aufgrund der großen Distanz keine Bindung mehr haben. Jenes achämenidische, altertümliche, antike Selbstverständnis ist ein Selbstverständnis, welches aus der Geschichte heraus von Historikern, Soziologen, Gelehrten und Archäologen entdeckt, interpretiert und verstanden werden kann. Aber unser Volk empfindet jenes Ich nicht als sein eigenes. Die Helden, Persönlichkeiten, Genies, Ruhmestaten und Mythen jener Zeit sind für unsere Landsleute nicht mehr lebendig und inspirierend. Die Schere der islamischen Kultur hat zu einer Trennung zwischen unserem vorislamischen und unserem islamischen Selbstverständnis geführt, dass unser vorislamisches Ich nur von den Gelehrten und Fachleuten in Museen und Bibliotheken besucht und studiert werden kann. Unser Volk erinnert sich nicht an dieses. Seht euch die Steininschriften und archäologischen Zeugnisse an. Welche Emotionen lösen sie bei den Menschen aus? Wie nehmen die Menschen sie wahr? Sie denken, die Dschinn hätten sie geschrieben. Das zeigt, dass die Menschen keine Beziehung zu ihnen haben. (S. 29-30) […] Und jetzt fasse ich es in einem Satz zusammen: Wir stützen uns auf ebenjenes kulturelle islamische Selbstverständnis, und wir müssen die Rückkehr zu ebenjenem Ich auf unsere Fahne schreiben. Denn dieses ist es, welches uns vor allen anderen am nächsten steht, und es ist ausschließlich diese Kultur, die noch lebt, und die einzige geistige Kraft darstellt, mit der die Intellektuellen gesellschaftlich aktiv werden können, und die aufrüttelt. Aber der Islam muss von der Eintönigkeit und von den unreflektierten Bräuchen, welche der wichtigste Grund für seinen Niedergang sind, befreit und als ein aufklärender, progressiver und widerstandleistender Islam und als eine aufklärende und intellektuelle Ideologie dargestellt werden. Nur so nehmen sowohl die religiösen als auch die nichtreligiösen Intellektuellen ihre Verantwortung für die Rückkehr zum eigenen Selbst wahr – ein Verantwortungsgefühl, das aus einer tiefen spirituellen Erkenntnis über unsere Wirklichkeit und unsere wahre Menschlichkeit speist. Die intellektuelle Verantwortung kann sich auf dieses Kapital stützen und auf eigenen Füßen stehen. Gleichzeitig sollte der Islam sein gesellschaftlich traditionelles Image able-

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gen und zu einer Ideologie werden. Er darf nicht mehr als eine Anhäufung von gelehrten Axiomen aufgefasst werden, die zu verbreiten sind, sondern als ein selbstbewusster Glaube. Er soll nicht eine Ansammlung von Ritualen, Zeichen und Handlungen darstellen, die nur zum Erhalt einer Belohnung im Jenseits durchgeführt werden, sondern als größte Kraft verstanden werden, die dem Menschen vor seinem Tod Verantwortung, Eifer und Hingabe schenken kann. Und er soll als Katalysator der gewaltigen Möglichkeiten funktionieren, die den Intellektuellen Bewusstsein und Leidenschaft bietet, und jenes Wunder des Prometheus in dieser Generation verwirklichen lässt – ein Wunder, das durch das Bewusstsein und den Glauben entsteht und jene Kraft sichtbar macht. [Somit] sollen das Erstarren sofort zu Bewegung und die Ignoranz zu Bewusstsein transformiert werden. Und der jahrhundertelang andauernde Verfall soll sich umgehend in Wiederauferstehung und in einen revolutionären Aufstand verwandeln. Auf diese Weise sollen auch die Intellektuellen (religiös oder nichtreligiös) zu einem menschlichen, selbstbewussten, lebendigen und kraftvollen Selbstverständnis finden, gegenüber der kulturellen westlichen Kolonisierung bestehen und ihre eigene Gesellschaft, welche durch Religion betäubt wurde, nun mittels religiöser Kraft erwecken und in Bewegung setzen. Sie müssen als kreative und spirituelle Menschen bestehen. Sie müssen die Generation darstellen, die ihre eigene spirituelle Zivilisation, Kultur und Identität fortführt. Und sie müssen auch als ein Prometheus erscheinen, der das göttliche Feuer auf die Erde bringt. (S. 30-33)

ÝAbdolkarim Sorush Der demokratisch-religiöse Staat1

In der modernen Wissenschaft wird die Welt so interpretiert, als ob sie nicht von einem Gott erschaffen worden wäre. Es ist nicht so, dass man seine Existenz negiert, sondern vielmehr findet man keine Notwendigkeit, seine Existenz anzunehmen. Mit anderen Worten, man denkt, auch wenn es einen Gott gebe, könne die Wissenschaft die Welt erklären, ohne nach seinem Anteil daran zu suchen. Man kann sagen, die Wissenschaft hat nun ihre Spuren im Verhalten des Individuums und dem Funktionieren des Staates hinterlassen. In den liberalen Gesellschaften agieren die Regierungen so, als ob kein Gott existiere, und die Menschen leben so, als ob seine Existenz oder Nichtexistenz für sie keinen Unterschied mache. Der Wunsch, die Zufriedenheit Gottes zu erlangen, sowie die Beachtung seines Wohlwollens oder Missfallens sind aus der politischen und moralischen Kultur der Staaten und der Menschen verschwunden. Alle Bemühungen und Überlegungen dienen vielmehr nur dazu, die Menschen selbst zufriedenzustellen – mehr nicht. Grob gesprochen dachten die alten religiösen Regierungen (zu Zeiten der Vormacht der katholischen Päpste und der muslimischen Kalifen), so behaupteten sie zumindest, vor allem an die Zufriedenstellung Gottes und zogen eine Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes überhaupt nicht in Betracht. In der Zufriedenstellung Gottes sahen sie die Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes selbstverständlich mit erfüllt. Bei den heutigen liberal-demokratischen Staaten verhält es sich genau um-

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Der Übersetzung liegt der folgende Text zugrunde: Sorush, ÝAbdolkarim (1994a): „Hokumat-e demukrÁtik-e dini“. In: Ders. Farbihtar az ideÞuluji. Teheran, S. 273-283.

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gekehrt. Sie denken an die Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes und achten nicht auf die Zufriedenstellung Gottes. Die Problematik der demokratisch-religiösen Staaten besteht darin, die Zufriedenstellung Gottes mit der Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes auszusöhnen, also das Äußere mit dem inneren Gehalt der Religion in Einklang zu bringen und so zu handeln, dass sowohl Gott als auch die Menschen zu ihrem Recht kommen und die Integrität des Menschen sowie die Integrität der Religion unangetastet bleiben. Zugegebenermaßen haben es diese Staaten viel schwerer als die beiden anderen Staatsformen. Sofort sind wir hierbei mit der Frage nach Gott konfrontiert. Die fundamentale Frage ist jedoch, ob es überhaupt einen Gott gibt oder nicht. Wenn ja, dann stellt sich außerdem die Frage, ob es Gottesrecht gibt oder nicht. Darüber hinaus lässt sich weiter fragen, ob dieses Gottesrecht umgesetzt werden muss oder nicht. Wer um Menschenrechte besorgt ist, kann daher dem Gottesrecht, wenn es dieses denn gibt, nicht gleichgültig gegenüberstehen und die Existenz Gottes und die ihm zustehenden Rechte bei seiner eigenen Lebensgestaltung ignorieren. Das Nachdenken über Gottesrecht kann so auf keinen Fall weniger ehrenwert sein als sich mit den Menschenrechten zu beschäftigen. Den laizistischen Denkern sind diese Überlegungen vielleicht nicht ganz unbekannt. Aber sie haben ihre Gründe, in Bezug auf die Menschenrechte keinesfalls auf Gottesrecht zu verweisen und nur an die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu denken, aber nicht an die Zufriedenstellung Gottes. Diese Gründe kann man folgendermaßen zusammenfassen: 1. Wenn Gott existiert und ihm Rechte zustehen, ist er selbst in der Lage, diese Rechte zu verteidigen und für deren Einhaltung durch die Menschen zu sorgen. Er ist schließlich nicht ohnmächtig und schutzlos wie ein Mensch und bedarf daher keiner Unterstützung durch andere. 2. Gott kann man nicht unterdrücken. Auch wenn die Menschen seine ihm zustehenden Rechte nicht berücksichtigen, können sie ihn doch keine Unterdrückung erleiden lassen. Der Schutz der Menschenreche hat eine moralische Dimension und zwar die Verteidigung der Benachteiligten und Geknechteten, deren Rechte missachtet werden. Dies trifft auf Gott nicht zu.

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3. Gläubige wie Ungläubige haben viel über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes sowie seine Wesenheit gestritten. Durch diese Zwistigkeiten ist die Existenz Gottes keine unbestreitbare Tatsache mehr, sondern erscheint eher zweifelhaft und umstritten. Hier steht Überzeugung gegen Überzeugung und nicht Vernunft gegen Vernunft. Beide Seiten setzen sich nicht rein rational mit den Argumenten der anderen Seite auseinander, und dies führt dazu, dass man sich bezüglich der genannten Frage niemals einer endgültigen Antwort nähert. So wäre es ungerecht, den anderen diese Überzeugung als etwas Endgültiges aufzuerlegen und von ihnen zu verlangen, daraus zwangsläufige Konsequenzen zu ziehen. Man kann nicht von allen verlangen, in gleichem Maße und auf die gleiche Art und Weise an einen einzigen und allmächtigen Gott zu glauben. So kann man auch nicht von jedem verlangen, Gottesrecht zu wahren. Toleranz ist in dieser Angelegenheit die beste Lösung: Das Klima muss so offen sein, dass Gläubige und Ungläubige konfliktfrei miteinander leben können, und dass ihnen die gleichen Rechte zuteilwerden. Keiner soll zu etwas gezwungen sein, was ihm fremd erscheint. 4. Selbst unter der Prämisse, dass Gott existiert, können wir Gottesrecht nicht genau festlegen. Verschiedene Religionen rufen dazu auf, sich zum jeweiligen Gott zu bekennen und postulieren die Richtigkeit ihrer eigenen Lehre. Wie kann man wissen, welche wahr und welche falsch ist? Und wie kann man herausfinden, was Gott wirklich von uns verlangt? Also ist es wiederum die beste Methode, wenn der Staat keine Religion begünstigt, der gesellschaftlichen Ordnung die menschlichen Grundrechte zugrunde legt, diese Grenze nicht überschreitet und das Privatleben und das Gewissen des Einzelnen den Menschen selbst überlässt. Selbst wenn die Menschen versuchen herauszufinden, welche Religion wahr und welche falsch ist, sollte der Staat weiterhin unparteiisch bleiben, den freien Meinungsaustausch garantieren und Politik keinesfalls mit Religion vermischen. 5. Die Religion muss vor allem menschlich sein. So wie die Menschen sich für ihre Religion einsetzen, so muss die Religion für die Menschen da sein. Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Humanität sind einige der Merkmale, die jede Religion besitzen sollte. Und ihre

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Vorschriften müssen mit diesen Merkmalen übereinstimmen, damit die Religion Akzeptanz finden kann. Niemand darf gezwungen werden, im Namen Gottes, der Geschichte, der Nation oder ähnlicher Schlagworte etwas Unmenschliches, Unwahrhaftiges und Ungerechtes hinzunehmen. Der humane Charakter der Religion ist also wichtiger als göttliche Prinzipien. Menschen haben das Recht, unmenschliche Religionen abzulehnen und sie sogar aufgrund ihrer Unmenschlichkeit für gottlos zu halten. 6. So wie man nie vom Istzustand auf den anzustrebenden Zustand schließen sollte, darf man auch die Menschenrechte nicht an menschlichen Fähigkeiten und Taten messen, sonst bewegt man sich schnell auf der Ebene von Rassismus und ähnlicher Geisteshaltungen. Die Definition der Menschenrechte muss entweder auf der Schöpfungsabsicht Gottes beruhen, oder die Menschen selbst müssen eigene Lebensziele aufzeigen, deren mögliche Erreichung sie durch Rechte garantieren. Die natürlichen Rechte des Menschen bedeuten nichts anderes als ein menschlicheres Leben zu ermöglichen – mehr Sicherheit, Wohlstand und Entfaltung. Diese vernünftigen Ziele, nämlich Gerechtigkeit, Wohlstand und Befreiung von Diskriminierung, Intoleranz, Unwissenheit, Hunger, Gewalt und Unterdrückung sind die Früchte langer historischer Erfahrung. Hierin werden sie von allen vernünftigen Menschen akzeptiert, und man kann nicht nur aufgrund religiöser Dogmen über sie hinweg sehen. Die Menschheit hat genug blutige Kriege um Glaubensfragen oder Landbesitz geführt, um nun zu der Überzeugung zu gelangen, dass es besser ist, sich von gleich zu gleich zu begegnen und die gegenseitigen Rechte anzuerkennen – niemanden aufgrund seiner Hautfarbe, Sprache, Herkunft und Religion zu benachteiligen. Es reicht, ein Mensch zu sein, um bestimmte Rechte zu besitzen. Kriterien wie Rasse, Hautfarbe, Nationalität, Religion, Sprache, Herkunft und Klasse haben darauf keinen Einfluss. 7. Gerechterweise sollten wir die Rechtsungleichheit zwischen den Menschen als etwas nur Erworbenes ansehen. Demnach sollten niemandem aufgrund seiner Religion, seiner Familienzugehörigkeit, Herkunft oder Stammeszugehörigkeit besondere Rechte zugesprochen werden. Diese Ansicht steht im Gegensatz zu der Auffassung von einigen Rassisten,

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fanatischen Gläubigen oder Nationalisten. Diese nehmen für sich besondere Rechte in Anspruch, behandeln andere ungerecht und sprechen ihnen das Recht auf freie Wahl der Religion, des Ehepartners, der Nationalität und der Lebensführung ab. 8. Die Geschichte zeigt, dass die religiösen Gebote und Inhalte durch religiöse Autoritäten und Geistliche ständigen Wandlungen unterworfen waren: Einst brachte die Kirche Ungläubige und Ketzer auf den Scheiterhaufen, und Muslime gestatteten keine Anwesenheit von Frauen im Parlament. Heute hat sich vieles verändert. Daher kann man auch nicht von solch wandelbaren Standpunkten ausgehend Gottes- und Menschenrecht definieren und alle Menschen zu deren Einhaltung auffordern oder gar zwingen. Dies alles sind Argumente des verunsicherten Menschen von heute, der in seiner Verunsicherung nicht zu verurteilen ist. Im Abendland haben Wissenschaft, Philosophie und Technik so mit Menschenverstand und -wahrnehmung gespielt, hat der Historizismus einen derartigen Sturm ausgelöst, und war die Geschwindigkeit des Wandels der wissenschaftlichen und philosophischen Theorien derart rasant, dass kein Platz mehr für Gewissheit blieb. Toleranz im Glauben ist das Ergebnis der Fehlbarkeit der Erkenntnistheorie. Die Fehlbarkeit der Erkenntnistheorie ist das, was den alten Dogmatismus verdrängt hat. Der Unterschied zwischen der neuen und der alten Welt besteht in Verunsicherung versus einem festgefügten Weltbild. Eben jene Unterscheidung hat in der neuen Welt dazu geführt, dass der Mensch nun höher eingestuft wird als der Glaube, während in der alten Welt der Glaube einen höheren Stellenwert hatte als der Mensch. Aufgrund des Glaubens töteten Menschen und wurden getötet. Heute allerdings gilt das Töten aufgrund des Glaubens als untragbar und als eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechte.2 So sprechen die hier aufgeführten Argumente niemandem das Recht auf einen eigenen Glauben und eine individuelle Überzeugung ab. Sie vernach-

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Darauf ist auch die Meinungsverschiedenheit zwischen den Befürwortern und den Gegnern des Todesurteils gegen Salman Rushdie in der neuen Welt zurückzuführen. (Anmerkung von Sorush)

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lässigen allerdings die wichtigen Fragen nach Gott, seiner Zufriedenstellung und dem göttlichen Recht. Daher erscheinen sie so inakzeptabel. Die oben angeführten Argumente sind für diejenigen von Nutzen, welche die Religion von außen betrachten, sich erstmals mit ihr beschäftigen und noch keine religiöse Zugehörigkeit empfinden oder in einer religiös geprägten Gesellschaft areligiös leben. Sie nützen jedoch den Anhängern einer Religion oder den Mitgliedern einer religiösen Gesellschaft nichts, da diese ihren religiösen Aufgaben ohne skeptische Neugier nachgehen. Für religiöse und gläubige Menschen gibt es allerdings zwei Punkte in Bezug auf die Menschenrechte zu bedenken: 1. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde als eines der elementarsten Menschenrechte anerkannt. Nun ist aber das Problem, dass Meinung immer mit Überzeugung verbunden ist, und theoretische Überzeugung auch die praktische Umsetzung derselben mit sich bringt. Diese Überzeugungen wiederum treten hin und wieder als Dschihad oder auch in anderen Formen in Erscheinung. Derartige Resultate eines unerschütterlichen Glaubens missfallen jedoch den Verfechtern der Menschenrechte. Und das wiederum ist für gläubige Menschen nicht nachvollziehbar. Es sei denn, wir postulieren, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Glaubensfreiheit anerkennt, aber nur den toleranten Glauben, keinen Fanatismus. Möglicherweise wäre dies ein interessanter Vorschlag. Allerdings ist zu bezweifeln, dass dieser Vorschlag bei den Gläubigen auf Zustimmung trifft. 2. Sollte die Demokratisierung des religiösen Staates bedeuten, die Sicherheit im Glauben aufzugeben und die oben genannten Argumente, welche aus Ungläubigkeit und fehlendem Bezug zu einer religiösen Gesellschaft entstehen, anzuerkennen, so ist dies nicht umsetzbar. Mit anderen Worten: Das Außerachtlassen der Zufriedenheit Gottes und das ausschließliche Bemühen um die Zufriedenstellung des Volkes bedeuten letztlich, auf die Existenz eines religiösen Staates zu verzichten. Stattdessen wird dieser zu einem nichtreligiösen, laizistischen Staat umgestaltet. Das würde aber den Gläubigen nicht gefallen. Wie kann man von den Gläubigen erwarten, Glaubenssicherheit zu wahren, den Glauben selbst aber nicht mehr zu achten? Die Problematik für den religiösen Staat besteht darin, dass die Allgemeine Erklärung der Men-

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schenrechte ohne Berücksichtigung der Religion und des göttlichen Rechts, nur aus der Vorstellung eines areligiösen Lebens niedergeschrieben wurde. Daher lässt sich ein religiöser Staat nur schwerlich mit den Grundsätzen und Paragraphen der Menschenrechtserklärung in Einklang bringen. Die Uneinigkeit zwischen den religiösen Staatsmännern und den Anhängern der Menschenrechte kommt daher, dass diese Männer die Forderung nach Demokratisierung des religiösen Staates als Sinnentwertung der Religion und Säkularisierung der Gesellschaft mittels areligiöser Prinzipien ansehen. Sie wünschen sich daher eher, in einem nicht-demokratischen, aber dafür religiösen Staat zu leben. Nach allem, was ich hier ausgeführt habe, scheint dieses Verständnis auch nicht ganz abwegig zu sein. Für ihre Anhänger definiert die Religion ja gerade das Menschsein und die damit verbundenen Rechte. Änderungen bei den Menschenrechten erfordern gleichzeitig auch eine Neudefinition des ‚Menschseins‘. Dieses Umdefinieren ist dabei nicht ganz unproblematisch. Entsprechend der religiös bestimmten Definition braucht ein Mensch die Religion, während diese gemäß der zweiten Definition entbehrlich ist. So ist Religiosität nur mit einer ganz bestimmten Definition von ‚Menschsein‘ und den zugehörigen Rechten vereinbar. Jede Unstimmigkeit gegenüber dieser Definition würde das traditionelle Verständnis der Religion hingegen zerstören. Daher ist der Widerstand der religiösen Gelehrten und Staatsmänner gegen neue Definitionen von ‚Menschsein‘ und den damit verbundenen Rechten höchst nachvollziehbar. Aber die Problematik hört hier noch nicht auf, wenn man zum Beispiel als eine plausibel erscheinende Annahme zu bedenken gibt, dass in einer nicht-religiösen Gesellschaft kein demokratisch-religiöser Staat existieren kann, und dass das Volk nicht mit einer religiösen Regierung zufriedenzustellen ist. Unter diesen Umständen ist ein demokratischer und nicht-religiöser Staat die beste Regierungsform. Ich halte allerdings die Aussage, dass man niemals und nirgendwo einen demokratisch-religiösen Staat schaffen könnte, für eine infame Behauptung. Wahr ist, dass dem religiösen Staat eine religiöse Gesellschaft vorausgehen muss, und dass er nur für diese geeignet ist. Gleichzeitig ist jede nicht-religiöse Regierung in einer religiösen Gesellschaft undemokratisch. Die religiösen Staaten können demokratisch oder undemokratisch sein. Das hängt von folgenden Faktoren ab: 1. inwie-

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weit wird der kollektiven Vernunft Rechnung getragen, und 2. inwiefern werden die Menschenrechte beachtet. Die Integration von Demokratie und Religion stellt ein historisches Beispiel für das geglückte Zusammenbringen von Vernunft und Scharia dar. Jeder theoretische Erfolg in diesem Zusammenhang wird praktische Auswirkungen nach sich ziehen.

Der Bezug zwischen Vernunft und Scharia Im Verständnis der Religion können die Religionsgelehrten niemals die außerhalb der Religion gewonnenen Erkenntnisse außer Acht lassen und müssen das Innen mit dem Außen der Religion abgleichen, weil einerseits eine Reihe von Eigenschaften, die der Religion zugeschrieben werden, wie etwa Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit lediglich außerhalb der Religion zu finden und zu definieren sind. (Wenn man sich nur auf die innerreligiösen Definitionen bezieht, führt das entweder zu einer Zirkeldefinition oder zum Zirkelschluss.) Andererseits sind alle Argumente für die Richtigkeit und Gerechtigkeit der Religion rationale, auf die menschliche Ratio und nicht auf die Offenbarung bezogene Argumente; und sie alle beeinflussen das Verständnis von Religion. So werden eine vollständige Missachtung rationaler Prinzipien und die Leugnung einer Übereinstimmung zwischen Religionsverständnis und Ratio der religiösen Verantwortung nicht gerecht. Dieselbe Vernunft, welche Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit definiert und bekräftigt, dass diese Merkmale in der Religion vorhanden sind (wenn sie es nicht könnte, wäre jene Religion nicht akzeptabel), bemüht sich auch darum, die religiöse Lehre verständlich zu machen. So kann sie den Ast nicht absägen, auf dem sie sitzt, indem sie ohne Rücksicht auf ihre eigenen Bestimmungen andere Definitionen von Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit konstruiert, sobald es um Religion geht. Man kann also sagen: Eine zwingende Voraussetzung für die Demokratisierung eines religiösen Staats ist die Flexibilisierung des religiösen Verständnisses. Diese wird erreicht, indem der Vielfalt vernünftiger Lösungen als Ergebnis der Anstrengungen aller Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen ein größerer Spielraum eingeräumt wird. Demokratische Staaten sind so diejenigen, welche die kollektive Vernunft als Schiedsrichter ihrer Konflikte und als Lösungsinstanz ihrer Pro-

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bleme ansehen. In den religiös orientierten Staaten wird diese Rolle von der Religion übernommen, während sie in den diktatorischen Staaten der Macht einer Einzelperson obliegt. Aber wie wir wissen, ist es nicht die Religion als solche, die ein Urteil fällt. Vielmehr ist dies eine bestimmte Interpretation von Religion als Werk der menschlichen Vernunft. Diese Vernunft bringt beim Verstehen der Religion stets ihre eigenen religiösen Wahrnehmungen mit den außerreligiösen Perzeptionen in Einklang. Die Geschichte der Sklaverei ist ein eindeutiger Beweis für diese Behauptung. Die muslimischen Gelehrten versuchen heutzutage auf verschiedene Art und Weise, den Islam von der Schande der Sklaverei zu reinigen. Sie versuchen sich zu rechtfertigen, indem sie darauf verweisen, dass dieses Phänomen zu einer bestimmten Zeitepoche gehörte, in der es unmöglich war, dieses abzuschaffen. Sie weisen aber oft auch darauf hin, dass die Sklaverei im Islam lediglich eine Reaktion auf die Versklavung von Muslimen durch andere war. All diese Erklärungen bedeuten letzten Endes aber, dass diese Gelehrten zu Recht erkannt haben, dass die Sklaverei mit den Menschenrechten und der Menschenwürde unvereinbar ist. Sie haben eben diese Wahrnehmung in ihre Neudefinition von Religion mit einbezogen. Genau auf solche Art funktioniert die neue, vollkommenere und treffendere Gotteswahrnehmung. Sie ist den Gläubigen mittels rationaler Auseinandersetzung gelungen. Solch eine veränderte Wahrnehmung wird zwangsläufig eine direkte Wirkung auf die Lebenswirklichkeit (der Menschen) und auf die Regierungsform haben. So kann ein tyrannischer Gott als bester Legitimationsbeweis für die Manifestation von Tyranneien auf Erden gelten und genauso umgekehrt. So kommt man zu der Schlussfolgerung, dass religiöse Überzeugung kein Hindernis für eine Neuinterpretation von Religion ist. Eben jene Neuinterpretation ist auf Erkenntnisse angewiesen, die außerhalb der Religion gewonnen werden. So müssen die demokratisch-religiösen Staaten weder die Religion noch das Ziel der Zufriedenstellung Gottes aufgeben. Sie müssen lediglich die Religion zum Wegweiser und Schiedsrichter für ihre Konflikte und Probleme machen. Um demokratisch sein zu können, müssen sie ihr Verständnis von Religion mit den Geboten der kollektiven Vernunft in Einklang bringen. Um Gott zufriedenzustellen, müssen sie stets auf die Religion achten. Sie müssen diese menschlicher verstehen und das Volk entsprechend führen. Somit wird der Liberalismus abgeschafft. Jedoch wird die Demokratie mit Hilfe der kollektiven Vernunft in eine rational-

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wissenschaftlich [annehmbare] Religiosität einfließen und so eine der Voraussetzungen des demokratisch-religiösen Staats entstehen.

Achtung der Menschenrechte Die erste wichtige Überlegung in der Diskussion über Menschenrechte ist die Erkenntnis, dass diese Diskussion nicht ausschließlich religionsrechtlicher Natur ist. Sie ist vielmehr theologisch-philosophisch und geht über den Rahmen der Religion hinaus. Wie die Diskussion über Anstand und Verwerflichkeit (hosn va qobh), Prädestination und freien Willen (jabr va ekhteyÁr), Gott und Prophetentum (khodÁ va nabovvat), geht die Diskussion über die Menschenrechte dem Verständnis und der Akzeptanz von Religion voraus. So haben Theologen ihre eigenen Schlussfolgerungen in Bezug auf Anstand und Verwerflichkeit sowie Prädestination und freien Willen unreflektiert auf ihr Verständnis von Religion übertragen – was nicht selten auch zu seltsamen Formen des Gottesbegriffs führte. Wie bereits zuvor erwähnt, sind Gerechtigkeit und Menschlichkeit in der Religion Voraussetzungen für eine Akzeptanz derselben. Dies bedeutet, dass eine Religion, welche die Menschenrechte (unter anderem Freiheit und Gerechtigkeit) nicht anerkennt, inakzeptabel ist. Die Religion muss nicht nur logisch nachvollziehbar sein, sondern auch moralisch vertretbar. Daraus folgt, dass die Diskussion über die Menschenrechte keine dekorative, überflüssige und ketzerische Diskussion darstellt, der wir einfach ausweichen können. Die Diskussion über die Menschenrechte ist so nicht nur innerhalb der Religion und aus religiöser Sicht zu führen, vielmehr müssen rationale, moralische und religiöse Dimensionen überschreitende Argumente ebenso Beachtung finden. Auch sollte man sich nicht damit zufriedengeben, die Scharia-bezogenen Bestimmungen bezüglich der Menschenrechte aus den grundlegenden Quellen herauszuarbeiten, sondern bedenken, dass sich hier wie auch an anderen Stellen die Jurisprudenz (fiqh) aus der Theologie (kalÁm) speist. Solange die außerhalb der Religion gewonnenen Bestimmungsgrundlagen nicht bereinigt und korrigiert werden können, kann auch das Auffinden dieser Bestimmungen nicht aus der Religion heraus bestätigt und geklärt werden. Die absolute Hinwendung zum Inneren der Religion wird die Diskussion im Außen behindern.

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Zweite Überlegung: Jeder demokratisch-religiöse Staat muss sich um das Innere der Religion kümmern, um religiös sein zu können – um demokratisch zu sein aber um die Bereiche außerhalb. Solange er zwischen diesen beiden Bereichen keinen vernünftigen Ausgleich und Austausch zustande bringt, wird er auch keinem seiner beiden Fundamente gerecht. Sich zu kümmern heißt dabei aber nicht zu kapitulieren. Die Rede ist nicht davon, dass alles, was die heutigen Menschen über die Menschenrechte sagen, richtig und gerecht oder ohne jegliche Heuchelei und Hinterlist sei, sondern, dass die religiösen Gesellschaften, gerade weil sie religiös sind, solche Diskussionen brauchen. Wenn also bei den früheren Theologen Themen wie Prädestination und freier Wille des Menschen oder Pflicht vor Können [(taklif fouq-e tÁqat)] diskutiert wurden, sich hierbei Befürworter und Gegner gegenüberstanden und allgemein in der muslimischen Gesellschaft aufgrund von religiösem Eifer derartige Dispute geführt wurden, so muss es auch in der heutigen muslimischen Gesellschaft eine Diskussion über Menschenrechte geben. Ihren Fürsprechern und Anwälten sollte demnach größter Respekt gezollt und deren Ansichten von der Regierung umgesetzt werden. Wenn aber nun die Rechtschaffenheit der Religion von ihrer Menschlichkeit abhängt, so hängt auch die Legitimität eines religiösen Staats von seiner Menschlichkeit ab. Daher wird die Beachtung der Menschenrechte (wie Gerechtigkeit, Freiheit usw.) nicht nur die Demokratie, sondern auch die Religiosität des Staates garantieren. Dritte Überlegung: Wenn man das Streben nach Menschenrechten als Folge des Liberalismus ansieht, so kennt man einerseits den Liberalismus nicht gut, andererseits tut man der Religion Unrecht. Man wertet den Liberalismus gegenüber der Religion auf und diese gegenüber dem Liberalismus ab. Weder erfüllt der Liberalismus alle Menschenrechte, noch ist der Religion dieses Thema fremd. Es ist zwar richtig, dass die Diskussion über die Menschenrechte im heutigen Sinn zunächst bei denjenigen entfacht wurde, die sich offensichtlich zu keiner Religion bekannten, nicht an Gott und seine Zufriedenstellung dachten und die Religion nicht als Quelle für Gerechtigkeit und Erleuchtung ansahen. Daher beriefen sie sich ausschließlich auf nichtreligiöse Quellen. Dann jedoch wurden auch die Gläubigen von ihnen inspiriert und begannen, sich ebenfalls für dieses Thema zu interessieren.

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Aber das geschah aus zweierlei Gründen. Zum einen spürten die Gläubigen, da sie eine Moral besaßen, weder den Drang noch das Bedürfnis nach der Begründung einer Moralphilosophie. Sie zeigten außerdem keinerlei Interesse daran, über die Philosophie der Menschenrechte zu diskutieren. Daher haben sie diese Diskussion unterlassen. Zum anderen gilt die Sprache der Religion und der Normenlehre hauptsächlich als Sprache der Pflicht und nicht als Sprache des Rechts. Der Gläubige denkt demnach eher an seine Aufgaben als an seine Rechte. Er konzentriert sich mehr darauf, was Gott von ihm verlangt, als auf das, was er selbst möchte. Anstatt seine Pflichten von seinen Rechten abzuleiten, leitet er seine Rechte aus seinen Pflichten ab. Infolgedessen ist er bezüglich der Beachtung seiner Rechte auch weniger sensibel als gegenüber der Erfüllung seiner Pflichten. Aber das alles besagt keineswegs, dass die Religiosität mit der Beachtung der Menschenrechte unvereinbar ist, oder dass Liberalismus zwangsläufig die Beachtung der Menschenrechte bedeutet. So werden religiöse Staaten, die aus religiösen Gesellschaften erwachsen und sich auf diese stützen, erst dann demokratisch, wenn sie der Zufriedenstellung Gottes und des Volkes den gleichen Rang einräumen, also dem Außen genauso gerecht werden wie dem Inneren der Religion und Ratio und Ethik jenseits der Religion genauso respektieren wie die mit der Religion einhergehende. Indem Ethik und Ratio gleichermaßen beachtet werden, wird der heutige Mensch das Wunderelixier finden, welches er aus Fahrlässigkeit für unnötig oder gar unauffindbar erklärt hat.

MostafÁ MalekyÁn Über das Verhältnis von Islam und Liberalismus1

1. „Liberalismus“ wird in unterschiedlichen Zusammenhängen – unter anderem in der Ethik, Politik, Theologie und Ökonomie – verwendet und ist zu vieldeutig, als dass er einfach und klar definiert werden könnte. Im Folgenden befasse ich mich kurz mit ethischem, politischem und theologischem Liberalismus. Nach der Klärung des Begriffes in diesen drei Zusammenhängen möchte ich sein Verhältnis zum Islam diskutieren. 1.1 In der Ethik kann man Liberalismus als Gegenstück zu Legalismus [(qÁnun-parasti/sharÝ-parasti)] und Rigorismus [(sakht-giri/sakht-raftÁri)] verstehen. Im Vergleich zu diesen beiden ethischen Lehren ist der Liberalismus flexibler. 1.1.1 Legalismus bezeichnet die Ethik, welche immer eine Norm festlegt, wenn es um eine ethische Entscheidung geht. Es ist also eine Denkungsart [(ruhiyye)], die in jeder Situation von einer einzigen Handlungsnorm ausgeht und diese befolgt. In der Tat schreiben einige ethische Systeme unendlich viele Handlungsnormen vor, die man nicht einmal alle im Gedächtnis behalten, geschweige denn befolgen kann. Auch diese ethischen Systeme zeigen jedoch auf der praktischen Ebene eine gewisse Flexibilität. In jedem Fall legt man als Legalist einen übertriebenen Wert auf die Begriffe Gesetz und Ordnung und auf Formalia und Ordnungsinstitutionen. Dabei nimmt

1

Der Übersetzung liegt der folgende Text zugrunde: MalekyÁn, MostafÁ (2002b): „Sokhani dar chand va chun-e eslÁm va liberÁlism“. In: Ders.: RÁhi be rahÁyi. JostÁrhÁyi dar ÝaqlÁniyyat va maÝnaviyyat. Teheran, S. 93-105.

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man in Kauf, sachliche und umfassendere ethische Überlegungen zu vernachlässigen. Wie gesagt, Legalismus bezeichnet sowohl eine Ethik als auch eine Denkungsart. Eine Bewertung vornehmend würde ich sagen, dass von einer legalistischen Denkungsart viel mehr Gefahr ausgeht als von einem legalistischen ethischen System. 1.1.2 Rigorismus, der auch Tutiorismus genannt werden kann, bezeichnet in der Ethik und in der ethischen Theologie ein System, welches besagt, dass man in allen Zweifelsfällen die sicherere Alternative wählen solle. Mit andern Worten: Im Zweifelsfall muss man dem Gesetz gehorchen, und sich darüber keine Gedanken machen, ob das Gesetz den Fall erfasst oder nicht. Es sei denn, man wäre sich gewiss, dass das Gesetz den Fall nicht erfasst. Diese Position führt schließlich dazu, dass man keinem Gesetz widersprechen darf, es sei denn, man kann mit Gewissheit sagen, dass entweder das Gesetz nicht mehr gilt, oder dass das Gesetz den Fall nicht erfasst. Ein derart rigoroses ethisches System übt immer eine Anziehungskraft auf diejenigen aus, die bigott und hypersensibel sind. Der generelle Schwachpunkt dieses Systems liegt darin, dass es der Bigotterie das Wort redet und aktive Handlungen behindert. Wenn man also nur in dem Fall etwas tun darf, in dem man sicher ist, dass die Tat gesetzeskonform ist, bedeutet dies, dass in den meisten Fällen nichts unternommen wird, was wiederum zur Folge hat, dass Pflichten vernachlässigt werden. 1.1.3 Damit stellt der Liberalismus folgerichtig die Gegenthese von Rigorismus dar. Denn Liberalismus ist zum einen ein ethisches System, welches nicht annimmt, es gäbe für jeden erdenklichen Fall eine einzige ethische Norm. Im Gegenteil geht er davon aus, dass viele Fälle nicht geregelt sind [(menteqat al-ferÁgh)]. Zum weiteren unterstützt der Liberalismus nicht die Ansicht, man müsse immer – auch in Zweifelsfällen – dem Gesetz gehorchen. 1.2 Liberalismus in der Politik heißt: A) für systematische und planvolle (= nicht revolutionäre) Veränderungen zu stehen; B) traditionelle Privilegien und Sonderrechte einzuschränken und wenn möglich zu beseitigen und C) die gesellschaftlichen Freiheiten und individuellen Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern. Anders gesagt steht Liberalismus A) für die Förderung von Veränderungen und gleichzeitig gegen jegliche unvorbereitete, revolu-

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tionäre und ergo gewaltvolle Veränderungsversuche, B) für die Abschwächung bzw. Abschaffung von Benachteiligung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Leibeigenschaft, Sprache, Ethnie, Nationalität, gesellschaftlichem Rang, Besitzstand, Religion und Weltanschauung und C) für die gleichberechtigte Teilhabe aller BürgerInnen an Chancen und Möglichkeiten, insbesondere an den individuellen und gesellschaftlichen Freiheiten. Diese drei normativen und evaluativen Ansprüche gehen alle auf drei grundlegendere Annahmen zurück, die zum Teil normativ/evaluativ und zum Teil faktisch begründet sind: A) der Mensch hat sich immer entwickelt und wird sich weiter entwickeln. B) der Mensch ist seinem Wesen nach gut. C) der Mensch ist ein freies Wesen. Hierbei wird insbesondere die dritte Annahme betont. Liberalismus als politische Philosophie richtet sein Hauptaugenmerk auf das Individuum. Er vertritt die Position, dass das Individuum primär und von Natur aus über bestimmte Rechte verfügt und sich die Funktion des Staates auf die Wahrung dieser Rechte beschränkt. Diese Rechte, die im Grunde die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat und zugleich die Pflichten des Staats gegenüber dem Individuum darstellen, beinhalten unter anderem die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit des Handelns und das Freisein von religiösen und ideologischen Einschränkungen und Zwängen. 1.3 Liberale Theologie steht im Widerspruch zu traditionellen, unflexiblen und fanatischen Orthodoxien. Theologischer Liberalismus ist bemüht, Rigorismus und Fanatismus alter Denksysteme, die auf dem Boden religiöser Kulturen gewachsen und gediehen sind, zu beseitigen. Er ist zugleich darauf bedacht, die grundlegenden Annahmen [(haqÁyeq-e asli)] der Religion zu bewahren und sie kraft anderer Begriffe und im Rahmen moderner Denkansätze neu zu formulieren. Liberalismus in dieser Bedeutung setzt zwei Prämissen voraus: Zum einen, dass die grundlegenden Annahmen der Religion keiner bestimmten kulturellen Epoche zugeschrieben werden können, und dass sie ergo für den modernen Menschen genauso wichtig sind wie für den vormodernen. Darüber hinaus sind die alten religiösen Denksysteme für den modernen Menschen nicht nachvollziehbar und nicht annehmbar, denn sie sind von vormodernen wissenschaftlichen Prämissen und Erkenntnissen beeinflusst und spiegeln insofern das religiöse Verständnis früherer Generationen wider. Damit die eigentlichen Botschaften der Religion für den modernen Menschen nachvollziehbar und annehmbar

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sind, müssen sie von den ausgedienten wissenschaftlichen Prämissen, Erkenntnissen, Methoden und Sichtweisen befreit werden. Wenn wir die Gesamtheit religiöser Vorschriften und Lehren in die drei Kategorien Glaubensinhalte [(ÝaqÁÞid)], Rituale [(ÝebÁdÁt)] und Ethik [(akhlÁqeyyÁt)] zusammenfassen, kann man sagen, dass der grundsätzliche Unterschied zwischen dem theologischen Liberalismus und den traditionellen Orthodoxien auf folgendem Punkt beruht: Orthodoxien interessieren sich zuallererst für die Glaubensinhalte, von denen angenommen wird, dass sie die Quintessenz der Religion darstellen, und dass der Mensch erst dann zur ewigen Glückseligkeit gelangen kann, wenn er sich zu diesen Glaubensprinzipien bekennt. Danach erst sind die Rituale und als letztes die Ethik von Interesse – wohingegen der theologische Liberalismus insbesondere um die Ethikfragen bemüht ist und sich dann erst den Glaubensinhalten und als letztes den Ritualen zuwendet. Die Anzahl der spekulativen und dogmatischen Lehren der Religion wird dabei auf ein Minimum reduziert. Hierbei wird sogar die Ansicht vertreten, dass die Entstehung einiger religiöser Dogmen, zu denen sich mit den Lippen oder dem Herzen zu bekennen als Voraussetzung für das Seelenheil angesehen wird, nichts anderes als eine Verfälschung des Wesens der Religion darstellt. 1.4 Wenn man von den unwesentlichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der verschiedenen ethischen, politischen und theologischen liberalen Strömungen absieht, so kann man im Großen und Ganzen die inhaltlichen Komponenten des Begriffs „Liberalismus“ folgendermaßen beschreiben: A) Offensein für und Anerkennen von Veränderungen, B) das Ringen darum, dass Veränderungen systematisch, geordnet und schrittweise stattfinden, und C) das Respektieren von individuellen Freiheiten und Werten. Diese drei Komponenten, unter denen vermutlich die dritte die wichtigste darstellt, bilden konstante Bestandteile der liberalen Tradition. So haben einige Theoretiker und Denker wie Jaspers und Vidler vorgeschlagen, unter dem Begriff „Liberalität“ die Elemente des Liberalismus zu subsumieren, die noch immer gelten. Gehen wir auf diesen Vorschlag ein, können wir nach meinem Dafürhalten alle drei oben genannten Komponenten in dem Begriff Aufgeschlossenheit [(ÁzÁdagi)] zusammenfassen. 2. Mit „Islam“ werden manchmal die heiligen und religiösen Schriften der Muslime, der Koran und die zuverlässigen Hadithe, bezeichnet. Das

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nenne ich „Islam 1“. Manchmal meint man mit dem Begriff „Islam“ die gesamte Exegese, Interpretation und Auslegungen des Korans und der zuverlässigen Hadithe. Das heißt, man meint damit die Werke der Theologen, Ethiker, Rechtsgelehrten, Philosophen, Mystiker und anderer Wissenschaftler im islamischen Kulturkreis. Das nenne ich „Islam 2“. Mit „Islam“ sind aber manchmal auch die Handlungen aller Muslime in ihrer gesamten Geschichte bis heute einschließlich der Folgen dieser Taten gemeint. Das nenne ich „Islam 3“. Hier werde ich mich nur mit dem „Islam 2“ befassen, welcher genau genommen Lesarten und Interpretationen religiöser Gelehrter vom Islam darstellt. Der Islam nach den zeitgenössischen Lesarten und Interpretationen kann insgesamt in drei Formen eingeteilt werden: fundamentalistisch, modernistisch und traditionalistisch.2 2.1 Die Fundamentalisten, wie beispielsweise die wahhabitische und salafitische Bewegung, zeichnen sich durch Folgendes aus: A) Falls sie überhaupt der argumentativen Vernunft [(Ýaql-e estedlÁl-garÁ)] einen Wert beimessen, bedienen sie sich ihrer nur, um die Annahmen aus dem Koran und den Überlieferungen abzuleiten. Abgesehen davon, dass die Fundamentalisten der Vernunft ausschließlich eine instrumentelle Rolle zuschreiben, erkennen sie den Verstand nicht als eine [Scharia-]Quelle neben dem Koran und der Überlieferung an. Insofern sind die Fundamentalisten äußerst buchstabengetreu [(nas-garÁ/naql-garÁ)]. B) Sie achten mehr auf das Äußere des Islam als auf den Geist desselben. C) Sie sind Scharia-orientiert und verstehen Religiosität als Befolgung der Scharia bzw. der Normenlehre. Diese Vorgaben halten sie für unveränderlich und unbestreitbar. D) Daher sind sie auch bemüht, Gesellschaft(en) zu errichten, in denen die Scharia komplett befolgt wird. Und da das Errichten solcher Gesellschaft(en) in säkularen und wertneutralen Staaten kaum möglich ist, stehen sie in Opposition zu diesen und sind gewillt, sie zu zerstören. Gleichzeitig kämpfen sie für die Schaffung Scharia-orientierter Regierungsformen. E) Sie glauben nicht an den religiösen Pluralismus. F) Sie halten von politischer Pluralität ebenfalls wenig. G) Sie sind der Meinung, dass die Religion alle menschlichen Fragen, seien sie profaner, spiritueller oder sakraler Natur, beantworten kann. H) Aus diesem Grund sind sie der Überzeugung, dass man mit

2

Vgl. Naser, Seyyed Hossein (1993): The Need for a Sacred Science. Albany. SUNY, Pp. 138-140 (Anmerkung des Autors).

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der Errichtung eines religiösen Staats das Paradies auf Erden schafft. I) Sie sind gegen die moderne westliche Kultur, beispielsweise gegen westliche Philosophie und gegen ethische, rechtliche und ästhetische Werte des Westens. Sie sind zum Teil sogar gegen die westliche Zivilisation an sich, d.h. sie sind gegen empirische Wissenschaften, gegen das moderne Know-how und gegen die dadurch entstandene Lebenssituation. Denn sie sehen in all diesen Phänomenen einen Widerspruch zum Islam, unter dem sie mehr oder weniger nur die Scharia bzw. die Normenlehre verstehen. Oder sie sehen den Westen als Urheber aller aktuellen Schwierigkeiten in der muslimischen Welt – einen Westen, der mittels seiner imperialistischen und kolonialistischen Politik und kultureller Übergriffe, insbesondere in den letzten zwei Jahrhunderten, fast allen muslimischen Gesellschaften Unglück gebracht hat. 2.2 Der modernistische Islam, welcher unter anderem von Sir Sayyid Ahmad Khan, al-Afghani, Abduh und Ziya Gökalp vertreten wird, lässt sich folgendermaßen charakterisieren: A) Die Anhänger des modernistischen Islam halten die argumentative Vernunft nicht nur für ein Instrument zur Erläuterung des Korans und der Überlieferungen, sondern sie sehen sie gleichzeitig als eine [Scharia-]Quelle neben dem Koran und den Überlieferungen an. Noch wichtiger ist, sie beweisen die Gültigkeit des Korans und der Überlieferungen mittels der Vernunft. Darüber hinaus wollen sie mit Bezug auf den Zweck religiöser Vorschriften und Lehren belegen, dass die Befolgung dieser nicht nur eine Glaubenssache ist, sondern auch vernünftig. Sobald sie einen Widerspruch zwischen Aussagen des Korans oder der Überlieferungen und den Erkenntnissen der Vernunft erkennen, versuchen sie die entsprechenden Stellen umzuinterpretieren. Insofern sind sie rationalistisch, antidogmatisch und soweit möglich liberal. B) Sie legen Wert auf den inneren Gehalt der islamischen Botschaft und nicht auf ihr Äußeres. C) Religiosität heißt für sie in erster Linie, ein Leben nach Maßstäben der Ethik zu führen, und zwar nach einer diesseitigen, humanistischen und gefühlsbetonten Ethik. Mit gefühlsbetonter Ethik meine ich eine Ethik, in der etwas als gut oder schlecht, richtig oder falsch beurteilt wird, je nachdem ob es Freude [(lezzat)] oder Schmerz [(alam)] bereitet. D) Sie halten die Vorgaben der Scharia für veränderbar und sind der Überzeugung, dass viele dieser Vorgaben durch zeitliche, räumliche, soziale und kulturelle Besonderheiten der arabischen Gesellschaft vor 14 Jahrhunderten geprägt sind,

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und dass ein Beharren auf solchen Vorgaben dazu führt, dass man sich von der universalen und ewigen geistigen Botschaft des Islam entfernt. Sie sind daher auch keineswegs bestrebt, eine Gesellschaft zu errichten, in der die Vorgaben der Scharia Buchstabe für Buchstabe wie vor 1400 Jahren befolgt werden. Vielmehr sind sie darum bemüht, die Vorgaben der Scharia der Vernunft, den Menschenrechten und einer gewissen universalen, von allen Menschen akzeptierten Ethik anzupassen. E) Aus diesem Grund versuchen sie gar nicht, einen Scharia-orientierten Staat zu gründen. Sie sind der Meinung, dass eine religiöse Gesellschaft auch in einem säkularen (aber nicht antireligiösen) Staat existieren kann. So ist für sie eine Trennung [(ferÁq)] und gegenseitige Befreiung [(farÁgh)] von Politik und Religion nicht nur möglich, sondern sogar erwünscht. F) Sie glauben an den religiösen Pluralismus. G) Sie befürworten ebenfalls die politische Pluralität. H) Sie gehen davon aus, dass Religion sowohl die diesseitigen wie auch die jenseitigen spirituellen Bedürfnisse der Menschen erfüllen kann. I) Sie glauben aber nicht, dass das Errichten eines religiösen Staates zwingend zu Wohlstand führt. J) Sie verteidigen die moderne westliche Zivilisation und oft auch die westliche Kultur. Sie halten diese Zivilisation und Kultur für erfolgreich bei der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Menschen, für die die Religion nicht verantwortlich ist. K) Sie halten die Probleme der islamischen Welt eher für hausgemacht als für vom Ausland verschuldet. Hier sagen sie „Wir tragen selbst unser Scherflein bei“ [(az mÁst ke bar mÁst)]. Es sei zwar richtig, dass es den westlichen Kolonialismus und Imperialismus gab, es stimmt aber auch, dass „Gott nichts für ein Volk ändert, es sei denn, es hätte seinen Seelenzustand verändert“. [Koran 8:53] 2.3 Die wichtigsten Vertreter des traditionalistischen Islam in der heutigen Zeit sind René Guénon, Frithjof Schuon, Titus Burckhardt, Martin Lings, Sayyid Hossein Nasr und Gai Eaton. Ihre Ansichten kann man folgendermaßen zusammenfassen: A) Sie sehen die argumentative Vernunft als ein reines Instrument zur Erläuterung des Korans und der Überlieferungen, halten sie jedoch nicht für eine [Scharia-]Quelle neben dem Koran und den Überlieferungen. Diese Eigenschaft schreiben sie lediglich dem intuitiven Intellekt [(Ýaql-e shohudi)] zu, der die Gültigkeit der Religion beweist. Wenn sie den Koran oder die Überlieferungen zu interpretieren versuchen, tun sie dies hauptsächlich mittels des intuitiven Intellekts. Aus dieser Perspektive kann man sie nicht als rationalistisch, liberal oder antidogmatisch

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bezeichnen. B) Wie die Modernisten legen sie Wert auf das innere Wesen der islamischen Botschaft und nicht auf deren Äußeres. C) Sie glauben an empirische Erkenntnisse, verstehen Religiosität eher als eine spirituelle, innere Entwicklung und halten die Befolgung der Scharia-Vorgaben für eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für Religiosität. Sie verstehen Scharia in keiner Hinsicht als letztendlichen Zweck, sondern nur als ein Werkzeug, welchem man sich aber unvermeidlich bedienen muss. Daher tadeln sie sowohl diejenigen, die die Scharia als Zweck und Ziel verstehen, als auch solche Menschen, die die Scharia noch nicht einmal als Werkzeug anerkennen. D) Sie streben nicht nach der Errichtung einer Schariaorientierten Gesellschaft. Sie wollen vielmehr, dass sich in der Allgemeinheit eine gewisse Ethik nach der Devise „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“ etabliert. Diese sollte geprägt sein von Toleranz und Nachsicht gegenüber anderen und kritischer Strenge gegenüber einem selbst. Von den Eliten, d.h. von denjenigen, welche die Fähigkeit haben, eine spirituelle Entwicklung zu durchlaufen, erwarten sie, dass sie diese Spiritualität auch selbst verkörpern und in die Tat umsetzen. E) Insofern sind sie wie die Modernisten über eine Trennung von Religion und Politik nicht unglücklich und sehen die areligiösen Staaten nicht als Hindernis für die spirituelle Entwicklung des Individuums oder der Gesellschaft. F) Sie begrüßen ebenfalls die politische Pluralität. G) Religion ist ihrer Meinung nach nur dazu da, spirituelle Bedürfnisse zu stillen und hätte H) niemals ein Paradies auf Erden versprochen. I) Wie die Fundamentalisten sind sie aber gegen die moderne westliche Zivilisation bzw. Kultur. Für sie ist die moderne Welt das Resultat eines finsteren Zeitalters und der Entfremdung des Menschen von seinem wahren spirituellen Wesen. Ihrer Natur nach ist die westliche Kultur antireligiös und lässt keinen Raum für Spiritualität. J) Demgegenüber halten die Traditionalisten mit den Modernisten aber die Muslime selbst für verantwortlich, wenn es um die Frage nach der Ursache der Missstände in den islamischen Gesellschaften geht. 3. Nun werde ich kurz auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Liberalismus und Islam eingehen. 3.1 Der fundamentalistische Islam widerspricht zweifellos den Prinzipien sowohl des ethischen als auch des politischen und des theologischen Liberalismus.

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3.2 Dagegen ist der modernistische Islam sicherlich mit allen drei Formen des Liberalismus zu vereinbaren. Zwar kann man Modernismus nicht mit Liberalismus gleichsetzen, es ist jedoch davon auszugehen, dass fast alle Befürworter des modernistischen Islam überall in der islamischen Welt eine liberale Gesinnung haben. 3.3 Der traditionalistische Islam jedoch steht zwar dem ethischen Liberalismus zustimmend gegenüber, hat aber eine ablehnende Position bezüglich des theologischen Liberalismus und verhält sich teils zustimmend und teils ablehnend gegenüber dem Liberalismus in der Politik. Diese Lesart des Islam ist weniger um die Reform politischer Institutionen bemüht, als um die Veränderung des inneren Wesenszustandes der einzelnen Individuen in der Gesellschaft. Sie ist im Grunde mit den liberalen Bemühungen um Einschränkung oder Beseitigung von Privilegien einverstanden, lehnt allerdings das liberale Verständnis von Freiheit ab. Auch unterscheidet sich ihre Vorstellung von den Menschenrechten von der liberalen. Sie sieht den Menschen nicht in einem stetigen Fortschritt, sondern stellt vielmehr eine Rückschrittlichkeit im spirituellen Bereich fest. Gleichzeitig wird statt von Fortschritt [(pishraft)] von Hoffnung [(omid)] gesprochen. Das Wesen des Menschen sei zwar gut und göttlich, die liberale Vorstellung von Individualismus jedoch abzulehnen. 4. Summarisch kann man nicht behaupten, dass der Islam ganz allgemein nicht mit dem Liberalismus vereinbar ist, und dass Formulierungen wie „islamischer Liberalismus“ oder „liberaler Islam“ paradox sind. Zwar lässt sich zweifelsohne sagen, eine Lesart des Islam, nämlich die fundamentalistische, ist nicht mit dem Liberalismus zu vereinbaren. Aber die Frage, welche der drei Spielarten des Islam vernünftigerweise unterstützt werden soll, ist eine andere Geschichte, die den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde. Ich muss jedoch sagen, dass nach meinem Dafürhalten die fundamentalistische Lesart die am Wenigsten vertretbare ist.

Fashion Studies Christa Gürtler, Eva Hausbacher (Hg.) Kleiderfragen Mode und Kulturwissenschaft Januar 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2819-7

Gertrud Lehnert Mode Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis 2013, 200 Seiten, kart., 24,90 €, ISBN 978-3-8376-2195-2

Rainer Wenrich (Hg.) Die Medialität der Mode Kleidung als kulturelle Praxis. Perspektiven für eine Modewissenschaft April 2015, ca. 400 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2559-2

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