Management von Ungewissheit: Neue Ansätze jenseits von Kontrolle und Ohnmacht [1. Aufl.] 9783839417232

Die Vorstellung, Ungewissheit durch Wissenschaft und Planung in Gewissheit transformieren zu können, wird zunehmend brüc

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German Pages 388 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Von der Beseitigung und Ohnmacht zur Bewältigung und Nutzung – Neue Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Ungewissheit
BESTANDSAUFNAHME – AUSGANGSLAGE
Entscheiden unter Ungewissheit – Von der bounded rationality zum situativen Handeln
Organisation in der Risikogesellschaft
Bewältigung von Ungewissheit durch Selbstorganisation – Ansätze, Perspektiven und offene Fragen
ANSÄTZE ZUR BEWÄLTIGUNG UND NUTZUNG VON UNGEWISSHEIT IN UNTERSCHIEDLICHEN PRAXISBEREICHEN
Projektorganisation und Projektmanagement unter den Bedingungen zunehmender Komplexität
Entwicklungstendenzen industrieller Forschung und Entwicklung
Grenzen technischer Sicherheit – Governance durch Technik, Organisation und Mensch
Unternehmensresilienz – Faktoren betrieblicher Widerstandsfähigkeit
Unsicherheit und die Analyse globaler Finanzmärkte – Vom Risikoansatz zur Eigenständigkeit von Unsicherheit
Ungewissheit und Lernen
Employography – Neuer Umgang mit Berufsbiographien
FORSCHUNG ZU EINEM »ANDEREN« MANAGEMENT VON UNGEWISSHEIT – ÄSTHETISCH-PERFORMATIVE ANSÄTZE
Künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch – Management des Informellen zur Förderung innovativer Arbeit
Verhalten in Organisationen dialektisch verstehen
Organisationskultur revisited – Transdisziplinäre Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Kunst beim Versuch, das Ungenannte und Unerwartete in Organisationen zu erfassen
Was Dienstleister von Künstlern lernen können – Wege zu innovativer und professioneller Dienstleistungsarbeit
Das Heldenprinzip – Archetypisches Szenario für Wachstum und Wandel
Autorinnen und Autoren
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Management von Ungewissheit: Neue Ansätze jenseits von Kontrolle und Ohnmacht [1. Aufl.]
 9783839417232

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Fritz Böhle, Sigrid Busch (Hg.) Management von Ungewissheit

Sozialtheorie

Fritz Böhle, Sigrid Busch (Hg.)

Management von Ungewissheit Neue Ansätze jenseits von Kontrolle und Ohnmacht

Das Buchvorhaben wurde im Rahmen des Projekts »International Monitoring« (IMO) mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01XZ11001 sowie mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds gefördert. Die im Teil 3 des Buches enthaltenen Werkstattberichte stammen aus Verbundprojekten im Rahmen der Förderprogramme »Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt« und »Innovationen mit Dienstleistungen«, die aus Mitteln des BMBF und aus dem ESF gefördert werden. Die Forschungsverbünde KES-MI (FKZ 01FM08008-14), THINK (FKZ 01FM08015-6) und MICC (FKZ 01FM08040-4) werden im Forschungsschwerpunkt »Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements«, der Forschungsverbund KunDien (FKZ 01FB08011-7) im Forschungsschwerpunkt »Dienstleistungsqualität durch professionelle Arbeit« und der Forschungsverbund HELD (FKZ 01FH09159) im Forschungsschwerpunkt »Balance von Flexibilität und Stabilität in einer sich wandelnden Arbeitswelt« gefördert.

Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat & Satz: Frank Seiß, München Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1723-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9

Frank Hees/Sven Trantow Von der Beseitigung und Ohnmacht zur Bewältigung und Nutzung – Neue Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Ungewissheit | 13

Fritz Böhle/Sigrid Busch

BESTANDSAUFNAHME – AUSGANGSLAGE Entscheiden unter Ungewissheit – Von der bounded rationality zum situativen Handeln | 37

Judith Neumer Organisation in der Risikogesellschaft | 69

Stephanie Stadelbacher Bewältigung von Ungewissheit durch Selbstorganisation – Ansätze, Perspektiven und offene Fragen | 93

Stephanie Stadelbacher

ANSÄTZE ZUR BEWÄLTIGUNG UND NUTZUNG VON UNGEWISSHEIT IN UNTERSCHIEDLICHEN PRAXISBEREICHEN Projektorganisation und Projektmanagement unter den Bedingungen zunehmender Komplexität | 137

Sibylle Peters Entwicklungstendenzen industrieller Forschung und Entwicklung | 177

Harald Wolf

Grenzen technischer Sicherheit – Governance durch Technik, Organisation und Mensch | 189

Johannes Weyer/Gudela Grote Unternehmensresilienz – Faktoren betrieblicher Widerstandsfähigkeit | 213

Jutta Heller/Martin Elbe/Male Linsenmann Unsicherheit und die Analyse globaler Finanzmärkte – Vom Risikoansatz zur Eigenständigkeit von Unsicherheit | 233

Oliver Kessler Ungewissheit und Lernen | 257

Johannes Sauer/Matthias Trier Employography – Neuer Umgang mit Berufsbiographien | 279

Martin Elbe

FORSCHUNG ZU EINEM »ANDEREN « MANAGEMENT VON UNGEWISSHEIT – ÄSTHETISCH-PERFORMATIVE ANSÄTZE Künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch – Management des Informellen zur Förderung innovativer Arbeit | 297

Fritz Böhle/Markus Bürgermeister/Eckhard Heidling/ Judith Neumer/Stephanie Porschen Verhalten in Organisationen dialektisch verstehen | 309

Wolfgang Arens-Fischer/Jutta Bloem/Benjamin Häring/ Eva Renvert/Bernd Ruping/Peter Wittlerbäumer Organisationskultur revisited – Transdisziplinäre Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Kunst beim Versuch, das Ungenannte und Unerwartete in Organisationen zu erfassen | 327

Wolfgang Stark/Christopher Dell

Was Dienstleister von Künstlern lernen können – Wege zu innovativer und professioneller Dienstleistungsarbeit | 347

Elisa Hartmann/Claudia Munz/Jost Wagner Das Heldenprinzip – Archetypisches Szenario für Wachstum und Wandel | 359

Nina Trobisch/Karin Denisow

Autorinnen und Autoren | 379

Vorwort

Mit wachsender Dynamik und Komplexität unserer heutigen Wirtschafts-, Technik- und Lebenswelt spielt der Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit eine immer bedeutendere Rolle. Insbesondere Innovationsvorhaben und -prozesse erfordern eine erhöhte Risikobereitschaft und großes Vertrauen in das Unplanbare – etwas Neues ist eben immer auch etwas Ungewisses. Ein Management von Ungewissheit avanciert damit zu einer zentralen Kompetenz von Individuen, Organisationen und Gesellschaften, um unter komplexen und dynamischen Bedingungen innovationsfähig zu bleiben. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern die traditionellen Strategien der Reduktion, Kontrolle und Beherrschung von Ungewissheit – prägende Tugenden unseres industriellen Qualitätsparadigmas »Made in Germany« – unter den geänderten Vorzeichen einer modernen Wirtschaftswelt generell zielführend sind. Denn trotz großer Erfolge bei der Überwindung von Ungewissheit zeigt sich gerade bei Störfällen und Krisen, dass sie sich niemals vollständig beseitigen lässt und immer wieder in neuer Weise entsteht. Welche Strategien werden entwickelt, um unter den Bedingungen einer modernen Arbeitswelt innovations- und wettbewerbsfähig zu bleiben? Wie gehen wir in der Moderne mit Unsicherheit und Ungewissheit um? Wie lassen sich die aus wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Handeln entstehenden Herausforderungen managen? Wie können Menschen mit der beinahe allgegenwärtigen Ungewissheit umgehen und handlungsfähig bleiben? Um diesen und weiteren Fragen zum Management von Ungewissheit nachzugehen, hat das Projekt »International Monitoring« (IMO) Wissenschaftler zu einer interdisziplinären Arbeitsgruppe zusammengeführt. Im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprogramms »Ar-

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beiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt«, das seit 2007 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanziert wird, ist das am IMA/ZLW & IfU der RWTH Aachen University (Lehrstuhl für Informationsmanagement im Maschinenbau/Zentrum für Lern- und Wissensmanagement und An-Institut für Unternehmenskybernetik e.V.) durchgeführte IMO-Projekt mit dem programmbegleitenden internationalen Monitoring beauftragt. Ein Ziel des Monitorings ist die Beobachtung, Identifizierung und Bewertung von nationalen und internationalen Trends, sozioökonomischen Dilemmata sowie geeigneten Bewältigungsansätzen im Themenfeld Innovationsfähigkeit. Zur Unterstützung dieser Aufgabenstellung wurden am 23. Mai 2008 vier transdisziplinäre Teams mit Experten und Expertinnen gegründet, die sich mit den zentralen Schwerpunkten im Themenfeld Innovationsfähigkeit auseinandersetzen. Eine dieser Arbeitsgruppen etablierte sich unter Leitung von Herrn Prof. Dr. Fritz Böhle vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) e.V. in München zum Thema »Management der Ungewissheit – Schlüssel zur Innovation«.1 In einem zweijährigen Forschungs- und Kommunikationsprozess wurden aktuelle Lösungsansätze, künftige Herausforderungen und offene Forschungsfragen im Dialog erarbeitet und reflektiert. Dabei gelang es, den Forschungsbedarf eines innovationsförderlichen Umgangs mit Ungewissheit unter den Perspektiven Mensch, Organisation und Technik als neues Forschungsfeld zu generieren. Es wurden Einzelexpertisen erarbeitet, die den ›State of the Art‹ analysieren, offen gebliebene Fragen aufdecken und Handlungsbedarfe nachweisen. Das daraus neu entstandene Gruppenwissen haben die Wissenschaftler2 am Ende der zweijährigen Kooperation in einer zusammenfassenden Expertise dargestellt, die gemeinsam mit den Ergebnissen weiterer IMOArbeitsgruppen Anfang April 2011 dem BMBF übergeben wurde. Darüber hinaus entstand die Idee, die vorliegenden Erkenntnisse und Lösungsansätze in separaten Publikationen wie dieser zu veröffentlichen, um Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik an den erarbeiteten Ergebnissen teilhaben zu lassen.

1

Weitere Mitglieder der Arbeitsgruppe waren Dr. Sigrid Busch, Prof. Dr.

2

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist, sofern nicht an-

Martin Elbe, PD Dr. Harald Wolf, Prof. Dr. Sibylle Peters, Johannes Sauer. ders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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An dieser Stelle danken wir allen Forschern und Praktikern, die in der Arbeitsgruppe und an dem Zustandekommen des Buches aktiv beteiligt waren. Mit großem Engagement haben sie ihre Expertisen bei der Bearbeitung des Themenfeldes eingebracht. Ein besonderer Dank gilt dem Leiter der Gruppe, Herrn Prof. Dr. Fritz Böhle, der in enger Kooperation mit dem Projekt IMO einen großen Anteil am Erfolg der gemeinsamen Arbeit hat. Dr. Frank Hees und Sven Trantow, Aachen im Juni 2011

Von der Beseitigung und Ohnmacht zur Bewältigung und Nutzung Neue Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Ungewissheit F RITZ B ÖHLE /S IGRID B USCH

Management der Ungewissheit jenseits von Kontrolle und Ohnmacht scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein: Management bezieht sich nach vorherrschendem Verständnis auf Planung, Steuerung und Kontrolle. Management der Ungewissheit beinhaltet folglich die Überwindung von Ungewissheit, ihre Beseitigung. Ungewissheit ist in dieser Sicht ein Hindernis und eine Bedrohung für erfolgreiches Handeln. Es ist aber auch noch etwas wesentlich anderes. In diesem Buch wird versucht, diese andere Sicht zu vertreten und zu begründen. In modernen Gesellschaften entstand – im Unterschied zu traditionellen Gesellschaften – die Vorstellung, dass es möglich ist, Ungewissheit in Gewissheit zu transformieren und damit zu beseitigen. Wissenschaft, Organisation, Technik und damit verbunden Planung und Kontrolle richten sich hierauf. In besonderer Weise ist dies im Bereich der industriellen Produktion der Fall. Doch trotz unbestreitbarer Erfolge bei der Überwindung von Ungewissheit zeigt sich: Ungewissheit lässt sich niemals vollständig beseitigen, sie entsteht immer wieder auf neue Weise – und zwar gerade auch durch die fortschreitende Wissenschaft, komplexe Organisationen und technische Systeme. Grenzen der Planung und Kontrolle lassen sich daher nicht (mehr) von einer sachlichen Ebene auf eine zeitliche des Noch-nicht verschieben, sondern müssen als grundlegende Gegebenheiten wahrgenommen und

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berücksichtigt werden. Aber nicht nur dies: Es gilt auch, Ungewissheit nicht nur als Mangel und Bedrohung, sondern zugleich als Herausforderung und Potenzial für die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten zu begreifen. Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch permanenten Wandel aller Lebensbedingungen und -verhältnisse aus und erzeugen damit laufend neue Unsicherheiten und Ungewissheiten. Gleichwohl sind sie bisher kaum darauf vorbereitet, Handlungsfähigkeit bei Ungewissheit zu entwickeln, aufrechtzuerhalten oder gar zu erweitern. Hierfür erscheint uns der Begriff der ›Bewältigung‹ und der ›Nutzung‹ von Ungewissheit anstelle ihrer Beseitigung oder bloßen Ohnmacht passend.

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Die hiermit umrissene Perspektive beinhaltet keinen Verzicht auf die Herstellung von Sicherheit und Gewissheit. Die Bewältigung von Ungewissheit tritt nicht an die Stelle der Herstellung von Gewissheit und Sicherheit, sondern ergänzt und erweitert diese. Die Notwendigkeit eines neuen Umgangs mit Ungewissheit wird in der aktuellen Diskussion an verschiedenen Stellen thematisiert. Auf der Ebene allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen diagnostiziert die Theorie reflexiver Modernisierung eine »Rückkehr der Unsicherheit, Ungewissheit und Uneindeutigkeit« (Beck u.a. 2001: 53). Dies bezieht sich nicht nur auf eine Zunahme von Risiken etwa im Sinne der »Risikogesellschaft« (Beck 1986), sondern vor allem auf einen sozio-kulturellen Deutungswandel: War in der Vergangenheit die Vorstellung vorherrschend, Ungewissheit und Unsicherheit durch fortschreitende wissenschaftliche Erkenntnisse und Techniken gesellschaftlicher Organisation und Lebensgestaltung sukzessive zu verringern, so werden nun die Grenzen dieses Programms und vor allem die gesellschaftliche (Selbst-)Erzeugung von Ungewissheit und Unsicherheit deutlich. Angesichts dieser Entwicklungen wird für eine neue Kultur der Unsicherheit, deren Grundlage »ein prinzipielles Bekenntnis zu Unsicherheit als Basis und Bezugspunkt menschlichen Lebens« ist, plädiert (Bonß 2010: 58). Dabei wird auch das Nicht-Wissen zum wissenschaftlichen Thema und »immer weniger als reine residuale und negative Größe begriffen, die es durch mehr und besseres Wissen zu reduzieren oder ganz zu eliminieren gelte, sondern als ein Phänomen wahrgenommen, das möglicherweise

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nicht restlos zu beseitigen ist, das durch mehr Wissen reproduziert und sogar vergrößert werden kann, das unter Umständen aber auch produktiv einzusetzen ist« (Wehling 2006: 14). Bemerkenswert ist der am Ende des Zitats angesprochene Wechsel der Beurteilung, wie er auch in Begriffen des »intelligenten Vergessens« und »Recht auf Nicht-Wissen« zum Ausdruck kommt (ebd.: 328). Dem entspricht auch sehr pointiert die Behauptung, dass ein »kreativer und innovativer Umgang mit Nichtwissen ein entscheidender Wettbewerbsvorteil in Unternehmen ist« (Zeuch 2007: 14). Ein weiteres prominentes Thema sind Risiken komplexer technischer Systeme. Unfälle und Katastrophen erscheinen nicht mehr als Sonderfall, sondern als ›normal‹ (vgl. Perrow 1987). Hierbei handelt es sich allerdings weniger um ein Plädoyer für eine neue, positive Sicht auf Ungewissheit, gleichwohl aber um die Erkenntnis, dass sich Ungewissheit nicht umstandslos beseitigen und auf ›Restrisiken‹ beschränken lässt. Dass dabei jedoch nicht vorschnell wissenschaftliche Erkenntnisse und Diskussionen mit der Praxis verwechselt werden dürfen, zeigt nachdrücklich der Umgang mit den (Rest-)Risiken von Atomkraftwerken. Gleiches gilt auch für die alltäglichen Unwägbarkeiten von technischen Systemen und organisatorischen Abläufen. Nur wenn sie sich zu Unfällen aufschaukeln, werden sie sichtbar, ansonsten bleiben sie weitgehend verdeckt, da sie durch fachkundiges Personal ausgeglichen werden. Je erfolgreicher diese Leistungen menschlicher Arbeit sind, umso mehr bleiben sie unsichtbar und bestärken die Annahme von Konstrukteuren und Management, dass ›alles so läuft wie geplant‹. Empirische Untersuchungen hierzu machen des Weiteren darauf aufmerksam, dass sich in den Unwägbarkeiten technischer und organisatorischer Abläufe nicht nur Grenzen ihrer wissenschaftlichen Durchdringung und Berechenbarkeit zeigen; auch bei ihrer Bewältigung gerät ein planmäßiges Handeln an Grenzen und muss durch ein situatives erfahrungsgeleitetes Handeln ergänzt werden (vgl. Böhle/Rose 1992; Böhle u.a. 2004; Bauer u.a. 2006). Die Organisationstheorie richtet sich bisher vor allem auf Organisationen, die ihre Aufgaben, Ziele und Ergebnisse selbst bestimmen und festlegen. Demgegenüber finden sich aber auch Organisationen, die sich dadurch auszeichnen, dass ihre Ziele und Aufgaben unbestimmt sind und nicht der Kontrolle und Festlegung durch die Organisation unterliegen. Beispiele hierfür sind Einrichtungen, deren Aufgabe es ist bei Notfällen und Katastrophen Hilfe zu leisten und Schäden einzudämmen. Sie können Ungewissheit nicht beseitigen, sondern müssen in der Lage sein unter Ungewissheit

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zielorientiert und effektiv zu handeln. Neuere Untersuchungen richten sich hierauf und gehen der Frage nach, wie solche Organisationen ›das Unerwartete managen‹, und stellen dabei Achtsamkeit als ein zentrales organisatorisches Prinzip heraus (vgl. Weick/Sutcliffe 2003). Des Weiteren lassen sich zukünftige Entwicklungen von Technik, Ökonomie und gesellschaftlichem Wandel insgesamt nicht mehr ohne weiteres auf vermeintlich stabile und antizipierbare Entwicklungspfade eingrenzen. Zwar zählt die Offenheit der Zukunft schon immer zu einem Merkmal moderner Gesellschaften, es scheint jedoch eher weniger statt mehr möglich, die damit verbundene Ungewissheit in überschaubare und antizipierbare Gewissheiten zu transformieren. Angesichts dieser Entwicklung wird u.a. eine Umstellung des Managements von zukunftsorientierter Planung auf ein Kontingenzmanagement empfohlen (Gross 2002: 21f.). Dies muss nicht nur ein Mangel sein, sondern kann auch die Herausforderung beinhalten, »einer ungewissen offenen Zukunft neue Möglichkeiten abzugewinnen«, »denn eine ungewisse Zukunft macht neugierig und bietet Chancen« (ebd.: 27f.). Die Nutzung von Ungewissheit zur Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten wird auch in Untersuchungen angesprochen, die sich mit der bewussten Inszenierung von Gefahren und Risiken durch technische Apparaturen im Extremsport oder in Vergnügungsparks befassen (vgl. Gebauer u.a. 2006). In der aktuellen Diskussion zeigt sich diese andere Seite der Ungewissheit in ihrer unmittelbar praktischen Bedeutung vor allem bei der Auseinandersetzung mit Innovationen. Bemühungen, Innovationen durch ein Innovationsmanagement zu fördern, das sich an den Prinzipien von Planung, Steuerung und Kontrolle orientiert, läuft Gefahr, Innovationen nicht zu fördern, sondern zu gefährden. Ungewissheit ist ein strukturelles Merkmal von Innovationen. Sie zeigt sich in der Offenheit des Ergebnisses ebenso wie im Verlauf von Innovationsprozessen, die nicht sequenziell-linear, sondern iterativ und je nach Gegenstand, technisch-organisatorischen und personellen Rahmenbedingungen usw. unterschiedlich verlaufen und individuell gestaltet werden müssen (vgl. Böhle 2011; Böhle u.a. 2012; Wolf 2011). Je mehr versucht wird und je mehr es gelingt, die darin enthaltenen Ungewissheiten zu beseitigen, umso mehr entsteht die Gefahr, dass Innovationspotenziale eingeschränkt und vermeintliche Innovationen zur Fortschreibung des bereits Bekannten werden. Auch das in der Praxis weitverbreitete Festhalten an bewährten Entwicklungspfaden ist ein Beispiel für das Bestreben, Ungewissheit weit möglichst

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einzugrenzen. Das Ausbrechen aus eingespielten Entwicklungspfaden erfordert demgegenüber nicht nur die Akzeptanz, sondern vielmehr die offensive Nutzung von Ungewissheit als Innovationspotenzial. Diese Hinweise auf eine neue Thematisierung von Ungewissheit sollen genügen. Die Beiträge in diesem Buch knüpfen hieran an. Dabei soll aber nicht nur die Notwendigkeit eines anderen Umgangs mit dem Tatbestand der Ungewissheit begründet werden, sondern es sollen vor allem Ansätze und Perspektiven vorgestellt und diskutiert werden, die zeigen, in welche Richtung ein solch anderer Umgang mit Ungewissheit geht. Wir knüpfen damit an vorangehende Arbeiten an, die ihren Schwerpunkt auf der Ebene individuellen Handelns haben (vgl. Böhle u.a. 2004; Böhle/Weihrich 2009). Die Perspektive eines Managements von Ungewissheit jenseits von Kontrolle und Ohnmacht richtet sich demgegenüber stärker auf institutionelle Arrangements und bezieht sich auf individuelles Handeln in dieser Perspektive.

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NICHT NUR TROTZ

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Die Erkenntnis, dass bei Ungewissheit entschieden und gehandelt werden muss und kann, ist kein völlig neues Thema. So haben moderne Gesellschaften ein beachtliches Repertoire an Strategien entwickelt, die sich nicht nur darauf richten, Ungewissheit zu beseitigen, sondern unter den Bedingungen von Ungewissheit zu handeln und Ziele zu erreichen. Doch genau gesehen geht es hier um ein Handeln trotz Ungewissheit und das Bestreben, auch bei Ungewissheit Handlungsbedingungen herzustellen und Handlungsweisen zu entwickeln, die sich am Idealzustand der Gewissheit orientieren. Ein Beispiel hierfür ist die Transformation allgemeiner Gefahren in kalkulierbare Risiken (vgl. Lupton 1999). Prominent ist auch das bereits in den 1950er Jahren entwickelte Konzept der »bounded rationality«. Und man könnte sogar die gesamte Entwicklung der betriebswirtschaftlichen Entscheidungsund Organisationstheorie seit den 1950er Jahren dem Thema Ungewissheit zuordnen (Baecker 1999: 126f.).1 Des Weiteren zählen hierzu

1

Vgl. auch die Beiträge von Judith Neumer »Entscheiden« und Stephanie Stadelbacher »Bewältigung von Ungewissheit durch Selbstorganisation« in diesem Buch.

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auch Marktanalysen und das Bestreben, das Verhalten von Kunden und Konkurrenten auf der Grundlage des Modells des rational handelnden Homo oeconomicus zu antizipieren.2 Und auch die Metapher der invisible hand (Adam Smith) der Marktregulierung oder die Orientierung an prognostizierbaren und steuerbaren gesellschaftlichen Entwicklungen im Sinne kontinuierlichen Wachstums, steigenden Wohlstands, fortschreitender Naturbeherrschung und technischen Fortschritts sind Ausdruck des Bemühens, trotz Ungewissheit weitmöglichste Gewissheit herzustellen oder zumindest sich daran zu orientieren. Die in diesem Buch umrissene Perspektive ist daher zu präzisieren: Es geht nicht allein um die Frage, ob Entscheiden und Handeln unter Ungewissheit notwendig und möglich ist. Wesentlich ist vielmehr die Frage, ob dabei das Paradigma der Kontrolle und Beseitigung von Ungewissheit nur relativiert und modifiziert wird, oder ob ein anderer Umgang mit Ungewissheit jenseits von Kontrolle oder Ohnmacht in den Blick gerät. Unsere These ist, dass dies bisher im Mainstream der wissenschaftlichen Diskussion und gesellschaftlichen Praxis nicht der Fall ist. Gleichwohl finden sich aber eher an den Rändern der wissenschaftlichen Diskussion Ansätze, die eine Perspektive eines produktiven Umgangs mit Ungewissheit und ihrer Bewältigung eröffnen. Eine weitere Präzisierung erscheint gegenüber einem pauschalen und naiven Plädoyer für die Akzeptanz von Ungewissheit notwendig. Die in diesem Buch umrissene Perspektive ist nicht zu verwechseln mit dem wirtschaftsliberalen und neoliberalen Programm eines entfesselten Marktes und sozialer Risiken als Voraussetzung für den vermeintlichen ökonomischen und sozialen Fortschritt. Wir werden den ideologischen Charakter dieser Sicht auf Ungewissheit und den Unterschied zur Perspektive der Bewältigung von Ungewissheit noch genauer betrachten, sodass hier zunächst dieser Hinweis genügen soll. Und schließlich scheint auch eine Präzisierung des Begriffs der Ungewissheit angebracht. Oft wird statt Ungewissheit auch von Unsicherheit gesprochen und beide Begriffe werden synonym verwendet.

2

Auch wenn der Homo oeconomicus nur eine Modellvorstellung ist, so ist gleichwohl darauf hinzuweisen, dass bspw. Max Weber nicht nur die bürokratische Organisation, sondern auch die Rationalisierung des Handelns als eine gesellschaftliche Entwicklung ausgewiesen hat, durch die individuelles Handeln berechenbar wird – und zwar mehr und eher als naturhafte Prozesse (Weber 1951: 65ff. und 322ff.).

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Wir betrachten demgegenüber Ungewissheit primär als einen kognitiven Tatbestand im Sinne von Nicht-Wissen und betrachten Sicherheit als Eigenschaft, Zustand und Verhalten von konkreten Gegebenheiten. Unsicherheit und Ungewissheit können sich demnach ergänzen und wechselseitig verstärken, sie können aber auch unabhängig voneinander auftreten. So kann eine technische Anlage unsicher sein und zugleich Ungewissheit über die konkreten Erscheinungsformen der Unsicherheit bestehen. Ebenso kann aber Unsicherheit bekannt sein und Gewissheit über ihre Erscheinungsform bestehen, ohne dass neben kognitiven auch materielle und personelle Ressourcen vorhanden sind, um Sicherheit herzustellen. Vor diesem Hintergrund seien im Folgenden zunächst nochmals allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen betrachtet, in deren Kontext die Perspektive der Bewältigung von Ungewissheit zu sehen ist. Hieran anschließend folgt ein Überblick über die weiteren Beiträge des Buches.

K ONTRÄRE D EUTUNGEN MODERNER G ESELLSCHAFTEN Betrachtet man die (Selbst-)Beschreibung moderner Gesellschaften, so finden sich unter Bezug auf Ungewissheit höchst konträre Deutungen. Vor allem in der Kontrastierung zu traditionellen Gesellschaften erscheint als Signum moderner Gesellschaften die »Zerstörung alter Sicherheiten« (Bonß 2010: 33). Karl Marx und Friedrich Engels sahen bekanntlich in der Kapitalverwertung und Entwicklung der Produktivkräfte die treibende Kraft gesellschaftlichen Wandels und diagnostizierten eine »ewige Unsicherheit und Bewegung« (vgl. Marx/Engels 1972/1848). Und auch in anderen Zeitdiagnosen und Sozialtheorien findet sich die Etikettierung traditioneller Gesellschaften als statisch an Tradition, Bewahrung und Sicherheit orientiert, und moderner Gesellschaften als dynamisch, vom permanenten Wandel und von Unsicherheit gekennzeichnet.3

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Beispiel hierfür ist die Diagnose des anomischen Charakters moderner Gesellschaften bei Durkheim oder in ökonomisch orientierten Entwicklungstheorien, etwa bei Rostow die Diagnose eines notwendigen »Take-off«,

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Zugleich finden sich aber auch Deutungen moderner Gesellschaften, die ein anderes, hierzu konträres Bild zeichnen. Paradigmatisch hierfür ist die Feststellung Max Webers, dass in modernen Gesellschaften die Vorstellung entstanden ist, dass man »alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne« (Weber 1968: 594). Werner Sombart bekräftigte und ergänzte dies, indem er den wesentlichen Unterschied zwischen traditioneller landwirtschaftlicher und handwerklicher Produktion einerseits und industrieller Produktion andererseits in der Herauslösung aus »organischer Gebundenheit« und damit verbunden mit dem »Berechnen« sowie der »Herstellung von Berechenbarkeit« sah (Sombart 1919: 34f.). So verbindet sich vor allem mit der Wissenschaft und der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Praxis die Erwartung, zunehmendes Wissen und Gewissheiten über die Gestaltung menschlicher Lebensbedingungen zu erhalten. Auch in der Herausbildung moderner Organisationen, an deren Anfang die bürokratische Organisation steht, ebenso wie des positiven Rechts und der naturwissenschaftlich fundierten Technik lassen sich unschwer Bemühungen wie auch Erfolge in der Herstellung von Berechenbarkeit erkennen. Es liegt nahe, diese konträren Bedeutungen moderner Gesellschaften gegeneinander auszuspielen und in den Wettstreit über die letztendliche Wahrheit einzutreten. Es ist aber auch möglich, in diesen Deutungen unterschiedlicher Facetten moderner Gesellschaft zu sehen und trotz aller Differenz Gemeinsamkeiten zu entdecken.

W IDERSPRÜCHLICHKEITEN – M ACHT UND H ERRSCHAFT Der beständige Wandel von Produkten und Produktionsverfahren ist ein wesentliches Element marktwirtschaftlich-kapitalistischer Ökonomie. Damit wird auch die Zukunft ungewiss: Anstelle der Erwartung des ›Immer-Gleichen‹ tritt die Offenheit und Unbestimmtheit zukünftiger Entwicklung. Des Weiteren erfordert der Wettbewerb auf dem Markt, dass gegenüber Wettbewerbern wie Kunden bisher nicht Bekanntes und Überraschendes angeboten wird. So ist gerade die Offen-

der aus der statischen Verfassung traditioneller Gesellschaften in die gesellschaftliche Modernisierung überführt.

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heit, Unbestimmtheit und Nicht-Berechenbarkeit ein wesentliches Element wirtschaftlichen Handelns. Zugleich beruht aber speziell ein an Rentabilität und Gewinnmaximierung orientiertes wirtschaftliches Handeln auf dem Berechnen und der Berechenbarkeit des Einsatzes von Ressourcen und Marktchancen. Aber nicht nur im wirtschaftlichen Handeln, sondern allgemein im Konzept des autonomen, selbstverantwortlichen Handelns findet sich dieses Nebeneinander von Ungewissheit und Gewissheit. Zum einen beinhaltet Autonomie die Freiheit aus eingespielten Gewohnheiten und Traditionen auszubrechen und unabhängig von den Erwartungen Anderer das eigene Leben zu gestalten, zum anderen erscheinen aber zugleich Unsicherheit und Ungewissheit als wesentliche Bedrohungen für autonomes Handeln. Die Beseitigung von Ungewissheit und Kontrolle von Umweltbedingungen wird daher als eine zentrale Voraussetzung für autonomes Handeln herausgestellt (vgl. Parsons 1980; Bonß 2010: 49). Damit wird die grundlegende Widersprüchlichkeit eines solchen Verständnisses wirtschaftlichen und autonomen Handelns sichtbar: Aus der Akteursperspektive soll die Umwelt berechenbar, kontrollierbar und beherrschbar sein, das eigene Handeln selbst aber die Möglichkeit zur Offenheit und Unbestimmtheit haben – und zwar in doppelter Weise: sowohl was eigene Bedürfnisse, Interessen und Verhaltensweisen betrifft als auch hinsichtlich der Möglichkeit, bestehende Sicherheiten und Gewissheiten der Umwelt infrage zu stellen und zu erschüttern. So wird zum einen die Herstellung von Sicherheit und Gewissheit zur zentralen Anforderung an die Umwelt und zum anderen die Ermöglichung von Offenheit, Unbestimmtheit und Ungewissheit zur zentralen Maxime des eigenen Handelns. Man könnte unterschiedliche gesellschaftspolitische Programmatiken und gesellschaftliche Institutionen sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse in modernen Gesellschaften als Versuche interpretieren, diese Widersprüchlichkeit im Umgang mit Sicherheit und Unsicherheit, Gewissheit und Ungewissheit auszubalancieren. Das Programm des Wirtschaftsliberalismus postuliert die Offenheit wirtschaftlichen Handelns, blendet dabei aber die daraus resultierenden Unsicherheiten und Ungewissheiten für Andere aus. Hierzu konträre gesellschaftspolitische Konzepte richten sich auf die Herstellung von Sicherheiten, Gewissheiten und Planbarkeit, unterliegen aber zugleich der Gefahr der Erstarrung und übermäßigen Kontrolle. Das Modell der Bürokratie und des Taylorismus veranschaulicht, in welcher Weise durch Organi-

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sation Berechenbarkeit hergestellt werden kann und macht zugleich darauf aufmerksam, in welcher Weise Gewissheit und Ungewissheit in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebunden sind. So richtet sich die wissenschaftliche Betriebsführung und tayloristische Rationalisierung nicht nur darauf, den Einsatz materieller Ressourcen zu optimieren, sondern vor allem menschliches Arbeitshandeln nicht nur zu planen, sondern auch planbar und berechenbar zu machen. Es ist hier aber auch daran zu erinnern, dass bei Max Weber die bürokratische Organisation als eine Herrschaftsform ausgewiesen wird, durch die nicht nur die Beherrschten, sondern vor allem auch die Herrschenden an Regeln gebunden und damit berechenbar werden.4 Aber nicht nur die Herstellung von Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit, sondern umgekehrt auch die Erzeugung von Unsicherheit und Ungewissheit sind unmittelbar in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebunden. Exemplarisch hierfür ist die durch die Unsicherheiten der Lohnarbeit hervorgerufene soziale Frage des 19. Jahrhunderts sowie die in der neueren Entwicklung massiv zunehmende Instabilität der Beschäftigung. Die Auseinandersetzung mit Macht und Herrschaft oszilliert dementsprechend zwischen Kritik und Widerstand gegen die Kontrolle und Einbindung in starre Reglements einerseits und Bedrohungen und Verunsicherungen durch nicht berechenbare und beherrschbare Mächte andererseits. Letzteres erscheint in ähnlicher Weise wie die Ohnmacht gegenüber Naturkatastrophen als mehr oder weniger schicksalhaft. Es wird zwar gewusst, dass die Unsicherheiten gesellschaftlich hervorgebracht und ›selbst gemacht‹ sind, doch

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Und so zeigt sich auch in der neueren Entwicklung, dass durch die tayloristische Betriebs- und Arbeitsorganisation nicht nur die Nutzung von Humanressourcen, sondern ebenso auch die Flexibilität von Unternehmen beeinträchtigt wird. Je nach Perspektive erscheinen daher neue dezentrale Organisationsformen als Delegation von Verantwortung nach ›unten‹ und Eröffnung neuer Handlungsspielräume für die Mitarbeiter oder als Auflösung traditioneller Sicherheiten, wie bspw. des Normalarbeitsverhältnisses und Erweiterung unternehmerischer Freiheit. Und umgekehrt zielen die Reaktionen auf die hierdurch entstehenden Unsicherheiten und Ungewissheiten darauf ab, selbstverantwortliches und selbst reguliertes Arbeitshandeln in neuen Formen zu steuern, zu kontrollieren und berechenbar zu machen.

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erscheinen sie als ›naturhaft‹, da sich kein unmittelbarer und allein verantwortlicher Akteur ausfindig machen lässt.5 Möglicherweise liegt im natur- und schicksalhaft anmutenden Charakter der Ungewissheit der Grund, dass – ungeachtet der macht- und herrschaftsmäßigen Implikationen – das Berechnen, Planen und Beherrschen eine größere Akzeptanz und Wertschätzung erfahren haben als Unsicherheit und Ungewissheit. So konnte sich gerade in der Auseinandersetzung mit naturhaften und gesellschaftlich hervorgebrachten Unsicherheiten und Ungewissheiten bewusstes rationales Handeln entfalten und sich als erfolgreich ausweisen. Unsicherheit und Ungewissheit erhielten demgegenüber den Nimbus des Schicksalhaften, Entfesselten und Irrationalen. Angesichts naturhafter Katastrophen, technischer Risiken sowie ökonomischer und sozialer Unsicherheit erscheint dies als durchaus berechtigt.

U NGEWISSHEIT

ALS

C HANCE

Der ›wahre Kern‹ der negativen Konnotation von Unsicherheit und Ungewissheit sei hier weder übersehen noch verharmlost. Doch stellt sich die Frage, in welcher Weise damit nicht zugleich eine ›andere‹ Seite verdeckt und ausgeblendet wird. Ein einfaches Beispiel mag verdeutlichen, dass Ungewissheit nicht per se als Mangel anzusehen ist. Zauberei erscheint im modernen Denken als irrational und Indiz für Aberglauben, Unwissenheit und Ungewissheit. Soweit sich dies auf die Unterwerfung des Menschen unter ›fremde Mächte‹ und die Nutzung des Zaubers zur ›schwarzen Magie‹ bezieht, ist die ›Entzauberung‹ durch Aufklärung zweifellos ein wichtiger Akt der Befreiung. Doch bei der Zauberei im Varieté und Zirkus führt die Lüftung des Geheimnisses und Gewissheit über die ›wahren Hintergründe‹ eher zur Ernüchterung und raubt folglich den Reiz, den gerade das Geheimnis bewirkt. Die Konnotation von Ungewissheit mit Bedrohung, Gefahr und Risiko löst sich hier auf. So wird sichtbar, dass Ungewissheit auch noch ›Anderes‹ hervorrufen kann. Doch es geht nicht nur um den Reiz der Ungewissheit. Ebenso bedeutsam sind das Erkennen und die Anerkennung von Grenzen Gewissheiten herzustellen. Dabei ist zu unter-

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Siehe hierzu die Diagnose gesellschaftlich hervorgebrachter Risiken bei Beck (1986) und Beck (2007).

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scheiden zwischen einerseits Grenzen kognitiver Fähigkeiten und Ressourcen zur Erlangung von Gewissheit und andererseits einer aus der Achtung der Eigenständigkeit und Autonomie Anderer resultierenden Akzeptanz von Ungewissheit. Soll autonomes Handeln nicht in ein einseitiges macht- und herrschaftsstrategisches Handeln münden, so gilt es nicht die Kontrolle der Umwelt, sondern eher die Ungewissheit zum Ausgangspunkt des Handelns zu nehmen. In der Sozialtheorie wird dies bekanntlich als Problem der doppelten Kontingenz sozialer Interaktion beschrieben (Luhmann 1984: 150).6 Der Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit hat dabei jedoch traditionell weit weniger Beachtung gefunden als die Notwendigkeit und die Mechanismen der Herstellung von Erwartungssicherheit. Erst in der neueren Entwicklung finden sich hier in der soziologischen Handlungstheorie neue Diskussionen und Orientierungen (vgl. Böhle/Weihrich 2009).

P ERSPEKTIVEN Wird Ungewissheit als »möglichkeitseröffnendes Moment, ohne das weder Innovation noch gesellschaftliche Entwicklung denkbar wäre« (Bonß 2010: 50) begriffen, so wird die Frage virulent, in welcher Weise die Bewältigung und Nutzung von Ungewissheit nicht nur neue kulturelle Deutungen, sondern auch einen grundlegenden Wandel von Handeln und gesellschaftlichen Institutionen erfordert. Bei der anfangs skizzierten, neueren Diskussion zum Umgang mit Ungewissheit ist bemerkenswert, dass hier teils das Modell rationalen Handelns erheblich erweitert wird. So werden nun auch in den Konzepten der »bounded rationality« menschliche Fähigkeiten wie Intuition einbezogen (vgl. Gigerenzer/Selten 2001) und Vertreter des rational-choice-Ansatzes plädieren für eine Prozessualisierung von Entscheidungen (vgl. Wiesenthal 2009). Diese auch bereits in den Konzepten inkrementeller Entscheidung angelegte Modifizierung planmäßig-rationalen Handelns (vgl. Schimank 2009) wird in weiteren Forschungsansätzen radikali-

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Unterschiedliche sozialtheoretische Programme lassen sich als Versuch der Lösung dieses Problems interpretieren – von der Etablierung stabiler Wert- und Normorientierungen zur Herstellung von Erwartungssicherheit bis hin zum situativen Versuchs- und Irrtumshandeln und permanenter Aushandlung.

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siert. Entscheiden wird in die Durch- und Ausführung des Handelns verlagert und hiermit verschmolzen. Damit wird gezeigt, dass zielorientiertes Handeln gerade auch dann möglich und erfolgreich ist, wenn Ziele und Vorgehensweisen nicht ex ante entschieden, sondern (erst) im praktischen Vollzug des Handelns eruiert werden. Insbesondere gilt dies für Situationen, in denen Handlungsbedingungen und -anforderungen unbestimmt und ungewiss sind. Beispiel hierfür sind die Konzepte situativen Handelns (vgl. Suchman 2007), gegenstandsund kontextbezogenen Handelns (vgl. Nardi 1996), kreativen Handelns (vgl. Joas 1992), intuitiv-improvisatorischen Handelns (vgl. Volpert 2003) oder erfahrungsgeleiteten-subjektivierenden Handelns (vgl. Böhle 2009).7 Damit geraten menschliche Fähigkeiten in den Blick, die im Modell planmäßig-rationalen Handelns weitgehend ausgegrenzt werden. Im Besonderen gilt dies für körperlich-sinnliche Wahrnehmungen, die in Anknüpfung an philosophische Theorien der Wahrnehmung als leibliches Spüren und Empfinden beschreibbar sind (vgl. Merleau-Ponty 1966, Schmitz 1978, 1994). Im Unterschied zu der verbreiteten Auffassung, dass sich eine spürende und empfindende Wahrnehmung nur auf die Welt des »inneren Erlebens« beziehe, erweist sie sich als ein Medium des Erkennens der »Außenwelt« und Grundlage eines besonderen Erfahrungswissens (vgl. Böhle/Porschen 2010). Menschliche Fähigkeiten und Handlungsweisen, die in modernen Gesellschaften pauschal als das ›Andere der Vernunft‹ betrachtet wurden, erscheinen damit für die Bewältigung und Nutzung von Ungewissheit höchst bedeutsam. Solche Einsichten auf der Ebene des Handelns korrespondieren allerdings bisher noch kaum mit entsprechenden Orientierungen auf institutioneller Ebene. Die Perspektive des Managements der Ungewissheit bezieht sich hierauf. Sie verbindet die Mikroebene des Handelns mit der Meso- und Makroebene gesellschaftlicher Organisation und Institutionalisierung. Im Unterschied zum Begriff der Organisation und Institution akzentuiert ›Management‹ eher die prozesshafte Herstellung sozialer Ordnung. Die offizielle (Selbst-)Definition des Managements bezieht sich zwar auf Planung, Steuerung und Kontrolle, aber in der Praxis erweist sich das Management zu einem Großteil eher als permanentes »Trouble Shooting« (vgl. Burns 1957; Weick 1987). Und

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Siehe hierzu auch unter Bezug auf körperliche Abstimmung im Sport Alkemeyer 2009.

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schließlich ist Management nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit einer Steuerung und Kontrolle ›von oben‹, sondern kann sich gleichermaßen auch auf ein Selbst-Management beziehen.

Z UM A UFBAU

UND ZUM I NHALT DES

B UCHES

Die Beiträge in diesem Buch sind aus einem intensiven Diskussionszusammenhang hervorgegangen und verfolgen eine gemeinsame Perspektive. Das Management von Ungewissheit wird von den Autoren aus unterschiedlicher disziplinärer Perspektive betrachtet und dargestellt. Dabei geht es weniger um abschließende Ergebnisse, sondern vielmehr um die Eröffnung und Begründung einer neuen Perspektive in der wissenschaftlichen und praktischen Auseinandersetzung mit Ungewissheit. Daraus ergeben sich selbst auch an Stelle vermeintlicher Gewissheiten neue Ungewissheiten, die jedoch – so unsere Hoffnung – nicht als Mangel, sondern als Anregung und Aufforderung für die weitere Diskussion wahrgenommen werden und wirken. Im ersten Teil dieses Buches erfolgt eine Bestandsaufnahme. Hierbei geht es in drei Beiträgen um den State of the Art des Themas. Der Beitrag von Judith Neumer »Von der bounded rationality zu situativem Handeln« und der Beitrag von Stephanie Stadelbacher »Organisation in der Risikogesellschaft« geben nochmals einen vertiefenden Einblick in den Ausgangspunkt der in diesem Buch umrissenen Perspektive. Sie verdeutlichen, dass das Entscheiden und Handeln unter Unsicherheit und Ungewissheit in der Organisationstheorie keineswegs ein neues Thema ist, und zeigen unterschiedliche, hierauf ausgerichtete Forschungsansätze und Richtungen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass trotz aller Einsicht in die begrenzten Möglichkeiten, Sicherheit und Gewissheit herzustellen, gleichwohl die Orientierung am Idealzustand der Gewissheit bestehen bleibt. So bleibt letztlich nur die Wahl zwischen Strategien, weitestmöglich Gewissheit auch unter Bedingungen der Ungewissheit zu erlangen oder, sofern dies illusorisch erscheint, sich mehr oder weniger ohnmächtig in die Ungewissheit einzufügen. Damit wird nochmals deutlich, worauf die in diesem Buch umrissene Perspektive abzielt: Handeln unter Ungewissheit erfordert vor allem eine Überwindung der im modernen Denken tief verwurzelten Auffassung, dass zielorientiertes Handeln auf der sequenziellen Abfolge von (erst) Entscheiden und (dann) praktischem Handeln be-

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ruht. Anstelle einer immer weiteren Ausdifferenzierung von Entscheidungsstrategien kommt es daher darauf an, die Trennung und sequenzielle Abfolge von Entscheiden und praktischem Handeln aufzubrechen. Konzepte situativen Handelns und Entscheidens verweisen darauf, dass unter den Bedingungen von Ungewissheit sich erst im und durch den Vollzug praktischen Handelns erweist, was möglich ist und wie gehandelt werden kann und muss. Dabei ist bemerkenswert, dass selbst entscheidungstheoretisch radikale Ansätze wie die Politisierung von Entscheidungen anstelle ihrer Begründung durch Experten- und Fachwissen letztlich im Paradigma planmäßig-orientierten Handelns verbleiben. In dem Beitrag »Selbstorganisation als Antwort auf Ungewissheit« zeigt Stephanie Stadelbacher, in welcher Weise der Umstieg vom Modell der hierarchisch-bürokratischen Organisation zur Selbstorganisation eine neue Perspektive zum Umgang mit Ungewissheit eröffnet. Dies ist allerdings nicht zwangsläufig der Fall. Mit der Unterscheidung zwischen autonomer und autogener Selbstorganisation wird deutlich, dass sich Selbstorganisation auch lediglich auf eine Modifizierung des Modells der bewussten Planung und Gestaltung von Organisation beschränken kann. Die autogene Selbstorganisation verweist demgegenüber auf eine grundlegend andere Perspektive. Soziale Ordnung entsteht hier durch Aktionen und Interaktionen der Akteure, wobei allerdings in den hierzu vorliegenden Forschungsansätzen sich die Aufmerksamkeit nicht auf die Akteure, sondern auf das ›System‹ als regulatives Prinzip richtet. Die Frage, nach welchen Prinzipien, Orientierungen usw. die Akteure handeln, erweist sich dabei – so die These – als blinder Fleck. Der Beitrag endet in Forschungsansätzen und Forschungsrichtungen, die ggf. diese Leerstelle ausfüllen könnten. Im zweiten Teil des Buches verdeutlichen sieben Beiträge neue Ansätze zur Bewältigung und Nutzung von Ungewissheit in unterschiedlichen Praxisbereichen. Der Beitrag von Sybille Peters »Projektorganisation und Projektmanagement unter den Bedingungen zunehmender Komplexität« macht auf eine bisher kaum beachtete Paradoxie der Projektorganisation und des Projektmanagements aufmerksam. Ebenso wie der Umstieg auf Selbstorganisation ist auch die Projektorganisation eine organisatorische Reaktion und Antwort auf interne und externe Unsicherheiten und Ungewissheiten von Organisationen. Oder anders ausgedrückt: Für Projektorganisation sind Unsicherheit und Ungewissheit

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von externen und internen Bedingungen konstitutiv. Diese resultiert aus dem Charakter von Projekten als im Prinzip einmalig und individuell im Unterschied zur herkömmlichen Organisation, die sich an der Wiederholbarkeit und Kontinuität von Aufgaben und Prozessen orientiert. Zugleich zielt aber bisher das Projektmanagement darauf ab, auch Projekte weitestmöglich zu planen, zu steuern und zu kontrollieren und damit Unsicherheit und Ungewissheit weitestmöglich zu reduzieren. Es finden sich demgegenüber aber auch hierzu alternative Ansätze und Konzepte, die von der grundsätzlichen Unbestimmtheit und Offenheit von Projekten ausgehen und auf dieser Grundlage neue Prinzipien der Projektorganisation und des Handelns in Projekten aufzeigen. Allerdings scheint auch hier Letzteres eher noch unterbelichtet. Harald Wolf ergänzt mit seinem Beitrag »Umgang mit Ungewissheit bei der Produktentwicklung« den allgemeinen Blick auf die Projektorganisation. Er illustriert an der Produktentwicklung die Unbestimmtheiten und Ungewissheiten von Informationsprozessen und zeigt auf, in welcher Weise die Unternehmen in der neueren Entwicklung verstärkt bestrebt sind, solche Innovationsprozesse zu steuern und zu kontrollieren. Angesichts dieser Entwicklung wird deutlich, dass sich in der Vergangenheit eher informell und ›naturwüchsig‹ Praktiken eines produktiven Umgangs mit Ungewissheit entwickelt haben, die nun aber zur Disposition stehen. Dass es sich hier um Praktiken und Erfahrungen eines produktiven Umgangs mit Ungewissheit handelt, ist dabei kaum bewusst und umso mehr käme es gerade angesichts dieser Entwicklungen darauf an, nach Wegen zu suchen, diese aufrecht zu erhalten und weiter zu entwickeln. Der Beitrag von Johannes Weyer und Gudela Grothe »Grenzen technischer Sicherheit« zeigt auf, in welcher Weise das Ziel und die Grenzen, technische Systeme sicher zu machen und damit Unsicherheit zu beseitigen, letztlich unerreichbar bleiben. Es erscheint daher notwendig, neue Strategien im Umgang mit technischen Systemen zu entwickeln, die von deren grundsätzlich begrenzter Sicherheit ausgehen und menschliches Handeln nicht als Risikofaktor, sondern umgekehrt als notwendige Voraussetzung zur Bewältigung von Unsicherheit einbeziehen. Technische Systeme sind demnach grundsätzlich als sozio-technische Systeme zu konzipieren und dementsprechend organisatorisch zu flankieren und einzubinden. In einer weiteren Perspektive wird der Frage nachgegangen, welche Formen der Governance hochautomatisierter Systeme zukünftig gefordert sind. Anstelle der bisher zentralistisch aus-

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gerichteten Steuerung wird die Perspektive dezentral gesteuerter Komplexe technischer Systeme umrissen und mit dem Konzept der organisatorischen und technischen Verschränkung der Automatisierung mit (notwendigem) menschlichem Handeln verbunden. Der Stärkung organisationaler Resilienz als einem wichtigen Baustein eines Managements von Ungewissheit wenden sich Jutta Heller, Martin Elbe und Male Linsemann in ihrem Beitrag »Unternehmensresilienz – Faktoren betrieblicher Widerstandsfähigkeit« zu. In Zeiten extremer konjunktureller Schwankungen und zunehmender Risiken in der Wirtschaft sowie Umwelt kann Resilienz Stabilität und Erfolg des Unternehmens sichern. Resilienz ist erlernbar und ein wichtiger Baustein eines Managements von Ungewissheit. Im Beitrag wird eine Studie zur Organisationsresilienz dargestellt, die darauf abzielte, ein Instrument zur Messung von unternehmensbezogener Resilienz zu entwickeln, das die Identifizierung des Entwicklungsbedarfs eines Unternehmens in Resilienzdimensionen ermöglicht. Daraus abgeleitete Maßnahmen können Unternehmen nachhaltig stärken und zu einem zentralen Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenten werden. Oliver Kessler nimmt in seinem Beitrag »Unsicherheit und die Analyse globaler Finanzmärkte: Die Finanzkrise und der Wille zum Messen« die aktuelle Reformdebatte im Zuge der Finanzkrise zum Ausgangspunkt seiner Darlegungen. Dabei geht es ihm weniger um eine Darstellung der faktischen Existenz von Unsicherheit auf den Fnanzmärkten selbst als vielmehr um eine Rekonstruktion der Grenzen und Verzerrungen der Reformdebatte. Er geht insbesondere der Frage nach, ob die aktuellen Reformbemühungen in die richtige Richtung zeigen oder nur, nicht weiterführend, Probleme kaschieren und zu einer neuen Einübung bestehender Praktiken führen. Johannes Sauer und Matthias Trier gehen in ihrem Beitrag »Lernen bei Ungewissheit« davon aus, dass die bisher etablierten Institutionen der Weiterbildung nicht mehr in der Lage sind, das aktuelle und zukünftig notwendige Weiterlernen im Beruf und in anderen Lebensbereichen zu unterstützen und zu fördern. Angesichts des Wandels von Arbeits- und Lebensbedingungen ist es einerseits notwendig, auch nach einer schulischen und beruflichen Bildung weiter zu lernen, andererseits sind hierzu jedoch angesichts der Unsicherheiten und Ungewissheiten aktueller und zukünftiger Entwicklungen andere Formen des Lernens jenseits der institutionalisierten Einrichtungen der Weiterbildung erforderlich. Die Bewältigung von Ungewissheit stellt beson-

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dere Anforderungen an Handlungsdispositionen und Orientierungen, die am ehesten durch ein selbst gesteuertes Lernen in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit praktischen Anforderungen hervorgebracht werden, das zugleich auch auf solchen Handlungsdispositionen und Orientierungen beruht. Martin Elbe zeigt in seinem Beitrag »Employography – Neuer Umgang mit Berufsbiographien« auf, wie sich mit dem institutionellen Wandel von Normal-Angestellten zu eigenständigen Marktteilnehmern seit den 1980er Jahren die Handlungsorientierung der Betroffenen ändert und die Orientierung an einer gelungenen Berufsbiographie unsicherheitsreduzierend und Handlungsoptionen gewinnend wirkt. Er untersucht, wie aus einer marktgetriebenen Unsicherheitsreduktion eine innovationsförderliche Ungewissheitsbewältigung werden kann. Mit dem Konzept der Employography wird dabei das arbeitsmarkt- und unternehmensbezogene Konzept der Employability in der Perspektive der Arbeitnehmer erweitert. Im dritten und letzten Teil des Buches finden sich fünf Beiträge, die einen Einblick in Forschungs- und Entwicklungsprojekte geben, in denen neue Wege im Umgang mit Grenzen der Planung und Ungewissheit in Unternehmen und speziell Innovationsprozessen gesucht werden. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie Erfahrungen und Praktiken aus Lebensbereichen außerhalb der Wirtschaft aufgreifen. Sie zeigen, dass sich bspw. im Bereich des Künstlerischen und des Spiels ein Umgang mit Ungewissheit jenseits von Kontrolle und Ohnmacht findet. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem Klischee einer ungesicherten Existenz als Voraussetzung für Kreativität. Gemeint sind hiermit vielmehr die in künstlerischen und spielerischen Prozessen sowie im Handeln angelegten Potenziale für einen offensiven und produktiven Umgang mit Ungewissheit. In modernen Gesellschaften haben sich unterschiedliche Lebensbereiche ausdifferenziert und so gelten auch das Künstlerische und das Spiel als Bereiche jenseits des ökonomisch Zweckhaften. Die dargestellten Forschungs- und Entwicklungsprojekte verweisen demgegenüber in eine andere Richtung. Sie zeigen, dass die Ökonomie durchaus einiges von der Praxis des Künstlerischen, des Spiels u.ä. lernen kann.

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L ITERATUR Alkemeyer, Thomas (2009): »Handeln unter Unsicherheit – Vom Sport aus betrachtet«, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 183–202. Baecker, Dirk (1999): Organisation als System. Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bauer, Hans/Böhle, Fritz/Munz, Claudia/Pfeiffer, Sabine/Woicke, Peter (2006): Hightech-Gespür. Erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen in hoch technisierten Arbeitsbereichen. Schriftenreihe des Bundesinstituts für berufliche Bildung, Bielefeld: W. Bertelsmann. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich (2007): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang/Lau, Christoph (2001): »Theorie reflexiver Modernisierung. Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramm«, in: Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 11–62. Böhle, Fritz (2009): »Weder rationale Reflexion noch präreflexive Praktik: Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln«, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hrsg.): Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 203–230. Böhle, Fritz (2011): »Management der Ungewissheit – ein blinder Fleck bei der Förderung von Innovationen«, in: Sabina Jeschke/ Ingrid Isenhardt/Frank Hees/Sven Trantow (Hg.), Innovation. Innovationsfähigkeit – deutsche und internationale Perspektiven, Berlin/Heidelberg: Springer. Böhle, Fritz/Rose, Helmuth (1992): Technik und Erfahrung – Arbeit in hochautomatisierten Systemen, Frankfurt/New York: Campus. Böhle, Fritz/Pfeiffer, Sabine/Sevsay-Tegethoff, Nese (Hg.) (2004): Die Bewältigung des Unplanbaren – Fachübergreifendes erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Böhle, Fritz/Weihrich, Margit (Hg.) (2009): Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.

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Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 77–94. Schmitz, Hermann (1978): System der Philosophie, Band III, 5. Teil: Die Wahrnehmung, Bonn: Bouvier. Schmitz, Hermann (1994): Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn: Bouvier. Sombart, Werner (1919): Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts, Berlin: Georg Bondi. Suchman, Lucy A. (2007): Human-machine reconfigurations. Plans and situated actions, Cambridge u.a.: Cambridge University Press. Volpert, Walter (2003): Wie wir handeln, was wir können. Ein Disput als Einführung in die Handlungspsychologie, Sottrum: artefact. Weber, Max (1951): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr. Weber, Max (1968): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr. Weick, Karl E. (1987): »Henry Mintzberg: The nature of managerial work«, in: Administrative Science Quarterly, 19, 111–118. Weick, Karl E./Sutcliffe, Kathleen M. (2003): Das Unerwartete managen. Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen, Stuttgart: Klett-Cotta. Wehling, Peter (2006): Im Schatten des Wissens. Perspektiven der Soziologie des Nicht-Wissens, Konstanz: U.V.K.-Verlagsgesellschaft. Wiesenthal, Helmut (2009): »Rationalität und Unsicherheit in der zweiten Moderne«, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 25–48. Wolf, Harald (2011): »Jenseits von Planung und Kontrolle. Alternative Ansätze des Managements industrieller Forschung und Entwicklung«, in: Sabina Jeschke/Ingrid Isenhardt/Frank Hees/Sven Trantow (Hg.), Enabling Innovation. Innovationsfähigkeit – deutsche und internationale Perspektiven, Berlin/Heidelberg: Springer [im Erscheinen]. Zeuch, Andreas (2007): »Der Hase und der Igel. Wissen und Nichtwissen zu Beginn des dritten Jahrtausends«, in: Andreas Zeuch (Hg.), Management von Nichtwissen in Unternehmen, Heidelberg: Carl Auer, 14–29.

Bestandsaufnahme – Ausgangslage

Entscheiden unter Ungewissheit Von der bounded rationality zum situativen Handeln J UDITH N EUMER

E INLEITUNG Die Diskussion zum Zusammenhang von Entscheiden und Handeln ist nicht neu, sie erfährt allerdings durch jüngere Konzepte und Blickwinkel neue Brisanz. Vor allem, wenn danach gefragt wird, wie in ungewissen Situationen gehandelt bzw. entschieden wird, wird deutlich, dass das Verhältnis dieser beiden Begriffe nach wie vor ungeklärt ist. These dieses Beitrags ist erstens, dass etablierte Entscheidungstheorien und -modelle sich an dem Paradigma der rationalen Planung orientieren. Die Grenzen der Planbarkeit bezeichnen somit auch die Grenzen ihrer Erklärungskraft. Hier setzen die neueren Konzepte zu situativem Handeln an. Zweitens eröffnen die neueren Konzepte den Weg zu einer konstruktiven Verbindung von Entscheiden und Handeln unter Unsicherheit, nämlich ein Entscheiden im Handeln. Zur Erläuterung dieser Thesen wird der Versuch unternommen, bereits etablierte Theorien und neue Konzepte hinsichtlich ihrer Positionierung zum Umgang mit Ungewissheit zu ordnen.1 Bei den herangezogenen Forschungsansätzen wird allerdings anstelle von Ungewissheit überwiegend der Begriff Unsicherheit verwendet, womit aber vor allem der kognitive

1

Mit der Anführung der hier besprochenen Theorien und Konzepte ist kein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden, es soll aber ein Eindruck über die Spannbreite der Betrachtungsweisen geliefert werden.

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Tatbestand der Ungewissheit gemeint ist. Wir verwenden daher in diesem Sinne im Folgenden auch den Begriff der Unsicherheit. Der – auch historisch betrachtet – erste Mainstream der Entscheidungstheorie prägt den Begriff des rationalen Entscheidens, unter anderem indem Entscheiden und Handeln ganz klar getrennt werden: zuerst wird im Geist reflektiert, die Entscheidungsalternativen werden abgewogen und im Denken eine Entscheidung getroffen; die Umsetzung dieser Entscheidung, das Handeln, ist dem Denkvorgang nachgelagert und wird quasi durch den erdachten Handlungsplan festgelegt. Diese Abfolge von ›erst Entscheiden‹ und ›dann Handeln‹ geht Hand in Hand mit dem Planungsparadigma in modernen arbeitsteiligen Organisationen: eventuell riskante Folgen einer Entscheidung sollen antizipiert und durch eine perfekt rationale Entscheidung soweit als möglich minimiert werden. Diese Entscheidungstheorien werden in dem vorliegenden Beitrag dem Szenario Minimierung von Unsicherheit zugeordnet. Demgegenüber rückt ein zweiter Mainstream der Entscheidungstheorie Unsicherheit als zu erklärende Größe mit in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auch hier wird am Paradigma der Handlungsplanung durch rationales Entscheiden festgehalten. Mit Fokus auf Organisationen wird jedoch gleichzeitig die Komplexität entscheidungsrelevanter Zusammenhänge betont und geschlussfolgert, dass Unsicherheit prinzipiell nicht eliminiert werden kann. Organisationen können unter Unsicherheit agieren, sie können Unsicherheit durch Entscheidungen prozessieren, aber sie können sie nicht minimieren, da die intendiert rationalen Entscheidungen und Handlungen der Akteure die relativ autonomen organisationalen Prozesse nur begrenzt beeinflussen. Diese Theorien werden in dem Beitrag dem Szenario Ohnmacht gegenüber Unsicherheit zugeordnet. Eine Reihe aktueller empirischer Ansätze zum Umgang mit Unsicherheit setzt diese als Umweltbedingung voraus und fragt danach, wie Akteure in einer ungewissen Umwelt dennoch handlungsfähig sein können. Die Antwort finden sie in den Akteuren selbst, in subjektiven Leistungen und speziellen Modi der subjektiven Erkenntnis, die in den etablierten Entscheidungstheorien bis dato wenig beachtet werden. Diese aktuellen Ansätze werden in vorliegendem Beitrag einem Szenario der Bewältigung von Unsicherheit zugeordnet. Ziel der Ausführungen ist es nicht, die Erkenntnisse etablierter theoretischer Ansätze zu widerlegen, sie sollen vielmehr um eine Betrach-

E NTSCHEIDEN

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tungsweise ergänzt werden, die Entscheiden und Handeln nicht nur als im Umgang mit Unsicherheit gleichwertige Phänomene begreift, sondern sie auch auf eine spezifische Weise integriert.

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M INIMIERUNG

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1.1 Neoklassische Entscheidungstheorie und Rationale Wahl Die neoklassische Entscheidungstheorie trifft strikte Annahmen bezüglich des Entscheiders und seiner Umwelt: Mit dem Homo oeconomicus ist das Bild eines Menschen gezeichnet, dessen oberstes Ziel die Maximierung seines Nutzens ist: Rational ist, was Nutzen maximiert. Zur Erreichung dieses eindeutigen Ziels bildet der Homo oeconomicus eindeutige Präferenzordnungen aus, entscheidet sich für eine Alternative eines umfassenden Alternativensets und ist sich zuvor über die Konsequenzen der jeweiligen Alternativen inklusive deren Auftretenswahrscheinlichkeit klar geworden. Aufgrund dieser Fähigkeiten ist der Homo oeconomicus immer in der Lage, eine rationale, weil nutzenmaximierende Entscheidung zu treffen. Unter dem Postulat der Nutzenmaximierung und des rationalen Kalküls entwirft die neoklassische Entscheidungstheorie ein Szenario der perfekt rationalen Entscheidung, einer Entscheidung unter Sicherheit. Es handelt sich hierbei um ein Idealbild, dessen reale Existenz aus guten Gründen in jeder Hinsicht angezweifelt werden kann. Nichtsdestotrotz stieg dessen semantische Gültigkeit kontinuierlich an und hat großen Einfluss nicht nur auf die Theorieentwicklung, sondern auch auf betriebswirtschaftliche Betrachtungsweisen. In ihrer Weiterentwicklung diffundiert die neoklassische Entscheidungstheorie in verschiedene Modelle einer Theorie der rationalen Wahl, welche das Faktum der Unsicherheit systematisch aufnehmen, bspw. die Modelle zur theoretisch-logischen Verknüpfung von gesellschaftlicher Mikro- und Makro-Ebene (vgl. bspw. Coleman 1991; Esser 1999) und verschiedene spieltheoretische Betrachtungsweisen (vgl. bspw. Selten 1999). Unsicherheit bei Entscheidungen besteht in diesen Modellen dann, wenn nicht uneingeschränkt bekannt ist, welche aller möglichen Umweltsituationen tatsächlich eintreten wird, welche Aus-

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wirkungen die Umsetzung einer bestimmten Wahlalternative also haben wird. Mit der systematischen Berücksichtigung von Unsicherheit in Entscheidungssituationen wird auch das Modell des Homo oeconomicus sukzessive detaillierter ausgelegt. Esser entwickelt beispielsweise das RREEMM-Modell des rationalen Akteurs, den »resourceful, restricted, expecting, evaluating, maximizing man« (Esser 1999: 231ff.). Im Kern auch dieses Menschenbildes und in allen theoretischen Ansätzen zu rationalem Wahlverhalten steht weiterhin das Prinzip der Nutzenmaximierung, verdichtet in dem Formalmodell der Wert-Erwartungstheorie: »In einer Wahlsituation führt ein Akteur jene Handlung durch, bei der das Produkt aus dem Nutzwert und der Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses am größten ist« (Münch 2007: 91). Der rationale Akteur berechnet in unsicheren Entscheidungssituationen entweder Wahrscheinlichkeiten oder setzt Schätzwerte ein.2 Wahrscheinlichkeiten und Schätzwerte gelten wiederum als objektive Größen (gleich objektiven Informationen!), anhand derer Unsicherheit objektiv berechnet und zweckrational minimiert werden kann – graduell in Abhängigkeit der jeweils vorhandenen Informationen –, so dass der individuelle Nutzen weiterhin maximierbar ist. Anhand des obigen Zitats wird noch ein weiteres Grundmodell dieser Ansätze deutlich, die theoretische Annahme einer Trennung von Entscheiden und Handeln: erst wird eine unter Berücksichtigung aller relevanten Bedingungen und Größen nutzenmaximierende Wahl im Geist getroffen, dann folgt die ausführende Handlung. Unter der An-

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Es wird zwischen ›Entscheidung unter Risiko‹ und ›Entscheidung unter Ungewissheit‹ differenziert (Schimank 2005: 187; Keiner 2005: 158f.). Ersteres bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeitsverteilung über alle eventuell eintretenden Umweltsituationen bekannt ist, letzteres bedeutet, dass die möglicherweise eintretenden Umweltsituationen, jedoch nicht deren Wahrscheinlichkeiten bekannt sind. Da sowohl im Fall einer Entscheidung unter Risiko als auch einer Entscheidung unter Ungewissheit die Menge aller möglicherweise eintretenden Umweltsituationen bekannt ist, lässt die erste Variante eine Berechnung, die zweite Variante zumindest noch eine Schätzung der Erwartungswerte grundsätzlich zu. Einzig für den Fall, dass die möglichen Konsequenzen einer Entscheidung nicht bekannt sind, ist die Berechnung eines Nutzenerwartungswertes nicht mehr möglich – eine Entscheidungskonstellation, die die neoklassische Theorie nicht in den Blick nimmt.

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nahme der theoretischen Bedingungen einer rationalen Wahl ermöglicht erst diese Trennung, Unsicherheit zu minimieren und in diesem Sinne zu beherrschen.3 1.2 Verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie: Theorien begrenzter Rationalität Die Konzepte der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie4 heben sich explizit von einer uneingeschränkten Geltung des Prinzips der Nutzenmaximierung ab. Die Konzepte sind in der Entscheidungstheorie jeweils auf große Resonanz gestoßen und gelten als Ausgangspunkt für den größten Teil der neueren Entscheidungsforschung. Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie fokussiert auf Organisationen als Orte von koordinierten Handlungen. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in der empirischen Erkenntnis, dass Ziele und Präferenzen von Akteuren inkonsistent, Informationen unvollständig, Alternativen und deren Konsequenzen unsicher und Entscheidungsregeln zumeist uneindeutig sind. Dies wirft unweigerlich die Frage auf, wie Organisationszugehörige konkret handeln bzw. sich ange-

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Ein Praxisbeispiel zum Minimierungsszenario ist das Risikomanagement, das seit geraumer Zeit in den verschiedensten akademischen Disziplinen, praktischen Anwendungsbereichen und auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen Einzug hält. Hier wird stets ein holistischer Anspruch formuliert: Alle relevanten Informationen und Daten sollen erfasst und zueinander in Beziehung gesetzt werden, so dass eine umfassende Risikokalkulation möglich wird. Nicht-quantifizierte Risiken erzeugen systematische Schätzfehler, da sie im Gegensatz zu quantifizierten Risiken in entsprechende Berechnungen zwangsläufig mit dem Faktor »0« – »stellt kein Risiko dar« – eingehen. Schätzungen auf der Basis mangelhafter Informationen oder subjektive Schätzungen sind mit dieser Argumentation einer Nicht- bzw. Null-Quantifizierung in jedem Falle vorzuziehen (Gleißner 2006: 2). Der Wahlspruch lautet: »If you can’t measure it, you can’t manage it«.

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Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie ist kein geschlossenes theoretisches Konstrukt. Sie beinhaltet verschiedene theoretische Ansätze und Perspektiven zur Erklärung empirisch beobachtbaren Entscheidungsverhaltens.

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sichts uneindeutiger Handlungszusammenhänge verhalten und untereinander koordinieren. Bounded Rationality Das Konzept der bounded rationality ist grundlegend in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem neoklassischen Entscheidungsmodell und dessen Rationalitätsannahmen. Es konstatiert, dass die neoklassischen Prämissen auf reale Entscheidungssituationen so gut wie nie angewandt werden können, da ein individueller Entscheider niemals perfekt informiert ist, weder über die Umwelt, noch über seine eigenen Interessenordnungen und Ziele. Dies liegt nicht in erster Linie an einer zu komplexen Umwelt, sondern an den »limitations of the actor himself as an information processor« (Simon 1982a: 409). Unter den Bedingungen einer solchermaßen »begrenzten Rationalität« muss das Individuum also erst mal nach möglichen Handlungsalternativen und deren Konsequenzen suchen. Dabei suchen Menschen nicht nach optimalen, sondern nach befriedigenden Wahlen (satisficing) und sie tun dies unter Bezug auf ein je situativ und subjektiv geltendes Anspruchsniveau (aspiration level). Das Anspruchsniveau kann hierbei als eine Stopp-Regel begriffen werden: Der Entscheider hört dann auf, nach weiteren Alternativen zu suchen, wenn er eine entdeckt hat, die er als zufriedenstellend erachtet – ungeachtet dessen, ob es evtl. bessere Handlungsalternativen gibt (Simon 1982a: 413f.). Mit der Konzeptualisierung des Anspruchsniveaus trägt Simon dem – aus neoklassischer Sicht als Problem zu bezeichnenden – Umstand Rechnung, dass Individuen ihre Präferenzordnungen durchaus wechseln können: das individuelle Anspruchsniveau unterliegt psychologisch begründeten Schwankungen (Simon 1982b [1979]: 484) und subjektiven Zielkonflikten (1982a: 408), die in einer subjektiven Definition der Situation resultieren. Satisficing, Anspruchsniveau und subjektive Definition der Situation werden von Simon als Entscheidungsregeln begriffen, die es Individuen erlauben, zwar nur begrenzt rationale, aber dennoch vernünftige und intelligente Entscheidungen zu treffen (Berger/Bernhard-Mehlich 1999: 141). Auch wenn damit auf der Ebene individueller Akteure nur mehr eine begrenzte Rationalität festgestellt wird, sieht Simon mit Blick auf Organisationen die Möglichkeit, individuelle Beschränkungen zu überwinden. Er schreibt Organisationen eine hohe Funktionalität im Umgang mit Komplexität und Unsicherheit zu: Sie sind Maschinerien

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zur Bewältigung der Grenzen der menschlichen Informationsverarbeitungskapazitäten, indem sie die Entscheidungsfindung unter Spezialisten aufsplitten, arbeitsteilige Strukturen und standardisierte Verfahren einführen, Herrschafts- und Hierarchiegefüge konstruieren und Kommunikationswege festlegen (Simon 1982b: 482). Hier findet das Prinzip der Nutzenmaximierung wieder seinen Eingang in das Konzept: auf der individuellen Ebene führen die begrenzten Fähigkeiten des menschlichen Gehirns zu Strategien des satisficing, auf der kollektiven Ebene gleichen die organisationalen Strukturen das ›Defizit‹ so weit als möglich aus; Organisationen versuchen Entscheidungen optimal zu prozessieren. Der einschränkende Hinweis darauf, dass auch in Organisationen niemals optimale Entscheidungen getroffen werden können,5 ändert nichts daran, dass Organisationen kein satisficing betreiben, sondern optimizing anstreben.6 Der genuine Zweck von Organisationen ist in Simons Perspektive die Bearbeitung von Komplexität, die Instandsetzung des einzelnen, begrenzt informierten Entscheiders zur Bearbeitung spezifischer Auf-

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Simon weist darauf hin, dass die organisationalen Mechanismen zum Umgang mit Unsicherheit und Komplexität Entscheidungen lediglich vereinfachen. Letztendlich können sie Unsicherheiten nicht komplett auflösen und sie erschaffen außerdem nicht selten neue Probleme und Widersprüche: March und Simon benennen bspw. das Problem, dass die relativ eindeutige Arbeitsteilung wiederum Interdependenzen zwischen den Bereichen schafft oder je nach Organisationsform auf Kooperationen angewiesen ist, die zu Interabteilungskonflikten führen können (March/Simon 1958: 41f., 121ff.).

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Satisficing (die Suche nach der ersten befriedigenden Alternative) wird in der Literatur häufig als Kontrapunkt zu optimizing (die Suche nach der besten Alternative) gehandelt. Simon selbst macht jedoch deutlich, dass diese Differenz nicht ganz trennscharf ist (Simon 1982a: 417ff.): Indem die Beschreibung der realen Welt auf einen Komplexitätsgrad heruntergebrochen wird, den die Entscheiderin/der Entscheider erfassen kann, kann auch im Angesicht begrenzter Rationalität Optimierung betrieben werden. In diesem Sinne kann der neoklassischen Entscheidungstheorie unterstellt werden, dass sie im Grunde selbst satisficing betreibt: Die Komplexität der realen Welt wird mit dem Menschenbild des Homo oeconomicus und den vereinfachenden Annahmen über vollständige Information so weit heruntergebrochen, bis sie entsprechend dem eigenen Anspruchsniveau (Rationalität) erfasst werden kann.

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gaben in einem komplexen Problemfeld. Oder anders ausgedrückt: Der Zweck von Organisationen ist es, Momente von Komplexität und Unsicherheit für die einzelne Person so weit als möglich zu minimieren und somit insgesamt beherrschbar zu machen. Die Bezeichnung ›begrenzt rational‹ impliziert eine eindeutige Wertung, gemeint ist weniger bzw. nur ein Teil des prinzipiell Ganzen, des Entwurfs ›rationalen‹ Entscheidens.7 Rationalität bleibt also der Dreh- und Angelpunkt der Bestimmung der Qualität einer Entscheidung: je sicherer die Prämissen und Konsequenzen abgeschätzt werden, desto rationaler ist die Entscheidung – und desto erfolgversprechender die anschließende Umsetzung. Inkrementalismus Im Rahmen seiner Untersuchungen von Entscheidungsprozessen in politischen Institutionen und Administrationen hat Lindblom das Modell inkrementellen Entscheidens entwickelt. Auch hier ist die begrenzte Informationsverarbeitungskapazität des Akteurs der Ausgangspunkt der konzeptuellen Überlegungen. Beim Inkrementalismus steht der Entscheidungsprozess im Mittelpunkt. Mit der »branch method« (Lindblom 1959: 80f.) beschreibt Lindblom sukzessive, limitierte Vergleiche zwischen Entscheidungsalternativen, worin das grundlegende Versuch-und-Irrtum-Prinzip des Inkrementalismus begründet ist: Der Erfolg bzw. die tatsächlichen Effekte einer Entscheidung können immer nur nach der praktischen Umsetzung dieser erfahren werden. In seinen Untersuchungen konnte Lindblom beobachten, dass daher überwiegend nur diejenigen alternativen politischen Strategien erwogen werden, die einen nur kleinen Unterschied zum Status quo bedeuten. Auf diese Weise verringert sich nicht nur die Anzahl der Alternativen, gleichzeitig wird auch die Anschlussfähigkeit politischer Entscheidungen und Strategien erhöht.8 Darüber hinaus kann durch

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Bspw. gibt Simon in seinen Aussagen zu prozeduraler und substantieller Rationalität Hinweise auf eine Hierarchisierung von begrenzter und umfassender Rationalität zugunsten der letzteren (Simon 1982c: 427).

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So werden zwar immer wieder wichtige Konsequenzen möglicher, jedoch unbeachtet gebliebener Strategien ignoriert; dieses Problem relativiert sich aber dadurch, dass unterschiedliche Akteursgruppen unterschiedliche Interessen und Perspektiven haben: Auf dem von einer politischen Behörde igno-

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dieses ›Minimalprinzip‹ eine Entscheidung, die sich im Nachhinein als falsch erwiesen hat, ohne übermäßigen Aufwand revidiert bzw. durch eine dementsprechend erneute Entscheidung relativiert werden. Ohnehin werden Entscheidungen nur dann umgesetzt, wenn die schlechteste aller erdenklichen Konsequenzen als grundsätzlich verkraftbar oder händelbar erachtet wird. Inkrementelles Entscheiden resultiert also in einer Politik der kleinen Schritte (Lindblom 1959: 85; 1979: 520ff.) und ist in jeder Hinsicht kurzfristig orientiert. Dies bringt selbstverständlich eine Reihe kritischer Nachteile mit sich (Rudzio 2001: 44). Gleichzeitig sind inkrementelle Entscheidungsprozesse jedoch sehr effizient: Das Prinzip von Versuch-und-Irrtum ermöglicht einen permanenten Lerneffekt und somit einen gesteigerten Steuerungsvorteil. Außerdem garantiert die Suche nach Alternativen, die vom aktuellen Stand der Dinge nur marginal abweichen, dass sowohl der Suchaufwand als auch der Aufwand zur Vorausschau gering bleiben. Lindblom wird nicht müde zu betonen, dass perfekte Rationalität ein unerreichbarer Mythos ist, dessen Prämissen selbst irrational sind (vgl. Lindblom 1959, 1979). Konsequenterweise konstatiert Lindblom auch keinen qualitativen Unterschied zwischen individueller und organisationaler Prozessierung von Entscheidungen. Er fokussiert mit seinen empirischen Betrachtungen in Administrationen9 nicht nur auf deren funktionale Arbeitsteilung als Moment der Reduzierung von Komplexität für

rierten Aspekt liegt das Hauptaugenmerk einer anderen Behörde. Es handelt sich hier quasi um eine thematisch-inhaltliche Arbeitsteilung, die einzelne Behörden oder Interessensgruppen in ihren fachlichen Kompetenzen nicht überfordert und innerhalb derer jeder wichtige Wert oder jedes wichtige Interesse seine »watchdogs for values« (Lindblom 1959: 85) hat. 9

Lindblom bezieht sich allein auf Entscheidungsprozesse in politischen Institutionen, mit den Untersuchungen von Quinn (1980) wird die Logik und Funktionalität inkrementellen Entscheidens allerdings auch für managerielles Handeln in Unternehmenskontexten systematisiert. Rudzio argumentiert, dass der Inkrementalismus seine Entsprechung grundlegend im funktional-differenzierten Gesellschaftssystem findet und daher inkrementelles Entscheiden über den Bereich der Politik hinaus gesamtgesellschaftliche Relevanz und Legitimation hat: »dezentralisierte Entscheidungen in selbstreferentiellen Subsystemen erscheinen in komplexen Gesellschaften unverzichtbar« (Rudzio 2001: 44).

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die einzelne Person, sondern betont auch die hieraus entstehenden unterschiedlichen, oftmals konträren Perspektiven auf einen Entscheidungsgegenstand. Entscheidungen in und zwischen Organisationen erscheinen als Verhandlungssache, deren Verlauf letztendlich von situativen Machtverhältnissen und Interessenlagen geprägt ist.10 Das Motto des Umgangs mit Unsicherheit im Modus des inkrementellen Entscheidens lautet: Risikominimierung durch eine Strategie der kleinen Schritte. Die Zergliederung in kleinere Entscheidungseinheiten garantiert keinesfalls eine Steigerung der Rationalität einer »Gesamtentscheidung« – wie Simon es für den Fall arbeitsteiliger Organisationen beschreibt –, aber sie steigert die Situationskontrolle. Oberstes Ziel des inkrementellen Entscheidens ist es nicht, Probleme auf die effizienteste, schnellste oder gewinnbringendste, sondern auf die minimal riskante Art zu lösen und unsichere Situationen so weit als irgend möglich zu kontrollieren. Intransparenz und Komplexität als Ursprünge von Unsicherheit bezeichnen den Bereich des Nichtwissens, zu dem die neoklassische Entscheidungstheorie keinen erklärenden Zugang bietet – Nichtwissen erscheint als unerschließbare Restkategorie. Die Theorien der rationalen Wahl beleuchten stellenweise die Frage der Generierung neuen Wissens, bspw. zieht Esser zur Erklärung der »Logik der Situation« lerntheoretische Konzepte heran (Esser 1999: 359ff.). Im Zentrum der Argumentationen steht jedoch der Rekurs auf handlungsanleitende Schemata und Skripte, die routinisierte Prozesse bei der Wahl von Alternativen anstoßen (Esser 1990: 234). Das Konzept der bounded rationality liefert ein formales Modell nicht nur der Alternativenwahl, sondern auch der Alternativensuche, beschreibt diese jedoch als einen rein kognitiven Akt. Im Gegensatz dazu bieten inkrementelle Entscheidungsprozesse den spezifischen Zugang zu bisher Ungewusstem über den Handlungsvollzug selbst. Bisher Ungewusstes kann zum einen mit der Suche nach bis dato unbekannten Alternativen erschlossen werden. Zum anderen verweist das zentrale Credo von Versuch und Irrtum aber vor allem auf bisher ungewusste Konsequenzen einer Entscheidung. Ein wichtiger Zweck der Strategie der marginalen Veränderung ist es, zu erfahren was eine Veränderung bewirkt, wenn keine Vorstellung da-

10 Zu unterschiedlichen Koordinierungsmodi in Interaktionssituationen siehe Scharpf/Mohr 1994.

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von vorhanden sind, was sie alles bewirken könnte, aber die Aussicht auf schwierige Konsequenzen so gering wie möglich gehalten werden soll. Die eigentliche Handlung als Umsetzung der zuvor kognitiv getroffenen Entscheidung erhält damit in der inkrementellen Perspektive erstmals ein eigenes Gewicht, denn sie wird als zumindest erkenntnisrelevant konzeptualisiert. Sie ist nicht nur Folge, sondern auch Voraussetzung geistiger Erkenntnis und Entscheidungsfindung. Dennoch bleibt die inkrementelle Perspektive damit der paradigmatischen Trennung von geistigem Entscheiden und umsetzender Handlung verhaftet. Die kognitiv-rationale Reflexion über die durchgeführte Handlung ist als autonome Variable des Entscheidungsprozesses konzipiert.

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GEGENÜBER

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Im Folgenden werden Theorierichtungen in den Blick genommen, die davon ausgehen, dass Unsicherheit nicht grundlegend minimiert werden kann. Das »Mülleimer-Modell« nach Cohen, March und Olsen (1972) und die Luhmann’sche Systemtheorie richten den Fokus auf Organisationen als Arenen der Entscheidungsfindung unter Unsicherheit und betonen hierbei die Eigenständigkeit der organisationalen Prozesse gegenüber den Organisationsmitgliedern. 2.1 Verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie: Das Mülleimer-Modell Die Annahme einer begrenzten Rationalität des Subjekts wird auch im Mülleimer-Modell zu Entscheidungen in Organisationen übernommen.11 Sie spielt hier jedoch eine untergeordnete Rolle, da das Subjekt nicht der alleinige Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen ist. Neben den menschlichen Akteur treten weitere ›Akteure‹ des organisationalen Entscheidens. Wann welche Entscheidung wie getroffen wird, hängt im Wesentlichen von vier Faktoren ab, die wiederum voneinander relativ unabhängig sind: 1) Probleme, die aktuell in der Organisation bewältigt werden müssen, 2) Lösungen, die aktuell vorhanden

11 Ebenso enthält es Aspekte des inkrementellen Entscheidens vermittels der Prozedere von Versuch und Irrtum.

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sind und nach Problemen suchen, auf die sie angewandt werden können, 3) Organisationszugehörige, 4) Entscheidungsgelegenheiten (Cohen/March/Olsen 1972: 3). Ausschlaggebend für Entscheidungsprozesse und -ergebnisse ist das spezifische Zusammentreffen dieser vier Komponenten oder »Ströme«. Sie fließen in verschiedenen thematischen »Mülleimern« (garbage cans) zusammen. Welcher spezifische Mix an Strömen in einem bestimmten Mülleimer zusammenfließt, hängt davon ab, welche Mülleimer gerade bereitstehen und welche Labels die alternativen Mülleimer tragen, welcher ›Müll‹ gerade produziert wird und mit welcher Geschwindigkeit er gesammelt und auch wieder entfernt wird. Cohen, March und Olsen beschreiben, wie Organisationen bzw. deren interne Strukturen und Elemente Entscheidungen quasi ›hervorbringen‹ – und zwar jenseits der Kategorien von bewusster Überlegung oder rationalem Kalkül. Entscheidungssituationen oder Organisationen in denen das Mülleimer-Modell beobachtet werden kann, begreifen sie als »organisierte Anarchien«12 (Cohen/March/Olsen 1972: 1f.), die spezifische Merkmale aufweisen: Sie verfügen nur über beschränktes Wissen und unvollkommene Technologien. Das heißt, dass sowohl vergangene als auch zukünftige Kausalzusammenhänge fundamental unbekannt sind; die organisatorischen Prozesse und ihre wechselseitigen Implikationen werden von den Organisationszugehörigen in einfachen Versuch-und-Irrtum-Prozederen erfahren. Organisierte Anarchien können Wissen und relevante Technologien nur unvollkommen bündeln, so dass ihre Operationen in weiten Teilen als prinzipiell ergebnisoffene ›Testläufe‹ begriffen werden müssen. Diese Ergebnisoffenheit potenziert sich nochmals aufgrund inkonsistenter Präferenzen und Ziele der Organisation, welche kaum durchgängig operationalisierbar sind. Sie verändern sich im Prozess der Entscheidung, können veralten oder es treten neue hinzu. Ziele sind also keineswegs notwendig einer Entscheidung vorausgesetzt, vielmehr können sie auch erst nachträglich gefunden oder definiert werden. Des Weiteren sind organisierte Anarchien von fluktuierender Partizipation geprägt: Organisationszugehörige treten nicht nur ein und auch wieder

12 Cohen, March und Olsen (1972: 1) haben ihre Untersuchungen in öffentlichen Einrichtungen und Bildungseinrichtungen durchgeführt. Sie gehen aber davon aus, dass grundsätzlich in allen Organisationen Elemente einer organisierten Anarchie zu finden sind.

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aus, auch bei konkreten Entscheidungsgelegenheiten bleibt die Zusammensetzung und Aufmerksamkeit der Teilnehmer nicht stabil (Berger/Bernhard-Mehlich 1999: 148). Die Organisation erzeugt also durch ihre Beschaffenheit selbst Unsicherheit und produziert immer wieder unintendierte Konsequenzen. Oder anders: Organisierte Anarchien kanalisieren Unsicherheiten (beschränktes Wissen, inkonsistente Präferenzen und Ziele, fluktuierende Partizipation) in Wirkungszusammenhänge (Ströme, Mülleimer), die jedoch wiederum weitgehend unabhängig von intendiert rationalen Handlungsweisen der Subjekte Folgen zeitigen; sie sind eine bildhafte Beschreibung konzentrierter Unsicherheit. Den Organisationsmitgliedern wird dabei die grundsätzliche Fähigkeit zu intendiert rationalem Handeln nicht abgesprochen, im Gegenteil, sie entwickeln unterschiedliche Strategien zum aktiven Umgang mit anarchischen Entscheidungsprozessen. Allerdings vermögen diese kaum etwas an der Anarchie der Ströme und der grundlegenden Unsicherheit zu ändern.13 Auch organisationale Maßnahmen zur Reduktion von Unsicherheit (Standardisierungen, Prozessanalysen etc.) erzeugen kaum die intendierten Effekte einer Rationalisierung von Entscheidungsfindungen. Die organisationsintern erzeugte Unsicherheit ist ein Wesensmerkmal organisierter Anarchien, die kaum systematisch minimiert oder kontrolliert werden kann. Die Theorie der begrenzten Rationalität gesteht Organisationen die Fähigkeit zu, das zu tun, was sie vorgeben zu tun und somit u.a. Unsicherheit zu reduzieren. Das Mülleimer-Modell meint hingegen eine

13 March (1994: 205f.) benennt drei prototypische Haltungen: Entscheidungsträger mit einer reformerischen Haltung wollen das ›Chaos‹ der Entscheidungsprozesse strukturieren, indem sie Sachverhalte definieren, Wissen sammeln, inhaltliche Koordination herstellen und Kontrolle ausüben. Allerdings zeigen diese Versuche nur sehr begrenzt Wirkung. Pragmatische Entscheidungsträger gehen davon aus, dass die Prozesse nicht grundlegend verändert werden können, versuchen aber, sie vermittels verschiedenster mikropolitischer Strategien zu ihren Gunsten zu nutzen. Sie unterschätzen dabei jedoch die mikropolitischen Fähigkeiten ihrer ›Gegenspieler‹. Entscheidungsträger mit einer enthusiastischen Haltung betrachten die Entscheidungsprozesse in organisierten Anarchien als Chance zu kreativen und innovativen Entscheidungsergebnissen. Eine solche Haltung überschätzt allerdings die Konfusionstoleranz der Beteiligten.

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Differenz zwischen organisationalem Anspruch und gelebter Praxis identifizieren zu können. Allerdings bleibt die Frage offen, wie es einer Organisation gelingen kann, sich aufrecht zu erhalten, wenn sie scheinbar so wenig Kontrolle über ihre eigenen Prozesse hat. An dieser Frage – und an diesem historischen Stand der Forschung – setzen die systemtheoretischen Überlegungen Luhmanns an. 2.2 Systemtheorie Luhmann grenzt sich mit seinen organisationstheoretischen Annahmen aktiv von klassischen Organisationstheorien ab. Interessant erscheinen ihm nicht die praktisch greifbaren und subjektiv erfahrbaren Elemente einer Organisation, sondern die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Organisation. Organisationen sind soziale Systeme, deren spezifische Aufgabe es ist, vor dem unendlichen Möglichkeitsraum einer kontingenten Welt Entscheidungen zu erzeugen (Luhmann 2006: 221), alle weiteren Aspekte der Organisation sind Deduktionen systemspezifischer Entscheidungen14 und für die Bestimmung von Organisationen nachrangig. Einmal kommunizierte Entscheidungen werden zu Prämissen folgender Entscheidungen, insofern sie Bedingungen und Referenzrahmen für weitere Entscheidungen abstecken, also Kontingenz bearbeitet wird. Das bedeutet, dass durch Entscheidung Unsicherheit absorbiert wird. Gleichzeitig beinhaltet der Prozess der »Unsicherheitsabsorption« (Luhmann 2006: 183ff.) aber auch immer sein Gegenteil, bspw.: Im kognitiven Entscheidungsprozess tun sich bisher übersehene, unterdrückte oder völlig neue Alternativen auf (ebd.: 198); eine Entscheidung repräsentiert auch immer die abgelehnten Möglichkeiten und ruft somit sofort den Zweifel darüber auf den Plan, ob die Ent-

14 Organisationale Systeme entstehen und reproduzieren sich, »wenn es zur Kommunikation von Entscheidungen kommt und das System auf dieser Operationsbasis operativ geschlossen wird [Herv.i.O.]. Alles andere – Ziele, Hierarchien, Rationalitätschancen, weisungsgebundene Mitglieder oder was sonst als Kriterium von Organisationen angesehen worden ist – ist demgegenüber sekundär und kann als Resultat der Entscheidungsoperationen des Systems angesehen werden. Alle Entscheidungen des Systems lassen sich mithin auf Entscheidungen des Systems zurückführen.« (2006: 63)

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scheidung richtig war (ebd.: 64); eine mitgeteilte Entscheidung steigert das Risiko des Dissens (ebd.: 67).15 Eine kommunizierte Entscheidung überführt also unsichere Vergangenheit nicht in eine sichere oder sicherere Zukunft, sondern sie erzeugt auch zukünftige Unsicherheit, insofern im Moment der Entscheidung wiederum neue Möglichkeitshorizonte eröffnet sind, über die entschieden werden muss (Luhmann 2006: 184). Nachdem Unsicherheitsabsorption also dem Entscheidungsprozess immanent ist, »ist damit zugleich klargestellt, dass Unsicherheit nicht, wie im alltäglichen Sprachgebrauch, als dysfunktionaler Zustand zu begreifen sei, der nach Möglichkeit zu beheben sei. Im Gegenteil: fortbestehende und immer wieder neu generierte Unsicherheit ist die wichtigste Ressource der Autopoiesis des Systems. « (Ebd.: 186) Der Prozess der Unsicherheitsabsorption vollzieht sich allerdings quasi unbemerkt: Organisationen tendieren dazu, die eigenen Operationen als gut informierte Operationen zu kommunizieren; das vermeidet Stress, bedient das psychologische Bedürfnis nach Situationskontrolle und ist in diesem Sinne hoch funktional für organisierte Arbeit (Luhmann 2006: 188). Infolge dessen überschätzen Organisationen ihre Leistungsfähigkeit bei der Informationsverarbeitung. Mit der Bestimmung des Mechanismus der Unsicherheitsabsorption liefert die Systemtheorie keine Hinweise dazu, wie unter Unsicherheit entschieden wird. Den Organisationszugehörigen werden Entscheidungen lediglich zugeschrieben, es handelt sich hierbei um einen »Entlastungsmechanismus, den soziale Systeme verwenden, um trotz der Ungewissheit der Zukunft handlungsfähig zu bleiben« (Miebach 2006: 337). Der tatsächliche Einfluss der Organisationszugehörigen auf Entscheidungsprozesse wird dabei – wiederum als Strategie der Selbsttäuschung über Leistungsfähigkeiten und Unsicherheitsquellen – überschätzt (Luhmann 1995: 116). Mit Blick auf diese Selbsttäuschung ist gleichzeitig der Zweifel hervorgerufen, ob und bis zu welchem Gütegrad Organisationen über-

15 Unsicherheit kann auch strategisch erzeugt werden, indem andere über Sachverhalte in Unwissenheit gelassen werden oder auch sich selbst absichtlich im Zustand des Nichtwissens belassen, um sich vor Verantwortungszurechnung zu schützen (2006: 208). Diese Formen der Unsicherheit bzw. Unwissenheit generieren sich jedoch nicht als unmittelbares Produkt von Unsicherheitsabsorption, sondern sind Elemente mikropolitischer Prozesse.

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haupt rationale Entscheidungen erzeugen können. Dieser Aspekt hat jedoch in der Luhmann’schen Systemtheorie eine nachrangige Bedeutung: Organisationen erhalten sich nicht dadurch, dass sie gute Entscheidungen treffen, sondern dadurch, dass sie die Notwendigkeit zur Entscheidungsfindung immer wieder selbst herstellen.16 Mit der These der Unsicherheitsabsorption ist eine fatalistische Aussage getroffen: Unsicherheit kann nicht minimiert, sie kann immer nur in neue Unsicherheit transformiert werden. Organisationen bearbeiten Unsicherheit, dennoch sind die Prozesse der Unsicherheitsabsorption eine Sisyphusarbeit, ein klarer Kontrapunkt zu Theorien des Minimierungsszenarios, deren zu Grunde liegende Annahme ist, dass jede Entscheidung mehr Sicherheit in einer spezifischen Problemlage mit sich bringt. Das Modell der organisierten Anarchien hingegen konstatiert, dass Entscheidungen in Organisationen zumeist nicht rational gefällt werden, sondern auf Grund von organisationalen Strukturen und Zusammenhängen quasi hinter dem Rücken der Akteure ›passieren‹. Die organisationsintern erzeugte Unsicherheit erscheint als Störfaktor in Entscheidungsprozessen, die an Effizienz- und Effektivitätskriterien gemessen defizitär sind. Die Systemtheorie setzt sich vom ersten Pol deutlich ab, indem sie Unsicherheit als konstituierendes Element von Organisationen und modernen Gesellschaften insgesamt konzipiert: Unsicherheit wird nicht minimiert, sondern prozessiert. In der systemtheoretisch logischen Notwendigkeit von Unsicherheit, in ihrer Funktionalität für Organisationssysteme liegt auch der Unterschied zum Modell der organisierten Anarchien.

16 Der in der Organisations- und Handlungstheorie etablierte Begriff der Zweckrationalität wird durch den der »Unsicherheitsabsorption« ersetzt (2006: 184). Mit dieser begrifflichen Transformation umgeht die Theorie die qualitativ-inhaltliche Bestimmung organisationaler Entscheidungsprozesse und verabschiedet das Problem der analytischen Tragfähigkeit des Konstrukts Zweckrationalität.

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Z WISCHENRESÜMEE : P ARADIGMA KOGNITIV RATIONALER E RKENNTNISFÄHIGKEIT

Die bis hierhin vorgestellten Ansätze gehen von einer kognitiv-rationalen Erkenntnisfähigkeit der Akteure aus, die eine konzeptuelle Trennung und Hierarchisierung von Entscheiden und Handeln als Phasenabfolge im Entscheidungsprozess zur Folge hat. Im Modus des verstandesmäßigen Erfassens von Entscheidungsalternativen und deren möglichen Konsequenzen wird auf explizites Wissen rekurriert, das objektiv darstellbar und somit intersubjektiv nachvollziehbar ist. Dieses Wissen wird im Entscheidungsprozess kognitiv verarbeitet und leitet dann die nachgelagerte Handlung, die Umsetzung der getroffenen Entscheidung an. Der Umsetzung geht stets eine Phase der Planung des Handelns voraus. Unabhängig davon, ob die Alternativenwahl rational, begrenzt rational oder intendiert rational erfolgt, unabhängig davon, ob das Entscheidungsverhalten der Akteure von Erfolg gekrönt sein kann oder für die Entscheidungsverläufe in Organisationen nur marginale Bedeutung hat – auf der Akteursebene finden kognitiv-rationale Wahlakte statt. Akte, die nicht in dieser Kategorie verortet werden können, erscheinen zwangsläufig als entweder präreflexiv (Schemata und Skripte, routinisierte Verhaltensweisen) oder irrational. Ansätze, die davon ausgehen, dass Unsicherheit in Entscheidungsfragen systematisch minimiert werden kann, postulieren die Wirkmächtigkeit rational-planungsorientierten Entscheidens. Ansätze, die davon ausgehen, dass Unsicherheit in Entscheidungsfragen kaum nachhaltig reduziert werden kann, betonen die Autonomie organisationaler Strukturen gegenüber individuell intendiert rationalem Verhalten. Diesen beiden konzeptionellen Perspektiven steht mittlerweile eine Reihe neuerer empirischer Ergebnisse zu Entscheidungsfindung gegenüber, die die etablierten Annahmen über die Erkenntnisfähigkeit des Menschen erweitern. Hier werden empirisch beobachtbare Phänomene von Körperwissen, Erfahrungswissen und implizitem Wissen in den Fokus gerückt und als für Entscheidungsprozesse relevante Erkenntnisquellen systematisiert. In Konsequenz konstatieren sie, dass erfolgreiche Entscheidungen nicht nur im rational-logischen Denken, sondern auch im Handeln getroffen werden können. Die Bewältigung von Unsicherheit in Entscheidungsfragen erfolgt hier durch situatives Handeln und den Einsatz subjektiver Potenziale. Im Folgenden werden exemplarische Ansätze zur Verdeutlichung vorgestellt.

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B EWÄLTIGUNG

VON

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4.1 Neue Perspektiven Bauchgefühle: heuristisches Entscheidungsverhalten Der Psychologe Gerd Gigerenzer hat vor wenigen Jahren mit seiner Veröffentlichung zum Einsatz von – von ihm so benannten – Bauchgefühlen in Entscheidungssituationen einige Beachtung erfahren. Bauchentscheidungen sind seine Antwort auf die Frage, wie es Menschen gelingt, trotz Komplexität und Unsicherheit im Alltag schnelle und richtige Entscheidungen zu treffen. Hinter Bauchgefühlen, Intuitionen oder Ahnungen verbergen sich Faustregeln, die Subjekte anwenden, um Entscheidungen in komplexen Situationen schnell und unkompliziert zu treffen. »Faustregel« ist hierbei ein umgangssprachlicher Ausdruck für den wissenschaftlichen Terminus Heuristik (Gigerenzer 2007: 26), welcher das zentrale Element der Erläuterungen darstellt: »Als Heuristik bezeichnet man eine Methode, komplexe Probleme, die sich nicht vollständig lösen lassen, mit Hilfe einfacher Regeln und unter Zuhilfenahme nur weniger Informationen zu entwirren« (ebd.), indem die entsprechend der Faustregel wichtigste Information herausgegriffen und alle anderen außeracht gelassen werden. Werden Heuristiken unbewusst angewandt, – und das ist oft der Fall – so erfährt das handelnde Subjekt sie als ›Bauchentscheidungen‹, als Ahnungen, die quasi ›unvermittelt‹ im Bewusstsein auftauchen. Die Intelligenz des Unbewussten liegt darin, »dass es, ohne zu denken, weiß, welche Regel in welcher Situation vermutlich funktioniert« (ebd.: 26). Gigerenzer liefert eine Erklärung für den Mythos »Intuition« und liefert verschiedenste Beispiele für die zeitliche Integration von Entscheiden und Handeln. Gleichzeitig ordnet er diese Phänomene jedoch zu weiten Teilen dem Bereich des Präreflexiven zu. Die folgenden Ansätze vertreten eine radikalere Perspektive, sie beschreiben Handlungsund Denkprozesse, die sich sowohl von Routinehandlungen als auch von rationalen Wahlakten absetzen. »Erst Überlegen« – »erst Sehen« – »erst Handeln« In seinen theoretischen und praktischen Arbeiten zum Führungskräftecoaching verfolgt Mintzberg eine besondere Methode zur angeleiteten Reflexion über Entscheidungsprozesse: in seinen Seminaren lässt er die Teilnehmer ein Entscheidungsproblem zunächst am grünen Tisch

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besprechen, sie halten ein Meeting ab, wie es im Arbeitsalltag Usus ist. In einem zweiten Schritt lässt er sie eine gemeinsame Collage zum Thema anfertigen – die Teilnehmer sollen sich im wahrsten Sinne des Wortes ein gemeinsames Bild machen. In einem dritten Schritt sollen die Teilnehmer das Entscheidungsproblem in einem spontanen Sketch durchspielen, sie haben zur Vorbereitung nur sehr wenig Zeit. Mintzberg ist folgendes aufgefallen: Der Modus des »Zuerst Überlegen« verläuft in der Gruppe auf der verbalen Ebene, hier werden Fakten gesammelt und eine Handlungsplanung erstellt anhand der herkömmlichen Analyseverfahren von Ursache und Wirkung, Problem und Lösung usw. Diese herkömmlichen Analyseverfahren verleiten paradoxerweise dazu, bloß an der Problemoberfläche zu kratzen, da weniger auf die Qualität der Analyse als auf deren Effizienz geachtet wird (Mintzberg/Westley 2001: 12). Das Ergebnis ist oft keine gemeinsam erarbeitete Lösung, sondern eher eine Aneinanderreihung verschiedener Ansätze, die sich im Detail unterscheiden. »Beim ›Überlegen‹ kann weniger Disziplin herrschen, als wir auf den ersten Blick glauben, weil es den meisten von uns einfacher erscheint als es in Wahrheit ist.« (Ebd.: 12) Der Modus des »Zuerst Sehen« verläuft auf der visuellen Ebene: Die Gruppenzugehörigen sollen gemeinsam einen Lösungsweg vergegenständlichen. Hier sind Ideen, Visionen und Phantasie ausschlaggebend. Zum einen müssen sie zu einem Konsens finden und sich daher viel gründlicher mit allen aufkommenden Ideen auseinandersetzen. Zum anderen zwingt die Visualisierung dazu, sich wirklich auf die Suche nach dem Kern eines Problems zu machen. Oft erkennen die Gruppen nach dieser Übung, dass sie im Modus des »Erst Überlegen« gar keinen wirklichen Konsens, sondern nur einen oberflächlichen Kompromiss erzielt haben. Der Modus des »Zuerst Handeln« betont intuitive Vorgänge, hier zählt der Erfahrungsschatz, auf den spontan und schnell zurückgegriffen wird. Wenn sich der Lösung eines Problems nicht durch Nachdenken genähert werden kann, so gilt es zu experimentieren, etwas auszuprobieren, um dabei zu lernen. »Das Überlegen mag das Handeln vorantreiben, aber dieses Handeln treibt auch sicher das Überlegen an. Wir denken also nicht nur um zu handeln – ebenso handeln wir, um zu denken.« (Ebd.: 11) Die interaktive Improvisation von Sketchen kann nur dann funktionieren, wenn die Teilnehmer für die Signale der Anderen offen und

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somit den unvorhersehbaren Entwicklungen der Situation gegenüber achtsam sind. Mintzberg kritisiert diesbezüglich an anderer Stelle die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie: die Akteure würden in eine passive Rolle gedrängt, da implizites Wissen und kreative Alternativenentwicklungen nicht in den Blick genommen würden (Langley u a. 1995: 268f.). Im Gegensatz dazu fasst Mintzberg den Entscheidungsprozess als Handlung inspirierter und sich wechselseitig inspirierender Akteure. Achtsamkeit Der Organisationspsychologe Weick übt in seinen Ausführungen eine fundamentale Kritik am Entscheidungsbegriff: der Suchfokus von »Entscheidung« wirft die Analyse stets auf Fragen der Rationalität und Zurechenbarkeit zurück – eine brisante Mischung, die den Handlungsweisen der Akteure vor allem dann nicht gerecht wird, wenn die Frage geklärt werden muss, warum eine falsche Entscheidung getroffen wurde oder nicht mehr nachvollziehbar ist, warum eine Entscheidung so und nicht anders fiel. Weick wirft einen besonderen Blick auf high-reliability-Organisationen (HRO), Organisationen also, die in Krisensituationen hundertprozentig verlässlich agieren müssen (bspw. Feuerwehr, Notfallmedizin, Atomkraftwerke). Seine These ist, dass gerade in kritischen Situationen die Fähigkeit zur Sinnerzeugung – und nicht diejenige zum Treffen perfekt rationaler Entscheidungen – hoch funktional ist. Organisationen betreiben permanent Sinnerzeugung, wenn ihnen das nicht mehr gelingt, hören sie auf zu existieren. Am Beispiel eines missglückten Feuerwehreinsatzes zeigt Weick auf, wie Prozesse der Sinnerzeugung ablaufen und auch woran sie scheitern können (vgl. Weick 1993). »The attitude of wisdom«, sinngemäß übersetzt »die Weisheit des Zweifels« wird hier als eine von vier Dimensionen17 beschrieben, die die Verwundbarkeit von Organisationen durch Sinnverlust minimieren: Ausgangspunkt ist die wissenstheoretische Erkenntnis, dass mehr Wissen nicht mehr Gewissheit, sondern mehr Unsicherheit erzeugt. Je mehr Wissen über etwas angeeignet wird, desto mehr neue Fragen

17 Die weiteren Dimensionen sind respektvolle Interaktion, ein funktionierendes Rollensystem und Improvisationsfähigkeit (vgl. Weick 1993).

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werden aufgeworfen. Sinnverlust droht prinzipiell stets dann, wenn vorhandenes Wissen, Überzeugungen, Erwartungen, Fähigkeiten etc. ad absolutum gesetzt werden, Akteure also ihres Nichtwissens gegenüber unachtsam sind, etabliertes Wissen auf neue Situationen anzuwenden versuchen – und scheitern. »In a fluid world, wise people know that they don’t fully understand what is happening right now, because they have never seen precisely this event before.« (Weick 1993: 641) In HRO beobachten Weick und Sutcliffe (2003) Achtsamkeit als oberste Maxime im Arbeitsalltag. Der Begriff der Achtsamkeit meint hierbei allerdings das Gegenteil von detaillierter Planung und Standardisierung von Prozessen. Das Unerwartete ist und bleibt gerade deswegen unerwartet, weil es nicht antizipiert werden kann. Was jedoch antizipiert werden kann, ist die Tatsache, dass in Organisationen jederzeit Unerwartetes passieren kann. Die Autoren konstatieren, dass keine Organisation (nicht nur HRO) allein durch detaillierte Planung, umfassende Routinen und ausgefeilte Kontrollsysteme zu leiten sei, im Gegenteil könne Planung unter Umständen alles verschlimmern, weil sie Handlungsmustern der Achtsamkeit zuwiderlaufen (Weick/Sutcliffe 2003: 99): Pläne enthalten spezifische Erwartungen und engen dadurch die Wahrnehmung ein, was bei der Bewältigung krisenhafter Situationen kontraproduktiv ist – gefragt ist professionelle Improvisationsfähigkeit. Ausschlaggebend für die erfolgreiche Bewältigung ungewisser Situationen ist eine Organisationsform, die durch respektvolle Interaktion in einem stabilen Rollensystem Improvisationsverhalten zulässt, das Achtsamkeit gegenüber unerwarteten Ereignissen in adäquate Reaktionen überführen kann. Solchen Organisationen gelingt es, sich im laufenden Prozess zu koordinieren, anstatt auf akute Situationen allein mit standardisiertem Repertoire zu reagieren. Improvisation Improvisation als spezifischer Handlungsmodus spielt in allen neueren Ansätzen eine wichtige Rolle, bei der Untersuchung von Musikimprovisationen rückt sie ins Zentrum: Es werden nicht vorgegebene Noten in festgelegtem Tempo und Dynamik vom Blatt gespielt, sondern das Musikstück entsteht erst im Improvisationsprozess. Figueroa-Dreher (2008) hat empirische Studien zur Improvisation im Free Jazz durchgeführt und ist dabei auf verschiedene Bedingungen der Möglichkeit

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des freien Improvisierens gestoßen: Grundlegend ist eine absolute Konzentration auf den Augenblick; während des Improvisierens zählt weder der Blick in die Vergangenheit (hat das Stück bis jetzt funktioniert?) noch der Blick in die Zukunft (wie soll das Stück weiter verlaufen?). Die Situation ist also nicht nur dadurch von Unsicherheit geprägt, dass das Spiel der Mitmusiker nicht antizipiert werden kann, sondern maßgeblich auch dadurch, dass das eigene Handeln ganz bewusst nicht festgelegt oder geplant wird (ebd.: 167). Das spontane, flexible Spiel ist impulsgetrieben. Ein Musiker hört bspw. einen bestimmten Ton oder eine Rhythmusfolge, die ihn dazu veranlasst, einen weiteren Ton oder Rhythmus hinzuzufügen. Dies passiert unreflektiert und innerhalb von Sekundenbruchteilen – Voraussetzung hierfür ist wiederum eine gute Kenntnis des eigenen Instrumentes bzw. große Spielerfahrung. Die Wahrnehmung und Verfolgung eines Impulses tritt an die Stelle einer verstandesmäßigen Entscheidung, für die im Moment der Improvisation keine Zeit ist. »Anders als in der Psychologie, die impulsive Handlungen als negative Ereignisse betrachtet, die die Einstimmung bzw. Koordination zwischen handelnden Menschen erschweren, wird der Impuls von den Free-Jazz-Musikern als ein produktiver, positiver Mechanismus gesehen, der ihnen überhaupt erst ermöglicht, in blitzschnellem Tempo musikalisch sinnvoll ihr Handeln zu koordinieren.« (Ebd.: 169)

Die intersubjektive zeitliche Koordination beschreiben die Musiker vermittels leiblicher Metaphern wie bspw. »gemeinsames Atmen« oder »Gruppenpuls« (Figueroa-Dreher 2008: 176f.). Dieses körperlichsinnliche Empfinden, die Impulsgetriebenheit und die Konzentration auf den Augenblick bedürfen keiner kognitiven Reflexion, sie resultieren aber dennoch nicht in bloß routinehaftem Handeln, sondern die Musiker schöpfen »aus einem enormen Vorrat an Rohmaterial […], das im Prozess des Improvisierens zu immer wieder neuen Musikformen modelliert wird.« (Figueroa-Dreher 2010: 194) Körperlich vermittelte Koordination Der Sportsoziologe Alkemeyer beschäftigt sich mit Aspekten der körperlich vermittelten Koordination in Sportspielen. Sein Beobachtungsfeld sind Schnelligkeits- bzw. Teamsportarten wie bspw. Fußball, Eishockey etc., die er als hoch unsichere Handlungskontexte begreift, im

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Rahmen derer sich die Sportler vermittels leiblicher Koordination und Kommunikation zurechtfinden. Mannschaftssportarten zeichnen sich durch eine »strategische Interaktionsunsicherheit« (Alkemeyer 2009: 183) aus, die der Autor auch mit dem Begriff der doppelten Kontingenz kennzeichnet: es befinden sich gleichzeitig mehrere Spieler in direktem Kontakt mit den eigenen und den gegnerischen Spielern. Das Spiel stellt also eine komplexe Handlungssituation dar, innerhalb derer die korrekte Antizipation gegnerischer Spielzüge, Handlungen oder Erwartungen prinzipiell unwahrscheinlich ist. Gleichzeitig müssen die Spieler sowohl als Individuen als auch als Team permanent Entscheidungen darüber treffen, wie sie das Spiel weiter bestreiten. Doppelte Kontingenz und Zeitknappheit erlauben es den Spielern so gut wie gar nicht, zwischen Handlungsalternativen kognitiv-rational abzuwägen. Um in der – wie Alkemeyer es nennt – »permanenten Krisensituation« (Alkemeyer 2009: 186) des Spiels dennoch handlungsfähig zu bleiben, müssen die Spieler die Fähigkeit besitzen, andere Formen des Wissens einzusetzen, andere Wege der Handlungskoordination jenseits von Planungsorientierung anzuwenden. Den Untersuchungen Alkemeyers zufolge rekurrieren Sportler zur Einschätzung der Spielsituation größtenteils auf körperliche Signale ihrer Mitspieler und Gegner. »Augenblicklich müssen für Außenstehende zumeist unmerkliche physische Äußerungen – Körperhaltungen, Fußstellungen, ein leises Muskelzucken – als Hinweise auf Zukünftiges gelesen, nein besser: erspürt werden« [Herv.i.O.] (Alkemeyer 2009: 187). Die Interpretation der Körperhaltungen und -bewegungen der anderen Akteure resultiert unmittelbar in einer situationsadäquaten körperlichen Reaktion, die durchaus von routinisierten Abläufen und festgelegten Spielstrategien abweichen kann und muss. Die beobachtbaren Bewegungsvollzüge besitzen eine spezifische Informationsqualität, die zur Koordination eines komplexen Spielgefüges weitaus effektivere und schnellere Hinweise gibt, als der Umweg über sprachliche Explikation von Körperwissen – ein Unterfangen dessen Machbarkeit in der Literatur ohnehin weitestgehend angezweifelt wird. Das Handeln der Spieler basiert auf eingeübten Körpertechniken, deren Vollzug sie blitzschnell abrufen können, da sie eben nicht erst reflektiert werden müssen. Alkemeyer betont aber, dass es sich hierbei nicht einfach um Routinen handelt, sondern um jeweils situativ-kreative Anpassungen – ähnlich dem, wie es Figueroa-Dreher für den Free

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Jazz beschreibt: Improvisationsmusiker sind in der Lage, die aufgrund ihrer Expertise vorhandenen Kenntnisse über ihr Instrument und musikalische und melodische Regeln und Zusammenhänge ohne zeitraubende Reflexion adaptiv und jeweils immer wieder auf neue Art in den Spielfluss zu integrieren und ihn somit mit zu gestalten. Dieselben Voraussetzungen (Expertise) und Fähigkeiten (Adaption) benennt Alkemeyer in Bezug auf Mannschaftssportler. Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Arbeitshandeln Das Konzept des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns wurde von dem Arbeits- und Industriesoziologen Böhle mit Blick auf den Umgang von Beschäftigten mit komplexen technischen Anlagen und Maschinen entwickelt. Diese Form des Handelns kommt vor allem dann zum Einsatz, wenn ungeplante Ereignisse oder Unwägbarkeiten auftreten, die gehändelt werden müssen. Die Empirie zeigt, dass diese Situationen kaum als Ausnahmen zu bezeichnen sind, vielmehr sind sie ein zentraler Bestandteil industrieller Fertigungsprozesse, obwohl diesen im Allgemeinen eine hohe Planbarkeit zugeschrieben wird. Maschinen und Anlagen haben »Macken«, sie gehen kaputt, sie müssen kurzfristig umgerüstet werden, wenn ein dringender neuer Auftrag reinkommt etc. »Je komplexer technische und organisatorische Systeme werden, umso mehr treten zugleich Grenzen der Kontrolle und Beherrschung auf. « Diese Grenzen sind »nicht durch ein ›Mehr‹ an Wissenschaft und Technik ausschaltbar, sondern entstehen immer wieder in neuer Weise und auf neuem Niveau« (Böhle/Weihrich 2009: 208). Die These ist, dass gerade in den Momenten ungeplanter Ereignisse und unerwarteter Problemlagen der rational-verstandesmäßige Handlungsmodus selbst an seine Grenzen gerät. Oder anders: unsichere Situationen sind gerade deswegen unsicher, weil sie nicht im Modus des rational-verstandesmäßigen Durchdenkens begriffen werden können. Solche Situationen verlangen eine andere Vorgehensweise, ein ›anderes Denken‹, um sie bewältigen zu können. Dieses andere Denken erscheint unter dem kognitiv-rationalen Paradigma als defizitär, in der Praxis von Arbeitsvollzügen ist es empirisch jedoch als hochfunktional und effizient zu bewerten. Beschäftigte können unsichere Situationen gerade dadurch bewältigen, dass sie nicht planungsgeleitet-objektivierend, sondern erfahrungsgeleitet-subjektivierend handeln:

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Im Fall einer Störung einer technischen Anlage gehen Beschäftigte zumeist explorativ vor; sie erkunden das Problem durch verschiedene Eingriffe und Veränderungen an der Maschine und die Wahrnehmung der Reaktionen darauf. Sie treten in eine dialogische Interaktion mit ihrem Arbeitsgegenstand. Hierbei ist die sinnliche Wahrnehmung ausschlaggebend. Ein ungewohntes Geräusch, eine unübliche Temperatur oder eine geringe Farbveränderung, akustische, optische und sensomotorische Wahrnehmungen liefern ein Bild über die Norm und eventuelle Abweichungen von ihr. Hierbei konzentriert sich die komplexe sinnliche Wahrnehmung jedoch nicht nur auf einzelne, exakt definierte und aufbereitete Informationen, wie sie etwa durch Überwachungssysteme bereit gestellt werden, sondern auch auf die »Zwischentöne«, auf eher »diffuse und vielschichtige Informationsquellen.« (Böhle 2001: 120) Die Wahrnehmung dieser besonderen Informationen ist mit einem körperlichen Spüren verbunden und zeichnet sich somit durch eine synästhetische Qualität aus, bspw. beschreiben Beschäftigte ein Geräusch als ›warm‹, ›rund‹ oder ›schräg‹ usw. Die Fähigkeit einer solchen Wahrnehmungsweise ist dabei keine Selbstverständlichkeit, sie ist eine »besondere professionelle Kompetenz« (Böhle 2009: 213), deren Ausbildung an ein längeres praktisches Arbeitshandeln, an das Erfahrungswissen der Beschäftigten gekoppelt ist. Mit der sinnlichen Wahrnehmung wird das Denken jedoch nicht ausgeschaltet, es ändert nur den Modus von verstandesmäßig-rational zu bildhaft-assoziativ. Personen können nicht nur auf eine Art denken, nicht nur in Begriffen, sondern auch in Bildern: nicht direkt beobachtbare »komplexe Situationen und Abläufe werden ›wie in einem Film‹ imaginativ visualisiert […]. Man sieht damit mehr, ›als man sieht‹.« (Böhle 2009: 216) Dies passiert unter Umständen blitzschnell und beruht wiederum maßgeblich auf dem Erfahrungswissen des Beschäftigten. Die beschriebenen Dimensionen der spezifischen Vorgehensweise und sinnlichen Wahrnehmung resultieren in einer besonderen Beziehung zum Arbeitsgegenstand. Maschinen und Anlagen werden keineswegs nur als tote Objekte betrachtet, sondern nehmen in den Augen der Beschäftigten die Rolle eines Interaktionspartners ein, dessen Reaktionsweisen interpretiert werden müssen, um über ihr ›Innenleben‹ Auskünfte zu erhalten. Beschäftigte beschreiben ihr Vorgehen in uneindeutigen Störsituationen weniger als distanziert-rationalen Umgang mit ihrem Arbeitsgegenstand, weniger als einseitiges Eingreifen in ei-

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nen technischen Zusammenhang, sondern vielmehr als ein »gemeinsames Tun« (Böhle 2009: 218) mit der technischen Anlage. Wo das planungsgeleitet-objektivierende Paradigma die Trennung von Planung und ausführender Handlung vorsieht und somit in der Planung ausschließlich explizites Wissen zum Einsatz kommt, zeichnet sich erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln dadurch aus, dass im Handeln Entscheidungen fallen bzw. genauer, dass sich erst durch das Handeln entschieden wird und hierbei vor allem Erfahrungswissen bzw. implizites Wissen und inkorporiertes Wissen zum Einsatz kommen.18 4.2 Elemente des Entscheidens im Handeln Die vorgestellten jüngeren Ansätze bieten neue Perspektiven auf das Thema Entscheiden unter Unsicherheit, indem sie empirische Phänomene jenseits planungsorientierter Vorgehensweisen in den Blick rücken. Bei aller Diversität der empirischen Beispiele und theoretischen Betrachtungsweisen werden zentrale Annahmen geteilt. Entscheidungen und Entscheidungsverläufe können nicht en detail geplant werden. Diese Erkenntnis ist nicht neu und herrscht bereits in den etablierten Theorieansätzen des Minimierungs- und des Ohnmachtsszenarios vor. Theorien der rationalen Wahl, der bounded rationality und des inkrementellen Entscheidens verbleiben jedoch innerhalb der Grenzen des Planbaren und beschreiben, wie diese Grenzen systematisch erweitert, wenn auch nicht überwunden werden können. Das Mülleimer-Modell und die systemtheoretische Perspektive setzen die Grenzen der Planbarkeit enger und sehen gleichzeitig verminderte Einflusspotenziale der Akteure in Entscheidungssituationen. Demgegenüber verlassen die vorgestellten jüngeren Ansätze den Bereich des Planbaren, sie fokussieren auf Situationen, in denen planvolles Vorgehen weitestgehend unmöglich ist, und stellen die Einflusspotenziale der Akteure in den Mittelpunkt ihrer Beobachtungen.

18 Das Konzept des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns wurde von Bolte/Porschen (2006) auf Interaktionssituationen zwischen Subjekten ausgeweitet, hiermit wurden systematische Elemente informeller Kooperation und Kommunikation erarbeitet und deren Relevanz für den reibungslosen Ablauf von Arbeitsprozessen empirisch belegt.

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Betrachtungen von Sportspielen, HRO und Arbeits- und Produktionsprozessen stellen fest, dass hier jederzeit Unwägbarkeiten auftreten können, deren Bewältigung gerade nicht durch planmäßiges Vorgehen und standardisierte Handlungsweisen gewährleistet werden kann. Untersuchungen zur Problemlösung in Gruppen und zur Musikimprovisation geben Hinweise darauf, dass in ungewissen Situationen das aufmerksame und zugleich experimentelle Handeln gegenüber dem rein kognitiv-rationalen Durchdenken eines neuen Sachverhalts systematische Vorteile bietet. Dies führt zu einer theoretischen Fokussierung auf Phänomene der Gestaltung und Koordination in laufenden Prozessen. Auch die etablierten Theorien des Minimierungs- und des Ohnmachtsszenarios begreifen Entscheidungen als Prozess. Allerdings basiert die Prozesshaftigkeit hier vor allem auf der Vorstellung einer Trennung von vorgelagerter Reflexion und nachgelagerter Umsetzung des Reflexionsergebnisses. Die im Denken getroffene Entscheidung koordiniert das anschließende Handeln. Die eigentliche Entscheidung findet also jenseits des Handelns unter Unsicherheit statt. Die jüngeren Ansätze hingegen begreifen den Handlungsprozess als Ort der Entscheidungsfindung unter Unsicherheit, deren erfolgreiche Bewältigung gerade darin gründet, dass Reflexion und Handlung keiner zeitlichen Trennung unterliegen. Das Weick’sche Konzept der Achtsamkeit betont die Notwendigkeit, krisenhafte Entwicklungen in ihren nuancenreichen Abweichungen von Standardprozessen zu erfassen, und zwar gerade dadurch, dass sie nicht in standardisierter Form betrachtet und bearbeitet werden. Dies impliziert improvisatorische Ad-hoc-Handlungen, die jedoch von Weick inhaltlich nicht genauer bestimmt werden. Konkreter wird hier der Ansatz des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns mit der Deskription von explorativ-entdeckendem und dialogisch-interaktivem Vorgehen bei der Suche nach Problemursachen und Problemlösungen. Improvisation und exploratives Vorgehen ermöglichen Erkenntnisse über neuartige Entwicklungen und leiten gleichzeitig das weitere Vorgehen im Such- und Entscheidungsprozess an. Mit der Betrachtung von Problemlösungen in Gruppen, Musikimprovisationen und Sportspielen wird die Ebene der intersubjektiven Koordination beleuchtet. Hier wird beschrieben, wie Vergegenständlichung, sinnliche Wahrnehmung und leibliche Signale zur wechselseitigen Steuerung und Integration der Subjekte in einen gemeinsamen Handlungsprozess wirksam werden.

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Bei der Koordination in laufenden Prozessen kommen spezifische Wissensformen zum Einsatz. In den genannten Ansätzen des Bewältigungsszenarios sind dies bspw. Fachwissen, inkorporiertes Wissen, Erfahrungswissen und implizites Wissen. Es handelt sich um subjektgebundene Wissensformen, die nur begrenzt dokumentierbar sind. Vor allem die drei letztgenannten Formen stehen in deutlichem Gegensatz zu explizitem bzw. objektivem Wissen, welches bspw. in Handreichungen und Lehrliteratur vermittelt und rein kognitiv verarbeitet werden kann. Aus Perspektive der Theorien des Minimierungs- und des Ohnmachtsszenarios erscheinen diese ›anderen‹ Wissensformen defizitär, hier gelten allein rational-kognitive Denkprozesse als Schlüssel zur Erkenntnis. Gleichwohl stellen die neueren Ansätze heraus, dass diese spezifischen Wissensformen in professionellen Kompetenzen resultieren, die gerade aufgrund ihrer Subjektgebundenheit eine hohe Funktionalität nicht nur für Entscheidungsfindungen auf individueller Ebene, sondern auch für die intersubjektive Gestaltung von Entscheidungs- und Handlungsverläufen aufweisen. Zu betonen ist, dass diese professionellen Kompetenzen weder als rein kognitive Reflexion noch als präreflexive Routinen (vgl. Böhle 2009) zu Tage treten. Subjektgebundene Wissensformen äußern sich vielmehr in besonderen Modi des Denkens, bspw. dem bildhaft-assoziativen Denken, wie es im Konzept des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns systematisiert wird. Diese Modi unterscheiden sich von logisch-rationalen Konzepten der menschlichen Denkfähigkeit, beschreiben aber dennoch eine Form der Reflexion. Somit stehen sie auch in einem Gegensatz zu unbewussten Routinehandlungen, die bspw. eine Improvisation oder die situative Gestaltung eines Sportspiels verunmöglichen würden. Mit den jüngeren Ansätzen zum Umgang mit Unsicherheit eröffnen sich neue Perspektiven für die Entscheidungstheorie. Jenseits von Minimierungsversuchen und Ohnmachtserfahrungen kann eine Bewältigung von Unsicherheit in Entscheidungsprozessen auf dem empirisch beobachtbaren Einsatz subjektgebundener Wissensformen und subjektiver Potenziale basieren. Diese sind die Bedingungen für Improvisationsfähigkeit, körperliches Geschick und Empfinden sowie assoziatives Denken im Handlungsprozess – einem Handlungsprozess, der nicht planungsgeleitet vollzogen, sondern situativ hergestellt wird.

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L ITERATUR Alkemeyer, Thomas (2009): »Handeln unter Unsicherheit – vom Sport aus betrachtet«, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 183–202. Berger, Ulrike/Bernhard-Mehlich, Isolde (1999): »Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie«, in: Alfred Kieser (Hg.), Organisationstheorien, Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 3. Auflage, 133– 168. Böhle, Fritz (2001): »Sinnliche Erfahrung und wissenschaftlich-technische Rationalität – ein neues Konfliktfeld industrieller Arbeit«, in: Burkart Lutz (Hg.), Entwicklungsperspektiven von Arbeit. Ergebnisse aus dem Sonderforschungsbereich 333 der Universität München, Berlin: Akademie Verlag, 113–131. Böhle, Fritz (2009): »Weder rationale Reflexion noch präreflexive Praktik – erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln«, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 203–228. Bolte, Annegret/Porschen, Stephanie (2006): Die Organisation des Informellen. Modelle zur Organisation von Kooperation im Arbeitsalltag, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Cohen, Michael D./March, James G./Olsen, Johan P. (1972): »A garbage can model of organizational choice«, in: Administrative Science Quarterly, Jg. 17, Heft 1: 1–25. Coleman, James S. (1991): Grundlagen der Sozialtheorie, Band 1: Handlungen und Handlungssysteme, München: Oldenbourg. Esser, Hartmut (1990): »Habits, Frames und Rational Choice. Die Reichweite von Theorien der rationalen Wahl am Beispiel der Erklärung des Befragtenverhaltens«, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 19, Heft 4: 231–247. Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/ New York: Campus, 3. Auflage. Figueroa-Dreher, Silvana K. (2008): »Musikalisches Improvisieren: Ein Ausdruck des Augenblicks«, in: Ronald Kurt/Klaus Näumann (Hg.), Menschliches Handeln als Improvisation. Sozial- und musikwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript, 159–182. Figueroa-Dreher, Silvana K. (2010): »Abstimmungsprozesse im Free Jazz. Ein Modell des Ordnens«, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich

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Rudzio, Wolfgang (2001): »Transparenz und Effizienz. Entscheidungen im demokratischen Verfassungsstaat«, in: Klaus Dicke (Hg.), Politisches Entscheiden, Baden-Baden: Nomos, 41–51. Scharpf, Fritz W./Mohr, Matthias (1994): »Efficient Self-Coordination in Policy Networks. A Simulation Study«, MOIFG Discussion Paper 94/1, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Schimank, Uwe (2005): Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Selten, Reinhard (1999): Game theory and economic behaviour. Selected Essays, Cheltenham-Northhampton: Edward Elgar Publishing, Vol. 2. Simon, Herbert A. (1982a [1979]): »Theories of bounded rationality«, in: ders.: Models of bounded rationality. Behavioral economics and business organizations, Cambridge/London: MIT Press, Band 2: 408–423. Simon, Herbert A. (1982b): »Rational Decision Making in Business Organizations«, in: ders.: Models of bounded rationality. Behavioral economics and business organizations, Cambridge/London: MIT Press, Band 2: 474–513. Simon, Herbert A. (1982c): »From substantive to procedural rationality«, in: ders.: Models of bounded rationality. Behavioral economics and business organizations, Cambridge/London: MIT Press, Band 2: 424–443. Weick, Karl E. (1993): »The Collapse of Sensemaking in Organizations: The Mann Gulch Disaster«, in: Administrative Science Quarterly, Jg. 38, Heft 4: 628–652. Weick, Karl E./Sutcliffe, Kathleen M. (2003): Das Unerwartete managen. Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen, Stuttgart: Klett-Cotta.

Organisation in der Risikogesellschaft S TEPHANIE S TADELBACHER

E INLEITUNG Das Ausgangsinteresse, das diesem Aufsatz zugrunde liegt, war die Frage nach theoretischen Linien und Problemstellungen im internationalen Diskurs zum Thema »Organisationen und deren Management von Ungewissheit«. Beispielhaft wurde hierfür die Sonderausgabe »Organizations and Risk in Late Modernity« der Zeitschrift Organization Studies aus dem Jahr 2009 (30/2&3) analysiert.1 Das Ziel dieser Sonderausgabe war es, Risiken als elementares, bislang aber vernachlässigtes Thema für die Organisationsforschung herauszustellen, was nicht zuletzt mit dem Wandel des Risikobegriffs und der Bedeutung von Organisationen in diesem Zusammenhang argumentiert wird. Im Zentrum stehen dabei das Verständnis von Risiken und die verschiedenen (möglichen) Umgangsformen damit aus Sicht der Risikogesellschaft nach Ulrich Beck und anderen.2 In der reflexiven oder zweiten Moderne erweisen sich Unwägbarkeiten in verschiedenstem Ausmaß als zentraler Faktor des organisatorischen oder konkreten wirtschaftlichen Handelns und bedürfen als solcher neuer Aufmerksamkeit. Galt es in der (ersten) Moderne jede Form des Risikos durch wissenschaftliche Berechnung und technische Kontrolle zu ›beseiti-

1

Dieser Aufsatz basiert im Wesentlichen auf einer Expertise, die eben diese

2

Vgl. Gephart u.a. 2009; Miller 2009. Zur Theorie reflexiver Modernisie-

Analyse zum Inhalt hat (vgl. Stadelbacher 2010). rung vgl. Beck 1986; Beck/Giddens/Lash 1996; Beck/Bonß 2001.

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gen‹, so erweist sich diese Haltung heute immer mehr als unzureichend und illusionär. Neue Formen des Umgangs mit Unsicherheit werden unter reflexiv modernen Bedingungen nötig.3 Diese Theorieperspektive ergänzt die Ausführungen im vorangegangenen Aufsatz von Judith Neumer (in diesem Band). Ich lehne mich im Folgenden deshalb auch an die heuristischen Paradigmen von Neumer an und frage, ob sich das reflexiv moderne Verständnis von Risiken und die aus diesem Verständnis heraus diagnostizierten bzw. propagierten Strategien des Umgangs damit theoretisch in den dort ausbuchstabierten Rahmen – Beherrschung, Ohnmacht und Bewältigung – einstellen lassen oder ob sich mit dieser Perspektive gar ein viertes Paradigma anbietet.

1

N EUE R ISIKEN

IN DER

R ISIKOGESELLSCHAFT

1.1 Begriffliche Klärungen Um das Thema differenziert genug diskutieren zu können, bedarf es begrifflicher Konkretisierungen. Wie die meisten Autoren in »Organizations and Risk in Late Modernity« unterscheidet auch Neumer zwei Varianten von Entscheidungen unter Unsicherheit, welche sie schlicht als »die Absenz von Sicherheit definiert«: »Unsicherheit bei Entscheidungen besteht dann, wenn nicht uneingeschränkt bekannt ist, welche aller möglichen Umweltsituationen tatsächlich eintreten wird, welche Auswirkungen die Umsetzung einer bestimmten Wahlalternative also haben wird.« (Neumer 2009: 9)4

Hier differenziert sie analytisch zwischen der (1) Entscheidung unter Risiko, einer Situation, in der »die Wahrscheinlichkeitsverteilung über alle eventuell eintretenden Umweltsituationen bekannt ist« (ebd.) und der (2) Entscheidung unter Ungewissheit, also dem Fall, dass »die

3

»Von reflexiver [i.S. von selbstbezüglicher; Anm.d.Verf.] Modernisierung sprechen wir, wenn die Modernisierung immer mehr mit der Bewältigung selbstgeschaffener Probleme beschäftigt ist.« (Beck/Holzer 2004: 165)

4

Vgl. auch den Beitrag von Judith Neumer »Entscheiden« in diesem Buch.

O RGANISATION

IN DER

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möglicherweise eintretenden Umweltsituationen, jedoch nicht deren Wahrscheinlichkeiten bekannt sind« (ebd.). Diese Differenzierung erfolgt nach dem modernen Verständnis von Unsicherheit gemäß klassischer Entscheidungstheorien. Als dritte, gleichsam reflexiv moderne Variante kommt nun aber noch die (3) Entscheidung unter völliger Unsicherheit bzw. unter Nichtwissen hinzu, einem Szenario, in dem selbst die möglicherweise eintretenden Folgen des Handelns nicht bekannt sind und damit auch keine Wahrscheinlichkeitsberechnungen erfolgen können. Diese Version des Entscheidens unter Unsicherheit findet sich in erstmodernen Entscheidungstheorien nicht wieder.5 Wird nun nach dem modernen Umgang mit den verschiedenen Varianten von Unsicherheit gefragt, wie sie auch in der Sonderausgabe von Organization Studies dargelegt werden, so gilt aufgrund des objektiv-naturalistischen Charakters von Risiken und ihrer (unterstellten) wissenschaftlichen Kalkulier- und Kontrollierbarkeit entsprechend rationales Abwägen und Entscheiden als die adäquate und eine Beherrschung des eigentlich nur Wahrscheinlichen ermöglichende Strategie. Expertise und auf rationalen Kalkulationen (etwa mittels Kosten-Nutzen-Vergleich, statistischen Berechnungen etc.) basierende Entscheidungen und Handlungen gelten als beste Möglichkeit des Umgangs mit Risiko. Aber auch bei Ungewissheit erhalten rationales Handeln und wissenschaftliche Beherrschung den Status des korrekten, weil risikominimierenden Umgangs, m.a.W.: auch hier ist das Rationalisierungsparadigma der Kontrolle und Beherrschung die Basis von Erwartungen, Prognosen, Entscheidungen und Handlungen unter Ungewissheit. Obwohl eine empirisch fundierte Basis der rationalen Kalkulation fehlt, wird den Akteuren diese unterstellt, und selbst unter Bedingungen des partiellen Nichtwissens werden die vorhandenen Informationen und Alternativen zur Entscheidungsgrundlage, wie in der gegebenen Situation und unter den (plausibilisierten) Wahrscheinlichkeitsannahmen optimal zu handeln sei. Die Frage nach einer möglichen Strategie des Umgangs mit Unwissenheit, also völligem Nichtwissen, kommt dagegen auch hier konsequenterweise nicht vor – und kann es auch nicht, da sich diese ja gerade durch die absolute Unwissenheit über Folgen und deren Wahrscheinlichkeiten auszeichnet und damit

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Diese Definitionen spiegeln den heuristischen Rahmen in der dem Aufsatz zugrunde liegenden Sonderausgabe wider: Auch hier wird zwischen Risiko, Ungewissheit und Unsicherheit unterschieden.

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auch kein Gegenstand von bewussten, erwartungsgeleiteten Entscheidungen sein kann. 1.2 Charakteristika reflexiv moderner Risiken Betrachten wir nun genauer die Theorie reflexiver Modernisierung und die Thematisierung von Unsicherheit aus dieser Perspektive. Ulrich Beck etikettiert die spätmoderne Gesellschaft explizit als Risikogesellschaft und legt hierbei den Fokus auf technisch-industriell erzeugte ökologische Risiken. Thema sind die Industrialisierungs- und Technisierungsfolgen im Zuge von Modernisierungsprozessen, die zur reflexiven Auseinandersetzung der Moderne mit ihren eigenen Grundlagen geführt haben und weiterhin führen.6 Die Risikogesellschaft zeichnet sich demnach durch die »self-confrontation of modernity with the side effects of modernization« (Beck/Holzer 2007: 8) aus. Risiken gelten als Effekte von (individuellen, organisationellen oder politischen) Entscheidungen und sind als solche auch logisch gesehen prinzipiell veränder- und beeinflussbar (so zumindest die optimistische Annahme bei Beck, s.u.) – jedoch nicht mehr durch rationale Berechnungen und Prognosen beherrschbar. Das Versprechen von Sicherheit wird zunehmend als Utopie erkannt. Dies hängt v.a. mit der Erfahrung der völlig neuen Dimensionalität der sog. ›neuen‹ Risiken zusammen, deren wesentliche Merkmale die zeitliche und räumliche Entgrenzung sowie die tendenzielle Irreversibilität ihrer Schäden sind – Risiken werden als (nichtintendierte) Nebenfolgen zunehmend zur Gefahr von globalem Ausmaß.7 Entscheidungen für die Einführung einer neuen (z.B. genveränderte Lebensmittel) oder die Anwendung einer hochkomplexen Technologie (z.B. Atomkraftwerke) können – im Katastrophenfall – auch erst Jahre später und an völlig anderen Orten bislang nicht abschätzbare Schäden verursachen. Aufgrund der gestiegenen Komplexität technologischer Prozesse werden Risiken zu unberechenbaren, mul-

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In seiner »Weltrisikogesellschaft« von 2007 erweitert Beck den Kreis der Risiken um Terrorismus und Finanzkrisen.

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In der Unterscheidung von Risiko und Gefahr meint Risiko einen möglichen eigenen Schaden, der der eigenen Entscheidung zugeschrieben werden kann, Gefahr dagegen ist ein den Entscheidungen Anderer Ausgesetztsein, bedingt durch Faktoren, über die selbst keine Kontrolle gehabt wird (Nassehi 1997: 267f.).

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tikausalen und polymodal zerstörerischen Ereignismöglichkeiten. Aus diesem Grund spricht Beck auch davon, dass Risiken in der reflexiven Moderne zunehmend den Charakter der hergestellten Ungewissheit (ebd.: 5) oder, genauer müsste gesagt werden, auch der Unwissenheit annehmen – wir können nicht nur die Wahrscheinlichkeiten möglicher Schäden nicht mehr kalkulieren, sondern bisweilen die Art der potenziellen Schäden selbst nicht mehr einschätzen. Dadurch wird der Aspekt des Nichtwissens in der reflexiv modernen Gesellschaft immer bedeutsamer. Dabei geht es nicht mehr um das »traditionale Noch-nicht-Wissen, sondern um das ungewußte oder unerkannte Nichtwissen; und es ist dieses Nicht-Wissen-Können, das als ›Ursache‹ für die Gefährdung der Menschheit angesehen werden muß. Wir haben es hier mit einem Fall nichtintendierten Nicht-Wissen-Könnens, jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung, zu tun.« (Beck 2007: 216)

Dennoch müssen Entscheidungen getroffen werden, was zu folgendem Paradoxon führt: »Je größer die Gefahr, desto größer das Nichtwissen, desto notwendiger und unmöglicher die Entscheidung.« (Ebd.: 215)

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N EUE F ORMEN DES U MGANGS MIT UND U NGEWISSHEIT

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2.1 Politisierung von Risiken – Eine Form der Verhandlung von Ungewissheit und Nichtwissen Da es bzgl. der (möglichen) Ursachen, aber auch der (möglichen) Auswirkungen technologie-implizierender Entscheidungen kein gesichertes Wissen mehr gibt, verlieren auch die Institutionen der modernen Risikobeherrschung ihren Exklusivitätsanspruch und ihr Definitionsmonopol bzgl. der Wahrnehmung und Einschätzung von Risiken und der Entscheidung über den Umgang mit diesen: »Institutions are unable to prevent risks or to compensate their effects« (Lupton 1999b: 63). An erster Stelle sind hiermit die Experten gemeint. Mit dem Zuwachs an (wissenschaftlichem) Wissen steigt auch die Menge an Nichtwissen, an ›blinden Flecken‹ technologischer Prozesse (vgl. Wehling 2006). Auch die relative Unzuverlässigkeit von Wissen ange-

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sichts der Ungewissheit riskanter Entscheidungen, die sich immer wieder an eingetretenen Unfällen zeigt (Bsp. Challenger-Explosion, Reaktorunfall in Tschernobyl oder jüngst in Japan), relativiert sich die Monopolstellung wissenschaftlicher Experten zu einer Position unter anderen. So werden nicht nur die Wahrnehmungen und Einschätzungen von sog. Laien zunehmend ernst genommen, auch verschiedene Experten stehen sich teilweise konträr gegenüber, »expert knowledges tend to contradict each other« (Lupton 1999a: 64). Da es kein gesichertes Wissen mehr geben kann und die Menge an Nichtwissen zunimmt, spricht Nassehi sogar von der »strukturelle[n] Insuffizienz von Wissenschaft in der Risikogesellschaft« (Nassehi 1997: 275). Mit den neuen Bedingungen des Entscheidens und Handelns, auch und gerade im Rahmen von Organisationen und Unternehmen, die mit Technologie und zukunftsorientierten Entscheidungen konfrontiert sind, fällt die klassische Expertise, das wissenschaftliche Begutachten, Bewerten und Prognostizieren von möglichen Folgen als alleinige Handlungsund v.a. auch als Legitimationsgrundlage zunehmend weg. Denn angesichts der Qualität der ›neuen‹ Risiken, die in vielen Bereichen eher den Terminus Gefahr verdienten, bescheinigt Beck den sog. Experten ihre deutlichen Grenzen bzgl. einer gültigen Vorhersage und Einschätzung von Risiken: »In Sachen Gefahr ist niemand Experte – auch und gerade die Experten nicht.« (Beck 2007: 74) Stattdessen wird die Aussagekraft von Wissenschaft auf eine probabilistische und v.a. kontingente Wahrheit neben anderen reduziert. Eben weil kein gesichertes Wissen über die möglichen (Neben-)Folgen der (spät-)modernen Technologien vorhanden ist, wird der Modus des rationalen Entscheidens in Organisationen bei Beck problematisiert, denn es fehlen die entsprechenden Parameter – »the lack of past experience means that in the context of manufactured uncertainties, the subjunctive has replaced the indicative« (Beck/Holzer 2007: 14). Diese Unsicherheit manifestiert sich nicht zuletzt in einer allgemeinen »culture of uncertainty« (ebd.: 3), die neben den Organisationen als Entscheidungsträgern immer mehr auch die Bürger als Konsumenten und Betroffene solcher Entscheidungen erfasst. Dieses Bewusstsein und die neue Risikosensibilität sind wesentliche Merkmale der Risikogesellschaft. Das bedeutet, Risiken werden reflexiv, und zwar nun im Sinne einer reflektierten Wahrnehmung der möglichen Gefahren für viele Betroffene durch Entscheidungen Einzelner. Katastrophen werden dem Versagen der Technologie und damit auch des

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Fachwissens zugeschrieben. Es entsteht ein kulturelles Bewusstsein, das sich in dem Maße verfestigt und ausbreitet, in dem Katastrophen, Unfälle und damit Ungewissheit und die Folgen von Nichtwissen im Zusammenhang mit moderner Technologie medial aufbereitet oder gar selbst erfahren werden. Öffentliche Debatten um die Legitimität organisationeller Entscheidungen bilden einen neuen Rahmen derselben, mit dem Organisationen umgehen müssen. Und gerade diese neuen, weil in der Mitte der Gesellschaft und damit bei den Kunden, Konsumenten und Geschäftspartnern angekommenen Risiko- und Gefahrendiskurse sind für Organisationen selbst eine weitere Facette der spätmodernen Ungewissheit, die Entscheidungen (z.B. über die Einführung einer neuer Technologie, eines neuen Produkts etc.) neben dem ohnehin schon unklaren oder nicht vorhandenen Wissen um potenzielle Konsequenzen zusätzlich verkomplizieren. Ungewissheit beinhaltet demnach nicht nur die Nebenfolgen technologischer Prozesse, sondern – in soziokultureller Hinsicht – auch die Wahrnehmungen und Reaktionen der risikosensibilisierten Öffentlichkeit, die genauso wenig kalkuliert werden können wie erstere. Die aus unserer Perspektive zentrale Frage lautet nun: Wie gehen Organisationen (konkreter: Unternehmen) mit diesen Rahmenbedingungen um? Und wie sollten sie, laut Beck, damit umgehen? An dieser Stelle beschreibt Beck eine, seiner Ansicht nach, zukunftsweisende und auch notwendige neue Art des Umgangs mit Risiken und Ungewissheit, die mit dem Begriff der Politisierung von Risiken auf den Punkt gebracht werden kann. Zunächst ist damit gemeint, dass ökonomische Entwicklungen den Charakter der Nichtpolitik verloren haben.8 Betriebliches Handeln gerät zunehmend unter Legitima-

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Mit dem Begriff der Nichtpolitik nimmt Beck Bezug zur modernen Differenzierung in eine politisch-administrative Sphäre, in der unter Legitimation durch politisch mündige Bürger Entscheidungen demokratisch getroffen werden (Prinzip der Abstimmung), und eine technisch-ökonomische Sphäre, in der nach den Prinzipien des technischen und sozialen Fortschritts und unter (vermeintlichen) technisch-ökonomischen Sachzwängen wohlstandsfördernd und rational gehandelt wird. Hier haben Wirtschaft und Wissenschaft das (Legitimations-)Monopol inne und nicht die Politik. Die Grundlagen dieser Sphärentrennung in Politik und Nichtpolitik werden im weiteren Modernisierungsprozess zunehmend fragwürdig, allen voran die Berufung auf technischen und (damit auch) sozialen Fortschritt sowie

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tionsdruck, weil die möglichen Folgen eine ganz neue politische und moralische Dimension erlangt haben (Beck 1986: 355f.). »Organizations are not only part of the solution but also very much part of the problem.« (Beck/Holzer 2007: 11) Entscheidungen werden mehr denn je (der Öffentlichkeit gegenüber) rechtfertigungspflichtig und legitimationsbedürftig. Da aber die Berufung auf rational-wissenschaftliche Erkenntnisse und Prognosen fragwürdig und unsicher wird, Entscheidungen also immer weniger als objektiv-rationale Sachentscheidungen getroffen werden können, müssen verstärkt die (subjektiven) Interessen der Betroffenen mit berücksichtigt werden. Das bedeutet konkret, wissenschaftliches Wissen und objektiv-rationale Entscheidungselemente müssen durch Gegenexpertisen und die subjektive Wahrnehmung von ›Organisationsexternen‹ als gültig zu erachtendes Wissen sowie evtl. daraus entstehende Gegeninteressen ergänzt werden. Wissenschaftliches Wissen, (quasi) objektive Urteile und rein ökonomische Interessen müssen durch subjektive Wahrnehmung und sich daraus ergebende nicht-ökonomische Interessen wenn nicht ersetzt, doch zumindest elementar erweitert werden – wirtschaftliches Handeln wird politisch. Die reine Logik der Sachzwänge und das Prinzip »Fortschritt ersetzt Abstimmung« (Beck 1986: 301) gilt in heiklen Fragen nicht mehr. Zwischen der modernen Ökonomie als klassischer Sphäre der Nichtpolitik und der modernen parlamentarischen Politik, bestehend aus bürgerlicher Partizipation und demokratischer Entscheidungsfindung durch Abstimmung, entsteht damit die spätmoderne dritte Sphäre der Subpolitik, eine Art Arena des Interessenaustauschs und -verhandelns auf der Basis des offensichtlich gewordenen Risikopotenzials unternehmerischen Handelns einerseits und der legitimationsprovozierenden Entscheidungskontingenz andererseits.9 Neues Konfliktpotenzial ergibt sich dabei durch die sich z.T. als konträr darstellenden Interessen der Betroffenen auf der einen Seite, die eine möglichst weitgehende Minimierung bis hin zur Vermeidung von Gefahren anstreben, und der Unternehmen auf der anderen Seite, deren primäres Ziel es ist, weiterhin handlungsfähig zu bleiben und ihre ökonomischen Interessen zu ver-

die eingeschränkte Reichweite von Risiko- und Gefährdungspotenzialen als Begründung für Entscheidungen im technisch-ökonomischen Bereich (Beck 1986: 300ff.). 9

Zum Begriff der Subpolitik siehe u.a. Beck 1986: 300ff.; Beck 2007: 175ff.

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folgen. Diese Interessen müssen in der Arena der Subpolitik ausgehandelt werden. Das rein ökonomische Kalkül rationaler Sachzwänge und Fortschrittsorientierung fungiert dabei nicht mehr, zumindest nicht mehr in dem Maße als ausreichende Entscheidungsgrundlage. Eben weil die Entscheidungen im Kleinen eine politische und moralische Dimension im Großen erhalten, muss auch die Entscheidungsfindung politisch werden. Hier lassen sich aus Sicht der Organisation mindestens zwei unterschiedliche Formen beschreiben: (1) So können mögliche Wahrnehmungen und Reaktionen der Adressaten in die Kalkulation mit einbezogen werden, was aus Unternehmensperspektive rationalem Handeln gleichkommt. In den Kosten-Nutzen-Vergleich von Wahlalternativen werden die jeweiligen Interessen und Gegeninteressen aufgenommen und dann nach dem Prinzip des rationalen Abwägens entschieden. Dieses Vorgehen fingiert eine Art Beherrschbarkeit des Risikos, was insofern funktional scheint, da trotz des potenzierten Ungewissheitsfaktors von Entscheidungen mit politischer Dimension diese dennoch getroffen werden müssen und damit auch können. Um handlungsfähig zu bleiben, wägen Unternehmen die Gefahr eines schlechten Images und Kundenverlusts gegen den Verzicht auf die Einführung bzw. Nutzung einer neuen Technik ab. Risiken und Ungewissheiten werden so zwar nicht vermieden – das ist utopisch – aber Entscheidungen können aktuell getroffen werden. Beck/Holzer formulieren die Bedeutung der Politisierung von Entscheidungen im Unternehmen wie folgt: »Taking stakeholders and public demands seriously could become a viable alternative to the expert-based safety culture of the past. [...] Although such an approach cannot pretend to ensure the predictability of future events, it certainly represents a more realistic answer to the challenges of a culture of uncertainty.« (Beck/Holzer 2007: 20)

(2) Eine andere Möglichkeit ist die direkte Politisierung. Damit ist eine unmittelbare Beteiligung der Betroffenen an der Entscheidung gemeint, also eine Art Verhandlung der Entscheidung im Plenum aus Entscheidern und (zumindest unmittelbar) Entscheidungsbetroffenen. Damit ergeben sich neue Herausforderungen für die Unternehmen, denn Entscheidungen können nicht mehr einfach getroffen werden, stattdessen werden die richtigen Argumente immer wichtiger und gehören zur Überlebensstrategie von Organisationen auf dem freien

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Markt (Beck 1986: 356). Der Entscheidungsprozess wird zu einer Aushandlung von Interessen und Werten, wobei die sog. Experten keine Alleinvertreterposition mehr inne haben, sondern sich mit Laien auf eine Stufe stellen müssen: »The normative issues assocciated with risk involve conflicting perceptions and interests and there are no objectively situated experts to mediate such disputes.« (Miller 2009: 170) Das bedarf eines offenen Umgangs miteinander, in dem sowohl die ökonomischen als auch die ethischen Aspekte von Entscheidungen bzw. deren möglichen Folgen offen gelegt und mit einbezogen werden. Ein Beispiel dieser direkten Form der Politisierung von Entscheidungen sind Public Hearings.10 In jedem Fall muss – aus der Perspektive des Unternehmens – das Interesse der Öffentlichkeit als Element des ›rationalen‹ Entscheidungsprozesses berücksichtigt werden, denn »the only way to regain legitimacy appears to be a systematic effort to engage the public« (Beck/Holzer 2007: 20) – in welcher Form auch immer. Rationale Kalkulation statistischer Daten und der Bezug auf Fachwissen ist für Beck dabei eine der Situation unangemessene Verschleierungstechnik (Dean 1998: 29), die Risikogesellschaft ist damit immer schon eine »postrisk-calculation society« (ebd.). Gleichzeitig bedeutet das nicht, dass der Prozess des Kalkulierens ganz aufgegeben wird, er wird lediglich erweitert. Mit Simon (1982 a/b) könnte hier von einem subjektiv-rationalen Entscheidungsprozess auf organisationeller Ebene gesprochen werden, d.h. es werden Argumente in die Waagschale geworfen, die in ihrer Bedeutung z.T. nur eingeschätzt und nicht objektiv bestimmt

10 Public Hearings finden vor einer Entscheidung über sozial relevante Themen statt, die potenziell riskante oder ungewisse Folgen implizieren; ihre Funktion ist eine prospektive Antizipation möglicher Schäden. Ihre Merkmale sind einerseits die Partizipation der Betroffenen an der Diskussion und damit (scheinbar) auch an der Entscheidungsfindung – zentral ist die formale direkte Beteiligung der Betroffenen am Diskurs über Risiken und Gefahren – sowie andererseits die unabhängige, neutrale und rationale Evaluation des Falls durch Experten. Bereits bei dieser Konstellation wird jedoch erneut die Gegenüberstellung von (als objektiv geltender) wissenschaftlicher Expertise und (subjektiven) Interessen der Nicht-Experten deutlich. Von Bedeutung ist dabei also immer die Frage, welche Gewichtung diesen beiden Einschätzungen und Wahrnehmungen jeweils zukommt, das entscheidet über die eigentliche Strategie des hier praktizierten Managements von Risiko und Ungewissheit.

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werden können und auf der Basis dieser Einschätzung (i.e. subjektiv rationale Kalkulation) wird dann die als optimal erscheinende Entscheidung getroffen. Exkurs: In seiner Analyse eines Public Hearings11 konnte Topal (2009) zeigen, dass trotz der Idee einer basisdemokratischen Aus-/Verhandlung in diesen Settings der rationale, technische, expertinnenbzw. expertenbasierte Deutungsrahmen, der Risiken als beherrschbar betrachtet, oft weiterhin dominiert und die Entscheidung erneut (wie im klassischen Beherrschungsparadigma) versachlicht wird, womit die eigentlich politische, weil nicht auf gesichertem, objektivem Wissen beruhende Entscheidung verschleiert wird. Trotz allen Zweifels an der Gültigkeit wissenschaftlichen Wissens bleiben Meinungen und Gutachten von Expertinnen sowie Experten eine effektive Legitimationsstrategie, obwohl das eigentliche Fundament der Entscheidung Interessen, Werte, Deutungen etc. sind und sie so zu einer normativen Setzung gemacht wird, welche jedoch durch den Anschein von Neutralität und Objektivität verschleiert wird. Das dahinterstehende Paradigma des Risikomanagements ist somit eher der Beherrschung von Risiken bzw. Ungewissheit zuzuordnen denn einer neuen Form des Umgangs mit ›neuen‹ Risiken. Lediglich das Verfahren hat politische Form und wird sogar als solches explizit betont, denn entscheidend ist ja die Frage der Legitimität des Ausschusses bzw. seines Gutachtens. Und um diese Legitimität zugeschrieben zu bekommen, bedarf es in der Risikogesellschaft eben gerade solcher Formen der Politisierung von Entscheidungsprozessen, auch wenn sie nur formal gleichberechtigte Partizipation gewährleisten. Topal spricht hier von einer »symbolischen Zeremonie« (ebd.: 293) – der Entscheidungsprozess ist formal politi-

11 Topal präsentiert in seinem Aufsatz »The Construction of General Public Interest: Risk, Legitimacy, and Power in a Public Hearing« die Ergebnisse seiner Analyse von Mitschriften aus einer Anhörung über den Antrag einer Ölfirma in Edmonton, Kanada. Diese Firma beantragte die Anbohrung einer Quelle sauren Öls innerhalb der Stadtgrenzen von Edmonton. Das Risiko bestand in der möglichen Freisetzung tödlicher Substanzen bei dieser Anbohrung und stellte somit eine konkrete Gefahr für die Anwohner dar. Topal geht der Frage nach, wie es dazu kam, dass im Grunde gegen das öffentliche Interesse der Ausschuss und damit die Regierung als eigentliche Anwältin des öffentlichen Interesses dieser Firma eine Lizenz für ihr Vorhaben erteilt hat.

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siert, methodisch aber wieder verwissenschaftlicht. Öffentliche Hearings sind insofern weit davon entfernt, ein reflexiv modernes basisdemokratisches Medium der Gegenmacht in der Hand der betroffenen Öffentlichkeit zu sein, sondern sie fungieren als Legitimationsmechanismus der institutionellen Macht, die hierfür aber zumindest formal den Anschein eines basisdemokratischen Forums anbieten muss. Die weiter oben ausgeführten Aspekte eines politischen, meint: die Interessen aller Beteiligten respektierenden und berücksichtigenden Umgangs mit Risiko und Ungewissheit sind damit weitgehend als präskriptive Darstellung eines ›so sollte es sein‹ zu lesen. Beck vertritt diesbezüglich aber eine durchaus optimistische Perspektive: Er sieht Politisierung als Strategie der möglichen Eindämmung von Risiken durch partizipatives Mitentscheiden nach eigenen Interessen von Seiten der Betroffenen – direkt (z.B. durch die Organisation in Bürgerbewegungen oder die Teilnahme an öffentlichen Debatten) oder indirekt (z.B. durch Kaufentscheidungen). Beck will so die Dynamik des Risikos durchbrechen und sieht hier eine Lösung der Risikoaggregation durch technologischen Fortschritt und die Überwindung des Primats ökonomischen Interesses (Nassehi 1997: 275). Im Großen und Ganzen hält Beck »an der Möglichkeit einer Entscheidung gegen Risiken fest (bzw. genauer: an der Möglichkeit einer Minimierung bzw. Rationalisierung von Risiken)« (Bonß, zit. in Nassehi 1997: 276). Voraussetzung hierfür ist, dass in allen gesellschaftlich relevanten Debatten Gremien mit Gegenstimmen (wodurch auch immer vertreten) beteiligt sein müssen – und zwar in einem gleichberechtigten, mit Habermas wird vom herrschaftsfreien Diskurs gesprochen. Um die Basis für diese Art der Entscheidungs- und damit auch Risikoverhandlung zu verbreitern, ist die Förderung eines (technologie-)kritischen Bewusstseins der Bürger elementar (Beck 2007: 91f.). An diesen Fragen wird sich, nach Beck, unsere Zukunft entscheiden, denn die neuen Qualitäten und Dimensionen der reflexiv modernen Risiken bedürfen eines anderen Umgangs als den des kognitiv-rationalen, wissenschaftsbasierten Entscheidens ›im Kleinen‹ oder die auf Macht und Ressourcen basierte ›Schein‹-Demokratisierung von Entscheidungsprozessen. Denn freilich sieht auch Beck, dass wissenschaftliches Wissen und Experten weiterhin eine Sonderposition behalten, da im Konfliktfall »nach dem Stand der Technik« entschieden wird (ebd.: 75). In dieser Form des Risikomanagements spielt Definitionsmacht eine große Rolle: »In risk conflicts, the central question of power therefore is a question of defi-

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nitional authority.« (Beck/Holzer 2007: 13) Die ungleiche Verteilung von Ressourcen einerseits und die Anerkennung von gültigem Wissen andererseits steht einer ›echten‹ Politisierung im Sinne eines gleichberechtigten Diskurses im Wege (vgl. Topal 2009). An dieser Stelle kann zusammenfassend gesagt werden, dass die Politisierung oder auch Sensibilisierung der Gesellschaft für die politische Dimension organisationeller Entscheidungen einerseits der Grund für die Notwendigkeit eines neuen Umgangs mit Risiken ist (vgl. die Bedeutung von Öffentlichkeitsdiskursen für die Durchsetzbarkeit von Entscheidungen), andererseits Politisierung aber auch eine Möglichkeit der nunmehr nötigen Verhandlung von Entscheidungen und damit Risikopotenzialen bzw. Ungewissheiten darstellt. Außerdem nimmt dieser Ansatz eine Außenperspektive auf das Verhältnis der Organisation zu ihrer Umwelt ein. Bei diesem Paradigma des Umgangs mit Ungewissheit müssen deshalb, wie deutlich wurde, die beiden hier vertretenen Perspektiven analytisch differenziert werden – zum einen die am Diskurs und in Teilen auch an der Entscheidung beteiligte Öffentlichkeit bzw. deren Vertreter, die daran interessiert sind, die Gefahren so weit wie möglich zu minimieren, und zum anderen die Organisationen, i.e. Unternehmen, deren primäres Interesse es sein muss, weiterhin handlungsfähig zu bleiben, Entscheidungen treffen zu können, die dann aber auch in der öffentlichen Wahrnehmung als legitim anerkannt werden. Risikomanagement der Unternehmen muss, so könnte gesagt werden, das öffentliche Interesse allein schon aus ökonomischrationalen Gründen berücksichtigen, diese Art von Ungewissheit also auf gewisse Weise beherrschbar oder bewältigbar machen, indem es sie verhandelt. 2.2 Individualisierung von Risiken – Betroffene als Entscheider des Unentscheidbaren Mit Beck kann neben der Politisierung auch noch eine zweite Form des reflexiv modernen Risikomanagements erfasst werden: die Individualisierung des Umgangs mit Risiken und Ungewissheit. Wenn einerseits immer mehr Risiken zu Gefahren werden, da die Betroffenen tendenziell zwar nicht an der Entscheidung, wohl aber an den potenziellen (Neben-)Folgen beteiligt sind, so werden andererseits Gefahren wieder verstärkt zum Risiko für die/den Einzelne/n. Das heißt, das Individuum, das von den möglichen Schäden betroffen wäre, soll selbst

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die Verantwortung für die Situation, sprich für Entscheidung, Handeln und Konsequenzen übernehmen. Einzelne werden hier nicht nur als Interessenvertreter im Entscheidungsprozess mit berücksichtigt, sondern sollen diese gleich selbst treffen. Diese Form der Verschiebung von Entscheidung und v.a. von Verantwortung für diese Entscheidung ist eine Facette des modernen (bzw. zweitmodernen) Individualisierungsprozesses, wie Beck ihn beschreibt. Im Zuge der Freisetzung des Einzelnen aus traditionellen (bzw. erstmodernen) sozialen Bezügen, der Entzauberung traditioneller (bzw. erstmoderner) Handlungssicherheiten und der gesellschaftlichen Reintegration in Form erneuter sozialer Einbindung ist ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft geschaffen worden (Beck 1986: 205f.). Einzelne werden zu selbstverantwortlichen, selbst-reflexiven Akteuren, zu Konstrukteuren ihrer sozialen Integration und Biographie. Gleichzeitig werden sie aber auch abhängiger von abstrakten Institutionenkomplexen, denn der nunmehr wirksame Integrations- oder anders: Vergesellschaftungsmodus wirkt über Institutionen wie Bildungssystem oder Arbeitsmarkt. Beck spricht hier von einer »institutionenabhängige[n] Kontrollstruktur von Individuallagen. Individualisierung wird zur fortgeschrittensten Form markt-, rechts-, bildungs-, usw. -abhängiger Vergesellschaftung.« (Ebd.: 210) Der Einzelne wird dadurch einer Widersprüchlichkeit ausgesetzt, die er nicht zu lösen vermag, die er aber bewältigen muss. Einerseits muss er immer mehr Entscheidungen selbst treffen und verantworten, andererseits entstehen »Konflikt-, Risiko- und Problemlagen, die sich ihrem Ursprung und Zuschnitt nach gegen jede individuelle Bearbeitung sperren« (ebd.: 211). Der Einzelne wird als autonomes Subjekt adressiert, findet aber Rahmenbedingungen vor, die eine solche Autonomie nicht zulassen. Es entsteht eine, mit Bezug auf ein »Management der Ungewissheit« angesichts der ›neuen‹ Risiken noch einmal besonders evident werdende Diskrepanz zwischen Entscheiden-Sollen (als normative und institutionelle Anforderung an den Einzelnen) und Entscheiden-Können (als Realisierung dieser Anforderung). Daraus resultiert ein permanenter Konstruktionsprozess von Risiken, Risikorelevanzen und individueller Bedeutungszuschreibung der möglichen Schäden und Lösungen. Da es keine allgemeingültigen Standardlösungen mehr gibt, wird das Risikomanagement kurzerhand individualisiert: »In the new individualism, one must choose among risks, conform to one’s internalized standards, and be responsible for oneself while being dependent on conditions outside one’s control.« (Lupton 1999b:

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70) Zu solchen »Bedingungen jenseits der eigenen Kontrolle« gehören bspw. auch die sozialen Rahmenbedingungen, die den Umgang mit Risiken prägen. Jede Entscheidung wird in einem – in unserem Falle organisationellen – Arbeitsumfeld getroffen, das sich durch andere Formen des ›Risikos‹ entscheidungsbeeinflussend auswirkt und sozialen Druck auf den Einzelne/n ausübt. Neben der (aus Nichtwissen resultierenden) Ungewissheit bzgl. möglicher Schäden und negativer Folgen einer Entscheidung, schränken nämlich auch die »Zwänge des Arbeitsmarktes« (Beck 1986: 211) die Autonomie Einzelner ein. »Thus individualization itself carries and creates new risks.« (Gephart u.a. 2009: 145) Angesichts des vielschichtigen und komplexen Geflechts an zu berücksichtigenden Aspekten wird auch die Mehrdimensionalität des spätmodernen Risikobegriffs deutlich. Romaine Malenfant (2009)12 verdeutlicht in ihrem Aufsatz beispielhaft diese Mehrdimensionalität, die sich nicht zuletzt aus der Individualisierung selbst ergibt. Indem der Einzelne zum Referenzpunkt der Entscheidung gemacht wird, bekommen dessen subjektive und soziale Interessen einen neuen Stellenwert und werden selbst risikorelevant. Zugleich wird der komplexe Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher und sozialer Rationalität und dem interessenrelativen Wahrnehmen von und Umgang mit Risiken auf Seiten des Individuums gezeigt. Sowohl die Risikodefinition als auch dessen Management werden individualisiert und damit tendenziell aus der öffentlichen Organisation hinaus in das Private der Einzelnen hinein verlagert. Hier findet der Umgang mit Ungewissheit dann als quasi-rationale Kalkulation und strategisches Entscheiden statt. Auch im Individualisierungsparadigma bleibt damit die Kontrollund Planungslogik gültig, es ist also als eine Form des Beherrschungs-

12 Malenfant untersucht in ihrem Aufsatz »Risk, Control and Gender: Reconciling Production and Reproduction in the Risk Society« die soziale Konstruktion von Risiken im Bereich beruflicher Gesundheitsrisiken. In ihrer Arbeit geht es primär um die Logik der Risikoerzeugung und -beurteilung und in Folge dessen aber auch um die Frage des Risikomanagements. In ihrer Studie hat sie hierfür Diskussionen von kanadischen Arbeitgebern und -nehmern aus verschiedenen Dienstleistungsbereichen zum Thema arbeitsbezogene Gesundheitsrisiken für Schwangere analysiert und dabei die Fragen verfolgt, wie Risiken als solche definiert werden und welche Aspekte im Entscheidungsprozess (also im Umgang mit Risiken) eine Rolle spielen.

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paradigmas zu betrachten – es soll etwas entscheidbar gemacht werden. Die Methode (rationales Abwägen) bleibt dabei gleich, nur die Rollen werden neu verteilt: Die Organisation tritt vermehrt zurück und das entscheidungsbetroffene Individuum vereint die Rollen des Entscheiders und des Entscheidungsbetroffenen in einem. Obwohl dadurch in diesem Paradigma das Individuum im Zentrum steht, wird Individualisierung als eine Form des Risikomanagements dennoch als organisationelle Strategie im Umgang mit Risiken und Ungewissheiten verstanden und stellt insofern eine weitere Facette des »Managements der Ungewissheit« dar. Auch die zu den postmodernen Ansätzen gezählte Gouvernementalitätsperspektive setzt an der Individualisierung von Risiken und Ungewissheit an. Risiken werden hier als Effekt diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken verstanden, also als soziale Konstruktionen, die immer schon mit bestimmten Machtaspekten verbunden sind. So ist die Individualisierung von Ungewissheit aus dieser Perspektive ein Merkmal des Neoliberalismus. Hier wird das Individuum im hegemonialen Subjektivierungsparadigma als autonomer, selbstverantwortlicher Akteur adressiert. Die Rechte und Freiheiten des Einzelnen wachsen so (vermeintlich) an, die Entscheidungen werden den Einzelnen übertragen, sind aber gleichzeitig immer in einen Kontrollrahmen, bestehend aus Expertise, die nunmehr in Form von Ratschlägen und Empfehlungen erscheint, und aus Disziplinarmaßnahmen, die sich eher implizit denn explizit auf die Entscheidung der Einzelnen regulierend auswirken, eingebettet. Ein Beispiel wäre hier der bereits angesprochene soziale Druck von Seiten der Kollegen/des Arbeitgebers oder der allgemeinen Arbeitsmarktlage etc. Gouvernementalität als ›Führung der Führungen‹ (Foucault 2004; 2005) gilt hier als Strategie, um die Menschen zu lenken und zu überwachen, sie sollen ihre eigenen Interessen vertreten und dabei gleichzeitig neoliberale Ziele verfolgen (z.B. das eigene Humankapital optimieren, Gesundheit fördern etc.). Auch der Umgang mit Risiken unterliegt dieser spätmodernen Form der Disziplinarmacht: »Risk avoidance becomes a form of self-government« (Gephart u.a. 2009: 147). Entstehen Risiken oder realisieren sich diese als Schäden, Unfälle etc., so liegt das am falschen Selbstmanagement. Die Verantwortung trägt ganz allein der Entscheider selbst (der i.d.R. auch der Betroffene ist), auch wenn die Rahmenbedingungen zu komplex und undurchsichtig sind, um Verantwortungen klar zu benennen (vgl. Unsicherheit von Handlungsfolgen).

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Aus beiden Perspektiven – der Beck’schen Risikogesellschaft und der Foucault’schen Gouvernementalität – lässt sich die Individualisierung von Risiken als Managementstrategie der Organisation selbst bezeichnen, die in Bezug auf eigentlich unentscheidbare – weil in ihren Auswirkungen ungewisse oder gar unsichere Folgen zeitigende – Entscheidungen diese immer weiter nach unten verlagert, bis hin zu potenziell Betroffenen selbst. Diese Strategie findet natürlich in anderen Risikolagen Anwendung als die Strategie der Politisierung. Geht es bei letzterer um Probleme mit ›globalem‹ Ausmaß, also um Entscheidungen, deren Konsequenzen sich zumindest weit über die Grenzen der Organisation hinaus auswirken und deshalb Organisationsexterne mit einbeziehen müssen, so geht es bei der Individualisierung von Entscheidungen meist um solche Fragen, die v.a. den Entscheider selbst betreffen. Da die Organisation aber die Verantwortung für die Einzelnen nicht mehr übernehmen will oder kann, es also keine institutionalisierte Lösung für bestimmte Fragen mehr gibt, wird das Individuum direkt selbst adressiert. Beck spricht bzgl. der tendenziellen Auflösung institutioneller hin zu individueller Zuständigkeit im Rahmen von Institutionen auch von einem »Doppelgesicht einer institutionenabhängigen Individuallage« (Beck 1986: 210) bzw. von der »Paradoxie vergesellschafteter Individualisierung« (Beck/Beck-Gernsheim 1993: 181) im Sinne einer verregelmäßigten institutionellen Anrufung der Einzelnen als vermeintlich autonomer Akteur. Unsicherheit und Ungewissheit sind vom Individuum selbst zu managen, weil Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik sie nicht lösen können.

3

S CHLUSS

An dieser Stelle sollen die wichtigsten Aspekte der beiden Strategien des Umgangs mit Ungewissheit von Organisationen in der Risikogesellschaft zusammengefasst werden, wie sie im Beck’schen Ansatz und in der empirischen Analyse der Autoren in dem hier vorliegenden Band diskutiert werden. Mit Beck und seinem Konzept der Subpolitik kann zunächst von Politisierung des Risikomanagements als basisdemokratische und deshalb einzig legitime Strategie des Entscheidens über mögliche kollektive (Neben-)Folgen gesprochen werden (Politisierungs- oder Verhandlungsparadigma). Organisationen werden hier eher von außen betrachtet und ihr Verhältnis zu Öffentlichkeiten in

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den Blick genommen. Dennoch bietet die Theorie der Risikogesellschaft einen möglichen Ansatz für eine neue Facette des organisationellen »Managements der Ungewissheit«, nach dem ja hier gefragt werden soll. Hierbei bleiben Entscheidungen ein wesentlicher Aspekt der Be- und Verarbeitung von Risiko und Ungewissheit: Von Interesse sind die möglichen Folgen von Entscheidungen unter begrenztem Wissen und Nichtwissen, die sich in Form nichtintendierter (Neben-)Folgen als Schäden erweisen könnten. Primär geht es daher um die Frage nach einer neuen Legitimationsbasis (!) von (organisationellen) Entscheidungen unter Risiko und Nichtwissen, was die Eintrittswahrscheinlichkeit von nichtintendierten Nebenfolgen an sich nicht tangiert. Damit verbunden ist aber auch eine auf die Gesellschaft bezogene optimistische Perspektive, nämlich dass entscheidungsabhängige Risiken durch Reinstitutionalisierungen organisationeller Prozesse (z.B. Verstetigung partizipativer Teilhabe der Öffentlichkeit an unternehmerischen Entscheidungen) prinzipiell vermeidbar oder zumindest veränderbar und minimierbar sind. Indem Entscheidungen gegen riskante Technologien getroffen werden, weil der ökonomische Profit nunmehr mit sicherheitsrelevanten Aspekten und Ängsten der Bevölkerung konkurrieren muss, könnten Risiken und Gefahren verhindert werden. Damit wird gleichzeitig der erstmoderne rationale Entscheidungsbegriff problematisiert, weil die Parameter dazu fehlen bzw. kontingent und kritisierbar geworden sind (vgl. Verlust des Monopols wissenschaftlicher Expertise). Die Parameter von – aus Organisationsperspektive – weiterhin als rational zu bezeichnenden Entscheidungen haben sich erweitert und transformiert. Nun müssen verstärkt die Interessen der Betroffenen in die Kalkulation mit einbezogen werden und, was vielleicht noch bedeutender ist, die Entscheidung nach außen als ihrer politischen und moralischen Dimension angemessen kommuniziert werden. Organisationen können in der Risikogesellschaft nicht mehr (quasi-)autonom Entscheidungen treffen, sondern müssen diese auf politischer Ebene verhandeln. Topal konnte in seiner Analyse eines Public Hearings aber auch zeigen, dass ein ernsthaft basisdemokratischer, herrschaftsfreier Diskurs, auf den dieses Paradigma abstellt, realiter noch qua Rationalisierungs- und Versachlichungsmechanismen verhindert und in seiner politischen Basis verfremdet wird, weil immer noch Expertise und quasi-objektive, rationale Kalkulationen als Legitimation herangezogen und so die subjektiven Interessen der Betroffenen entkräftet werden.

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Individualisierung als zweite Form des Risikomanagements nimmt stärker die Innenperspektive der Organisation ein, indem auf die Individuen in den Organisationen und deren Betroffensein und Umgang mit Risiken geschaut wird. Auch hier wird die klassische Entscheidungsfähigkeit von Organisationen grundlegend in Frage gestellt, weil eventuelle Folgen nicht absehbar oder nicht zu verantworten sind. Deshalb wird das Management von Ungewissheit an den Einzelnen weitergegeben, so dass Entscheider und potenziell Geschädigter in einer Person zusammenfallen. Hier erweitern die subjektiven Interessen der Betroffenen zudem die Definition von Risikolagen und die Bewertung von deren Konsequenzen (Individualisierungs- oder Subjektivierungsparadigma). Malenfant verdeutlicht die Folgen einer solchen Form der Personalisierung von möglichen Gesundheitsschäden, die für den Einzelnen eine komplexe Abwägung und die Auseinandersetzung mit den verschiedensten Interessen und damit auch Risiken darstellen, unter denen die Position der Organisation eine, wenn auch wichtige, unter anderen ist. Die Entscheidung selbst fällt dann auch hier im Grunde nicht mehr auf Organisationsebene (allein), ähnlich wie im Falle der Verhandlung von Entscheidungen in der Arena der Subpolitik. Zu diesem Punkt ist generell zu sagen, dass diese beiden Paradigmen in jeweils qualitativ anderer Weise den neuen Formen des Entscheidens Rechnung tragen. Nicht die Beseitigung von Risiko und Ungewissheit durch intraorganisatorische Prozesse gilt als Ziel, sondern die Gewährleistung der Handlungsfähigkeit von Organisationen. Organisationen beherrschen nicht die Risiken ihres Handelns, sondern sind eingebunden in ein komplexes Geflecht aus Nichtwissen, Risiken und mehr oder weniger äquivalenter Multiperspektivität. Müssen im Falle der subpolitischen Aushandlung von Entscheidungen die Interessen, Werte, Befürchtungen etc. von Laien/Betroffenen/politischen Interessenvertretungen/Bürgerbewegungen o.Ä. zumindest mit berücksichtigt werden, so fällt durch die Individualisierung der Entscheidung die Organisation als aktive Instanz des Entscheidens (vermeintlich) weg und an ihre Stelle treten autonome, selbst-reflexive Akteure. Die Position der Organisation wird dadurch in beiden Modi im Vergleich zur ersten Moderne abgeschwächt, in der noch relativ autonome Entscheidungen getroffen werden konnten. Sie wirkt jedoch weiterhin durch subtile Zwänge als Entscheidungsgestalterin, gibt die Verantwortung und offizielle Zuständigkeit für diese und deren Folgen aber an die Allgemeinheit bzw. an Einzelne ab. In beiden Fällen geht es um eine Institu-

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tionalisierung alternativer Expertensysteme – durch die Ergänzung durch nichtwissenschaftliche Laien einerseits und die Adressierung Einzelner als Experte in eigener Sache andererseits. Ein ›blinder Fleck‹ bleibt: Bei beiden Strategien – Politisierung und Individualisierung – wird der Aspekt der totalen Unsicherheit durch Nichtwissen nicht systematisch berücksichtigt und kann dies auch nicht werden. Zwar beschreibt Beck gerade auch die Unsicherheit technologischer Prozesse und folglich auch der Entscheidungen, die über diese Prozesse bestimmen, aber in seiner Analyse des tatsächlichen, möglichen oder nötigen Umgangs mit Ungewissheit und eben auch Unwissenheit in der Risikogesellschaft kann das Nichtwissen um die Konsequenzen des aktuellen Handelns nicht konzeptionell berücksichtigt werden. Stattdessen bleibt es bei der Feststellung: »Wir haben es mit Konsequenzen der Erfolge der Moderne und ihrer technischen Fantasie zu tun. Sie stellen uns vor mögliche Katastrophen, die unser begriffliches und institutionelles Fassungsvermögen übersteigen«. Bei der Frage »Wie sind Risiken, für die wir kein empirisches Wissen haben, zu beurteilen? Anders gesagt, wie können wir rational mit dem unbekannten Risiko umgehen?« Und schließlich der Erkenntnis: »Auf diese Frage gibt es meines Wissens bisher keine angemessene Antwort.« (Beck 2011) Da die Beck’sche Problemstellung die Zukunftsfolgen von aktuellen Entscheidungen sind und die Lösung jeweils die Antizipation dieser möglichen negativen Folgen als Basis dieser Entscheidungen beinhaltet, kann Unsicherheit, also das vollkommene Nichtwissen um mögliche Schäden, Gefahren etc. nicht erfasst werden. Oder anders: Indem es um Entscheidungen über mögliche künftige Folgen geht und Entscheidungen immer ein Abwägen verschiedener Alternativen, sowie Berücksichtigen unterschiedlicher Interessen meint, was jeweils bestimmte Vorannahmen impliziert (sowohl im Konzept der Politisierung als auch in dem der Individualisierung von Risiken), wird der Umgang mit Unsicherheit aus der Perspektive des Nichtwissens nicht thematisiert; Handeln unter Ungewissheit meint hier immer den antizipativen Umgang im Heute mit möglicherweise eintretenden Folgen von Morgen. Abschließend soll noch die Eingangsfrage nach der Einordnung der Beck’schen Konzepte in den Paradigmenrahmen aus Beherrschung, Ohnmacht und Bewältigung beantwortet werden. Hier muss m.E. differenziert argumentiert werden: (1) Es geht primär um Bewältigung und nicht mehr nur um Beseitigung: Im Großen und Ganzen

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bietet die Beck’sche Perspektive insofern eine Alternative zur Beherrschung und einen Beitrag zur Bewältigung von Ungewissheit, da es zwar auch, aber nicht zwangsläufig um die Beseitigung, sondern vielmehr um den produktiven Umgang mit möglichen Entscheidungsfolgen geht. Angesichts der Unhintergehbarkeit unbekannter und nichtintendierter Nebenfolgen hochtechnologischer Prozesse gilt es, die Entscheidungen und Verantwortungen zu verhandeln (wenn es um kollektive Betroffenheit geht) oder aber zu individualisieren (wenn es um mögliche Schäden von Einzelpersonen geht). In jedem Fall ist es das Ziel der Organisation, handlungsfähig zu bleiben und insofern die reflexiv moderne Unsicherheit zu bewältigen. Das moderne Beherrschungs›phantasma‹ im Sinne einer strategisch-planerischen Kalkulation von Risiken wird dabei konzeptionell in seiner Funktionalität deutlich in Frage gestellt. In der empirischen Analyse wird das jedoch ambivalent gesehen. Hier zeigt sich v.a. am Beispiel des Politisierungsprozesses die faktisch weiterhin wirksame Beherrschungslogik im Umgang mit Ungewissheit (vgl. Topal). (2) Entscheiden bleibt der wesentliche Handlungsmodus im Umgang mit Unsicherheit: Gleichzeitig bleiben beide Strategien – Politisierung und Individualisierung – aber auch konzeptionell im Wesentlichen der Entscheidungslogik verhaftet und reproduzieren damit ein entscheidendes Merkmal des Planungs- oder Beherrschungsparadigmas. Denn herausgefordert durch Globalität und Futurität bleiben Entscheidungen auch und gerade im Hier und Jetzt unabdingbar. Das heißt, die möglichen künftigen Folgen müssen schon heute antizipiert, können dabei aber lediglich in Form von Wahrscheinlichkeitsannahmen zur Grundlage von aktuellen Entscheidungen werden. Folgen wir der Beck’schen Perspektive auf die Folgen von Risiken, Ungewissheit und Nichtwissen, dann ist es die Aufgabe von Organisationen (wenn auch nicht im Alleingang), durch ein um subjektive Aspekte erweitertes Abwägen von Argumenten und Interessen eine im besten Fall legitime und verantwortbare, in jedem Fall aber eine getroffene Entscheidung zu ermöglichen. Zu fragen bleibt, welche Basis diese Entscheidungen haben, d.h. welches Wissen, welche Positionen etc. wie mit einbezogen werden. Davon hängt dann ab, ob weiterhin, fundiert durch rationale Überlegungen, statistische Kalkulationen etc. eine Entscheidung im Rahmen des Beherrschungsparadigmas getroffen wird – eingestellt in oder verhüllt durch neue Verantwortungszuschreibungen – oder ob tatsächlich ein neuer Umgang mit Risiko und Ungewissheit gefunden werden kann, indem

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bspw. die Hierarchie von wissenschaftlich fundiertem Fach- und erfahrungsbezogenem Laienwissen aufgebrochen wird, sowie nicht Entscheidungen über riskante Folgen in der nahen oder fernen Zukunft, sondern neue Formen des Umgangs mit riskanten Situationen in den Blick geraten. An dieser Stelle werden sog. situative Ansätze interessant, weil sie die Bewältigung von (vergangenen) Entscheidungsfolgen in der aktuellen Situation thematisieren. Hier stehen nicht Entscheidungen und ihre Folgen in der Zukunft im Mittelpunkt, sondern vielmehr der Umgang mit bereits eingetretenen Folgen und damit aktuell gewordenen riskanten Situationen im Hier und Jetzt; Risiken sind hier keine nichtintendierten Nebenfolgen in der Zukunft, sondern ein aktuelles Problem im konkreten organisationsinternen Handlungsablauf.13 Unsicherheit ist nicht zu vermeiden, trotz oder gerade aufgrund dessen müssen Entscheidungen getroffen werden (z.B. soll Energieerzeugung mittels Atomkraft ›riskiert‹ werden) bzw. ein Modus des Umgangs mit (Folgen von) Unsicherheit bei deren Eintreten gefunden werden (z.B. die Frage, was adäquate Strategien im Falle eines Super-GAUs sind).

L ITERATUR Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich (2007): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (1993): »Nicht Autonomie, sondern Bastelbiographie. Anmerkungen zur Individualisierungsdiskussion am Beispiel des Aufsatzes von Günter Burkart«, in: Zeitschrift für Soziologie, 22/3: 178–187. Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang (Hg.) (2001): Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (1996): Reflexive Modernisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

13 Vgl. hierzu z.B. Weicks Konzept der ›Erwartung des Unerwarteten‹ als Strategie der Unsicherheitsbewältigung (Weick 2003; 2005; Stadelbacher 2010).

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Bewältigung von Ungewissheit durch Selbstorganisation Ansätze, Perspektiven und offene Fragen S TEPHANIE S TADELBACHER

E INLEITUNG Klassische Organisationstheorien fokussieren, gegründet auf einem mechanistischen sowie stabilen Welt- und Menschenbild, primär die inzwischen zunehmend als anachronistisch betrachteten Prozesse der Aufgabenteilung, formalen Regelsetzung und direkten Kontrolle von außen (aus Sicht der Arbeitnehmer). Diese mechanistische Sichtweise setzt Vorhersagbarkeit, Planbarkeit, Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit voraus. Kurz: Klassische Organisationstheorien gehen von Fremdorganisation, von rational geplanter, von außen vorgegebener und strukturierter Ordnung aus. Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen ist die Feststellung in der Organisations- und Managementtheorie, dass sich die Grundlagen dieser Perspektive mittlerweile entscheidend geändert haben – Ungewissheit ist heute ein Merkmal nahezu jeder Form von Organisation, allen voran unternehmerisch-betrieblicher. Ungewissheit bezeichnet die Tatsache, dass die »Situation in einer Unternehmung von so vielen Einflüssen bestimmt wird, dass die Wirkungen von Handlungen durch die handelnden Personen nie vollständig vorausgesehen werden können und man daher in der Regel auch nicht in der Lage ist, alle möglichen Wirkungen in die Planung der Handlungen einzubeziehen« (Malik/Probst

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1981: 130). Diese Feststellung von Malik und Probst aus dem Jahr 1981 hat unter heutigen Bedingungen umso stärkere Gültigkeit. Unter diesen Bedingungen ist heute umso mehr die alt bekannte Frage zu stellen, wie soziale Ordnung hergestellt werden kann. Dass diese ein unverzichtbares Merkmal von handlungsfähigen Organisationen war und noch immer ist, trotz oder gerade angesichts der veränderten Rahmenbedingungen, ist allgemeiner Konsens in Forschung und Praxis (Göbel 1998: 91). Eine Richtung innerhalb der Organisationsforschung, die sich dezidiert mit diesem Thema beschäftigt, sind Selbstorganisationsansätze: »Die Notwendigkeit des Umgangs mit einer komplexeren und dynamischeren Umwelt hat der Selbst-Organisations-Perspektive ohne Zweifel Auftrieb gegeben. Hier geht es um die Bewältigung von Instabilitäten, Diskontinuitäten, Ungewissheit, Gefahren und damit die Frage der Flexibilität, der Anpassungsfähigkeit, der Innovation, der kontinuierlichen Veränderung, der Früherkennung und der pro- oder interaktiven Umweltgestaltung.« (Probst 1992: 2263)

Damit ist zugleich ein grundlegender Paradigmenwechsel in der Organisationstheorie angesprochen – weg vom mechanistischen, hin zu einem systemischen Weltbild. Dieser Wandel des Denkens ist fundamental und »ebenso radikal wie die kopernikanische Wende« (ebd.: 81; vgl. auch Kratky 1990). Mit der systemischen bzw. ganzheitlichen Perspektive auf Organisationen kommen die komplexe System-Umwelt-Beziehung sowie die ebenso komplexe Vielfalt und Dynamik der Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen des Systems in den Blick. Komplexität wird damit zu einem immer schon zu berücksichtigenden und v.a. nicht vermeidbaren Bestandteil von Organisationen bzw. Unternehmen als soziale Systeme. »Das zentrale Anliegen besteht nun darin, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie Unternehmen in einer ständig komplexer und turbulenter werdenden Umwelt organisiert und geführt werden müssen, damit sie überlebensfähig und erfolgreich bleiben. Die Lösung dieses Problems wird hier in der Ablösung der gegenwärtig in vielen Betrieben noch geltenden fremdorganisatorischen Prinzipien durch das Konzept der Selbstorganisation gesehen. Gemäß diesem Konzept organisieren sich lebende Systeme selbst. Ihre Ordnung wird ihnen nicht von der Umwelt aufgezwungen, sondern vom System selbst bestimmt.« (Dietrich 2001: 84)

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Die Entstehung sozialer Ordnung ist, wie in dem Zitat deutlich wird, in diesem Konzept ungleich aktuell und erhält deshalb einen zentralen Stellenwert in Selbstorganisationsansätzen. Im Folgenden sollen deshalb Fragen nach der Entstehung sozialer Ordnung unter Ungewissheit, nach dem Gelingen von (sozialer) Abstimmung und kooperativer Zielerreichung und damit im Wesentlichen einer gemeinsamen Bewältigung von Komplexität in Form einer vergleichenden Portraitierung prominenter Ansätze aus diesem Forschungsfeld betrachtet werden. Ziel des Aufsatzes ist eine ganzheitliche Erfassung des Phänomens Selbstorganisation, bei dem, so wird unterstellt, sowohl Strukturen als auch Subjekte eine Rolle spielen. Zu fragen ist demnach auch und vor allem nach den Subjekten im System: Welche Rolle spielen sie als Teil des ›lebenden Systems‹ bei der Herstellung sozialer Ordnung und der Bewältigung von Ungewissheit?

1

O RDNUNG DURCH S ELBSTORGANISATION – B ESTIMMUNG EINES K ONZEPTS

1.1 Erste Klärungen »In sozialen Systemen lässt sich beobachten wie Ordnung – unabhängig von den Handlungen eines Organisators – aus dem System selbst heraus entsteht. Diese Erscheinung wird als Selbstorganisation bezeichnet.« (Dietrich 2001: 87)

Soweit eine erste Definition, bei der mehrere Dinge deutlich werden: (1) Selbstorganisation ist unmittelbar mit einer systemischen Perspektive verbunden: »[D]er Umgang mit komplexen Systemen [setzt] systemisches Denken voraus« (ebd.: 82), welches durch ganzheitlich vernetztes Denken, Prozessdenken und Reflexion der Konstruiertheit von Realität gekennzeichnet ist. Auf Unternehmensebene wird deshalb auch vom systemischen Management gesprochen, womit die Grenzen rationaler Plan- und Steuerbarkeit ›von außen‹ anerkannt werden. Im Zentrum steht also das System und die Frage, wie darin Ordnung entsteht. (2) Aus dem Zitat geht weiterhin hervor, dass Selbstorganisation immer schon Bestandteil jeden (nicht nur) sozialen Systems ist, sie also nicht erst erzeugt, sondern ein Umgang mit ihr gefunden werden muss. Lange blieb der Blick auf Selbstorganisation jedoch durch die Konzentration auf gestalterisches Planen und direktes Kontrollieren

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verdeckt. Angesichts des Versagens fremdorganisierter Gestaltungsmöglichkeiten von Systemen (sollten sie jemals primär für deren Gelingen verantwortlich gewesen sein), gewinnt die Selbstorganisationsperspektive jedoch v.a. in der betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie an Bedeutung. Hier wird nun verstärkt gefragt, wie diese Eigenschaft von Systemen – unabhängig von den Handlungen eines Organisators, Ordnung aus dem System selbst heraus entstehen zu lassen – nutzbar gemacht werden kann. Selbstorganisation gilt heute immer mehr als Lösung im Umgang mit Komplexität und Ungewissheit, gleichsam als funktionales Äquivalent zu (auch heute noch aktuellen) fremdorganisatorischen Konzepten.1 Und schließlich wird (3) auf die allgemeine Bedeutung von Selbstorganisation für die Entstehung von Ordnung zumindest implizit aufmerksam gemacht. Alle Ansätze – gleich welcher Disziplin sie zuzuordnen sind – fragen nach der Entstehung von Ordnung, die als »für unser Denken und Leben notwendig« (Göbel 1998: 17; Bea/Göbel 1999: 176) erachtet wird.2 Ordnung entsteht in komplexen, dynamischen Systemen also – zunächst einmal gleichgültig ob intendiert oder nicht – (auch) von selbst. Was oder wer dieses ›Selbst‹ nun genau ist, wird in den verschiedenen Ansätzen zum Teil unterschiedlich bestimmt. Hier kann analytisch zwischen autonomer und autogener Selbstorganisation differenziert werden. Göbel definiert autonome Ordnung als »die von den Organisierten selbst geleistete, selbstbestimmte (autonome) absichtliche Organisation« – hier sind die Individuen die ›Selbste‹. Abstimmung erfolgt durch rationalen Austausch der Akteure, »es wird bewusst und zielgerichtet organisiert, allerdings nicht von wenigen autorisierten Organi-

1

Um bereits an dieser Stelle ein mögliches Missverständnis auszuräumen: Selbstorganisationsansätze treten nicht in Konkurrenz zu Fremdorganisationsansätzen, vielmehr gilt ein komplementäres Nebeneinander (s.u.).

2

Vgl. die Definition von Ordnung nach F.A. von Hayek, einem der zentralen Vordenker organisationstheoretischer Selbstorganisationsforschung: »Mit ›Ordnung‹ werden wir durchweg einen Sachverhalt beschreiben, in dem eine Vielzahl von Elementen verschiedener Art in solcher Beziehung zueinander stehen, daß wir aus der Bekanntschaft mit einem räumlichen oder zeitlichen Teil des Ganzen lernen können, richtige Erwartungen bezüglich des Restes zu bilden, oder doch zumindest Erwartungen, die sich sehr wahrscheinlich als richtig erweisen werden.« (von Hayek 1980: 57)

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satoren für andere, sondern von den Betroffenen selbst.« (Göbel 1998: 102f.; vgl. hierzu auch Göbel 2004; Dietrich 2001) Zentrale Merkmale autonomer Organisation sind Selbstbestimmung, Dezentralisation und Redundanz (mehrere Teile des Unternehmens sind in der Lage, dasselbe zu tun). Um diese Merkmale und damit autonome Herstellung von Ordnung zu gewährleisten, bedarf es struktureller Veränderungen, die i.d.R. fremdorganisiert gestaltet werden (können).3 Ziel dieser Veränderungen, wie z.B. die Abflachung von Hierarchien, ist hier aber die weitgehende, weil als funktional erachtete Ablösung fremd- und die Förderung selbstorganisierender Prozesse.4 Autonome Selbstorganisation kann als Weiterentwicklung klassischer Organisationstheorien gesehen werden, die eine Verschiebung des Fokus auf soziale Beziehungen und den Faktor Mensch als Ressource mit sich bringt (Dietrich 2001: 145f.). Der Einzelne hat mit seinen Wahrnehmungen, Kompetenzen, Entscheidungen und Handlungen eine zentrale, weil partizipative Rolle bei der Entstehung von Ordnung, die als Effekt von diskursiver Abstimmung erreicht werden soll. In Abgrenzung dazu versteht Göbel autogene Ordnung als »›von selbst‹ entstehende, sich selbst entfaltende Verhaltensregulierung, die nicht von bestimmten Individuen absichtlich und planvoll gemacht wird, sondern ›wächst‹, ›sich bildet‹« – das ›Selbst‹ ist hier das System. Aus der Perspektive autogener Selbstorganisation wird Ordnung als vom System selbst generierte Regeln, Prozesse und Strukturen verstanden, die ›hinter dem Rücken‹ der ›bewusstlosen‹ Akteure gleichsam spontan entstehen. Die zentralen Merkmale sind Selbstreferenz, Pfadabhängigkeit und Indeterminiertheit (Göbel 2004: 1314). Diese Perspektive ist keine Weiterentwicklung, sondern ein ganz und gar neuer Denkansatz: »Selbstorganisation im systemischen Sinn entspricht in erster Linie einer Eigenschaft von Systemen. Ordnung entsteht aus dem System selbst heraus und wird als gewachsene oder spontane Ordnung bezeichnet, welche nicht auf den Tätigkeiten einzelner Organisatoren beruht. Dies zeigt, dass Organisation nicht auf ein individuelles, planmäßiges und rationelles Organisieren reduzierbar ist. Organisation und damit Ordnung sind das Resultat eines vernetzten Systems

3

Als Stichwort sei hier der Bereich der Organisationsentwicklung genannt.

4

Vgl. das in diesem Zusammenhang oft verwendete Schlagwort der »Zeltorganisation« (Bea/Göbel 1999: 373, auch Göbel 1998: 258ff.).

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von interaktiven intrinsischen Charakteristiken selbstorganisierender Systeme‹.« (Dietrich 2001: 146)

Dieses Analyseraster erlaubt, wie an dem obigen Zitat erkennbar, nicht zuletzt einen Blick auf die Rolle des Subjekts in den einzelnen Ansätzen, je nachdem, ob sie vorwiegend am autonomen oder eben autogenen Aspekt von Selbstorganisation orientiert sind. Mit der Beleuchtung autogener Selbstorganisationsprozesse wird der Skepsis gegenüber der grundsätzlich erfolgsführenden rationalen Planung von Prozessen und Ergebnissen durch einzelne oder auch kooperierende Akteure (vgl. autonome Selbstorganisation) und der Mahnung zu Bescheidenheit und Zurückhaltung hinsichtlich der Grenzen der menschlichen Vernunft Ausdruck verliehen (Malik/Probst 1981: 123; Malik 1993: 107) und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf systemimmanente Dynamiken gelenkt. Beide Perspektiven auf Selbstorganisation erhalten bei den einzelnen Autoren unterschiedliche Aufmerksamkeitsfoki. Sie sind aber keineswegs als ›entweder-oder‹ zu sehen, sondern verweisen vielmehr wechselseitig aufeinander. Autonome Selbstorganisation wird als »Vorstufe der autogenen Selbstorganisation« (Dietrich 2001: 228), quasi als deren strukturelle Bedingung betrachtet. Nur innerhalb einer autonomen Arbeitsorganisation kann autogene Selbstorganisation und damit spontane Ordnung entstehen; autogene Selbstorganisation setzt autonome Selbstorganisation voraus. Aber auch vice versa: Autonome Ordnung entsteht v.a. durch informelle und damit auch ein Stück weit autogene Abstimmung der Akteure. Soviel zur analytisch-heuristischen Differenzierung, wie sie von Göbel oder Dietrich vorgenommen wird. Wird jedoch in den meisten Ansätzen von Selbstorganisation gesprochen, ist i.d.R. (wenn auch oft implizit) autogene Selbstorganisation gemeint. Das lässt sich durch den, von den Autoren selbst formulierten, ›innovativen‹ Charakter dieses Verständnisses von Selbstorganisation erklären. Während autonome Selbstorganisation als Fortsetzung klassischer Organisationsansätze unter veränderten Vorzeichen betrachtet wird, die im Grunde aber die gleichen Probleme und Lösungen, i.e. den möglichst rational-planenden Umgang mit Ungewissheit, lediglich eine Stufe nach unten weitergibt (vom Manager zu den einzelnen Arbeitsgruppen/den einzelnen Angestellten) und Heterarchie in dem Fall die Verteilung von klassischen Managementaufgaben auf viele Schultern bedeutet, verweist autogene Selbstorganisation

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dagegen auf ein gänzlich anderes Verständnis von Abstimmung und sozialer Ordnung. Im Weiteren wird also, der Verwendung in den Ansätzen folgend, vor allem von autogener, spontaner Selbstorganisation die Rede sein (immer mit dem mitgedachten Hinweis, dass beide Formen wechselseitig aufeinander bezogen bleiben!). Um nun die Merkmale (autogen) selbstorganisierender Systeme – Komplexität, Autonomie und Selbstreferentialität – näher erläutern zu können, werde ich im Folgenden kurz den wissenschaftlichen Entstehungshintergrund des Selbstorganisationskonzepts anhand ausgewählter Theorien skizzieren, bevor ich anschließend prominente Ansätze entlang meiner Fragestellung vorstellen und diese dann in einem perspektivischen Ausblick ergänzen werde. 1.2 Ursprünge des Selbstorganisationsansatzes Wie bereits in der Einleitung betont, liegt jedem der hier vertretenen Selbstorganisationsansätze systemisches Denken zugrunde, genauer das Denken der Modernen Systemtheorie. In Abgrenzung zur Allgemeinen Systemtheorie (einer der Hauptvertreter war bspw. Bertalanffy) gilt die Annahme einer Komplementarität von Stabilität und Instabilität, (materie- und energiebezogener) Offenheit und (organisationaloperativer) Geschlossenheit als komplexen, dynamischen Systemen entsprechend. Während die Allgemeine Systemtheorie noch stark vom Denken in Stabilitäten (Fließgleichgewicht) und einem offenen, dynamischen Austausch mit der systemischen Umwelt ausging, werden Komplexität, Nichtlinearität, Instabilität, Prozesshaftigkeit, Geschlossenheit und Selbstreferentialität in der Neuen Systemtheorie von Randphänomenen zu zentralen Größen in Systemen (Beisel 1994: 19ff.). Selbstorganisierende Systeme gelten somit als stabil und flexibel, offen und geschlossen zugleich. Herkunft aus den Naturwissenschaften: Kybernetik, Synergetik und Autopoiese Selbstorganisation und das damit verbundene, eben skizzierte systemische Denken sind nicht genuin soziologischen, betriebswirtschaftlichen oder allgemein organisationstheoretischen Ursprungs, vielmehr speisen sie sich allen voran aus den Naturwissenschaften. Pate für autogene Ordnungsentstehung in sozialen Systemen stehen hier natürliche Prozesse, wie bspw. die Entstehung eines Lasers (Haken), die Autopoiese

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lebender Systeme (Maturana/Varela) für soziale Systeme (Luhmann) oder Evolution als ›blinde‹ Ordnungskraft (vgl. u.a. Probst, Malik, Kirsch). Für die Selbstorganisationsforschung zentrale Erkenntnisse aus naturwissenschaftlich fundierten Ansätzen stammen z.B. aus der Kybernetik (Lehre der Steuerung). Heinz von Förster, dessen Arbeit von 1960 (»On Self-Organizing Systems and their environment«) als ›Geburtsstunde der Selbstorganisation‹ (Beisel 1994: 23) gilt, unterscheidet in seiner Betrachtung von Selbstorganisation zwei Arten von Maschinen (i.e. Systemen), triviale (fremdorganisierte) und nicht-triviale (selbstorganisierte). Mit dieser Unterscheidung verdeutlicht von Förster die Merkmale Komplexität und Selbstreferenz selbstorganisierender Systeme. Während triviale Systeme nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip funktionieren und damit im Verhalten vorhersagbar und determinierbar sind, zeichnen sich nicht-triviale Systeme durch keine simple Input-Output-Beziehung aus: »In einer nicht-trivialen Maschine beeinflussen die internen Zustände sich selbst. Sie wirken auf sich selbst zurück« (Probst 1987: 78), sind damit nicht von außen (durch Input) bestimmbar und Entwicklungen somit unvorhersehbar. Damit geht eine gewisse und v.a. nicht reduzierbare Ungewissheit als Bestandteil von nicht-trivialen, selbstorganisierenden Systemen einher. Den Aspekt der Nichtreduzierbarkeit bzw. Unvermeidbarkeit von Komplexität hat bereits Ross Ashby im ›Gesetz der erforderlichen Varietät‹ festgehalten: »Nur Varietät kann Varietät absorbieren« (Ashby, zit. nach Malik 2006: 192), will heißen, einem komplexen System kann nur mit einem mindestens ebenso komplexen System adäquat begegnet werden. Es muss demzufolge eher um organisationsinterne Komplexitätssteigerung als um deren Reduktion gehen. Auch die Synergetik (Lehre vom Zusammenwirken) trägt zum Konzept der Selbstorganisation aus physikalischer Perspektive bei: Haken erläutert seine mathematisch-physikalische Theorie der Selbstorganisation anhand des Laserstrahls, dessen Entstehungsprinzipien er auf soziale Systeme überträgt.5 Haken interessiert sich für mögliche Gesetzmäßigkeiten dieses Prozesses: »Die (positive) Antwort auf diese Frage [i.e. die spontane Entstehung von Ordnung; Anm.d.Verf.] wurde durch eine mathematische Formulierung mög-

5

Vgl. hierzu die Darstellung in Haken 1991: 68ff.

B EWÄLTIGUNG

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lich, aus der sich Gesetzmäßigkeiten herleiten ließen, die weitgehend unabhängig von den Eigenschaften der zugrunde liegenden Teilsysteme sind.« (Haken 1991: 66)6

Im Zentrum stehen also abstrakt-mathematische Modelle, die Ordnung in dynamischen Systemen als Effekt von Wechselwirkungen (mit der Umwelt und innerhalb des Systems) erklären sollen. Zentrale Größen sind hier die (von außerhalb des Systems kommenden) Kontrollparameter, (innerhalb des Systems verortete) Ordnungsparameter (wie bspw. Unternehmenskultur, Betriebsklima) und das sog. ›Versklavungsprinzip‹.7 Dieses besagt, dass »das Verhalten der einzelnen Systemelemente durch jeweils andere einige wenige Ordnungsparameter bestimmt [wird]. Sie reduzieren die Freiheitsgrade der Elemente drastisch« (Simon 2008: 24), so dass Ordnung und Stabilität entstehen. Mit Haken wird das Merkmal der Selbstreferenz und (in Bezug auf die Umwelt relative) Autonomie selbstorganisierender Systeme (nicht deren Elemente) deutlich gemacht. Kontrollparameter können zwar von außen beeinflusst werden (Input), dass und v.a. wie im System dann Ordnung entsteht (also welcher Ordnungsparameter wie wirksam wird; Output), lässt sich jedoch nicht vorhersagen, geschweige denn bestimmen.8 Und schließlich finden sich Annahmen aus der, am lebenden Organismus orientierten, Theorie autopoietischer Systeme (Maturana/Varela) in nahezu allen Ansätzen wieder. Ein autopoietisches System ist ein System, das in zirkulärer Weise seine eigenen Bestandteile produziert und sich darüber selbst herstellt und erhält. Ein damit verbundenes Merkmal ist seine Selbstreferenz, d.h. alle internen Zustände des Systems – Chaos und Ordnung – werden im System selbst-bezüglich erzeugt. Ferner sind Systeme damit immer schon operational geschlossen, d.h. jede Entscheidung, jede Handlung ist zum einen nur aus dem System selbst heraus verständlich und findet zum anderen auch nur

6

Vgl. auch Haken 2005: 98.

7

Oder, wie Haken in Reaktion auf Kritik auf mit dem Begriff der Versklavung einhergehende Implikationen für soziale Systeme auch formuliert: das Konsensualisierungsprinzip (Haken 1991: 72).

8

Ein allgemeiner Hinweis an dieser Stelle: Die Theorie der Synergetik hat in den hier verhandelten Ansätzen keinen zentralen Stellenwert, hat aber das systemische Denken im Allgemeinen mitgeprägt.

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dort statt. Umweltkomplexität wird damit ausschließlich über interne Komplexität im System relevant, z.B. mittels Informationsverarbeitung. Aus Sicht der Neuen Systemtheorie gelten selbstreferentielle Geschlossenheit, Nicht-Reaktivität und Umweltoffenheit als »integrale Bestandteile ein- und desselben Systems« (Beisel 1994: 25). Wesentlich ist die Erkenntnis, dass Systeme nicht von außen gelenkt oder aktiv gestaltet werden können (sie sind relativ autonom), sondern Zustandsveränderungen oder -stabilität (Ordnung) immer schon Produkte aus dem System selbst heraus sind (autogen) – Systeme können von außen nur irritiert bzw. angeregt, nicht gestaltet werden. Zur Bedeutung der naturwissenschaftlichen Ansätze für betriebswirtschaftliche oder soziologische Theorien bleibt zu sagen, dass freilich Unternehmen genauso wenig Maschinen wie Laserstrahlen oder organische Lebewesen sind, jedoch kommt ihnen die Rolle von Wegbereitern einer neuen Art, zu denken und die Welt (im Großen wie im Kleinen) zu sehen, zu: »[…] es ist nicht zu übersehen, dass neue naturwissenschaftliche Denkmodelle auch das Denken über die Organisation der Unternehmung verändert haben: Ganzheitlich-systemisch statt partial, dynamisch statt statisch, komplex statt einfach, unvorhersehbar-chaotisch statt gesetzmäßig funktionierend, selbstorganisierend statt hergestellt […]« (Göbel 1998: 295)

Vordenker in der Ökonomie: Die Idee der spontanen Ordnung bei Friedrich A. von Hayek Neben Physik, Biologie und Mathematik ist in der Selbstorganisationsforschung auch das ökonomische Konzept der ›spontanen Ordnung‹ von Friedrich A. von Hayek relevant. Urvater dieser Idee einer von selbst entstehenden Ordnung ist Adam Smith mit seiner Erklärung von Ordnung durch die invisible hand. So gilt auch zunächst der Markt als Prototyp autogener Ordnung bzw. Selbstorganisation. Nach von Hayek ist autogene Selbstorganisation das Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs (Hayek 1969: 97ff.). Demnach entsteht so eine Ordnung, »die weder ganz unabhängig von menschlichem Handeln ist, noch auch das bezweckte Ergebnis solcher Handlungen, sondern das nichtvorgesehene Ergebnis von Verhalten, das die Menschen angenommen haben, ohne ein solches Resultat im Sinne zu haben.« (Ebd.: 36; auch Böcher 1996: 289)

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Spontane Ordnung entsteht konkret, indem Subjekte ihr Handeln an kollektiv geteilten abstrakten Regeln orientieren und sich dadurch in gewissem Sinn ähnlich und damit ein Stück weit antizipierbar verhalten. Diese Regelhaftigkeit des Handelns und Verhaltens muss dabei keineswegs immer bewusst sein, vielmehr ist deren präreflexive Wirkung gerade ein Merkmal selbstorganisierender Systeme. Auch die Entstehung der Regeln selbst kann spontan sein im Sinne einer evolutionären Entwicklung. Regeln können aber auch gezielt (durch)gesetzt werden. Das ist nach von Hayek ein wesentliches Merkmal (klassischer) Organisationen. Im Gegensatz zum Markt, dessen spontane Ordnung von Hayek als Kosmos bezeichnet, herrscht in Organisationen Taxis, eine planvoll und bewusst hergestellte, künstliche Ordnung durch Regelsetzung (s.o.; von Hayek 1980: 58ff.). Bei von Hayek findet sich allerdings bereits eine Annäherung zwischen spontaner Ordnung und Organisation. Mit zunehmender Komplexität können gesetzte Regeln immer weniger gewährleisten, dass Ordnung aufrechterhalten wird. Demzufolge bedarf es allgemeinerer, abstrakterer Regeln, die in einem evolutionären Prozess gewachsen sind – Selbstorganisation wird nötig, wo Fremdorganisation nicht mehr adäquat ist, wo Lücken aufgefüllt werden müssen, die konkrete Handlungsanweisungen o.Ä. nicht mehr schließen können. Kurz: Der organisationale Umgang mit Ungewissheit erfordert zunehmend eine selbstorganisierte, i.e. spontan-autogene Ordnung. Die Idee der spontanen Ordnung wird nun also verstärkt auf Organisationen – ursprünglich der Antipode des freien Marktes – übertragen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in selbstorganisierenden Systemen – und Organisationen werden zunehmend als solche betrachtet – Ordnung vorwiegend als »eine Tradition erlernter Regeln des Verhaltens« (Böcher 1996: 325f.) entsteht – sie wird nicht bewusst geplant, ihr Endprodukt kann nicht vorausgesehen werden, vielmehr nimmt die Entstehung von Ordnung die Gestalt eines ungeplanten evolutionären Prozesses an. Mit von Hayek wird somit die Evolutionsperspektive auf soziale Systeme populär. Er gilt als Mitbegründer einer kulturellen Evolutionsperspektive auf Gesellschaft, Ordnung und Organisation, und genau daran knüpfen die meisten aktuellen Selbstorganisationsansätze an:

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»Evolution bedeutet die zunehmende Herausbildung von Strukturen und ihre Selbststabilisierung gegenüber ihrer Umwelt als Vorgang in der Zeit. Solche Vorgänge fasst man heute unter dem Begriff Selbstorganisation« (Dürr 1995: 69).

Mit der Betrachtung von Ordnung als Resultat spontaner Prozesse der Regelentstehung und der Weiterentwicklung dieser Perspektive in systemisch-evolutionären Managementansätzen wurde die Basis für eine neue, eine komplementäre Betrachtung von Organisationsprozessen gelegt, die Selbstorganisation als eigenständiges und eigenwertiges Phänomen berücksichtigt. Drei solcher Ansätze werden im Weiteren näher vorgestellt.

2

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AUS BETRIEBSWIRTSCHAFTLICHER

P ERSPEKTIVE

In diesem Kapitel sollen drei ausgewählte Selbstorganisationsansätze mit betriebswirtschaftlicher Perspektive kurz vorgestellt werden. Zunächst werden die jeweiligen Ausführungen des Konzepts eines ›Evolutionären Managements‹ von Gilbert Probst und Fredmund Malik skizziert, die als Vertreter des Mainstreams betrachtet werden. Im Anschluss daran und auch als Abgrenzung davon wähle ich das Konzept des verständigungsorientierten Handelns im Rahmen des Konzepts der ›Fortschrittsfähigen Organisation‹ von Werner Kirsch. Allen Ansätzen sind die oben skizzierten Grundannahmen selbstorganisierender Systeme gemein, wenn auch die Schwerpunkte und Schlussfolgerungen zum Teil andere sind. Auf die Rolle der Subjekte werde ich systematisch im Zwischenfazit eingehen. 2.1 Evolutionäres Management bei Gilbert Probst und bei Fredmund Malik In betriebswirtschaftlichen Organisationstheorien wurde der Selbstorganisationsansatz vor allem von Gilbert Probst eingebracht und als Gegenmodell zur herrschenden Lehre ›hoffähig‹ gemacht (Göbel 1998: 84). Er war neben Luhmann einer der ersten, die den Begriff Selbstorganisation für soziale Systeme nutzbar machen wollten (Bolbrügge 1997: 45), wenngleich sich gerade im Vergleich mit dem Konzept sozialer Systeme von Luhmann ein entscheidender Unterschied in

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Bezug auf die praktisch-unternehmensbezogenen Konsequenzen ergibt – die Frage nach Gestaltung und Steuerung systemischer, genauer evolutionär-systemischer Prozesse. Gilbert Probst und Fredmund Malik gelten als aktuell prominenteste Vertreter der sog. St. Galler-Schule. Sie beschäftigen sich mit der Frage nach der Gestaltung von evolutionären Systemprozessen. Ausgehend von den oben skizzierten Grundannahmen der Selbstorganisationsansätze im Allgemeinen und von der Perspektive der Ordnungsentstehung durch spontane Ordnung im Besonderen, stellen Probst und Malik die Frage nach der ›Organisation der Selbstorganisation‹ ins Zentrum ihres Ansatzes. Das klingt zunächst irritierend, gehen sie doch davon aus, Ordnung entstehe im System wie von selbst. Aber nicht zuletzt auch weil beide aus der Managementlehre kommen, steht die Praxisrelevanz selbstorganisierender Prozesse unter komplexen Bedingungen, wozu auch deren Gestaltung gehört, im Vordergrund ihrer Überlegungen. Im Weiteren soll deshalb auch deren systemischevolutionärer Ansatz aus der Managementlehre v.a. hinsichtlich Gestaltungs- und Steuerungsmöglichkeiten in Unternehmen beleuchtet werden. Um den Blick von Probst und Malik auf Organisation im Unternehmen zu verstehen, sollte man sich die wirkmächtigen evolutionären Prinzipien selbstorganisierender Systeme noch einmal kurz vergegenwärtigen. Evolution ist als Dreischritt aus Mutation, Selektion und Retention zu verstehen. Voraussetzung für Evolution in sozialen Systemen ist eine gewisse Variation von Verhaltens- und Wahrnehmungsmodalitäten (vgl. Gesetz von Ashby). Nur durch entsprechende Flexibilität im Denken und Handeln ist eine Anpassung an und Verarbeitung von Komplexität für das System möglich, Variation ist damit überlebensnotwendig. Aus der Fülle von Verhaltens- und Wahrnehmungsmustern, aus der Bandbreite an Reaktionen und ›Versuchen‹ werden nun diejenigen positiv selektiert, die am ehesten der Zielerreichung, i.e. der Verarbeitung von Komplexität und der Bewältigung von Ungewissheit dienen. Bei erneuter komplexitätsbedingter Ungewissheit werden i.d.R. die Variationen wiederholt und damit selektiert, die unter vergleichbaren Bedingungen bereits zur Problemlösung beigetragen haben. Andere werden als ›Irrtum‹ ausgesondert. Selektionen laufen dabei keineswegs nur bewusst ab, sondern sind Teil systemimmanenter Selbstorganisationsprozesse. Durch Wiederholung kommt es zur Stabilisierung bestimmter abstrakter Verhaltensregeln (Retention),

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eben jener Regeln, die weiter oben als Basis spontaner Ordnung in komplexen, dynamischen Systemen dargelegt wurden. Angesichts der hier recht abstrakten Beschreibung der evolutionären Prinzipien in sozialen Systemen wird eines bereits deutlich: In den Ansätzen der systemisch-evolutionären Managementlehre werden keine Rezepte oder konkreten Empfehlungen ausgesprochen, vielmehr geht es darum, die Prozesse in selbstorganisierenden Systemen zu verstehen. Organisation wird weniger ergebnis-, sondern vielmehr prozessorientiert betrachtet, wozu allgemeine Grundprinzipien statt Verhaltens- oder Entscheidungsrezepte gehören, die notwendigerweise im Abstrakten bleiben müssen. Dieser evolutionäre Prozess der Entstehung spontaner, autogener Ordnung, dessen Wirkprinzipien hier nur in Grundzügen dargelegt werden können, wird in der Literatur nun unterschiedlich bewertet (Göbel 1998: 268ff., Bea/Göbel 1999: 179). Zum einen kann sich auf die implizite ›Rationalität‹ des Evolutionsprozesses verlassen und darauf gehofft werden, dass Variation und Selektion die Dysfunktionalität bewussten Organisierens ausgleichen. Bei dieser Betrachtung scheint eine Gestaltung nicht nötig oder gar schädlich. Der entsprechende Grundsatz lautet: »Respektiere die Selbstorganisation« (Bea/Göbel 1999: 180). Auf der anderen Seite wird aber auch eine gewisse Grundskepsis gegenüber den Ergebnissen autogener Ordnungsprozesse vorgefunden. Es ist nämlich keineswegs ausgeschlossen, dass auch unerwünschte, gleichsam nichtintendierte Modelle entstehen, die eigendynamische Entwicklungen auslösen, welche dann ebenso dysfunktional für das System sein können (bspw. ›heimliche Spielregeln‹, die für Teile des Systems durchaus sinnvoll sein mögen, für das System als Ganzes und/oder auf Dauer jedoch kontraproduktiv wirken). Solche ›Skeptiker‹, wozu ich Probst und Malik zähle, plädieren daher eher für eine Kanalisierung der Selbstorganisation. Eine solche Perspektive auf Systeme erkennt zwar die Grenzen des Entscheidens und bewussten Organisierens, die Grenzen des Machbaren an, das, um mit Probst zu sprechen, »entbindet jedoch den Manager nicht von seinem Handeln« (Probst 1987: 31). Hier zeigt sich ein entscheidender Unterschied der Betrachtung von Selbstorganisation in der betriebswirtschaftlichen Managementlehre im Vergleich zu Ansätzen, die stärker auf Luhmann rekurrieren: ›Ohnmacht‹ gilt nicht als Option (Neumer

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2009: 36ff.).9 Vielmehr können und sollen Manager die Rahmenbedingungen so gestalten, dass erstens evolutionäre Prozesse ›ins Schwingen‹ gebracht werden und zweitens diese Prozesse auf eine bestimmte Art und Weise schwingen. Statt das System sich selbst zu überlassen, stellt sich hier die Frage nach ›geplanter Evolution‹, nach Kanalisierung mittels bewussten Eingreifens seitens des Managements. Dass dieses Eingreifen ergebnisoffen bleiben muss, ist klar, entscheidend ist aber die Absage an eine ohnmächtige Kapitulation gegenüber der Eigendynamik des Systems. Welche Gestaltungs- und Steuerungsmethoden werden nun vorgeschlagen? Zunächst nehmen Selbstorganisationsansätze generell von den Möglichkeiten des bewusst-rationalen Gestaltens, wie sie einem technomorphen Organisations- und Managementverständnis zugrunde liegen, Abstand (Malik/Probst 1981: 122). Durch die vielen differenten Verzahnungen im komplexen System ist es nicht möglich, den Zustand dieses Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt präzise zu beschreiben, zu einem späteren Zeitpunkt exakt zu prognostizieren und durch gezielte Maßnahmen einen gewünschten Zustand genau herbeizuführen (Göbel 1998: 66). Da aber auch ein fatalistisches Sich-SelbstÜberlassen nicht die Lösung sein kann, gilt es, autogene Selbstorganisationsprozesse indirekt zu steuern und damit indirekt auf die systemische Bewältigung von Komplexität und Ungewissheit Einfluss zu nehmen. Es geht im Prinzip also darum, die Kräfte, die spontane Ordnung bewirken, zu verstehen und dadurch deren Nutzbarmachung zu ermöglichen; es geht um nichts weiter als die ›Organisation der Selbstorganisation‹, um eine ›gelenkte Evolution‹ und dabei mehr um Gestaltung als um Planung. Im Folgenden sollen nun beide Ansätze etwas näher beleuchtet werden. Probst (1981; 1987) geht explizit von Unterschieden zwischen biologischen und sozialen Systemen aus und leitet daraus seine Handlungs- und Gestaltungsempfehlungen für die Praxis ab. Soziale Systeme zeichnen sich demnach durch gewachsene Traditionen und Interaktionsmuster aus, durch bestimmte Sinnsetzungen, Wahrnehmungen und Denkmodelle, die Entscheidungen initiieren (Probst 1987: 70ff.). Interpretation und Sinnhaftigkeit sind demnach zwei zentrale Wesensmerkmale sozialer Systeme, die in deren Organisation berücksichtigt, nutzbar gemacht werden müssen:

9

Siehe auch den Beitrag von Judith Neumer »Entscheiden« in diesem Buch.

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»Gestaltende Eingriffe in ein […] soziales System bedingen, dass eine Ordnung nicht nur auf einer materiellen Ebene entsteht, sondern diese auch geistig nachvollzogen, interpretiert, erklärt und begründet werden kann.« (Ebd.: 91)

Probst unterscheidet in seinem Ansatz zwischen substantiellem und symbolischem Organisieren und bei letzterem weiter zwischen der Kultur- und der Manifestationsebene. Auf der materiell-substantiellen Ebene findet Gestaltung in der Aufbau- und der Ablauforganisation statt. Stichworte sind hier Restrukturierung von Unternehmen, Dezentralisierung, Abflachung von Hierarchien, Entscheidungsdiffundierung, Partizipation, autonome Arbeitsorganisation etc. Was Probst hier adressiert, ist die gleichsam äußere Organisationsform, die autonome, aber auch autogene Selbstorganisation zulässt. Über dieser strukturellen Ebene liegt die geistig-sinnhafte Ebene der Kultur oder Sinnsetzung, die für die Bedeutung, Akzeptanz und Funktionalität von Strukturen grundlegend ist. Kultur versteht Probst »als erworbenes Wissens- und Erkenntnissystem zur Interpretation der Erfahrungen und zur Generierung von Handlungen. [Sie] ist ein Netz von Werten, Glaubensvorstellungen, kognitiver und normativer Orientierungsmuster, die das System auf geistiger Ebene zusammenhalten.« (Ebd.: 99)

Kultur wirkt wie ein Wahrnehmungsfilter, der Komplexität reduziert, indem er Interpretationen gleichsam ›vorspurt‹ und Handlungsmodelle nahe legt (vgl. hier wieder die Bedeutung von Regeln). Jede Kultur hat ihre Manifestationen, die konkrete Verhaltensweisen, Rituale, Vorschriften, aber auch Firmengeschichten, Zeremonien o.Ä. sein können (ebd.: 99). Diese Manifestationen sind im Gegensatz zum kulturellen ›Unterbau‹ konkret erfahrbar, sinnlich-praktisch fassbar, beobachtbar und gerade deshalb beeinflussbar. An dieser Ebene des InterpretativSinnhaften steuernd anzusetzen, bezeichnet Probst als symbolisches Organisieren: »Das symbolische Organisieren bezieht sich auf sinngebende und sinnmachende Prozesse und hat die Funktion, Ungewissheit, Komplexität und Unsicherheit für die Beteiligten zu reduzieren und Ereignisse, Prozesse, Strukturen sinnvoll zu machen oder sinnvoll erlebbar aufscheinen zu lassen.« (Ebd.: 101)

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Sinnermöglichende Kultur ist wichtig für die Stabilität und Wirksamkeit von Selbstorganisationsprozessen. Die Aufgabe des Managers hierbei ist es nun, einen sinnvollen Kontext zu schaffen, so dass dadurch für den Einzelnen Interpretationsmöglichkeiten der komplexen Wirklichkeit gegeben sind. Die konkrete Einflussnahme liegt dabei auf der Ebene der Manifestationen, weil Sinn an sich nicht hergestellt oder gegeben, sondern nur befördert und auffindbar gemacht werden kann; Kultur kann nur über ihre Objektivationen vermittelt gestaltet werden (i.e. Handeln, Artefakte und Sprache; ebd.: 101ff.). Mitgedacht werden muss dabei allerdings, dass Manager selbst eine Vorstellung davon haben müssen, in welche Richtung die symbolische Organisation laufen soll. Hier kann es freilich auch nur um eine mehr oder weniger abstrakte Richtung gehen, vornehmlich Flexibilität im Denken und Handeln, Offenheit gegenüber Neuem, Aushalten von Chaos und allgemeine Lernfähigkeit. Im Wesentlichen soll also die Variation im System gewährleistet und der Prozess evolutionärer Regelentstehung dadurch gefördert werden. Zudem geht es aber auch um die Lenkung der Selektion (bspw. durch Personalentscheidungen) und Retention bestimmter Denkund Verhaltensmuster (bspw. durch Schulungen neuer Mitarbeiter).10 Für die Diagnose der ohnehin stattfindenden und unter Komplexität unabdingbaren Selbstorganisation im Unternehmen bedeutsam ist in diesem Konzept die Integration der kulturell-sinnhaften Ebene in die Managementlehre und die damit einhergehende Erweiterung eines rein mechanistischen Führungskonzepts. Selbstorganisation ist immer eingebunden in strukturelle und symbolische Rahmenbedingungen, die sich wechselseitig bedingen (vgl. Wechselwirkung von Struktur und Kultur). Der Manager soll nun das System gleichsam »ins Schwingen bring[en], um selbstorganisierende Prozesse zu fördern« (ebd.: 88), auf struktureller, v.a. aber auch auf kultureller Ebene. Gleichwohl bleiben sie selbst Teil des Systems und damit nur ein Element innerhalb der autogen entstehenden, systemisch-evolutionären Ordnung. Die Wirksamkeit einzelner Gestalter bleibt immer von der übergeordneten Systemaktivität abhängig, »welche Ordnung schließlich im Ergebnis herauskommt, ist unplanbar« (ebd.: 395).

10 Die Aufgabe des Managements ist es also, Varianten gezielt zu erzeugen, Selektionen rational zu reflektieren und das Bewahrenswerte bewusst weiterzugeben (Bea/Göbel 1999: 448).

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Stärker noch als Probst stellt Malik (1984/2006; 1993) auf die Prinzipien der konkreten prozessualen Abläufe im Unternehmen ab. Ähnlich wie Probst geht auch er von der analytischen Differenz zwischen der Struktur von Organisationen (Ebene der Ordnung; spontan vs. taxisch) und der Methodik des Vorgehens (konstruktivistisch vs. evolutionär) aus, bei der er die Möglichkeit der Lenkung verortet (Malik 2006: 177). Beide Ebenen sind in seinem Konzept des ›Strategischen Managements‹ gleichermaßen wichtig. Hinzu kommt der dezidierte Hinweis, dass Management in einem systemisch-evolutionären Sinn strategisch immer nur auf der Metaebene allgemein funktionaler Prinzipien ansetzen kann (ebd.: 480). Auch hier kann es nur um allgemeine Prinzipien gehen, deren Kern Malik in seinem methodischen Ansatz des Problemlösens benennt. Der evolutionäre Problemlösungsprozess ist ein sequenzieller Versuch-Irrtum-Prozess ohne Planung, im Grunde ein Sich-Einlassen auf die Entscheidungsungewissheit in der Situation. Der genaue Ablauf und das Ergebnis sind dabei im Vorhinein nicht einschätzbar: »Praktisches Problemlösen entspricht […] einer dichten Netzstruktur von Schritten und Sub-Schritten, die zum Teil fließend ineinander übergehen, sich zum Teil sprunghaft ablösen und insgesamt ein komplexes dynamisches System darstellen, das am ehesten mit einem Labyrinth vergleichbar ist, dessen Struktur sich ständig ändert.« (Ebd.: 266)

Dieses Vorgehen bewirkt »in der Regel nur Veränderungen in kleinen Schritten« (ebd.: 323), entscheidend ist vielmehr das dahinter stehende sequenzielle Prinzip von Versuch und Irrtum.11 Das heißt aber auch, strategisches Entwerfen eines rationalen Handlungs- und Entscheidungsablaufes, ja auch nur irgendeines Plans mit dem Ziel, Ungewissheit zu reduzieren oder gar auszuschalten, muss an der komplexen, dynamischen Realität scheitern – »Evolutionäres Problemlösen ist permanentes Problemlösen« (ebd.: 330; [Herv.d.V.]). Eine Alternative hierzu gibt es nicht, denn »ein ›blinder Variations- und selektiver Bewahrungsprozess‹ [ist] notwendig und hinreichend für jede Erweiterung von Wissen, d.h. für jeden Informations-

11 Dieses Modell zeigt große Nähe zum Inkrementellen Entscheiden von Lindblom.

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gewinn […] und daher für jede Art von Anpassungs- und Problemlösungsprozess.« (Ebd.: 268)

Wenn Komplexität als sog. »echte Ungewissheit« (ebd.: 285) bewältigt werden will, ist ein solches Vorgehen, sind generelle Offenheit und Flexibilität durch zugelassene Varietät im Denken und Handeln unabdingbar.12 Da der Umgang mit Komplexität ein ›triviales‹ Ursache-Wirkungs-Denken verbietet, erscheint Maliks Opportunismus als einzig realistisches Prinzip (ebd.: 281ff.), d.h. es wird ›versucht‹ so lange, bis ›Irrtümer‹ ausbleiben und ein vorläufig günstiges Problemlösungsverfahren gefunden wurde. Praktisches Problemlösen als Bewältigung von Ungewissheit steht in Wechselwirkung mit strukturellen Bedingungen. Malik geht von einer »Kombination von taxischen und spontanen Ordnungsformen« (ebd.: 477) aus, wobei die taxischen, also die fremd- bzw. von außen organisierten Strukturen als Rahmenbedingungen für die Entfaltung spontaner Ordnung fungieren sollen. Der Komplexitätsgrad einer Organisation kann nur dadurch zunehmen, dass den Akteuren gewisse Spielräume eingeräumt werden, innerhalb derer sie ihre eigene Vorstellungen, ihr eigenes Wissen, ihre eigenen Verhaltensregeln usw. in den Dienst der Organisation stellen können. Hier zeigt sich eine Gemeinsamkeit mit Probst, der ebenfalls von einem Komplementaritätsverhältnis zwischen selbst- und fremdorganisierten Elementen im System ausgeht. Nur durch entsprechende Rahmenbedingungen auf organisatorisch-struktureller Ebene (s.o.) können sich eine Kultur der Flexibilität und im Konkreten dann evolutionäre Problemlösungsprozesse entwickeln und entfalten. Sowohl Probst als auch Malik lehnen den naiven Machbarkeitsglauben genauso ab wie den naiven Unmöglichkeitsglauben, der den Einfluss auf das System auf Störungen und Irritationen reduziert, weil die systeminternen Prozesse ohnehin nicht zu beeinflussen seien. »Organisieren wird zur Frage, ob durch Intervention [...] das System vermehrt selbstorganisierend wird, so dass es Wandel im System wie in der Umwelt besser integrieren und sich entwickeln und lernen kann.« (Probst 1987: 88)

12 Etablierte Muster, Modelle und Prozeduren gründen alle auf Versuch-Irrtum-Prozessen.

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Damit verändert sich freilich auch die Rolle des Managers in zentralen Aspekten. Management ist nicht mehr geplante Prozessgestaltung und damit letztlich immer auch -bestimmung, sondern Gestaltung und Lenkung ganzer Systeme in ihrer Umwelt, nicht mehr direktes, sondern indirektes Einwirken mittels Gestaltung von Rahmenbedingungen, mit dem Ziel der Steuerung und Überlebenssicherung des Systems (Malik 2006: 49). Der Manager wird auf z.T. paradoxe Art angerufen als anpassungs- und entwicklungsfähiger Intervenierer, Katalysator und Facilitator, Fach- und Sozialpromotor, als Analytiker und Synthetiker, Frühwarner und Initiator, Trainer und Moderator, als Wissensvermittler und Lernender, als substantieller und symbolischer Gestalter (Probst 1987: 120). Hier zeigt sich auch noch einmal, warum die praxisorientierte Handreichung an Manager keine konkret ausgearbeiteten Rezepte zur Verfügung stellen kann – die Systemperspektive auf Selbstorganisation unter Ungewissheit impliziert zwangsläufig ein Verbleiben im Abstrakten.13 2.2 Die ›Fortschrittsfähige Organisation‹ bei Werner Kirsch Ein weiterer, in den konzeptuellen Ausführungen konkreterer Ansatz als der von Probst und Malik ist das Konzept der ›Fortschrittsfähigen Organisation‹ von Werner Kirsch (1992; 1995; 2010). Im Folgenden werde ich die zentralen Elemente dieses Ansatzes in Bezug auf Selbstorganisation vorstellen und gleichzeitig die Unterschiede zu Probst und Malik verdeutlichen. Ein erster Unterschied zeigt sich bereits bei der Perspektive auf Komplexität. Während Probst und Malik Komplexität bzw. (Handlungs-/Entscheidungs-)Ungewissheit aus einem Zuviel an Information und der begrenzten kognitiven Verarbeitungsfähigkeit herleiten und spontane Ordnung (als Ergebnis eines steten Prozesses aus Versuch und Irrtum) als Lösung verstehen, setzt Kirsch grundlegender an. Für ihn ist die Unvereinbarkeit individueller Kontexte der eigentliche Grund für Komplexität und Ungewissheit. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Wissenskontexte entstehen verschiedene Interessen, Forderungen und damit auch Problemsichtweisen der Subjekte, die zum einen Interaktions- und Entscheidungsungewissheit erzeugen, zum an-

13 Vgl. hier auch die daran anknüpfende Kritik von Kieser (1994: 209f.).

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deren bzw. gerade deshalb aber auch eine zentrale Rolle im Umgang mit dieser Ungewissheit spielen. »Komplexe Probleme sind damit Multi-Kontext-Probleme« (Kirsch u.a. 2010: 68) und als solche auch nie völlig zu eliminieren. Auch hinsichtlich der theoretisch fokussierten Zielsetzung von Organisationen unterscheidet sich Kirsch von Probst und Malik. Kirsch betrachtet nicht die Behauptung im evolutionären Selektionsprozess als das eigentliche Ziel von Unternehmen, sondern deren Weiterentwicklung in Richtung einer sog. ›Fortschrittsfähigen Organisation‹, deren Ziel nicht allein das Überleben am Markt ist (wie etwa bei Probst und Malik), sondern höher greift: Fortschritt heißt bei Kirsch, »Befriedigung der Bedürfnisse und Interessen der vom Handeln der Organisation direkt oder indirekt Betroffenen zu erzielen« (ebd.: 78). Dieser Fortschritt wird als Kriterium herangezogen, ob der Umgang mit bzw. die Handhabung von Komplexität in einer Organisation erfolgreich ist oder nicht (Kirsch 1995: 94). Mit dieser Perspektive erhalten auch Subjekte einen anderen Stellenwert als bei Probst und Malik. Kirsch setzt zwar grundsätzlich ebenfalls an der Systemperspektive an, erweitert diese aber um die Wahrnehmungs- und Handlungsrationalität der einzelnen Subjekte (s.u.). Handlungen in Organisationen sind für Kirsch »letztlich auf einzelne Aktoren« (Kirsch 1992: 406) zurückzuführen. Subjekte sind Bedürfnis- und Interessenwesen, die bei der Frage des Umgangs mit Ungewissheit stärker Beachtung finden müssen als nur im Sinne partieller Elemente des übergeordneten Systems. Die Systemperspektive versteht Kirsch hierzu als komplementär. Sein spezifisches Verständnis von Selbstorganisation zeigt sich bei Kirsch vor allem in seinem Konzept der ›Entscheidungsarena‹ (1992: 273ff.; 1995: 93ff.), für die er an die Kommunikationstheorie von Habermas anknüpft. In dem Maße, in dem formelle Regelungen und fremdorganisierte Strukturen an Funktionalität und damit de facto an Bedeutung verlieren, wird kommunikatives, verständigungsorientiertes Handeln im Sinne einer wechselseitigen Abstimmung von Situationsdefinitionen als Grundlage für das Erreichen eigener und übergeordneter Ziele immer mehr zur eigentlichen Handlungsgrundlage in komplexen, dynamischen Organisationen. Hier zeigt sich bei Kirsch eine ›Aufweichung‹ der Habermas’schen analytischen Dichotomie zwischen erfolgsorientiertem, strategischem Handeln einerseits und verständigungsorientiertem, kommunikativem Handeln andererseits (Ha-

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bermas 1995: 126ff.) – ersteres ist ohne letzteres immer weniger möglich (Kirsch 1992: 91ff.). Kirsch baut daher auch weniger auf dem Konzept der spontanen Ordnung von Hayeks, das Ordnung im Wesentlichen durch gemeinsame (mehr oder weniger abstrakte) Regeln hergestellt sieht, auf, sondern versteht Ordnung, i.e. eine gemeinsame Handlungsgrundlage, als Ergebnis kommunikativer Abstimmung der betroffenen Akteure. Welche Rolle spielt hier nun Selbstorganisation? In den sog. Entscheidungsarenen findet Verständigung in der Form statt, dass eine Situation von den unmittelbar Betroffenen als Problem wahrgenommen und dieses anderen potenziell Betroffenen gegenüber kommuniziert wird, welche wiederum Andere über ihre Problemwahrnehmung und Lösungsvorschläge in Kenntnis setzen etc. – auf diese Weise entsteht ein sukzessiv anwachsendes Forum des Austausches, eine selbstorganisierte Entscheidungsarena (Kirsch u.a. 2010: 69f.). Diese Logik des ›Schneeballprinzips‹ soll gewährleisten, dass immer weitere Kreise möglicher Betroffener gezogen und deren Wahrnehmungs- und Wissenskontexte konsensrelevant gemacht werden. Eben weil oftmals eindeutige Situationsdefinitionen und Rezepte des Umgangs fehlen, bedarf es verschiedener Perspektiven mit unterschiedlichen Wissenshintergründen, um einen (aus organisatorischer Perspektive) zielorientierten Umgang mit dieser Form der multi-kontextualen Ungewissheit zu finden.14 Das Konzept des Problemlösungsvorgangs in Form eines verständigungsorientierten Austauschs entspricht in seinen Wirkungen den Forderungen Ashbys, ein System so variabel und komplex zu gestalten, wie es dem Grad an Komplexität in der Systemumwelt entspricht. Kirsch spricht in diesem Zusammenhang auch von echter Komplexitätsbejahung.15 Freilich erzeugt diese Strategie dadurch zunächst einmal Komplexität bzw. legt diese offen, zugleich wird sie aber auch als Methode der Reduktion von Ungewissheit verstanden. Durch selbstorganisierten Austausch, selbstorganisierte Verständigung

14 Vgl. hier auch das Konzept des Netzwerk-Managements von Wolf (1990). 15 Echte Komplexitätsbejahung zeichnet sich dadurch aus, dass die Definition problematischer Kontexte durch die Betroffenen selbst erfolgt. Unechte Komplexitätsbejahung hingegen erkennt Komplexität in einem bestimmten Kontext an und blendet andere mögliche Perspektiven aus. Im Gegensatz dazu meint Komplexitätsverneinung einen bewussten ›Missbrauch‹ oder auch eine unbewusste Leugnung von Komplexität (Kirsch u.a. 2010: 68).

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mittels Kommunikation und Perspektivenübernahme, besteht, nach Kirsch, eine reelle Chance, Komplexität handhabbar zu machen. Gelingende Selbstorganisation setzt also echte Komplexitätsbejahung voraus (und damit auch Produktion von Ungewissheit), wird aber gleichzeitig als funktionale Methode der Komplexitätsreduktion und des adäquaten Umgangs mit Ungewissheit betrachtet (vgl. dazu Knyphausen 1991; Kirsch 1995). Mit dem (zunächst noch »hypothetischen«, Kirsch u.a. 2010: 79) Modell der ›Fortschrittsfähigen Organisation‹ und ihrer Methode der ›verständigungsorientierten‹ Entscheidungsarena ist vor allem ein sog. »Evolutionäres Rationalitätsverständnis« (ebd.: 123) verbunden. Nicht allein kognitiv-instrumentelle Rationalität im Sinne einer zweckrationalen Orientierung am Überleben des Unternehmens (wie sie im technomorphen Organisationsmodell vorherrscht) ist geeignet, Lösungen im Umgang mit Ungewissheit zu entwickeln, vielmehr bedarf es hierzu zunehmend auch entwicklungs-/fortschrittsorientierter Rationalität, die sinnmachende, moralisch-ethische und ästhetische Aspekte mit einschließt. Kirsch interessiert sich hier konkret für die Bedeutung von moralisch-praktischem und ästhetisch-expressivem Wissen16, das als solches nicht mehr nur ›nebenher‹ existiert (bspw. in Form informeller Organisation) oder instrumentalisiert wird, sondern einen eigenen Stellenwert als »rationalisierter Erkenntnisprozess« (Kirsch 1995: 113f.) erhält, wo eindeutige, rational argumentierbare Antworten nicht mehr ohne weiteres möglich sind. Auf dieser Entwicklungsstufe wird gleichsam »das volle Rationalitätspotenzial entbunden« (ebd.: 115) und Rationalität als Kontinuum zwischen prinzipieller und okkasioneller Rationalität verstanden. Okkasionelle Rationalität als »Gelegenheitsvernunft […] je nach ›Logik der Lage‹« (Spinner, zit. nach Kirsch 1992: 390) umfasst damit das ›Andere‹ der

16 Moralische Aspekte werden immer dann kommunikativ-verständigungsrelevant, wenn keine gemeinsame kognitiv-rationale Basis vorhanden ist. Konsens und damit soziale Ordnung entstehen mittels eines »moralischpraktischen Diskurses« (Kirsch 1992: 376). Ästhetisch-expressive Rationalität äußert sich in Form von Intuition, Visionen und Innovationen, die als solche schlecht kommuniziert werden können und Verständigung daher über ein »Eindenken bzw. besser: Einfühlen in verschiedene (inkommensurable) Kontexte vorzustellen [ist]. Das Nachvollziehen (bzw. ›Machen‹) ästhetischer Erfahrungen steht hierbei im Mittelpunkt.« (ebd.: 382)

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Zweckrationalität und bildet den Rahmen eines evolutionären Rationalitätsverständnisses17: »Ein Aktor legt also eine ›evolutionäre Rationalität‹ an den Tag, wenn er die Einseitigkeit eines rein zweckrationalen Handelns in Frage zu stellen vermag, die Komplementarität von okkasioneller und prinzipieller Rationalität reflektiert und mit der ko-evolutionären Gelassenheit eines gemäßigten Voluntaristen zu handeln vermag.« (Ebd.: 484)

Hier zeigt sich der Anschluss eines solchen Rationalitätsverständnisses an die Synthese der Habermas’schen Handlungstypen bei Kirsch: Selbstorganisation basiert sowohl auf strategisch-zweckrationalem als auch auf dem gegenüber autonomem kommunikativem Handeln ›evolutionär-rationaler‹ Akteure. Voraussetzung ist eine Offenheit, Intuitivität und Komplexitätsbejahung bei den Subjekten, die fähig sein müssen, alle Quellen möglichen Wissens und verschiedener Perspektiven zu erkennen, reflexiv zu nutzen und selbstorganisierend handlungswirksam werden zu lassen. Auf Systemebene bedeutet ›evolutionäre Rationalität‹ damit immer schon die Ermöglichung von Selbstorganisation (Kirsch 1995: 121f.). Genau das ist es, was Kirsch mit ›evolutionärem Management‹ bezeichnet. Damit verbunden ist dann immer auch die Frage nach der Durchsetzungskraft und -macht des Managements: »In Unternehmungen stellt sich immer mehr das empirische Problem, wo und wie die Führung das Medium Autorisierungsrecht [Macht; Anm.d.Verf.] einsetzt. Man kann sich durchaus vorstellen, dass die Entwicklung in zunehmendem Maße in Richtung einer ›Arenaregelung‹ geht ...« (Kirsch 1992: 80)

... und damit kommunikatives Handeln auch und gerade im organisational-systemischen Kontext an Bedeutung gewinnt. Die Aufgabe von Managern ist es dann, einen entsprechenden Rahmen für die Umsetzung solcher ›Arenen‹ zu gewährleisten, denn nur unter entsprechend fremdorganisierten Strukturen kann sich diese Form der kommunikativen Selbstorganisation entfalten. Selbstorganisation wird bei Kirsch also weniger vom Manager aus gedacht, sondern von den konkret ›betroffenen‹

17 Evolutionäre Rationalität wird verstanden als im umfassenden Sinn ›rationaler‹ Umgang mit systemischer Evolution (Kirsch 1995: 146).

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Akteuren, von den Subjekten, die im Arbeits- und Organisationsalltag komplexitätsinduzierte Probleme zu bewältigen haben, was jedoch nur in vom Management zu gestaltenden Strukturen zu leisten ist.

3

Z WISCHENFAZIT

In diesem Abschnitt sollen noch einmal die wesentlichen Aspekte zusammengefasst und vor allem die Frage nach der Rolle der Subjekte vergleichend beantwortet werden. Aus der hier vorgestellten Perspektive erfolgt die Bewältigung von Komplexität und damit einhergehender Ungewissheit in erster Linie durch selbstorganisierte Ordnungsentstehung. Die Entwicklung sozialer Systeme wird als evolutionär und daher unvorhersehbar betrachtet. Systemaktivität ist autonom von Umwelteinflüssen. Ordnung entsteht im selbstreferenziellen System ›von selbst‹. Diese Grundannahmen verabschieden das traditionelle Ziel von Stabilität und rationaler Planung, führen aber auch nicht zu einem ohnmächtigen Ausgeliefertsein gegenüber der systemischen Eigenlogik. Steuerung findet vielmehr im Rahmen des Möglichen statt. Selbstorganisation wird als Teil jedes sozialen Systems respektiert, nicht aber sich selbst überlassen. Es gilt in einem ganzheitlichen Blick Kultur und Struktur zu gestalten, um Selbstorganisationsprozesse zu ermöglichen. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von klassischer Fremdorganisation und Selbstorganisation nicht als Entweder-oder, sondern vielmehr als komplementäres Wechselverhältnis. Nur innerhalb flexibler, offener Strukturen, die i.d.R. fremdorganisiert hergestellt werden, können sich autonome und autogene Selbstorganisation entfalten. Und zum Verhältnis von autonomer, also bewusst vollzogener Selbstorganisation und autogener Ordnungsentstehung ›hinter dem Rücken‹ der Akteure ist zu sagen, dass auch hier beide Prozesse sich wechselseitig bedingen bzw. stärken. Bewusste Abstimmung zwischen einzelnen Akteuren wird gestützt durch gemeinsam geteilte ›Regelsysteme‹ und selbstbestimmte Koordination im Rahmen abgeflachter Hierarchien fördert die Entstehung solcher Regeln und kultureller Muster. Fremdorganisation und autonome sowie autogene Selbstorganisation sind also stets zusammen zu denken: »Systemisches Management bedeutet […] ›nicht ein ÜberBord-Werfen, sondern eine Erweiterung traditioneller Denkweisen und Werthaltungen‹« (Capra u.a., zit. nach Dietrich 2001: 83). Es ist keine

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Frage von Vor- oder Nachteilen, sondern eine Frage des vor dem Hintergrund zunehmender Ungewissheit faktisch Möglichen. Gleichwohl findet sich ein deutlicher perspektivischer Fokus auf autogene Selbstorganisationsprozesse, welche zum einen Regeln als Basis autonomer Selbstorganisation entstehen lassen, zum anderen auf die Wirkung dieser evolutionär gewachsenen und unbewusst handlungswirksamen Regeln abstellen. Hier wird ein Paradigmenwechsel, das Neue, das Spannende gesehen. Führen wir uns nun die eingangs gestellte Frage nach der Rolle der konkreten Subjekte im Organisationsalltag erneut vor Augen, so zeigen sich in den hier vorgestellten Ansätzen mehr oder weniger blinde Flecken. Zunächst muss auch hier wieder nach der analytischen Differenzierung in autonome und autogene Selbstorganisation unterschieden werden. In Situationen autonomer, selbstbestimmter Abstimmung finden Subjekte als handelnde, kommunizierende, entscheidende Akteure Beachtung. Aber auch hier bleiben nicht Subjekte, sondern Entscheidungen und Kommunikationen die kleinsten Einheiten des Systems, die Ganzheitlichkeit der systemischen Perspektive bezieht sich nicht auf die Subjektebene. In autogenen Selbstorganisationsprozessen hingegen erhalten die Subjekte eine passive Rolle. Auch bei autogener Selbstorganisation werden Handeln und Interaktion als wichtig erachtet, weil dadurch überhaupt erst gemeinsame Regeln entstehen können (Malik 1993: 114). Was aber nicht näher betrachtet wird, ist das Handeln und Interagieren als akteurszentrierter Prozess auf der Mikroebene. An dieser Stelle enden die Theorien. Die Antwort auf die Frage, wie mit Ungewissheit umgegangen werden soll, hört bei den evolutionären Strukturen auf, die auf spontane Weise Selbstorganisation unter den Akteuren ermöglichen sollen. Autogene Selbstorganisation ist vorwiegend unbewusste Organisation im System. Nicht gefragt wird, wie genau die Akteure sich untereinander abstimmen, welches Wissen sie hierfür zur Verfügung haben, wie genau die ›Ausgestaltung‹ der geschaffenen Leerstellen im organisatorischen Ablauf erfolgt (vgl. die genannten ›Spielräume‹ bei Malik). Subjekte bleiben eine black box, sie sind nicht die entscheidenden Parameter autogener Ordnung. »Vor allem Probst betont [...], dass die Ordnungsentstehung, -aufrechterhaltung und -entwicklung des ›selbstreferentiellen Netzwerkes‹ Unternehmensorganisation nicht auf individuelle Eigenschaften und Handlungen reduziert

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werden kann. Das ›System als Ganzes‹ organisiert sich selbst, Dinge ›passieren dem System‹, es entsteht ›spontan‹ eine Ordnung im System, das System ›lernt‹,

›entwickelt sich‹, zeigt ›neue Eigenschaften‹.« (Göbel 1993: 393; [Herv.d.V.]) Es gibt zwar (schon bei von Hayek) eine Mikrofundierung der systemischen Ordnung (etwa in Form von Interpretationen und Handlungen von Subjekten), aber daneben bzw. darüber wirkt die unkalkulierbare Eigendynamik des systemischen Ganzen, das immer schon mehr ist als die Summe seiner Teile: »Selbstorganisierend können nur Ganzheiten sein.« (Probst 1992: 2256; [Herv.i.O.]) Am ehesten und doch recht deutlich findet sich die Akteursperspektive bei Kirsch. In seiner Version eines systemisch-verstehenden Ansatzes gibt es konkrete Ideen, wie Selbstorganisation im Organisationsalltag aussehen könnte. Das Konzept des kommunikativen Austauschs auf der Basis kognitiv-instrumentellen, moralisch-praktischen und ästhetisch-expressiven Wissens im Rahmen von Entscheidungsarenen stellt die einzelnen Subjekte stärker in den Fokus konkreter Selbstorganisation im Organisationsalltag. Zugleich wird damit auch die Abstimmung im Rahmen autonomer Selbstorganisation im Sinn von selbstbestimmter Organisation der von einem Problem Betroffenen durch Kirschs Adaption des Luhmann’schen Kommunikativen Handelns auf den Unternehmenskontext erweitert – nicht mehr oder zum Teil sogar am wenigsten rational-argumentativer Austausch ermöglicht den Umgang mit Ungewissheit, sondern der offen-empathische Austausch und das ›Sich-in-den-Anderen-Hineinversetzen‹, wozu jeweils unterschiedliche Wissens- und Verständigungsquellen herangezogen werden (vgl. okkasionelle Vernunft). Als Fazit bleibt festzuhalten, dass in den Ansätzen zur Selbstorganisation die Antwort auf die Frage, wie Systeme die Komplexität ihrer Umwelt bewältigen können, entweder in der bewusst-, weil ›subjektlosen‹ autogenen Struktur oder Organisation der Systeme gesucht wird – »Organisation ist das entscheidende Mittel, um mit explosiv zunehmender Komplexität fertig zu werden« (Malik 2006: 77) – oder in autonom-diskursiven Abstimmungsprozessen zwischen bewusst handelnden Subjekten. Im ersten Fall verhindert der mit der systemischen Perspektive einhergehende Abstraktionsgrad einen mikroperspektivischen Blick auf konkrete Subjekte, deren Wahrnehmen, Handeln, Interagieren und Abstimmen; die Frage nach konkreter Abstimmung einzelner Akteure bleibt abgesehen von der Annahme einer mehr oder weniger

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abstrakten Regelgeleitetheit in den meisten Ansätzen unbeantwortet (Malik, Probst). Im zweiten Fall kann zwar umso stärker die ›Mikrofundierung‹ sozialer Ordnung im Unternehmen berücksichtigt werden, je mehr handlungstheoretische Aspekte in die Ansätze einfließen. Die dazu vorliegenden Ansätze fokussieren aber wieder auf autonome Aushandlungsprozesse zwischen den betroffenen Akteuren und nehmen autogene, metadiskursive Kooperation nicht in den Blick (Kirsch). Im Folgenden sollen von dieser ›Diagnose‹ ausgehend weitere mögliche Perspektiven auf Selbstorganisation skizziert werden, die die Beschränkungen bzw. Einseitigkeiten der systemischen Ansätze aufgreifen und diese diesbezüglich ergänzen. Die vorgestellten Modelle werden zwar i.d.R. nicht als Selbstorganisationsansätze bezeichnet, bringen aber dennoch interessante Aspekte in die Diskussion mit ein. Denn die Frage nach sozialer Ordnung auch und gerade vor dem Hintergrund wachsender Ungewissheit fordert m.E. nicht nur den Blick auf systemische Eigendynamik – autogene Selbstorganisation –, sondern auch auf neue Formen des inter-/subjektiven Handelns autogener Prägung (im Unterschied zu autonom-diskursiver Abstimmung, die ja, wie erwähnt, durchaus auch die Subjekte in den Blick nimmt). Intersubjektive Abstimmung als zur systemischen äquivalente Perspektive auf Selbstorganisation ist nötig, um diese umfassend verstehen zu können. Es bedarf beider Perspektiven (System und Subjekt/Handeln), denn der Systembegriff bleibt zu abstrakt, um bspw. für die Praxis handlungsrelevant gemacht zu werden. Und es sind schließlich die handelnden Subjekte, die den Blick auf die nötigen Rahmenbedingungen eröffnen, indem deren praktisches Tun und Entscheiden reale Folgen haben und damit dem System Organisation ein ›Gesicht‹ geben.

4

P ERSPEKTIVEN

Im Folgenden gilt es zu zeigen, dass neben der autogenen, aber subjektlosen Selbstorganisation einerseits und der subjektorientierten, aber autonomen Selbstorganisation andererseits eine dritte Variante skizziert werden kann: die autogen subjektorientierte Kooperation.

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4.1 Das Modell des Organisierens Ein hier zu nennender Ansatz ist das interpretativ-interaktionistische Modell des Organisierens von Karl E. Weick (1985).18 Das ist deshalb in diesem Kontext interessant, da es gleichsam eine (weitere, vgl. Kirsch) Brücke zwischen makroperspektivischer System- und mikroperspektivischer Handlungstheorie bildet (Kasper 1991: 38). Weick vertritt, wie die Systemtheoretiker auch, einen prozesshaften Organisationsbegriff, bei dem jedoch die Akteure bzw. deren aufeinander bezogene (soziale) Handlungen von entscheidender Bedeutung sind: »Wann immer Organisationen handeln […], dann sind es Individuen, die handeln. Und jede Behauptung über das Handeln von Organisationen kann zerlegt werden in eine Reihe von Interakten zwischen Individuen.« (Weick 1985: 53)

Von besonderem Interesse müssen nach Weick also Interakte bzw. genauer doppelte Interakte sein: »Die Analyseeinheit beim Organisieren sind bedingte Reaktionsmuster, Muster, in denen Handlungen eines Akteurs A eine spezifische Reaktion in Akteur B hervorrufen (insoweit ist es ein Interakt), auf die Akteur A dann seinerseits reagiert (diese vollständige Sequenz ist ein doppelter Interakt).« (Ebd.: 130)

Jede Organisation wird damit als Ineinandergreifen intersubjektiver Verhaltens- und Handlungsweisen, als kontinuierlicher Ereignis- und Handlungsstrom verstanden. Dabei geht es Weick nicht primär um konkrete Individuen, sondern vielmehr um soziale Akteure, die durch die wechselseitige Reaktion aufeinander doppelte Interakte herstellen.19 Diese doppelten Interakte – oder auch Zyklen genannt – werden dann mittels sog. Montageregeln zu größeren Handlungsketten, sog. Prozessen zusammengesetzt, indem wechselseitig aufeinander be-

18 Vgl. zur Integration von Weick in den betriebswirtschaftlichen Selbstorganisationsdiskurs auch Kasper (1991) und Sanders/Kianty (2006). 19 Bsp. aus Sanders/Kianty (2006: 245): Akt von Person 1: Interpretation zurückgehender Absatzzahlen (»Der Markt ändert sich«) – Interakt von Person 2: Zustimmung oder Zurückweisung dieser Interpretation (z.B. durch den Hinweis auf saisonale Schwankungen) – Doppelter Interakt von Person 1: Beibehalten, Revision oder Aufgeben seiner Interpretation.

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zogene Handlungen sinnvoll miteinander verknüpft werden.20 Die doppelten Interakte oder Zyklen sind somit der Boden organisatorischer (Makro-)Prozesse und der Ausgangspunkt einer systemischen Perspektive auf soziale Ordnung in Organisationen. Doppelte Interakte fungieren dabei als nicht weiter reduzierbare Grundeinheiten einer jeden Organisation. Sie sind lose miteinander gekoppelt, d.h. Ereignisse/Störungen in einem Untersystem (Gruppe von doppelten Interakten) wirken sich nur begrenzt auf ein anderes aus. Und dadurch wird Flexibilität i.S. von Anpassungsfähigkeit und Entwicklungsfähigkeit einerseits sowie Stabilität andererseits gewährleistet (ebd.: 165).21 Wie bei den systemtheoretischen Selbstorganisationsansätzen haben somit auch bei Weick Regeln eine besondere Bedeutung bei der Gestaltung organisationaler Prozesse, und zwar als Basis sozialer Handlungen. Dabei sind es nun »menschliche Akteure« (ebd.: 167), die geeignete (Montage-)Regeln auswählen, also z.B. nach dem Erfolgs-, Verfügbarkeits- oder Relevanzprinzip (ebd.: 166) agieren. Diese Auswahl hängt wiederum von der Wahrnehmung von Mehrdeutigkeit und Ungewissheit durch die Akteure ab. Die Metaregel heißt hier: »Je größer das wahrgenommene Ausmaß an Mehrdeutigkeit des Inputs, desto geringer die Zahl der zum Aufbau des Prozesses angewandten Regeln.« (Ebd.: 167)

Das heißt, je ungewisser die Situation, desto weniger kann auf bekannte Regeln zurückgegriffen werden, Rezepte verlieren an Gültigkeit, weshalb »nur eine kleine Anzahl von eher allgemeinen Regeln zum Aufbau des Prozesses angewandt« wird (ebd.: 167). Je weniger Regeln

20 Es werden also weitere doppelten Interakte initiiert bzw. verknüpft: So könnte im obigen Beispiel eine dritte Person um ihr Erfahrungswissen gefragt werden und die zurückgehenden Absatzzahlen als wenig relevant einstufen oder ein Vergleich mit dem Vorjahr angestellt werden (um die These der saisonalen Schwankungen zu prüfen) (ebd.). 21 Indem Weick die Frage nach der Kopplung von (Unter-)Systemen stellt und darauf hinweist, dass »in Kreisen« (Weick 1985: 126) gedacht werden muss, verweist er auf die Brücke zu systemtheoretischen Selbstorganisationsansätzen. Organisationen bestehen für Weick aus verknüpften Handlungsmustern und damit aus Strukturen, die im Endeffekt über die individuellen und interaktiven Muster hinausgehen, gleichwohl in letzter Konsequenz aber auch immer wieder auf letztere zurückgeführt werden müssen.

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zur Verfügung stehen, desto mehr Zyklen sind nötig, um unklare Inputs in geordnetes Handeln zu übersetzen. Dadurch wird der Ereignisund Handlungsstrom komplexer. Hier verweist auch Weick auf das Gesetz der Varietät von Ashby (ebd.: 269): Eine Organisation muss flexibel genug sein (z.B. in der Kombination doppelter Interakte zu Zyklen), dass sie ein mindestens ebenso großes Maß an Vielfalt und Variabilität bereit stellen kann wie die Umweltvielfalt, auf die sie sich einstellen muss: »Wenn wenig Regeln zur Montage des Prozesses benutzt werden [oder werden können; Anm.d.V.], sind die in ihn eingebauten Zyklen verschiedenartiger und von größerer Mannigfaltigkeit« (ebd.: 271) – und damit die Voraussetzung für einen angemessenen Umgang mit (umweltbedingter) Ungewissheit erfüllt. Diese Mannigfaltigkeit wird durch Gestaltung innerhalb der Organisation gewährleistet. Hier wird der auch bei Weick ausbuchstabierte evolutionäre Ansatz zu Organisation deutlich, der jedoch eine stärker handlungstheoretische Fundierung hat. Gestaltung als ›aktivere‹ Fassung von Variation meint die Entwicklung neuer Denk-, Sicht- und Handlungsweisen durch konkrete Akteure vor dem Hintergrund sich verändernder Umweltereignisse. Neue Handlungsbedingungen bedürfen neuer Handlungsweisen (im weiteren Wortsinn).22 Handlungen muss dann aber noch (für andere, also sozialer) Sinn zugeschrieben werden, Handeln geht damit gleichsam dem Denken voraus.23 Diese akteursbezogenen Gestaltungen werden auf ihre Sinnhaftigkeit in Bezug auf die Bewältigung von Umweltkomplexität eingeordnet, indem der ihnen zugeschriebene Sinn in Relation zu bereits existierenden Interpretationsschemata (Ergebnis früherer Selektion und Retention) gesetzt und dahingehend geprüft wird, ob er eine Interpretation des bisher Ungewissen ermöglicht und damit Mehrdeutigkeit reduziert. Geeignete Interpretations- und Handlungsschemata werden selektiert. »Selektion bedeutet die Auferlegung verschiedenartiger Strukturen auf

22 »Die Tätigkeit des Gestaltens bietet eine Parallele zur Variation, weil sie ungewohnte Arrangements produziert, die häufig anders sind als alles, was das Individuum oder die Organisation vorher gesehen haben.« (Weick 1985: 190) 23 Weick verweist bzgl. der nachgängigen Zuschreibung eines sozialen Sinns jeder Handlung auf A. Schütz und G.H. Mead (Weick 1985: 277f.): Bedeutung und Sinn einer Handlung »setz[en] […] ein abgelaufenes, […] ein vergangenes Erlebnis voraus.«

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gestaltete Vorlagen mehrdeutiger Art in einem Versuch, die Mehrdeutigkeit zu reduzieren« (ebd.: 191) – oder kurz: »Selektion ist das SinnMachen, das Ordnen des Tuns.« (Kasper 1991: 37) Weick spricht auch vom sog. ›Sensemaking‹ (vgl. Weick 1995) und meint damit den Prozess der interaktiven Sinnsetzung bzw. der gemeinsamen Sinnkonstruktion. Die selektierten Gestaltungen werden dann auf verschiedene Art und Weise gespeichert (Retention) – als Erinnerungen, Verschriftlichungen, Tradierung in unterschiedlichster Form; sie bleiben z.B. als Montageregeln in der Organisation erhalten. Ungewissheit wird damit zur Auslöserin innovativer Handlungen und kreativer Sinnsetzungen in Organisationen und gleichzeitig wird Ungewissheit auf diese Weise innovativ und kreativ auch bewältigt. Im Vordergrund des Modells steht die intersubjektive Ebene des gemeinsamen Gestaltens und Sinnsetzens, dessen (selektierte) Ergebnisse Eingang in die sog. generisch-subjektive (z.B. Skripte und Regeln der einzelnen Akteure) und die extrasubjektive Ebene von Organisationen (z.B. Unternehmenskultur, Leitbilder, Richtlinien) Eingang findet.24 Mit Weick erfolgt damit eine Ergänzung der systemischen Perspektive auf Selbstorganisation insofern, als dass abstrakte Prozesse durch konkrete Akteure unterfüttert werden. Mit dem handlungstheoretischen Blick auf organisationelle Prozesse bekommen die intersubjektiven und damit ganz konkret-praktischen Abstimmungs- und Koordinationsprozesse in Unternehmen (wieder) mehr Bedeutung. Zu fragen wäre also jenseits der spontanen Entstehung von Regeln (autogene Selbstorganisation) nach deren aktiver Herstellung einerseits und Anwendung durch die Akteure selbst andererseits (akteursvermittelte Selbstorganisation). Ich verwende hier absichtlich nicht den Begriff der autonomen Selbstorganisation (obwohl der nach dem bisher dargelegten Verständnis im Sinne Göbels passender wäre als der Begriff der autogenen Selbstorganisation), denn Weick geht es primär gerade nicht um rein diskursive, bewusst-zielgerichtete und schon gar nicht rational-planerische Abstimmung der Akteure, sondern um die Informationsverarbeitung angesichts umweltinduzierter Ungewissheit. Es geht um gestalterisches Tun sowie die Wahrnehmung, Deutung und Sinnzuschreibung durch Individuen (im Nachgang ihres Tuns) und im Weiteren um deren (aktiv-gestalterische) Koordination vor dem Hintergrund dieser Deutungsmuster. Es geht um die Aushandlung einer

24 Zu den drei Ebenen von Organisationen vgl. Weick 1995: 70.

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gemeinsamen Sicht auf das Geschehen, um eine Reduktion von Ungewissheit in Form einer Selbstvergewisserung durch »konsensuelle Validierung« (Kasper 1991: 35). Im Zentrum stehen also die evolutionäre Entwicklung (nicht ›passive‹ Entstehung!) von Interpretations- und Handlungsschemata durch die Akteure und damit aber eben auch nicht eigendynamisch-systemische Prozesse autogener Selbstorganisation. 4.2 Das Modell der erfahrungsgeleitetsubjektivierenden Kooperation Zum Abschluss werde ich noch einen weiteren, in eine ähnliche Richtung weisenden Ansatz skizzieren, der ebenfalls nicht in die Reihe der Selbstorganisationsansätze gestellt wird, aber dennoch in der Diskussion um selbstorganisierte Herstellung sozialer Ordnung unter Ungewissheit einen wertvollen Beitrag leisten kann: der Ansatz der erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Kooperation von Böhle/Bolte (2002; vgl. auch Bolte/Porschen 2006; Böhle u.a. 2008), der sich vor allem auf Ergebnisse aus der Praxisforschung bezieht.25 Wie bereits die Ansätze von Weick und schon von Kirsch vertritt auch dieser die handlungstheoretisch-subjektorientierte Perspektive. Erinnert sei hier kurz an Kirschs Konzept der Entscheidungsarena: Die Idee der Entscheidungsarena sieht vor, dass sich diejenigen, die sich als von einem von ihnen selbst als solches wahrgenommenen Problem unmittelbar betroffenen definieren, selbstorganisiert koordinieren, indem sie die unterschiedlichen Kontexte, Wissenshorizonte und Sichtweisen miteinander in Verbindung bringen und so gemeinsam Ungewissheit in relative Gewissheit transformieren, indem eine gemeinsame Definition der Situation (z.B. als problematisch) und v.a. gemeinsam eine Lösung für diese Situation gefunden wird. Weick legt seinen Schwerpunkt auf doppelte Interakte auf der Basis subjektiver Informationsverarbeitung und Interpretationen, die in wechselseitige Abstimmungsprozesse eingehen. Auch die Forschergruppe um Böhle stellt die Subjekte ins Zentrum ihres Ansatzes. Gehen wir von der Ausgangsheuristik Göbels aus – der Unterscheidung in (primär) autonome und (primär) autogene Selbstorganisa-

25 Die Ergebnisse stammen aus den Studien KOEF, OrgIn und den Arbeiten des SFB 536 (vgl. genauer Böhle/Bolte 2002: 15ff.).

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tion26 – so bietet sich hier eher die autonome Selbstorganisation als Perspektive an, denn wiederum werden Subjekte als ›organisierende‹ Akteure und deren bewusstes Handeln in den Blick genommen und nicht systemische Eigendynamik. Jedoch muss hier nun genauer differenziert werden. Bei autonomer Selbstorganisation als Form der Selbstkoordination können nach Böhle u.a. (2008: 98ff.) zwei Arten unterschieden werden: (1) Die bislang in diesem Aufsatz vertretene (vgl. Unterscheidung bei Göbel) und mit autonomer Selbstorganisation bezeichnete »diskursive Koordinierung«, die eher auf formal-kommunikativem Handeln beruht, und (2) die situative und damit in gewissem Sinne auch ›spontane‹ Koordination auf der Basis erfahrungsgeleitetsubjektivierenden Handelns. Ersteres ist immer schon fremdorganisiert vorbereitet und zum Beispiel in Form von regelmäßigen Meetings institutionalisiert, um Ungewissheit durch formalisiertes, planerisches Abstimmen von in ihrem jeweiligen Bereich als solche angesehenen Experten zu reduzieren – diese Form der formalen Abstimmung »findet abgetrennt vom eigentlichen Arbeitshandeln statt« (ebd.: 100). Ein Vorgehen nach dem zweiten Muster der problemorientiert-situativen Abstimmung kann dagegen nur informell sein. Hier findet Bewältigung von Ungewissheit genau zu dem Zeitpunkt, an dem das Problem akut ist, und genau mit dem Personenkreis, der von diesem Problem betroffen ist, statt (vgl. hier die Nähe zu Kirsch). Die Bewältigung von Ungewissheit und die (Wieder-)Herstellung von Ordnung müssen entlang den Erfordernissen der aktuellen Situation selbstständig (selbstorganisiert) durch die betroffenen Akteure (nicht die Manager) stattfinden. Damit wird jeder Rahmen von terminlicher oder allgemein struktureller Planung gesprengt, vielmehr bedarf es zunächst oftmals einer explorativen Eruierung dessen, was nun eigentlich das Problem ist und wer wie davon betroffen und demnach in die Kooperation einzubeziehen ist. Auch die Grundlage von Abstimmung ist in diesem Modus eine andere: Nicht mehr von Einzelnen erarbeitetes und zusammengetragenes Faktenwissen, das dann mit Abstand zum eigentlichen Problem in formalisiertem Rahmen vorgetragen und (mehr oder weniger abstrakt) diskutiert wird, sondern gemeinsam geteiltes Erfahrungswissen, eine gemeinsame Sprache und wechselseitiges empathisches In-den-

26 Hier sei noch einmal betont: Beide Facetten von Selbstorganisation sind wichtig, hier geht es nur um die Bezeichnung der Brille, die je nach theoretischer Perspektive auf Selbstorganisation aufgesetzt wird.

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Anderen-Hineinversetzen sind Prämissen für eine gelingende Koordination ›vor Ort‹ (ebd.: 102ff.). Es geht um den Austausch und das InBezug-Setzen der unterschiedlichen subjektiven Sichtweisen und Interpretationsschemata einerseits und die praktische Interaktion miteinander und mit problem- bzw. lösungsrelevanten Dingen andererseits – eben erfahrungsgeleitet-subjektivierende und im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandsbezogene Koordination. Damit ist neben autogen-systemischer Selbstorganisation ›ohne Subjekte‹ einerseits und autonom-diskursiver Selbstorganisation bewusst verhandelnder Akteure andererseits eine dritte Form der Selbstorganisation konturiert: Diese Form der Abstimmung stellt neben diskursiver Koordination auf der Basis rationalen Handelns das eigene subjektivierende Arbeitshandeln ins Zentrum und berücksichtigt durch eine empathische Beziehung27 zum Anderen gleichzeitig auch deren subjektivierendes Arbeitshandeln als potenzielle Erkenntnisquelle – »die Spaltung der Person in rationales und nicht-rationales, objektivierendes und subjektivierendes Handeln entfällt« (Böhle/Bolte 2002: 180). Was heißt das nun genau? Das Konzept des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns ist nicht automatisch und nur auf kooperatives Arbeitshandeln gerichtet (ebd.: 155), spielt aber auch hier eine große Rolle. Gemeint ist damit die in unterschiedlicher Form konkret an das Subjekt gebundene Form des Austauschs, in dem subjektive Elemente wie ein Gespür für die Situation/den Gegenstand, komplexe sinnliche Wahrnehmung als Erkenntnisquelle, bildhaft assoziatives Denken als Ergänzung zu rationaler Reflexion sowie eine, wie oben benannt, gegenstandsbezogene, explorative Interaktion mit und in der Umwelt (des Subjekts) zur Anwendung kommen.28 Ein wesentlicher Punkt ist das damit verbundene nicht-objektivierbare Erfahrungswissen der Subjekte. Im Unterschied zum Regelwissen, das in den originären Selbstorganisationsansätzen eine große Rolle spielt (s.o.), geht es hier um einerseits praktisches Erfahrungswissen und andererseits dadurch schon im-

27 Damit eine in diesem Sinne persönliche Beziehung entstehen kann, sind dezentrale Organisationsstrukturen und direkter, offener Austausch förderlich. Es zeigt sich also auch hier der Zusammenhang von gestaltender Fremd- und praktischer Selbstorganisation. 28 Vgl. hierzu genauer u.a. Böhle 2009.

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mer in hohem Maße subjektgebundenes Wissen, was so auf kollektiv geteiltes (mehr oder weniger) abstraktes Regelwissen nicht zutrifft.29 An der Stelle lässt sich erneut die Brücke zu Kirschs Selbstorganisationsansatz schlagen: Dieser hat bereits mit seinem Begriff der ›evolutionären Rationalität‹ ein Nebeneinander und Sich-Ergänzen von unterschiedlichsten Wissensquellen als wertvoll und notwendig propagiert, die sich aus objektiv-rationaler Reflexion genauso speisen wie aus subjektiv-assoziativem Denken (vgl. ästhetisch-expressive Rationalität) oder einem praktischen Gespür für die Situation. Ein Verstehen auf dieser komplexen Basis setzt weiterhin ein empathisches Sich-Einlassen auf Andere voraus. Dies alles sind subjektbezogene Qualitäten des kooperativen, ›ordnungsstiftenden‹ Austauschs unter Bedingungen von Entscheidungs- und Handlungsungewissheit, die in der systemischen Perspektive nicht aufgehen und deshalb in ihrer Bedeutung gesondert Beachtung verdienen. Als Fazit bleibt festzuhalten: Mit dem Modell der erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Kooperation ist somit – neben diskursiver Abstimmung sich verständigender Akteure einerseits (i.e. das bisherige Verständnis autonomer Selbstorganisation) und ›bewusst-/subjektlosen‹ systemischen Eigenlogiken und -prozessen andererseits (i.e. das bisherige Verständnis autogener Selbstorganisation) – ein dritter Weg der Selbstorganisation skizziert, nämlich subjektorientiert-autogene Organisation im Sinn von prozessualer Abstimmung intentionaler Akteure im Kontext von erfahrungsgeleitetem und damit hoch subjektivem Handeln jenseits rational-diskursiver Koordination.

5

S CHLUSS

Ziel dieses Aufsatzes war es, ausgehend von der Frage nach der Herstellung bzw. Aufrechterhaltung sozialer Ordnung in Organisationen angesichts zunehmender Ungewissheit die allgemeine Bedeutung von

29 Vgl. hier auch die ›Evolutionsstufe‹ der Retention: Hier geht es um ein Bewahren positiv-selektierten Wissens, das als solches dem System als ganzem zur Verfügung stehen muss und nicht an einzelne Subjekte gebunden bleiben darf – Wissen muss also in diesem Verständnis immer schon erst objektiviert werden, um dann wieder subjektiviert zu werden (im Sinne sozialisierten Wissens).

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Selbstorganisation im Rahmen von organisationellen Ordnungsprozessen einerseits und deren Berücksichtigung in Organisationstheorien andererseits zu skizzieren. Festzuhalten ist: Aus theoretischer und praktischer Perspektive wird mit dem Phänomen der Selbstorganisation ein weiterer Schritt hin zur Verabschiedung oder zumindest starken Relativierung eines einfach modernen Verständnisses von ordnungstiftenden Organisationsprozessen, wie es am deutlichsten im tayloristischen Modell zutage tritt, unternommen. Selbstorganisation erscheint heute als unverzichtbare Ressource: »In einer komplexen, sich ständig in nicht vorhersehbarer Weise ändernden Umwelt sind laufend Adjustierungen und Anpassungen einer so großen Zahl von Faktoren erforderlich, um die Lebensfähigkeit und die Effizienz einer Unternehmung sicherzustellen, dass diese Leistung nur von polyzentrischen, selbstorganisierenden Systemformen erbracht werden kann.« (Malik/Probst 1981: 128)

Ein Fundament der hier verhandelten Ansätze ist die systemtheoretische Perspektive auf Organisationen und die dort ablaufenden Prozesse. Selbstreferenzialität und Autonomie als wichtigste systemische Eigenschaften lenken zum einen den Blick von der Umwelt ins System selbst (dortige Informationsverarbeitung, Entscheidungsprozesse etc.) und verweisen zum anderen auf eine unhintergehbare Eigendynamik systeminterner Kommunikationsprozesse. Aber das bedeutet kein hilfloses Ausgesetzt-Sein der Akteure, v.a. Managern kommt hingegen verstärkt die Aufgabe zu, entsprechend günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, dass diese ›Dynamik‹ positiv kanalisiert werden kann – in Form gelingender autonomer und autogener Selbstorganisation. Fragen wir nach der konkreten Bedeutung der Akteure, der im System handelnden Individuen, so zeigen sich mit dieser Perspektive auf Selbstorganisation blinde Flecken. Zwar impliziert die Betrachtung von Selbstorganisationsprozessen in Unternehmen immer schon auch die dortigen informellen Strukturen. Deshalb soll die Betrachtung des Informellen, das in den klassischen Organisationstheorien als Nebenher und Zusätzliches eher wenig Beachtung gefunden hat, in allen Selbstorganisationsansätzen aus dem theoretischen und praktischen Schatten herausgestellt werden, um dessen qualitative Bedeutung und Notwendigkeit für das Funktionieren von Organisationen – auch und gerade vor dem Hintergrund wachsender Unge-

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wissheit – klar zu machen.30 Bezogen auf die konkrete Ausgestaltung dieses ›Informellen‹ bleiben die systemtheoretischen Ansätze aber zwangsläufig im Abstrakten bzw. auf die zu gestaltenden Rahmenbedingungen beschränkt und blicken mit wenigen Ausnahmen nicht auf den situativpraktischen Umgang mit Ungewissheit im organisationalen Alltag. Was durch die handlungstheoretische Perspektive als Gewinn nun hinzukommt, ist der genauere Blick auf die konkrete Abstimmung der Angestellten/Arbeitenden, die in ihrem Arbeitsalltag von Ungewissheit mindestens genauso betroffen sind wie Manager auf einer höheren Ebene. Handlungstheoretisch orientierte Ansätze legen den Fokus verstärkt auf die Subjekte und deren kooperatives Arbeitshandeln. Die Frage, die dann gestellt und beantwortet werden kann, lautet: Wie entstehen soziale Ordnung und Abstimmung ›im Kleinen‹? Ein Bereich, der damit erhellt wird, sind die von Malik nur benannten ›Spielräume‹ der Akteure, deren konkrete Nutzung und Gestaltung nun in den Blick genommen werden können. Aus diesem Grund erscheint eine Integration der subjekt-/handlungsorientierten Ansätze in den Selbstorganisationsdiskurs als durchaus sinnvoll. Dabei soll es nicht um ein ›Entweder-oder‹, um ein ›Besser-oder-schlechter‹ der Perspektiven gehen, sondern um ein möglichst umfassendes In-den-Blick-Nehmen des Phänomens Selbstorganisation. Diese findet auf unterschiedlichen Ebenen statt (Manager, Arbeiter) und muss dort auf unterschiedliche Art und Weise gestaltet werden (was wird als legitimes Wissen einbezogen, welcher Abstimmungsmodus wird gewählt, wer wird in den Bewältigungsprozess wie involviert etc.). Hinzu kommen die in den verschiedenen Ansätzen zum Teil variierenden Kontextuierungen von Ungewissheit: Mal geht es um langfristige, perspektivische Ungewissheit bzgl. Entscheidung, Planung und Steuerung (strukturelle Einbettung von Ungewissheit), mal um situative Ungewissheit im täglichen Arbeitshandeln (handlungsorientiertes Verständnis von Ungewissheit) – beides sieht sich neuen Herausforderungen gegenüber und beides spielt in Organisationen heute eine umso wichtigere Rolle. Gerade deshalb soll den unterschiedlichen Ebenen und Perspektiven auch theoretisch Rechnung getragen werden.

30 »Selbstorganisation wurde lange weitgehend mit informeller, paralleler oder sekundärer Organisation abgetan und höchstens als zu duldende und/ oder ignorierende, meist aber als störende Erscheinung aufgefasst.« (Probst 1987: 85)

B EWÄLTIGUNG

VON

U NGEWISSHEIT

DURCH

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VON

U NGEWISSHEIT

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S ELBSTORGANISATION

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Ansätze zur Bewältigung und Nutzung von Ungewissheit in unterschiedlichen Praxisbereichen

Projektorganisation und Projektmanagement unter den Bedingungen zunehmender Komplexität S IBYLLE P ETERS

E INLEITUNG Projekte und Projektstrukturen sind zu einem zentralen Merkmal wissensbasierter Ökonomie und moderner Gesellschaften geworden. Arbeit und Leben projektförmig zu organisieren ist unter der Hand zum Paradigma des modernen Lebens geworden, da sie in besonderen Formen Arbeit und Organisation »neu« verbinden. Gesprochen wird bereits von einer projektidentifizierten Gesellschaft bzw.: Nimmt der Trend zu einer projektorientierten Gesellschaft zu oder ist die Gesellschaft gar auf dem Wege zur Projektgesellschaft? (vgl. Ladwig 2011; Boltanski/Chiapello 2003). Projekte können infolge der temporären Schaffung sofort effizient arbeiten und nach Sicherung von Ergebnissen ebenso schnell wieder abberufen oder aufgelöst werden. Sie stehen seit ihrer Einführung im Militär in den USA seit den 1950er Jahren in dem Ruf, infolge dieser Kernfähigkeiten dynamisch und innovativ zu sein. Diese Entwicklungen werden mit Begriffen wie Projektorganisation und insbesondere Projektmanagement verbunden. In ihrer Zielsetzung heben sie ein Grundprinzip des Organisierens auf, dass gegebene Routinen des Handelns, in denen Handlungsanweisungen geronnen sind, eine erfolgversprechende Organisationspraxis widerspiegeln. Neue Sichtweisen auf Organisationsoptionen sind an eine Veränderungsbereitschaft gekoppelt und diese Optionen bietet die Projektarbeit.

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Im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen neuere Entwicklungen in Formen und Modellen zu Projektarbeit, Projektorganisation und -management. Es geht um veränderte Arbeits- und Organisationsformen sowie die Dynamisierung von Team- und Führungsarbeit. Das berührt Schnittstellen von Struktur- und Handlungsebene infolge der Zunahme wissensabhängiger Tätigkeiten. Der dynamische Charakter von Projekten eröffnet nunmehr akteurssteuernde Gestaltungsoptionen. Folglich werden neben formalen Steuerungsaspekten in Projekten professionelle und soziale Handlungen, hinsichtlich der Koordination von Arbeit und der Organisation, wichtiger. Es ist die Suche nach entsprechenden Wegen und Formen, die steigenden Wissensanteile von in Projekten arbeitenden Akteuren für Innovationen generieren zu können. Dieser Präzisierung gilt dieser Beitrag.

1

P ROJEKTARBEIT , P ROJEKTORGANISATION P ROJEKTMANAGEMENT

UND

Projekte und Projektorganisationsformen sind als Phänomen der Moderne mit steigender Tendenz in immer mehr Tätigkeitsfeldern von Produktions-, Dienstleistungs- und Verwaltungsprozessen anzutreffen (vgl. Nausner 2006; Hagen 2009; Bröckling 2007). Der Gedanke, Tätigkeiten projektförmig zu organisieren, ist bereits seit mehr als 6000 Jahren Teil der Menschheitsgeschichte – projektähnliche Vorhaben waren durch die Strukturierung recht komplexer Aufgaben immer auch ein Schlüsselinstrument zur Entwicklung von Gesellschaften. Die entstehende Wissensgesellschaft und die Erfordernisse der Globalisierung wie Schnelligkeit, Flexibilität, Kostendruck und Innovationsfähigkeit, führen dazu, dass vor allem Wissensarbeit zunehmend in Projekten bearbeitet wird, um in Projektstrukturen Komplexität besser bewältigen zu können. Die Organisation der Arbeit durch Verteilung der Arbeit in Projekten wird zunehmen und damit entwickelt sich die Projektorganisation zu einer Leitmetapher und einem Modell für Organisationsentwürfe der Spätmoderne. Projekte haben eine besondere Stellung in der modernen Organisationslandschaft, sie sind der Ort, wo Kreativität und Innovationen erwartet, Veränderungsprozesse initiiert und Routinen weitgehend durch Neuorganisation aufgelöst werden. Projektarbeit ist prägend für die Gesellschaft und sie ist der Motor für Teamarbeit und -entwicklung mit dem Credo, zwischen Stabilität

P ROJEKTORGANISATION

UND

PROJEKTMANAGEMENT

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und Flexibilität den Umgang mit Ungewissheit zu bewältigen. Sie ist ein Kristallisationsmoment für Veränderungen von Organisationen mit den wesentlichen Merkmalen wie Einmaligkeit, Einzigartigkeit, temporäres Erscheinen, Innovationsfähigkeit, etc. Projekte sind zunehmend die Basis für Organisationen. Die Projektorganisation ist gekennzeichnet durch die in der Regel große Bedeutung, den großen Umfang, die große Unsicherheit, den hohen Zeitdruck, die lange Dauer und die hohe Komplexität des einzelnen Projektes. Projektorganisation stellt folglich den Rahmen für neue Arbeits- und Organisationsformen. Zu den Elementen von Projektorganisation gehören Projektkultur, Qualifizierung der Projektleiter, Projektmanagement-Tools, ProjektStrategie, Verhältnis von Prozessorganisation und die eigentliche Organisation (vgl. Schulte-Zurhausen 2002; Bea u.a. 2002; Becker 2005). Jedoch in ihrer Sonderstellung als temporäre Organisationsform besteht die Herausforderung im Händeln von Konfigurationsoptionen in und zwischen Projekten sowie zwischen Projekten und der Organisation. Gründe für die Zunahme von Projektformen sind externer und interner Natur, sie liegen bspw. in der Zunahme von Komplexität von Produkten und Dienstleistungen, dem Marktdruck und kürzeren Innovationszyklen. Es geht um die bessere Bewältigung komplexer Frageund Aufgabenstellungen, Vernetzung der Kompetenzen und des unterschiedlichen Know-how aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen, Zunahme der Innovationsfähigkeit etc. (vgl. Bergmann/Garrecht 2008). D.h. Projekte werden dort neu generiert und konfiguriert, wo eine auf Kontinuität und auf standardisierte Routineprozesse ausgerichtete Linienorganisation neueren Anforderungen nicht mehr genügen kann. 1.1 Klassisches Projektmanagement Dem »klassischen« Projektmanagement ging es zurückblickend im Kern darum, in Projekten auf eine neue Weise eine Erweiterung von Handlungsoptionen außerhalb gegebener Organisationsroutinen zu erzeugen, jedoch Weisungs- und Entscheidungsbefugnisse der Organisation unverändert aufrechtzuerhalten. Kennzeichnend ist, dass ursprünglich in diesen zusätzlichen Organisationsformen, abseits von Organisationsroutinen, neue Elemente für innovative, temporäre Vorhaben angestrebt wurden. Darüber haben sich viele erfolgreiche Mo-

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delle von Projektmanagement1 etablieren können. Bedeutsam ist, dass z.B. Arbeitsteilung und Zugehörigkeit in den Strukturen der Organisation verankert bleiben. Selbst die Systematik des Managements mit ihren fünf grundlegenden Funktionen ist auf die Projektarbeit übertragen worden: • Planung: Prognose der Zukunft und die Vorbereitung auf diese mit

Hilfe eines Wirtschaftsplans • Organisation als Vorbereitung des Handelns betrifft die formale

Struktur, die die Strukturen für die arbeitsteilige Bewältigung der Gesamtaufgaben erforderlich macht • Führung: Ausübung im Sinne von Befehlsgewalt, die als notwendig angesehen wird, um die Interessen der in den Projekten arbeitenden Mitarbeiter auf eine einheitliche Zielsetzung hin auszurichten • Steuerung: Koordination als Handeln mit dem Ziel, Tätigkeiten und Ressourcen örtlich, zeitlich und sachlich in Einklang zu bringen • Kontrolle: als Registrierung und Rückkopplung des erzielten Handlungserfolgs an die vorausgegangene Planung (Steinmann u.a. 2005: 8f.). Das klassische Projektmanagement geht von einer vollständigen Erfassbarkeit und Prognostizierbarkeit aus, d.h. auf dieser Prämisse lassen sich Entwicklungen antizipieren, Arbeitsabläufe entsprechend planen und störungsfrei realisieren (ebd.: 55), also jenseits der sonst geltenden Organisationsroutine. Die Projektorganisation sowie das Projektmanagement sind dabei eingebettet in Projektordnungen mit spezifischen Ziel- und Zeitdimensionen sowie Abgrenzungen gegenüber anderen Vorhaben zur Herstellung von Neuem. Sie zeichnen sich durch eine Festlegung von Mittel- und Ressourceneinsatz in planbaren, kontrollierbaren und steuerbaren Projektprozessen aus (vgl. Bröckling 2007; Nausner 2006). Projekte bleiben in Weisungs- und Entscheidungsbefugnisse der Organisation eingebunden und die Standardisierung der Projektstrukturen sichert die Einbindung in Ablaufprozesse der Organisation (vgl. Bergmann/Garrecht 2008; Madauss 2000). Doch genau daraus ergibt sich ein Spannungsfeld für die Mitarbeiter, zwischen Routine und Kreativität arbeiten zu sollen. Von ihnen wird erwartet, zur Effizienz

1

Vgl. Matrix-, Stabs- und Multiprojektmanagement, Steinmann u.a. 2005.

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UND

PROJEKTMANAGEMENT

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in den Projekten durch die Einhaltung von Standardisierung beizutragen, da sie nur temporär den jeweiligen Projektformen zugeordnet sind, die Projektorganisation jedoch dem Credo der Innovationsfähigkeit zu folgen habe. Organisationen erwarten bei allen Ausdifferenzierungen von Modellen innerhalb von Organisations- und Managementformen die Fähigkeit, Neues/Innovatives zu generieren. Innerhalb dieser Strukturen können Planabweichungen und Misserfolge nur als Defizite der Planung erachtet werden, die es zu eliminieren gilt. Die Einmaligkeit von Projekten erlaubt es der Organisation, ihre Routinen unabhängig von Projekten aufrecht zu erhalten und gleichermaßen in Projekten Neues zu generieren. Die Beherrschung von Routinen ist so zugleich die Voraussetzung für die Projektarbeit, um auch überlegen zu können, was eventuell anders als bisher gemacht werden könnte (vgl. Baecker 2003). Dieses wird im Projektmanagement ausgegliedert und die Projektteams sollen darin eine veränderte effiziente Aufgabenbearbeitung sicherstellen, dort auftretende Konflikte und Probleme von Beherrschung und Risiko gezielt in geregelte, technisch orientierte Bahnen lenken und darüber Pfade für neue Ideen schaffen (vgl. Bröckling 2007; Madauss 2000; Bea u.a. 2008). Somit sind innerhalb der Entwicklung von Projektmanagement Projekte ständig auf der Suche nach neuen Arbeits- und Organisationsformen sowie veränderten Regelungen von Management- und Führungssystemen, die Innovationsoptionen bieten können. Dadurch gerät das Anliegen von Projektmanagement und seine ursprüngliche Innovationsannahme, dass dieses sich über IT-Strukturen generiere, an seine Grenzen und ein neuer Fokus von Interessen auf der Ebene von Handlungsformen und ihrer Steuerbarkeit gewinnt Bedeutung. Der Fokus von Projektarbeit verschiebt sich und öffnet sich dem ergänzenden Handeln. Darin kann dem sozialen Handeln sowie den Akteuren Aufmerksamkeit entgegengebracht werden, wie neuere, alternative Ansätze zeigen. 1.2 Neue Herausforderungen Veränderte Innovationserfordernisse Ging es im »klassischen« Projektmanagement darum, Bedingungen für Veränderungen außerhalb von Organisationsroutinen durch die temporäre Einrichtung von Projektarbeit zu schaffen, ist es nunmehr erforderlich, wiederum nach Veränderungen zu suchen, die auch die geronnenen Handlungsanweisungen in den Projekten flexibilisieren. Dabei

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ist grundlegend, dass sich inzwischen ein anderes Verständnis von Innovationsfähigkeit herausgebildet hat. Diese wird weniger in Strukturen von Prämissen einer Beherrschbarkeit und Kontrolle erwartet. Projekte weisen sich zunehmend durch Pluralität, Varietät und Komplexität aus, indem nunmehr das Wissen im Innovationswettbewerb eine ökonomische Ressource (vgl. Moldaschl/Stehr 2010) wird. Es geht zunehmend um eine neue Pragmatik im Umgang mit Ungewissheit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit. Innovationen umspannen die Generierung von individuellem und organisatorischem – und damit implizitem – Wissen durch Arbeitsformen in Netzwerken, neu verteilten Arbeitsformen etc. und sie stellen eine gewisse Rahmung für Projekte dar. Darin liegt der Motor für Veränderungen und Innovationen. Innovationen sind heutzutage soziale Innovationen (vgl. Howaldt/Kopp 2008), die der Konfiguration sozialer Arrangements bedürfen, wie sich in den alternativen Ansätzen aufzeigen lassen wird. Insbesondere in (produktionsnahen) Dienstleistungen, Verwaltung, im Gesundheitswesen und anderen Bereichen erzielen Projekte eine neue Aufmerksamkeit: Projekte, in denen sich das Leitbild der Planung auf der Suche nach neuen Leitbildern jenseits von Leitbildern einer technischen Rationalisierung und Kontrolle von Arbeits- und Organisationsprozessen zu sozialem Handeln flexibilisiert.2 Solche Projekte eröffnen neue Perspektiven auf das Projektmanagement. Ihnen ist gemeinsam, dass sie »Personal« gegenüber der bisherigen Dominanz technischer Strukturen als einen Erfolgsfaktor einsetzen, also die Teamzugehörigen oder zumindest die Projektleitung als Führungskraft thematisieren und damit der bisherigen Steuerung durch das Management über die Gestaltung von Wissensflüssen eine Alternative entgegensetzen. Neue Muster von Arbeitsorganisation werden in diesen generiert, um wissensbasierten Tätigkeiten Raum zu geben oder bspw. die Auflösung/Reorganisation tayloristischer Arbeitssysteme vorzunehmen. Die Struktur der Organisation wird Analyse und Gestaltung in diesem Kontext.3 Auf der operativen Ebene der Projektorganisation

2

Ein immer wiederkehrender Topos lautet: »Ich kenne kein Projekt, was so abgelaufen ist, wie man es vorher geplant hat« (Habler/Bürgermeister 2010: 203ff.).

3

Dies erfolgt unter drei Kriterien: Ganzheitlichkeit, die mehr ist als die Summe ihrer Teile; Integration, wobei die Differenz in Ebenen nicht bedeutet, dass die Suche nach Lösungsansätzen zu trennen ist; sowie Denk-

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entfalten sich neue Formen als alternatives Projektmanagement, indem Arbeit und Organisation in hybriden Formen verschmelzen. Immer neue Modellkonstruktionen werden mit dem Anspruch entwickelt, Strukturen und Prozesse besser mit Hilfe veränderter Arbeits- und Organisationsentwicklungsinstrumente zu steuern. Im Zuge der gesellschaftsökonomischen Bedeutungszunahme von Projektformen hat sich das Thema Projektmanagement als ein dynamisches Feld zwischen verschiedenen Managementdisziplinen etabliert und seinen Forschungshorizont immer weiter ausdifferenziert.4 Alternative Projektformen und die Akteursebene Mit dem Begriff alternative Projektformen wird darauf verwiesen, das Innovationsoptionen in alternativen Formen von Steuerungsprozessen liegen, d.h. die Steuerung wissensbasierter Tätigkeiten kann nicht mehr nur aus den gegebenen Bedingungen der Organisation und dem Projetmanagement beantwortet werden (vgl. Wilkesmann 2010). Die klassische Projektorganisation gerät an Grenzen ihrer Effektivität und Innovationserwartung, weil wissensbasierte Tätigkeiten und gegebene Strukturen Unvereinbarkeitsmomente aufzeigen.5 Da innerhalb von Projektorganisation die Innovationsfähigkeit als das dominante Ziel ausgewiesen wird, werden zunehmend Handlungsspielräume aller dort

muster für den Umgang mit komplexen Strukturen, der einer Rahmung bedarf (Hagen 2009: 93f). 4

Die GPM (Gesellschaft für Projektmanagement) ist die nationale, das PMI (Project Management Institute) die internationale Organisation; es gibt noch die IPMA (International Project Management Association). Sie alle haben sich die Professionalisierung des Projektmanagements sowie die Zertifizierung der Projektleiter zum Ziel gesetzt. Dies geschieht teilweise in Kooperation mit Weiterbildungshochschulstudiengängen (beispielsweise www.projektprofi.org)

5

Immer mehr Arbeitskräfte sind in Projektformen beschäftigt, und in diesen sind Wissensarbeiter mit ca. 33% ihrer Arbeitszeit mit dem Suchen von Informationen und dem Unterstützen von Informationen suchenden Kolleginnen bzw. Kollegen beschäftigt (vgl. Cross/Parker 2004). Dabei scheitern ca. 75% aller Projekte, trotz realistischer Terminsetzung, üppigem Budget, erfahrenen Projektleiter, motivierten Teams etc. (vgl. Reiter 2003).

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tätigen Akteure gezielter gesucht, um mit den Unwägbarkeiten in Aufbau- und Ablaufstrukturen umzugehen. Handeln ist heute etwas anderes als funktionales und zweckrationales Handeln in Strukturen, wie es im klassischen Projektmanagement gegeben ist. Wissensorientierte Tätigkeiten folgen veränderten Mustern der Generierung von Handlungsoptionen, und damit ist eine Öffnung zu interdisziplinären Ansätzen im Umgang bzw. zur Ermöglichung von Innovationen außerhalb des klassischen Managements und seiner Lehre gefragt. Die Einbeziehung der Akteursebene neben der Strukturebene bietet in veränderten Projektformen Alternativen. Es geht um die Gestaltung von Wissensflüssen zwischen den Wissensträgern, indem technische und soziale Innovationen in einem engen Zusammenspiel organisationsspezifisch entwickelt werden. Wichtige Begriffe sind neben dem Projektmanagement in neueren Ansätzen die Projektarchitektur, die Kommunikationsregeln, die Arbeitsorganisation, das Einspeisen inhaltlicher Impulse in das jeweilige Wissensverarbeitungsnetzwerk, die Auswahl der Methoden6 etc. Umgang mit Ungewissheit Es geht nun nicht mehr nur um eine systematische Beseitigung von nicht planbaren Organisations- und Managementproblemen, sondern soll Neues entwickelt werden, geht dieses nicht ohne Abweichungen von Bestehendem, indem gezielt Überraschungen zu produzieren sind, d.h. begrenzte Irritationen sind zuzulassen (vgl. Luhmann 1999). Anliegen ist es, die Grenzen von Planbarkeit entscheidungstheoretisch im Fokus von Organisations- und Managementproblemen bewusst aufzugreifen. Somit folgen alternative Ansätze dem Grundgedanken, dass die Ablauf- und Aufbaustrukturen grundlegenden Kriterien der Organisationsstrukturen folgen, jedoch Projekte teilweise ihre eigenen Kopplungen entwickeln und eigene Modi der Bearbeitung wählen, wobei diese zunehmen, je offener die Struktur der wissensteiligen Arbeitstätigkeit ist. D.h. hinsichtlich von Entscheidungs- und Planungsprozessen wird in alternativen Ansätzen nach neuen Wegen der Einbindung sozialer Systeme gesucht, um die technische mit der sozialen

6

Diese sind abhängig von den Akteuren und ihrem spezifischen professionellen Handlungskontext im Austausch ihrer Erfahrungen. Darin liegen im Austausch differente Ressourcen.

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Dimension dynamischer zu koppeln. Es wird angestrebt, über Planungs- und Steuerungselemente die funktionalen und operativen Ausprägungen des klassischen Projektmanagements zu überschreiten und zum Beispiel die Veränderungsbereitschaft und das Skizzieren von Visionen zur Voraussetzung für das Design neuer Lösungen zu machen, dem Modus sozialen Handelns Raum zu gewähren.

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A LTERNATIVE A NSÄTZE IN P ROJEKT ORGANISATION UND P ROJEKTMANAGEMENT

Gegenentwürfe und alternative Ansätze zum klassischen Projektmanagement entwickeln sukzessive verschiedene Ausprägungen und Strategien, indem sie ihre Theoriesubstanz bereichern, Methodensets für den Umgang mit Prozessphasen und Innovationsansprüchen entwickeln, empirische Erfahrungen sammeln und darüber eine Relevanz am Markt erzielen. Wichtig erscheint in diesem Kontext, wie die jeweiligen Akteure innerhalb ihrer Kontextsteuerung mit dezentralen, reflexiven Steuerungen sowie den Kontextbedingungen aller Teilsysteme umgehen. Dabei soll die Steuerung der Projekte gewährleistet werden und eine wechselseitige Abstimmung in Form von Dialogen über die Verträglichkeit von Optionen der Steuerungen und das Handeln von Akteuren Aufmerksamkeit finden. Die Weiterentwicklungen innerhalb alternativer Ansätze wählen die IT-Basierung mit der Option, den funktionalen Modus des Handelns innerhalb struktureller Prozesse durch Einbindung des sozialen Modus zu erweitern. Zudem werden in alternativen Ansätzen Kommunikation und sogenannte weiche Faktoren inhärenter Teil von Arbeitsphasen und neuen Forschungsfeldern wie Netzwerksteuerungen, neue Formen der Wissensproduktion und Kooperationsbeziehungen, transdisziplinäre Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen, was alles entschieden der Gestaltung sozialen Handelns bedarf. Dabei bildet die jeweilige theoretische Verankerung die Ausgangsbasis für die Entwicklung differenter Modelle. Insofern liegt in der hier gewählten Reihenfolge das Auswahlprinzip, den alternativen Duktus und Anspruch gegenüber dem klassischen Projektmanagement herauszuarbeiten, es ist jedoch nicht damit intendiert, eine Rangordnung höherer Komplexität damit abzubilden.

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2.1 Systemisches Projektmanagement Im Zuge der Ausdifferenzierung des klassischen Projektmanagements hat sich seit Ende der 1970er Jahre das sogenannte systemorientierte Projektmanagement auf der Basis der Systemtheorie entwickelt. Grund waren die dramatisch zunehmende Komplexität der Aufgabenstellungen und die zunehmende Dynamik der Umfeldfaktoren (vgl. Hagen 2009). Ein wesentlicher Punkt wurde innerhalb dieser Alternative die Einbindung der psychosozialen Dimension, um die sozialen Systeme (Wirklichkeitskonstrukte) einzubeziehen. Dieses geschah über verschiedene Theoriekonstruktionen, die das Kontextgeschehen zum Gegenstand der Reflexion in der Projektarbeit machen. Dabei geht es darum, eine gleichberechtigte Aufmerksamkeit von sozialen Systemen neben den technischen Systemen zu beanspruchen. Teamarbeit als ein psychosoziales System sowie das professionelle Umfeld der im und am Projekt beteiligten Akteure stellen einen wichtigen Projektkontext dar und sollen in organisatorische Rahmenbedingungen einbezogen werden. Die systemische Sicht erkennt die zyklischen Phasen an und versucht, über die Transformation von Ist- zu Soll-Phasenabläufen im Projekt Problemlösungsprozesse anzubieten. Damit werden Grundlagen von Prozessentwicklungen geschaffen, die sich an Phasenverläufen orientieren und somit die im klassischen Projektmanagement vorgegebenen, linearen Ursachen-Wirkungs-Ketten als Grundlagen von Projektmanagement und ihre gezielte rationale Beeinflussung aufheben. Dabei wird die in den Projekten gegebene Eigendynamik essenziell anerkannt. Sie gilt heute unangefochten als Grundlage von Projektmanagement. Projekte sind somit auf die sie selbst erhaltende Differenz von Projekten (System) und Umwelt (Organisation) angewiesen und systemisch wird auf diese Differenz verwiesen, d.h. hier liegen organisatorische Spannungsfelder. Denn sowohl die Handlungsfähigkeit von Organisation als auch die von Projektorganisation sind jeweils unabhängig voneinander mit sozialen Prozessen ihrer Umwelt verknüpft und über das Handeln ihrer Gruppenzugehörigen können sie ihre Funktionsfähigkeit aufrechterhalten. Ihre autonome Steuerung der internen Prozesse im Projekt bedarf verschiedener Abstimmungsprozesse über Dialoge und auch über die Verträglichkeit der Akteure untereinander, welches mit dem Fokus auf Teamarbeit versucht wird einzufangen. Darin liegt eine gewisse Offenheit im Umgang mit Vorgaben und Planbarkeit von Projektprozessen, die im Sinne selbstreferen-

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zieller Modelle bewusst in die Steuerungsprozesse zu integrieren sind. In dieser Form ist das Projektmanagement auf unterschiedliche Kooperationen und Kopplungen der Anordnung von Aktivitäten innerhalb der gegebenen Ablaufstrukturen angewiesen. Dieses Modell will verdeutlichen, dass die Komplexität, hinter der Strukturierung von Planbarkeit und Beherrschung mit den dazu gehörenden Regelwerken, nicht die gesamte Situation erfassen kann und deshalb alle Planungsvorhaben immer nur Teile des Systems berühren. In der Weiterentwicklung als systemisch-evolutionäres Projektmanagement wird im evolutionären Element die Nichtplanbarkeit absichtsvoller, vorgegebener, linear-struktureller Muster in determinierten Ziel- und Zeitvorgaben als theoretische Grundlage betont, um konstruktive Problemlösungen und Erklärungsmodelle für eine ganzheitliche Sicht auf das System Projektmanagement zu fördern. Infolge der organisatorischen Herausforderungen hat die systemische Perspektive Auswirkungen auf (Lern-)Arrangements in der Personalentwicklung. Dies ist jedoch bisher vernachlässigt worden und bedarf einer dringenden Bearbeitung. Personalentwicklung wird als Karriereentwicklung nur innerhalb von Projekt-Systemstrukturen isoliert verfolgt und bleibt folglich ohne weiterreichende Wirkung. 2.2 Evolutionäres Projektmanagement Innerhalb von systemisch ausgerichteten Projektstrukturen sind Weiterentwicklungen durch Forschungen7 induziert worden. Im Kerngedanken verweist evolutionäres Projektmanagement darauf, dass Projekte und Projektmanagement um ein Vielfaches komplexer sind, als in klassischen Formen angenommen. Diese Komplexität wird, entsprechend der theoretischen systemischen Annahme, durch selbstreferenzielle Systeme und Selbstorganisation8 mit Rückgriff auf die Umwelt verändert. Damit werden soziale Prozesse und Koordinationsphasen als gleichwertige Gestaltungsoptionen wie Arbeitsprozesse angesehen. Der theoretische Anspruch besteht darin, Vorhandenes als Basis zu akzeptieren, umgehend auf Veränderungen zu reagieren, Erfahrungen direkt einzubeziehen und Freiräume als aktive Lernräume zu verstehen

7

Vgl. Forschungen dazu von Saynisch 2008.

8

Vgl. den Beitrag von Stephanie Stadelbacher »Bewältigung von Ungewissheit durch Selbstorganisation« in diesem Band.

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und zu nutzen sowie Projekte als Architekturvorhaben zu sehen. Zielentwicklungen statt Zielvorgaben sind ein Grundsatz, Planung ist ein Orientierungs- und Kommunikationsprozess und die Projektsteuerung bedarf situativer Rahmenbedingungen statt Planungsvorgaben (vgl. Saynisch 2008). Die entsprechenden Forschungen sind für eine alternative Ausrichtung des Projektmanagements zusammengetragen worden in den sogenannten Vier-Welten-Dimensionen von Projektmanagement, die eine Rahmung für Arrangements von Innovationsprozessen ermöglichen (sollen). Wie jedoch diese vier Welten miteinander interagieren, sich selektieren, d.h. dass Systeme Projekte im Verhältnis zur Umwelt (der Organisation) steuern, ist im Sinne von systemischer Konstruktion im virtuosen Projektmanagement entwickelt und ausdifferenziert worden. 2.3 Virtuoses (konfiguriertes) Projektmanagement Das virtuose (konfigurierte) Projektmanagement wird auch mit dem Konzept des Projektmanagements zweiter Ordnung (PM-2) umschrieben. Ausgangspunkt ist die zunehmende Komplexität und der Umgang mit einer unbeständigen Umwelt, die Einfluss auf das Projektmanagement nimmt, welches jedoch nicht reziprok ist, weil personales Handeln nicht vorgesehen ist. Projekte sind einfach erfolgreich bzw. scheitern auf menschlicher Ebene am System oder aufgrund von Gegebenheiten, welche die Planung hinfällig werden lassen. Das Praxisfeld der Projekte ist aber auf eine Bewältigung von Komplexität angewiesen, die sich auf die soziale Seite von Projekten bezieht, d.h. Projekte sind sozial und weniger technisch zu bewältigen. Die Verortung des schwierigen Verhältnisses vom Projekt und seinem Umfeld, der Organisation, kann die technische Seite der komplexer werdenden Fragestellungen nicht hinreichend bearbeiten, es muss die soziale Dimension zugelassen werden. Die Einteilung innerhalb von vier Projektwelten, die als Teile miteinander verbunden sind, greift systemisch die faktische Komplexität auf und weist auf die Notwendigkeit theoretisch kontextuierter, evolutionärer Abstimmungen hin, d.h. die vier Welten des Struktur- und Prozessmodells sind einem konfigurierten System zuzuordnen. Die Projekt-Welt 1 in der Tradition faktischer Abläufe einer SollIst-Ermittlung nimmt keine Rücksicht auf soziale, kulturelle und politische Komplexität, jedoch umschreiben Ist- und Soll-Kriterien die

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Abarbeitung der in Planungsvorhaben gesetzten Phasen. Das Basiskonzept des PM-2 besteht aus zwei Elementen; zum einen aus dem klassischen Projektmanagement (PM-1), der Steuerung, und zum anderen aus dessen Ergänzung, Managementhandeln dynamischer zu verstehen. Das klassische Projektmanagement (PM-1) erlaubt nur die Bearbeitung eines mittleren Komplexitätsausmaßes mit Entscheidungsstrukturen, Komplexität zu selektieren. Insbesondere mit Hilfe der systemisch-evolutionären Prinzipien sollen diese um selbstorganisatorische Prinzipien infolge eines offeneren Verständnisses der Festlegung von arbeitsteiligen Anforderungen innerhalb der Aufbaustruktur des Projektes erweitert werden. Dies erfolgt, indem die reflexive Kommunikation und Beobachtung berücksichtigt werden, um die Projektentwicklung dynamisch zu beeinflussen. Die Projekt-Welt 2 ist im PM-2-Modell (zweiter Ordnung) die Ebene für Gestaltungsanleitungen, indem sie als ein universelles Referenzmodell verstanden wird und für alle Projektarten im Umgang mit Komplexität anwendbar erscheint. Das Spezifische dieses Ansatzes liegt auf der Projektorganisationsebene in der Konfiguration, also der Schaffung eines optimalen Verhältnisses zwischen Struktur und Chaosgestaltung, um im systemischen Umgang und der Gestaltung von Strukturen und Prozessen ein optimales Verhältnis von Systematisierung und Innovation, z.B. bei dem Umgang mit offenen Zielen, zu ermöglichen. In diese Handlungen kann Unbekanntes aufgenommen und eine Kommunikation gewährleistet werden. Das betrifft Austausch, Verbesserung, allgemeine Informationswege, Instrumente etc. Eine gewisse Sicherheit über die Einhaltung von Dialogen über die Verträglichkeit von mehreren Gestaltungsmöglichkeiten wird über die Identität (Wirklichkeitskonstrukte) von Welt 2 und auch Welt 3 erzielt, indem dem Projektmitarbeiter als unabhängigen Akteur eine Identifizierbarkeit und Zurechenbarkeit, im Sinne von Zuständigkeit und Professionsgebundenheit, attestiert und von ihnen erwartet wird, dass das über wechselseitige Abstimmungen erfolgt. Das wiederum erhöht ihre Handlungsfähigkeit und Stabilisierung in Netzwerken, in sinngestaltenden zentrierten Interaktionen, indem die Interaktionen entweder dem System selbst oder der Umwelt zugerechnet werden. Aber in Projekt-Welt 3 spielt sich das eigentliche KomplexitätsManagement ab, hier konzentrieren sich Informationswege auf der Basis von Netzwerken. Somit wird die psycho-soziale Dimension innerhalb von Teamstrukturen thematisiert, die Organisation des Motivie-

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rens der Projektmitarbeiter ebenso wie die Kommunikation von Visionen und die individuellen Erwartungsstrukturen im Kontext personalpolitischer Maßnahmen. Damit wird versucht, einen neuen Weg im Sinne eines universellen Umgangs mit Komplexität, die in organisationale Prozesse als implizite Strukturen eingewoben ist, einzuleiten. Denn Welt 3 (Umwelt) liegt außerhalb vom Projektmanagement, es sind ungenutzte informelle Wissensressourcen, die als nicht-steuerbare Netzwerke informellen Einfluss auf die Projektstrukturen nehmen, denn sie stehen in einem konzentrierten Austausch zu Welt 2. Somit umfassen Welt 2 bis 4 Wissen über und die Handhabung von sozialer Komplexität und ihre Angewiesenheit. Die Projekt-Welt 4 muss nicht nur anerkennen, dass infolge von Gruppenstrukturen und Netzwerken eine Einflussnahme auf die Projekte erfolgt, sondern auch, dass professionelle Gruppenstrukturen und Netzwerke der Akteure Einfluss auf die Gestaltung sozialer Prozesse und Kooperationen nehmen. Mit dem virtuosen, konfigurierten Projektmanagement wird eine effektive Einbeziehung von sozialer und kultureller Komplexität ermöglicht. Dazu ist systemisch die Welt 4 konstruiert worden, die die Aufgabe der Integration von Prinzipien zyklischer Prozesse und vernetzter Sprünge zu konfigurieren hat. Zunächst geht es um Ergänzungen von allen möglichen Teilsystemen, die Einfluss auf komplexe Umweltaspekte mit veränderten Anforderungen an das Projektmanagement nehmen. Das konfigurierte Modell des Projektmanagements meint letztlich die Legitimation und (Außen-)Repräsentanz der Projekte in der Umwelt der Organisation, wie Stakeholder etc. Letztlich geht es um die Entwicklung eines neuen Referenzmodells, in dem neben technischen auch organisatorische und sozio-kulturelle Prozesse in gebührender Weise berücksichtigt werden, um damit individuelles und organisationales implizites Wissen in einem Theorieansatz zu bündeln, den Rahmen für ein Theoriekonstrukt festzulegen. Dementsprechend gilt es, die Logik hinter dem sozialen System zu verstehen, um zu einem proaktiven Management zu kommen, das sich mit der Emergenz von sozialen Systemen und damit sozialer Komplexität ergänzend auseinandersetzt und gewisse Chancen bietet, Komplexität und Ungewissheit in diesem Rahmen zu thematisieren. Welt 4 ist dann die systematische Architektur. Welt 4 betrifft die Grundhaltungen, sorgt für die Offenheit der Zielführung und lässt dadurch Komplexitätszunahme zu, unterbindet Komplexitätsreduktion wie in Welt 1 und steht für die Realisierung eines ganzheitlichen Sys-

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tems. Es ist eine reflexive Steuerung, in der sich unter anderem Professionalität durch Selbstorganisation steuert, um mit Präferenzen, Kulturelementen sowie Ritualen einen Umgang zu finden. Sie konfiguriert Entscheidungen neu, wobei es um den Erhalt von Handlungsoptionen geht, d.h. es geht um Schlüsselprinzipien im Umgang mit offenen Zielen und das Praktizieren eines Varietäts-Engineerings, d.h. mehrere Optionen von Steuerungen werden in Modellen entwickelt und neu durch das System (Projekt) und die Umwelt (Organisation) in Teamprozessen konfiguriert. Die Aufgabe von Organisation und Projekten ist folglich, dafür zu sorgen, dass System und Umwelt sich austauschen, wobei beide jeweils komplex strukturiert sind und jeweils mehr Handlungsoptionen haben, als in ihnen aktualisiert werden können. Infolge der immer getroffenen Selektion sind alle Handlungsoptionen von der Gefahr des Misslingens bedroht.9 Dabei kann die Organisation als Gesamtsystem für jedes Teilsystem (Team, Projektgruppen etc.) die Funktion der »internen Umwelt« übernehmen. Solange diese nicht entwickelt ist, kann die Kommunikation zwischen dem Teilsystem Projekt und Teilelementen (Umwelt) mit der Organisation nicht hierarchiefrei und informell gelingen und geht auf Kosten von Komplexität. Die Bearbeitung wird allein in den Subsystemen (Projekten) als interne Operationsweise geleistet, d.h. die Bearbeitungsweise wird mit Hilfe von Projektmanagement selektiert. Das erhöht die Möglichkeit, dass Optionen von Prozessvarianten keinen Einfluss und keine Veränderung auf das Gesamtsystem Umwelt (Organisation) erreichen, oder die Prozessvarianten kommen durch Behinderung (Selektion) nicht zum Zuge. Im Umgang mit Ungewissheit wird Komplexitätseinschränkung10 durch selektive Entscheidungen bestimmt, die Grenzen von Arrangements zur Bearbeitung von Komplexität werden reflektiert. Um eine Steuerung innerhalb bewährter Entscheidungsroutinen (ebd.) zu verhindern, sind mehrfach Lösungen im Sinne eines Varietätsangebots zu erproben auf der Suche nach neuen Optionen von Handlungsalternativen, um die wechselseitige Aufmerksamkeit mit neuen Handlungsoptionen in Gang zu bringen bzw. nach veränderten Steuerungen über Handlungs-

9

Diese Aspekte betreffen das Kontingenzverhältnis (Luhmann 1987: 47f.).

10 Die Komplexitätsselektion hält die funktionale Arbeitsteilung und die Differenz einer im Prinzip unendlichen Steigerung von Optimierung spezialisierter Funktionsbereiche aufrecht und übersieht Nebenwirkungen.

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optionen zu suchen, die den Mechanismus von vorgenommener Komplexitätsreduktion in dem Teilsystem (Projekt) aufbrechen. 2.4 Agiles (evolutionäres) Projektmanagement Innerhalb der Ausdifferenzierung des zunächst klassisch-logischen Projektmanagements (Hagen 2009: 39) hat die Entwicklung der IT-Basierung mit ihrem phasenorientierten Projektmanagement das Projektmanagement stark beeinflusst und ist eine dominante Basis, innerhalb derer sich die Professionsgruppe der Softwareentwickler einen eigenen Rahmen für Veränderungen geschaffen hat, der infolge von Erfolgen uneingeschränkt Gültigkeit beanspruchen kann. Dieser Ansatz startete mit der differenzierten Ausgestaltung der Phasenprozesse als Gegenentwurf, wobei der technische Modus der Planbarkeit Ausgangsbasis ist und auf dieser Basis die Entwicklung und Gestaltung einzelner Aspekte im Modus des Planbaren und der Ausdifferenzierung von ITProzessen besonders hervorgehoben wird (vgl. Söderlund 2002). Der theoretische Ausgangspunkt, dass Projekte einen geradlinigen, vorausschaubaren und auf das Ziel orientierten Verlauf einnehmen, wird anerkannt. Anspruch ist, dass eine flexible und dynamische Gestaltung des Managements bei Anwendung von komplexen Softwaresystemen zu gelten habe. Gleichermaßen werden Veränderungen im Design des agilen Projektmanagements kontinuierlich in Verbindung mit der Zunahme von Komplexität und Dynamik in Projekten im Bereich der Softwareentwicklung und der damit erlangten Entwicklungsstufe des ganzheitlich-systemischen Projektmanagements gesehen. Es wird davon ausgegangen, dass Projekte in ihren Wirkungszusammenhängen selbstorganisierte Systeme bilden, deren Verlauf nur in begrenztem Ausmaß durch Planung prognostiziert oder gesteuert werden kann. Veränderungen und Nachjustierungen sind inhärenter Teil von agilem Projektmanagement, das die nicht mehr vorhandene Stetigkeit zu akzeptieren hat. Die Prinzipien des virtuellen Ansatzes gelten in Verbindung mit einer geringen Führungsintensität und einer kooperativen Projektarbeit, also einer starken Teamentwicklung. Unter unbeständigen Rahmenbedingungen wird das Zusammenführen und Zusammenwirken von Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Teams innerhalb einer gemeinsamen Zielsetzung als besonders wichtig erachtet. Individuen und Interaktion bedeuten mehr als Prozesse, Tools und Werkzeuge, d.h. die Qualität der Zusammenarbeit erhält einen zentra-

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len Wert. Professionelle Akteure neben dem klassischen Management treten innerhalb dieser Ansätze bereits in Erscheinung, werden jedoch noch nicht als solche benannt. So führen Einflüsse bedingt durch Stakeholder, Auftraggeber oder auch die Anforderungen auf dem Absatzmarkt dazu, dass sich das Projekt nicht mehr als starres Objekt ansehen lässt, sondern es notwendig wird, in seiner Durchführung beweglich, sprich agil, auf unerwartete Einflüsse der Umwelt reagieren zu können. Litke beschreibt den Sachverhalt näher.11 Im Jahr 2001 wurde von 17 renommierten IT-Entwicklern das sogenannte »agile Manifest« entwickelt.12 Es dynamisiert das bestehende klassische Projektmanagement. Des Weiteren legt agiles Projektmanagement den Fokus mehr auf die technischen und sozialen Probleme, welche im Verlauf entstehen – daraus hat sich der Begriff der Gegenbewegung gegenüber dem bisher eher als schwergewichtig und bürokratisch angesehenen klassischen Projektmanagement entwickelt. Aus dem agilen, iterativen Verständnis resultierend, entwickelten sich bekannte Ansätze wie Crystal, SCRUM oder auch XP (eXtrem Programming) sowie der bedeutende Projektmanagementstandard PMBOK® und PMI®. Aufgrund seiner Entstehung im Bereich der Informations- und Telekommunikationstechnologie kommt es heute vor allem auch in diesem Sektor zur Anwendung.

11 Litke 2005: 258: »Die Erfahrung zeigt, dass es meist Utopie ist, Projekte wie geplant abzuschließen [..]. Bei genauer Betrachtung der Projekte, die auf erhebliche Probleme [..] stoßen, stellt man fest, dass komplexe Problemstellungen nicht nur mit Routinekenntnissen oder klassischen Projektmanagementmethoden zu beherrschen sind. Das Umfeld ist dynamisch und die Entwicklungen sind kaum mit herkömmlicher, linearer Denkweise abzusehen, da bewährte Muster und Konstellationen meist fehlen [..]. Die heutigen Auffassungen von Projektmanagement gehen wesentlich mehr in die Richtung einer ganzheitlichen, kybernetischen Betrachtungsweise.« 12 http://www.agilemanifesto.org/iso/en/manifesto.html

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Abbildung 1: Die Iterations-Wolken-Metapher: Schrittweise Zielklärung und -näherung

Quelle: Oesterreich/Weiss 2007: 3.

2.5 Erfahrungsgeleitetes Projektmanagement Das Konzept des erfahrungsgeleiteten Projektmanagements geht auf Modelle sowie Untersuchungen zu erfahrungsgeleitetem Arbeiten (vgl. Böhle u.a. 2004) und informeller erfahrungsgeleiteter Kooperation und Kommunikation (vgl. Böhle/Bolte 2002; Bolte/Porschen 2006; Porschen 2008; Peters/Steckel 2011) in industriellen Arbeitsbereichen zurück. Darin zeigt sich, dass auch bei fortschreitender Automatisierung menschliche Arbeit unverzichtbar bleibt und die Anforderungen sich keineswegs auf einfache standardisierte Tätigkeiten beschränken. Aufgedeckt wird, dass Erfahrungswissen von Beschäftigten und situative Abstimmungen bei der Bewältigung von Ungeplantem bisher unterschätzt werden. Forschungen bestätigen in der industriellen Produktion, dass Gefühl und Gespür für Störungen und der Austausch von Erfahrungswerten eine wichtige Rolle im Hinblick auf die Prozessstabilität spielen. Gründe dafür liegen in den Grenzen technischer Beherrschbarkeit, wenn Einflussgrößen und Rahmenbedingungen vielfältiger und komplexer werden sowie Abweichungen vom geplanten Verlauf und Unwägbarkeiten zunehmen und diese zur Normalität werden (vgl. Böhle/Bolte 2002; Porschen 2008). Grundlage für das erfahrungsgeleitete Handeln ist ein Verständnis von Arbeit, das den Arbeitsvollzug selbst als Ressource für die Wissensgenerierung nutzt und so neue Perspektiven für das Projektmanagement eröffnet. Informelles, erfahrungsgeleitetes Arbeiten in Projekten grenzt sich dabei weitge-

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hend von einem planmäßigen Vorgehen ab und entzieht sich klassischen Managementstrategien. Zur Bewältigung von Ungeplantem gilt es deshalb, erfahrungsbasiertes Handeln strukturell zu unterstützen und zu fördern. Grundlegend für den Ansatz ist die Annahme, dass Unwägbarkeiten in der Praxis des Projektmanagements nicht nur aus sozialen, sondern auch aus sachlichen und technischen Gegebenheiten resultieren. Dem liegt zu Grunde, dass Projekte als dynamische soziotechnische Systeme aufgefasst werden können. Anforderungen an erfahrungsgeleitetes, informelles Arbeiten zur Bewältigung von Ungeplantem entstehen vor allem in Projekten, die zur Lösung einmaliger »Sonderaufgaben« eingerichtet werden. Darüber hinaus entsteht Ungeplantes vor allem in Bereichen, die grundlegend durch Unwägbarkeiten gekennzeichnet sind, wie z.B. der Dienstleistungsbereich, das Gesundheitswesen usw. Informelles Arbeiten kann nicht angeordnet werden und erfolgt nicht nach festgelegten Regeln, sondern nach situativen Anlässen.13 Es erfolgt nicht einfach, sondern muss bewusst hergestellt werden. Neben Planungselementen richtet sich das erfahrungsgeleitete Projektmanagement dahingehend vor allem auf eine Förderung und Unterstützung des Informellen auf struktureller Ebene (Habler/Bürgermeister 2010: 203ff.). Erfahrungsgeleitetes Handeln und Projektmanagement setzen sich von modernen Rationalitätsvorstellungen ab und betrachten insbesondere menschliche Handlungsweisen als maßgeblich zur Bewältigung von Komplexität in Projekten. Das ist konform mit systemischen Elementen von Projekt-Welt 2. Es lässt sich hier wieder an der Schnittstelle der Entstehung alternativer Ansätze zum Projektmanagement anknüpfen, wenn die Annahme zutrifft, das bei komplexer Technik auch im Normalfall mit Unwägbarkeiten zu rechnen ist. Das ist Ausgangssituation und Anlass für die Notwendigkeit menschlicher Eingriffe zur Regulierung und Bewältigung des Ungeplanten. Bei Projekten mit umfangreichen technischen Problemstellungen und komplexen Systemintegrationen treten »kritische Situationen« immer wieder an verschiedenen, unvorhergesehenen Stellen auf und sind daher in der »Natur der Sache« begründet. Eine Pluralität von Personen (hier stark vertreten: Stakeholder) verstärkt eine Pluralität von individuellen Wahrnehmungen und Sichtweisen. Erfahrungsorientiertes Handeln ist konstruktivis-

13 Ursprünge sind u.a. Lave/Wenger 1991.

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tischen Ansätzen verpflichtet. Übertragen auf Projekte und Projektarbeit beinhaltet das, dass Organisation und Projekt individuell verschieden wahrgenommen werden. Speziell individuelle Sichtweisen auf Organisation und Projekt ändern sich mit der Entwicklung und Dynamik von Projekten, wobei Teile davon bewusste Veränderungen aufnehmen, teilweise auch unbewusste. Folglich können im Projekt komplett divergierende Auffassungen von scheinbar objektiv wahrnehmbaren betrieblichen Strukturen und Prozessen entstehen. Entsprechend geht es hier, den konstruktivistischen Ansätzen folgend, nicht um Muster einzelner Personen, sondern um Handlungsorientierungen und Meinungen, die gruppenspezifisch sind und bspw. aus spezifischen Machtkonstellationen mit Kunden sowie Lieferanten resultieren. Die Bewältigung von technischen und sozialen Unwägbarkeiten wird von der relativ homogenen Wissens- und Leistungsdichte der Akteure (Fachexperten in Projektteams) abhängig sein, aus der sich das erfahrungsgeleitet-subjektive Arbeitshandeln entwickelt. Zur Bewältigung von Ungeplantem wird neben der formellen Arbeitsstruktur deshalb auf die Leistungen einer selbstorganisierten informellen Kooperation in der alltäglichen Arbeit aufmerksam gemacht. Offene und situative Projektstrukturen bieten Möglichkeiten der Bewältigung, indem die Aufbaustruktur und ihre funktionalen Stellenzuweisungen dynamischer gesehen werden. Eine weitgehend selbstgesteuerte Abstimmung zwischen Projektbeschäftigten kann dann z.B. durch eine Kultur des Informellen begünstigt werden. Ein Schwerpunkt liegt außerdem auf der Annahme, dass menschliche Tätigkeiten nicht auf dem Vollzug vorgezogener Entscheidungen beruhen, sondern vor allem auch in der Situation des Erkundens von Handlungsoptionen, d.h. im praktischen Vollzug des Handelns erzeugt werden. Neben Erkenntnissen aus Planungen werden somit vor allem auch Erfahrungen aus dem praktischen Handeln der Mitarbeiter und auch der Manager zur Bewältigung von Ungeplantem als relevant angesehen. Im gesamten Konzept kommt dem Erfahrungswissen, das im praktischen Handeln erworben wird, sowie auch informellen Lernprozessen eine besondere Bedeutung zu. Ein wichtiger Bestandteil des Konzepts ist die prozessbezogene Zusammenarbeit. Damit kann das klassische Projektmanagement um Perspektiven der Bewältigung des Ungeplanten in verschiedenen Dimensionen (Habler/Bürgermeister 2010: 210f.) erweitert werden. Die entscheidenden Elemente des Ansatzes sind Organisation, Vorgehen, Wissen und Lernen, Zusammenarbeit sowie Ver-

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fahren. Wie in allen alternativen Ansätzen ist auch in diesem die Dimension ›Organisation des Projekts‹ die dominante Dimension. An Untersuchungen von Projekten produktionsnaher Dienstleistungen zeigt sich, dass Kundenwünsche in laufenden Projekten zu Perspektivwechseln führen. Die Ermittlung des Kundenbedarfs liegt jenseits von Logiken bzw. hängt von Stimmungen, Interessen und Gefühlen ab, die wesentlicher Bestandteil von Projekten sind. In der Interaktion mit Kunden sei es wichtig, nicht streng rationale Präferenzen auszuloten und nicht-formalisierbare Aspekte der Kundenbeziehungen aufzugreifen. Da diese jeweils stark individuell sind, führt das in Projekten zu einer Steigerung von Komplexität, die von den Projektmitarbeitern zu bewältigen ist. Verfahren der situativen Selbstorganisation sind unerlässlich ebenso wie z.B. Freiräume im individuellen Handeln, um Handlungsweisen aus dem Prozess heraus in Form neuer Lösungen zu generieren. Die Organisation selbst nimmt im Projektverlauf fluide Formen an. Selbstorganisierte Prozesse können dann durch eine Kultur des informellen und erfahrungsbasierten Vertrauens unterstützt werden, d.h. Probleme zeigen sich bereits im Kleinen.14 Als besonders relevant gelten praktische Verfahren wie der Aufbau von Beziehungsnetzwerken zwischen Stakeholdern, Ermittlung des Kundenbedarfs und eine Nutzenkommunikation zur Projektsteuerung. Strukturelle Probleme sind über Konfigurationen in immer neuen Formen zu bearbeiten. 2.6 Social Project Management – Umrisse eines neuen Trends Die Bedeutung von sozialen Netzwerken und des Web 2.0 im Allgemeinen spielt in der heutigen Zeit eine immer größere Rolle, ein Faktor, dem sich auch das Projektmanagement nicht entzieht. Die Intensivierung an wissensorientierten Unternehmen und die Bedeutung von Wissensarbeitern und Experten, sowie die allgemeine Entwicklung hin zur Wissensgesellschaft, bewirken einen erneuten Wandel im Projektmanagement. Wie in den vorhergehenden Kapiteln bereits erwähnt, entwickeln sich Projekte von der hierarchischen Projektumwelt hin zur

14 Die einzelnen Projektphasen umfassen hier: erfahrungsgeleitetes Vorgehen, Erfahrungswissen und Erfahrung-Machen, selbstgesteuerte Kooperation und Kommunikation, erfahrungsbezogene Verfahren (Habler/Bürgermeister 2010: 203ff.).

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kollaborativen Projektumwelt – der so genannten »Netzwerk-Organisation«. Mit dieser neuen Entwicklung ›Web 2.0‹ werden die Elemente sichtbar, die sich insbesondere im agilen Projektverständnis gezeigt haben, nämlich dass die Experten eigentlich »unter sich« arbeiten und Projektleiter nicht mehr im klassischen Sinne durch die Linienstrukturen abgeordnet werden, sondern dass sich innerhalb von Projektstrukturen eigenständige Organisationsformen herausgebildet haben. Dies kennzeichnet sich vor allem durch: • eine kollaborativ, durch alle Teammitglieder durchgeführte Projekt• •

• • •

planung, das Fehlen einer eindeutig definierten Projektleitung, selbstorganisierte Planung, welche die schnelle Klärung von Ressourcen, Prioritäten und Abhängigkeiten innerhalb des Projektteams fördert, Verwendung von kollaborativen Techniken (z.B. Software, wie Mindmanager etc.), schnelles Management und schnelle Feedbackkreisläufe, eine stetige Reflektion der Ziele des Projektes während der Laufzeit.

Daraus folgt eine Demokratisierung sowie Enthierarchisierung der Planung und des Managements im Projekt. Typischerweise wird Social Project Management in Umgebungen von effizient geführten Start-upStrukturen vorgefunden, aber auch im Rahmen von Buy-outs sowie in Unternehmen, welche für die Entwicklung von Innovationen auf Kundenseiten verantwortlich sind – konkludierend: in den so genannten Enterprises 2.0. Diese sind oft Knowledge Organizations, in denen menschliche Arbeit dazu eingesetzt wird, brauchbare Informationen und Wissen zu erzeugen. In diesem Zusammenhang verändern sich auch die Anforderungen an das Projektmanagement wie folgt: • Zugriff und Verwendung von Daten (Analyse in Datenbanken) • Zugriff und Verwendung von kodifiziertem und persönlichem Wissen • Zugriff und Verwendung von organisatorischem und externem

Wissen • Anwendung mentaler Modelle • Anwendung von kognitiven Fähigkeiten, wie Konzentration und Aufmerksamkeit.

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Um dies zu erfüllen, verfügen Projektmanager über die folgenden drei zentralen Kompetenzen: • Fähigkeiten zu Wissensaufbau und Wissensbewahrung • Projektspezifische Wissensverarbeitung • Management- und Medienkompetenz.

Die Auswirkungen des sozialen Gedankens zeigen sich in den Werkzeugen, welche dem Projektteam zur Verfügung stehen. So geht es um die Teilung des Wissens mit allen Teilnehmern, um produktiver und effektiver an Prozessen arbeiten zu können: »The vision is really about empowering workers, giving them all the information about what`s going on so they can do lot more than they`ve done in the past.«15 Um dies zu ermöglichen, erhalten Social Media und Social Software immer stärkere Bedeutung. Im Gegensatz zu klassisch-hierarchischen Planungssystemen dienen diese von Anfang an dem Austausch und der Kollaboration der Projektteilnehmer, da sie allen Teammitgliedern ermöglichen, am Fortschritt und an der Veränderung der Aufgaben zu partizipieren. So zeigt sich auch in dieser Evolution der bisherigen Theorien zudem der Ansatz vom Wandel des konventionellen Top-down zum sozialen Bottom-up. Seit der Etablierung des Web 2.0 verstärkt sich zudem der Einfluss an Social Media. Genannt seien hier APIs16 wie Facebook und LinkedIn, Wikis, Blogs, Peer-to-Peer-Modelle in der Infrastruktur wie auch die Verlagerung von Daten in die sogenannte Cloud.17 Konkret bedeutet dies, dass sich die Arbeit in Social Projects in die technischen Dimensionen connect/share, create und consume unterteilen lässt.

15 Bill Gates, Mitgründer von Microsoft. 16 application programming interface, dt. »Schnittstelle zur Anwendungsprogrammierung«. 17 Cloud Computing bezeichnet die Auslagerung von Applikationen und Daten zu einer Dienstleisterin/einem Dienstleister, die/der sie über die »Wolke« des Web bereitstellt.

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F AZIT – D IE A UFMERKSAMKEIT A KTEURSEBENE

GILT DER

Bewältigung von Ungewissheit in alternativen Ansätzen Management der Ungewissheit will das Thema aufgreifen, dass jenseits von Beherrschbarkeit und Kontrolle Modelle und Muster zu generieren sind, die einen produktiven Umgang mit Veränderungen einleiten und gestalten können. Projektorientierte, temporäre Organisationsformen und insbesondere das klassische Projektmanagement als ein Modell struktureller Zusammenarbeit von Management und Ingenieuren entwickelten eine neue Form der Verwissenschaftlichung von Handeln auf der Grundlage von Planung und Herstellung von Planbarkeit durch stark durchstrukturierte Phasenabfolgen des Vorgehens inklusive strukturierter Verfahrensformen und Regeln. Das ist die Rahmung für Zuverlässigkeit und Gewissheit struktureller Gestaltungsoptionen und dadurch wurde es möglich, Ungewissheit und Unsicherheit zu überwinden und gleichermaßen planmäßig zu versuchen, Innovationsfähigkeiten zu erhöhen. Das war zurückliegend das Innovative am Projektmanagement. Insbesondere aus Forschungen des letzten Jahrzehnts ist deutlich geworden, dass, je komplexer ein zu bearbeitendes Entscheidungsproblem ist, es umso weniger rational bearbeitet werden kann (vgl. Pawlowsky/Mistele 2009; Weyer 2009; Böhle/Weihrich 2009; Kalkowski/ Mickler 2009). Das ist zu einer neuen Arbeitshypothese geworden und Entwicklungen konzentrierten sich auf neue, so genannte alternative Modelle zum Projektmanagement. Ein großer Forschungs- und Entwicklungsaufwand ist initiiert worden, um die steigende Komplexität, die auch Thema der anderen Beiträge dieses Bandes ist, zu bewältigen, also Modelle auszudifferenzieren, Methodensets zu entwickeln etc., aber insbesondere in die einzelnen Phasenabläufe Reflexionselemente für Innovationsanstöße einzubeziehen, um den Umgang mit Komplexität und Unsicherheit auszuloten. In ihnen vollzieht sich das Zulassen von Ungewissheit in zwei wesentlichen Momenten: zum einen von dem Verzicht auf Stabilisierung bestehender Systeme zu einer neuen Dynamik und Flexibilität und zum anderen in einem Wandel der Unternehmensorganisation und Technik hin zu mehr individueller Arbeitsgestaltung infolge der Zunahme wissensbasierter Tätigkeiten. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass soziale Innovationen unter intelligenter Nutzung neuer Technologien und Dienstleistungen entste-

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hen. Es geht dabei um die Gestaltung von Wissensflüssen zwischen den Wissensträgern, indem technische und soziale Innovationen in einem engen Zusammenspiel entwickelt werden. Vor diesem Hintergrund sind Grenzen der Planbarkeit nunmehr bewusst entscheidungstheoretisch in den Fokus von Organisations- und Managementhandeln aufzunehmen, sie sind Grundlage für veränderte Teamentwicklungsund Führungsarbeit. Die alternativen Ansätze zeigen, dass eine kooperative Projektarbeit Wesensbestandteil in der Projektarbeit ist und unter unbeständigen Rahmenbedingungen das Zusammenführen und Zusammenwirken von verschiedenen Expertinnen und Experten bei wechselnder Teamzusammensetzung essenziell ist. Es zeigt sich, dass alternative Ansätze in ihren Aufbau- und Ablaufstrukturen grundlegend Kriterien von Organisationsstrukturen folgen, dabei aber Projekte ihre eigenen Kopplungen entwickeln und eigene Modi der Bearbeitung wählen, wobei diese komplexer werden, je offener die Strukturen der wissenschaftlichen Arbeitsteilung sind. Es wird genau genommen nach Lösungsansätzen und Wegen der Einbindung sozialer Systeme gesucht, um die technische mit der sozialen Dimension dynamischer zu koppeln. Das konnte in den hier aufgearbeiteten Alternativansätzen aufgezeigt werden. Auf der Suche nach Antworten sind drei wissenschaftliche Entwicklungsstränge besonders verfolgt worden: • (Sozialwissenschaftliche) Organisationstheorien als Erklärungsan-

sätze und Basis von Projektarbeit statt der bisherigen Orientierung an technischen Abläufen • Informatiker haben mit Softwareentwicklung den in Phasen abgebildeten Projektaufbau und -ablauf sequenziert und Modelle entwickelt, die sich auf dem Markt durchgesetzt haben. • Die professionelle Kompetenzentwicklung von im Projektmanagement handelnden Praktikern, d.h. eine professionelle Ausbildung von Projektleitern wird in alternativen Ansätzen eher nicht thematisiert. Diese drei wissenschaftlichen Stränge zur Konfiguration des Projektmanagements weisen differenziert auf Entwicklungen im Sinne der Zunahme von Dynamik hin, den Wandel von einer Technik- zur Organisationsorientierung und das professionelle Besetzen des gesamten Feldes Projektmanagement durch eine einzige Profession – die der Informatiker, womit ein Zurückdrängen der Professionsgruppen der In-

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genieure und Manager einhergeht. Diese beiden Entwicklungen weisen Flexibilisierungstendenzen und damit Dezentralisierungstendenzen auf, in denen sich Wandlungsprozesse vollziehen, die mit einer gewissen Stringenz dann auch Partizipation oder auch Verantwortungsübernahme, Vertrauen und Offenheit nach sich ziehen, d.h. dass sich Führung und Teamentwicklung öffnen und Experimente für neue Varianten18 in der Projektarbeit zulassen und damit wohl Voraussetzungen schaffen, Innovationsfähigkeit Raum zu geben. Entgegen diesen beiden dezentralen neuen Tendenzen ist die Konzentration auf eine professionelle (wissenschaftliche) Kompetenz der Projektleiter als Projektmanager19 eher durch zentralistische Tendenzen gekennzeichnet, in denen den jeweiligen Gesellschaften die Lizenzen obliegen und sie darauf basierend die Mandate für eine »Berufsausübung« des Projektmanagers erteilen. Ausgangspunkt für diese Entwicklungen waren auch die Einschätzungen, dass die Zunahme der Komplexität der zu bearbeitenden Entscheidungsprobleme Fragen zur Professionalisierung und Kompetenzentwicklung der Projektleiter aufwirft. Nicht Entscheidungen durch Projektleiter werden jedoch die Zukunft von Projekten strukturieren, sondern wohl eher Konsensentscheidungen im Kontext divers an Projekten beteiligter professioneller Akteure. Projektleiter konzentrieren sich auf die Steuerung durch Rationalität – ganz im Duktus des klassischen Projektmanagements. Für diesen Kontext ist interessant, dass die dritte Tendenz der zunehmenden Professionalisierung in den hier aufbereiteten Alternativansätzen zum Projektmanagement offensichtlich nicht hinreichend Widerhall findet. Programme und Modelle, die den Planungszweck professionstheoretisch unterstreichen, finden wohl nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit wie noch in den Jahren zuvor. Projektmanagement ist zunehmend eine Arbeitsform zwischen Direktive und Freiraum (vgl. Kalkowski/Mickler 2009), womit auf die Unternehmenskultur und ihre Entwicklung hin-

18 Vgl. Pinnow 2009, Veränderungs-Management durch systemische Führung 19 Hierzu gibt es ganze Programme, Lizenzen, etc., die in Handbüchern der jeweiligen Gesellschaften ausgewiesen sind. Vgl. zu Professionalisierung Kurtz/Pfadenhauer 2010; Lang 2005; Hölzle 2009; Lüschow u.a. 2004; professionelles Management basiert auf klassische Managementstrategien, hingegen umfasst Professionalität von Akteursgruppen idealtypische Elemente des Professionsverständnisses.

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gewiesen wird, diese dennoch nicht theoretisch aufgegriffen werden muss. Der Blick wird wieder den beiden erstbenannten Ansätzen, die sich strukturellen Weiterungen ihrer Ansätze widmen, zugewandt. Handlungen verbleiben im funktionalen Modus, denn das handelnde Individuum, der Akteur, bleibt noch unscharf. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen. Gleichwohl ist Ungewissheit in den alternativen Ansätzen zum Projektmanagement eine Ressource und ein Potenzial, das zuzulassen ist, wie in jeweils spezifischen situativen bzw. theoretischen Kontexten aufgezeigt werden konnte. Achtsamkeit und ein Gespür für Situationen werden leicht als Unprofessionalität verstanden und erzeugen Spannungsverhältnisse, diese sind jedoch Voraussetzung für einen produktiven Umgang mit Ungewissheit. Die Aufrechterhaltung statt Reduzierung von Komplexität wird ausgewiesen durch die heterogenen Akteursgruppen und Communities der interdisziplinären Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachgruppen mit einer jeweils hoch spezialisierten Expertise direkt im Projekt oder im projektzuarbeitenden Netzwerk. Diese Konzentration ist in Verbindung mit der Zunahme von Netzwerkanalysen (vgl. Schnauffer/Stieler-Lorenz/Peters 2004) zu sehen. Netzwerke arbeiten effektiv und effizient bei Zugeständnissen von Freiräumen und selbstorganisierter Selbsttätigkeit; dadurch wird der Effekt von Innovationsfähigkeit gefördert. Auffallend ist dabei, dass alle dem – formell oder informell – in den benannten Ansätzen Rechnung tragen. Teams sind autonome Einheiten in sich selbst strukturierter Zusammenarbeit und werden weniger in Abhängigkeit von Handlungsoptionen der Projektleitung gesehen, gleichwohl werden die Bedingungen benannt, nicht aber die sozialen Handlungen. Insgesamt fällt auf, dass die Führungstätigkeit der Projektleiter in den Modellen keine dominante Position einnimmt. Gleichermaßen erscheint es so, als ob die Konfigurationsoptionen sich ohne Hierarchie und bewusste Ordnung selbst finden. Das heißt, dass bei Rahmungselementen wie Zeit für Reflexion, Austausch, Netzwerkpflege etc. deutlich wird, dass durch diese Rahmung mikropolitischer Prozesse eine Innovationsfähigkeit in den Mikrostrukturen erwartet wird bei gegebener Unternehmenskultur. Hervorstechendes Merkmal und Schlüssel ist die Gestaltung der Dimension Konfiguration, die organisatorisch die Spezifika der Arbeits(ver-)teilung sowie die Öffnung der Planungs- und Steuerungsprozesse in Richtung einer sozialen Bewältigung thematisiert. Diese Bewältigung ist nur proaktiv von den Akteuren vor dem Hinter-

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grund ihrer spezifischen professionellen Zugehörigkeit zu leisten. Es geht um das Zulassen von Entscheidungen auf der Basis von Selbstorganisation und um die Aushandlung und jeweils spezifischen Handlungsoptionen der Akteure mit einem anderen professionellen Hintergrund als dem des klassischen Managements. Die Selbstorganisation ist nur in dem erfahrungsgeleiteten alternativen Ansatz explizit verankert, insofern als das einzubringende implizite Wissen hier Gegenstand der Berufsausübung mit spezifischen Berufserfahrungen ist, weniger die wissensbasierte Tätigkeit im Austausch von Netzwerken. Hier speist sich der Umgang mit Ungewissheit aus Arbeitsprozessen direkt im Alltag durch Interaktion als Arbeit und Arbeit in direkter Interaktion. Soziale Handlungen sind hier im Modus des Sowohl-als-auch angelegt und immer ausschließlich im sozialen Modus verankert, wobei der Transfer auf neue, ähnliche Situationen, z.B. in produktionsnahen Dienstleistungen, in der Situation direkt vollzogen wird. Insofern nimmt dieser Ansatz unter den alternativen Ansätzen eine Sonderstellung ein, deckt aber wichtige neue Arbeitsmarktsegmente ab. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass Führungsarbeit und Teamentwicklung die entscheidenden Begriffe für alternative Formen von Projektarbeit sind. Ein entscheidender Gedanke in der Teamarbeit ist der: Je spezialisierter einzelne Projektmitglieder arbeiten und je heterogener damit das Humankapital ist, desto geringer fällt das organisationale Wissen aus, da die Selbstorganisation der Mitarbeiter Nutzung, Veränderungen und Entwicklungen von Wissen unterstützt. Die Transformation vom impliziten zum expliziten Wissen muss nicht gesteuert werden, die kognitive Vielfalt als organisationale Ressource ist hier von entscheidender Bedeutsamkeit, bzw. Meinungs- und Ideenaustausch, gegenseitiger Respekt und Anerkennung sowie Offenheit und Unabhängigkeit bei Fehlerminimierung, die möglich ist, aber auch Reflexionsfähigkeit, Achtsamkeit, klare Entscheidungsstrukturen etc. sind Wesensmerkmale von Teamarbeit, wie aufgezeigt wird. Die Rolle der Akteursebene Akteure in Projektformen sind klassisch die Projektleiter und die heterogen zusammengesetzten Teams. Innerhalb dieser klassischen Strukturen im Projektmanagement haben sie feste Aufgaben und Funktionen, die in alternativen Projektmanagementformen nicht flexibilisiert sein müssen, aber auf Koordination – insbesondere der in Projekten

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verteilten Arbeit – ausgerichtet sind. Alternative Formen von Projektmanagement berücksichtigen die Expertise, die für die Strukturierung von Ablaufprozessen unverzichtbar ist, um Handlungs- und Gestaltungsoptionen in den einzelnen Ablaufphasen flexibel einzubinden. So gesehen werden Expertinnen und Experten selbst Treiber der sozialen dynamischen Prozesse, da ihre Expertise als unabdingbar für Innovationsfähigkeit gesehen wird bzw. der proaktive Umgang mit Unsicherheit gefördert wird, um der gleichzeitigen Rationalität und Indeterminiertheit organisationaler Prozesse Rechnung zu tragen.20 Das Interesse an alternativen Ansätzen und die jeweiligen Weiterentwicklungen deuten darauf hin, dass Expertinnen und Experten für die Bearbeitung von Schnittstellen zwischen verschiedenen Anforderungsdimensionen für eine gezielte Förderung dezentraler Autonomie unerlässlich sind. Diese Akteure fühlen sich aufgrund ihrer Expertise auf der Basis wissensbasierter Tätigkeiten ihren Aufgaben verpflichtet bzw. sie haben ein hohes professionsorientiertes Wissen, das zu bestimmtem Handeln verpflichtet, und sie beanspruchen dezentrale Autonomie. Dieser Punkt findet in den alternativen Ansätzen allerdings (noch) nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Innerhalb der alternativen Ansätze wird interaktiven und reflexiven Bearbeitungsformen eine Schlüsselrolle eingeräumt, diese wird aber nicht mit dem sozialen Handeln der Akteure verknüpft, auch ist das Handeln nicht explizit im sozialen Modus aufgegriffen, es geht eigentlich immer eher um Öffnungen gegebener Kontrollregeln. Die soziale und personale Ebene ist in den skizzierten Ansätzen eher untergeordnet. Das könnte eine bewusste Strategie sein, um lose Kopplungen der Akteure mit den jeweiligen Strukturebenen sowie in der Interaktion unter den Akteuren zu halten, also die engen Kopplungen, die in Professionalisierungsstrategien der Projektleiter gegeben sind, zu vermeiden, da sie offensichtlich den gewünschten offenen Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit nicht fördern, vielleicht auch behindern. Dennoch scheint es unerlässlich, ihnen mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, denn sie sind die Wissensträger, dynamischen Treiber und Entscheider in den Ablaufstrukturen von Projekten und verantwortlich für das Gelingen von Projekten. Um Innovationen zu fördern,

20 Grote 2009: 149ff. diskutiert dieses für die Grenzen der Kontrollierbarkeit komplexer Systeme; siehe hierzu auch den Beitrag von Johannes Weyer und Gudela Grote in diesem Buch.

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ist es notwendig, die Ungewissheit bei Innovationen anzuerkennen und gleichermaßen die Handlungsspielräume der Akteure proaktiv zu fördern, die Arbeitsform Projektarbeit nicht in dem Dilemma zwischen Direktive und Freiraum zu belassen, sondern Spielräume von Projektleitung und Akteuren zu entwickeln. Solange das professionelle Management mit strategischen Steuerungs- und Kontrollfunktionen als das dominante professionelle Handeln angesehen wird und diese strategische Ausrichtung allein für Steuerungsprozesse im Projektmanagement gilt, verbleiben Entscheidungsanforderungen im funktionalen Modus, die soziale Dimension bleibt eine nachgeordnete Dimension und damit werden vertraute und bekannte Bearbeitungsmodi nicht wirklich in Frage gestellt. Den Projektleitern obliegt dann weiterhin eine Gesamtverantwortung verbunden mit einer Dynamik, die den Zwang zum Handeln unter das Diktat von Zeit stellt, mit allen Varianten von Folgen. Das Eingehen auf die Innenseite der Organisation, die Akteursebene, ist aber unerlässlich, damit Akteure im Kontext der Außenseite des Projektmanagements als temporäre Mitarbeiter für die Personalentwicklung und ihre Einbindung in die Organisation sichtbar werden (Beckenbach u.a. 2010: 259ff.). Bleibt die Rückbindung an die Organisation auf der Personalebene außen vor, beziehen sich Kodifizierungen nicht auf eine Verzahnung von Struktur und operativen Handlungsebenen – Akteure haben somit kein direktes Forum und darüber sind kaum Spielräume für Lernen geschaffen. Dieses dürfte die so gepriesene Innovationsfähigkeit ebenfalls nicht fördern. Hier sind Forschungsbedarfe. Perspektive Der Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit wird sich nicht zurückdrängen lassen. Wissensbasierte Organisationen und die Zunahme von Projektarbeit in allen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bereichen stellen neue Herausforderungen dar. Organisationen sind infolge ihrer Geschichte anders aufgestellt, gleichwohl sehen sie sich veränderten organisationalen Lern- und Entwicklungsfähigkeiten durch Projekttätigkeiten gegenüber. Diese Begegnung erfordert ein Umdenken in den Organisationen, ein Durchbrechen von tradierten Strukturen, Prozessen und Verhaltensweisen infolge der zunehmenden Netzwerkstrukturen. Alternative Ansätze gehen diese Herausforderungen teilweise an. Ein gänzlich offenes Thema von Projektorganisation und Projektmanagement ist die Personalentwicklung. Personalentwick-

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lung steht jenseits von Projektformen, wenn die Abordnung von Mitarbeitern nicht direkt aus der Linienstruktur erfolgt. Aber infolge der Zunahme wissensbasierter Tätigkeiten in Projektstrukturen werden Mitarbeiter nicht aus Linien für begrenzte und partielle Tätigkeiten abgeordnet, die Expertinnen und Experten werden ausschließlich direkt für die Bearbeitung der Projekte eingestellt. Dadurch hat sich die personalpolitische Seite der Mitarbeiter als Experten völlig verselbstständigt – Unternehmen wie Experten arbeiten ohne Verbindlichkeiten und hindern Bildungsoptionen. Insbesondere hat sich eine Literaturgattung zu Professions- und Karriereoptionen von Projektmanagern und Projektleitern (vgl. Gessler 2009) entwickelt, die offenbar die tatsächlichen Entwicklungen der Einflussnahme von Experten auf die Projektformen nicht hinreichend wahrnimmt oder Professionalität in Projekten promotet, jedoch sind diese Professionalisierungs-21 und Karrieremodelle nicht hinreichend mit der Organisation konfiguriert, was auf eine fehlende Akzeptanz der Projektleiter hindeutet. Hier sind dringend Forschungen nötig. Voraussichtlich ist eine allgemeine höhere Kompetenz aller Experten vonnöten, und diese in losen Kopplungen über Kompetenzen wie z.B. den Umgang mit Diskontinuitäten, Krisen, den Verzicht auf Verdrängung bei Hektik, den Wechsel von Routine und Experimentalhandeln etc. Das ist auch angemessen, um der Dynamik in den Prozessphasen mehr Aufmerksamkeit und Achtsamkeit entgegenzubringen. Das würde erklären, dass offensichtlich eher Teamarbeit als die Professionalität von Projektleitern gefördert wird, also Strukturen, die Austausch, Entscheidungsfindung etc. besser auffangen als vom Projektleiter zentralistisch und hierarchisch gesteuerte Projekte. Hier sind Forschungen mit dem Schwerpunkt auf Teamentwicklung und Führungsarbeit innerhalb der heterogenen Akteursgruppen unerlässlich und damit werden die Projektkultur und die Projektarchitektur für Forschung und Entwicklung zentral.

21 Professionalisierungsstrategien weisen Verschränkungen von Sachfragen und interessenpolitischen Strukturen auf, denen in Projektstrukturen zu wenig Aufmerksamkeit zu teil wird, und damit wird Loyalität erzeugt, aber keine Bindung und kein Einsatz im Unternehmen, vgl. Kalkowski/Mickler 2009.

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Entwicklungstendenzen industrieller Forschung und Entwicklung H ARALD W OLF

E INLEITUNG Das Bild vom Innovationsprozess als gamble, als Glücksspiel, bei dem Einsätze gewagt werden in der Hoffnung auf möglichst günstige Ergebnisse, deren Zustandekommen jedoch nur begrenzt beeinflussbar ist, wurde und wird von vielen Innovationsmanagern vor allem dann immer wieder beschworen, wenn sie auf die Grenzen ihres Metiers hinweisen wollen (Shapin 2008: 142). Seit Schumpeters Versuch, Innovation als zentralen Motor des Kapitalismus durch Verweis auf das Merkmal der großen Ungewissheiten – neben dem Erfordernis von Speed und der zu überwindenden Trägheit – genauer zu bestimmen, hat auch die Innovationsforschung diesen Aspekt als konstitutiv für die Problematik theoretisch wie empirisch hervorgehoben (vgl. Fagerberg 2005). Unterschiedliche Ansätze des Innovationsmanagements können gut danach unterschieden werden, wie sie mit diesen konstitutiven Ungewissheiten als Kern des Innovationsprozesses umgehen. Die Managementkonzepte können in traditioneller Weise – und im Zeichen des Misstrauens gegenüber den Problemlösungsfähigkeiten der Akteure im Innovationsprozess selbst – vor allem auf Planung und Kontrolle abheben, um Ungewissheit gezielt und von außen zu reduzieren. Aus der Machterhalts- und Kontrollperspektive (sei es der Unternehmenseigner oder des leitenden Managements) sind solche Konzepte des Risikomanagements sogar durchaus nahe liegend, wenn sie auch zugleich das Innovationsziel gefährden. Dagegen können alternative

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Konzepte, die auf Vertrauen, das Einräumen von Spielräumen für möglichst viele Innovationsakteure und auf deren Selbstregulation setzen, aus Eigner- und Managementperspektive betrachtet zwar Machtund Kontrollverluste mit sich bringen. Sie dürften aber – so eine Annahme, die sich aus der Innovationsforschung ergibt – am ehesten dazu in der Lage sein, vorhandene Innovationspotenziale auch auszuschöpfen. Der vorliegende Beitrag skizziert einige Aspekte, aktuelle Entwicklungstendenzen und Probleme des Managements industrieller F&E. Herausgearbeitet werden zunächst die Charakteristika zweier alternativer Managementperspektiven auf die Ungewissheiten im Innovationsfeld: Risikomanagement und Ungewissheitstoleranz. Dann wird unter Rückgriff auf eigene empirische Forschung erörtert, inwieweit und mit welchen Folgen diese Perspektiven auch aktuelle Entwicklungen in der Innovationspraxis prägen, bevor schließlich die wichtigsten Ergebnisse resümiert werden.

1

R ISIKOMANAGEMENT

Die Organisation von industrieller F&E besteht in ihrem Kern, was die Gestaltung der konkreten Innovationsarbeit anbelangt, in Projektorganisation und Projektmanagement (Hauschildt/Salomo 2011: 305ff.; vgl. Kalkowski/Mickler 2009; Nausner 2006). Als »klassische, in ihren Grundzügen bis heute gültige Standardperspektive des Projektmanagements« hat sich damit aber ein Organisationsleitbild auch für Innovationsprozesse durchgesetzt, das eine traditionelle Planungs- und Kontrollzielsetzung in den Vordergrund rückt (Nausner 2006: 43). Zentrale Elemente sind der sogenannte »Stage-Gate«-Prozess (als Phasenplanung von Innovationsprojekten), eine »Work-Breakdown-Structure« (als Projektstrukturplanung), die Termin- und Ablaufplanung sowie systematisierte Soll-Ist-Vergleiche (Hauschildt/Salomo 2011: 309ff.). Der Akzent liegt eindeutig auf der Planung der Prozesse von außen und auf einer mechanistischen Grundorientierung. Die Standardperspektive des F&E-Projektmanagements erscheint als Fortführung der Theorielinie Weber – Taylor – Fayol mit anderen Mitteln: »Aus organisationstheoretischer Sicht kann man die Standardperspektive dem Theoriekanon der administrativen Verwaltungsführung zuordnen, in dem Or-

E NTWICKLUNGSTENDENZEN

INDUSTRIELLER

F&E

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ganisation, Management und Unternehmensführung unter dem Blickwinkel von Regelhaftigkeit und Präzision entfaltet wird (Scientific Management).« (Nausner 2006: 44)

Auch ernüchternde Forschungsergebnisse über die Anwendung entsprechender Projektmanagementsysteme in F&E-Prozessen irritieren die Protagonisten eines solchen Risikomanagements via Projektifizierung offenbar nicht sehr. Zahllos sind die Befunde darüber, dass Projektpläne oft nicht einzuhalten sind, dass viele Prozeduren eher legitimatorische Funktionen zu besitzen scheinen, dass neue und komplizierte Planungstools in der Praxis selten genutzt werden, dass allzu präzise Pläne sich als untauglich erweisen, dass die meisten Projektmanager nur eher triviale Instrumente und Methoden anwenden etc. Eine Infragestellung der angewandten Konzepte ist aber selten die Folge, eher ist das Gegenteil zu beobachten. »Die Reaktion der meisten AnhängerInnen der Standardperspektive ist einigermaßen verblüffend: Es werden immer mehr und immer komplexere Methoden und Instrumente aus verschiedensten Fachrichtungen in den Projektmanagementkanon eingebaut.« (Ebd.) Wie neuere Untersuchungen zeigen, wird der Risikomanagementansatz des Innovationsmanagements – übrigens parallel zu ähnlichen Tendenzen in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen (vgl. Power 2007) – offenbar durch entsprechende Macht- und Interessenkonstellationen in den Unternehmen und im Unternehmensumfeld gestärkt und gedeckt.1 Diese haben sich in vielen Untersuchungen zugunsten finanzmarktgetriebener Ausrichtungen von Innovationsentscheidungen an pseudo-exakten Kennzahlen und Analysten-Ratings und zuungunsten von Fach- und Innovationskompetenz verschoben. Eine Kurzformel für solche Konstellationen ist heute die verstärkte Kapitalmarkt-

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Im Folgenden greife ich, soweit nicht anders angegeben, auf Ergebnisse des Forschungsprojekts »Innovation und Mitbestimmung« zurück, das ich zusammen mit Hans Joachim Sperling, Jürgen Kädtler und Volker Wittke am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) in Göttingen durchgeführt habe und das von der Hans-Böckler-Stiftung finanziert wurde. Im Rahmen der Untersuchung wurden 45 Expertinnen- und Expertengespräche und 76 Beschäftigteninterviews in insgesamt 12 Unternehmen der Metall- sowie der Chemie- und Pharmaindustrie durchgeführt. Die Ergebnisse werden in Kürze in Buchform bei edition sigma, Berlin, vorliegen.

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orientierung. In der aktuellen Diskussion taucht die entsprechende Problematik unter den Rubriken Finanzialisierung, Finanzmarkt-Kapitalismus oder Shareholder-Value auf. Es stellt sich die Frage, ob die hiermit einhergehenden Tendenzen nicht die sozialen Bedingungen und Erfordernisse von Innovation(sarbeit) zunehmend unterminieren (vgl. Deutschmann 2005; Hirsch-Kreinsen 2008). Dafür gibt es in der Tat eine Reihe von Anhaltspunkten. Ökonomische und organisatorische Einflussgrößen werden von den Innovationsarbeitern selbst zunehmend als Einschränkung der professionellen Leistungserbringung und des daraus sich speisenden Innovationsprozesses wahrgenommen. Konstatiert werden eine stärkere Ökonomisierung der Unternehmens- und Betriebsorganisation sowie eine größere Abhängigkeit der F&E-Projekte von Markteinschätzungen und Renditeerwartungen als früher. Marktparameter (z.B. Produkteinführungszeiten) gelten als gut planbar bzw. werden vom Management als fix gesetzt. Demgegenüber wird der Zeit- und Ressourcenbedarf der Innovationsarbeit mit seinen vielfältigen Unwägbarkeiten und Planungsunsicherheiten unter dem Druck der Ökonomisierung als ebenso kalkulierbar und planungssicher behandelt wie andere Größen. Das schlägt auf die fachliche Aufgabenerledigung durch – mit der starken Tendenz, lieber nicht zu viel Ungewissheit zu tolerieren und sich im Zweifel gegen zu viel Innovation zu entscheiden. Mit Ökonomisierung, den kontinuierlichen Organisationsumbauten (vor allem in multinationalen Unternehmen) und neuerlichen (IT-gestützten) Planungs- und Kontrolldurchgriffen auf F&E wachsen aber zugleich die Ungewissheiten (die durch die Prozesse doch ausgetrieben werden sollten). Das Hauptproblem besteht unter solchen Bedingungen offenbar nicht selten darin, überhaupt noch eine gewisse Prozesssicherheit zu gewährleisten und gerade das dafür nötige Erfahrungswissen älterer Innovationsarbeiter noch (oder wieder) ins Spiel zu bringen (vgl. Grewer u.a. 2007).

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U NGEWISSHEITSTOLERANZ

Angesichts der geschilderten Planungs- und Kontrolllogik ist es umso wichtiger zu betonen, dass es wirkungsmächtige Alternativen gibt. Die Realgeschichte der industriellen F&E-Organisation, des F&E-Managements und der Innovationspraxis des 20. Jahrhunderts ist reich an Beispielen, bei denen ganz andere Organisationsprinzipien zum Tragen

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kommen, ja hochgehalten werden (vgl. Shapin 2008, Kap. 5 und 6). Bis zur Mitte des Jahrhunderts wurde sogar von deren Dominanz gesprochen. Eine der einflussreichsten Galionsfiguren der privatwirtschaftlichen konzerngetriebenen F&E in den USA etwa, C.E. Kenneth Mees (1882–1960), der Gründer und langjährige Leiter des legendären Eastman Kodak Research Laboratory, propagierte dort bis in die 1950er Jahre Organisationskonzepte, die eingestandenermaßen von der weitgehenden Nicht-Planbarkeit der Forschungs- wie auch der meisten Entwicklungsarbeiten (!) ausgingen und die als »laissez-faire laboratory non-organization« bezeichnet wurden (Mees, zit. n. ebd.: 140). Die schlichte – ungewissheitstolerante – Leitlinie von Mees, die er auch in Lehrbüchern empfahl, lautet: »In actual [research and development] practice, the individual can be assigned a problem or problems on which he is expected to report regularly and is allowed to spend the remainder of his time on work of his own choosing as long as it is in the field of the laboratory’s interests.« (Mees, zit. n. ebd.: 136f.)

Gesetzt wurde auf die professionelle Selbstdisziplin der als Innovationsarbeiter tätigen Wissenschaftler und Techniker, denen das – ebenfalls aus Wissenschaftlern und Technikern bestehende – Innovationsmanagement Vertrauen entgegenbrachte bzw., da Innovationsarbeit eben als kaum kontrollierbar galt, entgegenbringen musste (vgl. hierzu auch Burns/Stalker 1994). Auch gegenwärtig gibt es durchaus Gegenkräfte in den Unternehmen zum Risikomanagementprozess des Innovationsmanagements. So ist die Einflussposition der F&E-Einheiten im Unternehmen in den von uns untersuchten Fällen (noch) stark genug – und keineswegs z.B. vom betriebswirtschaftlichen Controlling völlig »unterworfen« –, um sich relevante Freiräume zu sichern. »Mit noch so ausgefeilten Controlling-Instrumenten können Sie keine Innovationen erzwingen« – diese Aussage aus einem Unternehmen steht nicht allein. Trotz gewachsenem Legitimations- und Erfolgsdruck scheint es um die Ermöglichungsbedingungen für unkonventionelle und unvorhergesehene Innovationsverläufe, für das Umsteuern, das produktive Warten auf neue Projekte in vielen Fällen immer noch recht gut bestellt zu sein. Innovation und Innovationsarbeit werden durch eine Shareholder-Value-Orientierung also nicht einfach und unwiderruflich behindert oder beschädigt. Neue ungewissheitstolerantere Balancen zwischen Markt-, Organisations- und Innova-

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tions(-arbeits-)logiken sind möglich. Sie sind aber sehr voraussetzungsvoll und auf passende Interessenarrangements und Aushandlungsprozesse der betrieblichen Akteure angewiesen. 2.1 Kooperationskulturen In F&E fallen in der Regel Innovationsarbeiter unter die Beschäftigtenkategorie der »hochqualifizierten Angestellten«, deren Arbeitsbedingungen insgesamt unter starken Veränderungsdruck geraten (vgl. Boes/Trinks 2006; Heisig/Ludwig 2004; Kotthoff/Wagner 2008). Vor allem in der Diskussion zu Communities of practice werden bei diesen Beschäftigten allgemein die sowohl für deren Selbstbild wie ihre Interessenorientierungen wichtigen Dimensionen der Arbeits- und Kooperationserfahrungen thematisiert (vgl. Brown/Duguid 1991; BraunThürmann 2005). Solche »Kooperationskulturen« von Innovationsarbeiter sind auch und gerade für die Fähigkeit der Ungewissheitsbewältigung und den Innovationserfolg hoch relevant. Solche Kulturen liegen quer zu der Beziehung der Innovationsarbeiter zum Unternehmen und zu ihrer Arbeitsmarkt- wie teilweise auch zu ihrer Berufsrolle. Sie fokussieren die gemeinsam zu bearbeitenden Innovationsziele bzw. -objekte und entfalten nach unseren Befunden eine durchaus eigenständige identitätsstiftende Kraft. Entwicklung und längerfristiger Erhalt solcher Kulturen setzen aber Sicherheit und Stabilisierung entsprechender Bindungen voraus. Das gibt dem allgemeinen Interesse von Arbeitnehmern an der Sicherheit von Arbeit und Beschäftigung hier seine besondere Tönung. Internationalisierung von Innovationsaktivitäten und stärkere Finanzmarktorientierung lösen in den F&E-Bereichen, wie ansatzweise gezeigt, gravierende Veränderungen aus. Permanente Organisationsumbauten, Stellenabbau und Eigentümerwechsel führen auch hier zu wachsender Unsicherheit und Verunsicherung. Gerade dadurch, so ein weiterer wichtiger Befund, ist die Bedeutung von Betriebsrat und Mitbestimmung als Garanten eines abgesicherten, regulierten Arbeits- und Beschäftigungsumfeldes aus der Sicht der Innovationsarbeiter aufgewertet worden. Soziale Sicherheit als Interessenbezug wie als Innovationsbedingung ist für Innovationsarbeiter ein vorrangiges Thema. Das erscheint nur verwunderlich, wenn Sicherheit und »Freiheit« oder Sicherheit und Erneuerung für Gegensätze gehalten werden. Soziale Sicherheit, hier vor allem im Sinne von Beschäftigungssicherheit

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und -stabilität, wird in Innovationsprozessen aber geradezu zur Vorbedingung einer vernünftigen Bewältigung der großen Handlungsungewissheiten: Nur durch Stabilisieren längerer Zweckreihen und AufDauer-Stellen der nötigen gemeinsamen Handlungs- und Lernspielräume ist eine solche Bewältigung längerfristig überhaupt möglich. Der Befund bestätigt eine bereits ältere Erkenntnis aus der Soziologie der Sozialpolitik (vgl. Vorbruba 2009) auf vielleicht zunächst unerwartete Weise und verdient auch aus gesellschaftspolitischen Gründen besondere Beachtung. Erst auf der Grundlage entsprechender Sicherheiten – wie insbesondere einer Stabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen – können sich jene Kooperationskulturen entwickeln, von denen zuvor die Rede war. 2.2 Selbstregulierung Auf Basis von Kooperationskulturen in F&E und – im günstigen Fall – gestützt von Arrangements relativer sozialer Sicherheit konnte sich ein relativ hohes Maß an Selbstregulierungskompetenzen bei den Innovationsarbeitern entfalten. Durch diese Kompetenzen wird gleichsam die Bewältigung der Ungewissheit von unten gewährleistet. Charakteristisch ist, dass die Festlegung und Ausgestaltung der Spielregeln von Kooperation und Innovation in den Unternehmen keineswegs allein »Chefsache« ist. Sie sind vielmehr Gegenstand dauernder Reflexion und Kommunikation unter den Innovationsarbeitern selbst. Eine solche Dauerreflexion über Sinn und Angemessenheit geltender Regelungen ist gewissermaßen schon in einer Art von Arbeit angelegt, die immer wieder ihre eigenen Prämissen in Frage zu stellen hat und zumindest im Kleinen, etwa der Projektorganisation, häufig zur Neujustierung zwingt. Es geht aber nicht selten auch über dieses ständige Erfordernis der Selbstregulierung im Kleinen hinaus: in Richtung eines kritischen Reflektierens und eines artikulierten Bedarfs am Mitbestimmen über die Regeln der Arbeitsorganisation insgesamt. Ökonomisierungstendenzen gefährden allerdings nicht nur Kooperationskulturen und soziale Sicherheit, sondern auch die Bedingungen des Erhalts und der Weiterentwicklung solcher Selbstregulierungskompetenzen und -spielräume. Angesichts permanenter organisatorischer Umstrukturierungen und der Beschleunigung der Innovationsprozesse wird das Vorhalten von Kenntnissen und erfahrungsgesättigtem Fachwissen, die bei Bedarf ganz selbstverständlich abgerufen wer-

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den können, immer mehr erschwert. Konstatiert wird die Erosion von rasch verfügbarem Erfahrungswissen und von abfedernden informellen Strukturen (Hack/Hack 2005: 219f. und 292f.; vgl. Grewer u.a. 2007). Auch die in gewachsenen Kooperationskulturen erlernte und ausgeübte hohe Selbstregulierungskompetenz, essenziell für die tagtägliche produktive Bewältigung von Ungewissheit, scheint heute zunehmend geschwächt und gefährdet.

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A USBLICK

Die erkennbaren Entwicklungstendenzen in der aktuellen Innovationspraxis – etwa die zunehmende Kapitalmarktorientierung vieler Unternehmen einerseits und die zugleich noch vorhandene Vitalität innovationsförderlicher Kooperationskulturen andererseits – verweisen auf zweierlei: auf die hohe Relevanz von sozialer Sicherheit und von Selbstregulierungskompetenzen von Innovationsarbeitern als Bedingungen von Innovationserfolg, aber auch auf deren Gefährdung. Der wachsende Ökonomisierungsdruck gefährdet sie, die Pflege der Kooperationskulturen könnte sie fördern. Letzteres hätte mehr Ungewissheitstoleranz und Vertrauen – statt Risikomanagement und organisiertes Misstrauen – zur Voraussetzung. Wie diese Voraussetzungen im Einzelnen geschaffen und erhalten werden können, ist noch nicht genügend erforscht. Gerade im Hinblick auf die konkreten Formen und Prozesse von Innovationsarbeit (Tätigkeiten, Kooperationsstrukturen, informelle Regelungen, Communities of practice, Innovations- und Projekt-Ökologien) besteht erheblicher Forschungsbedarf. Dabei muss Innovationsarbeit künftig auch mehr als früher über die betrieblichen und organisatorischen Grenzen hinaus und quer zu diesen untersucht werden, denn Innovationsverläufe sprengen Unternehmensgrenzen und die Schlüsselfaktoren für den letztlichen Innovationserfolg finden sich auch nicht nur im Inneren von einzelnen Organisationen. Aktuell diskutierte Ansätze wie »Open Innovation«, »User Innovation« oder »Cumulative Innovation« weisen durchaus in diese Richtung (vgl. Bogers/West 2010; Hippel 2005). Diese Forschungsansätze und ihre Pendants in der Managementpraxis können als Teil einer Suchbewegung gedeutet werden, die nach Öffnungen eines einseitig auf betriebliche Planung und Kontrolle gepolten Innovationsmanage-

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ments sucht: als Gegenbewegung zu einem auf Ausschluss von Ungewissheit abstellenden Risikomanagement der Innovation, mit toleranterem Blick auf interne wie externe Ungewissheiten, um sie für Innovationsziele besser zu nutzen. Vor allem aber muss künftige Forschung danach fragen, wie die immer noch vorherrschende, tief in den etablierten Organisationsstrukturen und -leitbildern verankerte Standardperspektive eines Risikomanagements der Innovation erschüttert und vielleicht sogar überwunden werden kann. Wie angedeutet, ist diese Standardperspektive nicht zuletzt in Macht- und Kontrollinteressen verankert. Zu fahnden wäre nach den für eine Überwindung jener Standardperspektive günstigen Machtkonstellationen und Interessenkoalitionen: Welche Strategien verfolgen hier die unterschiedlichen »Stakeholder«? Und welche Rolle können hier Mitbestimmungsinstitutionen und Mitbestimmungsakteure wie der Betriebsrat spielen, der wie erwähnt ja mancherorts aus Sicht von Innovationsarbeitern bereits eine Aufwertung erfahren hat (in dieser Richtung: vgl. Sperling/Wolf 2010)? Für Innovation sind zwar Ungewissheiten konstitutiv, sie ist aber deswegen keinesfalls ein regelloser Prozess. Er wird durch Planung und Kontrolle immer schon – und eben keineswegs nur, wie die Forschung zeigt, im positiven Sinne und oft im Übermaß – »verregelt«. Zumindest als Gegengewicht gegen die anhaltenden Verregelungstendenzen – und im Sinne einer Ungewissheitstoleranz und der Bewältigungsperspektive auf Ungewissheit – wäre auch offiziell auf das Einräumen von mehr Selbstregulierungskompetenz in den Innovationsprozessen hinzuwirken. Zentrale Voraussetzungen dafür sind eine Vertrauensorganisation und mehr Handlungsspielräume für die eigentlichen Innovationsarbeiter in den Forschungslaboren und Entwicklungsbüros. Die Forderung nach einer »Demokratisierung von Innovation« meint bei Hippel (2005) vor allem die Anerkennung und das »Empowerment« der Nutzer als Innovationsakteure. Die Forderung nach einer Demokratisierung wäre zu erweitern und explizit und offensiv aus der Perspektive aller an Innovationsprozessen Beteiligten zu stellen. Den Risiken eines breiten »Empowerment« der Innovationsarbeiter – insbesondere ein Machtverlust der Planer und Kontrolleure – stehen, durch Befunde der Innovationsforschung gut belegte, Chancen höherer Innovationsraten und Innovationserfolge gegenüber. Was als wichtiger zu bewerten ist, hängt nicht zuletzt von den Präferenzen der Akteure im Unternehmen und den Kräfteverhältnissen zwischen ihnen ab.

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L ITERATUR Braun-Thürmann, Holger (2005): Soziologie der Innovation, Bielefeld: transcript. Boes, Andreas/Trinks, Katrin (2006): »Theoretisch bin ich frei!« Interessenhandeln und Mitbestimmung in der IT-Industrie, Berlin: edition sigma. Bogers, Marcel/West, Joel, (2010): »Contrasting Innovation Creation and Commercialization within Open, User and Cumulative Innovation« (Paper to be presented at the Academy of Management, Montréal, Aug 9-10, 2010. http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm? abstract_id=1751025. Zugegriffen am 19. April 2011. Brown, John Seely/Duguid, Paul (1991): »Organizational Learning and Communities-of-Practice: Toward a Unified View of Working, Learning, and Innovation«, in: Organization Science 2 (1): 40–57. Burns, Tom/Stalker G.M. (1994): The Management of Innovation, 3. Aufl., Oxford/New York: Oxford University Press. Deutschmann, Christoph (2005): »Finanzmarkt-Kapitalismus und Wachstumskrise«, in: Paul Windolf (Hg.), Finanzmarkt-Kapitalismus – Analysen zum Wandel von Produktionsregimen (KfZSS, Sonderheft 45), 58–84. Fagerberg, Jan (2005): »Innovation: A Guide to the Literature«, in: Jan Fagerberg/David C. Mowery/Richard R. Nelson (Hg.), The Oxford Handbook of Innovation, Oxford/New York: Oxford University Press, 1–26. Grewer, Hans G./Matthäi, Ingrid/Reindl, Josef (2007): Der innovative Ältere. Warum die Entwickleruhr länger als sieben Jahre tickt, München/Mering: Rainer Hampp. Hack, Lothar/Hack, Irmgard (2005): Wissen, Macht und Organisation. Internationalisierung industrieller Forschung und Entwicklung – ein Fallvergleich, Berlin: edition sigma. Hage, Jerald (2000): »Die Innovation von Organisationen und die Organisation von Innovationen«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 11 (1): 67–86. Hauschildt, Jürgen/Salomo, Sören (2011): Innovationsmanagement, 5. Aufl., München: Vahlen. Heisig, Ulrich/Ludwig, Thorsten (2004): Regulierte Selbstorganisation. Arbeitssituationen und Arbeitsorientierungen von Wissens-

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F&E

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arbeitern in einem High-Tech Unternehmen, IAW Forschungsbericht 6/Juli 2004. Hippel, Eric v. (2005): Democratizing Innovation, Cambridge/Mass.: MIT Press. Hirsch-Kreinsen, Hartmut (2008): »Technologische Innovationen und Bedingungen des Finanzmarktes«, Beitrag zur Tagung »Theoretische Ansätze der Wirtschaftssoziologie«, Berlin, 18.-19. Februar 2008. Kalkowski, Peter/Mickler, Otfried (2009): Antinomien des Projektmanagements. Eine Arbeitsform zwischen Direktive und Freiraum, Berlin: edition sigma. Kotthoff, Hermann/Wagner, Alexandra (2008): Die Leistungsträger. Führungskräfte im Wandel der Firmenkultur – eine Follow-up-Studie, Berlin: edition sigma. Nausner, Peter (2006): Projektmanagement. Die Entwicklung und Produktion des Neuen in Form von Projekten, Wien: WUV. Power, Michael (2007): Organized Uncertainty. Designing a World of Risk Management, Oxford/New York: Oxford University Press. Shapin, Steven (2008): The Scientific Life. A Moral History of a Late Modern Vocation, Chicago: University of Chicago Press. Sperling, Hans Joachim/Wolf, Harald (2010): »Zwischen Sicherung und Gestaltung – Varianten mitbestimmter Innovation in der Industrie«, in: WSI-Mitteilungen 63 (2): 79–86. Vobruba, Georg (2009): Die Gesellschaft der Leute. Kritik und Gestaltung der sozialen Verhältnisse, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.

Grenzen technischer Sicherheit Governance durch Technik, Organisation und Mensch J OHANNES W EYER /G UDELA G ROTE

E INLEITUNG Spektakuläre Unglücke wie die Explosion der Ölbohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko am 20. April 2010 oder die nukleare Katastrophe im japanischen Fukushima, die mit dem Erdbeben und dem anschließenden Tsunami am 11. März 2011 begann, werfen immer wieder die Frage nach der Beherrschbarkeit komplexer technischer Systeme auf. Wenn Öl aus mehreren tausend Metern Tiefe gefördert wird, dann birgt dies offenkundig schwer beherrschbare Risiken – ähnlich denen, die beim Transport von Menschen ins All mithilfe flugzeugähnlicher Raumgleiter auftreten. Ob derartige Techniken beherrschbar sind, führt unmittelbar zu der Frage, über welche Fähigkeiten Menschen verfügen müssen, die derartige Systeme entwickeln oder bedienen, aber auch zu der Frage, wie Organisationen beschaffen sein müssen, in denen an und mit komplexen Systemen gearbeitet wird. Und schließlich muss sich die Gesellschaft darüber im Klaren sein, dass sie erhebliche Risiken eingeht, wenn sie im Vertrauen auf die Beherrschbarkeit komplexer Systeme zulässt, dass Grenzen des technisch Machbaren immer weiter ausgedehnt werden, um ökonomischen Anforderungen gerecht zu werden. Der Übergang vom DreiPersonen- zum Zwei-Personen-Cockpit bei Zivilflugzeugen Ende der 1980er Jahre oder die Verringerung des vertikalen Mindestabstandes für Flugzeuge im oberen Luftraum von 2000 auf 1000 Fuß, die 2002 beschlossen wurde, sind Beispiele dafür, ein erhöhtes Risiko einzuge-

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hen (bzw. zuzulassen), um Kosten zu sparen oder die Auslastung der Systeme zu verbessern. Selbst technische Neuerungen, die im Bestreben eingeführt wurden, die Sicherheit zu verbessern, tragen unter Umständen dazu bei, die Komplexität des Gesamtsystems zu erhöhen und damit die Risiken zu steigern. Ein Beispiel ist das Traffic Alert and Collision Avoidance System (TCAS), das in den meisten neueren Flugzeugen im Jahr 2000 eingeführt wurde, um gefährliche Annäherungen von Flugzeugen zu verhindern. Zuvor war ausschließlich die Flugsicherung dafür zuständig, dass Flugzeuge im Luftraum einen ausreichenden horizontalen und vertikalen Abstand einhielten; aber in überfüllten Lufträumen kam es dennoch immer wieder zu Zwischenfällen oder sogar Unfällen (vgl. Deuten 2003). TCAS wurde daher als ein zusätzliches Assistenzsystem an Bord der Flugzeuge implementiert, das die Piloten unabhängig von der Flugsicherung vor gefährlichen Annäherungen warnt. Zudem tauschen die Bordrechner der Flugzeuge alle relevanten Informationen aus und generieren daraus eine aufeinander abgestimmte Ausweichempfehlung derart, dass eines der Flugzeuge in den Steigflug, das andere in den Sinkflug geht, um so eine drohende Kollision vermeiden. Der nächtliche Zusammenstoß zweier Flugzeuge am 1. Juli 2002 über dem Bodensee zeigte diverse Schwächen dieses Systems auf. Durch das Unglück wurde klar, dass das unkoordinierte Nebeneinander einer zentralen Koordination durch die Flugsicherung und einer dezentralen Koordination mittels TCAS zu schwer überschaubaren Konfliktsituationen führen kann, also seinerseits eine Quelle neuartiger und kaum beherrschbarer Risiken darstellt (vgl. Weyer 2006; Grote 2009b). Der folgende Beitrag unternimmt zunächst einen Versuch, den Begriff der Komplexität in soziologischer Perspektive zu definieren, stellt dann zwei Strategien zum Umgang mit Komplexität bzw. der daraus resultierenden Unsicherheit zur Diskussion und geht schließlich der Frage nach, welche Veränderungen mit dem vermehrten Einsatz autonomer Technik einhergehen und welche Formen der Governance hochautomatisierter Systeme zukünftig gefordert sind.

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K OMPLEXE S YSTEME

Komplexe Systeme bestehen typischerweise aus einer großen Zahl von Komponenten, deren Interaktionen kaum durchschaubar sind. Zwar

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sind in den meisten Fällen die Mechanismen auf der Mikro-Ebene bekannt, dennoch ergeben sich auf der Makroebene oftmals überraschende und nicht vorhersagbare Effekte (vgl. Richter/Rost 2004; Weyer 2009). Ein illustratives Beispiel ist der Verkehrsstau: Obwohl sich die Aktionen auf der Mikroebene des Fahrzeugs mit einfachen Algorithmen beschreiben lassen und obwohl die Regeln der Interaktion zwischen den Fahrzeugen bekannt sind, ist es schwer, die Entstehung von Makrophänomenen wie Staus präzise vorherzusagen. Oftmals entstehen sie praktisch aus dem Nichts. Zudem entwickeln sie ein eigentümliches, emergentes Verhalten: Obwohl sich die Fahrzeuge allesamt vorwärts bewegen, bewegt sich der Stau mit einer konstanten Geschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung, wobei die Teilnehmer stetig wechseln (vgl. Resnick 1995; Epstein/Axtell 1996). Komplexe Systeme sind daher nur schwer zu beeinflussen bzw. zu steuern. Eingriffe von außen führen oftmals zu unerwünschten bzw. gegenteiligen Effekten oder verpuffen vollkommen. Die Unvorhersehbarkeit des Verhaltens komplexer Systeme wie auch die Nicht-Kontrollierbarkeit der ablaufenden Prozesse sind wesentliche Merkmale, auf die die sozialwissenschaftliche Komplexitätsforschung immer wieder verweist. So hat Charles Perrow in seinem Buch »Normale Katastrophen« (1987) die These aufgestellt, dass bestimmte Typen von Systemen, deren Prozesse eng gekoppelt und durch komplexe Interaktionen gekennzeichnet sind, nahezu zwangsläufig scheitern werden. Ein zentrales Argument, mit dem er die NichtBeherrschbarkeit komplexer Systeme begründete, ist die Nicht-Linearität der systemischen Interaktionen. Nicht-Linearität entsteht zum Beispiel durch Rückkopplungsschleifen, wie sie etwa bei Klimaphänomenen bekannt sind: Der erhöhte Ausstoß von CO2 lässt die Permafrostböden in Sibirien auftauen, wodurch wiederum große Mengen CO2 freigesetzt werden, die ihrerseits den Treibhauseffekt beschleunigen usw. Derartige Prozesse sind rekursiv und irreversibel; zudem beschleunigen sie sich eigendynamisch. Hohe Komplexität und die damit einhergehende mangelnde Transparenz, Vorhersehbarkeit und Beeinflussbarkeit bedingen immer auch einen hohen Grad an Unsicherheit für die in diesen Systemen handelnden Menschen. Unvollständige und schwer interpretierbare Information sowie unklare und schwer bewertbare Handlungsalternativen erschweren die Entscheidungsfindung und -umsetzung und werden von

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den Entscheidungsträgern oft als bedrohlich erlebt. Welche grundsätzlichen Strategien in Organisationen gewählt werden und mit welchen Konsequenzen, wird im folgenden Abschnitt behandelt.

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S TRATEGIEN

ZUM

U MGANG

MIT

U NSICHERHEIT

Im Prinzip lassen sich zwei Ansätze zum Umgang mit Unsicherheit unterscheiden: die Minimierung von Unsicherheit durch antizipative Planung und die Bewältigung von Unsicherheit durch flexibles Handeln am Ort des Geschehens (die folgenden Abschnitte basieren auf Grote 2009b). Minimierung von Unsicherheit Der erste Ansatz eignet sich insbesondere für geschlossene, mechanische Organisationen, deren Abläufe leicht vorhersehbar sind und deren Umwelt wenig turbulent ist (bzw. für Organisationen, die unterstellen, das dem so sei). Hier gibt es eine zentrale Instanz, die (vorab) einen strategischen Plan entwirft, der im operativen Geschäft dann strikt abgearbeitet wird. Auf diese Weise soll jedwede Unsicherheit von vornherein eliminiert werden. Was in dieser Kurzform wie ein Zerrbild vergangener Tage wirken mag, ist gängige Praxis in Organisationen, in denen die Prozesse ITgestützt ablaufen. Denn die Implementierung organisationaler Prozesse in Form von Software bedeutet ja nichts anderes, als dass die Abläufe vorab geplant werden und dass alle Eventualitäten im Design bereits berücksichtigt sind. Dies kann entweder bedeuten, dass die Software sehr umfangreich und daher tendenziell komplex ist, weil sie eine große Zahl von Eventualitäten abbildet. Oder sie ist zwar einigermaßen ›schlank‹ und überschaubar, bietet aber in unerwarteten Fällen keine praktikable Lösung und behindert evtl. sogar ein flexibles Umgehen mit Störungen, weil die Prozesse derart verriegelt sind, dass keine Spielräume für ein flexibles Eingreifen existieren. Eine Automatisierung organisationaler Prozesse beinhaltet also immer die Unterstellung, dass die Organisation mechanisch funktioniert und zentral geplant werden kann – und dass zudem sämtliche Prozesse durch einen Soll-Ist-Abgleich leicht kontrolliert werden können. Ein derartiger Kontrollwahn zeigt spätestens in nicht-antizipierten Situatio-

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nen seine Schwächen, wenn sich die Grenzen des Wissens auftun und flexible Strategien des Umgangs mit Nicht-Wissen gefragt sind. Bewältigung von Unsicherheit Ein derartiges flexibles Krisenmanagement erfordert eine andere Organisationsstruktur und eine andere Form der Koordination und Planung. Der zweite Ansatz zum Umgang mit Unsicherheit akzeptiert daher zunächst die Tatsache, dass vielfältige Unsicherheiten bestehen, die nicht vorab weggeplant werden können, sondern im praktischen Handeln am Ort des Geschehens bewältigt werden müssen. Unsicherheit wird hier also durchaus als Chance gesehen, als mögliche Quelle von Lernprozessen und Innovationen. Um in schwer planbaren Situationen flexibel agieren zu können, benötigen die Operateure jedoch die erforderlichen Ressourcen für situationsadäquate Entscheidungen und Handlungen sowie das nötige Erfahrungswissen (vgl. Bauer u.a. 2006; Böhle u.a. 2004). Dieser Ansatz setzt also auf lokale Autonomie und ein wesentlich geringeres Maß an Kontrolle. Die Planung vollzieht sich viel stärker dezentralisiert, wobei Pläne – im Sinne von Lucy Suchman (2007) – als Ressource für situiertes Handeln verstanden werden. Es versteht sich von selbst, dass sich dieser Ansatz nicht mit Automationsstrategien verträgt, die auf eine weitgehende Verdrängung oder Ersetzung des Menschen zielen. Der Mensch ist in einem derartigen Szenario die wichtigste Ressource, die das reibungslose Funktionieren eines komplexen Systems auch in nicht-antizipierten Situationen gewährleisten kann. Wie oben bereits erwähnt, hat allerdings auch dieser Ansatz einer flexiblen Bewältigung von Unsicherheit gewisse Schwächen, zumindest wenn es um die Steuerung eines komplexen, sicherheitskritischen Systems mit vielen Teilnehmern geht. Allein auf Selbstorganisation zu setzen, erscheint eine riskante Strategie; ohne ein Minimum an Abstimmung und Planung kommen Personen hier vermutlich nicht aus. Lose Kopplung Seit geraumer Zeit werden daher Vorschläge diskutiert, wie die Stärken der beiden beschriebenen Ansätze kombiniert werden können, ohne sich ihre Schwächen einzuhandeln. Das Konzept der High-Reliability-Theorie (HRO) hat bereits Anfang der 1990er Jahre die Idee eines ›Switch‹ zwischen verschiedenen Modi propagiert, die eine Organisation gleichermaßen beherrschen muss, wenn sie ein sicherheitskri-

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tisches System erfolgreich managen will. Je nach Bedarf operiert die Organisation also im bürokratischen Modus der Minimierung von Unsicherheit oder im selbstorganisierten Modus der flexiblen Bewältigung von Unsicherheit (vgl. LaPorte/Consolini 1991; Roberts 1993). Auch wenn dies theoretisch unmöglich zu sein scheint, so hat sich dieses Konzept – folgen wir den Vertretern dieses Ansatzes – in der Praxis bewährt. Tabelle 1: Die drei Modi der Organisation Minimierung

Bewältigung

Umgang mit Unsicherheit Organisation als …

Vermeidung

Nutzung

geschlossenes System (Stabilität)

offenes System (Flexibilität)

Koordination durch …

zentrale Planung

dezentrale Selbstorganisation

Autonomie/ Kontrolle

Zentral

Lokal

Lose Kopplung (Kombination von beidem) dynamische Balance von Stabilität und Flexibilität flexibler Wechsel zwischen Planung und Improvisation Autonomie zweiter Ordnung

Quelle: Grote 2009b: 31, mit Modifikationen.

Die Gleichzeitigkeit von Planung und Selbstorganisation rekurriert auf Karl Weicks Idee der losen Kopplung, die nicht mit dem Perrow’schen Begriff der losen (gleichgesetzt mit geringer) Kopplung verwechselt werden sollte. Weick zielt vielmehr, ähnlich wie die Vertreter des HRO-Ansatzes, auf die Fähigkeit einer Organisation, unterschiedliche Modi des Umgangs mit Unsicherheit zu beherrschen und zwischen ihnen flexibel wechseln zu können. Lose Kopplung bedeutet also, eine produktive Balance zwischen Stabilität und Flexibilität zu finden. Organisationen, die diesen Ansatz vertreten, sind in der Lage, Planung und Improvisation zu kombinieren. Die Integration dieser scheinbar widersprüchlichen Anforderungen geschieht durch eine starke Organi-

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sationskultur, die den Organisationsmitarbeitern die nötigen Orientierungen vermittelt und ihr lokales Handeln an die globalen, konsentierten Ziele rückbindet. Eine zentrale Voraussetzung für die Realisierung dieses neuartigen Ansatzes einer kollaborativen Planung ist eine Autonomie zweiter Ordnung (»higher order autonomy«), die den Beteiligten gestattet, nicht nur autonom zu entscheiden, was in einer konkreten Situationen zu tun ist, sondern auch mitzuentscheiden, wie operative Autonomie durch das Design der Organisation und die Rollenverteilung zwischen Mensch und Technik realisiert wird. In den folgenden Abschnitten wird der Frage nachgegangen, inwieweit neuere technische Entwicklungen lose Kopplung im Weick’schen Sinne fördern oder behindern und welche Konsequenzen sich daraus für neue Formen von Governance in Organisationen ergeben, um einen angemessenen Umfang mit Komplexität und Unsicherheit zu unterstützen.

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A UTONOME

UND VERNETZTE

T ECHNIK

Der zunehmende Einsatz von Technik, beispielsweise in Atomkraftwerken oder Chemieanlagen, hat die Komplexität der resultierenden soziotechnischen Systeme drastisch erhöht. Nicht-lineare Prozesse (z.B. Kettenreaktionen) machen die Systeme schwer durchschaubar und tragen dazu bei, dass kritische Situationen kaum beherrschbar sind. Folgen wir der Analyse von Perrow, so bleibt keine andere Option, als diese hochtechnisierten Hochrisikosysteme abzuschaffen oder zumindest zu entschärfen. Fakt ist allerdings auch, dass immer mehr technische Infrastruktursysteme, auf die die moderne Gesellschaft sich verlässt, in den letzten Jahrzehnten zu eng gekoppelten, komplexen Echtzeitsystemen geworden sind. Der Trend geht also offenkundig in eine Richtung, die Perrows Vorschlägen diametral entgegengesetzt ist. Der Schienenverkehr ist ein illustratives Beispiel: Während vor einigen Jahrzehnten noch ausreichend Puffer existierten, um Verspätungen aufzufangen, ist das System heute dermaßen eng getaktet, dass bereits wenige Minuten Verspätung eines Zuges lawinenartig dazu führen können, das gesamte System aus dem Gleichgewicht zu bringen. In einer Gesellschaft, die immer stärker vernetzt ist und in der alle Prozesse sich immer stärker beschleunigen, erscheint es mithin fast illusorisch, den von Perrow vorgeschlagenen Weg zu gehen.

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Und es überrascht durchaus, wie selten die komplexen Infrastruktursysteme etwa im Verkehrs- oder im Energiebereich zusammenbrechen. Zwar gibt es immer wieder spektakuläre Meldungen über Stromausfälle oder Zugverspätungen; aber anhand der objektiven Leistungsdaten lässt sich die These, dass komplexe Systeme zunehmend außer Kontrolle geraten, kaum belegen. Ihre Verfügbarkeit ist erstaunlich hoch (vgl. de Bruijne 2006). In der Diskussion über die Auswirkungen von Technikeinsatz auf die Beherrschbarkeit der Systeme ist zu berücksichtigen, dass sich die Natur der eingesetzten Technik laufend ändert. Während in frühen Stufen der Mechanisierung vor allem manuelle Aufgaben von technischen Systemen übernommen wurden, beinhaltet die Automatisierung zunehmend auch die Übernahme von Entscheidungsprozessen durch die Technik. Je weniger algorithmisiert und immer gleich solche Entscheidungen in der Technik ablaufen bzw. je mehr Variationen und Adaptionen der Prozesse durch die Technik eigenständig bewältigt werden können, wird auch von autonomer oder smarter Technologie gesprochen. Mit der zunehmenden Autonomie der Technik stellen sich Fragen der Beherrschbarkeit neu, was im Folgenden aufgezeigt wird. 3.1 Beherrschbarkeit autonomer Technik Der Befund einer tendenziellen Nicht-Beherrschbarkeit komplexer technischer Systeme hängt in hohem Maße von der zunehmenden Automatisierung der Prozess-Steuerung und damit auch von prozessbezogenen Entscheidungsprozessen ab, wie sie sich bspw. in der industriellen Produktion, aber auch in unterschiedlichen Verkehrssystemen vollzogen hat. Industrieanlagen, Flugzeuge oder Nahverkehrssysteme werden schon seit Jahrzehnten nicht mehr manuell gesteuert, sondern von Computern, die inzwischen selbst im Störfall große Teile der Entscheidungs- und Ausführungsprozesse eigenständig übernehmen können. Seit den 1980er Jahren erfolgt die Prozess-Kontrolle zudem in immer stärkerem Maße über digitale Anzeige- und Eingabegeräte statt über analoge Anzeigen bzw. manuelle Hebel und Schalter. Im Airbus A320, der 1988 auf den Markt kam, werden die Daten, welche die Systeme an Bord des Flugzeugs generieren, zunächst vom Bordcomputer verarbeitet und erst dann dem Piloten in aufbereiteter Form präsentiert. Und umgekehrt werden die Steuerbefehle, die der Pilot gibt, vom Bordcomputer zunächst auf ihre Zulässigkeit hin über-

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prüft und erst danach an die Systeme weitergeleitet. Die Interaktion zwischen dem menschlichen Operateur und dem technischen System wird also über elektronische Steuerungssysteme vermittelt. Dies erhöht die Sicherheit und den Komfort, kann aber auch eine Quelle neuartiger Risiken sein. Piloten sehen sich selbst bspw. nicht mehr in der Rolle des »Fliegers«, sondern des »Managers« eines komplexen Systems, dessen Aufgabe in erster Linie darin besteht zu überwachen, dass die Systeme korrekt funktionieren (vgl. Weyer 2007, 2008). Ihre Tätigkeit lässt sich als Gewährleistungs- und Deutungsarbeit beschreiben: Sie deuten und interpretieren die Informationen, die auf den verschiedenen Anzeigegeräten erscheinen, und sorgen durch ihre Maßnahmen dafür, einen reibungslosen Ablauf des Geschehens zu gewährleisten (vgl. Weyer 1997 sowie die dort angegebene Literatur). Auf diese Weise geraten sie jedoch in eine geradezu paradoxe Situation. Im Vertrauen auf die Automatik werden die Befugnisse der menschlichen Operateure immer weiter eingeschränkt; allerdings wird von ihnen erwartet, dass sie im Störfall eingreifen und rasch eine Lösung finden. In derartigen Krisensituationen sollen sie also über die Kompetenzen verfügen, die sie im Normalfall nicht benötigen und somit auch kaum trainieren können. Der Mensch wird hiermit zum Lückenbüßer und damit zu einer Quelle potentieller Risiken. Die Strategie der Risikovermeidung durch Automation birgt also ihrerseits neuartige Risiken, die Lisanne Bainbridge bereits 1987 eindrücklich als Ironien der Automation beschrieben hat. Diese Problematik verschärft sich, wenn Technik zum Einsatz kommt, die in der Lage ist, Entscheidungen in einer Weise zu fällen, wie es bislang ausschließlich der Mensch konnte. Der Unterschied lässt sich am Beispiel des Autopiloten gut veranschaulichen: Während ein automatisches System stur die voreingestellte Flughöhe einhält, kann ein autonomes System, bspw. aufgrund einer TCAS-Warnung, entscheiden, in den Sink- bzw. Steigflug zu gehen.1 Autonome Systeme verfolgen eigenständig Ziele (nämlich die in die Software einprogrammierten) und treffen – ähnlich wie Menschen – Entscheidungen im Sinne einer Auswahl mehrerer verfügbarer Alternativen (vgl. Fink/

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Diese Kopplung von TCAS und Autopilot wird zwar immer diskutiert, ist aber bislang nicht realisiert – wohl auch, um die Piloten weiterhin in die Pflicht nehmen und ihnen letztlich die Verantwortung zuweisen zu können.

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Weyer 2011). Sie sind zudem kontext-sensitiv, d.h. sie verfügen in der Regel über eine Sensorik, die sie in die Lage versetzt, Informationen aus der Umwelt aufzunehmen und bei der Entscheidungsfindung zu verarbeiten (vgl. Mattern 2003). Smarte Systeme sind somit in der Lage, je nach Situation unterschiedlich zu reagieren, z.B. das eine Mal in den Steigflug, das andere Mal in den Sinkflug zu gehen. Sie entwickeln damit ein – gelegentlich überraschendes – Verhalten, das auf außenstehende Beobachter lebendig, ja sogar menschlich wirken kann (vgl. Brooks 2002). Diese Tendenz einer zunehmenden Autonomie von Technik wird dadurch noch verstärkt, dass die Gegenstände selbst ›intelligent‹ werden und sich miteinander vernetzen, wodurch das »Internet der Dinge« entsteht (vgl. Mattern 2007; Friedewald u.a. 2010). Miniaturisierte Rechner sind mittlerweile selbst in Alltagsgegenstände eingebaut; sie sind permanent im Hintergrund aktiv, ohne dass wir dies bemerken. So ist das Smartphone mittlerweile regelrecht zum Spion geworden, der nicht nur unseren Aufenthaltsort, sondern auch weitere persönliche Daten unbemerkt an Dienstleister übermittelt, die diese Daten für eigene Zwecke wie etwa Produkt-Marketing oder Verkehrssteuerung nutzen können (vgl. Weyer 2011). 3.2 Echtzeitsteuerung Der Übergang von automatisierter zu autonomer Technik könnte also zu einer weiteren Zuspitzung der Komplexitäts-Problematik beitragen. Zum einen trägt autonome Technik zu einer ungeheuren Beschleunigung bei: Informationen über die Identität und den aktuellen Standort von Produkten, aber auch von Personen, sind praktisch in Echtzeit verfügbar. Dies kann durchaus angenehme Seiten haben, bedeutet aber auch eine zusätzliche Belastung für diejenigen Personen, die Prozesse in Echtzeitsystemen managen müssen. Denn eine langfristige VorabPlanung ist kaum noch möglich; sie wird abgelöst durch Ad-hoc-Anpassungen an die jeweilige Situation, die von elektronischen Assistenten in Echtzeit aufbereitet und präsentiert werden.2

2

Das Beispiel der Navigationsgeräte im Fahrzeug illustriert diesen Zusammenhang auf anschauliche Weise: Es wird nicht mehr vorab geplant, sondern es wird sich auf das Navi verlassen – und man ist dann sprichwörtlich verlassen, wenn eine unvorhergesehene Situation eintritt.

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Zudem nehmen die Intransparenz der Prozesse und die Unvorhersehbarkeit der Effekte zu, wenn autonome Technik als weitere »Mitspielerin« hinzukommt. Dies gilt vor allem dann, wenn eine Vielzahl autonomer Systeme innerhalb eines komplexen Systems auf unvorhersehbare Weise miteinander interagiert. Als Beispiel kann die bordautonome Flugführung angeführt werden, die realisiert werden könnte, wenn alle Flugzeuge mit ADS-B3 ausgestattet wären und so ihre Route weitgehend autonom planen würden (zu den Details siehe u.a. Schlönhardt 2008). Jedes Flugzeug generiert damit sein eigenes Lagebild, in das die Aktionen anderer Flugzeuge mit einfließen, die jedoch ihrerseits das Gleiche tun. Ein derartiges System verändert also permanent, nämlich durch Interaktion der Beteiligten auf der Mikro-Ebene, seinen eigenen Zustand auf der Makro-Ebene; es produziert somit emergente Effekte, die kaum vorhersehbar bzw. kontrollierbar sind. Eine vorausschauende Planung von Flugrouten wird damit nahezu unmöglich, wenn jeder Teilnehmer sich ad hoc an die sich dynamisch verändernde Situation anpasst. Eine derartige dezentrale Koordination im Luftraum mag bei zwei Flugzeugen funktionieren, die untereinander Lösungen aushandeln; als Koordinations- und Organisationsprinzip für eine Vielzahl von Flugzeugen in einem überfüllten Luftraum ist dies jedoch kaum vorstellbar. Die Komplexität würde enorm zunehmen – bis hin zu einem kaum noch beherrschbaren Chaos. Für eine Steuerung sicherheitskritischer Systeme wie des Luftverkehrs ist ein derartiger Ansatz offenkundig nicht geeignet. Interessanterweise wird parallel dazu eine deutliche Zunahme zentraler Planung und Steuerung des Flugverkehrs durch zentrale Festlegung von »trajectories« für jeden Flug diskutiert. Inwieweit aus dieser Gleichzeitigkeit wachsender Möglichkeiten der dezentralen und zentralen Steuerung Optionen für neue Formen der Governance im Sinne einer Umsetzung des Konzepts der losen Kopplung entstehen, wird im folgenden Abschnitt diskutiert.

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Automatic Dependent Surveillance-Broadcast. Jedes Flugzeug ortet seine Position mit Hilfe von Satellitennavigation und sendet permanent alle relevanten Daten an alle anderen Teilnehmer (vgl. u.a. Hughes 2006).

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B EHERRSCHBARKEIT VON T ECHNIK NEUE F ORMEN DER G OVERNANCE

DURCH

Governance ist ein vielschichtiger Begriff, der verwendet wird, um die Steuerung und Koordination durch eine Vielzahl von Akteuren über System- und Organisationsgrenzen hinweg zu beschreiben, wie sie in den hier behandelten hochautomatisierten und vernetzten soziotechnischen Systemen gefordert sind. Bevor einige Vermutungen dazu angestellt werden, welche Formen von Governance durch den Einsatz autonomer und vernetzter Technik möglich und nötig werden, werden zwei wichtige Bedingungen für die Akteure behandelt: wahrgenommene Transparenz und Vorhersehbarkeit von Prozessen in den zu steuernden und zu koordinierenden Systemen und Möglichkeiten der Beeinflussbarkeit und damit der Kontrolle über diese Prozesse. Transparenz und Vorhersehbarkeit von Prozessen Systemkomplexität bedingt, dass die Transparenz und Vorhersehbarkeit von Prozessen für die Akteure reduziert sind. In der Psychologie sind die kognitiven Beschränkungen im Umgang mit komplexen Prozessen seit langem bekannt, wie bspw. die Schwierigkeit, exponentielle Prozesse korrekt einzuschätzen oder die Wirkungen eigener Interventionen in komplexe Systeme zu antizipieren (vgl. Dörner 1990; Dörner/Burschaper 1998). Diese kognitiven Begrenzungen treffen Operateure in komplexen Systemen gleichermaßen wie die Ingenieure, die sie bauen, oder die Mitglieder von Aufsichtsbehörden, die ihr Risiko beurteilen. Ausbildung und Training können helfen, diese Begrenzungen zu reduzieren und damit die erlebte Transparenz und Vorhersehbarkeit erhöhen. Die Ausbildung von Piloten bspw. belegt, dass es möglich ist, die Kompetenzen zur Beherrschung komplexer Systeme so zu trainieren, dass schwere Flugzeugunglücke (zumindest in Europa und den USA) mittlerweile eine Seltenheit geworden sind. Die spektakuläre Notlandung eines A320 auf dem Hudson River im Jahr 2009 belegt, dass sehr gut ausgebildete Piloten in der Lage sind, selbst eine derart kritische Situation zu meistern. Kritiker des »Helden« Sullenberg weisen allerdings auch darauf hin, dass Wesentliches nicht getan wurde (z.B. Betätigung des sogenannten ditch button, der das Flugzeug bei einer Landung auf dem Wasser abdichtet) und viele glückliche Umstände zum glimpflichen Ausgang beigetragen haben.

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Wenn Komplexität und die daraus resultierenden Anforderungen an kognitive Fähigkeiten des Menschen diskutiert werden, ist zudem wichtig, dass Komplexität nicht ein für alle Akteure gleicher und objektiver Sachbestand ist. Karl Weick hat zwei Sichtweisen von Komplexität mit den Formeln »technology on the floor« und »technology in the head« beschrieben. Auf der einen Seite funktionieren technische Systeme (on the floor) nach bestimmten objektiven Regeln. Auf der anderen Seite gibt es Vorstellungen in unseren Köpfen (in the head), wie diese Systeme funktionieren. Diese mentalen Modelle können sich vom tatsächlichen Geschehen entkoppeln, d.h. die Operateure entwickeln mit der Zeit bestimmte Vorstellungen der Prozesse, die sich innerhalb einer Anlage abspielen, die mit dem tatsächlichen Geschehen kaum noch übereinstimmen. Weitere »subjektive« Sichten von Komplexität bestehen aber auch bei allen anderen Akteuren wie den Systementwicklern, den Entscheidungsträgern in den Organisationen, die die Technologie einsetzen, oder den externen Regulationsbehörden, die die Sicherheit der Systeme beurteilen. Je ähnlicher Ausbildung und Erfahrung der Akteure ist, desto ähnlicher wird ihre Vorstellung des Systems sein. Da aber zumindest der Erfahrungshintergrund aufgrund der verschiedenen Tätigkeitsgebiete und Verantwortungen stark variiert, werden auch die mentalen Modelle andere sein. Eines dieser Modelle für objektiver als ein anderes zu halten, ist verfehlt; das gute Funktionieren der Systeme hängt davon ab, wie gut es gelingt, die verschiedenen Vorstellungen auf eine Weise zu integrieren, die allen Betroffenen effektives Handeln ermöglicht. Kontrollverzicht – Kontrollverlust Der Einsatz technischer Systeme führt immer zu einem (teilweisen) Kontrollverlust auf Seiten der menschlichen Operateure, sobald Entscheidungs- und/oder Ausführungsprozesse durch die Technik erfolgen, ohne dass für Operateure noch Eingriffsmöglichkeiten bestehen. Wenn Waschmaschinen genutzt werden, statt selbst zu waschen, wird Kontrolle delegiert, denn es wird darauf verzichtet, jedes Detail der Ausführung der Operation zu überprüfen, und es wird sich darauf verlassen, dass die Waschmaschine die ihr übertragenen Aufgaben zuverlässig ausführt. Benötigt wird dazu lediglich eine Schnittstelle, über die Eingaben zu den gewünschten Ausführungsprogrammen gemacht werden und die Auskunft über den Zustand des Systems gibt. Aus Gründen des Komforts und der Bequemlichkeit wird also auf Kontrolle verzichtet und die Durchführung der Operationen, aber auch der

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damit zusammenhängenden Entscheidungen (z.B. wie schnell Wasser auf die gewünschte Temperatur erhitzt wird) dem technischen System übertragen. In anderen Fällen (wie etwa beim Einsatz von ABS oder EPS im Fahrzeug) ist die Steigerung der Sicherheit die Motivation, die dazu führt, auf Kontrolle partiell zu verzichten. Die Wahrnehmung eines Kontrollverlusts kann daher unterschiedliche Ursachen haben. Sie kann zum einen damit zusammenhängen, dass die Kontrolle nicht freiwillig preisgegeben wurde, wie das bspw. bei den Piloten der Fall war, die in den 1980er Jahren nur unter Protest auf das computergestützte Fliegen umgestiegen sind, weil sie befürchteten, den ›Atari-Flieger‹ nicht mehr auf die von ihnen gewünschte Weise steuern zu können. Delegation der Kontrolle an Technik bedeutete hier also (anders als im obigen Beispiel der Waschmaschine) einen Verlust an Autonomie im Sinne der Freiheit, sich eigenständig für eine der zur Verfügung stehenden Alternativen entscheiden zu können. Kontrollverlust kann zum anderen aber auch bedeuten, dass Personen sich nicht mehr im Stande sehen, die Prozesse in gewohnter Weise zielgerichtet zu steuern, dass die Dinge also nicht mehr ›im Griff‹ sind. Und hierbei spielt besonders die Intransparenz komplexer Systeme bzw. die Eigenwilligkeit autonomer Technik eine wesentliche Rolle (vgl. TAUCIS 2006; Grote 2009a). Denn pro forma existiert noch die Autonomie, frei entscheiden und handeln zu können, doch faktisch kann sie nicht im gewünschten Maße genutzt werden, weil den Anwendern die gewohnten Eingriffsmöglichkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen und/oder sie das System nicht mehr hinreichend verstehen, um von bestehenden Eingriffsmöglichkeiten sinnvoll Gebrauch zu machen. Das vielfach zitierte Unglück eines Lufthansa-Airbus in Warschau im Jahr 1993 illustriert diesen Sachverhalt: Es war den Piloten unmöglich, das Flugzeug auf gewohnte Weise abzubremsen, weil Airbus einen zusätzlichen vollautomatisierten Sicherheitsmechanismus eingebaut hatte, der ausgelöst werden musste, bevor die Bremsen aktiviert werden konnten. In Warschau wurde dies aufgrund äußerer Umstände, die die Konstrukteure beim Design des Systems nicht berücksichtigt hatten, jedoch zur tödlichen Falle (Weyer 1997: 251; Grote 2009b: 104). Ein flexibles Störfallmanagement, wie es gut ausgebildete Piloten beherrschen, war somit unmöglich. Der Grad der Technisierung und Automatisierung sollte also immer Verhandlungssache sein, wobei der Wunsch der Betreiber eines Systems nach Optimierung und Kosteneinsparungen immer mit den

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Interessen der Operateure und deren Bereitschaft abgewogen werden sollte, Prozesse an Technik zu delegieren. Eine rein technik-getriebene Automatisierung kann sich allzu leicht als eine gefährliche Sackgasse erweisen. Human-zentrierte Ansätze sind zwar in der Design-Phase aufwändiger und gelegentlich schwerfälliger; sie haben jedoch den unbestreitbaren Vorteil, dass auf diese Weise Lösungen generiert werden, die auf dem Know-how der Nutzer aufbauen und von ihnen akzeptiert werden, die zudem praxistauglich und deren Risiken besser beherrschbar sind. Kontrolle durch neue Formen der Governance Während lange Zeit Automatisierung vor allem im Rahmen einer Strategie der Minimierung von Unsicherheit eingesetzt worden ist, ist aus Sicht einiger Autoren neuerdings eher eine Strategie der dezentralen Bewältigung von Unsicherheit zu beobachten. Mark de Bruijne spricht bspw. von einem »Paradigmenwechsel« (2006: 45) von vertikal integrierten, zentral kontrollierten Systemen zu disaggregierten und dezentral gesteuerten Systemen. Und Jeremy Rifkin propagiert sogar einen »dezentralen Kapitalismus« (2010: 372). Betrachten wir jedoch die aktuelle Debatte über intelligente Stromnetze (»smart grids«), so fällt der planwirtschaftliche Ansatz dieses Konzepts auf. Denn intelligente Stromnetze basieren darauf, dass die Verbraucher ihr Verhalten an den aktuellen Zustand des Systems anpassen, der sich je nach Wind- und Wetterlage dynamisch verändert. Siemens-Vorstand Wolfgang Dehen spricht daher auch von einem »Paradigmenwechsel«, meint damit jedoch das Gegenteil von dem, was de Bruijne vorschwebt, nämlich den Übergang zu neuartigen Formen einer »intelligenten Netzsteuerung […], bei der die Nachfrage gelenkt wird« (vgl. Dehen 2010, [Herv. hinzugefügt]). Dem smart meter kommt in diesem Szenario eine Schlüsselrolle zu, denn dieses Gerät ermöglicht eine informationstechnische Vernetzung sowie eine Einbindung auch der Privathaushalte in das komplexe System der Energieerzeugung, das eine Top-down-Steuerung bis hin auf die Ebene einzelner Waschmaschinen und Gefriertruhen möglich werden lässt. Offenkundig entstehen hier neuartige Formen von Governance, die darauf basieren, dass die physische Struktur des Netzes und damit auch viele Interaktionen im System dezentral sind, zugleich jedoch eine zentrale Kontrolle und Steuerung sämtlicher Netzkomponenten stattfindet, die starke Eingriffe in die Entscheidungs-Autonomie der

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Beteiligten beinhaltet. Es fragt sich nun, ob diese Mischung aus dezentraler und zentraler Koordination der Idee der losen Kopplung entspricht und die gewünschte flexible Balance zwischen Planung und Improvisation erreicht. Derzeit ist eher zu befürchten, dass neue Technologien wie die des Ubiquitous computing eher wieder Hoffnungen haben wachsen lassen, dass eine Minimierung von Unsicherheit und eine zentrale Steuerung selbst in hochkomplexen Systemen möglich sind. Auch die – vor allem in den Niederlanden geführte – Debatte über Constructive Technology Assessment (CTA) und über die ökologische Transformation der Gesellschaft in Form eines »transition management« (vgl. Rip 2007; Loorbach 2007; Voß u.a. 2009) belegt anschaulich eine Renaissance des Planungsgedankens, der zwar unter dem Label »reflexive« bzw. »partizipative Planung« firmiert, aber den Bezug auf die Idee einer planvollen Gestaltung technischen und gesellschaftlichen Wandels – mit teilweise technokratischen Zügen – kaum leugnen kann. Die Debatte über neuartige Formen der Bewältigung von Unsicherheit wie auch der Steuerung komplexer Systeme ist also keineswegs abgeschlossen, ebenso wie die Suche nach neuen Modi der Planung bzw. der Governance von Organisationen. Exkurs: Visualisierung von Komplexität mit Hilfe von Computersimulation Komplexität ist ein Sachverhalt, der sich nur schwer veranschaulichen lässt. Mittlerweile sind wir jedoch mithilfe der Methode der Computersimulation in die Lage versetzt, komplexe Systeme zu modellieren und ihr Verhalten zu simulieren. So lässt sich bspw. das Phänomen der Segregation, dass Thomas Schelling (1969) beschrieben hatte, mithilfe von Computermodellen rekonstruieren. Schelling hatte behauptet, dass Segregation auch dann entstehen kann, wenn keine Person rassistisch denkt. Bereits bei einem Toleranz-Level von 50 Prozent landen Personen bei einer nahezu vollständigen Trennung der verschiedenen Gruppen, wobei 50 Prozent bedeutet, dass keine Person in ihrer Nachbarschaft mehr als 50 Prozent Personen haben möchte, die anders sind als sie/er selbst, z.B. in Bezug auf Geschlecht, Religion, Rassifizierung, sexuelle Orientierung etc. Bereits diese sehr liberale Einstellung führt zu Segregation, was sich etwa mit Hilfe der Simulations-Software NetLogo (http://ccl.northwestern.edu/netlogo) veranschaulichen lässt:

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Abbildung 1: Segregations-Simulation mit NetLogo

Lars-Erik Cedermann hat auf diese Weise die ethnischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien rekonstruiert (vgl. Cederman/Girardin 2006). Das Fatale an derartigen nicht-linearen Prozessen ist, dass sie sich eigendynamisch fortsetzen. Denn jede Person, die einen Ort verlässt, verändert das Gleichgewicht, und zwar an zwei Stellen zugleich: an dem Ort, von dem sie abwandert, aber auch an dem Ort, an dem sie zuwandert (vgl. Weyer u.a. 2011). Mit Hilfe von Computersimulation lassen sich viele natürliche Phänomene (wie Waldbrände), aber auch technische Prozesse (wie das Verhalten von Gasen) modellieren und analysieren, was das Verständnis von Komplexität, vor allem aber der – oftmals eigenwilligen und schwer vorhersehbaren – Dynamik komplexer Systeme fördert. Die agentenbasierte Modellierung und Simulation (ABMS) komplexer Systeme lässt sich auch für Untersuchungen von GovernanceThemen nutzen. Eine Studie an der TU Dortmund (vgl. Kroniger/ Lücke 2010) ist bspw. der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen unterschiedliche Governance-Modi auf die Steuerung des Verkehrs rund um das Dortmunder Fußballstadion haben. Dazu wurden zunächst das Straßennetz, die Parkplätze sowie die Anlagen zur Verkehrslenkung und -steuerung rund um das Stadion mit Hilfe der Simulationssoftware SUMO-S im Computer nachgebaut. Ein Novum gegenüber bisherigen Verkehrssimulationen bestand darin, dass ein soziologisches Fahrermodell implementiert wurde, das auf der SEUTheorie von Hartmut Esser (1991) basiert und in der Lage ist, das si-

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tuative und subjektiv geprägte Entscheidungsverhalten bzgl. der Routenwahl einer großen Zahl heterogener Akteuren abzubilden. Abbildung 2: Übersichtskarte des modellierten Gebiets

Quelle: Kroniger/Lücke 2010: 47

Das Ziel der Untersuchung bestand darin, am konkreten Beispiel das Wechselspiel von Steuerung auf der Makro-Ebene und Entscheidungen auf der Mikro-Ebene zu untersuchen. Zu diesem Zwecke wurden Testläufe mit ›weicher‹ und ›harter‹ Steuerung sowie mit Mixed-Governance-Modellen durchgeführt; dabei kamen zudem unterschiedliche Fahrertypen zum Einsatz: von ›Folgsamen‹, die jeder Routenempfehlung folgen, bis hin zu ›Sturköpfen‹, die sich nicht beirren lassen. Ein globales Kriterium zur Bewertung der Leistungsfähigkeit der unterschiedlichen Modi war die Dauer der Simulationsläufe bis zur vollständigen Befüllung sämtlicher Parkplätze. Überraschenderweise fallen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Modi sehr gering aus.4 Betrachten wir die einzelnen Modi differenzierter, so fällt auf, dass Simulationsläufe mit zu vielen, aber auch mit zu wenigen folgsamen Fahrern schlechte Ergebnisse produzierten. Zudem erweist sich die hierarchische Steuerung als überraschend effektiv – allerdings nur, wenn akzeptiert wird, dass die einzelnen Akteure Nachteile in Kauf

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Einschränkend sei hinzugefügt, dass es sich hier um ein – vorläufiges – Ergebnis handelt, das weitere Untersuchungen erforderlich macht.

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nehmen müssen (also im konkreten Fall nicht ihren Wunsch-Parkplatz ansteuern können, sondern mit einem Ausweich-Parkplatz vorlieb nehmen müssen). Die – noch nicht abgeschlossene – Studie hat bislang mehr Fragen als Antworten produziert; aber die Fragen liegen zum Teil quer zu den bisherigen Themen der Governance-Forschung: • Zum einen hat die Studie die Frage aufgeworfen, wie der Erfolg von

Governance gemessen werden kann. Welche Kriterien bzw. Indikatoren lassen sich verwenden, um die Qualität unterschiedlicher Governance-Modi zu bewerten? Wenn sich für quantitative Parameter entschieden wird (also z.B. die benötigte Zeit zur Bewältigung einer Aufgabe), so stellt sich unmittelbar die Frage, ob dieser Parameter auf Systemebene oder auf Akteursebene erhoben wird, ob also die gelungene Befüllung aller Parkplätze zählt oder der (durchschnittliche?) Erfolg der einzelnen Akteure bei der Erreichung ihres Wunsch-Parkplatzes. Oder wird die individuelle Zufriedenheit der System-Operateure sowie der einzelnen Fahrer berücksichtigt (z.B. bezüglich der Beanspruchung durch unterschiedliche Modi)? Und wie wird verfahren, wenn diese Parameter divergieren, wenn also die System-Operateure zufrieden sind, die Fahrer hingegen nicht? • Zum anderen ist damit deutlich geworden, dass Governance immer zwei Ebenen beinhaltet, die im Modell gleichermaßen berücksichtigt werden müssen: die Makro-Ebene des Systems (hier konkret: des Straßenverkehrssystems) sowie die Mikro-Ebene der Akteure, deren Entscheidungen durch den aktuellen System-Zustand (z.B. Ausweichempfehlungen oder Straßensperrungen) geprägt werden, die dann aber ihrerseits durch ihre Aktionen und Interaktionen den Zustand des Systems verändern usw. usf. (Dies ist ja ein wesentlicher Aspekt von Komplexität, dass der Zustand des Systems auf der Makro-Ebene sich durch die Mikro-Interaktionen permanent verändert.) Steuerung bedeutet also immer die Steuerung des Verhaltens von individuellen Akteuren, die in ihren Entscheidungen jedoch Freiheiten haben, sich so oder anders zu entscheiden. Selbst ›weiche‹ Steuerung ist Steuerung – allerdings unter erhöhter Unsicherheit, weil das Verhalten der Gesteuerten schlechter zu antizipieren ist als im Falle ›harter‹ Steuerung.

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Der Erfolg von Steuerung kann sich also auf Systemebene anders darstellen als auf Akteursebene. Wenn alle Parkplätze gleichmäßig gefüllt sind und das Fußballspiel pünktlich beginnen kann, muss das noch lange nicht bedeuten, dass auch alle Akteure mit dem letztlich gefundenen Parkplatz zufrieden sind. Hier ergeben sich weitere interessante Perspektiven für die Governance-Forschung, die unterschiedlichen Modi der Steuerung komplexer Systeme experimentell zu untersuchen.

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Die im Titel dieses Beitrags gestellte Frage nach der Beherrschbarkeit komplexer technischer Systeme verweist auf das Design der Organisationen, die derartige Systeme betreiben. Offenkundig verbietet es sich, pauschal eine Nicht-Beherrschbarkeit komplexer Technik zu behaupten. Empirische Studien liefern jedenfalls keine Evidenz für derartige Thesen. Die Frage der Sicherheit und Beherrschbarkeit komplexer technischer Systeme muss vielmehr vor dem Hintergrund des Spannungsfelds zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung von Autonomie und Kontrolle diskutiert werden. Jede Form der Technisierung beinhaltet eine Delegation von Kontrolle an technische Systeme, wobei das Ausmaß dieser Delegation Verhandlungssache ist (bzw. sein sollte). Ein komplexes technisches System kann dann sicher betrieben werden, wenn die Rollen von Mensch und Technik bereits im Design des Systems so definiert werden, dass ein reibungsloses Zusammenwirken möglich ist und zudem hinreichend Ressourcen für ein flexibles Krisenmanagement zur Verfügung stehen. Organisationen müssen zudem lernen, mit Unsicherheit umzugehen, statt zu hoffen, dass sich Unsicherheiten wegplanen und -automatisieren lassen. Es kann sogar noch weiter gegangen werden und Unternehmen nahegelegt werden, Unsicherheit als eine Chance zu begreifen, kluge Lösungen auch in nicht vorab planbaren Situationen zu finden. Die wichtigste Ressource, die Organisationen für diese Aufgabe benötigen, sind Menschen, die jedoch zu oft als Risikofaktor und nicht als Störfallmanager gesehen werden. Im Vertrauen auf Technik werden häufig Automationsstrategien gefahren, die Menschen auf eine Lückenbüßer-Rolle reduzieren und ihnen die Möglichkeit nehmen, in kritischen Situationen flexibel zu

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agieren. Bereits beim Design des Zusammenwirkens von Mensch und (autonomer) Technik sollte daher dafür gesorgt werden, dass die menschlichen Anwender eine anspruchsvolle und motivierende Aufgabe erhalten, die sie – typischerweise im Team mit anderen Personen (und neuerdings auch mit autonomen Agenten) – in die Lage versetzt, ein komplexes technisches System auch in kritischen Situationen sicher zu beherrschen.

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212 | J OHANNES W EYER/G UDELA GROTE

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Unternehmensresilienz Faktoren betrieblicher Widerstandsfähigkeit J UTTA H ELLER /M ARTIN E LBE /M ALE L INSENMANN

E INLEITUNG Im Zuge der Globalisierung entstehen Ungewissheiten für Unternehmen nicht mehr nur aus konjunkturellen Schwankungen bis hin zu krisenhaften Entwicklungen in der Weltwirtschaft, vielmehr treten neue Herausforderungen und Risiken auf, die sich aus strukturellen Ungleichheiten, demographischen Entwicklungen und der sprunghaft ansteigenden Vernetzung von Informations- und Güterströmen ergeben. Und dies ist den Unternehmen, ihren Führungskräften und Mitarbeitern zunehmend bewusst. Ungewissheit zeigt sich dabei nicht nur in generellen Unwägbarkeiten, sondern entsteht vielfach auch aus konkret empfundenen Bedrohungen. Speziell die Terroranschläge auf die Türme des World Trade Center in New York am 11. September 2001 warfen für viele Unternehmen in den USA die Frage auf, wie mit diesen Erlebnissen umzugehen sei (Cotou 2003: 8f.). Was lässt ein Unternehmen trotz eines traumatischen Erlebnisses weiterhin erfolgreich agieren? Wie wird Handlungsfähigkeit in krisenhaften Situationen bewahrt? Wie wird sich darauf vorbereitet und wie wird im Zweifelsfall sogar gestärkt aus Krisen hervorgegangen? Eben diese Fragen unterscheiden die Perspektive des Managements von Ungewissheit von der Unsicherheits- und Risikoperspektive. Während letztere zu einem Vermeidungsverhalten tendiert, sucht die Perspektive des Managements von Ungewissheit nach Optionen und möglichen Ressourcen, um Handlungsfähigkeit zu stärken.

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Handlungsfähigkeit in Krisen setzt Widerstandsfähigkeit voraus: gegenüber den besonderen Herausforderungen und Stressoren, gegenüber der Ungewissheit, gegenüber dem Erleben von Misserfolg und Verlust. Auf individueller Ebene hat das Konstrukt der Resilienz, das eben diese Widerstandsfähigkeit und das Bewahren von Handlungsmöglichkeiten trotz extremer Umwelteinflüsse untersucht, zu beeindruckenden Erkenntnissen geführt. Doch geht die Fähigkeit der Widerständigkeit über die individuelle Ebene hinaus – auch Organisationen können Resilienz aufbauen. Denn über den individualpsychologischen Fokus hinaus wird Resilienz zunehmend zur Untersuchung der Widerstandsfähigkeit und Funktionsfähigkeit1 von Systemen eingesetzt. Die arbeits- und systembezogene Resilienzforschung untersucht die Widerstandsfähigkeit und Produktivität von Unternehmen und deren Mitarbeitern (Kluge 2004: 29) und hat speziell im anglo-amerikanischen Raum zu einer Vielzahl von Publikationen und Diskussionen geführt (vgl. z.B. Harvard Business Review 2003). Der BDP-Gesundheitsbericht 2008 zu Psychologie, Gesellschaft und Politik weist auf die Relevanz der Resilienz von Unternehmen hin (vgl. Scharnhorst 2008). Resiliente Organisationen verfügen über Eigenschaften, die sie in die Lage versetzen, mit plötzlichen Veränderungen oder dauerhaften Wandel besser umzugehen: Mitarbeiter, Teams, Führungskräfte akzeptieren die Realität und bleiben aktiv; die Organisation stiftet Bedeutung und schafft damit ein Wertesystem, das als Halt in schwierigen Zeiten dient (ebd.). In Zeiten extremer konjunktureller Schwankungen sowie finanzieller Engpässe und damit einhergehender Umstrukturierungen, Fusionen und Firmenverkäufe, insgesamt also zunehmender Risiken in der Wirtschaft (wie auch in der Umwelt) kann Resilienz Stabilität und den Erfolg des Unternehmens sichern und somit ein zentraler Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenten sein. In akuten Krisen werden zumindest das Überleben und die Bewahrung von Handlungsfähigkeit sichergestellt. Auf der Organisationsebene geht es demnach primär darum, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit ein Unternehmen konkurrenzfähig bleiben und im Wettbewerb bestehen kann. Besonders wichtig in diesem Kontext ist, dass Resilienz erlern- und verbesserbar ist. Unter-

1

Bei der Betrachtung von Systemen wird der Begriff Resilienz nicht nur im Sinne psychischer Widerstandsfähigkeit verwendet, sondern in einem weiteren Sinne auch als Erhalt der Funktionsfähigkeit.

U NTERNEHMENSRESILIENZ

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nehmen haben die Möglichkeit, die Resilienz der Mitarbeiter und die des Unternehmens zu steuern. Alle können lernen, schwierige Situationen besser zu meistern (Bittelmeyer 2007; Heller/Höcht 2008). Die Stärkung organisationaler Resilienz wird damit zu einem wichtigen Baustein eines Managements der Ungewissheit. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden eine Studie zur Organisationsresilienz dargestellt, die darauf abzielte, ein Instrument zur Messung unternehmensbezogener Resilienz einzuführen, das die Identifizierung des Entwicklungsbedarfs eines Unternehmens in Resilienzdimensionen ermöglicht. Anhand daraus abgeleiteter Maßnahmen können Unternehmen nachhaltig gestärkt werden.

1

F ORSCHUNGSSTAND

Mit Resilienz wird ein kontrovers diskutiertes Konstrukt bezeichnet, das in sehr unterschiedlichen Forschungskontexten Anwendung findet. Dies ist auf seine offene Grunddefinition zurückzuführen: Den gemeinsamen Nenner bildet die grundlegende Auffassung von Resilienz als »Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit trotz belastender Einflüsse« (Kluge 2004: 1) und somit der Widerstandsfähigkeit von Individuen oder Systemen. Grundintention der Resilienzforschung ist die Bereitstellung wesentlicher Ansatzpunkte von Interventions- und Präventionsmaßnahmen, wobei in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte vor allem in den Forschungsbereichen zum Kindes- und Jugendalter erzielt worden sind (ebd.: 28). Obgleich sich die Resilienzforschung seit ihren Anfängen in den 1950er Jahre etablieren konnte, ist festzustellen, dass bislang weder eine einheitliche Theorie der Resilienz besteht noch bisher geklärt werden konnte, inwiefern das Resilienz-Konzept als eine eigenständige Kategorie oder als eine Unterkategorie anderer Forschungsbereiche Anwendung finden kann – so insbesondere zum Konzept der Salutogenese (vgl. Antonovsky 1997). Einen kritischen Überblick zum Forschungsstand gibt z.B. Ungar (2004), wobei er für eine konstruktivistische Auffassung mit qualitativer Forschungsorientierung plädiert. Generell verbreitet ist hingegen ein eher quantitativer Zugang, für den es auch im deutschen Sprachraum unterschiedliche Instrumente gibt (vgl. z.B. Rampe 2005 oder Schumacher u.a. 2005).

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In diesem Kontext wird zum einen auf allgemeine Definitionen von Resilienz rekurriert, wonach es um die Fähigkeit geht, Krisen und Rückschläge unbeschadet zu überstehen und sogar gestärkt aus ihnen hervorzugehen, also um den Erhalt der Handlungsfähigkeit. Als Kompetenzen, die Personen zur erfolgreichen Krisenbewältigung benötigen, auch als die sieben Säulen der Resilienz bezeichnet, werden genannt: Optimismus, Akzeptanz, Lösungsorientierung, Opferrolle verlassen, Verantwortung übernehmen, Netzwerkorientierung und Zukunftsplanung (vgl. Scharnhorst 2008; Rampe 2005). Zum anderen wird der Zusammenhang von individueller Resilienz und Systemresilienz, also auch die wechselseitige Beeinflussung von Mitarbeiter- und Unternehmensresilienz, herausgestellt (vgl. Wellensieck 2009). Resilienz im Arbeitskontext kann demnach als die Fähigkeit bezeichnet werden, widerstandsfähig gegenüber äußeren Belastungen und kritischen Situationen im Arbeitskontext zu sein und diese ohne nachhaltige Beeinträchtigungen durchzustehen. Grundlage hierfür ist ein relationaler Resilienzbegriff (Resilienz als System-UmweltKonstellation).2 Speziell der Bereich der arbeits- und systembezogenen Resilienz ist als ein Potenzialfeld der Resilienzforschung zu betrachten (Kluge 2004: 27f.). Als beispielhaft wird vielfach der Beitrag von King (1999) für Arbeiten zu Resilienz von Mitarbeitern genannt; der sich mit dem Zusammenhang zwischen Resilienz und den Grundlagen von Karrieremotivation und Commitment, als wesentliche Grundlagen für die Funktionsfähigkeit von Unternehmen, beschäftigt. Schon diese Arbeit deutet an, dass dabei ausgeprägte Überschneidungen mit benachbarten Forschungsbereichen bestehen, insbesondere mit dem Human-Resource-Management im Allgemeinen, aber auch zu spezifischen Problemfeldern, wie der Burn-out-Prävention (Jansen-Dittmer/Münker 1999). Weitere Teilgebiete der Resilienzforschung beziehen sich auf Resilienz im sozialen Gefüge des Teams (team-resilience, vgl. Pollok u.a. 2003). Die Diskussion über Resilienz von Unternehmen sowie ganzer Wirtschaftssektoren hat in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum zugenommen (vgl. Stocker 2009; Wellensieck 2009; Scharnhorst 2008; Kluge 2004), wobei diese von den anglo-amerikani-

2

Vgl. zum relationalen Resilienzbegriff auf individueller Ebene Knoll u.a. (2011: 133ff.).

U NTERNEHMENSRESILIENZ

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schen Ansätzen (vgl. insbesondere Harvard Business Review 2003) nur in geringem Maß inspiriert scheint und eher die Stärkung von Potenzialen als die Bewältigung von Traumata und Krisen in den Vordergrund stellt. Grundsätzlich wird aber angenommen, dass ein Unternehmen mit hohen Resilienzwerten wesentlich bessere Chancen hat, gestärkt und erfolgreich aus einer Krise hervorzugehen oder noch erfolgreicher zu agieren, als ein Unternehmen, in dem die Resilienzfaktoren nicht oder nur wenig ausgeprägt sind (vgl. Allenby/Fink 2005). Generell ist in Bezug auf den Forschungsstand zur Organisationsresilienz festzustellen, dass bisher eher konzeptionelle Überlegungen angestellt werden, konkrete empirische Ergebnisse aber kaum vorhanden sind. Auf der instrumentellen Seite finden sich Ansätze zur Messung von Resilienz in Organisationen bei Mallak (1998) sowie Somers (2009), doch steht hier die Sicht auf das Individuum weiterhin im Vordergrund.3 Sowohl aus methodischer Sicht (Messung der Resilienz von Organisationen) wie auch in Hinblick auf konkrete empirische Ergebnisse besteht noch deutlicher Forschungsbedarf.

2

Z IELE

DER

S TUDIE

UND

E RHEBUNGSMETHODE

Im Folgenden werden Ergebnisse einer Studie zur Organisationsresilienz vorgestellt. Damit sollen zum einen die theoretisch-konzeptuellen Überlegungen empirisch illustriert werden und zum anderen soll ein Ansatz zur Messung organisationaler Resilienz vorgestellt werden. In der Studie wurde im Jahr 2008 eine schriftliche Befragung der Mitarbeiter (n=40) eines Consulting-Unternehmens im Ingenieursbereich zum Thema Unternehmensresilienz durchgeführt. Dazu wurde ein Fragebogen zur individuellen Resilienzfähigkeit (vgl. Rampe 2005) überarbeitet und auf die organisationale Ebene übertragen. Grundlage für die Übertragung des persönlichen Resilienzkonzepts auf den Unternehmenskontext ist eine Auffassung von Resilienz als Systemeigenschaft, welche sowohl Menschen als psychischen Systemen wie auch Organisationen als sozialen Systemen zu eigen ist. Die Studie zielte auf der Methodenebene auf die Überprüfung der Übertrag-

3

Dies gilt auch für Trainings- und Coachingangebote zur Stärkung der Resilienz von Arbeitnehmern (vgl. z.B. Heller/Höcht 2008).

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barkeit eines Fragebogens zur individuellen Resilienz auf den Unternehmenskontext ab. Alle Fragen sind hierfür neu entwickelt worden. Intendiert war auf der Inhaltsebene, dass der Fragebogen darüber Aufschluss gibt, wie hoch die Mitarbeiter die Resilienzfähigkeit des Unternehmens einschätzen, für wie stark und belastbar also diese das Unternehmen halten. Das aus der Analyse gewonnene Unternehmensbild liefert die Basis für die Konzipierung gezielter Maßnahmen, dieses Unternehmensbild nach den Vorstellungen des Unternehmens zu verändern.4 Ziel ist es, ein positives Unternehmensbild der Mitarbeitenden zu erreichen und damit das Unternehmen langfristig von innen heraus zu stärken. Das erfolgreiche Bestehen eines Unternehmens oder auch die Bewältigung einer Unternehmenskrise gelingt am ehesten mit optimistischen Mitarbeitern und Führungskräften, die unbefriedigende Situationen annehmen, nach möglichen Lösungen suchen, an ihren Einfluss glauben, sich auf ihre Stärken konzentrieren und ihr Aktivitätsniveau beibehalten, verantwortungsbewusst handeln, aktiv intern und extern Networking betreiben, sich mit zukünftigen Restriktionen und Entwicklungen auseinander setzen – kurz: die Offenheit besitzen, Ungewissheit als Ressource anzunehmen. Anhand des vorliegenden Instruments kann frühzeitig Entwicklungsbedarf in sieben Dimensionen der Resilienz (die in Anschluss an Rampe 2005 konstruiert wurden) für ein Unternehmen identifiziert werden. Die erhobenen sieben Dimensionen organisationaler Resilienz sind: Optimismus: Im Unternehmen herrscht eine optimistische Grundhaltung vor, es kennt seine Stärken und vertraut auf eine gute Unternehmensentwicklung sowie darauf, dass Probleme oder Krisen zeitlich begrenzt sind und überwunden werden können. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass das Ausmaß einer Krise oder Belastung maßgeblich von der Einstellung abhängig ist, die die Betroffenen zu ihr haben. Eine positive Grundhaltung setzt neue Motivation und Energien frei. Probleme betrachtet das Unternehmen als Herausforderung; es pflegt zudem einen souveränen Umgang mit Niederlagen. Akzeptanz der aktuellen Unternehmenssituation: Das Unternehmen stellt sich auch unangenehmen Einsichten und kann schwierige Situationen annehmen. Mit unabänderlichen Dingen findet sich die Organisation ab und lässt diese hinter sich. Die Realität wird Ausgangspunkt

4

Vgl. hierzu die Bedeutung von Unternehmens(leit)bildern für das Management von Ungewissheit in Organisationen bei Neuhaus 2006.

U NTERNEHMENSRESILIENZ

| 219

der Aktivierung von Ressourcen. Dadurch gewinnt das Unternehmen neue Handlungsfähigkeit. (Ziel- und) Lösungsorientierung: Angesprochen ist damit das Aktivitätsniveau, also das Ausmaß der Aktivität, in dem das Unternehmen die jeweils nächsten erforderlichen Schritte angeht (z.B. Projekte, Entscheidungen und Veränderungsprozesse sowie das Erarbeiten von Strategien und das Setzen neuer Regelungen) und versucht, das Beste aus einer Situation zu machen. Bei Schwierigkeiten bezieht das Unternehmen auch Maßnahmen mit ein, die ein erfolgreiches Stressmanagement aktiv fördern. Chancenorientierung und Selbstwirksamkeit: Das Unternehmen besinnt sich auf seine Stärken und ist davon überzeugt, dass es aktiv Einfluss nehmen kann und den Anforderungen auf dem Markt gewachsen ist. Ausgehend von der Überzeugung, selbst zu einer Gestaltung der Situation beitragen zu können und handlungsfähig zu sein, werden Chancen zukünftigen Handelns gesucht. Verantwortung: Das Unternehmen ist sich seiner Aufgaben und Verantwortungen bewusst. Es steht für das eigene Tun ein und ist sich auch klar darüber, welche Verantwortungen Andere haben. Neben einer klaren Arbeitsteilung nach innen werden Handlungsfelder nach außen erkennbar, die zukünftige Aktivitäten vorstrukturieren. Netzwerkorientierung und Kooperation: Das Unternehmen betreibt aktives Networking, hält zahlreiche Kontakte, kooperiert mit Anderen und bezieht Feedback wie auch Beratung mit ein. Das Unternehmen kann auf Experten zurückgreifen (es muss nicht alles selbst können). Innerhalb der Organisation kooperieren die Mitarbeiter und Systemteile (z.B. Abteilungen), um Unternehmensziele zu erreichen. Zukunftsorientierung: Das Unternehmen nimmt eine gut durchdachte und umsichtige Zukunftsplanung vor. Es besitzt langfristige Ziele und verfolgt Vorhaben auch über einen längeren Zeitraum. Durch eine gute Vorbereitung versucht das Unternehmen, sich gegen potenzielle Schwierigkeiten und Risiken zu schützen. Hierzu analysiert das Unternehmen das eigene Entwicklungspotenzial (z.B. mit Hilfe der Szenariotechnik, vgl. Neuhaus 2006). Es kümmert sich aktiv um die weitere Unternehmensentwicklung und bewahrt sich die Flexibilität, Ziele bei Bedarf anzupassen. Die sieben Resilienzdimensionen beschreiben den Idealtyp einer resilienten Organisation. Aus verstehender Forschungssicht ist zunächst interessant, inwieweit Unternehmen hiervon abweichen und

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welche Begründung sie dieser Abweichung geben. Dies ist im Einzelfall festzustellen.5 Als Erhebungsinstrument zur Erfassung der sieben Resilienzdimensionen wurde ein Fragebogen entwickelt und eingesetzt. Mit dem Fragebogen werden die Einschätzungen der Mitarbeiter zur Widerstandsfähigkeit des Unternehmens ermittelt. Aus den Ergebnissen wird abgeleitet, inwieweit die Organisation vom idealtypischen Handeln abweicht und damit welcher Entwicklungsbedarf in der Organisation besteht. Erhoben wird die Vorstellung der Mitarbeiter von ihrem Unternehmen in Bezug auf Chancen, Risiken und Strategien des Unternehmens sowie über dessen Zielorientierung. Der Fragebogen beinhaltet 70 geschlossene Fragen in sieben Dimensionen. Jeder Dimension sind je zehn Fragen im Fragebogen zugeordnet, unterteilt in je fünf positiv und fünf negativ formulierte Fragen. Im Anschluss daran wurden auch die Führungskräfte aufgefordert, den Fragebogen auszufüllen, um die Vorstellungen der Führungsebene mit denen der Mitarbeiter-Ebene kontrastieren zu können. Die sieben befragten Führungskräfte schätzten dabei ein, wie die Mitarbeiter die Fragen beantworten würden. Damit wird das Führungspersonal zur Selbstreflexion angeregt und erhält Hinweise zur Optimierung seines Führungsverhaltens und zur Stärkung der Organisationsresilienz. Insgesamt lassen sich aus den Ergebnissen Ansatzpunkte zur Förderung spezifischer Resilienzfaktoren bestimmen, woraus konkrete Maßnahmen und Handlungsbedarfe zur Verbesserung der Zukunftssicherung des Unternehmens abgeleitet werden können. Ergänzt wird der an den Resilienzdimensionen orientierte standardisierte Fragebogen durch die Möglichkeit, individuelle Kommentare abzugeben, und die Abfrage von sozio-demographischen Daten (Alter, Geschlecht und Arbeitsdauer im Unternehmen). Im nachfolgenden Ergebnisüberblick wird neben der Analyse von einzelnen Merkmalen jeder Resilienzdimension eine Gesamtdarstellung vorgenommen, die die Ergebnisse pro Dimension nach Altersgruppen auswertet und als eine erste allgemeine Tendenz6 gelesen werden kann. Die Einzelanalysen

5

Zur Forschung mit Idealtypen vgl. Elbe/Saam (2008) und natürlich grund-

6

Letztlich befindet sich das hier referierte Forschungsprojekt noch in der

legend Weber (1973; 1980). Testphase, es lassen sich also nur Tendenzen referieren. Bei den Antworten sind Einflüsse von Drittvariablen nicht auszuschließen, wie etwa, dass negativ formulierte Fragen grundsätzlich negativer beurteilt werden.

U NTERNEHMENSRESILIENZ

| 221

der Resilienzdimensionen beschränken sich auf diejenigen Merkmale, die deutlich vom Idealtyp abweichen. Aus ihnen wird im Anschluss ein erster Handlungsbedarf für die Organisation abgeleitet. Hierbei ist natürlich zu berücksichtigen, dass es die resiliente Organisation als vollkommene Übereinstimmung mit dem Idealtyp nicht geben kann, da der Idealtyp ja ein gedankliches Konstrukt ist, wohl aber können Hinweise für ein ressourcenorientierteres und widerstandsfähigeres Handeln der analysierten Organisation gegeben werden.

3

D IE E RGEBNISSE

DER

U NTERSUCHUNG

3.1 Optimismus Die Dimension Optimismus bezieht sich auf das Vertrauen der Mitarbeiter darauf, dass sich das Unternehmen gut entwickeln wird. Die Gesamtanalyse ergibt eine insgesamt befriedigende bis positive Grundeinstellung der Mitarbeiter bei deutlichen Differenzen zwischen den Altersgruppen. Sie zeigt, dass die Zukunftschancen des Unternehmens vornehmlich von der ältesten Mitarbeitergruppe (>55) positiv eingeschätzt werden, gefolgt von der jüngsten Gruppe ( 55) tendiert zu der Meinung, dass das Unternehmen die Fähigkeit besitzt, unterschiedliche Situationen annehmen zu können. Die Einzelanalyse weist darauf hin, dass sich das Unternehmen mit nicht veränderbaren Situationen nicht so schnell abfinden kann, wie es für das Unternehmen förderlich wäre (F2), der größte Teil der Befragten ist sich allerdings unschlüssig. Weiter ist die Mehrheit der Ansicht, dass sich das Unternehmen schwer tut, Unabänderliches zu akzeptieren, und teilweise auf aussichtslosem Posten weiterarbeite (F16). Doch auch hier findet sich ein verhältnismäßig großer Anteil der Mitarbeiter, die in diesem Merkmal keine besondere Stärke des Unternehmens sehen. 3.3 Ziel- und Lösungsorientierung Die Dimension Ziel- und Lösungsorientierung thematisiert das Aktivitätsniveau des Unternehmens, also das Ausmaß der Aktivität, mit dem Projekte, Entscheidungen und Veränderungsprozesse angegangen werden – auch im Hinblick auf die damit korrespondierenden Strategien und das Setzen klarer Regelungen. In der Gesamtanalyse zeigt sich, dass eine Ziel- und Lösungsorientierung des Unternehmens von den meisten Mitarbeitern gesehen wird. Insbesondere die jüngste und älteste Mitarbeitergruppe ist dieser Ansicht. Eher kritisch äußert sich die mittlere Altersgruppe (26–45), wonach das Unternehmen nur über eine mittelmäßige Ziel- und Lösungsorientierung verfügt. In der Einzelanalyse wird ersichtlich, dass das Unternehmen im Großen und Ganzen auf Ziele hinarbeitet, Projekte zur weiteren Entwicklung verfolgt und dabei lösungsorientiert vorgeht. Die Auswertung macht aber deutlich, dass dabei knapp die Mehrheit der Befragten die Prioritätensetzung nicht klar definiert sehen und die Führungskräfte sich im Tagesgeschäft verlieren (F24). Nach Einschätzung der Mitarbeiter agiert das Unternehmen im Alltag oftmals unüberlegt und ohne Strategien. Auch wird eine fehlende Ausrichtung an Prioritäten bemängelt – womit das Unternehmen eine klare Prioritätenregelung vermissen lässt (F31). Die Ergebnisse legen nahe, dass eine klare Unternehmensstrategie fehlt.

U NTERNEHMENSRESILIENZ

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3.4 Chancenorientierung und Selbstwirksamkeit Mit Chancenorientierung und Selbstwirksamkeit ist die aktive Einflussnahme in Entscheidungen, Projekten und Strategien angesprochen. Die Gesamtanalyse zeigt, dass die Mitarbeiter grundsätzlich an die Chancenorientierung und Selbstwirksamkeit des Unternehmens glauben. Auch hier tritt ein Alterseffekt auf: Während die jüngste und älteste Gruppe (55) zu dieser Einschätzung gelangen, sieht die mittlere Altersgruppe (26–45) deutlichen Verbesserungsbedarf. Die Einzelanalyse bestätigt nochmals den Befund, dass die Mehrheit der Befragten (55%) die Prioritätensetzung nicht klar definiert sieht und ihrer Einschätzung nach die Führungsebene dazu tendiere, den Überblick zu verlieren (F4). Ob das Unternehmen widrigen Umständen gewachsen ist, darüber sind sich die Mitarbeiter uneinig; nur eine knappe Mehrheit stimmt dem zu (F18). Auch im Hinblick darauf, ob das Unternehmen den Anforderungen auf dem Markt im Großen und Ganzen gewachsen ist, die Frage nach der Unternehmensstärke, herrscht Unschlüssigkeit unter den Befragten vor (F32). Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass viele Mitarbeiter unsicher hinsichtlich der realen Unternehmensstärke sind. Dies könnte auch auf eine fehlende Kommunikationskultur innerhalb der Organisation hinweisen. 3.5 Verantwortung Die Resilienzdimension Verantwortung geht den Fragen nach, wie sehr sich ein Unternehmen seiner Aufgaben und Verantwortungen bewusst ist und wie klar diese geregelt sind. In der Gesamtanalyse zeigt sich, dass fast alle Mitarbeiter das Treffen klarer Regelungen hinsichtlich Verantwortung, Auseinandersetzung mit Problemen und anderen Situationen nur als befriedigend bewerten. Einzelne Problemlösungsprozesse der Führungsebene können dabei von den Mitarbeitern nicht nachvollzogen werden. Auch hier zeigt sich ein Alterseffekt: Die älteren Mitarbeitergruppen (>45) bewerten die Dimension Verantwortung etwas positiver. Die Einzelanalyse ergibt, dass sich das Unternehmen der Verantwortung, die es trägt, bewusst ist. Fehler und Probleme werden schnellstmöglich zu beseitigen versucht. Hierbei steht die Führungsebene für ihre Fehler ein. Offen scheint hingegen die genaue Klärung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten bei Fehlern von Mitar-

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beitern (F26). Es kommt nach Meinung der Mitarbeiter vor, dass die Geschäftsführung und Führungskräfte bei unangenehmen Situationen vorschnelle Entscheidungen treffen, wodurch bereits Fehler gemacht worden sind (F40). Die Befragten erachten dies insgesamt als problematisch. Auch ist die Mehrheit der Ansicht, dass Probleme in der Vergangenheit durch unüberlegte Entscheidungen verschlimmert worden sind (F54). Unüberlegte Handlungen werden als Indikator für die Verschlechterung von Problemen wahrgenommen. 3.6 Netzwerkorientierung und Kooperation Inwieweit ein Unternehmen auf Kooperationen innerhalb der Organisation zurückgreift sowie interne und externe Unterstützung sucht, zeigt die Resilienzdimension Netzwerkorientierung und Kooperation an. Nach der Gesamtanalyse ergeben sich tendenziell positive Werte, wonach der Großteil der Mitarbeiter der Ansicht ist, dass im Unternehmen untereinander und auch von außerhalb Hilfestellungen prinzipiell geleistet und angenommen werden. Auch hier vertritt aber die mittlere Altersgruppe (26–45) eine kritischere Auffassung. Die Einzelanalyse ergibt insbesondere bei zwei Fragen ein negatives Stimmungsbild, wonach die Führungsebene Probleme eher durch Einzelentscheidungen (nicht kooperativ) löse (F13) und sich bei Problemen jede Abteilung nur auf sich selbst verlassen könne (F48). Unter Berücksichtigung der weiteren dieser Dimension zugeordneten Merkmale kann dies als Indiz dafür gewertet werden, dass die Kommunikationskultur im Unternehmen verbesserungsfähig ist und Mitarbeiter zu wenig in Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden. Es zeigt sich auch, dass die Kommunikations- und Kooperationskultur zwischen den Abteilungen sowie zwischen den Abteilungen und den Führungskräften teilweise als problematisch gesehen werden, während das Betriebsklima innerhalb der Abteilungen als positiv erscheint. 3.7 Zukunftsorientierung Die Dimension der Zukunftsorientierung erfasst, wie stark das Unternehmen seine Zukunft plant und für diese vorsorgliche Entscheidungen trifft. Bei dieser Dimension werden in der Gesamtanalyse die größten Meinungsunterschiede in Bezug auf das Alter sichtbar. Insbesondere bei den jungen Mitarbeitern, gefolgt von der ältesten Mitarbeitergruppe,

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dominiert die Einschätzung, dass das Unternehmen zukunftsorientiert agiert, während dies die mittlere Altersgruppe (26–45) wiederum kritischer bewertet und deutlichen Verbesserungsbedarf sieht. Die Einzelanalyse ergibt, dass das Unternehmen zwar Zukunftsplanungen entwickelt, insbesondere aber alternative Planungen vernachlässigt, die flexibleres Denken und Agieren im Problemfall gewährleisten können. In den Antworten zu den Fragen 7 und 14 zeigt sich erhebliche Uneinigkeit unter den Befragten im Hinblick auf die Praktiken der Geschäftsleitung zur Entscheidungsfindung und zum Umgang mit Planabweichungen. Das lässt den Rückschluss zu, dass die Führungsebene zwar Zukunftsplanungen entwickelt und wenig dem Zufall überlässt, es dabei aber an Flexibilität mangelt, die erforderlich wird, sobald es zu Planabweichungen kommt. Damit korrespondiert auch Frage 28, wonach die Mehrheit der Befragten der Auffassung ist, dass sich das Unternehmen wenig Gedanken über den »Fall der Fälle« und geeignete Strategien mache. Was demzufolge fehlt, ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit Problemfällen. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass das Unternehmen auf mögliche Schwierigkeiten und Risiken nicht gut vorbereitet ist. 3.8 Alterseffekte Auffällig in der Befragung sind die deutlichen Altersdivergenzen. Im Durchschnitt zeichnen jeweils die älteste und die jüngste Mitarbeitergruppe ein positiveres Meinungsbild des Unternehmens, als das bei der übrigen Belegschaft der Fall ist; die mittlere Altersgruppe ist regelmäßig kritischer eingestellt. Dies soll hier beispielhaft an der Dimension Zukunftsorientierung der Mitarbeiter dargestellt werden (Abbildung 1). Die jüngsten und ältesten Mitarbeiter zeigen tendenziell die positivste Einschätzung. Die Altersgruppen der 26- bis 35- und der 36- bis 45-jährigen Mitarbeiter zeigen in allen Dimensionen die niedrigsten Resilienzwerte. Die Mitarbeiter der Altersgruppe von 46 bis 55 Jahren weisen in der Regel niedrigere Werte als die jüngsten und ältesten Mitarbeiter auf (Ausnahmen sind die Dimensionen Akzeptanz und Verantwortung: hier weist diese Altersgruppe den zweithöchsten Wert auf), waren aber durchweg positiver eingestellt als die 26- bis 35- und die 36- bis 45-jährigen Mitarbeiter. Tabelle 1 verdeutlicht dies noch einmal im Detail.

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Abbildung 1: Zukunftsorientierung der Mitarbeiter

Optimismus

Akzeptanz

Lösungsorientierung

Chancenorientierung

Verantwortung

Netzwerkorientierung

Zukunftsorientierung

Tabelle 1: Durchschnittswerte aller Dimensionen nach Altersgruppen

< 26

4,15

3,30

4,33

4,26

3,17

4,07

4,23

26-35 36-45

3,28 3,32

3,18 3,23

3,14 3,45

3,33 3,19

3,02 3,16

3,46 3,59

2,75 3,03

46-55 > 55

3,53 4,23

3,49 3,80

3,87 4,27

3,89 4,00

3,60 3,73

3,94 3,97

3,48 3,85

Das recht konstante Auftreten dieses Alterseffekts deutet darauf hin, dass Sozialisationsphasen einen deutlichen Einfluss in Bezug auf Resilienz haben und dies auch in der Forschung zu berücksichtigen sein wird. Dies ist ein Phänomen, das zuerst einmal die individuelle Resilienz betrifft, aber aufgrund des sehr deutlichen Effekts offensichtlich eine systematische Ursache in der betrieblichen Sozialisation hat (Elbe 1997). In Bezug auf die Unternehmensresilienz wird dies in Hinblick auf die Personalpolitik bedeutend. Speziell jüngere und ältere Mitarbeiter befördern die organisationale Resilienz, dies gilt es auch bei der

U NTERNEHMENSRESILIENZ

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Zusammensetzung von Arbeitsgruppen und Teams zu berücksichtigen, speziell vor dem Hintergrund des demographischen Wandels. 3.9 Befragungsergebnisse der Führungskräfte Grundsätzlich stimmen die Einschätzungen der Führungskräfte mit den Antworten ihrer Mitarbeiter in hohem Maße überein, es treten lediglich geringe Diskrepanzen im Vergleich zwischen Selbstbild und Fremdbild der Führungskräfte auf. Die Antworten der Mitarbeiter werden tendenziell etwas schlechter eingeschätzt, als diese tatsächlich ausfallen. Eine Ausnahme bildet die Dimension Verantwortung: Die Mitarbeiter-Antworten werden hier von den Führungskräften größtenteils besser eingeschätzt als sie tatsächlich waren. Tabelle 2 stellt die Mittelwerte der Mitarbeiter (MA) und der Führungskräfte (FK) für die sieben Resilienzdimensionen gegenüber.

Akzeptanz

Lösungsorientierung

Chancenorientierung

Verantwortung

Netzwerkorientierung

Zukunftsorientierung

FK MA

Optimismus

Tabelle 2: Vergleich Führungskräfte und Mitarbeiter

3,08 3,46

3,18 3,28

3,23 3,59

3,33 3,54

3,43 3,18

3,57 3,63

3,23 3,21

Obwohl die Abweichungen der Mittelwerte nicht groß sind, treten sie doch so konstant auf, dass sich vermuten lässt, dass die Führungskräfte das Gefühl haben, dass sie die Führungserwartung der Mitarbeiter nicht wirklich erfüllen – Führung bleibt für sie eine Zumutung (Elbe 2011). Was aber schwerer wiegt, ist dass die Führungskräfte selbst das Ergebnis ihrer Führungstätigkeit als leicht unterdurchschnittlich einschätzen. Offensichtlich sind sie nicht der Meinung, dass sie es schaffen, die Resilienz der Mitarbeiter und damit deren Fähigkeit zur Bewältigung von Krisen und zur Stärkung von Handlungsfähigkeit unter Ungewissheit zu stärken. Hier zeigt sich eine zentrale Ursache für die Abweichung vom Idealtyp der resilienten Organisation.

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Z USAMMENFASSUNG

Um die Resilienzorientierung auf die gesamte Organisationen zu übertragen, werden aus den Ergebnissen der Einzel- und Gesamtanalyse die für das Unternehmen jeweils wichtigsten Resilienzfaktoren und -dimensionen bestimmt, die gestärkt werden müssen, um Veränderungen im Sinne einer resilienten Organisation zu erzielen. Aus diesen werden im nächsten Schritt konkrete Maßnahmen abgeleitet, die das Unternehmen umsetzen kann. Das hier vorgestellte Instrument scheint geeignet, um Diskrepanzen zwischen dem Idealtyp organisationaler Resilienz und dem tatsächlichen Handeln (in) der Organisation aufzudecken und aus den Erkenntnissen Maßnahmen für Veränderungsprozesse in Richtung eines ressourcenorientierten Managements von Ungewissheit abzuleiten. Freilich bedarf das Instrument aus Forschungssicht noch weiterer Validierung. Als die Kristallisationspunkte der Analyse und damit als die das Unternehmen wesentlich schwächenden Faktoren konnten in der vorliegenden Untersuchung Defizite in Führung (insbesondere Führungsstruktur sowie Nachfolgeregelung) und Kommunikation sowie unklare Unternehmensziele herausgearbeitet werden. Was fehlt, ist eine eindeutige Unternehmensstrategie, daraus abgeleitete Planungsprozesse und eine klare Prioritätensetzung. Dies zeigte sich auch in den qualitativen Anteilen der Befragung: Zentrale Ursache der Abweichung vom Idealtyp der resilienten Organisation sind weniger System-, sondern eher Führungsmängel. Mangelnde Entscheidungsfähigkeit manifestiert sich darin, dass sich das Unternehmen schwer tut, Unabänderliches zu akzeptieren, und dazu neigt, in Problemsituationen zu verharren. Das nötige Maß an Flexibilität fehlt. Tendenziell herrscht eine Vermeidungshaltung anstelle einer Haltung des »Anpackens« vor. Andererseits attestieren die Mitarbeiter der Unternehmensführung auch unüberlegtes Handeln. Auf der operativen Ebene äußert sich die defizitäre Führungsstruktur mitunter darin, dass es immer wieder zu Unklarheiten bei konkreten Planungen und der Aufgabenverteilung in den Teams kommt. Auch das Unternehmensklima bleibt davon nicht unberührt: Immer wieder werden Defizite im Bereich Kommunikation erkennbar. So ist die Kommunikations- und Kooperationskultur insgesamt unbefriedigend, insbesondere zwischen Führungsebene und Mitarbeiter sowie zwischen den Abteilungen. Der Vergleich der Mitarbeiter-Einschät-

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zung mit der Einschätzung der Führungskräfte zeigt, dass die Führungskräfte sich dieser Defizite bewusst sind. In Bezug auf konkreten Veränderungsbedarf im untersuchten Unternehmen weisen die Resultate darauf hin, dass aufgrund unklarer Führungsstrukturen und fehlender Unternehmensstrategie die Resilienzdimension Führungs- und Lösungsorientierung stark betroffen ist. Zur Umorientierung in den Bereichen Führung und Lösungen ist zunächst eine Steigerung der Akzeptanz der aktuellen Unternehmenssituation erforderlich. Akzeptanz bedeutet auch, ein Problembewusstsein dahingehend zu entwickeln, dass grundsätzlich Handlungsbedarf vorhanden ist und dieser auch bewältigt werden kann. Darauf aufbauend lassen sich weitere Schritte unternehmen. Weiter wird bei der Lösungsorientierung die mangelnde Zukunftsorientierung des Unternehmens angesprochen. Das Unternehmen sollte zu einer umsichtigen und soliden Zukunftsplanung gelangen – das Ziel dieser Resilienzdimension. Darauf aufbauend gilt es, eine klare Unternehmensstrategie für die nächsten fünf bis zehn Jahre zu entwickeln (SWOT-/Portfolio-/Szenario-Analysen). Die neue Strategie ist im Anschluss daran nach innen und außen zu kommunizieren. Im Rahmen des Ergebnisbefundes ist weiter von Relevanz, bei allen Prozessen bewusst Flexibilität zu bewahren, Optionen zu entwickeln und Alternativen zuzulassen.7 Gleichzeitig ist zu empfehlen, dass das Unternehmen verstärkt in Netzwerkorientierung und Kooperation investiert. Eine lebendige Kommunikationskultur, ein regelmäßiger Austausch im und über das Unternehmen hinaus ist nicht nur in Veränderungsprozessen unentbehrlich. Wichtig ist, offen, eindeutig und zeitnah zu kommunizieren und die Mitarbeiter hierbei mit einzubeziehen. Dies lässt Motivation und Energien für Veränderungsprozesse entstehen (Gerkhardt/Frey 2006: 53). Die Partizipation der Mitarbeiter am Veränderungsprozess stellt ein Grundprinzip des Change Management dar und meint das Ausmaß, in dem Mitarbeiter in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, wie auch deren Mitbestimmungsrechte. Diese können in Bezug auf Zukunftsorientierung und die Bewältigung von Krisen zu Ressourcen für die Organisation werden. Aus den genannten Resilienzdimensionen konnten in der vorliegenden Untersuchung maßgebliche Erfolgsfaktoren für das Unterneh-

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Vgl. hierzu die Bedeutung von Salutogenese für ein innovationsförderliches Management von Ungewissheit im Artikel von Elbe in diesem Band.

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men ermittelt werden. Diese liegen in der Verbesserung von Struktur und Rolle der Führung sowie der Lösungsorientierung und der Kommunikationskultur des Unternehmens. Damit konnten wesentliche Ansatzpunkte für eine grundlegende Stärkung der Resilienzfähigkeit des Unternehmens und einer Kultur des Managements von Ungewissheit herausgearbeitet werden. Aus der Forschungsperspektive hat das hier vorgestellte Instrument seine Tauglichkeit zur Positionsbestimmung einzelner Unternehmen in Bezug auf den Idealtyp der resilienten Organisation nachgewiesen. Damit kann es auch als Grundlage zur Beratung und Entwicklung von Organisationen genutzt werden. In weiteren Untersuchungen sind zwei Fragen zu klären: Wie gut erfüllt das hier vorgestellte Instrument die notwendigen Gütekriterien (Methodenperspektive) zur weiteren Untermauerung einer Theorie der resilienten Organisation und welche konkreten Trainings- und Entwicklungsmaßnahmen tragen dauerhaft zur Stärkung der Unternehmensresilienz (Entwicklungsperspektive) bei? Ein wichtiger Hinweis für zukünftige Theoriearbeit ergibt sich aus den festgestellten Alterseffekten, die auf eine hohe Bedeutung der betrieblichen Sozialisation für die organisationale Resilienz und das Management von Ungewissheit schließen lassen.

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Unsicherheit und die Analyse globaler Finanzmärkte Vom Risikoansatz zur Eigenständigkeit von Unsicherheit O LIVER K ESSLER

E INFÜHRUNG Ob die aktuelle Finanzkrise nur ein leichtes Erdbeben oder eine nachhaltige Zäsur für die globalen Finanzmärkte darstellt, ist momentan nicht absehbar (Thompson 2009: 520). Auf der einen Seite sind die großen Pläne einer grundlegenden Reform globaler Finanzströme vom Tisch. Das Ausmaß und die Form von spekulativen Geschäften haben sich nicht nachhaltig verändert und wir sehen eine Rückkehr zu alten Gewohnheiten und Praktiken. Auf der anderen Seite ist die Finanzkrise eines der wichtigsten Ereignisse seit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Allein ihre Kosten übersteigen das Zehnfache der Asienkrise und es ist die erste Krise seit der Europakrise 1992, die ihren Ausgangspunkt im Zentrum der Globalfinanz findet.1 Obwohl sich die Anzeichen einer nachhaltigen Erholung der Weltwirtschaft verdichten, ist es aus diesem Grund immer noch angebracht, die von der Krise aufgeworfenen konzeptionellen und theoretischen Herausforderungen

1

Obwohl die Berechnungen schwanken, können die Gesamtkosten der Krise auf ca. US$ 11 Billionen beziffert werden. Siehe zum Beispiel: www. digitaljournal.com/article/277282.

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weiterhin zu verfolgen. Die guten Nachrichten verdecken nur die strukturellen Probleme, sie lösen sie aber nicht. Mehr noch: Es lohnt sich sogar nachzuhaken, warum die anscheinend schwerste Finanzkrise der letzten 70 Jahre gerade nicht zu einer nachhaltigen Reform, sondern vielmehr zu einer neuen Einübung bestehender Praktiken führte. Es ist doch erstaunlich, welche Themen gerade nicht angegangen werden, wie zuvor angekündigte ›radikale‹ und ›grundlegende‹ Reformen wieder in der Schublade verschwinden und sich das alte System perpetuieren kann. Die Frage lautet also: In welcher Art und Weise wurden Krisenursachen identifiziert und somit der Möglichkeitshorizont von daran ansetzenden (Nicht-)Reformen festgezurrt? Ich versuche in diesem Beitrag zu zeigen, dass die Antwort auf interne Diskussionen der Wirtschaftswissenschaften im Allgemeinen und den Unsicherheitsbegriff im Speziellen verweist. Mein Argument basiert auf der Annahme, dass gerade der Unsicherheitsbegriff innerhalb des ökonomischen Diskurses eine zentrale Funktion einnimmt und unterschiedliche Unsicherheitsbegriffe als Platzhalter für divergierende Auffassungen von Wissenschaft, Verhältnis von Theorie und Praxis und Rationalität dienen. Diese interne Debatte um den Unsicherheitsbegriff verdeutlicht, warum die Finanzkrise in einer spezifischen Art und Weise gerahmt ist, und gibt den Rahmen politischer Deliberation vor. In diesem Beitrag geht es also weniger um eine Darstellung der faktischen Existenz von Unsicherheit auf den Finanzmärkten selbst als vielmehr um eine Rekonstruktion der Grenzen und Verzerrungen der Reformdebatte. Die Existenz von Unsicherheit wird kaum jemand bezweifeln. Im Gegenteil. Aber die aktuellen Reformbemühungen konzentrieren sich auf die Lösung von technischen Fragen einer Verbesserung bestehender Regulierungen (Sinclair 2009: 450). Die Frage lautet daher nicht, ob etwas ›geschieht‹ oder ob es eine ausreichende Anzahl an Veränderungen gibt, beide Fragen müssten sofort bejaht werden, sondern ob die aktuellen Reformbemühungen überhaupt in die richtige Richtung zeigen oder nicht weiterführende Probleme kaschieren. Das Argument wird in drei Schritten dargelegt. In einem ersten Schritt erfolgt eine Rekonstruktion der aktuellen Reformdebatte. Als treibende Kraft hinter den aktuellen Reformbemühungen steht die Überzeugung, dass der Krise ein Regulierungsfehler vorausgeht. Nach Ansicht der G20, des IWF, der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und des neuformierten Financial Stability Board (FSB) hat die

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Verbreitung von Derivaten und Verbriefung von Hypotheken zu einer Situation geführt, in der bestehende Regulierungen unzureichend wurden und eine adäquate Risikoeinschätzung seitens der Banken und anderer Marktteilnehmer nicht mehr möglich war. Die Frage, wie es zu der Krise kommen konnte, erhält über Begriffe wie asymmetrische Information, exogene Schocks und Markt- und Regulierungsfehler eine spezifisch ökonomische Konnotation. Diese Begriffe strukturieren dadurch den Möglichkeitshorizont der Reformdebatte. Im zweiten Schritt wird diese ökonomische Lesart der Krise auf ihr Unsicherheitsverständnis befragt. Der Begriff der Unsicherheit spielt in der Strukturierung der Reformdebatte eine zentrale Rolle. Eine disziplinhistorische Rekonstruktion der Stellung des Unsicherheitsbegriffs in der Ökonomik verdeutlicht gleichzeitig, dass diese Interpretation nicht einfach auf individuelle Willkür zurückzuführen ist. Vielmehr verweist sie auf strukturelle Verzerrungen im ökonomischen Diskurs, die bei der praktischen Anwendung ökonomischer Expertise zu Tage treten. Im dritten Schritt frage ich nach den Konsequenzen dieser Strukturprägekraft des Unsicherheitsbegriffs und verweise hier vor allem auf Regulierung von Rating-Agenturen als ein instruktives Beispiel, anhand dessen die unterschiedlichen Auffassungen expliziert werden können.

1

K RISE , R EFORM , S TABILITÄT

Keine Person wird ernsthaft behaupten können, dass es sich bei der letzten Finanzkrise um ein einfaches Phänomen handelt. Vielmehr lassen sich verschiedene, wenn auch sicherlich überlappende Problemlagen unterscheiden. Zuerst nimmt die globale Finanzkrise im Zerplatzen der Spekulationsblase auf dem amerikanischen Hypothekenfinanzierungsmarkt ihren Anfang. Angeheizt durch eine Niedrigzinsperiode (die Zinsen lagen bei 1% für US Treasury Bonds) und einem stetig wachsenden Immobiliensektor wurde der Hypothekenmarkt für die Wall Street sehr interessant. Mit einer sich langsam vollziehenden Privatisierung des Marktes, der Marktanteil privater Investoren stieg auf über 50% bis 2006, ging auch eine Lockerung der Vergabepraxis einher (Kiffs/Mills 2007: 5). Während Hypotheken zuvor vornehmlich so genannten ›prime‹-Kunden vorbehalten waren, also Kunden mit sehr

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guter Bonität, wurden Hypotheken zunehmend auf Sub-Prime-Kunden ausgeweitet. Die anfängliche Bezeichnung der Turbulenzen als ›Subprime‹-Krise verdeutlicht die treibende Kraft und Relevanz dieses Sektors. Bedeutsam in diesem Kontext ist auch, dass es sich bei dem Immobilienfinanzierungsmarkt um einen strategischen Markt handelt. Internationale Handelsbilanzüberschüsse wurden hier wieder ›recycelt‹ und finanzierten so das US-amerikanische konsumorientierte Wachstumsmodell (für weiterführende Diskussionen siehe Young 2011; Bieling 2011). Dieser Aspekt berührt auch einen zweiten Problemkontext: die Ausbreitung der Krise. Was als ein spezifisch amerikanisches und bereits bekanntes Problem seinen Ausgang nahm, teilweise auch mit antiwestlichen Interpretationen versehen (siehe Teichler 2011), verwandelte sich schnell in ein globales Phänomen, dessen Bedeutung heute weit über den US-amerikanischen Kontext hinausweist. Neben den Überschüssen aus dem Welthandel zeichnen vor allem spezifische Praktiken der Globalfinanz für die globale Ausbreitung verantwortlich. Insbesondere die Verbriefung, d.h. die Umwandlung von Forderungen aus dem Hypothekengeschäft in handelbare Wertpapiere, erlaubte den globalen Verkauf von möglichen Risiken. Bei der Verbriefung wurden mehrere Hypotheken in einen Pool zusammengetragen und dann die Rechte auf den Geldstrom aus den Hypothekenrückzahlungen in unterschiedliche Senioritätsstufen verkauft. Dabei spielten vor allem Rating-Agenturen eine konstitutive Rolle, da sie durch ihre Ratings diese Senioritätsstufen in unterschiedliche Risikoklassen übersetzten und damit diese auch legitimierten. Als die spekulative Blase zerplatzte, kollabierte auch dieses soziale Netzwerk, auf dessen Basis die Evaluation und Preisbildung dieser Wertpapiere erfolgte. Banken wussten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, für welche Positionen sie sich selbst noch verantwortlich zeigen müssen, von der Frage nach dem Wert dieser Positionen ganz zu schweigen.2 In der Folge kam der Interbankenhandel fast vollständig zum Erliegen. Eine einsetzende Kreditklemme übersetzte, als dritter Problemkontext, die Finanzkrise in eine globale Rezession, die in der heutigen europäi-

2

Erschwerend kam hinzu, dass viele dieser Wertpapiere über sogenannte Special Investment Vehicles (SIV), Zweckgesellschaften, deren Aktivitäten nicht in der Bilanz der Muttergesellschaft auftauchen (sollten), gehandelt wurden. Für eine Diskussion siehe insbesondere Financial Stability Board (2011).

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schen Schuldenkrise ihren momentanen Höhepunkt erreicht. Obwohl sich die globale Konjunktur zu erholen scheint, sind damit die Folgen der Krise noch lange nicht abgeschlossen. So knapp und sichtlich grob gehalten die Charakterisierung der Krise ausfällt, zeigt sich dennoch deren hoher Komplexitätsgrad: die Krise wurde ermöglicht durch eine spezifische Konstellation von Akteuren (Banken, Hedge Funds, Rating-Agenturen etc.), die mit Hilfe neuer Praktiken (Verbriefung, eingesetzte Hebel) ein komplexes Netzwerk kreierten, auf dessen Basis neue Produkte evaluiert, kategorisiert, gehandelt und bewertet wurden. Die genaue Analyse der Verbindungen und spezifischen Konstellation ist bereits Gegenstand mehrerer weiterführender Analysen geworden und wird hier nicht weiter verfolgt (vgl. Kessler 2009). Vielmehr setzt die Argumentation an einem anderen Punkt an: Die einsetzende Reformdebatte spiegelt diese Komplexität nicht wider. Demgegenüber wird die Unterschiedlichkeit dieser Problemfelder über den Begriff des Marktversagens nivelliert und einer rein ökonomischen Logik zugeführt. Bereits 2008 lokalisierten die Veröffentlichungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), des Internationalen Währungsfonds (IWF) und des Financial Stability Board (FSB) die Krisenursachen in der unzureichenden Regulierung der Praktiken.3 Wie zum Beispiel das FSB darlegt: »because of accumulated weaknesses in risk management and underwriting standards, and the sheer scale of the adjustment required, attempts by individual institutions to contain their risk exposures have led to reinforcing dynamics in the system as a whole… Weaknesses in public disclosures by financial institutions have damaged market confidence during the turmoil. Public disclosures that were required of financial institutions did not always make clear the type and magnitude of risks associated with their on- and off-balance sheet exposures. There were also shortcomings in the other information firms provided

3

In der bisherigen Reformdebatte stellen die Publikationen der G20, des IWF und des Financial Stability Board (FSB) den diskursiven Knotenpunkt dar. Diese Berichte und Diskussionspapiere enthalten die zentralen Argumente und strukturieren die weitere Reformdiskussion. Obwohl es sicherlich eine Vielzahl sehr guter und wichtiger Nichtregierungsorganisationen (NGO) gibt und natürlich auch andere Regulierungsbehörden sich zu den Ereignissen in eigenständigen Publikationen verhalten, konzentriert sich die folgende Diskussion auf diese drei Institutionen.

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about market and credit risk exposures, particularly as these related to structured products. Where information was disclosed, it was often not done in an easily accessible or usable way.« (FSB 2008a: 8)

Die drei Institutionen sehen die Krisenursachen nicht als eine endogene Folge von Finanzpraktiken, wie die Erkenntnis der unterschiedlichen Problemlagen im Allgemeinen und der spezifischen Netzwerkkonstellation im Speziellen nahelegen, sondern als Resultat eines exogenen, den Finanzpraktiken eigentlich äußerlichen Schocks (siehe z.B. FSB/IWF 2010: 16). Freilich soll das nicht heißen, dass die Institutionen die Veränderungen der Finanzmärkte nicht erkennen, analysieren und teilweise kritisch bewerten würden. Aber die Konsequenz dieser Veränderung mündet nicht in eine rekonstruktionslogische Analyse der Krisenmechanismen, sondern diese wird subsumptionslogisch mit altbewährten Erklärungsmustern abgefertigt. So betont ein von FSB und IWF gemeinsam verfasstes Dokument die Informationslücken und Informationsasymmetrien als Ursache der Krisen (FSB/IWF 2010). Analog argumentiert auch ein entsprechendes Kapitel zu systemischen Risiken im Global Financial Stability Report des IWF vom April 2009, welches ebenso auf Informationsasymmetrien (IWF 2009: 114) verweist.4 Diese Definition der Krise als Resultat einer Informationslücke unzureichender Regulierung konzentriert die weiteren Bemühungen auf die Identifizierung und Messung dieser Lücken. Über bessere und höhere Publikationsanforderungen sollen mehr Daten zu mehr Informationen führen und damit diese Lücken schließen. Natürlich zeigt sich hier ein empirizistisches Verständnis aktueller Praktiken, das systemisch deren epistemische Komponente vernachlässigt, wie es sich im Problemfeld Vertrauen und Nichtwissen äußert. Die Situation, die sich aufgrund neuer Praktiken und einer neuen Konstellation von Akteuren, Modellen und Instrumenten ergeben hat, wird auf die Komponente der Informationslücke reduziert. Diese Rahmung der Krise zieht insbesondere drei Konsequenzen nach sich. Zum einen wird die soziale Dimension globaler Finanzmärkte vernachlässigt. Es hat sich ja gezeigt, dass die Beurteilung, die Preisbildung und der Handel neuartiger Wertpapiere durch Vertrauen und die

4

Für weitere Verweise siehe insbesondere FSB (2008b, 2009a, b; 2010 a, b), FSB/IWF/BIZ (2010).

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gegenseitige Beobachtung der einzelnen Akteure ermöglicht wurden. Diese soziale Komponente wird über die Formel der Informationslücke technisiert, indem angenommen wird, jeder der Akteure könne die gleichen Informationen ›generieren‹, wenn er Zugang zu den gleichen Daten hat. Fragen der Preisbildung und Beurteilung als soziale Fakten werden nicht weiter verfolgt (siehe hierfür Beunza u.a. 2006). Zweitens wird, wie angesprochen, die Krisenursache externalisiert. Die Krisenursache lässt sich auf exogene Faktoren wie unzureichende Regulierung zurückführen. Die Möglichkeit einer endogenen Produktion von Instabilität, als Resultat der finanzwirtschaftlichen Praktiken selbst, wird nicht weiter verfolgt, wie nochmals das FSF betont: »Public authorities recognised some of the underlying vulnerabilities in the financial sector but failed to take effective countervailing action, partly because they may have overestimated the strength and resilience of the financial system« (FSF 2008a: 13). Eine Sicht, die fast schon an Zynismus grenzt, wenn wir uns vor Augen führen, dass nicht IWF, Zentralbanken oder die Börsenaufsichtsbehörden, sondern das Netzwerk von Banken, Modellen und Praktiken im Zentrum der Krise steht. Die Krise ist die Konsequenz spezifischer Praktiken, die gleichzeitig selbst Teil der modernen Globalfinanz sind. Diese Externalisierung der Krisenursache geht mit einer dritten Konsequenz einher: Es wird der Mythos der Effizienzmarkthypothese monetaristischer Prägung beibehalten. Es wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Finanzmärkte im Prinzip effizient und stabil seien, solange die Rahmenbedingungen angemessen sind. Mit anderen Worten: Es wird hier eine konzeptionelle Hierarchie eingeführt, da der Krisenbegriff dem Effizienzbegriff nachgelagert ist. Die Krise wird nur negativ als faktische Konsequenz eines Marktversagens oder eines Regulierungsfehlers definiert und ein eigenständiger Krisenbegriff vermieden. Konsequenterweise perpetuiert sich dadurch ein vorbestimmter Aktionsradius der Politik: es ist die Aufgabe der Politik für eine vernünftige Rahmensetzung zu sorgen. Weiterführende Fragestellungen sollen nicht politische, sondern rein technische Fragestellungen sein. Die Ökonomik stellt hier die relevante Expertise bereit und schreibt den politischen Akteuren deren Aktionsradius vor. Die Krise wird als rein ökonomisches Phänomen definiert, behandelt und gelöst. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die globalen Turbulenzen als Konsequenz eines Informationsproblems aufgefasst werden, welches durch die Bereitstellung besserer Daten und höherer

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Transparenz gelöst werden kann.5 Auf Basis dieser positivistischen Grundüberzeugung werden weiterführende Fragen von Vertrauen, intersubjektiver Bedeutungsstrukturen, Preisbildung etc. abgekappt. Das Problem lag doch nicht in der Abwesenheit von Daten allein begründet, sondern in deren sich verändernder Bedeutung. Sogenannte Collateralized Dept Obligations (CDO) mit AAA-Rating wurden zu Giftpapieren, Ratings wurden unbrauchbar, Wertpapiere zu tickenden Zeitbomben. Das heißt: Der gesamte Prozess der Wertzuschreibung und Bewertung von Wertpapieren kollabierte. Mit einer Krisensituation verändern sich die Narrative, Perspektiven und Überzeugungen mit der Konsequenz, dass die gleichen Daten nun etwas anderes bedeuten, zeigen, ausweisen. Krisensituationen liegen jenseits rationaler Anpassungsmechanismen und die reine Datenbereitstellung macht das System nicht stabiler, denn Daten per se haben keinen Informationswert. Sie enthalten kein Informationspartikel, der von Akteur zu Akteur hüpfen könnte. Die Akzeptanz dieser sozialen Komponente, z.B. bei der Preisbildung, der Bewertung und der Bildung von intersubjektiven Erwartungen, steht quer zum Narrativ des exogenen Schocks. Die Konsequenz der existierenden Erklärung aber perpetuiert die Effizienzmarkthypothese und schließt weiterführende Reformüberlegungen vom Reformdiskurs aus. Sie werden delegitimiert und verlieren den Status der Wissenschaftlichkeit. Die Frage, die sich nun aufdrängt, lautet doch: Wo liegt die Grenze dieser Rahmung? Auf welchen Annahmen beruht sie – und wo sind die Hebel einer Gegendarstellung, mit der die ökonomische Sichtweise mit ihrer eigenen Kontingenz konfrontiert werden könnte? Eine Antwort führt uns zum Unsicherheitsbegriff und damit zum nächsten Schritt der Argumentation.

5

Um nochmals das FSB zu zitieren: »Enhanced disclosures […] could help to avoid a recurrence of market uncertainties about the strength of banks’ balance sheets in the event of a future episode of market turmoil.« (FSF 2008a: 22)

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UND DIE K ONSTITUTION ÖKONOMISCHER E XPERTISE

Der letzte Abschnitt hat gezeigt, dass die beobachtbare Komplexität der Finanzkrise in der Reformdebatte nur unzureichend reflektiert wird. Vielmehr wird über die Formel der Informationsasymmetrie die Ursache der Krise subsumptionslogisch in bewährte innerökonomische Erklärungsmuster übersetzt und damit werden weiterführende Fragestellungen nicht weiter verfolgt. Dazu gehören die Fragen nach den performativen Prozessen ökonomischer Modelle, die konstitutive Rolle ökonomischer Expertise für die Herausbildung zentraler Praktiken und die Grenzen individualistischer Erklärungsmuster. Die Diskussion um die Reformierung kappt an dieser Stelle ab, wirkt verzerrt und starr. Die Frage, die in diesem Abschnitt verfolgt wird, lautet: Auf welchen Voraussetzungen beruht diese Argumentation – und wo liegen ihre Grenzen? Die Antwort führt uns zu den Grundlagen der ökonomischen Entscheidungstheorie und damit der Konstitution ökonomischer Expertise. Ein Blick in die Geschichte des ökonomischen Denkens zeigt hier die prägende Kraft des Unsicherheitsbegriffs. Üblicherweise wird in diesem Kontext auf die Unsicherheitsbegriffe von Frank Knight und John M. Keynes verwiesen (Knight 1921; Keynes 1921; 1937). Gerade entlang unterschiedlicher Interpretationen des Unsicherheitsbegriffs bei Keynes entwickeln sich lange Diskussionen zwischen den Vertretern der neoklassischen Synthese und deren heterodoxen, primär postKeynes’schen Kritikern (siehe z.B. Dow/Hillard 2002). Aber auch bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert und damit eigentlich schon in der Geburtsstunde der modernen Wirtschaftswissenschaften verweist der Begründer der Österreichischen Schule Carl Menger auf eine institutionelle Unsicherheit von ökonomischen Interaktionen, um sich von der Idee der Arbeitsteilung von Adam Smith abzugrenzen und eine eigene, subjektive Wert- und Gesellschaftstheorie zu entwickeln (Menger 1871). Unsicherheit ist nicht nur ein Teilbereich der ökonomischen Entscheidungstheorie, innerhalb dessen sich die ›richtige‹ Konzeption von Unsicherheit durchsetzte,6 sondern sie unterteilt den ökonomischen

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Vgl. hierzu auch den Beitrag von Judith Neumer »Entscheiden unter Ungewissheit« in diesem Buch.

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Diskurs in eine orthodoxe und eine heterodoxe Position. Beide Positionen unterscheiden sich grundlegend in Bezug auf Verständnis, Methode und sozialtheoretische Einbettung der ökonomischen Analyse. Wichtig an dieser Stelle erscheint daher festzuhalten: Die Debatte um die Rolle von Unsicherheit ist so alt wie die moderne Ökonomik selbst. Seit dieser Zeit wird die Frage, ob Unsicherheit von kalkulativen Praktiken (Risiko) abgegrenzt oder ob sie damit gleichgesetzt werden kann (bzw. muss), zu einem zentralen Referenzpunkt. Hieran entzünden sich weiterführende Fragen wie Konturen instrumenteller Rationalität, die Rolle von Institutionen und sogar der Wissenschaftsanspruch der Ökonomik selbst. Freilich kann an dieser Stelle keine Rückschau auf die Geschichte des ökonomischen Denkens erfolgen. Noch können die unterschiedlichen und auch rivalisierenden Zweige ökonomischen Denkens adäquat diskutiert oder dargestellt werden. Hier mag es ausreichen, auf die prägende Rolle von Unsicherheit bei der Formulierung der Erwartungsnutzentheorie zu verweisen, die selbst wiederum für die moderne Entscheidungstheorie, insbesondere für ihre spiel- und vertragstheoretischen Wendungen eine zentrale Position einnimmt.7 Anhand der Erwartungsnutzentheorie lassen sich aus diesem Grund die Grundlagen ökonomischen Denkens leichter darstellen. Die Erwartungsnutzentheorie selbst etabliert einen auf Präferenzen und Nutzenfunktionen aufbauenden Formalismus, der die Analyse der Grenzen und Konturen von ökonomischer Rationalität, Effizienz und ›Wohlfahrt‹ unter Bedingungen kontingenter Zukunft erlaubt. Auf Basis sehr allgemeiner Annahmen (wie z.B. Vollständigkeit, Transitivität und Monotonie der Nutzenfunktionen) wird eine Entscheidung als eine Kombinatorik aus Wahrscheinlichkeitsverteilungen und möglichen Zuständen der Welt konzipiert.8 Voraussetzung für eine rationale Wahl un-

7

Es bietet sich daher eine Rekonstruktion der Erwartungsnutzentheorie selbst an. Die Konsequenzen für Spiel- und Vertragstheorie sind damit abgedeckt.

8

Für eine Rekonstruktion der Debatte um die Erwartungsnutzentheorie siehe Oliver Kessler (2008: Kapitel 4). Auch an dieser Stelle muss eine Vereinfachung erfolgen. Freilich wurde die Entscheidungstheorie intern sehr ausführlich diskutiert und nahezu alle ihre Axiome wurden kritisiert, reformiert oder widerlegt, auch wenn sie heute weiterhin wie selbstverständlich

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ter Unsicherheit ist demnach die faktische Existenz von Wahrscheinlichkeitsverteilungen, die den einzelnen Zuständen zugeschrieben werden können. Aber woher kommen diese Wahrscheinlichkeiten? Die Existenz erster Wahrscheinlichkeiten lässt sich aus dem Prinzip des unzureichenden Grundes ableiten. Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass selbst in Situationen radikaler Unsicherheit und absolutem Nichtwissen immer noch eine Gleichverteilung von Wahrscheinlichkeiten über den Raum möglicher Zustände der Welt erfolgen kann. Selbst wenn eine Person absolut nichts wissen sollte, kann sie auf die Frage nach ihrer Einschätzung einer Situation immer noch antworten: Entweder etwas passiert oder es passiert nicht. Entweder ein bestimmter Zustand der Welt tritt ein oder nicht. Das entspricht einer Aufteilung von 50% zu 50% oder eben der Zuschreibung von 0,5 und 0,5 über die zwei möglichen Zustände der Welt. Weitere Informationen und Beweise führen dann zu einer rationalen Anpassung der Überzeugungen bzw. einer Veränderung der Wahrscheinlichkeitsverteilung. Das Prinzip des unzureichenden Grundes ist für die disziplinäre Ausrichtung der ökonomischen Entscheidungstheorie von zentraler Bedeutung. Auf dessen Basis argumentiert zum Beispiel Kenneth Arrow (1951), dass eine Unterscheidung von Unsicherheit und Risiko auf Basis einer Ab- bzw. Abwesenheit von numerischen Wahrscheinlichkeiten unnütz und unsystematisch sei. Eine bekannte Unterscheidung von epistemischer Wahrscheinlichkeit (als Ausdruck des Nichtwissens) und aleatorischer Wahrscheinlichkeit als Ausdruck mehrerer existierender Möglichkeiten (bei Lotterien, Poker, Roulette, Würfel etc.) sei daher nicht notwendig. Eine Situation genuiner oder radikaler Unsicherheit lasse sich über das Prinzip des unzureichenden Grundes immer als eine Risikosituation beschreiben und Wahrscheinlichkeiten als Ausdruck eines Nichtwissens verstehen. Schließlich wäre bei vollständigem Wissen die Frage nach Risiko gar nicht zu stellen. Da unter dem Prinzip des unzureichenden Grundes das Gesetz der großen Zahlen gelte und, wie Ramsey zeigte, die allseits bekannten Wahrscheinlichkeitsregeln weiterhin anwendbar seien, sei die Bayes’sche Induktion immer noch die beste Methode (siehe Laffont 1989; Hirshleifer/Riley 1992; Savage 1954).

angewendet und bei spiel- und vertragstheoretischen Modellen automatisch als gültig angenommen wird.

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Mit anderen Worten: dieses Prinzip des unzureichenden Grundes, dass also in Situationen vollständiger Ignoranz noch eine Zuschreibung von numerischen Wahrscheinlichkeiten erfolgen kann, erlaubt eine ›Schließung‹ der Wahrscheinlichkeitstheorie. Das System der wahrscheinlichen Aussagen ist in der Folge eine rein formale Sprache und folgt letztlich den gleichen Anforderungen der basalen Logik und ihrer Umformungen, wie wir sie aus so manch langweiligem Statistikunterricht kennen. Der Ausschluss von Unsicherheit als eigenständiger Begriff erlaubt eine, wenn auch höchst brüchige Fundierung der ökonomischen Entscheidungstheorie, in der Grundüberzeugungen positivistischer Theoriebildung ihre Anwendung finden können. In der Folge wird der formalen Modellierung von Praktiken ein Primat zugesprochen und ökonomische Modelle als passive Abbilder einer objektiv gegebenen Wirklichkeit verstanden. Praktische Probleme degenerieren damit zu technischen Fragen, die durch den rationalen Wissenschaftsdiskurs und auf Basis der ökonomischen Expertise gelöst werden können. Als Zwischenschritt ist erkennbar, wie über eine Exklusion genuiner Unsicherheit der heutige ›Mainstream‹ der Entscheidungstheorie legitimiert und heterodoxen Ansichten, die sich auf unterschiedliche Weise auf den Unsicherheitsbegriff gestützt haben, der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verwehrt wird. Doch beruhen die Überzeugungen auf engen Grenzen, wie das Ellsberg-Paradox aufzeigt (siehe Ellsberg 1961: 643ff.). Das Ellsberg-Paradox Das Ellsberg-Paradox zeigt die Grenzen eines quantitativen Verständnisses von Wahrscheinlichkeit und damit der ökonomischen Entscheidungstheorie. Beim Ellsberg-Paradox wird einem Entscheider folgende Situation vorgestellt: Eine Urne enthält 30 rote Bälle und 60 gelbe und schwarze Bälle (ebd.: 653–656). Das Verhältnis von gelben zu schwarzen Bällen ist nicht bekannt. Das Experiment vollzieht sich nun wie folgt: Es wird genau ein Ball gezogen. In Abhängigkeit von der Farbe werden dem Probanden Auszahlungsströme bzw. Lotterien angeboten, wie sie in Tabelle 1 dargestellt sind. In einer ersten Wahlmöglichkeit wird der Proband mit den Lotterien A und B konfrontiert. Lotterie A zahlt eine Summe von €100 aus, sollte ein roter Ball gezogen werden. Die Lotterie B zahlt ebenfalls €100 im Fall der Ziehung eines schwarzen Balls aus. Das Verhältnis von roten Bällen ist bekannt (ein Drittel der Gesamtmenge). Das Verhältnis der

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schwarzen Bälle ist eigentlich unbekannt. Aber nach dem Prinzip des unzureichenden Grundes sollten die Probanden von einer Gleichverteilung der Wahrscheinlichkeiten über die Ereignisse ›schwarzer Ball‹ und ›gelber Ball‹ ausgehen und den beiden möglichen Ereignissen ebenfalls die Wahrscheinlichkeit von einem Drittel zuschreiben. Obwohl die Situation für die Probanden in beiden Lotterien gleich ist (bzw. die erwartete Auszahlung von Wahrscheinlichkeit multipliziert mit der Auszahlung), besteht bei empirischen Tests eine eindeutige Präferenz der Probanden für Lotterie A. Tabelle 1: Das Ellsberg-Paradox Rot 30 Bälle

Schwarz 60 Bälle

Gelb

Lotterie A Lotterie B

€ 100 €0

€0 € 100

€0 €0

Lotterie A’ Lotterie B’

€ 100 €0

€0 € 100

€ 100 € 100

In der zweiten Wahlsituation wird die Entscheidung leicht verändert. Lotterie A’ zahlt €100 aus, sollte entweder ein roter oder ein gelber Ball gezogen werden. Die Lotterie B’ zahlt die gleiche Summe bei der Ziehung von entweder einem schwarzen oder einem gelben Ball aus. Hier dreht sich die Präferenz um, da Probanden die Lotterie B’ der Lotterie A’ vorziehen. Doch dies sollte eigentlich nicht der Fall sein: Der Unterschied zwischen den zwei Wahlsituationen liegt in der Auszahlung von €100 bei gelben Bällen – und zwar sowohl bei Lotterie A’ als auch bei Lotterie B’. Da die Zahlung von €100 bei Ereignis ›Geld‹ bei beiden Lotterien gleich ist, ist sie eigentlich für die Entscheidung irrelevant. Wenn jemand also eher Lotterie A der Lotterie B vorziehen würde, sollte dies auch zu einer Präferenz von Lotterie A’ vor Lotterie B’ führen. Dass dieser Präferenzwandel dennoch immer zu beobachten ist, ist leicht erklärbar. Bei Lotterie B’ sind die Gewinnchancen genau bekannt, bei Lotterie A’ sind zwar die erwarteten Auszahlungen ebenso hoch, aber der Proband ist der Unsicherheit des ›Nicht-Wissen-Könnens‹ der faktischen Verteilung ausgesetzt.

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Genau diese Zweideutigkeit des Nichtwissens verweist hier auf ein zentrales Problem der modernen Entscheidungstheorie: Nach dem Prinzip des unzureichenden Grundes übersetzt sich die Frage ›was ist eher wahrscheinlich‹ in ›wie viel bist du bereit darauf zu setzen‹ und damit in eine Zahl (siehe Ramsey 1926: 161). Unterschiedliche Formen des Nichtwissens werden durch die Angabe einer Zahl versteckt. Doch ist die Bedeutung von ›angenommener‹ und ›faktischer‹ Wahrscheinlichkeit eben nicht gleich, selbst wenn die gleiche Zahl zugeschrieben wird. Es ist ein Unterschied, ob eine Wahrscheinlichkeitsverteilung als ›Möglichkeit‹ aufgrund von Nichtwissen (epistemisch) angenommen wird oder ob die gleiche Verteilung auf Grund von mehreren Möglichkeiten faktisch vorliegt. Das heißt, der Unterschied zwischen epistemischer und aleatorischer Wahrscheinlichkeit kann gerade nicht über das Prinzip des unzureichenden Grundes nivelliert, sondern muss in der unterschiedlichen Form ihres Nichtwissens angenommen werden. Daniel Ellsberg betont an dieser Stelle selbst eine vergessene Dimension der Entscheidung, wenn er darauf hinweist: »What is at issue might be called the ambiguity of this information, a quality depending on the amount, type, reliability, and ›unanimity‹ of information, and giving rise to one’s degree of ›confidence‹ in an estimate of relative likelihoods.« (Ellsberg 1961: 657)

Dabei betont er gleichzeitig, dass »[t]his judgment of the ambiguity of one’s information of the over-all credibility of one’s composite estimates, of one’s confidence in them, cannot be expressed in terms of relative likelihoods or events« (ebd.: 659). Diese Glaubwürdigkeit in Daten oder Verteilungen liegt jenseits einer möglichen numerischen Repräsentation. Stellen wir uns zur Verdeutlichung folgende Situation vor: Ein Spieler wird gefragt, mit welcher Wahrscheinlichkeit er mit dem Ereignis ›Kopf‹ bei einem Münzwurf rechnet. Die physischen Eigenschaften der Münze sind dem Spieler unbekannt, und nach dem Prinzip des unzureichenden Grundes geben Spieler die Wahrscheinlichkeit von 50% an. Dieser Münzwurf wird nun mehrfach wiederholt. Wird der Spieler wieder nach seiner Einschätzung gefragt, bleibt die Antwort unverändert, denn in der Hälfte der bisherigen Würfe ist das Ereignis eingetreten. Numerisch hat sich demnach nichts geändert, obwohl das Vertrauen in die Aussage und die Erkenntnis in die materiellen Eigenschaften der Münze nun bekannt sind.

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Das Problem der ökonomischen Entscheidungstheorie liegt also darin, dass der Ausdruck der primären Gleichverteilung auf der Basis einer völligen Unkenntnis der Situation – aber eben auch als ein positiver Ausdruck der Überzeugung – erfolgen kann. Ein rein quantitatives Maß verdeckt die Unterschiedlichkeit dieser zwei Dimensionen, wie Keynes klarstellt: »we must be clear as to what we mean by saying that a probability is unknown. Do we mean unknown through lack of skill in arguing from given evidence, or unknown through lack of evidence?« (Keynes 1921: 33). Während in ökonomischen Modellen Unsicherheit immer in strukturierter Form (Risiko) vorliegt, bezieht sich der Begriff der Unsicherheit bei Keynes auf eine unstrukturierte Situation, die jenseits statistischer Messung liegt. Unsicherheit ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern betont gerade die mögliche Gewichtung des Arguments, »very uncertain is something different as very improbable« (Keynes 1936: 148). Wie in der viel zitierten Textstelle von 1937 weiter ausgeführt wird: »By uncertain knowledge, let me explain, I do not mean merely to distinguish what is known for certain from what is only probable. The game of roulette, is not subject, in this sense to uncertainty; nor is the prospect of a Victory bond being drawn. Or, again, the expectation of life is only slightly uncertain. …The sense in which I am using the term is that in which the prospect of a European war is uncertain, or the price of copper and the rate of interest twenty years hence, or the obsolescence of a new invention, or the position of private wealth owners in the social system in 1970. About these matters there is no scientific basis on which to form any calculable probability whatsoever. We simply do not know.« (Keynes 1937: 213–214)

Diese Form des Nichtwissens entzieht sich dem theoretischen Wissen von Theoremen, Propositionen, mathematisch-logischen Transformationen und der Identifikation von Kausalitätsbeziehungen. Als praktisches Wissen kann es nur durch eine Analyse von Normen, Regeln und Gewohnheiten rekonstruiert werden. Diese Regeln sind den Akteuren zum Teil nicht bewusst und greifen auf implizites Wissen zurück (vgl. Ryle 1949). Die Unterschiedlichkeit dieser zwei Wissensformen lässt sich an einem einfachen Beispiel erkennen: Das theoretische Wissen ist in Sätzen formulierbar, zum Beispiel der Inhalt einer Antwort auf eine bestimmte Frage. Das praktische Wissen interessiert

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sich für das Wissen, dass wir schon haben, damit wir überhaupt eine Frage stellen können. Zusammenfassend kann folgende Unterscheidung erfolgen: Es hat sich gezeigt, dass sich die ökonomische Entscheidungstheorie gerade über den Ausschluss von genuiner Unsicherheit konstituiert, denn Unsicherheit wird über einen quantitativen Wahrscheinlichkeitsbegriff mit Risikosituationen gleichgesetzt. Über das Prinzip des unzureichenden Grundes wird das System wahrscheinlicher Aussagen auf eine numerische und formale Repräsentation reduziert und Veränderungen von Wissen, Überzeugungen, und Relationen über die Boole’sche Algebra beschrieben. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff selbst wird aleatorisch als Ausdruck mehrerer existierender Möglichkeiten bzw. möglicher Zustände der Welt konzeptualisiert, wie zum Beispiel bei von Neumann und Morgenstern deutlich ersichtlich wird: »Probability has often been visualized as a subjective concept more or less in the nature of an estimation. Since we propose to use it in constructing an individual, numerical estimation of utility, the above view of probability would not serve our purpose. The simplest procedure is, therefore, to insist upon the alternative, perfectly well founded interpretation of probability as frequency in the long run.« (von Neumann/Morgenstern 1944: 19)

Mit dieser Konzeption des Unsicherheitsbegriffs werden wichtige programmatische Entscheidungen getroffen. Zum einen setzt er die Existenz wohldefinierter Situationen voraus. Alle Akteure, ihre Interessen und die Kategorien sind bereits definiert, bevor das Experiment, das Spiel, die Interaktion stattfindet. Selbst das Nichtwissen, also welche Variable in welchem Rahmen unbekannt ist, ist bereits festgelegt. Die Frage, ob die Drei auf dem Würfel nun wirklich eine Drei ist oder ob es sich wirklich um einen Würfel handelt und ob der Würfel der gleiche Würfel für alle Teilnehmer ist, ist einfach eine falsche Frage, denn »[p]robability theory is the study of transformations of admissible numbers, particularly the study of the change of distributions implied by such transformations« (von Mises 1940: 193). Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Wahrscheinlichkeitstheorie setzt erst dann ein, wenn alle epistemologischen Fragestellungen gelöst oder der Ontologie nachgelagert sind. Aus dieser Entscheidung leiten sich auch Grundüberzeugungen positivistischer Theoriebildung ab: Wenn die Situation bereits vor

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der Interaktion klar definiert ist, impliziert dies auch eine klare Trennung zwischen den Akteuren und der Situation selbst. So ist bei Experimenten die Situation für die Probanden im Vorfeld verständlich erklärt und die fragenden Wissenschaftler selbst sind nicht Teil des Experiments. Sie stehen dem Experiment äußerlich gegenüber und beobachten ›neutral‹. D.h. die Empirie ist für die Wissenschaftler objektiv gegeben und theoretische Modelle bilden diese Realität passiv ab. Es ist die alleinige Aufgabe der Wissenschaft, Wissen über kausale Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten zu produzieren. Das hierfür notwendige Wissen findet sich in Theoremen und Propositionen. Über eine Gegenüberstellung von Risiko und Unsicherheit werden diametral verschiedene Überzeugungen vertreten. Dieser Ansatz interessiert sich nicht für vorgefertigte und wohldefinierte Situationen, sondern nimmt die Prozesse der Strukturierung und Kategorisierung von Situationen in den Blick. Dementsprechend fußen die zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeitstheorien nicht auf relativen Häufigkeiten, sondern betonen deren epistemische Dimension. Für Keynes zum Beispiel sind Wahrscheinlichkeiten Ausdruck unseres Wissens über die Welt, sie sind jedoch nicht Teil der Welt (Keynes 1921: 12). Da Wahrscheinlichkeiten sich auf eine epistemische und nicht auf eine primär ontologische Dimension beziehen, bietet sich hier auch der Begriff der Ungewissheit an. Ungewissheit grenzt sich von Unsicherheit in ihrer primären Fragestellung, ihrer Wissenschaftsauffassung und den beobachteten Wissensformen ab. Während sich Unsicherheit für die Identifikation von Kausalitäten interessiert, fragt Ungewissheit nach der Konstitution und Herausbildung von empirischen Phänomenen. Der Unsicherheitsansatz in der Ökonomie fragt primär danach, wie ein spezifisches Nichtwissen zu verändertem Verhalten, veränderten Gleichgewichten und Ineffizienzen führt. Der Ungewissheitsansatz fragt vor allem nach der Herausbildung und Strukturierung von Situationen, d.h. nach der Art und Weise, wie Unsicherheit in Risiko absorbiert wurde und somit der Situation eine spezifische Form gab. Analog unterscheiden sich auch beide Ansätze in ihrem Wissenschaftsverständnis: Während Unsicherheit ein positivistisches Theorieverständnis vertritt, das auf einer klaren Trennung von ›Subjekt und Objekt‹ aufbaut, ist diese Trennung im Sinne der Ungewissheit nicht einzuhalten. So tritt Keynes dieser Auffassung entschieden entgegen, wenn er sich beklagt, sie hätte

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»entirely lost sight for all practical purposes of the relational nature of the conception [of probability]. Under the aegis of an empirical philosophy they have sought in probability a quantity belonging to the entities of phenomenal experience and have imagined that events have probabilities just as men belong to nations. This realist view has been one of the most dangerous disillusions in the past and is not even now eradicated from English philosophy.« (zitiert nach Carabelli 1985: 156)

Die Mechanismen der Unsicherheitsabsorption liegen daher jenseits von Propositionen. Vielmehr finden sie sich in Regeln, Konventionen und Normen, die selbst Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse sind. Doch welche Konsequenzen lassen sich nun für das Verständnis globaler Finanzmärkte ausmachen? Diese Frage beantwortet der nächste Abschnitt.

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U NSICHERHEIT UND S YSTEMSTABILITÄT

DIE

F RAGE

NACH DER

In der bisherigen Argumentation wurde die Kontur der Reformdebatte rekonstruiert. Es hat sich gezeigt, dass sich deren Struktur und Grenzen nicht aus dem empirischen Phänomen, sondern aus der Ökonomik speisen. Der letzte Abschnitt zeigte die grundlegenden Überzeugungen anhand der Unterscheidung von Unsicherheit und Ungewissheit auf. Es hat sich gezeigt, dass die Unterscheidung verschiedene Überzeugungen bei Fragen der Wissenschaftstheorie, der grundlegenden Fragestellung und Formen von Wissen und Nichtwissen markiert. Dieser Abschnitt spiegelt diese Unterscheidung auf Fragen der Finanzmarktstabilität zurück und zeigt die Konsequenzen für Regulierungsfragen. Führen wir uns nochmal das zentrale Ergebnis des ersten Abschnitts vor Augen. Die Reformdebatte wird an wichtigen Stellen abgekappt, sie wirkt verzerrt und behandelt wichtige Fragen nicht. Es werden rein ökonomische Erklärungsmuster angeboten, die Fragen der Performativität ökonomischen Wissens und von selbstreferentieller Strukturbildung (z.B. die Blindheit der Risikomodelle für selbst produzierte Risiken) bleiben ausgeklammert, obgleich die Krise genau diese Fragen aufwirft. Vielmehr wird über die Figur der Informationsasymmetrie die Effizienzmarkthypothese wieder legitimiert und die Endo-

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genität der Krise, die konstitutive Rolle neuer Praktiken, nicht ernst genommen. Um die unterschiedliche Herangehensweise von Unsicherheit und Ungewissheit bei Regulierungsfragen darzustellen, bietet sich vor allem das Beispiel der Rating-Agenturen an.9 Neben den Hedge Fonds sind sie in das Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt. Innerhalb der öffentlichen Debatte wird ihr schlechtes Abschneiden in der Krise vor allem über einen bestehenden Interessenkonflikt erklärt: Die Rating-Agenturen werden für ihre Ratings von dem zu bewertenden Unternehmen bezahlt. Das Unternehmen steht der Rating-Agentur also nicht neutral gegenüber, sondern beide stehen in einer Geschäftsbeziehung. Aus diesem Grund wird angenommen, dass es zu einem Konflikt zwischen einer objektiven Darstellung der Daten und Fakten und der Wahrung langfristiger Geschäftsbeziehungen kommt (siehe z.B. Paulsson 2008). Jedoch besteht dieser Interessenkonflikt seit mehreren Jahrzehnten und kann allein sicherlich nicht verantwortlich für das schlechte Image der Rating-Agenturen sein. Wenn dieser Interessenkonflikt so entscheidend wäre, hätte er bereits bei den Verhandlungen zu Basel II eine gewichtige Rolle spielen müssen, als die Position der Rating-Agenturen im globalen Finanzgefüge deutlich aufgewertet wurde (Wighton 2009; Baker 2009: 100). Ebenso besteht dieses Finanzierungsmodell der Rating-Agenturen schon seit über 30 Jahren und es erstaunt doch etwas, dass ausgerechnet jetzt dieser Interessenkonflikt so eine gewichtige Rolle spielen soll. Auf der anderen Seite passt die Formel des Interessenkonflikts wunderbar in ein rationalistisches Erklärungsmodell, denn dieser Erklärungsstil steht hier Pate: Die Zahlung von Gebühren für Ratings kreiert ein Prinzipal-Agenten-Problem zwischen den Agenturen und den Investoren. Aus diesem Grund sind die Ratings nicht optimal, da ihre Analyse weniger kritisch ausfällt, als sie es eigentlich sein sollte. Die neue Anreizökonomik kann hier sicherlich wunderbare Modelle bauen, die aber die zentrale Funktion der Rating-Agenturen nicht begreifen können. Die Frage nach den Rating-Agenturen wird doch nicht wegen eines Interessenkonflikts relevant, sondern weil sie eine neue und sehr spezifi-

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Dieser Abschnitt basiert auf Diskussionen, die ich mit Tim Sinclair geführt habe.

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sche Rolle in der heutigen Globalfinanz einnehmen. Mit anderen Worten: Obwohl natürlich eine Abwertung der Bewertung Konsequenzen für die Zinslast eines Unternehmens, einer Stadt, eines Landes hat, konstituiert sich doch die Rolle der Rating-Agenturen nicht über die Beziehung der Ratings zu den empirischen Fakten bzw. darüber, ob und inwieweit die Ratings die empirischen Fakten adäquat und richtig abbilden. Ob ein Rating nun ›richtiger‹ oder ›besser‹ ist, ist eigentlich unerheblich. Wichtiger ist doch, dass es die Rating-Agenturen selbst sind, die diese Ratings ausgeben. Die Ratings erlauben die gegenseitige Beobachtung der Akteure und werden als ›wahr‹ angenommen. Selbst wenn die Veränderung eines Ratings ›objektiv‹ falsch sein sollte, werden die Akteure so handeln, als ob es wahr wäre (siehe auch Sinclair 2010). Aus dem einzigen Grund, dass die Akteure erwarten, dass die anderen Akteure sich ebenso verhalten. Die Ratings haben sich in die soziale Matrix der Finanzmärkte eingeschrieben. Über Ratings werden Erwartungen gebildet, andere Akteure beobachtet, Lernen symbolisiert und Entscheidungen ›rationalisiert‹. Die Rating-Agenturen sind zu einer epistemischen Autorität geworden, deren Urteil als Datum angenommen wird. Aus diesem Grund ist doch der Impuls einer ›Bestrafung‹ der Rating-Agenturen aufgrund ihrer schlechten Arbeit sicherlich ehrenwert und auch notwendig, aber die Lösung des Interessenkonflikts wird nicht das grundlegende Problem lösen: dass Ratings Teil der sozialen Matrix sind. Ratings sind ›soziale Fakten‹. Dieser Verweis auf die ›soziale Matrix‹ verweist auf ein grundsätzliches Problem bei der Analyse globaler Finanzmärkte: Es handelt sich um soziale Gebilde. Die Interaktionen, Praktiken und Prozesse sind primär soziale Beziehungen und eine Analyse der Krise, der Finanzmärkte und ihrer Regulierung muss diesen Aspekt ernst nehmen. Die Frage nach der Regulierung der Finanzmärkte lässt sich daher auch nicht über die Lösung technischer Fragen und einer einfachen Anwendung rationalistischer Erklärungsmodelle beantworten. Vielmehr verdeutlicht doch auch die Sozialität der Finanzmärkte deren organischen und evolutionären Charakter. Interventionsversuche in die Finanzmärkte werden daher auch mit Ausweichstrategien beantwortet. Regulierung der Finanzmärkte ist daher nicht gleichzusetzen mit der ›Architektur‹, das heißt, dass Regulierung einfach den Rahmen für Finanzpraktiken ›vorgibt‹. Vielmehr ist Regulierung fast schon ›dialektisch‹ zu verstehen. Die Regulierung einer Krise gibt den Raum und Mög-

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lichkeitshorizont der nächsten Krise vor. Und genau das ist die Lektion von Ungewissheit auf den Finanzmärkten.

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Z USAMMENFASSUNG

Dieser Beitrag nahm die aktuelle Reformdebatte im Zuge der Finanzkrise als Ausgangspunkt, um die Rolle und prägende Kraft von Unsicherheit für die Analyse von Kapitalmärkten zu betonten. Es zeigt sich, dass das Verhältnis von Unsicherheit und Risiko eine wichtige Unterscheidung markiert. Über eine Gleichsetzung von Unsicherheit mit Risiko bzw. durch die Negierung der Eigenständigkeit von Unsicherheit als wissenschaftliche Kategorie wird ein positiv-rationaler Ansatz legitimiert. Über die Effizienzmarkthypothese wird dadurch gleichzeitig ein technologisches Verständnis von Finanzmärkten forciert, das selbst wiederum auf einer konzeptionellen Hierarchie von Effizienz gegenüber Instabilität und Krise aufbaut. Krisen sind das Resultat von Fehlern, keine eigenständigen Sozialsysteme und kein inhärenter Bestandteil der Finanzmärkte. Aus diesem Grund wird die Reform als eine Fixierung von technischen Problemen dargestellt, wie sie zum Beispiel bei der Idee eines Interessenkonflikts bei Rating-Agenturen zu Tage tritt. Die Eigenständigkeit von Unsicherheit im Gegensatz zu Risiko (in diesem Beitrag als Ungewissheit benannt) zeigt hier Alternativen auf. Gerade Unsicherheit verdeutlicht, dass Situationen nicht klar vor einen treten, sondern über Diskurse geordnet, gerahmt und mit Sinn ausgestattet werden. Gleichzeitig betont Unsicherheit den sozialen Charakter von Praktiken und damit den evolutionären Charakter von Finanzmärkten. Die Rolle von Rating-Agenturen zeigt sich aus diesem Blickwinkel gerade darin, dass sie epistemische Autoritäten sind, die Bedeutungen fixieren und Lernprozesse symbolisieren können. Die Ratings haben sich in die soziale Matrix der Finanzmärkte eingeschrieben und lassen sich auch nicht über einen Interessenkonflikt lösen.

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Ungewissheit und Lernen J OHANNES S AUER /M ATTHIAS T RIER

E INLEITUNG Es kann hier nicht der Ort sein, die bildungspolitische Entwicklung der letzten 40 Jahre nachzuzeichnen. Nur auf drei bestehende Megatrends soll aufmerksam gemacht werden. Es hat in den letzten 50 Jahren eine extreme Ausweitung des Bildungssystems gegeben. Die Bildungshierarchie hat sich nahezu umgedreht, ›einfache‹ Bildungsabschlüsse sind weiter auf dem Rückzug. Das erhöhte Angebot an Qualifikationen wurde vom Arbeitsmarkt aufgenommen. Ein zweiter Trend ist ebenfalls ungebrochen. Eine abgeschlossene Berufsausbildung wird immer mehr zur entscheidenden Eintrittskarte auf dem Arbeitsmarkt, dies belegt jede Arbeitslosenstatistik. Dadurch entsteht ein gesellschaftlich ungelöstes Problem: Durch den Ausbau und die Differenzierungs- und Spezialisierungsprozesse im Bildungssystem nimmt die Selektion zu, wie die Zahlen der Bildungsabbrecher/ -innen belegen. Sie haben auf dem Arbeitsmarkt nur wenige Chancen. Dies ist eine Folge auch der bildungspolitischen Gegebenheiten, die auf spezifische Formen des pädagogisch schulisch organisierten Lernens rekurriert. Der dritte Trend ist alt und wird zugleich immer wichtiger. Entscheidend ist das ›Lernen lernen‹. Je schneller Innovationen und Veränderungen zunehmen und damit Ungewissheit wächst, umso wichtiger wird das Weiterlernen. Dies zu gestalten, ist eine zentrale Herausforderung.

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Nach dem vorherrschenden Verständnis wird das allgemeine und das berufsbedingte oder berufsvorbereitende Erwachsenenlernen als individuelles Aufnehmen und Verarbeiten von vorgegebenem Wissen, Entwicklung fachbezogener Fähigkeiten und Einüben beruflicher Fertigkeiten unter Anleitung in schulischen oder schulähnlichen Formen verstanden. Dieses Verständnis vom Weiterlernen, das mit Weiterbildung gleichgesetzt wird, wurde geprägt in der Zeit der ersten Bildungsexpansion ab Mitte der 1960er Jahre. Das Bildungssystem war im Umbruch, die Bedeutung von Bildung und Qualifikation wurde bewusst und die bildungs- und gesellschaftspolitische Herausforderung nach mehr sozialer Chancengleichheit wurde mehrheitsfähig. Dieser Prozess des Umbruchs ließ auch die Weiterbildung nicht unberührt, vielmehr wurde eine realistische Wende (vgl. Knoll 2006) für mehr Bildungschancen auch für Erwachsene gefordert und ein Förderinstrumentarium entwickelt, das in den 1970er Jahren zu zahlreichen Weiterbildungs-/Erwachsenenbildungsgesetzen geführt hat. Ziel war die ständige »Wiederaufnahme organisierten Lernens nach einer ersten Bildungsphase«1 nach einem schulischen Vorbild als Sozialstaatsgebot. Diese Sichtweise ist zu verstehen vor dem Hintergrund einer florierenden Industriegesellschaft, die in der Bundesrepublik nahezu zu Vollbeschäftigung führte und in der Arbeitslosigkeit als individuelles Defizit durch entsprechende Bildungsmaßnahmen kompensiert werden sollte.2 Die Industriegesellschaft selbst war geprägt durch ein Höchstmaß an Arbeitsteilung, auch der Taylorismus zwischen Arbeit und Lernen war eines ihrer Kennzeichen Eine ähnliche Entwicklung mit einer entsprechenden Expansion formaler Bildung gab es auch in der ehemaligen DDR, allerdings war die Bildung dort unter anderem auch durch eine stärkere Betriebsorientierung gekennzeichnet und damit der Gegensatz von Arbeit und Lernen nicht so scharf ausgeprägt wie in den alten Bundesländern. Aber auch dort lag der Schwerpunkt auf institutionellen Lernformen und auf humanistischen Bildungstraditionen. Doch heute sind neue Entwicklungen in Gang gesetzt worden, die auch zunehmend von der Wissenschaft reflektiert werden. So formuliert Siebert, einer der Protagonisten der Institutionalisierung der Weiterbildung:

1

Deutscher Bildungsrat, Strukturplan für das Bildungswesen 1970.

2

Vgl. die Debatte um das AFG 1969.

U NGEWISSHEIT

UND

L ERNEN

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»Die Differenzierung und Verrechtlichung der Weiterbildung war historisch notwendig, allerdings erscheint jetzt eine erneute Reintegration der Bildungsarbeit in berufliche und außerberufliche Lebenswelten erforderlich, ohne dass das Weiterbildungssystem ›aufgelöst‹ werden sollte.« (Siebert 1998: 332)

Und Arnold betont: »Die Unternehmenskulturdebatte sowie die Rezeption von Ansätzen des selbstorganisierten und handlungsorientierten Lernens kann als Ausdruck der Tatsache gewertet werden, dass die traditionellen betriebspädagogischen Ansätze immer weniger zur Deutung und Lösung der heute in der Praxis anstehenden Probleme taugen.« (Arnold 1996: 92)

Diese Aussagen verdeutlichen, dass sich der in der Bundesrepublik in der Bildungspolitik und teilweise in der Erwachsenenbildungswissenschaft vorherrschende Institutionalismus aufzulösen beginnt. Die dargestellte Diskussion um das in anderen europäischen Ländern favorisierte informelle Lernen (vgl. Internationale Trends des Erwachsenenlernens 2005) einerseits sowie aktuellen Debatten aus der Bildungshistorie der Bundesrepublik andererseits dokumentieren die Notwendigkeit der weiterbildungspolitischen Neuorientierung. Diese Entwicklungstrends werden verstärkt durch die Erfahrungen im Transformationsprozess der neuen Bundesländer in den letzten 20 Jahren. Es ist kein Zufall, dass die weiterbildungspolitischen Erfahrungen die Schwächen der bundesrepublikanischen Weiterbildungsvorstellungen offengelegt haben. Eine ganze Bevölkerung musste unter dem Druck des Überlebens den Umgang mit neuen komplexen Systembedingungen erlernen. Zwar hat es einen im Umfang und Geldeinsatz einmaligen Boom an institutioneller Weiterbildung gegeben, die Wirkungen sind aber als eher zweifelhaft anzusehen (vgl. Knöchel/Trier 1995). Für unseren Gegenstand sind auf Erwerbsarbeit und auf außererwerbliche Tätigkeiten gerichtetes Lernen gleichermaßen zu betrachten, denn die Menschen leben in einer komplexen Umwelt und müssen ihre verschiedenen Seiten – nicht nur die Arbeitswelt – verstehen, um erfolgreich handeln zu können. Dabei treten ständig neue Ungewissheiten und Probleme auf, denen sie sich konstruktiv stellen müssen. Daraus folgt, dass sich das Erwachsenenlernen für alle Tätigkeitsfelder mit der Veränderung der Gesellschaft verändert hat und weiter verändert.

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Der Erwerb und die Anwendung erprobter, vorgegebener Wissensund Verhaltensmuster für die eigene Tätigkeit bleiben nach wie vor unerlässlich, genügen jedoch für den Erfolg nicht mehr. Sie bilden nur ein Grundmuster des Handelns ab, geben eine mögliche Verhaltensund Arbeitsorientierung. Die Gewissheit, dass ein bestimmtes Handeln in einer definierten Situation notwendig ein bestimmtes Resultat nach sich zieht, gilt nur eingeschränkt. Das routinemäßige Abarbeiten immer gleicher Vorgänge, wie die eng getaktete Arbeit an Fertigungsstraßen und Fließbändern ist nur für einen Teil von Industriearbeit oder analog für manche einfachen Dienstleistungen noch gegeben, es steht im Gegensatz zu unvorhergesehenen Problemen, die zu lösen, instabilen Abläufen, die zu beherrschen sind. Im Folgenden sollen zunächst Anforderungen an das Lernen umrissen werden, die durch die Konfrontation mit Ungewissheit entstehen (1 und 2). Daran anschließend werden das Konzept selbstorganisierten Lernens und darauf aufbauend Strukturen einer neuen Lernkultur dargelegt (3 und 4). Ungewissheit charakterisiert somit zunehmend das Handeln im Beruf und gleichermaßen im sozialen Umfeld. Darauf ist das Verhalten einzustellen, und es muss von jedem Akteur geklärt werden, wie in solchen unsicheren Situationen gelernt werden kann und muss.

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N EUE H ERAUSFORDERUNGEN FÜR L ERNEN DURCH U NGEWISSHEIT

DAS

Die sich rasant verändernde Arbeitswelt und die vielfältigen Situationen zur Bewältigung der alltäglichen Beziehungen und Forderungen von Familie, Nachbarschaft, Freundeskreis, sozialen Gruppen und Organisationen, in die alle Erwachsenen mehr oder weniger intensiv integriert sind, verlangen aktives Handeln oft ohne die Gewissheit des erfolgreichen Ausgangs des Vorhabens, da es dafür keine erprobten Algorithmen geben kann und gibt. Die Widersprüchlichkeit und Komplexität der Handlungsbedingungen entzieht sich jeder vollständigen und exakten Erfassung und Beschreibung. Die Auseinandersetzung mit Ungewissheit gilt für alle Lebensbereiche und nicht nur für Arbeit und Beruf, sie wird zur lebensbegleitenden Anforderung und keineswegs zum Sonderfall, bis das Schiff wieder in ruhiges Fahrwasser gelangt ist und alte Routinen wieder die Oberhand gewinnen können.

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Vor allem soziale Systeme entziehen sich einer vollständigen Steuerung, die handelnden Gruppen und Individuen sind in ihren Aktionen nicht völlig berechenbar, ständig entstehen neue chaotische Situationen, neue Verhaltensmuster der Handelnden. Hierarchien und Steuerungsmodelle sind nur begrenzt handlungsgestaltend. Die individuellen Hilfsmittel – neben den mehr oder weniger opulenten materiellen Ressourcen, die zur Verfügung stehen – sich im turbulenten Handlungsfeld zu behaupten, sind Wissen, Können, Einstellungen, Überzeugungen, Wille und Emotionen – die ganze Palette der Verhaltensregulationsdispositionen. Sie werden integriert in komplexe Dispositionen zur Selbstorganisation – Kompetenzen –, die ein erfolgreiches Handeln ermöglichen und erleichtern. Dieses Handeln ist umso erfolgreicher, je mehr die Einzelnen Ungewissheit akzeptieren, ihre Umgebung und ihre Aufgaben bewusst wahrnehmen, darüber reflektieren und sich neue Erkenntnisse und Erfahrungen aneignen als Möglichkeiten des Verhaltens in einem komplexen Handlungsraum. Die Tätigkeiten, die auszuführen sind – ganz gleich ob in Wirtschaft, öffentlicher Verwaltung, bei Banken und Versicherungen, im Gesundheits- und Sozialwesen, in kulturellen Einrichtungen oder auf dem Feld der internationalen Beziehungen werden gleichzeitig komplexer und individuell differenzierter, sie entziehen sich weitgehend algorithmischen Abläufen, die unendlich kopierbar wären.

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U NGEWISSHEIT UND IHR E INFLUSS AUF DIE K OMPONENTEN DER V ERHALTENSREGULATION

Die allgemein anerkannten Dispositionen der Verhaltensregulation – Wissen, Können, Einstellungen, Überzeugungen, Willen, Emotionen, Kompetenzen – sind kein starres Regelwerk, das sicheres Handeln in allen Situationen erlauben würde. Besonders unter turbulenten Bedingungen müssen sie sich in ihrer Gewichtung für das aktuelle Handeln mit verändern. Die bisherigen Geschehnisse bilden für die Akteure einen Fundus von Erfahrungen, jedoch keine Folie für zukünftiges Handeln, denn das Geschehen, in dem sie sich befinden, ist irreversibel und in seiner Komplexität nicht vorhersehbar. Vor allem Kompetenzen als dynamische Verlaufsqualitäten für Handeln erhalten unter unsicheren Bedingungen erhöhte Bedeutung, sie wirken darauf hin, wie etwas getan wird, welche Zusammenhänge

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hergestellt werden und wie Wissen und Erfahrung mit anderen Regulationskomponenten verbunden werden. Kompetenzen werden als Selbstorganisationsdispositionen verstanden (vgl. Erpenbeck/Heyse 1996), die handelnd erlernt werden. Für Erwachsene steht das Arbeitshandeln in seiner Bedeutung für den Lebensverlauf an der Spitze. Doch dieses Arbeitshandeln erhält seit geraumer Zeit neue Facetten. Traditionell standen vor allem Wissen und Können im Zentrum des Arbeitshandelns, logisch-rationales Vorgehen war ein Erfolgsgarant. Zunehmend wird darauf aufmerksam gemacht, dass das subjektivierende Arbeitshandeln in der Wirtschaft wie in anderen Bereichen der Gesellschaft an Bedeutung gewinnt, um komplexe und unscharfe Problemstellungen häufig unter Zeit- und Problemdruck bearbeiten zu können (vgl. Schultz-Wild/Böhle 2006, Moldaschl/Voß 2003). Es wird festgestellt, dass objektivierendes und subjektivierendes Arbeitshandeln in der Praxis kombiniert werden müssen und auch kombiniert werden, um Erfolg zu haben. Zum Wissen treten das Gefühl, die Antizipation von Ereignissen, die Assoziation von vorangegangenen Erfahrungen, die Phantasie sowie Elemente des Spiels hinzu und beeinflussen das aktuelle Handeln. Diese Komponenten der Handlungsregulation, die scheinbar konträr zum logisch-rationalen Vorgehen stehen, werden zunehmend zu Handlungsgrundlagen und ergänzen das rational-logische Handeln. Dieses Handeln erfolgt besonders in qualifizierter Arbeit weitgehend selbstorganisiert und selbstgesteuert, häufig ist es ein Suchhandeln oder ein Vorgehen in kleinen Schritten, die sich allmählich auf ein noch unbekanntes Ziel hin bewegen. Ebenso wie beim Arbeitshandeln verändern sich auch die Gewichtungen der einzelnen Komponenten der Verhaltensregulation in anderen Tätigkeiten, von denen an dieser Stelle die nichtprofessionellen Tätigkeiten im sozialen Umfeld hervorgehoben werden sollen. Sie benötigen gleichfalls ein stabiles Fundament an Wissen und Können, dazu kommen jedoch in stärkerer Ausprägung emotional getönte Bewertungen, Lebenserfahrungen, soziale Zuwendung zu anderen Menschen, Hilfsbereitschaft, aber auch positives Selbstwerterleben in sozialen Tätigkeiten und Reflexivität über die eigene Lebenslage. Aktivität in der Bürger- und Sozialarbeit fördert die Reflexion über die Aufgaben und die persönliche Position zur Tätigkeit und zu den Menschen, mit denen eine Person durch die Tätigkeit verbunden ist.

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S ELBSTORGANISIERTES L ERNEN ALS A NTWORT AUF U NGEWISSHEIT IN DEN A RBEITS - UND L EBENSBEDINGUNGEN

Was charakterisiert das Lernen in der Arbeit und im sozialen Umfeld unter turbulenten Bedingungen? Gesammeltes Wissen und angehäufte Erfahrung sind lediglich Bausteine für das Weiterlernen von Erwachsenen. Sehr stark wurden sie geformt durch das formelle und informelle Lernen in schulischen, beruflichen und evtl. Hochschuleinrichtungen. Sie sind notwendig und stellen eine Grundausstattung für Erwachsene dar. Sie genügen aber im Verlaufe des Lebens allein immer weniger den Ansprüchen zur Bewältigung der sich ständig ändernden und unaufhörlich wachsenden Anforderungen, vor denen die Persönlichkeit steht. Die klassische Modellvorstellung von Lernen als Übergang von Unwissen in Wissen durch Belehrung, das für eine ganze Arbeitsbiographie ausreicht, genügt nicht mehr für den Erfolg. Das formelle Lernen behält seinen Platz im Rahmen des gesicherten Wissens, es muss jedoch zunehmend durch informelles Lernen ergänzt werden. Es lernen nicht nur Individuen unter diesen turbulenten Verhältnissen, auch Gruppen, Organisationen, ja, ganze Regionen setzen sich lernend mit diesen Umgebungsbedingungen auseinander (vgl. Lernen im sozialen Umfeld – Organisationen – Netzwerke – Intermediäre 2003). Lernen unter Unsicherheit bekommt neue Dimensionen. Es kann als Lernen unter Bedrohung oder als Lernen mit Herausforderungen verstanden und absolviert werden. Lernen als Bedrohung lähmt und demoralisiert. Lernen als Herausforderung ist darauf gerichtet, mit Instabilität zu leben, auf unterschiedliche Möglichkeiten Kurs zu nehmen, nicht zu resignieren, sondern aktiv die vorhandenen Möglichkeiten auszuloten und zu gestalten. Zu bedenken ist, dass Lernen zwar vom Individuum vollzogen werden muss, jedoch in vielen Fällen, insbesondere in modernen Arbeitsabläufen und sozialen Tätigkeiten in Kooperationen bzw. in Netzwerken mit anderen Personen erfolgt, die ebenfalls die Möglichkeiten für eine Problemlösung ausloten und das dafür erforderliche Lernen kooperativ gestalten, doch durchaus auch eigene Interessen wahrnehmen wollen.

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Die Lernvorgänge sind häufig komplexer angelegt als das arbeitsteilige Handeln in vielen Berufen (vgl. Lernen im sozialen Umfeld 2001). Gerade in sozialen Projekten ist das Bedingungsgefüge für eine mögliche Problemlösung oft komplex und unübersichtlich. Es müssen neue Kenntnisse angeeignet, neue Kontakte mit anderen Bürgern, Gruppen, Verwaltungen und Organisationen aufgenommen werden, um z.B. ein Nachbarschaftsprojekt, ein Dorf- oder Stadtteilfest zu gestalten oder einen Spielplatz für Kinder. Das Lernen bleibt nicht bei punktuellen Einsichten, die für die aktuelle Tätigkeit erforderlich sind, stehen, sondern ist auf Anwendung, auf Gestaltung, auf komplexere Zusammenhänge orientiert, will damit gleichsam antizipierend neue Probleme und Turbulenzen vorwegnehmen, das Verallgemeinerungswürdige über den Einzelfall hinaus finden. Selbstorganisiertes Lernen ist Problemlösen unter Unsicherheit, als eine wichtige Strukturierungshilfe in derartigen Situationen steht dem Menschen sein Wertwissen zur Verfügung. Es gibt einen Orientierungsrahmen für Individuen und Gruppen, wenn kein exaktes Wissen vorliegt. Bisher wurde Lernen nur als Aktivitätsauslöser betrachtet, nicht vergessen darf aber werden, dass unter turbulenten Bedingungen nicht alle Menschen eine aktivierende Lernstrategie aufbauen, genauso lassen sich Ausweichen, Resignation oder Verweigerung als individuelle Lernstrategien finden (vgl. Lantermann u.a. 2009). Ablehnung, Ausweichen oder Resignation führen in der Regel zu weiterer Abkopplung vom Arbeitsmarkt, von wissenschaftlich-technischen und sozialen Fortschritten und zu tendenziell zunehmender sozialer Isolierung. Das Verhalten und Entscheiden in konkreten Situationen – aktiv oder resignativ – ist von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der sozialen Einbettung des Individuums in seine Umgebung sowie von seinen individuellen physischen und psychischen Voraussetzungen und seiner bisherigen Lernbiographie abhängig. Die Umgebungsbedingungen – das turbulente Umfeld – wirken auf das Lernverhalten direkt und vermittelt ein. Der soziale Kontext ist ganz entscheidend für die Mitwirkung der Bürger an ihren eigenen Angelegenheiten (vgl. Knoll 2006), er ist lernförderlich oder auch nicht. Selbstorganisiertes Lernen wird vor allem durch die Möglichkeiten gefördert, die sich in der Tätigkeit bieten. Vollständige Tätigkeiten, Eigenverantwortung, Gestaltungsspielräume und Vertrauen sind Lernunterstützer. Sie regen das Lernen im sozialen Umfeld besonders an. Selbst erzielte Ergebnisse z.B. in der Gestaltung des Wohnumfeldes

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oder der Mitwirkung an Entscheidungen in der Gemeinde oder die Ermunterung und Anerkennung von Leistungen von Bürgerinitiativen stärken Selbstvertrauen und Bereitschaft, sich gerade unter unsicheren Lebensbedingungen zu engagieren. Im Handeln unter turbulenten Bedingungen entwickeln sich die Kompetenzen als günstige Bedingung für mögliche Sicherheit und Flexibilität weiter. Die Bewältigung einer in ihren konkreten Erscheinungsformen nicht vorhersehbaren Realität erzwingt die Orientierung an bisherigen erfolgreichen Handlungsmustern und dem Individuum als gültig oder berechtigt erscheinenden Vermutungen, Zweifeln, Hypothesen oder Glaubenssätzen, die in der sich entwickelnden Realität überprüft werden. Das vorhandene Wertwissen übernimmt eine Orientierungsfunktion, es wird eine »provisorisch gültige Rationalität geschaffen« (Meynhardt 2005: 51). Kritische Situationen, Aufgaben mit unvorhersehbarem Ausgang werden mit dieser Orientierung als Chance wahrgenommen, neues Wissen und neue Erfahrungen zu sammeln, um mit der Lösung auch die individuellen Handlungsregulationskomponenten weiter zu entwickeln. Entscheidend für das selbstorganisierte Lernen im turbulenten Umfeld ist die Bereitschaft, immer neues Wissen aufzunehmen, immer neue Erfahrungen zu sammeln und individuell und kooperativ zu handeln. Abbildung 1: Der Kompetenzwürfel

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Im Kontext von Ungewissheit und Weiterlernen zeigt das Strukturbild »Kompetenzwürfel« (Abb. 1) vor allem: • Es werden Kompetenzen benötigt, um mit Ungewissheit umgehen

zu können. • Kompetenzen werden erworben im Kontext von Werten, Fähigkei-

ten, Kenntnissen und Erfahrungen. • Die Diskussion um das informelle Lernen beinhaltet das tätigkeitsintegrierte und autodidaktische, d.h. selbstorganisierte Lernen. • Traditionelle Weiterbildung steht neben dem tätigkeitsintegrierten Weiterlernen. Beide folgen unterschiedlichen Logiken einer pädagogisch-curricularen und einer entwicklungsdynamischen Logik. Es ist unmittelbar evident, dass Management und Umgang mit Ungewissheit einer Entwicklungslogik folgt und folgen muss. Dieser Sachverhalt soll an vier unterschiedlichen Beispielen des Alltags erläutert werden. • Der Umgang mit dem PC. Im Umgang mit dem PC bilden sich im-

mer wieder neue Aufgaben und Herausforderungen heraus, wenn neue Ziele erreicht werden sollen. Dann einsetzende Suchstrategien folgen der Ziellogik und keinen Lernzielen. • Inkrementelle Innovation. In vielen – vor allem auch technischen – Feldern bauen Innovationen auf dem erreichten Standard und dabei auftretenden Fehlern und Verbesserungsmöglichkeiten auf. Die Verbesserung folgt der Entwicklungslogik und ist prinzipiell zieloffen. • Mit einer Krankheit leben lernen. Das Umgehenkönnen etwa mit einer chronischen Erkrankung erfordert komplexes Lernen mit Blick auf die Lebensumstände und in ständiger Anpassung an sich ändernde Bedingungen. • Leben lernen ohne Arbeit. Im Transformationsprozess der neuen Länder war und ist teilweise immer noch Massenarbeitslosigkeit eine zentrale Herausforderung. Darauf wurde politisch mit Qualifizierung geantwortet, was weder der Beseitigung des Mangels an Arbeit noch dem Aufbau einer sozialen Infrastruktur, noch dem Leben unter neuen Systembedingungen dienlich war. Dieses Phänomen hat heute aktuelle Bedeutung etwa bei den ›rüstigen Alten‹ und Erhalt deren Kompetenzen auch im Interesse des gesunden Lebens.

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Alle Beispiele zeigen die Notwendigkeit zieloffene Lernprozesse jenseits traditioneller Pädagogik. »Andererseits liegt die große Herausforderung darin, dieses Organisieren (Fördern, Unterstützen, Ermöglichen) in einem Modus des Nichtfestlegens von Lernergebnissen, des Offenhaltens von Lernen zu gestalten. Doppeltes muss also geleistet werden, und das ist in der Praxis wirklich eine Kunst: nämlich eine Struktur anbieten UND zugleich den dadurch angeregten Prozess offen halten. Ich verwende dafür manchmal das Bild vom Gefäß, das wir bereitstellen, dessen Füllung aber den Menschen obliegt, mit denen wir zusammen arbeiten. Erschwert werden diese Haltung und dieses Handeln durch die konzeptionelle und faktische curriculare Tradition und daraus immer wieder neu erwachsende curriculare Orientierung von Schule und Hochschule und Weiterbildung, verstärkt durch Bestandserhaltungsinteressen.« (Knoll 2011)

Als Zwischenergebnisse der bisherigen Überlegungen können mit Blick auf politische Konsequenzen für das Managements von Ungewissheit und die Gestaltung und Hilfen für das Weiterlernen von Erwachsenen und Organisationen festgehalten werden: • Weiterlernen wird bei zunehmender Ungewissheit immer mehr eine

Überlebensnotwendigkeit. • Weiterlernen ist von Weiterbildung zu unterscheiden. • Die Diskussion um das informelle Lernen ist so lange nicht weiter-

führend, wie das informelle Lernen nicht auf gestaltbare Einzelbestandteile aufgeschlüsselt wird. • Auch die Erziehungswissenschaften haben ihre Forschung lange Zeit vorwiegend auf institutionelle Formen von Weiterbildung reduziert. • Bildungspolitisch wurde die Gestaltung des Weiterlernens auf die Förderung von Weiterbildung, d.h. den Ausbau von Bildungsinstitutionen reduziert. Dies erweist sich als zunehmendes Defizit. • Bildungspolitik steht vor der Herausforderung, das Weiterlernen mit seiner Vielfalt an Lerninhalten, Lernformen und Lernlogiken als Gestaltungsaufgaben zu begreifen. Ohne ein neues Verständnis vom Weiterlernen mit den entsprechenden Gestaltungsaufgaben klammert sich betriebliche und staatliche Weiterlernpolitik aus den Realprozessen in Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr aus. Die seit über zehn Jahren feststellbare Entwicklung

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»Weiterlernen wird immer wichtiger und die Weiterbildung geht zurück« wird ohne diesen erforderlichen politischen Paradigmenwechsel weitergehen. Strukturen neuer Lernkultur(en) Im Mittelpunkt der notwendigen neuen Lernkulturen stehen das Lernen im Prozess der Arbeit und das Lernen im sozialen Umfeld in der Region in den vielen Aktivitäten des alltäglichen bürgerschaftlichen Lebens. Diese Formen des Lernens sind bewusst zu gestalten und zu optimieren. Gleichzeitig müssen die Strukturen der traditionellen Weiterbildung den neuen Gegebenheiten angepasst und neue Formen der Kompetenzbewertung und Kompetenzberichterstattung entwickelt werden. Diese notwendige Transformation ist dadurch gekennzeichnet, dass sehr unterschiedliche maßgebliche Akteure diese Lernkultur gestalten, der Staat auf seinen unterschiedlichen Ebenen ist damit überfordert und viele Bereiche entziehen überdies sich der staatlichen Gestaltungsmacht. Aus unserer Sicht sind sechs Aktionsfelder für die Umsetzung von neuen Lernkulturen von zentraler Bedeutung: (1) Die Förderung und Gestaltung des Lernens in der Arbeit – Lernförderlichkeit von Arbeit Die Lernhaltigkeit des Arbeitsplatzes wurde bisher kaum analysiert, war eine Zufallsgröße. Sie ergab sich gleichsam naturwüchsig aus dem technischen und technologischen Zuschnitt des Arbeitsplatzes und der erforderlichen Kooperation und Kommunikation. Zwar hat es nach 1970 im Rahmen der Forschungsprogramme zur Humanisierung des Arbeitslebens (vgl. Oehlke 2004) immer wieder Ansätze gegeben, in der Humanisierungsforschung auch Aspekte der Lernhaltigkeit zu berücksichtigen, zumeist standen aber Arbeitsschutzaspekte im Vordergrund. Auch in der ehemaligen DDR gab es entsprechende Ansätze etwa über den Zusammenhang von Lernhaltigkeit, Weiterbildung und Gesundheitsschutz. Angesichts des Bedeutungszuwachses von Wissen und Kompetenz für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung wächst aber heute der Nährboden, die Entwicklungsarbeiten entsprechend voranzutreiben. Auch macht sich im Themenfeld Weiterbildung/Kompetenzentwicklung die Erkenntnis breit, dass die Lernhal-

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tigkeit von Arbeit ein wesentlicher Schlüssel für das Weiterlernen und damit auch für die Weiterbildung ist. Bei der Gestaltung der Lernförderlichkeit von Arbeit geht es zum einen um den konkreten Arbeitsplatz, es geht aber auch um die Lernförderlichkeit der Organisation, es ist damit eine Querschnittsaufgabe als wichtiges Segment von Unternehmenskultur. Frieling u.a. (2000) nennen im »Kasseler Kompetenzraster« die Indikatoren Selbstständigkeit, Partizipation, Variabilität, Komplexität, Kommunikation/Kooperation und Feedbackinfo als Faktoren der Lernhaltigkeit von Arbeit. Diese Faktoren und ihre Erfassung gilt es kontinuierlich zu verbessern. Die Gestaltung der Lernförderlichkeit von Arbeit ist Aufgabe der Betriebe und damit auch Aufgabe der Sozialpartner, sie tragen hier die Verantwortung. Dazu ist es erforderlich, Bewertungsstrategien für die Lernhaltigkeit von Arbeitsplätzen weiterzuentwickeln und praxistauglich zu machen, die Akteure in den Betrieben und die Betriebsräte entsprechend zu qualifizieren und entsprechende Regelungen in den Tarifverträgen aufzunehmen. Eine noch weiter zu bearbeitende wissenschaftliche Aufgabe besteht in der genaueren Ausarbeitung von effektiven betrieblichen Lerninfrastrukturen, differenziert nach Betriebsgrößen, Branchen und Unternehmensvernetzungen. (2) Die Förderung und Gestaltung des Lernens im sozialen Umfeld – Lernförderliche Infrastrukturen Das Lernen im sozialen Umfeld richtet sich auf Tätigkeiten und Problemlagen jenseits der Erwerbsarbeit. Es gehört zur alltäglichen Lebensbewältigung von Beschäftigten wie Arbeitslosen. Zur Bewältigung dieser Aufgaben werden ebenfalls lernförderliche Strukturen benötigt, mit deren Hilfe Menschen in die Lage versetzt werden, ihre Probleme zu bewältigen. Hauptgruppen dieser Tätigkeiten sind die Selbsthilfe, das Ehrenamt, die Kirchen, freiwillige Tätigkeiten in Gesundheits- und Sozialwesen, Kultur, Sport, der Hobby-Bereich und die Familie (vgl. Bootz 2006). Die genannten Tätigkeitsgruppen bilden äußerst lernförderliche Strukturen, die an die Stelle traditioneller Weiterbildung treten bzw. sich mit traditioneller Weiterbildung neu vernetzen. Diese Vernetzung setzt auf beiden Seiten eine generelle Bereitschaft hierzu voraus, denn die Weiterbildung benötigt im Kern abhängige Lernende, Tätige im sozialen Umfeld sind aber autonome, souveräne Lernende. Insgesamt

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bedarf es zur wirksamen Vernetzung einer Infrastruktur der Information, Kommunikation und Kooperation, die in der Region d.h. in Landkreisen, Städten, Dörfern, Stadtteilen, Wohnquartieren in jeweils erforderlichem Umfang bereitgestellt werden muss. Ansätze hierzu sind bereits erkennbar, wie etwa die Beispiele der Ehrenamts- und Freiwilligenagenturen zeigen (vgl. Lernen im sozialen Umfeld 2003). Vor diesem Hintergrund sind für die Lernförderlichkeit der Region Kriterien zu entwickeln, die weit über die Pflichtaufgabe Weiterbildung hinausgehen, sie teilweise ersetzen. Insoweit ist eine institutionelle Neuformierung unausweichlich, und es muss Aufgabe der Regionen sein, lernförderliche Strukturen zu schaffen. Die Ausarbeitung und genauere Beschreibung differenzierter lernförderlicher Infrastrukturen mit ihren jeweiligen Möglichkeiten ist eine noch zu lösende wissenschaftliche Aufgabe. Dies ist eine Herausforderung im Interesse der Wirtschaft, aber auch der Lebensqualität der Menschen. (3) Neuformierung der Weiterbildungsstrukturen unter dem Aspekt von Lernkultur Unter dem Blickwinkel von Lernkultur mit den Elementen Selbstorganisation, Kompetenzorientierung und Pluralität der Lernformen verschieben sich die Aufgabenstellungen der unterschiedlichen Typen von Weiterbildungseinrichtungen. Ein Monopol auf das Weiterlernen durch Weiterlehre kann es nicht mehr geben. Wir erleben derzeit, dass diese Umbruchsituation bei den Weiterbildungseinrichtungen bereits Platz greift. In den letzten vier Jahren ist der Weiterbildungsmarkt um ca. 40% eingebrochen, und zwar sowohl im SGB-3-Bereich als auch im Bereich von Allgemeinbildung (Erwachsenenbildungsgesetze der Länder) und auch im betrieblichen Bereich. Vielmehr nur eine Reflexion und Neuausrichtung des Kerngeschäfts der Weiterbildungseinrichtungen kann langfristig ihre die Existenz sichern, denn der Trend zu neuen Lernkulturen wird sich fortsetzen. Weiterbildungseinrichtungen müssen sich als Dienstleister zur Verbesserung von Information, Kommunikation und Vernetzung zur Verbesserung der Lerninfrastruktur begreifen. (4) Neue Strukturen der Kompetenzbewertung Die Industriegesellschaft benötigte Qualifikationen, die durch das Bildungssystem ›produziert‹ und danach durch Bildungszertifikate dokumentiert wurden. Diese Zertifikate bilden bis heute die Eintrittskar-

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ten in den Arbeitsmarkt. Insoweit bildeten sie die Grundlage, auf der durch gelegentliche Weiterbildung die Anpassung der Qualifikationen an Veränderung erfolgte. Recurrent-education-Modelle waren insoweit konsistente Modelle der Zertifikatsgesellschaft, die sich insgesamt relativ statisch darstellte. Die Wissensgesellschaft benötigt andere Strukturen. Wenn das Weiterlernen in seinen unterschiedlichen Formen nicht nur »geduldet«, sondern sogar gefördert wird, sind neue Formen der Kompetenzbewertung zwingend, die die unterschiedlichen Formen des Erwerbs aufgreifen und als gleichwertig ansehen, denn die Bedeutung der formalen Erstqualifikation wird geringer. Hierzu bemerkt die EU-Kommission: »Bislang war es in erster Linie das formale Lernen, mit dem sich Politik beschäftigt hat und das die Ausgestaltung der Bildungsangebote wie auch die Vorstellung der Menschen davon, was als ›Lernen‹ angesehen wird, geprägt hat. Das Kontinuum des Lernens rückt das nichtformale Lernen und das informelle Lernen stärker ins Bild. Nicht-formales findet per definitionem außerhalb von Bildungsstätten statt. In der Regel wird es nicht als ›richtiges‹ Lernen empfunden und die Lernergebnisse werden auf dem Arbeitsmarkt nicht unbedingt gewürdigt. Nicht-formales Lernen wird somit üblicherweise unterbewertet.« (EU 2000: 10)

Soll die Transformation von der Bildungsgesellschaft zur Lernkulturgesellschaft gelingen, sind neue Methoden der Bewertung von Kompetenzen zwingend, die in unterschiedlichen gleichwertigen Formen erworben wurden. Hier gibt es in der Bundesrepublik Nachholbedarf, wie etwa die Bemühungen in Skandinavien oder in Frankreich um die bilan de compétence zeigen. Geschieht diese Neuausrichtung nicht, wird der Übergang zu einer neuen international wettbewerbsfähigen Lernkultur nicht gelingen, denn mit traditionellen Bildungszertifikaten werden nur bestimmte Lernformen mit Priorität versehen. Damit ist aber Wettbewerbsfähigkeit nicht zu gewinnen. (5) Umgestaltung des Weiterbildungsberichtsystems zu einer Lernkulturberichterstattung Zur politischen Gestaltung von Lernkultur und einer erfolgreichen Beschreibung dieser Politik ist eine adäquate Berichterstattung unumgänglich. Der Industriegesellschaft war ein Weiterbildungsberichtsystem adäquat, das auf quantitative Erhebungen zu Weiterbildungsange-

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boten und Teilnehmerzahlen abstellte. Dies reicht mit Blick auf die Notwendigkeiten einer Wissensgesellschaft nicht mehr aus, ja stabilisiert die veraltete Sichtweise. Vielmehr muss die Entwicklung der Lernförderlichkeit von Strukturen nachgezeichnet werden können. Insoweit ist eine Entwicklung von der Weiterbildungsstatistik zu einer Lernkulturberichterstattung unumgänglich, um auch politische Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Wissenschaftlich noch weiter ausgearbeitet werden müssen die tragenden Fragestellungen einer derartigen Lernkulturberichterstattung. (6) PR für eine neue Lernkultur Die Vorstellungen zum Weiterlernen sind 30 Jahre lang durch die Vorstellung der »Wiederaufnahme organisierten Lernens nach einer ersten Bildungsphase« des Deutschen Bildungsrates geprägt worden und tief im Bewusstsein der Bevölkerung verankert. So richtig diese Vorstellungen Ende der 1960er Jahre gewesen sein mögen, so wenig gelten sie heute für die Anforderungen einer Wissensgesellschaft. Weiterlernen wird immer wichtiger und zum Normalfall, Weiterbildung geht zurück und dies muss kein Widerspruch in sich sein. Hierzu sind Bewusstseinsänderungen notwendig, ohne sie ist die Transformation zu Lernkulturen nicht möglich. Deshalb sind auf unterschiedlichen Ebenen PR-Kampagnen notwendig, die das Bewusstsein für die Notwendigkeit des selbstorganisierten Lernens verdeutlichen. Hier sind sehr unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen – die Sozialpartner, die Führungskräfte und die Betriebsräte, das Geflecht bürgerschaftlichen Engagements in den Gemeinden und Regionen und andere mehr.

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U NGEWISSHEIT – T RIEBKRAFT FÜR I NNOVATION

In allen Bereichen ihres Lebens sind die Menschen mit objektiv und subjektiv neuen Problemen konfrontiert, stehen sie unter dem Druck, neue Lösungen für ihre Lebensverhältnisse bedrängende Fragen zu finden und die Grenzen ihres Wissens und Könnens zu erweitern. Das Streben nach Verbesserung und Erneuerung durch Innovationen in allen Lebensbereichen ist allgegenwärtig. Das betrifft Innovationen für ganz elementare Bedürfnisse und Zwänge, wie etwa den Kampf gegen

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Hunger, Krankheit oder Naturkatastrophen, das betrifft aber auch ungelöste wissenschaftlich-technische Aufgaben und neue ökonomische Prozesse in der globalen Konkurrenz auf den Märkten. Die Ungewissheit erstreckt sich auch und gerade auf den sozialen Bereich wie die weitere Ausgestaltung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse bei wachsender Weltbevölkerung, das Zusammenleben der Staaten, die Demokratisierung der Lebensverhältnisse in vielen Ländern, die Entwicklung neuer Formen der konkreten Teilhabe und Mitsprache am gesellschaftlichen Leben. Daraus entsteht ein immerwährender Handlungsdruck für Personen, Unternehmen, Organisationen und soziale Bewegungen mit dem Anspruch, durch Innovationen die Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu verbessern, neue Produkte und Technologien zu schaffen, neue Initiativen, Organisationen, Bürgerbewegungen als Formen der demokratischen Mitsprache hervorzubringen und sie mit Inhalten anzureichern. Innovationen sind immer mit Risiken verbunden, sind nur bedingt planbar und enthalten die Gefahr des Misslingens.3 Nicht zu verkennen ist jedoch, dass auch aus gescheiterten Vorhaben neue Ideen erwachsen, die letztendlich zu weiteren Innovationen führen können. In Planungs- und Gestaltungsprozessen ist daher immer ein Rest Unplanbares enthalten, der aber Entwicklungen nicht behindert, sondern vorantreibt, wenn sich mit diesem Rest schöpferisch auseinandergesetzt wird, mit dieser Unsicherheit als ständiger Handlungsbedingung umgegangen wird. Im theoretisch-praktischen Umgang mit Problemen, Krisen und Katastrophen bildet sich die Lernkompetenz von Erwachsenen heraus und wird weiter entwickelt. Kritische Situationen stimulieren ihre Aktivität und Eigeninitiative, das Suchen nach Lösungen, das Bestreben, in denkbare Lösungsansätze möglicherweise weitere Partner einzubeziehen, die über entsprechende Expertise verfügen, die die bisherigen eigenen Potenziale übersteigt. Die Lernkompetenz, die im Lebensverlauf entwickelt wird, beruht auf soliden Fundamenten organisierten Lernens im Kindes- und Jugendalter und auf informellen selbstorganisierten Lernvorgängen, die als Erfahrungen gespeichert sind. Der erwachsene Mensch reflektiert

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Siehe hierzu ausführlicher den Beitrag von Harald Wolf »Entwicklungstendenzen industrieller Forschung und Entwicklung« in diesem Buch sowie Böhle 2011.

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über neuartige Aufgaben und Situationen, analysiert die Grenzen und Lücken seines bisherigen Wissens- und Könnenssystems und sucht nach neuen problemangemessenen Lösungen. Erfahrungen als bisherige Gewissheiten werden analysiert, relativiert, uminterpretiert, neu bewertet, mit anderen volitiven und emotionalen Handlungsregulationskomponenten abgeglichen und so modifiziert in das System des eigenen Wissens und Könnens eingeordnet, dass sich damit im Erwachsenenalter bedeutend weiterentwickelt. Erpenbeck/Weinberg (1999: 149) heben das Besondere, das Ungewohnte hervor, das als Lernanforderung wahrgenommen und durch Eigenaktivität bearbeitet wird. Es wird durch turbulente Umgebungsbedingungen angeregt und nicht durch ein pädagogisches Arrangement. Innovationen kommen nicht abgelöst vom normalen Arbeitsprozess oder gesellschaftlich und persönlich relevanten Tätigkeiten im sozialen Umfeld zu Stande, in manchen Fällen ist die Innovation tatsächlich ein Quantensprung in der Erkenntnis und ihrer praktischen Anwendung. In anderen Fällen ist sie Teil ganz etablierter Arbeitsvorgänge. In deren Verlauf treten scheinbar überraschende Fragen, ungewöhnliche Situationen oder Konflikte auf, die mit den bisherigen Routinen nicht zu bearbeiten sind und die den Erkenntnis- und Handlungshorizont erweitern. Das Lernen in derartigen Situationen ist handlungsorientiert – ganz gleich, ob theoretisch gedacht oder unmittelbar praktische Ergebnisse erzielt werden sollen – in jedem Falle ist die Anwendung des Gelernten im Blick und stellt das Ziel des Lernens dar. Dieses informelle selbstorganisierte Lernen ist für Innovationen unerlässlich, da es für das Neuartige, das die Innovation ausmacht, nur eingeschränkt vorhandenes Wissen und Erfahrung gibt. Es handelt sich dabei in der Regel um Grundlagenwissen mit hoher Anwendungsbreite und um Methoden des Denkens und Arbeitens. Der Anstoß zum Weiterlernen ist das Neue, das Ungewöhnliche in der Problemsituation. Das Problembewusstsein ist noch nicht die Innovation, sondern erst ihr möglicher Auslöser. Zum Erfolg wird sie über den Problemlösungsprozess. An dieser Stelle setzt der größere oder kleinere Erkenntnisfortschritt ein, der dann letztlich die Bedeutung der Innovation bestimmt. Innovationen sind nur selten das Werk genialer Einzelerfinder, sie basieren in der Mehrheit auf dem kooperativen Zusammenwirken mehrerer mit dem Problem befasster Personen, die ganz problemspezi-

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fische Arbeitsteilungen hervorbringen. Zu ihnen gehören hochsensible Beobachter, die ein Gespür für Neues haben, was auf herkömmliche Weise nicht zu erklären ist, theoretische Köpfe, die den Punkt erkennen, an dem über bekanntes Wissen hinausgegangen werden muss und die hier theoretisch weiter denken, zu ihnen gehören findige und genaue Tüftler und Bastler, die praktische Lösungen entwickeln. Zu ihnen gehören in der Regel auch Personen, die die Verbreitung und Vermarktung der Innovation in die Hand nehmen. Letzteres ist unabdingbar in einem turbulenten Marktgeschehen mit scharfem Wettbewerb. Die unterschiedliche Expertise der Akteure in einer Gruppe erhöht das Potenzial für die Problemlösung. Die entstehenden Erkenntnisse und Lösungswege gehen in das geistige Arsenal der Beteiligten ein. Das Lernen für und mit einer Innovation muss in einer Gruppe eine gewisse Breite haben, um nicht nur eine Erfindung zu machen zu können, sondern sie auch praktisch bis zum Produkt oder zur Technologie zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, denn Lernen für Innovationen schließt den Anwendungsbezug ein. Aus den zunächst ungeordneten, chaotischen Handlungen in der Anfangsphase von Innovationen zeichnen sich im weiteren Verlauf Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten ab, die das Arbeiten an innovativen Produkten erleichtern, doch damit wird die Ungewissheit im Lernen und Handeln nicht aufgehoben, sondern lediglich durch den Erkenntnis- und Handlungsfortschritt in einer konkreten Frage ein Stück verschoben. Es bleiben immer Überraschungen und Unwägbarkeiten im Gesamtprozess übrig, die Improvisation, flexibles Handeln und Nachdenken und Forschen verlangen, um auch den theoretischen Fundus des Handelns auszubauen. Die Verwandlung von Ungewissheit in Gewissheit bleibt immer partiell und wird von neuen Ungewissheiten, die sich im Arbeits- und Lebensprozess ergeben, abgelöst. Der gesamte Weg vom Bewusstwerden eines Problems über den Problemlösungsprozess bis zur Nutzung der Innovation muss als schöpferischer Lern- und Arbeitsprozess verstanden werden, der nicht geradlinig, sondern turbulent verläuft und durchaus mit partiellem Scheitern auf dem Weg der Innovation.

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S CHLUSSBEMERKUNG

Die Weiterentwicklung der Weiterbildungsstrukturen und Weiterbildungspolitik zur Gestaltung neuer Lernkulturen und zu einer Lernkulturpolitik, in denen das Lernen in der Arbeit und sozialer Tätigkeit im Zentrum stehen, ist unverzichtbar mit Blick auf die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit, aber auch mit Blick auf die Beschäftigungsfähigkeit und den notwendigen sozialen Ausgleich. Lernförderliche Arbeit darf nicht länger Privileg besser Gebildeter oder besser Verdienender bleiben, sonst vergrößert sich die Bildungskluft. Mit Blick auf das Management der Ungewissheit ist es erforderlich, einen Paradigmenwechsel in der Weiterbildungspolitik der Bundesrepublik herbeizuführen. Anders sind die folgenden Ziele nicht zu bewältigen: • Stärkung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft • Verbesserung betrieblicher Weiterlernstrategien • Bewältigung der Demographieprobleme durch stärkere Kompetenz-

nutzung von Älteren • Verbesserung der Lebenssituation gering Qualifizierter durch Wei-

terlernen in der Arbeit und im sozialem Umfeld • Verbesserung der Lebenssituation Älterer durch bessere Nutzung

ihrer Kompetenzen • Verbesserung der arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien vor allem

für Arbeitslose • Verbesserung der Möglichkeiten zur Entfaltung der Persönlichkeit

eines jeden einzelnen Individuums • Bewahrung und Umsetzung der bildungspolitischen Forschungs-

ergebnisse der letzten Jahre • Humanisierung des Arbeitslebens und • Verbesserung der sozialen Teilhabe qualifizierter älterer Menschen.

U NGEWISSHEIT

UND

L ERNEN

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L ITERATUR Arnold, Rolf (1996): Weiterbildung – Ermöglichungsdidaktische Grundlagen, München: Franz Vahlen. Bootz, Ingeborg (2006): »Der Programmbereich ›Lernen im sozialen Umfeld‹«, in: Kompetenzentwicklung 2006, Münster u.a.: Waxmann. Deutscher Bildungsrat, Strukturplan für das Bildungswesen (1970), Bad Godesberg: Deutscher Bildungsrat. Erpenbeck, John/Heyse, Volker (1996): »Berufliche Weiterbildung und berufliche Kompetenzentwicklung«, in: Kompetenzentwicklung ’96, Münster u.a.: Waxmann. Erpenbeck, John/Weinberg, Johannes (1999): »Weiterbildung in der Leonardo-Welt. Von der Weiterbildung zur Kompetenzentwicklung in offenen und selbstorganisierten Lernarrangements«, in: Rolf Arnold/Wiltrud Giesecke (Hg.), Die Weiterbildungsgesellschaft, Neuwied/Kriftel: Luchterhand, Bd. 1, 145–161. Frieling, Ekkehart/Kauffeld, Simone/Grote, Sven/Bernard, Heike (2000): Flexibilität und Kompetenz, QUEM-edition Bd. 12, Münster u.a.: Waxmann. Internationale Trends des Erwachsenenlernens. Monitoring zum Programm Lernkultur-Kompetenzentwicklung (2005), QUEM-edition Bd. 19, Münster u.a.: Waxmann. Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Memorandum über lebenslanges Lernen, Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Brüssel, den 30.10.2000, SEK (2000) 1832. Knöchel, Wolfram/Trier, Matthias (1995): Arbeitslosigkeit und Qualifikationsentwicklung, QUEM-edition Bd. 5, Münster u.a.: Waxmann. Knoll, Joachim, H./Siebert, Horst (Hg.) (1967): Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik, Heidelberg: Quelle u. Meyer. Knoll, Jörg (2006):»Kompetenz für Kompetenzentwicklung. BürgerLernen als Herausforderung in Verwaltung und Politik«, in: Hermann Voesgen (Hg.), Brückenschläge. Neue Partnerschaften zwischen institutioneller Erwachsenenbildung und bürgerschaftlichem Engagement, Bielefeld: Bertelsmann, 264–275. Knoll, Jörg (2011): Unveröffentlichtes Manuskript, Marktoberdorf.

278 | J OHANNES S AUER/M ATTHIAS TRIER

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Employography Neuer Umgang mit Berufsbiographien M ARTIN E LBE

1

V ON DER E MPLOYABILITY E MPLOYOGRAPHY

ZUR

Rationalisierung, Individualisierung und Dezentralisierung sind zentrale Themen der sozialwissenschaftlichen Analyse moderner Gesellschaften. Die/der Einzelne gewinnt einerseits neue Freiheiten, andererseits geht dies aber mit zunehmender Ungewissheit bezüglich der Handlungsbedingungen und -folgen einher. Speziell seit der Beschreibung der Risikogesellschaft durch Beck (1986) hat dieses Thema verstärkt Aufmerksamkeit erfahren. Bei Beck, ebenso wie bei Bonß (1995) und dem daran anschließenden Projekt einer reflexiven Modernisierung, einer Modernisierung der Moderne (vgl. Beck/Bonß 2001), sind Unsicherheiten und Risiken, die unser Handeln in der Moderne mitbestimmen, nicht mehr nur anthropologische Konstanten, sondern die zentrale Herausforderung und Zumutung in der Moderne. Bauman (2008) beschreibt dies als Übergang von der festen (hoch institutionalisierten) Moderne zur flüssigen (durch kurzlebige institutionelle Äquivalente gekennzeichneten) Moderne. Um diesen Übergang zu bewältigen, bedarf es eines Paradigmenwechsels.1

1

Dieser Artikel ist eine überarbeitete Fassung meines Beitrags in Jeschke u.a. (2011). Für die kritische Diskussion und Hinweise danke ich den Teil-

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Die amorphen Unsicherheiten einerseits und das kalkulierbare Risiko andererseits bleiben in der Konzeption der reflexiven Modernisierung einem Beherrschbarkeitspostulat unterworfen. Diese Unwägbarkeiten können eher als Herausforderungen betrachtet und deren Bewältigung als Erfolg (gegebenenfalls sogar als Lustgewinn) verbucht werden. Viel häufiger erscheinen Risiken und Unsicherheiten aber als Bedrohungen, die es zu vermeiden oder zu minimieren gilt. Der verlorenen Handlungssicherheit aufgrund des institutionellen Wandels wird in beiden Fällen eine Beherrschbarkeit – in Form von Erfolgsstrategien oder von Vermeidungsstrategien – entgegengesetzt. Dies gilt für die gesamtgesellschaftliche Ebene ebenso wie für das alltägliche individuelle Handeln. Auch in der Arbeitswelt zeigt sich der institutionelle Wandel. Mit der zunehmenden Erosion des traditionellen Normalarbeitsverhältnisses muss der Lebenslauf des Individuums selbst zur Institution werden. Es entsteht die Notwendigkeit, die eigene Biographie als unsicher und damit als gestaltungs- und beherrschungsbedürftig zu begreifen. Die Unternehmen befördern dies durch externe und interne Vermarktlichung. Die Zunahme befristeter Arbeitsverträge, von Teilzeitarbeit und von Zeitarbeit in den Unternehmen sind Beispiele für externe Vermarktlichung. Nicht mehr die dauerhafte Arbeitsbeziehung steht im Vordergrund, sondern die marktorientierte Bedarfsdeckung mit höchst möglicher Elastizität. Die Vermarktlichung zeigte sich aber auch innerhalb der Unternehmen. Auch bei Bestehen dauerhafter Normalarbeitsverhältnisse waren und sind diese zunehmend seltener Gegenstand einer institutionalisierten (vertikalen und horizontalen) Karriereplanung, sondern werden einem internen Arbeitsmarkt überantwortet, in dem der Einzelne die volle Verantwortung für die eigene berufliche Entwicklung zu übernehmen hat – und damit auch das Risiko für ein mögliches Scheitern. Den Betroffenen wurde dies als neue Form der Freiheit verkauft – hierfür wurde das Schlagwort von der Employability geprägt: Das Versprechen eines Normalarbeitsverhältnisses, mit hoher Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften, ggf. lebenslangen Festanstellung, wurde ersetzt durch die Aufforderung zu konstanter Weiterqualifikation, für die der Einzelne selbst verantwortlich ist und die ihm eben seine Anstellungs-

nehmer der Arbeitsgruppe »Management von Ungewissheit« sowie Michael Brannick.

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fähigkeit erhalten oder sogar erhöhen soll – ob innerhalb des Unternehmens oder auf dem externen Arbeitsmarkt. Langfristiges Denken, Planen und Handeln in unternehmensspezifischen Kontexten verliert damit an Bedeutung, die Wissensbestandteile als Handlungsgrundlage verlieren ihren dauerhaften Charakter, das Entlernen wird zum Prinzip kurzfristiger Erfolgsorientierung:2 »Ein schnelles Vergessen überholter Informationen und schnell veraltender Angewohnheiten könnte sich als für den nächsten Erfolg wichtiger erweisen als das Einprägen früherer Handlungsweisen und die Entwicklung von Strategien, die auf in der Vergangenheit Gelerntem basieren.« (Bauman 2008: 10)

Die traditionellen, auf Gegenseitigkeit fußenden, langfristigen Beziehungen institutionalisierter Arbeitsarrangements ermöglichten es, sich festzulegen, in die Zukunft zu planen und zu investieren. Für Arbeitnehmer bedeutete dies im Regelfall: »Da es eindeutig vorgeschriebene Laufbahnen und ermüdende, aber beruhigend beständige Routinen gab, Veränderungen in der Arbeitsorganisation langsam von statten gingen, einmal erworbene Fähigkeiten lange ihren Nutzen behielten und somit die in einem Arbeitsfeld erworbenen Erfahrungen sehr geschätzt wurden, konnte man die Risiken des Arbeitsmarktes auf Distanz halten, die Unsicherheit unterdrücken, wenn auch nicht ganz ausschalten, und Ängste in den Randbereich von ›Schicksalsschlägen‹ und ›verhängnisvollen Unfällen‹ verdrängen, so dass nicht der gesamte Alltag von ihnen durchdrungen war.« (Bauman 2008: 91)

Der institutionelle Wandel von Normal-Angestellten zu eigenständigen Marktteilnehmern (speziell seit den 1980er Jahren) veränderte auch die Handlungsorientierung der Betroffenen. Nicht mehr die konstante Berufsausübung in einem oder in nur wenigen Unternehmen wirkt unsicherheitsreduzierend, sondern die Orientierung an einer gelungenen Berufsbiographie, in hoher Unabhängigkeit von einzelnen Arbeitgebern.

2

Zu den pädagogischen Aspekten von Ungewissheit im Modernisierungsprozess vgl. Helsper/Hörster/Kade 2003.

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Diese Entwicklungen zeitgemäß deutend rückte der »institutionalisierte Lebenslauf« ab Mitte der 1980er Jahre ins Interesse der Soziologie. Kohli (2003) bestärkt dies nach 20 Jahren Forschung zum Thema: »Der Lebenslauf als Institution – so die These – war zur neuen Folie für individuelle Lebensführung geworden und blieb dabei handlungs- und deutungsoffen, ja er schrieb sogar eine solche Handlungs- und Deutungsoffenheit als soziale Anforderung im Sinne einer Biographisierung der Lebensführung fest.« (Kohli 2003: 526)

Für die Arbeitswelt erfordert dies die Umdeutung der arbeitgeberorientierten Employability zur arbeitskraftorientierten Employography: Nur wer die eigene Erwerbsbiographie zur handlungsleitenden Institution zu deuten vermag, ist in der Lage, Unsicherheitsfelder in der Arbeitswelt dauerhaft zu reduzieren. Aber auch wenn die Employography so zum funktionalen Äquivalent des Normalarbeitsverhältnisses wurde, bleibt die Orientierung hieran doch der Beherrschung von Risiken im Erwerbsleben und daraus resultierender Unsicherheitsreduktion verhaftet. Dies zeigt sich bspw. in der Forderung von Pongratz/Voß (2003) nach einer Institutionalisierung der Employability, um soziale Sicherung mit Flexibilisierung der Erwerbstätigkeit zu verbinden. Nachfolgend soll untersucht werden, wie aus dieser marktgetriebenen Unsicherheitsreduktion im Erwerbsleben – die als Institution bestenfalls innovationsindifferent ist – eine innovationsförderliche Ungewissheitsbewältigung werden kann und welche Ressourcen hierbei zu Verfügung stehen.

2

I NDIVIDUELLE R ESSOURCEN

ALS

P OTENZIAL

2.1 Lebensführung und institutioneller Wandel Zunehmende Unsicherheit in der modernen Arbeitswelt und Vermarktlichungseffekte innerhalb der Arbeitsverhältnisse prägen den Arbeitsalltag und die Lebensführung der Arbeitnehmer – wie wird dies im Berufsalltag handlungswirksam? Unsicherheitsreduktion erfolgt aus der Annahme der Einzelnen, sich grundsätzlich richtig zu verhalten, also durch Orientierung an der Employography eine Handlungskausalität herzustellen, die im Nach-

EMPLOYOGRAPHY

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hinein als erfolgreich bewertet werden kann. Erfolgreich ist sie, wenn der Einzelne die Berufsbiographie im Rückblick als stimmige Erzählung beurteilt, für deren Verlauf er selbst verantwortlich war. Das Ende der Berufsbiographie ist somit unabdingbarer Bestandteil der Institutionalisierung des Lebenslaufs in der Arbeitswelt, da nur aus einer Perspektive nach Beendigung der Teilnahme am Arbeitsleben, aus dem Ruhestand, eine abschließende Zielbewertung möglich ist. Die grundsätzliche Sinnkonstruktion erfolgt also aus der individuellen expost-Perspektive und das mag einer der Gründe dafür sein, warum Kohli (2003) eine Beharrlichkeit der Altersgrenze feststellt, selbst wenn sich die Rechtsgrundlage hierfür deutlich verändert. Dies gilt auch für stark liberalisierte Arbeitsmärkte, wie z.B. in den USA. Damit erhält die ex-post-Bewertung eine Fixierung und die Employography ein benennbares Ziel. Ziel ist es, Karriere zu machen, wobei unter Karriere im Sinn der Employography die Chance auf eine ex-post-Erzählung des eigenen persönlichen und beruflichen Erfolgs, aufgrund selbst zugeschriebener Handlungskausalität, zu verstehen ist (vgl. Elbe/Müller 2002), und diese ist eben nicht mehr an eine bestimmte Organisation gebunden. Es ist nicht mehr die Organisation, die unsicherheitsreduzierend wirkt, sondern das Selbst. Die Karriere definiert die »eigene Identität in der Zeitdimension« (vgl. Luhmann 1994) und wird damit zur zentralen Form der Sinnkonstruktion durch Individualisierung dort, wo andere Institutionen versagen. Dies setzt der Einzelne im Berufsalltag um, die Sinnkonstruktion wird als Institution in der Lebensführung des Individuums handlungswirksam (vgl. Kohli 2003). Die alltägliche Orientierung am Ziel der Employography bedeutet also eine ex-ante-Zielverfolgung, eine Herstellung der Institution »tag für tag« (vgl. Weihrich/Voß 2002). Da nun auch alltägliche Handlungsprobleme innerhalb des Betriebes unter der Institution der Employography abgearbeitet werden, findet eine Rückübertragung externer Vermarktlichungseffekte in das Unternehmen hinein statt. Das betriebliche Handeln des Einzelnen folgt nun insgesamt dem Postulat der Employography, die Erosion der Institution Normalarbeitsverhältnis zieht so die Erosion von weiteren betrieblichen Institutionen (z.B. Führung, Kooperation, Anreizsystem) als unbeabsichtigte Nebenfolgen nach sich, da diese nun aus Sicht der Employography in Frage zu stellen sind. Das Ausmaß der Abweichung der individuell handlungsleitenden Institutionen von den postulierten

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Institutionen einer Organisation wird an einem empirischen Beispiel bei Elbe (2007) herausgearbeitet. Die ex-post- und ex-ante-Wirkung individueller Sinnkonstruktion zur subjektiven Unsicherheitsbewältigung hängen also zusammen (Abbildung 1). Abbildung 1: Mikroperspektive der Unsicherheitsbewältigung

2.2 Ungewissheitsbewältigung durch Mikropolitik Employography als neue Institution zur Unsicherheitsreduktion stellt das betriebliche Handeln der Einzelnen vor eine neue Herausforderung: Es erfordert Tag für Tag mikropolitisches Handeln in bisher ungekanntem Ausmaß. Da die Zugehörigkeitsregel (als übergeordnete Institution) keine dauerhafte Sicherheit mehr verleiht, erscheinen alle weiteren organisationalen Regeln, die Geltung beanspruchen, ebenso wenig auf Dauer angelegt und damit zur Disposition gestellt. Um als Institutionen wirksam sein zu können, bedürften sie der emotionalen Verankerung bei den Mitarbeitern, die sich nun aber – vernünftigerweise – an den Erfordernissen des Marktes und nicht an denen der Unternehmen orientieren müssen, letztlich also nur in der Employography emotionale Verankerung und damit Handlungssicherheit gewinnen. Es gilt eben: »Institutionen sind – sei es als Normen, als Rollen oder als soziale Drehbücher – immer mit orientierenden Modellen des angemessenen Handelns in typischen Situationen verbunden, die den Akteuren kognitiv präsent und ›selbstverständlich‹ sind und bei ihnen auch eine emotionale Verankerung haben.« (Esser 2000: 11)

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Die Mitarbeiter sind darauf angewiesen, den Anschein zu erwecken, an einer dauerhaften Zugehörigkeit in der Organisation interessiert zu sein. Sie müssen so tun, als ob sie sich an den geforderten organisationalen Regeln und Institutionen in ihrem Handeln orientieren. Zur Sicherung zukünftiger Erwerbschancen werden sie aber ihr tatsächliches Handeln an einer Sicherstellung der Employography ausrichten – es ist dieses tag-tägliche Tun als ob, das mikropolitisches Handeln erfordert und zugleich die Arbeitgeber im Unklaren darüber lässt, ob die Mitarbeiter sich dauerhaft an die Organisation gebunden fühlen und im Einzelnen regelkonform handeln oder nicht. Dies kann immer auch bedeuten, sich ganz zu verweigern und dies zu verheimlichen. Die »Innere Kündigung« (vgl. Richter 2003) wird damit zur Handlungsoption für die Mitarbeiter als Reaktion auf die empfundene Verletzung des »Psychologischen Vertrages« durch Arbeitgeber. Neben der Aufkündigung des formellen Arbeitsverhältnisses (exit) und dem offen gezeigten Widerstand gegen empfundene Ungerechtigkeiten und Zumutungen (voice) ist die verdeckte Leistungszurückhaltung (shirking) eine eigenständige Form mikropolitischen Handelns. Im Extremfall heißt die Option dann: »Man kann eine NullKarriere wählen« (Luhmann 1994: 198). Dies ist den Organisationen durchaus bewusst und wurde in den letzten Jahren in der Principal-Agent-Theorie auch aus Sicht der Arbeitgeber (Prinzipal) intensiv bearbeitet, wobei aber übersehen wird, dass das damit beschriebene Problem eine notwendige Folge der Vermarktlichung innerhalb der Organisationen ist, die Arbeitgeber zu Auftraggeber und Arbeitnehmer zu Auftragnehmer umdefiniert. Arbeitnehmer werden als Auftragnehmer zu Unternehmern ihrer eigenen Berufsbiographie. Sobald sie sich an die Institution der Employography emotional gekoppelt haben, geht es für sie darum, hieraus neue Handlungsoptionen zu gewinnen. Die generelle Unsicherheit wird zur Ressource, zur relevanten Ungewissheit, die die mikropolitische Position begründet: »Die Macht eines Individuums oder einer Gruppe, kurz eines sozialen Akteurs, ist so eine Funktion der Größe der Ungewissheitszone, die er durch sein Verhalten seinen Gegenspielern gegenüber kontrollieren kann.« (Crozier/Friedberg 1979: 43)

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Wichtig ist hierbei die Relevanz der Ungewissheitszone in Bezug auf das jeweilige Handlungsfeld – erst dadurch wird die Vermittlung von Ungewissheit zur Ressource für die einzelnen Handelnden. Unsicherheit und Risiko sind nicht mehr nur die Kehrseite von Chancen und Handlungsoptionen, sondern werden in relevanten Ungewissheitszonen zu spezifischen Ressourcen, die nahe legen, die Ungewissheit selbst als generelle, vielleicht sogar zentrale Ressource in der Moderne zu begreifen. Hierzu bedarf es aber eines Paradigmenwechsels: weg von der Vorstellung der Notwendigkeit der Beherrschung von Unsicherheit und Risiko, hin zur Annahme der Ungewissheit als Metaressource, oder wie Wust es bereits 1937 formulierte, der »Geborgenheit des Menschen in seiner Ungeborgenheit« (Wust 1940: 301). Eben dies ergänzt den Blick auf die Risiken: die Suche nach Chancen. Die Orientierung an der Employography in der Arbeitswelt weist schon in diese Richtung, das mikropolitische Handeln bleibt aber an die spezifische Ungewissheitszone der Zugehörigkeitsregel und den Verweis auf das Normalarbeitsverhältnis geknüpft. Neue relevante Ungewissheitsfelder finden sich demgegenüber in der umfassenden Lebensführung des Individuums. Diese gilt es für das Individuum durch einen Perspektivenwechsel zu erschließen und für die Wissenschaft durch einen Paradigmenwechsel zu verstehen. 2.3 Ungewissheit und Salutogenese Antonovsky (1997) vollzieht diesen Paradigmenwechsel mit seiner Konzeption der Salutogenese. Er untersucht hierbei, wie Glück, Gesundheit und Wohlergehen (lateinisch: salus) entstehen bzw. erhalten werden können. Obwohl sein Ansatz primär eine gesundheitssoziologische Konzeption darstellt, enthält er eine generell verstehende Handlungsperspektive, aus der dem Einzelnen neue Ressourcen und Handlungsoptionen entstehen. Antonovsky sieht in Gesundheit nicht den Gegensatz zu Krankheit, sondern begreift diese als definitorische Punkte eines Kontinuums, auf dem sich der Einzelne ständig verortet und in dessen Rahmen er sein Glück und seine Gesundheit stets neu erarbeiten muss. Hierauf nehmen sowohl belastende Faktoren (Stressoren) als auch Widerstandsfaktoren (generelle Potenziale) Einfluss. Eben diese generalisierten Potenziale sind als Ressourcen zu begreifen, die Handlungsoptionen unter Ungewissheit erzeugen: Einkommen, Bildung, Kompetenz, soziale Unterstützung, Selbstwertgefühl,

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präventive Verhaltensmuster, kulturelle (auch religiöse) Grundüberzeugungen etc. Die Ressourcen helfen Reize, die als Stressoren wahrgenommen werden, zu bewältigen, indem sie als nachvollziehbar und erklärbar, generell als überwindbar begriffen werden. Dem Einzelnen erwachsen aus dieser Perspektive neue Handlungsoptionen, da so ein Handhabbarkeits- und Kontrollgefühl entsteht. Stressoren (Risiken, Unsicherheiten) werden dadurch als sinnhaft in die Lebenserfahrung eingebunden begriffen. Hieraus ergibt sich ein generalisiertes Kohärenzgefühl (sense of coherence, SOC). »Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass í

die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind […];

í

einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;

í

diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.« (Antonovsky 1997: 36; ohne Hervorhebungen)

Durch das Kohärenzgefühl mit den drei Faktoren Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit wird die lähmende Unsicherheit zur gestaltbaren Ungewissheit. Es werden neue Ressourcen in das Spiel eingeführt, die als relevant erklärt werden. Eben dadurch erscheint das Handlungsfeld ›strukturiert, vorhersagbar und erklärbar‹. Durch die Employography gewinnt der Einzelne Handlungsfreiheit gegenüber dem mikropolitischen Spiel im Unternehmen, da er die Bedeutsamkeit von Handlungsfeldern aus seiner individuellen Karriere bestimmt und diese Relevanz in das Spiel mit einbringen kann. Ungewissheit wird so zur Chance und eigener Gestaltbarkeit zugänglich. Die Zugehörigkeitsregel in einer Organisation wird dann für Arbeitnehmer zur Ressource, wenn sie glaubhaft vermitteln können, dass sie auf die Zugehörigkeit in dieser Organisation nicht angewiesen sind, wenn sie die Employography so sehr verinnerlicht haben, dass sie mit der Spielbeendigung (exit) drohen können. Sie können sich aber auch andere Varianten des mikropolitischen Spiels durch die Schaffung von Ungewissheitsfeldern erschließen und Spielregeln in Frage stellen (voice) oder durch partiellen Leistungsrückhalt unter Verfolgung eigener Interessen die Spielregeln ausdehnen (shirking). Wichtig ist, dass

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durch ein hohes Kohärenzgefühl Ungewissheitszonen Akteure als verstehbar und damit strukturiert erscheinen. Hiermit wird nicht ein spezifischer Coping-Stil, als übliches Bewältigungsverhalten, beschrieben, vielmehr stellt das Kohärenzgefühl eine generelle Lebenseinstellung dar, die dem Einzelnen hilft, Strategien der Ungewissheitsbewältigung zu verfolgen und dabei vorhandene Ressourcen zu Hilfe zu nehmen. Ressourcen sind z.B. Wissen oder soziale Unterstützung, die sowohl dem einzelnen Mitarbeiter als auch der organisationalen Umwelt helfen, Handlungsprobleme als handhabbar und Ungewissheit als Herausforderung und Entwicklungschance zu begreifen. Der salutogene Umgang mit Ressourcen betrifft auch konkrete Risiken sowie aktuelle Krisen. Diese auszuhalten, zu verarbeiten und sogar als Chance zu begreifen, ist aus psychologischer Sicht eine Funktion der Resilienz, der psychischen Widerstandsfähigkeit gegenüber als bedrohlich empfundenen Stressoren (vgl. Antonovsky 1997). Auch hier liegt der schon angesprochene Perspektivenwechsel zu Grunde: Die Krise ist nicht zu beherrschen, sie ist zu nutzen und zu gestalten, doch dies ist nur mit hohem Kohärenzsinn möglich, eben dadurch, dass Ungewissheit als Chance begriffen wird.

3

P ERSPEKTIVEN

3.1 Verschränkung von Mikro- und Makroperspektive Bisher wurde konsequent aus der Mikroperspektive, der Sicht der Akteure argumentiert. Der Einzelne muss unter den gegebenen Bedingungen des institutionellen Wandels und der zunehmenden Unsicherheiten handeln. In der Arbeitswelt erfolgreich agieren kann er, wenn er seine eigene Biographie als Institution begreift, diese als handlungsleitende Employography konzipiert und daraus Sinnhaftigkeit schöpft. Für das Individuum wird Unsicherheit somit zur Ungewissheit, die es aufgrund eigener Ressourcen als verstehbar und handhabbar begreifen und gegenüber anderen Akteuren aktiv als Macht- und Handlungsressource einsetzen kann. Für den Einzelnen gilt: Relevante Ungewissheitszonen sind zu besetzen und Tag für Tag zu nutzen, also in einer aktiven Lebensführung zu gestalten. Der gesellschaftliche Wandel tritt dem Einzelnen aber in allen Lebensbereichen gegenüber und beschränkt sich nicht auf nur eine –

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wenn auch aus der Mikroperspektive besonders wichtige – Institution. Dies macht den Übergang zur gesellschaftlichen Ebene, zur Makroperspektive notwendig. Die Arbeitswelt ist eingebettet in den wirtschaftlichen Wandel: Der Dienstleistungsbereich prägt unsere Wirtschaft in immer größerem Maß und erzeugt neue Arbeitsfelder und Berufe, die aber vielfach nur geringe Stabilität aufweisen. Der technologische Wandel findet auf allen Ebenen statt: Weiterentwicklung der Mobilitätstechnologien, Risiken und Chancen der Energieerzeugung und -versorgung, ethische Fragen der Biotechnologie, insbesondere aber die zunehmende Virtualisierung prägen unser Leben weit über das Arbeitsleben hinaus. Globalisierung und demographischer Wandel sind nicht nur Phänomene der Modernisierung der Moderne, sie sind selbst Folgen der Moderne. Und auch Krisen machen Folgen von Wandlungsprozessen sichtbar, wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise als Folge von Theorie und Praxis des entfesselten Kapitalismus zu beobachten ist. Die Welt tritt dem Einzelnen so in seinem Lebensalltag als von zunehmenden Unsicherheiten geprägt und mit zunehmendem Risiko behaftet gegenüber. Dies hat er in seiner Lebensführung zu bewältigen und trägt dadurch unabänderlich selbst zu den Wandlungsprozessen bei. Abbildung 2 stellt dies dar. Abbildung 2: Perspektivenverschränkung

Auch im Zuge der Perspektivenverschränkung tritt wieder die Frage nach den Handlungsoptionen und dem Umgang mit Unsicherheit und Risiko auf. Der gesellschaftliche Umgang mit Unsicherheiten und Ri-

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siken ist dabei interpretationsabhängig. So ist die Aussage, eine der zentralen Herausforderungen der Globalisierung sei »Managing People During the War on Terror« (Robbins/Judge 2007: 16), einerseits nur aus der spezifisch amerikanischen Erfahrung von 9/11 verstehbar und andererseits Ausdruck des Versuchs, Risiken und Unsicherheiten zu beherrschen. Ähnlich der Salutogenese auf individueller Ebene bedarf es auch in der Erklärung gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge eines Paradigmenwechsels. Grundlage innovativer Zukunftsgestaltung ist die Akzeptanz der Ungewissheit. 3.2 Innovation durch Management von Ungewissheit Sowohl aus Mikro- wie auch aus Makroperspektive sind in Bezug auf das Management von Ungewissheit neue Ansätze in der Förderung ungewissheitsoffener und damit innovationsförderlicher Interaktionssysteme im betrieblichen Arbeitsalltag zu stärken. Es müssen Handlungs- und Entwicklungschancen für den Einzelnen erkennbar werden, die sowohl die Innovationsfreudigkeit im Unternehmen steigern als auch der individuellen Employography förderlich sind. Es werden auch weiterhin betriebliche Leitbilder sowie organisationsinterne und -externe Institutionen und Regeln gelten. Es stellt sich allerdings bei allen Institutionen und Regeln die Frage nach der Interpretationsfähigkeit. Wie weit dürfen die Regeln interpretiert werden? Und wenn dieses Handeln (ggf. mehrfach) erfolgreich war: Verändern sich dann die Regeln? Eben dies lässt sich als Grundlage des Innovationshandelns schlechthin begreifen: Die Veränderung vorhandener Selbstverständlichkeiten – und diese müssen nicht immer durch große und offensichtliche Innovationsschübe gekennzeichnet sein – sind die Grundlage eine innovationsförderliche Ungewissheitsbewältigung und damit einer dauerhaften Steigerung der Innovationsfähigkeit. Vielfach sind es die kleinen Veränderungen, die die Handlungsmöglichkeiten deutlich erweitern und damit aus Unsicherheit verstehbare, handhabbare und bedeutsame Ungewissheitszonen machen, die dann Gegenstand der alltäglichen Aushandlung von Deutungshoheit sind. Dies ist die eigentliche Herausforderung eines Managements von Ungewissheit und damit die Grundlage der Bewältigung und Gestaltung zukünftiger Herausforderungen. Wichtig ist dabei, dass der Kern der jeweiligen Institution, die eine Ungewissheitszone als Handlungsfeld regelt, nicht abrupt verletzt wird,

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dass also der Sinn der Institution so lange erhalten bleibt, bis ein funktionales Äquivalent an ihre Stelle tritt. So wie dem Einzelnen in der Employography die Ungewissheit eben Zukunftsoffenheit vermittelt, damit zur Ressource wird und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet, gilt es für die Unternehmen Anreize zu schaffen, die soziale und technische Innovation fördern, damit die Mitarbeiter eben im Unternehmen diese Zukunft suchen und sich daran aktiv beteiligen.

4

N EUE F ORSCHUNGSFRAGEN

Wie gezeigt wurde, genügt das der kausalen Erklärung verpflichtete Modell der Beherrschung von Unsicherheit im Sinne einer Risikoabschätzung und dem damit verbundenen Risikomanagement nicht mehr, um Innovationsfähigkeit in der Arbeitswelt zu fördern. Mit der Employography sinkt die Verbindlichkeit von Institutionen, die einen sicheren Rahmen für das Innovationshandeln verleihen könnten. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage an Bedeutung, welche neuen, handlungsleitenden Perspektiven Innovationsprozesse auf der individuellen Ebene befördern können. Neben die individuellen Ziele und Zwecke, die das Handeln bestimmen (und damit einer teleologischen Erklärung bedürfen), tritt, statt einer restriktiv wirkenden Risikoabschätzung, die Fähigkeit, Ungewissheit aushalten und nutzbar machen zu können. Hieraus leiten sich neue Forschungsfragen ab: • Wie lassen sich individuelle und organisationale Entwicklungsziele

(im Sinne von Innovationspotenzialen) so abstimmen, dass sie sich gegenseitig unterstützen? • Wie können organisationale Routinen und die Notwendigkeit von Prozesssicherheit mit Freiheitsgraden individuellen Handelns verbunden werden und welchen Einfluss haben Führungsprozesse hierauf?3 • Welcher individuellen Ressourcen bedarf es, um hierbei mit Ungewissheit (z.B. individuellen Erfolgs- und Erwerbsperspektiven) so umgehen zu können, dass Innovationsprozesse gefördert werden?

3

Zur Bedeutung von Führung für ein Management von Ungewissheit vgl. Elbe (2011).

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Ansätze, die hierfür Hilfestellungen geben können, finden sich bspw. in der soziologischen und psychologischen Gesundheitsforschung (insbesondere zur Salutogenese oder zur Ungewissheitstoleranz). Aus diesen Bereichen liegen Messwerkzeuge vor, so z.B. der SOC-Fragebogen von Antonovsky (1997) oder der Fragebogen zur Ungewissheitstoleranz von Dalbert (2002), die beide sehr gut dokumentiert und vielfach angewendet wurden. Allerdings besteht die Notwendigkeit, auf der Grundlage der vorhandenen Instrumente analytische und diagnostische Verfahren zu entwickeln, die den spezifischen Fragestellungen einer ungewissheitsoffenen, innovationsförderlichen Arbeitsgestaltung gerecht werden und als Grundlage für Change-Prozesse im Sinne eines Management von Ungewissheit dienen können und damit über das Erkennen von Entwicklungstendenzen im Sinne von »Patterns« (Gross 2002) hinausgehen.

L ITERATUR Antonovsky, Aaron (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen: Dgvt-Verlag. Bauman, Zygmunt (2008): Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, Hamburg: Hamburger Edition. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang (2001): Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bonß, Wolfgang (1995): Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition. Crozier, Michel/Friedberg, Erhard (1979): Die Zwänge kollektiven Handelns. Über Macht und Organisation, Königstein: Beltz Athenäum. Dalbert, Claudia (2002): »Die Ungewissheitstoleranzskala (UGTS)«, in: Elmar Bähler/Jörg Schumacher/Bernhard Strauß (Hg.), Diagnostische Verfahren in der Psychotherapie, Göttingen: Hogrefe. Elbe, Martin (2011): »Management von Ungewissheit: zukünftige Zumutungen an die Führung«, in: Sven Grote (Hg.): Die Zukunft der Führung. Berlin/Heidelberg: Springer [im Erscheinen]. Elbe, Martin (2007): »Verstehen und Beraten betrieblicher Handlungsproblematik«, in: Joachim Ludwig/Manfred Moldaschl/Mar-

EMPLOYOGRAPHY

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tin Schmauder/Klaus Schmierl (Hg.): Arbeitsforschung und Innovationsfähigkeit in Deutschland, München/Mering: Rainer Hampp. Elbe, Martin/Müller, Michael (2002): »Der Mythos Karriere: Vom Alltagsbegriff zur Operationalisierung«, in: Rainer Marr (Hg.): Kaderschmiede Bundeswehr? Vom Offizier zum Manager. Karriereperspektiven von Absolventen der Universitäten der Bundeswehr in Wirtschaft und Verwaltung, 2. Aufl., Neubiberg: gfw, 43–58. Esser, Hartmut (2000): Soziologie. Spezielle Grundlagen, Band 5, Frankfurt/New York: Campus. Gross, Peter (2002): »Kontingenzmanagement. Über das Management der Ungewissheit«, in: Schriftenreihe »mzsgforum«, Nr. 9, St. Gallen. Helsper, Werner/Hörster, Reinhard/Kade, Jochen (2003) (Hg.): Ungewissheit. Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Jeschke, Sabine/Trantow, Sven/Hees, Frank/Isenhardt, Ingrid (Hg.) (2011): Enabling Innovation. Innovationsfähigkeit – deutsche und internationale Perspektiven, Berlin/Heidelberg: Springer [im Erscheinen]. Kohli, Martin (2003): »Der institutionalisierte Lebenslauf: ein Blick zurück und nach vorn«, in: Jutta Allmendinger (Hg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 525–545. Luhmann, Niklas (1994): »Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität«, in: Ulrich Beck/Elisabeth BeckGernsheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 191–200. Pongratz, Hans/Voß, G. Günter (2003): »Die Institutionalisierung von Employability. Anforderungen an die Regulierung eines neuen Vermittlungsmodus zwischen Person und Betrieb«, in: Jutta Allmendinger (Hg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 455–464. Richter, Gregor (2003): »Innere Kündigung – Über Verträge, die brechen können, ohne dass sie je zustande gekommen sind«, in: Personal, 09/2003: 56–59.

294 | M ARTIN ELBE

Robbins, Stephen/Judge, Timothy (2007): Organizational Behavior, 12th ed., Upper Saddle River: Prentice Hall. Weihrich, Margit/Voß, G. Günter (2002) (Hg.): tag für tag. Alltag als Problem – Lebensführung als Lösung? Neue Beiträge zur Soziologie alltäglicher Lebensführung 2, München/Mering: Rainer Hampp. Wust, Peter (1940): Ungewissheit und Wagnis, 3. Aufl., München: Kösel-Pustet.

Forschung zu einem »anderen« Management von Ungewissheit – Ästhetisch-performative Ansätze

Künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch Management des Informellen zur Förderung innovativer Arbeit1 F RITZ B ÖHLE /M ARKUS B ÜRGERMEISTER / E CKHARD H EIDLING /J UDITH N EUMER /S TEPHANIE P ORSCHEN

Im Rahmen des Innovationsmanagements wird häufig versucht, Innovationsprozesse weitgehend zu planen, zu steuern und zu kontrollieren. Damit werden die klassischen Prinzipien des Managements auf Innovation übertragen. Dies beinhaltet jedoch die Gefahr, Innovationen nicht zu fördern, sondern zu behindern. Denn Innovationen sind grundsätzlich durch Offenheit und Unbestimmtheit geprägt (vgl. als Überblick Böhle 2011). Daraus ergeben sich weitreichende Folgen für die Arbeit in Innovationsprozessen und ihre Organisation. Bestrebungen zur Förderung von Innovationen in Unternehmen richten sich zumeist auf individuelle Fähigkeiten oder die Organisation von Innovati-

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Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung von Veröffentlichungen der Verfasser in der Zeitschrift Praeview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention (Böhle/Bürgermeister 2011; Heidling u.a. 2011). Der Beitrag beruht auf Arbeiten im Rahmen des Verbundprojekts »Künstlerisch-Erfahrungsgeleitet-Spielerisch – Management des Informellen zur Förderung innovativer Arbeit (KES-MI)«. Ausführlich dazu: Böhle u.a. 2012.

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onsprozessen. Kaum beachtet wird dabei, dass Innovationen in Arbeitsprozessen entstehen. Die »Innovationsarbeit« ist das Verbindungsglied zwischen individuellen Fähigkeiten einerseits und der Organisation von Innovationsprozessen andererseits. Sie ist ein bisher nicht beachtetes »Missing Link«. Arbeit ist nach dem in Wissenschaft und Praxis vorherrschenden Verständnis ein zielgerichtetes, planmäßig-rationales Handeln. Der Grundsatz »erst planen, dann ausführen« ist jedoch bei Innovationsarbeit nicht anwendbar. Das Ergebnis und der konkrete Verlauf sind offen und unbestimmt. Damit wird nicht behauptet, dass bei Innovationsarbeit planmäßiges Vorgehen keine Rolle spielt. Doch wird nur dies gesehen, werden Innovationen nicht gefördert, sondern gefährdet. Das Forschungs- und Entwicklungsvorhaben KES-MI hat sich zum Ziel gesetzt, Innovationsarbeit und daraus resultierende Anforderungen an die Organisation von Innovationen genauer zu bestimmen. Dies sei im Folgenden näher dargestellt (vgl. ausführlich Böhle u.a. 2012).

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I NNOVATIONSARBEIT – KÜNSTLERISCH , ERFAHRUNGSGELEITET , SPIELERISCH

In KES-MI wird Innovationsarbeit in drei besonderen Merkmalen näher bestimmt: das künstlerische, das erfahrungsgeleitete und das spielerische Handeln. Das Element des künstlerischen Handelns (vgl. Brater 2011)2 macht darauf aufmerksam, dass Innovationsarbeit besondere subjektive Dispositionen und Haltungen erfordert. Neues kann weder durch Routine und instrumentelle Arbeitsorientierungen noch durch äußeren Zwang entstehen. Es muss vielmehr – auch dann, wenn es als »äußere Anforderung« auftritt – zu einem »inneren Anliegen« werden. Damit verbindet sich die grundsätzliche Offenheit für Unbekanntes und hierauf bezogene Inspirationen aus der Umwelt. Und schließlich kommt es darauf an, nicht nur Erfolge, sondern auch Misserfolge und Scheitern als Inspiration und Quelle für die Suche nach Neuem wahrzunehmen und zu nutzen.

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Siehe hierzu auch den Beitrag von Elisa Hartmann, Claudia Munz und Jost Wagner »Was Dienstleister von Künstler lernen können« in diesem Buch.

KÜNSTLERISCH , ERFAHRUNGSGELEITET ,

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Das Element des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns (vgl. Böhle 2009; Böhle 2008; Böhle u.a. 2004) zeigt, in welcher Weise bei Innovationsarbeit das Ergebnis erst im praktischen Handeln und durch das praktische Handeln eruiert und definiert wird. Grundlegend hierfür ist ein exploratives und dialogisch-interaktives Vorgehen. Das »Neue« entsteht demnach durch ein schrittweises »Herantasten«, bei dem das jeweilige Ergebnis eines Arbeitsschrittes auf den weiteren Verlauf einwirkt und ihn beeinflusst. Ein Gegenstand oder ein Problem wird somit nicht einseitig »bearbeitet«; es entsteht vielmehr ein »Dialog«, bei dem die Wirkungen des eigenen Handelns gerade auch Unerwartetes und Überraschendes auslösen. Um zu erkennen, welche Wirkungen ein Arbeitsschritt erzeugt und welche neuen Möglichkeiten und Anforderungen sich hieraus ergeben, ist eine subtile sinnliche Wahrnehmung notwendig. Es müssen »Informationen« wahrgenommen werden, die nicht exakt und eindeutig definiert sind und die nur durch ein besonderes Gespür wahrgenommen werden können. Das »Erahnen« einer möglichen Entwicklung spielt hier ebenso eine Rolle wie die Entwicklung von »Vorstellungen« über bisher noch Unbekanntes. Solche Wahrnehmungen sind eng verbunden mit einem bildhaften und assoziativen Denken. Das Element des spielerischen Handelns (vgl. Böhle 2006) bezieht sich auf das empirisch oft beobachtete und beschriebene Phänomen, dass Neues gerade dann entsteht, wenn dies nicht bewusst angestrebt wird. Dies resultiert weniger aus dem viel zitierten Zufall, sondern aus einer – zumeist unbewussten – Umdefinition der Arbeitssituation in eine Spielsituation. Ein Merkmal des Spiels ist, dass im Unterschied zur Arbeit kein außerhalb des Spiels liegender Zweck angestrebt wird. Dieser kann sich – wie bspw. bei den pädagogischen Wirkungen des kindlichen Spiels – ergeben, er ist aber nicht das Motiv und Ziel der Spieler. Die Abwendung von »äußeren« Ziel- und Zwecksetzungen bei gleichzeitiger Konzentration auf den Selbstzweck spielerischen Handelns macht es möglich, Lösungswege auch ohne Erfolgsgarantie »mit allem Ernst und Sachverstand« zu verfolgen. Damit verbindet sich das für das Spiel charakteristische Eintauchen in einen »geschützten Raum«. Und zugleich macht das Spiel darauf aufmerksam, dass Offenheit und Unbestimmtheit nicht gleichbedeutend mit Regellosigkeit sind. Gerade für die Zusammenarbeit in Innovationsprozessen sind gemeinsame Regeln unverzichtbar. Sie müssen jedoch so angelegt sein, dass Offenheit und Unbestimmtheit hierdurch nicht verhindert, son-

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dern vielmehr als Anreiz und Anstoß für selbstständiges Handeln wirksam werden. Abbildung 1: KES-Innovationsarbeit

Innovationsarbeit Merkmale des Arbeitshandelns Subjektive Haltung Künstlerisch

Handlungsweise Erfahrungsgeleitet

Situationsdefinition Spielerisch

Offenheit für Unbekanntes, Möglichkeitssinn

Explorativ-entdeckendes Vorgehen, prozesshaftes Entwickeln

Zweckhafte Zwecklosigkeit

Produktiver Umgang mit Krisen und Störungen

Gespür für immanente Entwicklungslogik

Geregelte Unberechenbarkeit

Inneres Anliegen, persönlicher Ausdruck

Sinnliche Wahrnehmung und Imaginationen des Verwendungskontexts

Geschütztes Involvement

Quelle: eigene Darstellung

Innovationsarbeit ist in Forschung und Entwicklung der Kern der Arbeit. Bei einem breiten Verständnis von Innovation ist Innovationsarbeit aber auch ein inhärentes Element aller Arbeitsbereiche. Innovationsarbeit bezieht sich dabei auf Arbeit aus der Perspektive der Arbeitenden und des menschlichen Arbeitsvermögens. Sie gibt eine Antwort auf die Frage, »wie« bei Innovationen gearbeitet wird bzw. werden muss. Die hierzu komplementäre objektive Seite ist der Innovationsprozess. Er zeigt auf, »was« bei Innovationen stattfindet und worauf sich Innovationsarbeit bezieht.

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I NNOVATIONSPROZESS – FLEXIBEL UND VIELFÄLTIG

Im Rahmen des betriebswirtschaftlich und ingenieurmäßig ausgerichteten Innovationsmanagements werden vier Phasen von Innovationsprozessen unterschieden: Ursprungsidee, Forschung und Entwicklung, Einbringung in den Markt/das Unternehmen, Durchsetzung im Markt/

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Unternehmen (Brockhoff 1999: 35ff.). Der Innovationsprozess verläuft demnach in klar definierten, abgrenzbaren Phasen, auf die sich jeweils unterschiedliche Instrumente der Planung, Steuerung und Kontrolle beziehen können. Wird der Blick demgegenüber auf Grenzen der Planung gerichtet und wird diese nicht als Defizit betrachtet, sondern als substanzielles Element und Potenzial von Innovationsprozessen, ist eine solche Phasenaufteilung unzureichend. Erweiterungen und Modifizierungen sind notwendig. Sie richten sich auf die Phase der Ursprungsidee und auf die Phase der Forschung und Entwicklung sowie auf weitere Elemente zur Flexibilisierung des Innovationsprozesses. Die Impulse für Innovationen können sich aus konkreten praktischen Problemstellungen oder Visionen über zukünftige Entwicklungen ergeben. Die Ideenfindung erfordert in beiden Fällen jeweils unterschiedliche Vorgehensweisen und Ressourcen. Zugleich ist sie aber nur ein Teilaspekt. Ebenso wichtig ist die Sammlung, Beurteilung und letztlich Auswahl der Ideen, die aufgegriffen und weiterverfolgt werden. Dies kann zu Beginn eines Innovationsprozesses stattfinden oder auch erst in dessen Verlauf folgen. So können aufgrund nicht vorhersehbarer praktischer Erfahrungen Entscheidungen revidiert werden, oder endgültige Entscheidungen können bewusst offen gehalten und vom praktischen Verlauf des Innovationsprozesses abhängig gemacht werden. Das endgültige Ergebnis ist nicht präzise bestimmbar und entsteht erst im und durch den Innovationsprozess. An die Stelle eines linearen phasenhaften Ablaufs treten damit rekursive und parallel verlaufende Prozesse. Im Besonderen betrifft dies das Verhältnis zwischen Forschung und Entwicklung. Im Phasenmodell beinhaltet die Entwicklung die praktische Realisierung von Forschungsergebnissen (z.B. Prototyp). In der Praxis enthält die Realisierungsphase ein eigenständiges Innovationspotenzial. Neue Problem- und Fragestellungen können auftauchen und zu eigenständigen Lösungswegen sowie neuen Anforderungen an die Forschung führen. Über die Entwicklung hinaus gilt dies auch für die Produktion. Und auch bei der Einbringung und Durchsetzung im Markt/Unternehmen können Schwierigkeiten auftreten, die neue Forschungsfragen stellen oder sogar grundlegend neue Ideen verlangen. Gefordert kann auch sein, den Produktpreis oder Einführungszeitpunkt situativ anzupassen und auf schwache Signale flexibel zu reagieren. Aus dieser skizzenhaften Betrachtung von Innovationsprozessen lassen sich unterschiedliche Typen von Innovationsarbeit ableiten. Sie

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können sich auf den Innovationsprozess insgesamt oder nur auf einzelne Elemente wie bspw. Forschung oder Entwicklung beziehen. Nicht lineare Innovationsprozesse sind abhängig von einer verstärkten Kooperation unterschiedlicher Akteure im Innovationsprozess. Dies lenkt den Blick auf die Organisation von Innovationsarbeit, die im folgenden Abschnitt näher betrachtet wird.

3

O RGANISATION VON I NNOVATIONSARBEIT – M ANAGEMENT DES I NFORMELLEN

Künstlerische, erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeit kann sich in Innovationsprozessen nur dann produktiv entfalten, wenn die Formalisierung von Abläufen und Prozessen begrenzt wird. Notwendig ist ein Management des Informellen. Im Projekt KES-MI wurden hierzu unterschiedliche Gestaltungsansätze entwickelt. 3.1 Situativ-experimentelles Projektmanagement Innovationsprozesse werden heute überwiegend projektförmig gestaltet, organisiert und umgesetzt. Dies hängt mit der Flexibilität und Offenheit projektförmiger Organisationsstrukturen zusammen. Flexibel sind Projekte, weil für abgegrenzte Zeiträume bestimmte Aufgaben zu unterschiedlichen Themenstellungen vorgegeben werden können und offen, weil neben den innerbetrieblichen ebenso außerbetriebliche Akteure (Zulieferer, Kunden, Konsumenten) eingebunden werden können (vgl. Heidling 2011; Cicmil u.a. 2009; Smith-Doerr 2005; Grabher 2002). Generell bestehen die Anforderungen an Projekte darin, qualitativ hochwertige Ergebnisse zu möglichst niedrigen Kosten und festgesetzten Terminen zu produzieren. Dies gilt ebenso für innovative Projekte in Unternehmen. Deshalb zielen die Instrumente und Methoden des Projektmanagements auch bei Innovationsprojekten meist auf eine optimierte Planung und die Verdrängung des Unplanbaren. Allerdings sind Projekte mit hohem Innovationsgrad durch besondere Merkmale gekennzeichnet: Es wird zwar ein zeitlicher Horizont fixiert, die genaue Terminierung der Projektarbeiten wird jedoch zwischen den Projektpartnern abhängig vom Verlauf der einzelnen Projektphasen ausgehandelt; die Art des Vorgehens ist häufig unscharf und entsprechend

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wenig planbar; die Art der Steuerung muss ein hohes Maß an flexiblen Umorientierungen erlauben, um unterschiedliche und bei Projektbeginn kaum vorhersehbare Wege zum Innovationsziel offen zu halten; die Zielbestimmung gibt statt eines vorab klar umrissenen Ergebnisses einen Rahmen vor, dessen Präzisierung im Projektverlauf erfolgt. Der Erfolg industrieller Innovationsprojekte hängt entscheidend davon ab, die Potenziale offener und unbestimmter Situationen und Prozesse zu nutzen und damit künstlerische, erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeit zu fördern. Ein situativ-experimentelles Projektmanagement ist hierauf eine Antwort. In den Mittelpunkt rückt die offene Planung. Sie gibt einen Rahmen vor, der durch das konkrete Handeln der am Projekt beteiligten Akteure ausgefüllt wird. Ein wichtiges Prinzip ist, keine Denkverbote aufzustellen. Dies führt dazu, dass der Innovationsprozess nicht durch Pfadvorgaben begrenzt ist und methodisch neue Wege beschritten werden können. Misserfolge werden von Seiten des Managements nicht mit Schuldzuweisungen gegenüber den Beschäftigten verbunden, sondern explizit als Erkenntnisgewinn verbucht. Dies eröffnet immer wieder neue Lernmöglichkeiten, die sonst ungenutzt blieben. Ein wichtiges Element der Projektsteuerung ist, Austauschprozesse zwischen den beteiligten Akteuren zu organisieren, in denen die Überzeugungskraft von Argumenten statt der hierarchischen Stellung über die jeweils nächsten Schritte im Projektverlauf entscheidet. Dabei sind Räume und Gelegenheiten für einen informellen Austausch über die jeweiligen Problem- und Fragestellungen häufig sehr viel wichtiger als offizielle Sitzungen. Darüber hinaus besteht eine zentrale Aufgabe für das Projektmanagement darin, offene Strukturen zu schaffen. Dies bedeutet etwa, Teilaufgaben für Mitarbeiter zu definieren und in einem bestimmten Rahmen zeitliche und inhaltliche Freiräume zu geben. Der Verzicht auf explizite Vorgaben (Zielhierarchien, Messbarkeit aller Projektschritte u.a.) fördert die Begeisterung der Beschäftigten, Ideen zu entwickeln, und die Leidenschaft, sich »in eine Sache zu verbeißen«. Solche Prozesse sind weniger durch leitende und stärker durch moderierende Aufgabenstellungen des Projektmanagements geprägt. Durch so gestaltete Rahmenbedingungen wird es möglich, unterschiedliche Sicht- und Denkweisen für innovative Prozesse produktiv zu nutzen.

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3.2 Agile Entwicklungsprozesse und kooperativer Erfahrungstransfer Mit den inzwischen weit verbreiteten agilen Entwicklungsprozessen (vgl. West/Grant 2010) sollen Kreativität, Selbstverantwortung und Freude am Arbeitsplatz gefördert werden. Für erfolgreiche Innovationsprojekte sind darüber hinaus geeignete Rahmenbedingungen für den Austausch von Erfahrungswissen erforderlich, das in weiten Teilen impliziten Charakter aufweist. Dies kann mit einer in laufende Prozesse eingebetteten Form der erfahrungsgeleiteten Kommunikation, dem sog. kooperativen Erfahrungstransfer, ermöglicht werden. Die Führung, Anleitung und Begleitung von all dem ist mehr mit Jonglieren denn Kontrollieren verbunden. Es geht um Fingerspitzengefühl für Unterstützungsbedarf und das Einräumen eines angemessenen Freiraums für die Beteiligten. Der Freiraum in den hier untersuchten Fällen besteht aus Gelegenheitsstrukturen, die mit einigen Instrumenten für agile Entwicklungsprozesse gefüllt sind: Auftakttreffen zu Beginn einer Entwicklung ebenso wie tägliche kurze Abstimmungsrunden (Stand-up-Meetings) während der Entwicklungszeit sind die ersten Ankerpunkte für beständige Kommunikation, bei der Teilnehmerkreis und Dauer abgewogen werden. Weitere Kommunikationsankerpunkte sind die Reflexionsrunden technischer Natur in Review Meetings nach jedem Entwicklungsabschnitt oder Retrospective Meetings am Ende eines Projektes zur Entwicklungsdynamik insgesamt. Die Abschätzungen, die im Laufe des Entwicklungsvorhabens notwendig sind, werden bspw. mit Estimation Poker spielerisch ermittelt. Hierzu geben die an einer Entwicklungsaufgabe beteiligten Mitarbeiter auf Karten Einschätzungen zu ihrem persönlichen Arbeitsaufwand ab. Über die Klärung dabei aufgedeckter »Ausreißer« nähern sich die Werte in der Regel in der zweiten Runde an (vgl. Cohn 2005). Das »Kartenlegen« dient zur Einschätzung über den Aufwand des Gesamtprojektes und zudem als Stimulus für den Wissensaustausch. Für den Wissensaustausch ist darüber hinaus ein Kooperationsmodell wie die Paarprogrammierung sehr hilfreich: Hier sitzen zwei Entwickler gleichberechtigt an einem Rechner und arbeiten gemeinsam an einer Aufgabe. Dadurch werden ein Lernen beim gemeinsamen Tun und die aktive Verschränkung der Wissenswelten mit einem konkreten Bezug auf das Arbeitsergebnis – also ein kooperativer Erfahrungstransfer – möglich. Ausbaufähig sind die-

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se Ansätze durch weitere personalpolitische und arbeitsbezogene Kooperationsmodelle wie z.B. das Tandemmodell: Hier werden die Wissenswelten je einer Mitarbeiterin/eines Mitarbeiters aus dem Soft- und dem Hardwarebereich zur Bearbeitung eines thematischen Schwerpunkts an der Schnittstelle zwischen beiden Bereichen miteinander verbunden (Bolte/Porschen 2006: 128). 3.3 Entscheidungen im laufenden Arbeitsprozess Entscheidungen im Innovationsprozess sind immer mit Unsicherheit behaftet. Diese kann dadurch bewältigt werden, dass Entscheidungen »handelnd« im laufenden Arbeitsprozess getroffen werden (vgl. Neumer 2011). Vor allem bei inkrementellen Produktinnovationen, Veränderungen im Fertigungsprozess oder Arbeitsprozessoptimierungen fallen Entscheidungen oft vor Ort in der Fertigung und im Produktionsprozess, nicht in davon abgetrennten Bereichen (wie bspw. in der Entwicklung oder in Planungsmeetings). So kommen bspw. Fertigungsmitarbeiter durch konkretes Ausprobieren auf Ideen, die einem Ingenieur am Bildschirm nicht zugänglich sind. Die Entscheidung für oder gegen eine Veränderung fällt in der direkten Auseinandersetzung mit dem Material und der Zusammensetzung der einzelnen Produktkomponenten. In der Zusammenarbeit von technischem Büro und Fertigung wird nicht immer »nur« zuerst geplant und dann die Praxis verändert, auch das Gegenteil ist der Fall: Die technischen Zeichner kommen in die Fertigung und profitieren von der praktischen Expertise der dortigen Mitarbeiter – es wird sich gemeinsam auf die Suche nach neuen Möglichkeiten am Produkt begeben und die planerische Zeichnung richtet sich nach der praktischen Umsetzung, nicht umgekehrt. Entscheiden im laufenden Arbeitsprozess spielt sich vor allem im nicht-formalisierten oder nicht-formalisierbaren Bereich ab und setzt ein spezifisches Management des Informellen voraus. Die Aufgabe des Managements ist es zum einen, arbeitsorganisatorische Voraussetzungen für Entscheidungen im laufenden Arbeitsprozess zu schaffen: durch die Förderung und tatsächliche Delegation von Entscheidungskompetenzen, durch die organisatorische Verankerung von Gelegenheitsstrukturen für informelle Kooperation und direkte Interaktion über Abteilungsgrenzen hinweg (vgl. Bolte/Porschen 2006), durch das Einrichten von »Zonen der Ungestörtheit« und angemessenen Zeitkontingenten für die Suche nach alternativen Ideen.

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Zum anderen ist es die Aufgabe des Managements, Entscheidungen im laufenden Prozess zu legitimieren. Wesentlich dafür sind das aktive Aufgreifen der praktisch gefundenen Lösungswege, die Wertschätzung informeller Kooperation und Kommunikation und das Vertrauen in das Erfahrungswissen der Mitarbeiter.

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A USBLICK

Am Forschungs- und Entwicklungsvorhaben KES-MI sind wissenschaftliche Einrichtungen und Unternehmen, insbesondere KMU, beteiligt. Dabei zeigt sich, dass ein offener Umgang mit Ungewissheit in der betrieblichen Praxis auf eine sehr hohe Resonanz stößt. Viele Vorgehens- und Arbeitsweisen, die bisher »naturwüchsig« entstanden sind und somit aus einer planungsorientierten Perspektive defizitär erscheinen, bergen ein großes Potenzial zum Umgang mit Unsicherheit im Innovationsprozess. Die Projektergebnisse liefern wissenschaftliche Konzepte und betriebliche Gestaltungsansätze für ein Innovationsmanagement, das über eine reine Planungsfokussierung hinausreicht. Damit sind die Erkenntnisse von KES-MI ein wichtiger Beitrag zum Management von Ungewissheit jenseits von Kontrolle und Ohnmacht bei Innovationen.

L ITERATUR Böhle, Fritz (2011): »Management der Ungewissheit. Ein blinder Fleck bei der Förderung von Innovationen«, in: Sabina Jeschke/ Ingrid Isenhardt/Frank Hees/Sven Trantow (Hg.), Enabling Innovation. Innovationsfähigkeit – deutsche und internationale Perspektiven. Berlin/Heidelberg: Springer [im Erscheinen]. Böhle, Fritz/Bürgermeister, Markus (2011): »Innovationsarbeit und Innovationsprozess – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch«, in: Praeview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention, 2. Jg., Heft 1: 10–11. Böhle, Fritz (2009): »Weder rationale Reflexion noch präreflexive Praktik. Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln«, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 203–230.

KÜNSTLERISCH , ERFAHRUNGSGELEITET ,

SPIELERISCH

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Böhle, Fritz (2008): »Erfolgreiche Bewältigung des Unplanbaren durch ›anderes‹ Handeln«, in: Peter Pawlowsky/Peter Mistele (Hg.), Hochleistungsmanagement, Leistungspotenziale in Organisationen gezielt fördern, Wiesbaden: Gabler, 79–96 Böhle, Fritz (2006): »High-Tech-Gespür. Spiel und Risiko in der erfahrungsgeleiteten Anlagensteuerung«, in: Gunter Gebauer/Stefan Poser/Robert Schmidt/Martin Stern (Hg.), Kalkuliertes Risiko. Technik, Spiel und Sport an der Grenze, Frankfurt/New York: Campus, 249–267. Böhle, Fritz/Pfeiffer, Sabine/Sevsay-Tegethoff, Nese (2004): Die Bewältigung des Unplanbaren. Fachübergreifendes erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Böhle, Fritz/Bürgermeister, Markus/Porschen, Stephanie (Hg.) (2012): Innovation durch Management des Informellen. Künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch. Heidelberg u.a.: Springer. Bolte, Annegret/Porschen, Stephanie (2006): Die Organisation des Informellen. Modelle zur Organisation von Kooperation im Arbeitsalltag, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Brater, Michael (2011): »Wie Künstler vorgehen. Das Konzept des künstlerischen Handelns«, in: Praeview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention, 2. Jg., Heft 1: 14–15. Brockhoff, Klaus (1999): Forschung und Entwicklung. Planung und Kontrolle, 5. Aufl., München: Oldenbourg. Cicmil, Svetlana/Cooke-Davies, Terry/Crawford, Lynn/Richardson, Kurt (2009): Exploring the Complexity of Projects: Implications of Complexity Theory for Project Management Practice, Pennsylvania: PMI. Cohn, Mike (2005): Agile Estimating and Planning, New Jersey u.a.: Prentice Hall. Grabher, Gernot (2002): »Cool Projects, Boring Institutions: Temporary Collaboration in Social Context«, in: Regional Studies 36.3: 205–214. Heidling, Eckhard (2011): »Strategische Netzwerke«, in: Johannes Weyer (Hg.): Soziale Netzwerke, München: Oldenbourg, 71–101. Heidling, Eckhard/Neumer, Judith /Porschen, Stephanie (2011): »Organisation von Innovation – Management des Informellen«, in: Praeview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention, 2. Jg., Heft 1: 12–13.

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Neumer, Judith (2011): »Entscheiden – von der bounded rationality zum situativen Handeln«, in: Fritz Böhle/Sigrid Busch (Hg.), Management der Ungewissheit, Bielefeld, transcript, (i.d.B.). Smith-Doerr, Laurel/Powell, Walter W. (2005): »Networks and Economic Life«, in: Neil Smelser/Richard Swedberg (Hg.), The Handbook of Economic Sociology, Princeton: Princeton University Press, 379–402. West, Dave/Grant, Tom (2010): Agile Development: Mainstream Adoption Has Changed Agility. Trends In Real-World Adoption Of Agile Methods, Forrester Research, Internetquelle: http://www. forrester.com/rb/Research/agile_development_mainstream_ adoption_has_changed_agility/q/id/56100/t/2?src=RSS_2&cm_ mmc=Forrester-_-RSS-_-Document (eingesehen am 20.01.2010).

Verhalten in Organisationen dialektisch verstehen1 W OLFGANG A RENS -F ISCHER /J UTTA B LOEM / B ENJAMIN H ÄRING /E VA R ENVERT /B ERND R UPING / P ETER W ITTLERBÄUMER

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D IE V ERHALTENSPERSPEKTIVE IN DER INNOVATIONSORIENTIERTEN U NTERNEHMENSFÜHRUNG

Obwohl im Wesentlichen reglementiert und routiniert, gehört es doch heute zum Grundlagenwissen, dass Organisation nicht mehr nur das Verhalten der Mitarbeiter in vorbedachten Bahnen zu lenken hat, sondern Bedingungen schaffen muss, die Mitarbeiter zu ermutigen, ihre Potenziale bei der Lösung von Aufgaben zu entfalten (Schreyögg 2008: 18). Dies ist gerade auch für die Bewältigung von Ungewissheit in Organisationen von großer Bedeutung.2 Auch die aus unterschiedlichen Motivationen getriebene Interaktion von Organisation und Umwelt sind in Zeiten zunehmender Ko-

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Der Beitrag beruht auf Arbeiten im Rahmen des Verbundprojekts »Theatrale Interventionen im Innovations- und Kooperationsmanagement«. Näheres zu THINK ist der Internetseite www.forschungsprojekt-think.de zu entnehmen.

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Siehe hierzu auch den Beitrag von Stephanie Stadelbacher »Bewältigung von Ungewissheit durch Selbstorganisation« in diesem Buch.

310 | A RENS -F ISCHER /B LOEM /H ÄRING /R ENVERT /R UPING /W ITTLERBÄUMER

operationsbeziehungen von Organisationen – und dann zwischen den beteiligten Mitarbeitern – vielfältig. Dabei nimmt nicht nur die Anzahl der Organisationsgrenzen überschreitenden Zusammenarbeit zu, sondern einher geht eine zunehmende Flexibilität nach Art und Dauer des gemeinsamen oder eben auch wieder des getrennten Arbeitens von Organisationen (vgl. bspw. Picot u.a. 1996; Roehl/Rollwagen 2004; Sydow 1999: 283f.; Sydow/Duschek 2000). Diese organisationsübergreifenden Beziehungen sind durch vielfältige Spannungen – bspw. die von Kooperation und Wettbewerb, von Vertrauen und Kontrolle, von Autonomie und Abhängigkeit etc. (Sydow 2010: 404) – geprägt, die sich einer vollständigen Reglementierung entziehen. Besonders hinsichtlich der Fokussierung einer innovationsorientierten Unternehmensführung, die zum Ziel hat, die Innovationskraft von Unternehmen zu steigern, wird der Gedanke einer Erweiterung der Handlungsspielräume jenseits starrer Regeln stärker betont, um die Organisation für Veränderung zu öffnen (vgl. Gebert u.a. 2001). Dabei spielt vor allem auch die Einsicht mit, dass Innovationsarbeit bei einem breiten Verständnis von Innovation ein inhärentes Element aller Arbeitsbereiche ist, die sich im Arbeitsprozess vollzieht und einer Subjektperspektive bedarf, so dass sich die (subtile) sinnliche Wahrnehmung, das ›Erahnen‹ möglicher Entwicklungen, das Vorstellen von bisher Unbekanntem sich entfalten kann (vgl. Böhle/Bürgermeister 2011). Angesichts dieser zu beobachtenden Entwicklungen von Unternehmen verliert die Organisation für die den einzelnen Mitarbeiter, aber auch für die das Unternehmen Führenden hinsichtlich des erprobten, durch Erfahrung abgesicherten zielführenden Verhaltens an Stabilität – der Handlungsraum jedes Einzelnen wird ungewisser. Aus Sicht der Unternehmensführung deutet sich eine Entwicklung der Strukturveränderung von Arbeit an, in deren Verlauf die oft sehr detaillierte exante Planung, Anleitung und prozessbegleitende Überwachung der Arbeitsvorgänge gerade unter innovationsorientierter Perspektive an ihre Grenzen stößt und zurückgenommen werden muss, zugunsten einer Entlassung der Arbeitskräfte in eine erweiterte Autonomie, in der nicht mehr der präzise Ablauf eines vorher bestimmten Prozesses verbunden mit der investierten Anstrengung zählen, sondern das in gewissen Grenzen ›selbständig‹ erarbeitete Ergebnis (Voß/Weihrich 2006: 15). Dabei muss zum jetzigen Zeitpunkt festgestellt werden, dass es noch nicht befriedigend geklärt ist, wie die Strukturen der Steuerung von Arbeit beweglicher zu gestalten, für Veränderungen zu öffnen und zu

VERHALTEN I N O RGANISATIONEN

DIALEKTISCH VERSTEHEN

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reduzieren sind und in welchem Maße dieses zu geschehen hat, damit sich ein Verhalten der Organisationszugehörigen einstellt, das zum einen die Organisationsveränderung zu mehr Selbständigkeit der/des Einzelnen unterstützt und zum anderen nicht das Unternehmen als Kollektiv durch die Fokussierung auf Einzelinteressen der Handelnden gefährdet.

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D UALISMUS VERSUS D IALEKTIK IM V ERSTÄNDNIS DES V ERHALTENS IM R AHMEN ORGANISATIONALER H ANDLUNGSVORGABEN

Das Wagnis, geschlossene Formen der Organisation zu öffnen, wird unter dem Aspekt der Innovativität seit längerem diskutiert (vgl. Boerner 1994; Gebert u.a. 2001). Dabei wird der ›geschlossenen‹ Struktur eine ›offene‹ gegenübergestellt, gleichsam als zwei Pole eines Dualismus in unterschiedlichen Dimensionen: der anthropologischen, der soziologischen und der erkenntnistheoretischen. Deren Zweck ist zum einen die Öffnung der organisationalen Wahrnehmbarkeit, d.h. die Erschließung der Veränderungsbedürftigkeit und Veränderungsfähigkeit der Organisation durch ihre Akteure. Zum anderen soll, damit eng verknüpft, die Befähigung zur Selbst-Gestaltung im Inneren der Organisation befördert werden. Als Pole für die Beschreibung von ›offen‹ und ›geschlossen‹ (vgl. Gebert u.a. 2001) werden in der anthropologischen Dimension das Verständnis des Menschen als Initiative ergreifendes Subjekt und auf der anderen Seite als ausführendes Objekt identifiziert. In der soziologischen Dimension wird zur Beschreibung dieses Dualismus der Mensch im Spannungsfeld von Individuum und Kollektiv beschrieben – ausgedrückt durch den Raum für Pluralität von Einzelinteressen, die Chancengleichheit der Organisationszugehörigen und die Meinungsvielfalt als Indizes für Individualität als Pol auf der einen Seite und die Homogenität in der Ausrichtung auf vereinheitlichende Ziele, die Hierarchisierung und Ungleichheit als Maße für die Bedeutung des Kollektivs als Pol auf der anderen. In der erkenntnistheoretischen Dimension werden ›offen‹ und ›geschlossen‹ als Pole von Fehlertoleranz und Fehlerintoleranz interpretiert. Für mehr Innovativität wird schon in längerer Tradition (vgl. bspw. Damanpour 1991) die Entwicklung von Organisationen hin zu offeneren Strukturen empfohlen.

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Inwiefern eine solche ›Öffnung‹ die Innovativität und damit die verändernde Gestaltungskraft einer Organisation aus sich selbst heraus wirklich fördert, ist noch nicht entschieden. Als geeignet indiziert ist in neueren Analysen die »Balance« zwischen offener und geschlossener Struktur (Gebert 2004: 147ff.). Nicht die hundertprozentige Öffnung im Sinne einer vollständigen Situationskontrolle durch die Einzelne/ den Einzelnen wäre demnach für die Gestaltungskraft einer Organisation zu mehr Innovativität Erfolg versprechend, sondern die ›Vermittlung‹ zwischen den Polen der unterschiedenen Dimensionen. Doch wie funktioniert die ›Vermittlung‹ im Sinne einer Balance? Wie soll die Wahrnehmung der Veränderungsbedürftigkeit und der Veränderungsfähigkeit der Organisation initiiert und im betriebswirtschaftlich fruchtbaren Rahmen gehalten werden? Dieses ist bislang wenig erforscht. Wir schlagen deshalb vor, die Offenheit und Geschlossenheit einer Organisation grundsätzlich dialektisch zu verstehen. In der anthropologischen Dimension ist der Mensch immer sowohl handelndes und Initiative ergreifendes Subjekt wie auch ausführendes Objekt, ja er benötigt sogar beide Ausprägungen zur Definition seines Selbst (vgl. Parfy u.a. 2003). In der soziologischen Dimension sind die Organisationsmitarbeiter immer zugleich Zugehörige des Kollektivs des Betriebspersonals als auch Individuen mit eigenen Vorstellungen, Bedürfnissen, Anpassungs- und Widerstandspotenzialen (vgl. Arens-Fischer u.a. 2010a). Dieser Betrachtung liegt ein Menschenbild zugrunde, das Organisationszugehörige als ›eigen-sinnige Menschen‹ versteht, d.h. den Menschen als ein Wesen auffasst, das mit all seinen Sinnen wahrnimmt, das (auch subtil und durch sich der Explikation entziehende Erfahrung) Wahrgenommene selbstständig in individuellen Sinnkontexten verallgemeinert und so eigensinnig zur Willensbildung im Handlungsprozess nutzt (vgl. Arens-Fischer u.a. 2010b). Die darin sowohl eingebettete Fähigkeit zur kritischen Reflexion als auch die Bezugnahme auf subjektiv vorhandene, implizite Wissensbestände ermöglichen das Erkennen (als dialektisches Feld aus subtilem Erahnen und differenzierter Analyse) der Veränderungsbedürftigkeit und Veränderungsfähigkeit einer Organisation als den Rahmen für Handlungen, zur Entfaltung von Handlungsinitiative, Handlungsverfolgung, Handlungsausführung und Handlungsverantwortung und damit für die Entfaltung des Arbeitsvermögens von Menschen.

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Dies führt zwangsläufig zu der Annahme, dass der Mensch immer zu mehr befähigt ist, als er im organisationalen Kontext unter den jeweils gegebenen Bedingungen tatsächlich zeigen kann (Pfeiffer 2004: 60f.) oder in der Lage willens ist. Somit steht auf den ersten Blick die in welchem Ausmaß auch immer geartete Geschlossenheit einer Organisation der Erschließung des Arbeitsvermögens entgegen. Dabei sind zum Arbeitsvermögen alle Anteile individueller Wissensformen und genuinen Handlungsmodi, individuell-biografisch sedimentierte subjektive Erfahrungen und Fähigkeiten sowie Eigensinnigkeiten zu rechnen (ebd.: 172). Es ließe sich der Ansatz einer auf Innovativität und auf den Umgang mit Ungewissem ausgerichtete Form der Unternehmensführung vertreten, der die Öffnung der Organisation als Handlungspragmatismus fokussiert. Weiterführend ergäbe sich dann die Aufgabe, das Arbeitsvermögen für den Umgang mit Unplanbarem und Ungewissem durch die konkrete Gestaltung von Autonomiespielräumen in Organisationen zu erschließen. Andererseits kann gezeigt werden (vgl. Gebert u.a. 2001), dass ein Zuviel der Öffnung die Innovativität behindert, so dass sich weiterführend die Frage ergibt, wie die Organisation durch geeignete, konkrete organisatorische Maßnahmen ›richtig balanciert‹ werden kann, damit sich ein Raum für ein innovationsförderliches Verhalten ergibt. Dass diese Fragen im Rahmen dieses Beitrags nicht abschließend beantwortet werden können, versteht sich. Vielmehr geht es hier zunächst um die Entwicklung eines Vorschlags zur Verhaltensbeschreibung und weitergehend zur Verhaltensanalyse von Personen in organisationalen Kontexten, der es erlaubt die Protagonisten der Organisation in der Dialektik von offenen und geschlossenen Verhaltensdispositionen zu begreifen. Weiterführend gilt es, jedes polarisierende Denken in isolierten – etwa der anthropologischen und soziologischen Dimensionen – quasi als 0-1-Dispositionen eines ›entweder-oder‹ – zu vermeiden, um so ein realitätsnahes Verständnis zur Balance von offenen und geschlossenen Verhaltensräumen und zum Umgang mit den sich zum Teil widersprechenden Polen zu erarbeiten.

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V ERHALTEN IN O RGANISATIONEN IN DER D IALEKTIK VON S UBJEKT UND O BJEKT SOWIE K OLLEKTIVITÄT UND I NDIVIDUUM

Zur Entwicklung eines Ansatzes zur Analyse von Verhalten erprobten die Autoren die Ästhetik als Medium der Erkenntnisgewinnung. Im Unterschied zum begrifflichen Erkennen befasst sie sich mit Handlungen sinnlichen Erkennens. Dabei stellt die Ästhetik den Menschen gleichermaßen als gestaltendes und erkennendes Subjekt sowie in der Wahrnehmung gestaltbares Objekt in den Mittelpunkt. Ästhetische Interventionen helfen zum einen, Wahrnehmung gezielt auszurichten und zu lenken; zum anderen entfalten sie diese polyvalent, so dass sich Spielräume für die Reflexion und weiterführend für die Gestaltung von Sinn- und Handlungsalternativen ergeben (vgl. Arens-Fischer u.a. 2010a). Insofern gerät zwangsläufig mit der Fokussierung auf die wie gestaltete Wahrnehmbarkeit (= Ästhetik) der Organisation stets der konkrete, sinnlich erfahrbare Abdruck der (wie auch immer offenen – geschlossenen) Organisation selbst im Verhalten der Protagonisten als wirkungsmächtiger in den Blick. Ob etwa eine Person eher Subjekt und also selbstbestimmt oder Objekt und damit zuallererst Ausführende ist, entfaltet sich unter ästhetischer Prämisse an ihrer Theatralität, d.h. an der Art und Weise, wie sie ihre Rolle verkörpert und gestaltet, welchen Spielraum sie dafür beansprucht, welchen Gestus sie in verschiedenen Situationen hat und wie dieser Gestus3 das organisationale Gefüge bedient bzw. herausfordert (ebd.). In den Blick gerät so das konkrete Verhalten der Organisationszugehörigen. Für eine systematisierende Strukturierung wird die Dialektik vom Subjekt- und Objekt-Sein des Menschen (vgl. Parfy u.a. 2003) und dessen Individualität als auch dessen Zugehörigkeit zu abzugrenzenden Kollektiven (vgl. Latour 2010: 426) als grundlegend verstanden. Dabei erweist es sich durchaus als schwierig, die Beobachtung in

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Dabei geht der Begriff des Gestus weit über den der konkreten Geste hinaus. Im Gestus kommen Haltungen von Menschen zum Ausdruck, die durch Erfahrungen und situative Erwartungen geprägt sind, die selbst durchaus vielschichtig sein und sich überlagern können (Ritter 1986: 10f. sowie vgl. Arens-Fischer 2011).

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Polen eines Dualismus aufzugeben. Ein dialektisches Verhältnis bestimmt sich eben gerade, anders als ein dualistisches, nicht aus den beiden es umgrenzenden Polen, sondern aus der zwischen diesen beiden – sich gleichzeitig widersprechenden und bedingenden – Polen herrschenden Relation (Pfeiffer 2004: 170). Wenn Menschen, sofern sie sich in einer Organisation verhalten, immer sowohl Subjekt als auch Objekt und gleichzeitig sowohl Individuum als auch Zugehörige eines Kollektivs der Organisation sind, kann der Versuch unternommen werden, diese Qualität in einem Diagramm aus zwei gegeneinander stehenden Achsen zu fassen, die zum einen das Kontinuum zwischen Subjekt und Objekt und zum anderen das Kontinuum zwischen Individuum und Kollektiv fassen. Kontinuum meint in diesem Fall gerade die Relation der Bedingungen, die sich aus dem Sowohl-als-auch‹ der beiden Pole ergibt. Ergebnis ist eine Matrix (Abb. 1), die das Verhalten der Organisationszugehörigen in vier Feldern beschreibt: der Quadrant oben rechts beschreibt das eher subjekt-dominierte Verhalten als Individuum; der Quadrant unten rechts das eher objekt-dominierte Verhalten als Individuum, der Quadrant unten links das eher objekt-dominierte Verhalten im Kollektiv mit seinen durch Beitritt zum Kollektiv von allen akzeptierten Regeln, der Quadrant oben links das eher subjekt-dominierte Verhalten im Kollektiv. Abbildung 1: SOKI-Matrix für die Analyse des Verhaltens der Organisationsmitarbeiter

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Die kurze beschreibende Skizze der Quadranten zeigt deutlich die Schwierigkeit in der Bewältigung des dialektischen Denkens. Die SOKI-Matrix – benannt nach den jeweils beiden Polen ihrer zwei Achsen – unterstützt nun die Verhaltensbeschreibung in der zur (hypothetischen) Auflage erhobenen doppelten Dialektik aus Subjekt-Objekt und Individuum-Kollektiv, indem immer alle vier Felder gleichzeitig in den Blick genommen werden (Abb. 1). Aus organisatorischer Perspektive kann nun die These für eine Balance zwischen ›offen‹ und ›geschlossen‹ so formuliert werden: In Bezug auf das Verhalten der Organisationszugehörigen ist eine Organisation dann innovationsorientiert gestaltet, wenn sich Verhaltensspektren einstellen können, in denen Elemente aller vier Felder der SOKI-Matrix zu identifizieren sind. Aus personaler Perspektive lässt sich die Grundthese dahingehend konkretisieren, dass sich eine balancierte und damit innovationsfähige Organisation dann einstellt, wenn die Organisationszugehörigen dazu in der Lage sind, ihre jeweilige Rollenfigur im doppelt dialektischen Feld aus Subjekt und Objekt sowie Individuum und Kollektiv zu führen. Die Rollenfigur als empirisch-analytischer Begriff bündelt die jeweilige Aufgabenstruktur, den situativen Kontext und den Arbeitsprozess in ein Verhaltensmuster, das dem Arbeitshandeln zu Grunde liegt. Dabei darf die Rollenfigur nicht mit einem ›Workflow‹ oder einer ›Stellenbeschreibung‹ verwechselt werden. Vielmehr eröffnet die Rollenfigur Verhaltensoptionen, die im jeweiligen Arbeitskontext und dem individuellen Arbeitsvermögen sowie den Präferenzen der Rollenträger entsprechend ausgestaltet werden können. Dieses Ausgestalten stellt sich vor der Diskussion der SOKI-Matrix eben als eine Verhaltensdisposition dar, die alle vier Quadranten umfasst und die weniger auf ein abzuleistendes Arbeitspensum denn auf das freizusetzende Arbeitsvermögen der Protagonisten gerichtet ist. So betont der Blick auf die Rollenfigur zum einen den individuellen Bezug einer jeden organisationszugehörigen Person und zum anderen eben auch den der Organisation als Ganzes, die die Rollen als erwartbare »Spielräume« für die Rollenträger zur »eigen-sinnigen« Ausformung (in Anlehnung an Kleemann u.a. 2002: 302, zitiert nach Pfeiffer 2004: 190) ermöglicht. Der jeweilige Rollenträger (s. Kap. 4) als ein Mensch mit einer jeweils ganz speziellen Biografie interpretiert diesen »Spielraum« und gestaltet sich mit seinem individuellen Arbeitsvermögen in ihn hinein. Mit diesen dem Theatergenre entliehenen

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Begriffen Rollenfigur und Rollenträger wird der Übergang zur Analysemethodik des Verhaltens in Organisationen geschaffen. Bevor nun eigene Organisationsanalysen in den Fokus gerückt werden, soll zunächst exemplarisch der Blick auf Studien gerichtet werden, die die Innovationskraft von Organisationen (zumindest implizit) vor dem verhaltensorientierten Bezugsrahmen der ›Öffnung‹ und ›Schließung‹ beleuchten, um zum einen Ansätze zur Operationalisierung des Verhaltens in den vier Feldern der SOKI-Matrix zu unterstützen und zum anderen Anschlussoptionen für thematisch angrenzende Forschungsaktivitäten zu eröffnen – wohl wissend, dass die den einzelnen Studien zugrunde liegenden Theoriekonzeptionen unterschiedlich gelagert und somit nicht direkt vergleichbar sind. Die Dialektik aus Subjekt und Objekt ermöglicht einen Anschluss an die Forschung zum erfahrungsgeleiteten-subjektivierenden Arbeitshandeln (vgl. dazu bspw. Böhle 2004), wie bei der Erläuterung des dargestellten Ansatzes bereits deutlich geworden sein dürfte. Als komplementärem Strang ergibt sich der Anschluss zum künstlerischen Handeln sowie zum spielerischen Handeln (vgl. bspw. Böhle u.a. 2011), die auch in diesem Band aufgegriffen werden. Für die Reflexion des Innovationsbezugs erscheint der Bezug zur Forschung hinsichtlich des Verhaltens in innovationsorientierten Teams als hilfreich. Teams sind dann innovativ, wenn es bei der Teamarbeit um die Generierung von Ideen und die Erzielung von Verbesserungen geht (vgl. Stewart/Barrick 2000), wenn sie durch eine hohe Gruppenautonomie geprägt sind, die es erlaubt, Vorgehensweisen zu hinterfragen, sich Kritik von außen einzuholen, sich die Teammitarbeiter respektieren und offene Kommunikation betreiben und die Teammitarbeiter auf einem hohen Energieniveau arbeiten (Gebert 2004: 75ff.). Die Betrachtung innovationsorientierter Teams fokussiert nun naturgemäß das kollektive Zusammenarbeiten und betrachtet nicht den Einzelnen als Individuum, sondern immer dessen Funktion im Kollektiv. Gleichwohl liefert die Forschung zur Teamarbeit wichtige Hinweise zur Operationalisierung der Felder der SOKI-Matrix, die auch das Kollektiv fokussieren. Allerdings ist die einfache Übernahme der Verhaltensmerkmale von Teams in die Quadranten der SOKI-Matrix problematisch, da die aufgeführten Merkmale im SOKI-Theoriekonzept durchaus unterschiedlich zu interpretieren sind. So ist bspw. das Engagement der Teammitarbeiter einmal kollektiv als das des Teams als

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Ganzen, das jedes Einzelnen im Team und individuell als das Engagement des Einzelnen selbst zu fassen. Insofern bedarf es einer Reinterpretation, verbunden mit einer Weitung des Blicks auf das Individuum für weitere Erhebungen. In der dialektischen, auf die Einheit der Widersprüche setzenden Erweiterung des dualistisch angelegten Analysevorschlags (Kap. 2) wird in dem hier vorgeschlagenen verhaltensorientierten Ansatz der SOKI-Matrix die erkenntnistheoretische Dimension nicht als eigenständige Dimension geführt. Vielmehr wird versucht, das Spannungsfeld der Fehlertoleranz und Fehlervermeidung hinsichtlich des individuellen und kollektiven Subjekt-Objekt-Verhaltens für die Operationalisierung der vier Felder zu nutzen (s. obige Skizze der Felder). Interessant sind in diesem Bezug auch Analysen, die zum Umgang mit Fehlern in Organisationen und speziell zu Fehlerkulturen durchgeführt werden – deshalb, weil Kulturanalysen direkt das Verhalten der Organisationszugehörigen in den Blick nehmen. Exemplarisch für diesen Forschungsstrang sei hier der Bezug zum Zusammenhang von Fehlerkultur und Innovationserfolg hergestellt. So weisen Kriegesmann u.a. (2006) nach, dass die Wahrscheinlichkeit einer fehlerintoleranten Kultur mit dem Neuigkeitsgrad des Innovationsprozesses zunimmt, während Fairness und Verständnis als Maß für Fehlertoleranz vor allem bei inkrementellen Innovationen ausgeprägt zu sein scheint (ebd.: 155f.). Die Ergebnisse unterstreichen, dass zu erwartender Druck und geringe Unterstützungsbereitschaft den herausfordernden Charakter einer Innovationsaufgabe potenzieren können und somit Fehlerintoleranz anspornende Effekte für eine ›Gestaltungselite‹ haben. Auch hier ist eine vereinfachende direkte Übertragung der Ergebnisse in den hier vorgeschlagenen Analysestrang der SOKI-Matrix auf Grund unterschiedlicher Theoriekonzepte problematisch. Gleichwohl heben die Ergebnisse neben dem Aspekt des Kollektivs eben auch den Individualbezug hervor, der zum einen besonders hinsichtlich der Handlungsinitiative des Einzelnen und dessen Engagement und zum anderen hinsichtlich der Anstrengung zur strikten Fehlervermeidung aufscheint. Eine direkte Übertragung der unterschiedlichen Analysen in den hier vorgeschlagenen Betrachtungsstrang ist also problematisch. Übergreifend zeigen die skizzenhaften Betrachtungen jedoch die doppelt dialektische Auffassung in den Dimensionen Subjekt-Objekt und Kollektiv-Individuum zu rechtfertigen. In unseren eigenen verhaltensdia-

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gnostischen Organisationsanalysen wurde nun so vorgegangen, dass das Verhalten der Organisationszugehörigen direkt entlang der vier Felder der SOKI-Matrix betrachtet wurde. Dazu bot das vom BMBF finanzierte Projekt THINK den entsprechenden Rahmen.4 Um die Felder der SOKI-Matrix zu operationalisieren, wurde neben theoriebasierten Überlegungen auf einen eigenen verhaltensorientierten Forschungsansatz zurückgegriffen, den der Theatralen Organisationsforschung.

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T HEATRALE O RGANISATIONSFORSCHUNG – K ONZEPTION ZUR VERHALTENSORIENTIERTEN O RGANISATIONSANALYSE

Die Theatrale Organisationsforschung (TO) ist ein Ansatz zur ganzheitlich angelegten verhaltensorientierten Unternehmungsanalyse und -entwicklung. Theatrale Organisationsforschung ist die mimetische Nachgestaltung und explorative Deutung organisationaler Phänomene im Kontext von Veränderungsprozessen (vgl. Arens-Fischer/Renvert/ Ruping 2009). Als Ansatz, der der Aktionsforschung zuzurechnen ist (vgl. ArensFischer u.a. 2010c), liegt ihm ein Grundmodell der Organisationsveränderung zugrunde, der die Exploration der Unternehmenskontexte durch die Mitarbeiter in dem Sinne nutzt, dass sie theatrale und ästhetische Prozesse durchlaufen. Es werden alle am Gegenstand beteiligten Unternehmensgruppen und -hierarchien einbezogen, da in der Theatralen Organisationsforschung die Erhebung verschiedener Perspektiven Grundlage der Analysearbeit ist. Das, was sich in Unternehmen zeigt und durch die Multi-Perspektivität der Mitarbeitenden/Abteilungen/Hierarchie- bzw. Organisationsstrukturen in den Blick gerät, wird in der szenischen Transformation

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THINK: Theatrale Interventionen im Innovations- und Kooperationsmanagement. Wir danken dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für die Förderung des Projektes »THINK – Theatrale Interventionen im Innovations- und Kooperationsmanagement« im Rahmen des Förderschwerpunktes »Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements«.

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(als Stück mit Schauspielenden/als Inszenierung unter der Regie von Mitarbeitenden/als Vergegenständlichung im und am eigenen Körper) zu einer sinnlich-konkreten Vorstellung. In dieser Vorstellung reibt sich stets die ›individuelle Theoriebildung‹ der Beteiligten, ihre ›Einstellung‹ zu den Phänomenen, ohne die Bilder und Szenen nicht zustande kämen, an den ›objektiven‹ Strukturen (Bedingungs- und Wirkungsfelder des Marktes; Geschichte, Darstellungsformen, Rituale des Unternehmens usw.) und deren Begründungszusammenhängen – d.h. an den »Betriebs-Ideologien« (vgl. Arens-Fischer u.a. 2009). Der theatrale Ausdruck von dem, was sich im Verhalten zeigt, ist so zugleich immanente Theorietätigkeit: Das theatrale Bild (als individuelle Haltung, als interaktionale Szene, als theatrales Organigramm gleich: Stück) ist stets die szenische Reflexion der Verhältnisse, in denen der Einzelne, die Gruppe, das Unternehmen stecken und die von allen, bewusst oder unbewusst, in ihren Gewohnheitskulturen perpetuiert werden. So rahmt Theater beides: den organisationalen Status quo und die darin eingebetteten subjektiven oder interaktiven Arbeits- und Verarbeitungsformen. Ist dieser Rahmen einmal gesetzt, d.h. ›zur Vorstellung geworden‹, wird er Impuls neuerlichen Nachdenkens und weiterer Forschung. Deshalb kann er als ›ästhetische‹ Hypothese gelten: eine in Form gebrachte, die Wahrnehmung konkretisierende und sie zugleich herausfordernde Annahme/Aussage über die Verhältnisse (aisthanomai, gr.: ich nehme wahr): aus der Organisation gewachsene Antithese zur Organisation. Das (Sich-)Zeigen (=Bilder-Entwickeln), Betrachten (=Bilder-Reflektieren) und Verifizieren (=An-der-Wirklichkeit-Überprüfen) beschreibt die Arbeitsweise der TO als Aktionsforschung: ein revolvierender komplexer Lernprozess aus »Tun und Betrachten«, aus Zeigen und Deuten, in dem nur die Beteiligten zu erkennen und zu verändern vermögen. Im Kontext der betrieblichen Hierarchien konterkariert die Polyvalenz eines theatralen Ausdrucks der Verhältnisse ihre autoritative Deutung von oben nach unten; zugleich identifiziert sie alle Assimilationsoder Ausgrenzungsversuche als Manipulation oder Macht-Demonstrationen, welche selbst zwar wiederum als Gegenstand, nie aber als Beitrag zur Forschung taugen (ebd.). Die Theatrale Organisationsforschung überschreitet die über Simulation eng an den vorfindlichen personalen Verhaltensmustern und ritualisierten Kontexten gebundenen Verfahrensweisen des Rollenspiels, indem sie die ästhetische Funktion der Darstellung und damit die Verkünstlichung und Verfremdung der ›normalen Verhaltensweisen‹ in

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den Mittelpunkt rückt. Voraussetzung dafür ist nicht die naturalistische Nachahmung, sondern die Emanzipation der eigenen Haltungen und Verhaltensweisen von ihren eingeschliffenen Ausdrucksformen sowie ihrem gesellschaftlichen und organisationalen Bezugsrahmen, der als (individual-) historischer und intentional-strategischer auf die äußeren und inneren Haltungen der Beteiligten Einfluss hat und ihre Körpersprache prägt. Modus der Erfahrung und methodischer Schwerpunkt zugleich ist dabei das Darstellende Spielen durch das die Theatralität der Kommunikation als anthropologischer oder soziokultureller Befund auf der einen Seite und Theater als Kunstform sui generis auf der anderen in ein dialektisches Wechselspiel geraten. Bedingung der Möglichkeit eines Spielens mit der Theatralität der Menschen ist die Konstitution eines »kommunikativen Vakuums« (vgl. Ruping 2003), d.h. von Räumen und Zeiten, in denen die Ansprüche des Alltags nicht unmittelbar durchschlagen auf die Haltungen und Handlungsweisen der Menschen, so dass sie neu zu besetzen und experimentell zu erkunden sind. Darstellendes Spielen wird in diesem Zusammenhang zu einem »Verlernprozess« (vgl. Koch 1988) dessen, was uns über Sozialisation und Enkulturation ›einverleibt‹ ist. Das Erproben optionaler Verhaltensweisen durch geeignete Methoden der Theatralen Organisationsforschung (vgl. bspw. Bloem/Häring 2011) ist immer verbunden mit einer kritischen Reflexion der Betroffenen im Sinne eines Tun und Betrachten. Hier bietet sich die Anknüpfung an die weithin akzeptierte Auffassung an, dass Veränderungen nur durch erfahrungsbasiertes Lernen zu erreichen sind, was die Reflexion über Verhaltensweisen, Einstellungen und Werte sowie Probehandlungen einschließt (Rosenstiel u.a. 2005: 381). In der Theatralen Organisationsforschung wird der Begriff der Reflexion allerdings umfassender verstanden als die szenische Spiegelung und Ausgestaltung von Situationen, die der Fall sind oder der Fall sein könnten – gleichsam als spielerische Konkretion und damit als Reduktion auf ein einfaches Identisches: den dargestellten Vorgang als Begrenztheit und als (ausgelassene) Möglichkeit. Reflexion beschränkt sich auch nicht auf die kritische Beurteilung menschlicher Praxis, die Erfolg allein an der Durchsetzung von Absichten und Zielen bemisst (Mittelstraß 1995: 525ff.). Reflexion meint vielmehr den Rückbezug und Vorgriff auf das handelnde Subjekt durch das Subjekt selbst, welches in die Lage versetzt wird, seine Handlungen im Spiegel der Anderen (Protagonisten und Antagonisten) zu beobachten. So macht es sich im Wortsinn ›eine

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Vorstellung‹ von dem, was der Fall ist, und gestaltet sich zugleich als Subjekt und Objekt in die Situationen hinein – nach Maßgabe der für die Darstellende Kunst profilbildende Dialektik von Tun und Betrachten (vgl. Arens-Fischer u.a. 2009).

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V ERHALTENSANALYSE SOKI-M ATRIX

AUF

G RUNDLAGE

DER

Auf konzeptionell-methodischer Grundlage der Theatralen Organisationsforschung kann hier eine erste reflektierte Operationalisierung der vier Felder der SOKI-Matrix vorgelegt werden. Zu deren Entwicklung wurde der Praxisbezug im Rahmen des THINK-Projektes über vier Unternehmen unterschiedlicher Branchen und Größen hergestellt: ein kleine mittelständisches Unternehmen des Automobilhandels und -services; ein produzierendes größeres mittelständisches Unternehmen der Bad- und Klimatechnik sowie zwei Konzerne, bei denen jeweils eine Niederlassung in das Projekt einbezogen war. Bei der einen handelt es sich um die Windenergiesparte eines großen internationalen Technologiekonzerns. Bei der anderen um die Raffinerie eines international agierenden Energiekonzerns. In den Prozess der Theatralen Organisationsforschung waren von jedem beteiligten Unternehmen 4 bis 10 Personen unterschiedlicher Hierarchieebenen eingebunden. Es wurden in jedem Unternehmen speziell die Organisationsbereiche reflektiert, die in Kooperationsvorhaben des jeweiligen Unternehmens mit betriebsexternen Partnern eingebunden sind. Dabei wurde sowohl das Verhalten in den betriebsinternen Prozessen und Strukturen als auch das Verhalten in den Prozessen direkt an der Schnittstelle zur betriebsexternen Partnerorganisation analysiert. In der Abbildung 2 sind die Quadranten operationalisierend beschrieben. Die in Abb. 2 genannten Kriterien sind nicht einseitig im Sinne eines ›gut‹ oder ›schlecht‹ zu interpretieren. Vielmehr treten sie hoch oder niedrig ausgeprägt auf. Häufig werden sie über den Gestus der Personen vermittelt.

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Abbildung 2: Operationalisierungskriterien zur Erfassung des Verhaltens in der doppelten Dialektik von Subjekt und Objekt sowie Kollektiv und Individuum

Eine empirische Reflexion der Kriterien selbst und insbesondere eine empirische Reflektion der These zum innovationsorientierten Verhalten in Organisationen sowie zum Management von Ungewissem entlang der SOKI-Matrix steht noch aus und befindet sich in der Vorbereitung. Eine voreilende Bewertung soll diesen Erhebungen nicht vorgreifen. Aus der Aktionsforschung zur SOKI-Matrix selbst lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt aus den Praxisbeispielen ableiten, dass die explorative Erarbeitung von organisationalen Rahmenbedingungen für personale Verhaltensoptionen, die alle vier Quadranten der SOKI-Matrix beleben, im Handlungsraum betrieblicher Akteure präsent sind und auch als solche eingespielt, aber eher als schwierig umsetzbar angesehen werden; d.h. die Veränderungsfähigkeit der Organisation wird eher in Frage gestellt und auch nicht zwangsläufig als veränderungsbedürftig erkannt. Dabei sind die Zusammenhänge zwischen den organisationalen Prozessen und Strukturen sowie dem Führungsverhalten und dem sich einstellenden personalen Verhalten als durchaus komplex anzusehen, die weiterer (Aktions-)Forschung bedürfen.

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L ITERATUR Arens-Fischer, Wolfgang (2011): »Gestus, Haltung, Habitus – Begriffskonzepte sozialen Verhaltens«, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik, Jg. 27, Heft 58 [im Erscheinen]. Arens-Fischer, Wolfgang/Duschek, Stephan/Pfeiffer, Sabine/Renvert, Eva/Ruping, Bernd/Valcarcel, Sylvia (2010c): »Aktionsforschung – Zeit für eine Neuentdeckung?«, in: Heike Jacobsen/Burkhard Schallock (Hg.), Innovationsstrategien jenseits traditionellem Management, Stuttgart: Fraunhofer, 130–150. Arens-Fischer, Wolfgang/Renvert, Eva/Ruping, Bernd (2009): »Der Beitrag des Unternehmenstheaters zur Unternehmensentwicklung: Personales Verhalten in Organisationsstrukturen und -prozessen reflektieren«, in: Gerhard Raab/Alexander Unger (Hg.), Der Mensch im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Handelns, Lengerich: Pabst Science Publishers, 543–559. Arens-Fischer, Wolfgang/Renvert, Eva/Ruping, Bernd (2010a): Zur Bedeutung der Ästhetik in der Analyse und der nachhaltigen Gestaltung betrieblicher Arbeitskontexte, Darmstadt: Tagungsband 56, Kongress der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft 24.-26. März 2010. Arens-Fischer, Wolgang/Renvert, Eva/Ruping, Bernd (2010b): »Szenische Aktionsforschung«, in: Heike Jacobsen/Burkhard Schallock (Hg.), Innovationsstrategien jenseits traditionellem Managements, Stuttgart: Fraunhofer, 190–199. Bloem, Jutta/Häring, Benjamin (2011): »Anders handeln – Mit dem Anderen Handeln – Vom Erhandeln des Anderen – ein theatraler Einblick in VeränderungsPotenziale von Organisationen«, in: Praeview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention, 1/2011: 20–21. Boerner, Sabine (1994): Die Organisation zwischen offener und geschlossener Gesellschaft. Athen oder Sparta, Berlin: Duncker & Humblot. Böhle, Fritz (2004): »Die Bewältigung des Unplanbaren als neue Herausforderung in der Arbeitswelt – Die Unplanbarkeit betrieblicher Prozesse und erfahrungsgeleitetes Arbeiten«, in: Fritz Böhle/Sabine Pfeiffer/Nese Sevsay-Tegethoff (Hg.), Die Bewältigung des Unplanbaren, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 12–54.

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Organisationskultur revisited Transdisziplinäre Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Kunst beim Versuch, das Ungenannte und Unerwartete in Organisationen zu erfassen1 W OLFGANG S TARK /C HRISTOPHER D ELL

Viele der bisher üblichen Organisationstheorien und -analysen arbeiten weitgehend mit kognitiven Modellen: sie haben den rationalen Teil von Organisationen hervorragend erfasst, indem sie sich vor allem auf direkt erkennbare Parameter und auf Zählbares beziehen. Das funktioniert gut bei klar hierarchischen Organisationen; je flacher jedoch Hierarchien werden und je komplexer damit die Organisation, umso mehr werden jene weichen Faktoren der Vergemeinschaftung bedeutend, die Tiefe haben. Aber auch die bislang vermeintlich klar an Kennzahlen orientierten Organisationen entdecken zunehmend die Bedeutung des Unzählbaren für den Erfolg von Unternehmungen und der Bewältigung und Gestaltung mit Unerwarteten in hochkomplexen sozialen Systemen. Hier befinden wir uns in den Tiefendimensionen von Organisationskulturen, deren Erforschung weit über rationale Modelle der Organisationsentwicklung hinaus geht (vgl. Horsmann u.a. 2007). Erfahrungen und Ergebnisse des Projekts »Music – Innovation – Corporate Culture« zeigen, dass ästhetisch-performative Zugänge aus

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Der Beitrag beruht auf Arbeiten im Rahmen des vom BMBF und ESF geförderten Verbundprojekts »Music_Innovation_Corporate Culture«. Näheres zu MICC ist der Internetseite www.micc-project.org zu entnehmen.

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verschiedenen Disziplinen und Muster innovativer Kulturen nicht nur für den individuellen, sondern auch für den kollektiven Umgang mit Feldern des Unerwarteten in Organisationen immer wichtiger werden. Die Grundlagen eines neuen, improvisatorischen Umgangs mit den Elementen und Mustern von Organisationskulturen werden in diesem Beitrag vorgestellt. Für diesen Ansatz sind Schnittstellen zwischen Disziplinen und Sichtweisen besonders wichtig; sie sind oft die Übergänge, an denen Grenzen überschritten und neue Sichtweisen generiert werden, die für den Umgang mit Unsicherheit und dem Unerwarteten essentiell sind. In diesem Beitrag charakterisieren sie Wege, die helfen, Organisation und Organisationskultur auf neue Weise wahrzunehmen. Sie sind dabei – als Übergänge – deshalb Orte des Neuen und der Transformation, weil sich hier die Kultur (Rituale und Werte) des einen mit dem anderen begegnen und neue Verbindungen entstehen können. Schnittstellen als Orte der Transformation sind aber auch besonders sensible Bereiche, die besonderer Aufmerksamkeit und Pflege bedürfen.

1

D IE B EDEUTUNG DER IN O RGANISATIONEN

K ULTUR

Die Bedeutung von Kultur in Organisationen und sozialen Systemen wird und wurde in der Fachliteratur zur Organisationsforschung der letzten 20 Jahre vielfach wiederholt: die Kultur einer Organisation ist (über längere Zeiträume gesehen) neben den üblicherweise bestimmenden Faktoren Struktur und Strategie (vgl. Mintzberg 1999) ausschlaggebend: • für den Erfolg und die gelingende Performanz (Leistung), • für das Funktionieren und das Zusammenspiel (Beziehung, Prozess-

qualität), • für den »sense of community« und die Zugehörigkeit (Gemein-

schaft, alignment) und • für das Bild nach Außen und Innen, das als Attraktor auf beiden

Seiten dienen kann. Peter Kruse (2004) identifiziert in seinen Überlegungen zum Management der Ungewissheit mit (1) der Vision und Strategie (Kernkompe-

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tenzen, Marktausrichtung), (2) der Managementmethodik, (3) dem Führungsverhalten, (4) der Kommunikation und Kooperation innerhalb der Organisation, (5) der Personalentwicklung (Chancen, sich als Mitarbeiter weiterzuentwickeln) und (6) der angestrebten Außenwirkung sechs Kernbereiche der Unternehmenskultur. Diese für die Organisationskultur zentralen Bereiche lassen sich nach Schein (2003) unterscheiden nach • der Ebene des Appells oder der Selbstbeschreibung (bekundete Wer-

te wie »So sind wir!«, »So wollen wir sein!«, »Daran glauben wir!«), • den Zeichen und Symbolen (Artefakte), die bestimmte, meist kollektiv sanktionierte, selten aber jedoch für alle klar benannte Bedeutungen haben (Zugänge, Treffpunkte, Rituale, Gegenstände), die auf • zugrunde liegende Werte und Glaubenssätze verweisen, die die »Tiefendimension« der Organisation insofern ausmachen, als sie meist weder sichtbar noch benannt sind. Um die Kulturmuster von Organisationen zu verstehen, muss aber die Beschreibung der Organisations-Kultur eingebettet sein in ein Gesamtbild der Organisation. Nach Wunderer (1999) werden Organisationen als soziale Systeme durch folgende drei Komponenten bestimmt: • Die Form des Organisierens beschreibt die Struktur und die Abläufe

in einer Organisation, die Art der Hierarchie und die Funktion und Logik der Administration, • die Strategie bestimmt die Ziele und Ergebnisse einer Organisation und die Frage, wie ökonomische und inhaltliche Werte mit welcher Effizienz (Wirtschaftlichkeit) erzielt werden sollen, • die Kultur einer Organisation schließlich zeigt Verhaltens- und Handlungsmuster, Formen der Beziehungen zwischen Gruppen und Individuen, beinhaltet (geteilte) Werte und Gebräuche und lässt Rückschlüsse auf Status und Rollen im sozialen System Organisation zu. In Praxis und Wissenschaft haben sich Konzepte hinsichtlich der Form des Organisierens und der Strategie entwickelt; auf den ersten Blick gibt es für Formen und Strategie eine Sprache, die hinreichend geübt und ausdifferenziert ist (vgl. Weick 1985; Mintzberg 1999). Dies trifft für die Organisationskultur nur in geringerem Maße zu: das oben dargestellte

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Modell von Schein (2003) ist zwar deskriptiv plausibel, aber noch nicht ausreichend theoretisch und empirisch gefüllt – eine eigene Sprache für Organisationskultur ist noch nicht gefunden. Die Bedeutung von Organisationskultur in ihren sichtbaren, insbesondere aber nicht sichtbaren Ausprägungen für das Funktionieren des sozialen Systems Organisation wird zwar allgemein erkannt, diese Argumentation wird in der Fachliteratur der letzten Jahre aber eher wiederholt als vertieft. Dazu kommt, dass die Beschäftigung mit der Kultur einer Organisation in der Praxis auf den ersten Blick nur wenig Relevanz besitzt, weil sie vorhandene Managementprobleme nicht direkt löst. Organisationskultur wird zwar auch in der Praxis in ihrer Bedeutung erkannt, die Managementpraxis folgt eher der Maxime: über Kultur können wir nachdenken, wenn alles gut läuft. Kultur ist jedoch die »Zivilgesellschaft« der Organisation (vgl. Giddens 2001): hier entwickeln sich individuelle und gemeinschaftliche Werte, die erst ökonomische Werte hervorbringen. Sie können in der folgenden Form beschrieben werden (in Anlehnung an Wunderer u.a. 1997): Haben – Welche Ressourcen stehen zur Verfügung? Können – Welche Kompetenzen sind vorhanden? Sollen – Was wird von den Mitarbeitern erwartet? Wollen – Womit identifizieren sich Mitarbeitern? Dürfen – Welche Befugnisse haben Mitarbeiter?

Schnittstelle 1: Auch wenn die Organisationskultur in diesem Kontext ein Schwerpunkt der Forschung ist, die möglicherweise das Ungenannte, nicht Zählbare und damit auch das Unerwartete in Organisationen verstehen und gestalten hilft, wird sie doch gleichzeitig auch bestimmt durch die Funktion des Organisierens und die Strategie der Organisation. Alle drei ergeben erst das gesamte Bild einer Organisation; sie beeinflussen sich wechselseitig und sind jeweils als Ganzes Bild in jedem einzelnen Teil vorhanden. Basierend auf Schnittstelle 1 enthüllt sich hier ein Prinzip, das in der Kunst (Literatur, bildende Kunst, Design) als »mis en abym« bezeichnet wird: »ein Bild, das sich selbst enthält«. Als Grundprinzip der Hologramme ist dieses Prinzip systemtheoretisch von Bedeutung: Wird ein Hologramm in Teile zerbrochen, so enthält jeder Teil die gleichen Informationen (das gleiche Bild) wie das Gesamtbild – allerdings je kleiner, desto unschärfer.

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Ein anderer Blickwinkel ergibt sich, wenn wir – in Anlehnung an Mary Douglas (1991) – unterschiedliche Kulturtypen unterscheiden, die sich aus der Verhaltensregulation nach Zugehörigkeit (group) oder durch die Befolgung von Organisationsregeln (grid) ergeben (vgl. Kamarsin/Kamarsin 1997). Dieser Zugang aus der anthropologischen Kulturtheorie zeigt bereits grundlegende Kulturmuster, die als Grundlage einer interdisziplinären Kulturanalyse von Organisationen herangezogen werden können. Sie zeigen aber auch, dass sich Organisationskultur vor dem Hintergrund der genannten Handlungsmuster immer wieder neu herstellt und im Entstehen neu ausgehandelt werden muss. Organisation wird im Rückgriff auf ihre Kultur daher nicht als substantielle Form oder neutraler Behälter verstanden, in dem organisationale Akteure handeln. Vielmehr wird Organisation performativ gedacht, d.h. sie entsteht durch Ausübung – Wiederholung, Routine, Rituale, Muster – und ihr Wissen ist implizit und nicht kodifizierbar (tacit knowledge). Als performativer Akt ist Organisation prozesshaft und entwickelt sich durch ein Handeln, das an Wertvorstellungen, Materialien und Strukturen geknüpft ist. Das Erforschungswürdige an diesem Konzept ist, dass wir meist kein bewusstes Konzept der Performanz von Organisation haben, also von dem, was wir als Kultur einer Organisation »machen« – uns fehlt mithin die Urteilskraft fürs Relationale, Situative und Performative. Das Erforschen der impliziten Formen des Wissens ist bereits seit langem Bestandteil der Organisationstheorie. Neu ist, das künstlerische Forschen systematisch (und nicht nur als Metapher) in diesen Komplex mit einzubeziehen. Künstlerisches Forschen fragt neu nach den ontologischen Bedingungen von Forschung, also der Beschaffenheit des Forschungsgegenstands, der Form der Episteme und den damit verknüpften methodologischen Ansätzen. Forschung in der Kunst wird von Borgdorff (2009) als »performative Perspektive« (a.a.O.: 30) bezeichnet, Donald Schön (1983) als Organisationstheoretiker beschreibt sie als »Reflexion in der Aktion«. Die Trennung von Objekt und Subjekt wird hier problematisiert, denn die Distanz des Forschenden zum Gegenstand ist minimiert – im Gegenteil sucht der Forschende in performativen Kontakt mit den Dingen zu kommen, um aus praktischen Situationen heraus Wissen zu destillieren. Dieser Ansatz geht davon aus, dass die künstlerischen Praktiken selbst ein Reservoir an Wissen bereitstellen, das es für die Forschung fruchtbar zu machen gilt.

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Schnittstelle 2: Es zeigt sich, dass nicht nur parallele Berücksichtigung mehrerer Ebenen, sondern damit insbesondere der transdisziplinäre Zugang gerade für das Verständnis von Organisationskultur unabdingbar ist. Insbesondere das auf den ersten Blick nicht rein rationale, künstlerische Vorgehen kann helfen, die verborgenen Muster von Prozessen und Strukturen in Organisationen sichtbar und diskursfähig zu machen. Hier sind Verbindungen zwischen Kulturanthropologie, Kunst und sozialen Systemen noch weiter zu systematisieren, um eine Folie zum Verständnis von Kulturmustern herzustellen.

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K ULTURELLE UND INNOVATIVE M USTER IN O RGANISATIONEN

Kultur entsteht durch Wiederholung und Variation, durch Rituale und (meist unausgesprochene) Regeln (vgl. Kroeber 1963). Kultur wird aber nicht bestimmt, sondern »spielt sich ein«, ist prozesshaft und entwickelt sich durch das Handeln (nicht durch Vorschriften). Paul Bate (2004) vergleicht deshalb Organisationskultur mit einem Flussbett: die Handlungsmuster der Mitarbeiter und die Strukturmuster der Organisation suchen sich den gangbaren Weg, der dann (temporär) zum Flussbett wird. Grundlage ist hier das Prinzip der »Viabilität« (Glasersfeld 1997), das auch für die Theorie der Selbstorganisation ausschlaggebend ist. Kulturmuster von und in Organisationen können daher branchenoder typenspezifisch identifiziert und analysiert werden. Grundlage für die Analyse von Kulturmustern sind einerseits Dokumentenanalysen (bekundete Werte und Artefakte), teilnehmende Beobachtung und Interviews oder andere Formen der Befragung und Datenerhebung. Eines der bekannteren Verfahren zur Analyse von Werten in Organisationen und sozialen Systemen ist das von Peter Kruse (2004) entwickelte partizipativ-interaktive Tool des NextExpertizer, mit dem er sprachlich erhobene Aussagen über Werte und Wirklichkeitskonstruktionen in Organisationen oder Systemen zu räumlichen drei-dimensionalen Konstrukten verdichtet. Theoretische Grundlage ist dabei das von George Kelly (1955) bereits in den 1950er Jahren entwickelte Re-

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pertory-Grid-Verfahren, mit dem die individuelle Realitätswahrnehmung (die subjektive Wirklichkeit) auf Basis persönlicher Konstrukte gemessen wird. Dieses Verfahren ermöglicht zwar wichtige Einsichten in die (subjektive) Wertewelt von Organisationen und – durch die Aggregation zahlreicher individueller Aussagen – in ein potentielles Wertemodell einer Organisation oder eines sozialen Systems (Kruse u.a. 2007) und liefert erste Muster der Tiefendimension von Organisationskulturen. Es bleibt jedoch noch auf der kognitiven und bewussten Ebene der Kulturanalyse und kann noch nicht ausreichend das Ungenannte und Unerwartete in Organisationen erfassen, geschweige denn Möglichkeiten bieten, Kulturmuster flexibel im Tun einzusetzen und damit neue Möglichkeiten zu entdecken. Hilfe, so nehmen wir an, kann uns hier die Beschreibung in Mustern von Organisationen, abgeleitet von C. Alexanders »Mustersprache«, bieten. Nach Alexander (1977) sind Muster die geronnene Form erfolgreicher Problemlösungen, die eben nicht die Form statischer Handlungsanweisungen einnehmen, sondern, indem sie Werte und Prinzipien vertreten, wie verschiedene Herausforderungen gemeistert werden können, flexibel und variabel einsetzbar sind und sich dabei auch selbst verändern können. Die »Notation« von Mustern folgt in allen Anwendungsfeldern bestimmten Prinzipien, die Borchers (2001) erstmals formal beschrieben hat. Ausgehend davon verwenden wir eine erweiterte Form der Bestandteile von Mustern, wie sie für Organisationen und soziale Systeme relevant sind: p= {nc, f1…fi, set, t, sol, e1...ei, con}

Jedes Muster (p) in Organisationen ist dabei eine Funktion: • einer typischen Herausforderung (nc = name/challenge), • verschiedener hier einwirkender Kräfte im Kontext (f = forces), • zeitlicher Dynamik (t) und räumlichen Gegebenheiten (set = set-

ting), • einer oder verschiedener Lösungsvariante(n) (sol = solution), • verschiedener Anwendungsbeispiele (e = example) und • möglicher Konsequenzen (con = consequence).

Ein Set von Mustern beschreibt daher ein typisches, situationsspezifisches und viables Beziehungssystem in einer Organisation. Keidel

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(1995) hat die in Organisationen zentral wirkenden Kräfte (f) mit Autonomie, Kontrolle und Kooperation beschrieben. Alle drei Kräfte können als fundamental zum Verständnis der Dynamik in Organisationen bezeichnet werden und bestimmen die Beziehungen in diesen sozialen Systemen: Autonomie als Bestreben des Individuums (oder der Gruppe), selbstständig und selbstorganisiert agieren und entscheiden zu können, Kontrolle als das koordinierende Bestreben sowohl der Einzelnen als auch des Ganzen, gesetzte Ziele auch zu erreichen sowie individuelle und kollektive Interessen auszubalancieren, und Kooperation als integrative Kraft des Gemeinsamen und der Notwendigkeit, nur durch Zusammenarbeit Neues erreichen und wachsen zu können. Keidel plädiert damit für eine triadische Sicht auf Organisationen und Systeme, beklagt aber eine oft vorherrschende duale Sichtweise in der Praxis. Wenn Muster auf diese Weise die Klammer zum Verständnis der Organisation auf verschiedenen Ebenen bilden können und insbesondere einen Zugang zur Tiefendimension, zum »Ungenannten« der Organisation, bieten, dann ist es sinnvoll – in Anlehnung an Alexander u.a. (1977) – eine Mustersprache für Organisationen zu entwickeln. Da Muster und eine Mustersprache für moderne Organisationen jedoch die Möglichkeit bieten müssen, beweglicher statt statischer zu werden, einen kreativen Prozess des Erfindens, und nicht nur des Findens (Dell 2002: 228) anstoßen sollen und im Sinne einer »lebendigen (Muster-)Sprache« sich aufeinander beziehen sollen, müssen die Prinzipen der Mustersprache (die Muster der Muster) diesen Anforderungen entsprechen. Die Frage, wie sich Muster in Systemen wiederholen, weiterentwickeln und variieren, wird bei der Beschäftigung mit nicht-linearen Systemen in ähnlicher Weise gestellt. Fraktale und das bekannte Sierpinski-Dreieck sind dafür gute Beispiele und können uns einiges über die Grundprinzipien von Mustern lehren (vgl. Brockman 2003). Nach welchen Prinzipien Muster aufgebaut sind, ist entscheidend für einen gestaltenden und nicht nur konstatierenden oder affirmativen Umgang mit Mustern in sozialen Systemen: Kann dazu ein Vergleich der Nutzung von Mustern in verschiedenen Disziplinen (Muster in der Stadtplanung und Architektur, Software, funktionales Design, Muster der Organisation, Physik etc.) helfen? Ist die Notation der Muster in verschiedenen Disziplinen vergleichbar und bis zu welchem Maße? Gibt es übergreifende Prinzipien (siehe etwa Keidel 1995), die in allen

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Branchen gleich oder vergleichbar sind? Gibt es innovative und hemmende Muster? Das Wissen, wie ein soziales System funktioniert oder wie innovative Prozesse ermöglicht werden, wird als »practical body of knowledge« meist intuitiv und implizit angewandt und kontinuierlich ergänzt – ist daher immer in Bewegung. Die Analyse und Entwicklung von Mustern (Patterns) hat sich nicht nur zur Beschreibung des impliziten Wissen, das sich für Herausforderungen des Alltags in Organisationen als erfolgreich (viabel) erwiesen hat, als geeignet gezeigt und ist in vielen Bereichen etabliert (z.B in der bildenden Kunst, Musik und Literatur, aber auch in Disziplinen angewandter Wissenschaft wie Architektur, Softwareentwicklung oder Pädagogik). Muster bilden auch jene »minimal structures«, durch die das Potential für improvisatorische und kreative Problemlösungen im Handeln entdeckt werden kann. Patterns in der Kunst und in Organisationen sind Ergebnisse eines gemeinschaftlichen Prozesses, in dem Potentiale und Lösungsstrategien verdichtet werden, die sich durch die Beschäftigung mit dem Material sowie in den eingeübten Vorgehensweisen, Vorstellungen und Kompetenzen der Handelnden herausgebildet haben. Auf diese Weise verbinden sie betriebswirtschaftlich orientierte Wertschöpfungsprozesse mit Kultur, Wissen und Performanz. Der Prozess der Mustererkennung in Organisationen dient (a) dazu, die Strukturen zu identifizieren und zu dokumentieren, die das Wesen einer Organisation ausmachen und ihr den je spezifischen Stempel aufdrücken und (b) dazu, aus den Mustern die Möglichkeiten der stetig lernenden Organisation in Handlungen zu übertragen.

Die Schnittstelle 3 fragt daher danach, wie die Struktur von Mustern in Organisationen und sozialen Systemen beschaffen sein muss, damit sie wiederholbare Grundprinzipien und Lösungsansätze bei gleichzeitig hoher Variabilität und Zeitdynamik beschreiben und generieren können. Eine Frage, die sich in ähnlicher Weise die Theorie nicht-linearer Systeme (Gell-Mann 1996; Bais/Farmer 2007), aber insbesondere performativ auch die Musik (Dell 2011; Stark 2010) stellt.

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3

O RGANISATION UND M USIK – E INE NEUE S PRACHE FÜR DIE T IEFENDIMENSION VON O RGANISATIONSKULTUREN ?

Können die Kulturen, in denen die Organisationszugehörigen leben bzw. arbeiten, klanglich »hörbar gemacht« bzw. musikalisch verstanden werden, so wird das im Arbeitsalltag fast ausschließlich genutzte Kommunikationsmedium »Sprache« sensorisch-emotional ergänzt und dem Management von Organisationen eine neue Dimension hinzugefügt. Die Tiefendimension von Organisation und Innovation wird über den Kanal der Musik wahrnehmbar und gleichzeitig als Feedback für die Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nutzbar, um notwendige Lern- und Entwicklungsprozesse auf individueller und organisationaler Ebene, anzuregen. Das musikalische Feedback regt das System Organisation an und ermöglicht eine positive Neuordnung des Systems. Musik entsteht sui generis aus dem relationalen Zusammenhang, aus einer Topologie ihrer strukturellen Momente. Wichtig dabei ist: diese Relationalität muss hervorgebracht werden. Der Sinn von Musik entfaltet sich erst aus der Relationalität von Rhythmus, melodischer Anteile, harmonischer Verläufe, Klangfarbe etc. die nicht allein als physikalische Vorgänge von akustischen Schwingungen, sondern als ein »sinnvolles« Konglomerat wahrgenommen werden können. Wichtig ist außerdem, dass jeder mitmachen kann: Strukturen dieser Vorgänge bilden für alle Hörer (und Musiker) gleichermaßen eine Grundlage. Sie können jenseits tertiärer Eigenschaften »Anlass für zusammenhängende Erfahrung« (Vogel 2007: 327) sein und bilden so wahrnehmungsstrukturierende Modelle, die nicht nur Spezialisten der Musik, sondern auch jedem Laien zugänglich und plausibel sind. Diese Modelle sorgen dafür, dass die Hörer eine Praxis, ein Tun nachvollziehen und daraus eine Form der Kohärenz ableiten können. Dieser Nachvollzug ist jedoch stark subjektiv gefärbt. Musik »bedeutet« also nicht die Organisation, sondern das Tun eines musikalischen Spiels wird nachvollzogen oder etwa im Schreiben einer Partitur vorgedacht. Der Erfahrungsraum des Musikmachens oder Musikhörens wird also umgekehrt zum strukturierenden Moment einer Reflexion über Organisation. Wir gehen davon aus, dass Musikhören – ebenso wie das im Forschungsprojekt daran angeschlossene oder vorgeschaltete Partiturenschreiben oder -zeichnen – nicht bloß rezeptiv oder interpretatorisch

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zu verstehen ist, sondern dass darin Elemente einer Praxis enthalten sind, die sich daran beteiligen, musikalischen Sinn überhaupt erst zu »produzieren«. Der Fokus auf die Produktion von Sinn, auf das Verfahren des Musizierens selbst rückt ein spezifisches Verfahren der Musikproduktion in den Blick: das der Improvisation. Dieses Verfahren ist für Organisationen zunehmend interessant. Aktuell beobachten wir, wie sich die Perspektiven im Komplex der Organisationstheorie verschieben. Auf der Basis eines ›organisationalen Lernens‹ wurde ein »Prozess der Erhöhung und Veränderung der organisationalen Wert- und Wissensbasis, die Verbesserung der Problemlösungs- und Handlungskompetenz sowie die Veränderung des gemeinsamen Bezugsrahmens von und für Zugehörige innerhalb der Organisation« in Gang gesetzt (Probst/Büchel 1994: 17). Damit ändert sich auch die Organisation von Organisation. Organisation ist nicht mehr nur als Planung und Ausbildung von Routinen, sondern vor allem als organisatorischer Wandlungsprozess zu verstehen. Innerhalb dieses Komplexes ist in den letzten zehn Jahren ein Untersuchungsfeld emergiert, das Improvisation als Kompetenz des konstruktiven Umgangs mit dem Unerwarteten stärker in den Blick nimmt. »Organizational Improvisation is one of the more recent theoretical developments, and one which is only now beginning to capture the imagination of organization theorists«, konstatieren Kamoche u.a. (2002: 1). Dies hätte einen Paradigmenwechsel in der Organisationstheorie zur Folge: in ihr wird herkömmlicherweise Planung »als langfristig der Improvisation überlegene und erstrebenswerte Form der Problemlösung definiert, während die Improvisation eine untergeordnete Rolle spielt. Aufgrund von Planungsgrenzen wird in den Unternehmen in einem Maße improvisiert, welches über dem der theoretischen Darstellungen liegt.« (Ebd.) Schön (1983) rekurriert bereits in seiner Beschreibung des »reflexiven Praktikers« auf die Arbeit von Musikern, und zwar Jazzmusikern im Speziellen, weil diese Improvisation nutzen und so im Unvorhersehbaren Kohärenz zu erzeugen in der Lage sind: »Sie (die Musiker) können das hauptsächlich deshalb tun, weil sie sich bei ihrem kollektiven Bemühen um eine einfallsreiche musikalische Gestaltung eines metrischen, melodischen und harmonischen Schemas bedienen, das allen Beteiligten vertraut ist und dem Musikstück eine vorhersehbare Gestalt verleiht. [...] Indem die Musiker ein Gespür für die Richtung bekommen, in der sich das

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Musikstück aufgrund ihrer zusammenwirkenden Beiträge weiterentwickelt, gewinnen sie daraus einen neuen Sinn und passen ihr Musizieren diesem neuen, von ihnen begleiteten Sinn an.« (Schön 1983: 55)

Die Analyse des reflektierten Handelns geht somit von einer bestimmten Organisationspraxis aus, und zwar der der organisationalen Improvisation. Fassen wir zusammen: musikalische Logik fügt sich nicht aus wahrheitserhaltendem Schließen zusammen, sondern aus der Relationalität einer spezifischen Nachbarschaftsordnung musikalischer Elemente. Matthias Vogel spricht in diesem Zusammenhang von medialen Praktiken. »Im Mittelpunkt medialer Praktiken stehen tradierte und erlernbare Tätigkeitstypen, die wahrnehmbare Ereignisse hervorbringen, wobei Produzenten und Rezipienten dieser Ereignisse sich nicht an deren physikalischen Eigenschaften, sondern anderen beobachterrelevanten Eigenschaften orientieren« (Vogel 2007: 319). Der Zugang über die Sinneswahrnehmungen der Musik ist eine Chance und Herausforderung, um die Tiefendimension der jeweils spezifischen Organisationskulturen zu erfassen – und damit auch in der Praxis zu vermitteln. Ausgehend von Musik als Modell von Organisation gilt es, neue Erfahrungshorizonte des Organisierens und Managens zu erforschen, denn: • Musik kann die Komplexität (der Kulturebenen) einer Organisation

oder eines sozialen Systems zeitgleich darstellen, da Musik über verschiedene Ebenen und Dimensionen (z.B. Melodie, Harmonik, Rhythmus) verfügt. • Musik ist als Analyseinstrument zur Selbstreflexion und zur Evaluation der Organisation und ihrer Kultur besonders geeignet, da sie jenseits von Sprachcodes ein unmittelbares Feedback auf der strukturellen und emotionalen Ebene gibt. • Musik ist Aktion (Performanz) in der Zeit und erfasst damit die zeitlichen und performativen Aspekte des Organisierens, die in bisherigen (oft statischen) Organisationsmodellen meist vernachlässigt werden. Durch die Verbindung von Organisationskultur und Musik lassen sich neue Wege zur Entwicklung innovativer Unternehmen und sozialer Systeme entdecken: Dabei kommt es besonders darauf an, auch die Er-

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fahrungsbestände in Organisationen für Innovation zu erschließen, die nicht ausschließlich kognitiv repräsentiert sind. Fähigkeiten zur Selbstreflexion sind entscheidend für Innovativität, Erfolg und organisationales Überleben (Moldaschl 2006). Muster innovativer Organisationen – in ihrer Tiefenstruktur bislang nur schwer erkenn- und darstellbar – können durch die Musiksprache auf einer neuen Reflexionsebene erfahrbar gemacht werden. Innovative und lernfähige Organisationskulturen bilden am ehesten den Prozess des Improvisierens ab, der im Jazz oder auch in Teilen der Neuen Musik identitätsbildend ist. Dies gilt insbesondere für Organisationen, die sich aufgrund neuer Anforderungen aus der Organisationsumgebung immer wieder neu erfinden müssen. Komplexe Anforderungen benötigen hochqualifizierte Mitarbeiter mit hohen Freiheitsgraden, um Innovationspotenziale erkennen und flexibel agieren zu können; sie benötigen jedoch keine komplexen Strukturen (siehe Abbildung 1). Abb. 1: Komplexität in Organisationen Simple People

Complex People

Complex Structure

Machine Bureaucracies

Intelligent Bureaucracies

Simple Structure

Simple Organisations

Improvising Organisations

Quelle: Vieira da Cunha/Pina e Cunha (2006)

Improvisationen als Muster innovativer Organisation(skulturen) sind nach Vieira da Cunha u.a. (2006) beabsichtigte, aber ungeplante Abweichungen von den Organisationsroutinen, die eben dadurch unerwartete Problemlösungen und Entwicklungsmöglichkeiten erkennen und nutzen können. Innovative Prozesse erfordern das Brechen vorhandener Muster (vgl. Wüthrich u.a. 2006), mit dem Möglichkeiten in der aktuellen Entwicklung aufgegriffen werden können, die eine neue Figur ergeben.

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Schnittstelle 4: Die Fragen nach den Mustern der Innovation ergeben die nächste Schnittstelle: Was ist die Besonderheit von Innovationsmustern und ihrer Dynamik – wann gebiert ein Handlungsmuster Neues, wann kommt es zu einem Ende? Hier sind sowohl die Prinzipien der Mustersprache (unter welchen Bedingungen, wie und mit welchen Folgen lassen sich Muster miteinander verbinden?), als auch die Grundlagen aus der Musikimprovisation (vgl. Barrett 1998; Hatch 1998), dem Improvisationstheater (vgl. Meisieck/Barry 2007) und dem Tanz (vgl. Forsythe 2003) zentral: was kann in der Improvisation wann wie aufgegriffen werden, wie entsteht Kommunikation in und zwischen Mustern durch Nutzung minimaler Strukturen? Werden dazu »Transmittersubstanzen« benötigt, die – ähnlich den Synapsen im Gehirn – spezifische Informationsträger sind/sein können?

4

O RGANISATIONEN

MUSIKALISCH DENKEN

Organisationspartituren erschließen Teile der Tiefendimension des organisatorischen Feldes, indem sie einen neuen Zugang zum Verständnis von Organisationen und sozialen Systemen eröffnen. Partituren beginnen mit einer Vorstellung des Ungenannten und ermöglichen einen neuen »Blick« auf die Organisation, bei dem auch das Wahrnehmungsmedium wechselt: »Wie klingt deine Organisation/deine Abteilung/deine Arbeit?« Der Übergang vom visuellen zum akustischen Sensorium verändert die Vorstellung, die Idee der Organisation. Dass diese Vorstellung nicht nur notiert (zweidimensional als graphische Notation), sondern auch gespielt und aufgeführt werden kann, eröffnet nicht nur mehrere Ebenen der Wahrnehmung, sondern – über den link zu musikalischen »patterns« (vgl. Coker u.a. 1970) und den spielerischen Einsatz des Reactable2 – auch die Möglichkeit, tatsächlich damit zu spielen: nämlich sowohl die Partitur als auch die »performance« zu

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Der ReacTable (http://www.reactable.com/) ist als neues elektronisches Musikinstrument ein Beispiel eines »tangible user interfaces«, mit dem interaktiv Musikpatterns und organisatorische Patterns mit einander verschaltet werden können. In der Praxis können damit Organisationen musikalisch »gestimmt« werden.

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interpretieren, neu zu verstehen, sich selbst zu verorten und weiter zu entwickeln. Organisationspartituren enthalten immer auch Hinweise auf Kulturmuster der Organisation; in vielen Fällen ergeben sich diese Muster aus der Legende zur Partitur, mit der die (individuellen oder kollektiven) Autoren der Partituren einzelne Phasen oder Räume benennen. In den Mustern finden sich – so nehmen wir an – jene »minimal structures«, die das Basismaterial für Improvisationen in der Kunst wie auch in Organisationen darstellen und es erlauben, mit den Potenzialen von sozialen Systemen zu spielen und sie zu erneuern.

Schnittstelle 5: Lassen sich Partituren als »Methode« der Notation mit der Entwicklung von organisatorischen und musikalischen Mustern systematisch verbinden? Was passiert mit (meist visuellen) Mustern, wenn sie bereits in der Vorstellung in den akustischen Vorstellungsraum wechseln? Welche Rolle spielt die Performanz der Diagramme (hinsichtlich der Veränderung der in den Partituren angelegten Muster? Gibt es hier eine Kommunikation zwischen verschiedenen Interpretationen? Wie lässt sie sich organisieren? Die größte Herausforderung – und das größte Potenzial – besteht in der Verbindung zwischen organisationalen und den musikalischen Mustern. Tangible User Interfaces – ähnlich dem ReacTable – können zwar »JazzPatterns« und andere musikalische Muster miteinander verbinden und ggf. sogar iterative Prozesse, die Muster verändern, unterstützen – werden aber damit Muster der Organisationskultur neu verstanden?

Schnittstelle 6: Lassen sich interaktionsfähige Muster (Mustersprache) als Simulation und Produktion von Mustern der Organisationskultur herstellen, die dann als Grundlage der Interaktion von Mustern für »Organisational Design« dienen können? Voraussetzung dafür ist, dass Struktur performativ gedacht wird und somit, formal gesehen, die Grundstruktur der beiden Mustergattungen (Organisation und Musik) als performatives Verfahren angleichbar ist, und gleichzeitig an der Arbeit der Verbindungen etwas Neues entsteht

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– und nicht nur die Angleichung der Strukturmerkmale (das Neue aber, und das ist der Vorteil durch die strukturelle Vorgehensweise des pattern-Verfahrens, formal anschlussfähig bleibt). Dazu muss experimentiert werden, um Regeln durchbrechen zu können – dies bedeutet, in der Organisationsforschung nicht nur mit Kunst zu experimentieren, sondern selbst einen künstlerischen Prozess (vgl. Brater 2011; ArensFischer u.a. 2011) einzugehen, mithin die von Borgdorff (2009) geforderte performative Perspektive einzunehmen. Da Performanz (auch die ökonomische) nicht nur Interaktion mit dem Material, den Akteuren, dem Raum und Veränderung in der Zeit bedeutet, sondern auch Bewegung im und als Raum (Dell 2002), sind ein- oder zweidimensionale Instrumente immer dann gehandicapt, wenn es nicht gelingt, diese in musikalisch-performative Handlungsweisen zu überführen.

Daher – ausblickend – Schnittstelle 7: Wie können musikalische Muster und Muster der Organisation als interaktive Tools performativ im bewegten Raum eingesetzt werden? Wäre dies die Simulation und Erzeugung einer modernen Organisation? Oder vielmehr, im Sinne Bruno Latours (1999), eine Politik der Organisation, die sich der realen Unsicherheit dergestalt konstruktiv aussetzt, dass sie gerade nicht mehr planbare, vorauszusetzende Realität behaupten (simulieren) muss, sondern sich so aufstellt, dass sie in der Lage ist, sich Wirklichkeit im organisationalem Aushandlungsprozess als verhandelbare Tatsache auszusetzen? Umgesetzt ist das ansatzweise bisher nur im belletristischen FictionModus: in einem Buch des amerikanischen Schriftstellers Richard Powers (»Schattenflucht«, Powers 2002).

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O RGANISATIONSKULTUR

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Was Dienstleister von Künstlern lernen können Wege zu innovativer und professioneller Dienstleistungsarbeit1 E LISA H ARTMANN /C LAUDIA M UNZ /J OST W AGNER

Dass Dienstleistungsarbeit in Deutschland einen Professionalisierungsprozess durchlaufen muss, um den Herausforderungen des stark wachsenden, zunehmend globalen, technisierten und gleichzeitig individualisierten Dienstleistungsmarktes gerecht zu werden, darüber sind sich viele Expertinnen und Experten einig. Über die Frage, welche Strategien dabei zu verfolgen sind, bestehen jedoch höchst unterschiedliche Auffassungen. In weiten Bereichen des Dienstleistungssektors werden immer wieder Prinzipien der industriellen Rationalisierung und Standardisierung zur Grundlage einer solchen Professionalisierung herangezogen. Durch die Festlegung von Handlungsroutinen, die Standardisierung von Prozessen und der z.T. minutiösen Planung und Vorgabe des Kontakts mit Kundinnen und Kunden wird versucht, Dienstleistungsarbeit zu objektivieren, also aus der konkreten Situation herauszulösen, sie zu vereinheitlichen und dadurch kontrollierbar und reproduzierbar zu machen. Überall dort, wo Arbeitsprozesse relativ unab-

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Der Beitrag beruht auf Arbeiten im Rahmen des vom BMBF und ESF geförderten Forschungsverbundes »Dienstleistung als Kunst – Wege zu innovativer und professioneller Dienstleistungsarbeit« (KunDien). Näheres zu KunDien ist der Internetseite www.dienstleistungskunst.de zu entnehmen.

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hängig von der konkreten Situation und des speziellen Wunsches der Kundin oder des Kunden vollzogen werden können, bietet sich die Standardisierung auch an, schafft sie doch Handlungsspielräume und beschleunigt Vorgänge. Gleichzeitig zeigt sich in der konkreten Dienstleistungssituation jedoch oft, dass solche Routinisierungen für die Dienstleister das eigentliche Problem nur verschieben und zwar hin zur »Sicherstellung des Anschlusses turbulenter externer Prozesse und Ressourcen an rationalisierte« (Holtgreve 2004: 3).2 Mit anderen Worten: Überall dort, wo sich die Realität der Dienstleistungssituation, die Bedürfnisse von Kundinnen und Kunden und die zur Befriedigung desselben notwendigen Prozesse dem Standard verweigern, stehen Dienstleisterinnen und Dienstleister vor der Herausforderung, mit den sich daraus ergebenden Ambivalenzen, Unsicherheiten, Unklarheiten und Unplanbarkeiten professionell umzugehen. Und wir behaupten, dass dies aufgrund des besonderen Charakters von Dienstleistungsarbeit eher die Regel ist denn die Ausnahme.

1

D IENSTLEISTUNGSARBEIT – U MGANG MIT O FFENHEIT

Wie Dienstleistungsarbeit genau zu definieren ist und worin ihre Besonderheiten gegenüber der Produktionsarbeit liegen, lässt sich aufgrund der Vielfältigkeit von Dienstleistungen nur schwer auf einer allgemeinen Ebene beantworten. Kein Wunder also, dass manche Wissenschaftler vom »Phantom der Dienstleistung« sprechen (vgl. Pongratz 2009). Auch wenn sich mit einer klaren Definition von Dienstleistungsarbeit schwer getan wird, so tauchen doch in den entsprechenden Debatten und empirischen Studien immer wieder bestimmte Eigenschaften auf, die offenbar in einem engen Verhältnis zum »Dienstleistungscharakter« von Arbeit stehen. Viele Dienstleistungen zeichnen sich dadurch aus, dass das sachliche Ergebnis des Dienstleistungsprozesses zu Beginn noch nicht feststeht (vgl. Bauer 2005), sondern es ein Teil der Dienstleistung selbst ist, dieses gemeinsam mit dem Kunden zu entwickeln. Das »Was« (welches Produkt, welches Ergebnis) und das »Wie« (wie soll die

2

Oder diese Aufgabe wird einfach der Kundin oder dem Kunden übertragen, der somit zum »arbeitenden Kunden« (vgl. Voß/Rieder 2005) wird.

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Leistung genau beschaffen sein, und wie soll ihre Erbringung aussehen) der Dienstleistung ist in der Regel zu Beginn der Leistungserbringung unbestimmt und interpretationsbedürftig. Das bedeutet aber auch – und darin besteht das zweite Charakteristikum vieler Dienstleistungen –, dass der Dienstleister für die Erbringung seiner Leistung auf die aktive Kooperation (vgl. Weihrich/Dunkel 2003), in anderen Worten auf die Ko-Produktion (vgl. bspw. Voß/ Rieder 2005) mit dem Kunden angewiesen ist: Die Qualität der Dienstleistung ist in hohem Maße von dem Beitrag des Kunden selbst abhängig. Durch die aktive Einbeziehung des Kunden zeichnen sich drittens Dienstleistungen dadurch aus, dass sie einen offen, aber gerichtet prozesshaften Charakter besitzen. Sie kommen nicht punktuell zustande, wie etwa der Kauf eines Produkts. Vielmehr müssen sich Dienstleister und Kunde auf einen gemeinsamen mehr oder weniger offenen Entwicklungsprozess einlassen, der einerseits eine ganz eigene Dynamik und »Dramaturgie« entwickeln kann, also für keinen der Beteiligten vorhersehbar ist, der andererseits aber auch bewusst gestaltet werden muss (vgl. Voswinkel 2005). Auch wenn nicht alle Dienstleistungen diese drei Eigenschaften in Reinform aufweisen, so spricht vieles dafür, dass der »Dienstleistungscharakter« von Arbeit steigt, je weniger das Ergebnis der Leistung vorher zu definieren ist, je prozesshafter die Leistungserbringung vonstatten geht und je stärker der Kunde in die Leistungserbringung mit einbezogen werden muss. Dies bedeutet aber auch, dass Offenheit, Unsicherheiten, Ambivalenzen und Unplanbarkeiten oftmals nicht Störungen, sondern eben gerade immanente Eigenschaften des Dienstleistungsprozesses sind und sich damit professionelles Handeln gerade nicht auf die Vermeidung von, sondern auf den produktiven Umgang mit diesen Offenheiten und Unsicherheiten bezieht. Mit anderen Worten: Die zentrale Dienstleistungskompetenz besteht u.E. darin, mit der Offenheit von Dienstleistungssituationen und nicht gegen diese zu arbeiten. Die Professionalität und Qualität der Dienstleistung steigt in dem Maße, wie Dienstleisterinnen und Dienstleister bereit und fähig sind, sich auf offene, unsichere Prozesse einzulassen, sich im ›Unsicheren sicher‹ zu fühlen. Soll Dienstleistungsarbeit professionalisiert werden, so kommt dem Umgang mit dieser paradoxen Anforderung eine zentrale Rolle

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zu.3 Gleichzeitig ist klar, dass dieser Umgang eben gerade nicht oder nur sehr begrenzt auf die traditionellen Handlungsmodelle von rationaler Planung und kontrollierter Umsetzung zurückgreifen kann. Es bedarf also alternativer Handlungsmodelle, die in der Lage sind, mit Offenheit und Unsicherheit umzugehen und dennoch zu tragbaren Ergebnissen zu kommen.

2

D AS M ODELL H ANDELNS

DES KÜNSTLERISCHEN

Interessanterweise gibt es eine »Berufsgruppe«, für die der Umgang mit Unsicherheit und die Bereitschaft, im Prozess die Offenheit bezüglich Ziel und Art der Handlung bewusst aufrecht zu halten, um daraus Impulse für innovative Entwicklungen zu erhalten, geradezu konstitutiv ist: Die Rede ist von Künstlerinnen und Künstlern. Das Projekt »Dienstleistung als Kunst – Wege zu innovativer und professioneller Dienstleistungsarbeit (KunDien)« entwickelt und erprobt eine Professionalisierungsstrategie, die die Vorgehensweise von Künstlerinnen und Künstlern, das »künstlerische Handeln« zur Grundlage nimmt und fragt, inwiefern dieses das Handeln von Dienstleisterinnen und Dienstleistern orientieren kann. So unterschiedlich Künstlerinnen und Künstler und ihre Werke auch sein mögen, werden sie befragt nach ihrer Vorgehensweise, also nach dem Handlungsprozess, der das Werk hervorbringt, so lassen sich bestimmte Elemente identifizieren, die immer wieder auftauchen und die offensichtlich als »typisch« für das künstlerische Handeln gelten können:4 Am Anfang des künstlerischen Prozesses steht oft eine Idee, ein Thema, ein Motiv, eine Frage, ein Impuls, etwas, was den Künstler5 beschäftigt. Meistens ist dieses »etwas« aber nicht klar umrissen oder

3

Umso mehr, als man generell unter Professionalität gerade den offenen Umgang mit paradoxen Anforderungen verstehen kann (vgl. Schütze 1996).

4

Vergleiche dazu ausführlich Brater u.a. 2011.

5

Im Sinne einer besseren Lesbarkeit wird in den folgenden Absätzen nur die männliche Form verwendet, auch weil es sich nicht um eine konkrete Person, sondern vielmehr um einen Typus handelt.

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gedanklich erfasst, vielmehr handelt es sich dabei um eine Stimmung, eine Ahnung. Gleichzeitig ist das Ergebnis, also das, was am Ende des Prozesses entstehen soll völlig unklar. Im Gegenteil: gibt es bereits erste Vorstellungen und schnelle Ideen, werden diese bewusst zur Seite gestellt, denn, so drückt es etwa der Maler Gerhard Richter aus, »ich möchte ja gern etwas Interessanteres erhalten als das, was ich mir ausdenken kann.« (Elger/Obrist 2008: 262) Der Künstler befreit sich also von Normen und Zielvorstellungen und begibt sich unbefangen in den Prozess, beginnt sich spielerisch mit ihrem Gegenüber, dem Material, dem Stück o.ä. auseinanderzusetzen, es zu untersuchen, Dinge auszuprobieren, zu experimentieren, das Material und seine Möglichkeiten neugierig kennenzulernen. Die Antwort auf die Offenheit der Situation ist also nicht rationale Planung, sondern Handeln. Und zwar Handeln in enger Verbindung mit Wahrnehmung. Immer wieder nimmt er wahr, was das Ergebnis seines absichtslosen Spiels ist, was ihm aus der Sache, aus dem Material, der sozialen Situation an Neuem, Unerwarteten entgegen kommt. Der Prozess hat so kein bestimmtes Ziel, entsteht aus sich selbst heraus. Es tauchen immer wieder neue Möglichkeiten auf, die neue Fragen aufwerfen und Hinweise auf weitere Handlungen enthalten. Der Künstler setzt Impulse, greift aber auch diejenigen auf, die ihm aus dem Material entgegen kommen, tritt im Wechsel von Wahrnehmung und Handlung in eine Art Dialog mit dem Material. Dabei nimmt er nicht nur objektbezogene Antworten wahr, sondern ist auch sensibilisiert für subjektivierende Aspekte wie Emotionen, Stimmungen, Ausdruck und Atmosphäre (vgl. Böhme 2001), also das »Spürbare«, das sich einer eindeutigen Messung und Bestimmung entzieht, aber dennoch da ist. Irgendwann in diesem Prozess, so berichten Künstler, tritt ihnen etwas aus dem Material entgegen, tauchen neue Ideen auf, zeigt sich etwas an der Sache, das sie interessiert und fasziniert, das neu und überraschend ist und das es lohnt aktiv aufzugreifen. Allerdings lässt sich dieses Ereignis nicht bewusst hervorrufen, sondern es kommt – oder auch nicht. Vielfach berichten Künstler daher auch von Krisen im künstlerischen Prozess, davon, dass ihnen plötzlich die Ausgangsidee aus den Fingern gleitet, sie sich irgendwo und vor allem ziemlich im Wald wiederfinden, sie nicht weiterkommen, alles bisher Entwickelte belanglos, langweilig und unkreativ erscheint. Selbstzweifel, Wut und Hoffnungslosigkeit sind Begleiter dieser Krise, die allerdings nicht das

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Versagen der künstlerischen Vorgehensweise bedeutet, sondern vielmehr wichtiger Bestandteil derselben ist – was sie jedoch nicht leichter zu ertragen macht. Es gibt auch kein Patentrezept, wie die Krise zu überwinden ist. Künstler berichten allerdings davon, dass es wichtig ist, Geduld zu entwickeln und dennoch am Ball zu bleiben, die Krise zu akzeptieren und dennoch weiterzumachen, weder in Aktionismus zu verfallen, noch einfach aufzugeben – und sich endgültig zu verabschieden von doch noch im Hintergrund liegenden vorgefertigten Vorstellungen. Interessanterweise tritt dann die Lösung, die neue Idee, der neue Ansatz irgendwann und oft aus völlig überraschender Richtung hervor. Sie wird, um ein bekanntes Zitat Pablo Picassos aufzugreifen, gefunden, wenn eine Person aufhört, gezielt nach ihr zu suchen. Diese neue Idee kann der Künstler aktiv aufgreifen. Das Spiel ist vorbei, und Kunst wird nun wirklich zur Arbeit, zum gezielten Nachgehen, zum Verdichten, zum Herausarbeiten dessen, was sich da zeigen will. Entscheidungen, orientiert an der Idee, verkleinern den Möglichkeitenraum. Was bisher fraglich war, scheint plötzlich evident. Die Künstler berichten davon, dass sich Offenheit aus sich selbst heraus schließt Der künstlerische Handlungstyp, das zeigt das Geschilderte, bezieht sich also im Kern darauf, Neues zu finden, nicht unbedingt zu erfinden. Er stellt einen aktiven, handelnden Dialog mit dem Gegenüber, dem Material, der Fragestellung, der sozialen Situation oder dem Gedanken dar, einen offenen und einzigartigen Prozess, der zu einem genuinen, originalen – und so nicht reproduzierbaren – Ergebnis führt. Aber eben – und das macht ihn für die Frage nach dem Umgang mit Ungewissheit und Offenheit nicht nur in der Dienstleistungsarbeit so interessant – zu einem Ergebnis, und das jenseits rationaler Planung und Umsetzung. Künstlerisches Handeln bedeutet, trotz mangelnder Planbarkeit und Kontrollierbarkeit des Prozesses, unter den Bedingungen von Ungewissheit und Unsicherheit handlungsfähig zu bleiben und zu einem stimmigen und tragbaren Ergebnis zu kommen.

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D IENSTLEISTUNG –

EINE

K UNST

Es ist klar, dass Kunst zu schaffen und Dienstleistungen zu erbringen sehr unterschiedliche Tätigkeiten sind, die einem unterschiedlichen Zweck dienen. Erstere hat den Ausdruck der Künstlerin oder des

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Künstlers zum Ziel, letztere die Erfüllung eines Bedürfnisses oder Wunsches von Kundinnen oder Kunden. Und viele Kundinnen und Kunden dürften eher irritiert reagieren, wenn sie den Eindruck gewinnen, Teil einer Performance oder eines Kunstwerkes zu sein. Wenn wir Dienstleistungsarbeit und künstlerisches Schaffen zueinander in Beziehung setzen, geht es also weniger um das »Was« der Tätigkeit, sondern vielmehr um das »Wie«, also um eine bestimmte Art und Weise, wie man auf den Kunden ein- und mit ihm und seinem Anliegen umgeht. Die entscheidende »andere« Qualität liegt dabei in der Prozessund Beziehungsqualität, die durch eine bestimmte Haltung, Vorgehensweise und »handwerklich-technische« Umsetzung des Dienstleisters möglich wird und die wir, in Anlehnung an das beschriebene Modell des künstlerischen Handelns, »Dienstleistung als Kunst« nennen wollen. Bei diesem Ansatz handelt es sich um eine radikal individualisierende Vorgehensweise, die sich auf einen offenen Prozess mit dem Kunden einlässt, um dadurch eine genau für diesen Kunden passende Lösung zu finden. Welche Merkmale zeichnen Dienstleisterinnen und Dienstleister aus, die diesen Ansatz verfolgen und die wir im Folgenden »Dienstleistungskünstler6« nennen wollen? Grundlage ist die souveräne Beherrschung der eigenen Fachlichkeit. So wie ein Profi-Musiker sein Instrument beherrschen muss, um damit virtuos umzugehen, muss auch der »Dienstleistungskünstler« über das in seinem Bereich geforderte Fachwissen und die zur Leistungserbringung notwendigen fachlichen Kompetenzen verfügen. Gleichzeitig bedarf es Rahmenbedingungen, die ihm einen Handlungsund Interpretationsspielraum eröffnen. Dies ist zum einen umso mehr der Fall, je mehr die eingangs beschriebenen Charakteristika von Dienstleistungsarbeit – Ergebnisoffenheit, aktiver Beitrag des Kunden, offen prozesshafte Leistungserbringung – gegeben sind, je mehr also die Arbeit einen »Dienstleistungscharakter« aufweist. Zum anderen müssen die die Situation rahmenden Organisationsstrukturen und -kulturen den Handelnden die Freiräume lassen, die sie für eine individuelle Bearbeitung des Anliegens des Kunden brauchen. Und nicht zuletzt

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Vgl. dazu auch Munz/Hartmann/Wagner 2011. Wiederum benutzen wir hier für eine bessere Lesbarkeit im Weiteren nur die männliche Form.

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braucht es einen Kunden, der bereit ist, sich auf den offenen Prozess einzulassen. 3.1 Die Haltung der »Dienstleistungskünstlerin« In erster Linie zeichnet sich ein »Dienstleistungskünstler« zunächst durch eine sehr spezifische Haltung aus: Die Offenheit und Unbestimmtheit der Dienstleistungssituation birgt für ihn keine Bedrohung, sondern vor allem einen Möglichkeitsraum. Er betrachtet jede Dienstleistungssituation als eine Innovationssituation, in der der Prozess nicht einfach geplant und umgesetzt, sondern (spontan) gestaltet und situativ entwickelt werden muss. Er bejaht Offenheit, sucht sie und stellt sie u.U. bewusst her, versucht also vorschnelle Entscheidungen zu vermeiden. Vor allem begegnet er jeder Dienstleistungssituation unbefangen, d.h. wahrnehmungs- und erfahrungsoffen und lässt sich nicht von Vorerfahrungen dominieren. Auch gegenüber dem Kunden nimmt der »Dienstleistungskünstler« eine spezifische Haltung ein: Er lässt sich von der Überzeugung leiten, dass der Gestaltungsprozess der Dienstleistung nur gemeinsam mit dem Kunden gelingen kann, dieser also gleichberechtigter Dialogpartner, Experte in eigener Sache ist. Um sich gemeinsam auf einen offenen Entwicklungsprozess einlassen zu können, müssen sich also Dienstleister und Kunde »auf gleicher Augenhöhe« begegnen und es muss gewährleistet sein, dass beide ihren Beitrag zum Gelingen des Dienstleistungsprozesses beitragen können. Für den »Dienstleistungskünstler« bedeutet letzteres, dass er es auch als seine Aufgabe versteht, den Kunden in die Lage zu versetzen, seinen Beitrag auch leisten zu können. Im Zentrum der Dienstleistung steht denn auch das Kundenanliegen. Statt gleich Lösungen vorzuschlagen und so dem eventuellen Drängen des Kunden auf schnelle Problemlösung nachzugeben, kommt es für den »Dienstleistungskünstler« darauf an, das Kundenanliegen optimal zu klären und sich in besonderem Maße dem Verstehen desselben zu widmen. Grundlage dafür ist die leitende Überzeugung, dass sich Lösungsansätze im Zuge guter Problembearbeitung zeigen, sie also nicht »erfunden«, sondern »gefunden« werden müssen und deshalb der gemeinsame Klärungsprozess nicht der Dienstleistungserbringung vorgelagert, sondern integraler Bestandteil derselben ist und entsprechenden Raum braucht. Denn oftmals ist das geäußerte Kun-

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denanliegen nur der Ausgangspunkt für die gemeinsame Erforschung des dahinter liegenden eigentlichen Kundenanliegens7. Gleichzeitig ist der Dienstleistungskünstler auch nicht einfach nur »Diener« eines wie auch immer gearteten »Kunden-Königs«. Auch wenn die Anliegen des Kunden im Zentrum stehen, bringt der Dienstleister seine eigenen Werte, Motive und Qualitätsansprüche in das Dienstleistungsverhältnis mit ein – denn nur so kann er authentisch handeln. Es geht also immer auch um die Frage, aus welchem Interesse, welchen Motiven und Werthaltungen heraus ein Dienstleister auf das Kundenanliegen wie reagiert und wo die Grenze ist, an der er beginnen würde, gegen seine eigenen Grundüberzeugungen zu handeln. Treten Interessenkonflikte zwischen Kundenanliegen und Werthaltung oder Qualitätsanspruch des Dienstleisters auf, ist es die Aufgabe des Dienstleisters, diese transparent zu machen und gemeinsam mit dem Kunden nach Auswegen zu suchen. Dabei gilt: genauso wenig wie der »Dienstleistungskünstler« den Kunden manipulieren darf, muss er sich dessen Wünschen einfach nur beugen, vielmehr darf er sich ihnen auch, wenn nötig, verweigern. Schließlich – und auch dies ist die Grundlage für die bereits genannten Haltungsmerkmale – geben »Dienstleistungskünstler« der langfristigen Kundenbindung Vorrang vor kurzfristigen ökonomischen Interessen. Dienstleistungserbringung muss auch für den Dienstleister selbst wirtschaftlich sein und in der Tat ist der hier beschriebene Ansatz mit deutlich mehr Aufwand verbunden, als dies zweifelsohne bei standardisierten Vorgehensweisen der Fall ist. Allerdings kann sich dieser Aufwand langfristig lohnen, und zwar immer dann, wenn die langfristige Kundenbindung im Vordergrund steht, also eine tragfähige Beziehung zum Kunden in dem Vertrauen aufgebaut werden soll, dass dieser die besondere Qualität der Leistungserbringung zum Anlass nimmt, auch in Zukunft sein Anliegen in die Hände dieses Dienstleisters zu geben.

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Was nicht heißt, dass der Dienstleister besser weiß, was der Kunde will, sondern dass es seine Aufgabe ist, mit dem Kunden gemeinsam herauszuarbeiten, worum es bei seinem Anliegen im Kern geht. Geht es ihm darum ein Auto zu kaufen? Oder darum mobil zu sein?

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3.2 Die Vorgehensweise des »Dienstleistungskünstlers« Dienstleistung als Kunst zu verstehen, bedeutet also in erster Linie eine spezifische Haltung gegenüber dem Kunden, seinem Anliegen und dem Dienstleistungsprozess einzunehmen. Darüber hinaus lassen sich aus dieser Haltung und aus dem Ansatz des künstlerischen Handelns auch Hinweise bezüglich der Gestaltung des Dienstleistungsprozesses, also der Vorgehensweise des »Dienstleistungskünstlers« gewinnen. Diese seien hier nur kurz skizziert: »Dienstleistungskünstler« • sichern die Bereitschaft und Fähigkeit ihrer Kunden zur gleichbe-



• • • • • •

rechtigten Mitwirkung im Dienstleistungsprozess und stellen diese ggf. durch »Professionalisierung« der Kunden her, achten auf den »Gesamt-Ausdruck« ihrer Kunden, d.h. sie nehmen mehr als nur deren verbale Botschaften wahr, sie vollziehen spürend mit, was sich bei den Kunden zeigt, halten den gemeinsamen Entwicklungsprozess in Bewegung, sie sind Experten der Prozess- und Beziehungsgestaltung, sind »Atmosphärengestalter« und sorgen für ein partnerschaftliches, vertrauensschaffendes Klima, vermeiden vorschnelle Schlussfolgerungen und Lösungsangebote und halten den Prozess so lange wie nötig offen, setzen Impulse und nehmen die Reaktion ihrer Kunden darauf genau wahr, greifen geistesgegenwärtig Impulse auf, die sich im Prozess zeigen, lassen »Krisen« im Prozess zu und befragen diese auf ihren produktiven Beitrag.

Was Dienstleister von Künstlern lernen können, ist eine professionelle Art und Weise mit der, dem Dienstleistungsprozess immanenten, Offenheit und den daraus resultierenden Ungewissheiten und Ambivalenzen aktiv umzugehen und dadurch zu innovativen und dem Kundenanliegen angemessenen Lösungen zu kommen. Um professionelles Handeln in der Dienstleistungsarbeit zu fördern, bedarf es einer Professionalisierungsstrategie, die die Kompetenz der Dienstleister fördert, situativ, wahrnehmungsgeleitet, kooperativ und ergebnisoffen – mit an-

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deren Worten künstlerisch – zu handeln. Diese Kompetenz – auch das zeigt das KunDien-Projekt – kann zwar nur schwer gelehrt, aber auf jeden Fall gelernt werden. Dies bedarf Lernkonzepte, die Kunst nicht nur als Metapher verstehen, sondern reale Lernsituationen schaffen, in denen künstlerische Haltung und Vorgehensweise direkt erlebt, reflektiert und auf den eigenen Handlungsraum übertragen werden können. Letzteres fällt Dienstleistern, die schon länger im Geschäft sind und die über die entsprechenden Verantwortungsräume verfügen, dann überraschend leicht: Erkennen sie doch im künstlerischen Handeln vieles wieder, was sie in ihrer alltäglichen Arbeit erleben, was aber bisher als unprofessionell, subjektiv oder nicht rational galt und daher eher überspielt oder wegdefiniert – mit den Worten des Soziologen Bruno Latours: »gereinigt« (vgl. Latour 2009) werden musste. Diesem subjektiven, improvisierten und situativen Anteil der Dienstleistungsarbeit endlich zu seinem professionellen Recht zu verhelfen, auch das können Dienstleisterinnen und Dienstleister von Künstlern lernen.

L ITERATUR Bauer, Frank (2005): »Tätigkeitsmerkmale, Arbeitszeitformen und Belastungsszenarien bei abhängig Beschäftigten mit Kundenkontakt«, in: Heike Jacobsen/Stephan Voswinkel (Hg.): Der Kunde in der Dienstleistungsbeziehung. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 240–265. Böhme, Gernot (2001: Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink. Brater, Michael/Freygarten, Sandra/Rahmann, Elke/Rainer, Marlies (2011): Kunst als Handeln – Handeln als Kunst. Künstlerisch Handeln in der modernen Arbeitswelt, Bielefeld: Bertelsmann. Elger, Dietmar/Obrist, Hans Ulrich (Hg.) (2008): Gerhard Richter Text 1961 bis 2007, Schriften, Interviews, Briefe, Köln: Verlag der Buchhandlung König. Holtgreve, Ursula (2004): Dienstleistungsarbeit und Dienstleistungsgesellschaften: Arbeitshandeln, Organisationen, Institutionen. Antrittsvorlesung an der Universität Duisburg-Essen, http://soziologie.uniduisburg.de/personen/holtgrewe/uh-antrittsvl.pdf Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Munz, Claudia/Hartmann, Elisa/Wagner, Jost (2011): »Dienstleistung – die Kunst Kunden zu verstehen«, in: Praeview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention 01/2011: 16f. Pongratz, Hans (2009): Theorie der Dienstleistungsarbeit. München: Arbeitspapier. Schütze, Fritz (1996): »Organisationszwänge und hoheitsstaatliche Rahmenbedingungen im Sozialwesen: Ihre Auswirkungen auf die Paradoxien professionellen Handelns«, in: Arno Combe/Werner Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Voß, G. Günter/Rieder, Kerstin (2005): Der arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden, Frankfurt/New York: Campus. Voswinkel, Stephan (2005): Welche Kundenorientierung? Anerkennung in der Dienstleistungsarbeit, Berlin: edition sigma. Weihrich, Margit/Dunkel, Wolfgang (2003): »Abstimmungsprobleme in Dienstleistungsbeziehungen. Ein handlungstheoretischer Zugang«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 55 (4): 758–781.

Das Heldenprinzip Archetypisches Szenario für Wachstum und Wandel1 N INA T ROBISCH /K ARIN D ENISOW

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W IR M ENSCHEN

IN DER HEUTIGEN

W ELT

Wirtschaften heute – das heißt: Stürmisch. Aufgewirbelt. Unberechenbar. Risikoreich. Ungewiss. Wahrlich, es ist kein friedlich fließendes Gewässer, auf dem heute wirtschaftliche Erfolge erzielt werden. Die Unternehmensschiffe sind ständigen Turbulenzen ausgesetzt. Bleiben die Winde rau, werden sie stärker, lassen sie nach. Mehr und mehr spüren und erleben wir es: Die Welt, in der wir leben, arbeiten und wirtschaften, wird immer ungewisser. Zugleich wachsen Freiheit und Freiraum – grenzenlos? Wenn dem so ist, bleibt uns eine Gewissheit für die Zukunft: Wir müssen lernen mit der Ungewissheit umzugehen. In der trostlosen Fülle des Nichtwissens bleibt uns ein Trost: Wir können lernen mit der Ungewissheit umzugehen und es wird uns sogar bereichern. Wie wird heute meist darauf reagiert? Mit multimedialer Empfänglichkeit, Schnelligkeit, mehr Controlling und noch mehr präziser Planung oder auch mit Hilfe von professionellem Coaching. Mehr desselben, das sind übliche Antworten auf das Handeln im Ungewissen. Es

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Der Beitrag beruht auf Arbeiten im Rahmen des vom BMBF und ESF geförderten Verbundprojekts »Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip«.

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sind solche wie die grauen Männer aus Momo (vgl. Ende 2005) mit den dunklen Hüten, den tickenden Uhren und den großen Aktentaschen, die diese Reaktionen favorisieren. In der durchgetakteten Welt verunsichert die zunehmende Unplanbarkeit, die Flüchtigkeit der Ereignisse. ›Gewissheit heißt Klarheit, Überblick, Zielstrebigkeit? Ungewissheit heißt Unschärfe, Ungenügen, Chaos? Ist dann das Planen gut und die Unbestimmtheit schlecht?‹

Wir wollen uns hier nicht mit den Ängsten von Rationalisten beschäftigen, sondern uns zunächst der schönen Geschichte von den zwei Eseln zuwenden, die wir an ein Untersuchungsergebnis des Neurobiologen Gerald Hüther anlehnen. Die Geschichte von den zwei Eseln Es war einmal ein Esel, der wohnte bei einem Bauern. Dort hatte er es gut, jeden Tag war für sein Fressen gesorgt, er wusste, wo er nach getaner Arbeit sein müdes Haupt betten sollte und sein Tagesrhythmus war einen um den anderen Tag berechenbar gleich. Er gehörte zum Hof und war eben ein richtiger Hausesel. Nicht weit weg vom Gehöft des Bauern lebte ein Esel, der kannte keinen Stall, keine Futterstelle, kein Schlafstroh. Seine Arbeit bestand darin, sich jeden Tag aufs Neue auf seine momentane Situation einzustellen und daraus für sein Leben zu sorgen. Da kam eines Tages Herr Professor Hüther vorbei und hatte die sonderbare Idee, die Gehirne der beiden Esel zu untersuchen. Und siehe da, der Esel, der mit niemandem tauschen wollte, weil alles so schön geordnet war, hatte ein verkümmertes Gehirn. Der andere Esel, der einem fast leidtat, da er täglich neue Herausforderungen bewältigen musste – wenn man es denn bei einem Esel so formulieren darf –, der hatte ein Gehirn mit großer Ausdehnung und vielen Verschaltungen. Das Gehirn des Hausesels in seiner Komfortzone verlor immer mehr Reaktionspotenzial, das des Wildesels rüstete sich immer besser aus, auch zukünftig mit Widrigkeiten und Überraschungen umgehen zu können. Das erstaunte und erfreute den Professor sehr. Es bestätigte seine These, dass auch das menschliche Gehirn sich nicht durch bequemliche Gewohnheit, sondern durch Anstrengung und Überraschung entwickelt. Fröhlich malte er ein Bild davon [...] (vgl. Hüther 2008).

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Hier verlassen wir vorerst die Geschichte und halten den Status quo der beiden Gehirne fest. Was heißt das nun für das menschliche Leben und speziell die Arbeitswelt? Um den dynamischen, globalen Strudeln gewachsen zu sein, braucht es in den Unternehmen, bei deren Mitarbeitern und Führungskräften Gehirne, die flexibel auf neue Situationen reagieren und in ihnen agieren. Nicht das Bannen und Vermeiden der Ungewissheit, sondern das Bewältigen von Unwägbarkeit, Nichtwissen und Ambivalenz ist die Lernaufgabe. Schöpferische und handlungsmächtige Beschäftigte sind jene, die sich auch der »Wildnis« aussetzen, dem Spiel der Kräfte von Wandel, Ungewissheit und Entwicklung, und darin neue Lösungen finden. (Wildnis meint hier nun eigenverantwortliches, situativ-kreatives Denken und Handeln.) Es geht darum, den Stürmen zu trotzen und das Firmenschiff sicher zwischen Scylla und Charybdis hindurchzuleiten. Und: ebenfalls geht es darum, die Kraft und Dynamik, die diesen Prozessen innewohnen, für Unternehmenserfolg und Innovation zu nutzen. Wie aber soll das funktionieren? Wie machen wir aus Hauseseln Wildesel, zumindest was ihr Gehirn betrifft?

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D IE S UCHE

NACH

K ONZEPTEN

Es ist eine prominente Weisheit: Innovationen brauchen Mut und Kreativität, Altes abzulegen und Neues anzufassen. Findet sich in den Strudeln des Unbekannten ein Muster, welches Organisationen, Unternehmen, Projekte und die Menschen, die in ihnen arbeiten, unterstützen kann? Gibt es einen roten Faden für das herausfordernde Ungewisse, der das Paradoxon löst, Ungewissheit gekonnt zu meistern? Auf der Spur nach Lösungen für die Zukunft stöbern wir in der Vergangenheit. Wir suchen nach Ressourcen, aus denen das Management des Ungewissen schöpfen kann. Fündig werden wir nicht in Wissenschaft oder Technologie, sondern in einer ganz nahe liegenden und doch für das Management so fernen Quelle – in den kulturellen Schätzen der Menschheit. Gedanklich bleiben wir beim Management des Ungewissen. Allerdings nehmen wir nun einen kleinen Umweg über die Menschheitsgeschichte.

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2.1 Riten: Tradierte Formgebung für Übergänge So alt wie die Menschheit ist das Prinzip der Entwicklung: das Prinzip des allmählichen Wachstums und der plötzlichen Sprünge – der Sprung vom Kind zum jungen Mann/zur jungen Frau, der Weg vom sorglosen zum verantwortungsvollen Menschen, der Schritt vom Leben zum Tod. Um diesen Übergängen Form und Bedeutung zu verleihen, wurden in den alten Kulturen Rituale des Übergangs zelebriert, nach Arnold van Gennep die Rites de Passage (Übergangsriten). Diese Riten, die Menschen in den Übergängen von einem alten in einen neuen Zustand begleiten, sollen im fragilen Zwischenzustand zwischen Altem und Neuem Stabilisierung schaffen. Es werden Anfangs- und Endpunkte der Veränderung gesetzt. Der Veränderung wird eine zeitliche, räumliche und soziale Struktur gegeben und es erfolgt eine dramatische Überhöhung mit tiefem, sinnlichem Erleben. Der Prozess selbst stabilisiert den Menschen durch seine wiederkehrende Struktur und Form. Gleichwohl erfahren die einzelnen Menschen immer wieder neu die Ängste, Gefahren und Risiken, die mit diesem Übergang verbunden sind. Arnold van Gennep hat als Ethnologe diese Riten in nicht-industrialisierten, indigenen Gesellschaften untersucht. Sie sind uralte Traditionen und entstammen der Erfahrung, wie Wachstum und Wandel gestaltet werden müssen. Es kristallisierten sich drei Phasen der Übergänge heraus: die Phase der Ablösung (Separation), die Phase der Schwelle (Liminalität nach Turner), in der der ungewisse, undefinierte, immer wieder neue Weg zwischen dem alten und dem neuen Zustand stattfindet, sowie die Phase der Integration (Aggregation). Für jede dieser Phasen identifizierte van Gennep spezielle Riten: Trennungsriten (rites de separation), Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (rites de marges) sowie Angliederungsriten (rites d’aggregation) (vgl. van Gennep 1999; Turner 2009). Die Übergangsriten sind, wie die meisten Rituale, stark geprägt durch motorisch-sinnesphysiologische Manifestationen und Affekte des Körpers (Barck u.a. 2010: 334). Sie ermöglichen so dem Menschen ein ganzheitliches Erleben und Annehmen schwieriger Veränderungs- und Wandlungsprozesse mit Phasen tiefer Unsicherheit, heißen Gefühlswallungen und verstörender Ungewissheit (Liminalität). Die Riten zeigen auf, dass genau diese Phasen und diese körperlich-emo-

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tionale Aktivität notwendig sind, um Veränderung und Transformation zu bewältigen. Sie führen uns zu der nächsten Quelle, den Mythen. 2.2 Mythen: Kollektives Gedächtnis der Menschheit Es war einmal eine Zeit, in der es nichts gab, was heute selbstverständlich ist. Fangen wir harmlos an: Es gab kein Buch, keinen Fernseher, kein Telefon, erst recht keine Computer und kein Handy und schon gar kein Google, keine Wikipedia, kein Web 2.0. Doch hatten die Menschen seit jeher das Bedürfnis, Informationen zu teilen, Wissen weiterzugeben, Einsichten festzuhalten. Was taten sie also? Sie erzählten sich Geschichten, Geschichten über das, was ihnen widerfuhr, was wichtig, schmerzlich, glückhaft war. Seit Jahrtausenden sammelten Menschen so Erkenntnisse und Erfahrungen zu den sie bewegenden Fragen ihrer Existenz und es war ihnen in den mythischen Erzählungen gleich, ob es verbürgt war oder nicht (Müller 2010: 311). Sie konnten damit soziale und natürliche Erscheinungen erklären, d.h. auch Gewissheiten für ungewisse Situationen entwickeln. Damals erzählten sie vielleicht noch mangels anderer Mittel und Möglichkeiten. Doch wie wir bis heute alle schon am eigenen Leibe gespürt haben, erinnern Menschen spannende Geschichten um einiges besser als bloße Zahlen, Daten, Fakten. Eingefangen im magischen Bann der Erzählung sichern sie den Zuschauern und Zuhörern eindrückliche Erfahrungen. Dafür müssen Bilder ausgemalt, Details ausgeschmückt und ein Spannungsbogen aufgebaut werden. So formten sich die Mythen als poetische Symbol- und Metaphernbildungen (vgl. Blumenberg 1971); »Bilder, die sich nicht auf Logisches reduzieren lassen und das Ganze der Realität aufschließen« (Müller 2010: 341). Mit den Mythen schuf sich der Mensch ein Mittel, der rauen Wirklichkeit begegnen zu können. Das funktioniert auch im multimedialen Zeitalter. Nicht zuletzt lebt der Film seit Beginn seiner Existenz von diesem Prinzip. Die Menschen bündelten also ihre Einsichten und gaben sie als Narrationen von Generation zu Generation weiter – in Mythen, Märchen, Geschichten, Fabeln und Dramen. Das sind die Lessons Learned aus den Projekten des Lebens, wie sie in den Metaphern der rote Faden der Ariadne, die Suche nach dem heiligen Gral, die Büchse der Pandora, ein trojanisches Pferd noch heute auf der Zunge liegen,

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wenn es um die Beschreibung typischer Situation der Jetztzeit geht. Allesamt entstammen sie dem Kulturschatz der Mythologie. Geflügelte Worte, deren Sinn und Grundgefühl dem Benutzer eigen sind, auch wenn nicht mehr jede Person ihren Ursprung kennt. Wenn wir von kollektiver Weisheit und Intelligenz sprechen, liegt ein Großteil davon in dieser Truhe. Denn als Grundform kollektiver Wirklichkeitsdeutung sammeln die Mythen und Märchen die Essenz der Erfahrung in Metaphern. In diesem Archiv der Menschheit sind universelle Einsichten zusammengetragen, deren Sinnbilder seit Jahrtausenden von Generation zu Generation weiter gereicht werden; zuerst mündlich, dann gedruckt. Gleichzeitig erleben wir im Zeitalter technikaffiner Kulturentwicklung neue Formen von kollektiver Mythenbildung – sei es durch Filme oder im Internet. So entstehen Filme, die berühren, weil sie tief liegende schöpferische Zentren der Menschen berühren, unter die Haut gehen. Ein Großteil von ihnen dockt an der Stelle an, die wir in der nächsten Quelle finden. 2.3 Monomythos: Muster für Veränderung In 1000 Nächten werden 1000 Geschichten erzählt und die Helden zeigen darin immer wieder andere ihrer 1000 Gestalten. Eines der wichtigsten Themen, womit sich die Menschen seit jeher befassen, sind die Prozesse um Reifung, Wandlung und Veränderung. Da dies ein so gravierendes und jeden betreffendes Thema ist, gibt es Geschichten in Hülle und Fülle, ja sogar spezielle Mythen dafür: die Heldenmythen. Die Erlebnisberichte von Helden sind keine Erfolgsstorys per se, sondern dramatische Darstellungen davon, wie eine Person aufbricht und sich in unbekannte Gefilde wagt, ohne zu wissen, was sie erwartet. Es ist eine Reise ins Risiko und ein bewusster Gang in diesen Zustand. Diese Erkenntnisse legt der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell (1904–1987) in seinem Werk Der Held mit den tausend Gesichtern nieder (Campbell 1999). Zu Rate zieht er Mythen und Märchen einmal rund um den Erdball und quer durch die Zeiten.  Das Ergebnis heißt Monomythos, denn egal aus welcher Epoche oder welchem Kulturkreis der Mythos stammt, der Weg, der in einem Heldenmythos beschrieben wird, läuft stets nach einer charakteristischen Schrittfolge ab. Zwar kennt diese archetypische Struktur farbigste Ausschmückungen, jedoch trägt sie ein universales Muster in sich. Ihre immer gleiche, selbstähnliche Struktur kann helfen, in den ver-

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schiedensten unwägbaren Situationen aktiv und handlungsmächtig zu bleiben, ausgestattet mit der einen Gewissheit, dass Entwicklung auf eine bestimmte Art und Weise funktioniert: »Es ist der Gesamtsinn des allgegenwärtigen Mythos von der Heldenfahrt, dass er als allgemeiner Leitfaden für alle Menschen, auf welcher Stufe sie immer sich befinden mögen, dienen soll. Darum ist er in den umfassendsten Begriffen ausgedrückt. Das Individuum hat nur seinen eigenen Standpunkt in Bezug auf diese allmenschliche Formel zu bestimmen und sich von ihr über seine Schranken hinweghelfen zu lassen.« (Campbell 1999: 119)

Der Monomythos des Helden verläuft ebenso wie die Übergangsrituale in drei Phasen ab: Aufbruch – Initiation – Rückkehr. Campbell benutzt für die Beschreibung des Monomythos farbige, phantastische und spirituelle, zum Teil auch mystische Bilder. »Der Mythenheld, der sich von der Hütte oder dem Schloss seines Alltags aufmacht, wird zur Schwelle der Abenteuerfahrt gelockt oder getragen, oder er begibt sich freiwillig dorthin. Dort trifft er auf ein Schattenwesen, das den Übergang bewacht. Der Held kann diese Macht besiegen oder beschwichtigen und lebendig ins Königreich der Finsternis eingehen (Bruderkampf, Kampf mit dem Drachen, Opfer, Zauber) oder vom Gegner erschlagen werden und als Toter hinabsteigen (Zerstückelung, Kreuzigung). Dann, jenseits der Schwelle, durchmisst der Held eine Welt fremdartiger und doch seltsam vertrauter Kräfte, von denen einige ihn gefährlich bedrohen (Prüfungen), andere ihm magische Hilfe leisten. Wenn er am Nadir des mythischen Zirkels angekommen ist, hat er ein höchstes Gottesgericht zu bestehen und erhält seine Belohnung. Der Triumph kann sich darstellen als sexuelle Vereinigung mit der göttlichen Weltmutter (heilige Hochzeit), seine Anerkennung durch den Schöpfervater, Versöhnung mit dem Vater, Vergötterung des Helden selbst (Apotheose) oder aber, wenn die Mächte ihm feindlich geblieben sind, der Raub des Segens, den zu holen er gekommen war (Brautraub, Feuerraub); seinem Wesen nach ist er die Ausweitung des Bewusstseins und damit des Seins (der Erleuchtung, Verwandlung, Freiheit). Die Schlussarbeit ist die Rückkehr. Wenn die Mächte den Helden gesegnet haben, macht er sich nun unter ihrem Schutz auf (Sendung); wenn nicht, flieht er und wird verfolgt (Flucht in Wandlungen, Flucht mit Hindernissen). An der Schwelle der Rückkehr müssen die transzendenten Kräfte zurückbleiben; der Held steigt aus dem Reich des Schreckens wieder empor

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(Rückkehr, Auferstehung). Den Segen, den er bringt, wird der Welt zum Heil (Elixier).« (Campbell 1999: 238)

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D AS F INDEN

VON

R ESSOURCEN

3.1 Der Monomythos kompakt In seiner allegorischen Bedeutung lässt sich der Monomythos auf heutige Entwicklungsprozesse übertragen und das klingt dann so: Heldenmythen erzählen von Protagonisten, die wohl oder übel, aus einem inneren Bedürfnis heraus oder auf äußeren Druck hin, bereit sind, mit ganzer Kraft ihrem Ruf zu folgen und mit allen Sinnen für die Erfüllung ihres Anliegens einzustehen. Der Pfad des Helden ist getrennt in zwei grundsätzlich verschiedene Wegstrecken; zum einen ist da die bekannte Welt, in welcher der Held lebt, dessen Muster und Strukturen ihm geläufig sind, in denen es sich leicht, weil vertraut, agieren lässt. Zum anderen ist da die unüberschaubare fremde Welt; von ihr ist zunächst nichts oder nur sehr wenig bekannt. Zwei Welten werden getrennt durch eine Schwelle. Die Schwelle trennt die gewohnte, bekannte Zone von der ungewohnten, unbehaglichen, welche sich als eine Landschaft der Prüfungen zeigt. Der Held muss Gewohntes und Vertrautes zurück- und Muster loslassen, denn die nützen ihm in der Anderswelt nichts. Dort ist kaum etwas so, wie er es kennt. Das alte Denken, Fühlen und Handeln hilft ihm hier nicht weiter. Dort, umgeben von Engen und Zwängen, von freundlichen und feindlichen Gestalten löst er seine Aufgaben und erringt ein Elixier. Das Elixier ist das Neue, für das es sich gelohnt hat, aufzubrechen: ein neuer Horizont, ein geistig-emotionaler Schatz, eine neue Qualität des Lebens und Seins. Zum Schluss muss dieses »lang ersehnte Gut« in der Wirklichkeit gesichert und zur Wirkung gebracht werden. Erst dann ist der Prozess hin zu einer höheren Kompetenz oder auch Seinsstufe abgeschlossen. Die Heldenreise ist beendet. 3.2 Kompetenzen des Helden Setzen wir also voraus, Heldenreisen bergen in sich die Besonderheit, den Weg von der Gewissheit ins Ungewisse und wieder zurück in neue Gewissheit erlebbar werden zu lassen. Heldenreisen kennt jeder aus

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Mythen, aus der Historie, aus Filmen, aus den Lebensberichten der Eltern, dem eigenen Leben; sie sind uns in Fleisch und Blut. Ihr archetypisches Muster wirkt in uns, bewusst und unbewusst, auf kognitiver, körperlicher und emotionaler Ebene. Auf dem universellen Grundmodell basierend, enthalten die mythologischen Heldenfahrten ein großes, kollektiv gespeistes Potenzial an (Vor-)Bildern, Orientierungsmustern und Handlungsanleitungen für das Handeln im Unwägbaren. Wo aber sind die Ressourcen, die es Helden ermöglichen, in der fremden, unbekannten Welt zu bestehen? Die Heldenmythen zeigen uns, dass sie in uns selbst stecken, wenn wir uns trauen, wagen, öffnen. Sie spiegeln, dass wahrer Wandel und Entwicklung ohne liminale Phase, ohne die Bereitschaft für Risiko und Offenheit undenkbar sind. Ihre Bewährungsproben bergen die Chance für den Menschen, zu wachsen. Sie beschreiben, was Menschen brauchen und gleichzeitig entwickeln, um sich im Ungewissen zurechtzufinden und zu neuen Ufern zu gelangen. Fähigkeiten wie Erkunden, Erproben, Kreativität, Fehlertoleranz, Spontaneität, Scheitern, Umdenken sind das Salz in der Suppe der Entwicklung. Spätestens jetzt können wir die Brücke zu der Geschichte mit den Eseln wieder schlagen. Stellen wir uns vor, der Hausesel müsste durch einen unglücklichen Zufall, zum Beispiel eine Feuersbrunst, Hals über Kopf seinen Hof verlassen. Plötzlich steht er verwirrt in der abenteuerlichen Fremde und schaut sich hilflos um. Er muss sein Leben selbst in die Hände, nein Hufe, nehmen. Manchmal würde er verzagen, öfter stolz auf sich sein, ständig hinzulernen. Wie würde es ihm ergehen und welche Risiken und Abenteuer würden ihn herausfordern.

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D AS

HELDENPRINZIP

– L EITFADEN FÜR

HEUTE

Auf diesem Wege nähern wir uns allmählich wieder dem Management des Ungewissen, jedoch von einer anderen Seite: Wie beschrieben, ist im Monomythos der Heldenfahrt ein Grundmuster dafür verdichtet. In seiner universalen Struktur findet sich ein Leitfaden für Veränderungsprozesse, also für gelingende Behauptung im Ungewissen. Für die Autorinnen geht diese Erkenntnis einher mit dem Ruf, nun das implizite Wissen, das den Menschen immanent ist, explizit für heute fruchtbar zu machen. Unser Anliegen ist, der Arbeitswelt kreative Entwicklungsszenarien für Innovations- und Veränderungsprozesse

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zur Verfügung zu stellen. Diesen kreativen Schatz heben wir mit dem Konzept der Veränderungs- und Innovationsdramaturgie Heldenprinzip®. Es basiert auf der Campbell’schen Analyse des Monomythos des Helden und übersetzt dessen entwicklungspsychologische und ästhetische Qualitäten für gegenwärtige Prozesse in Unternehmen, Projekten, Teams und bei Individuen. Mit dem Heldenprinzip werden bewährte, doch in unternehmerischen Kontexten bisher unbekannte Potenziale angezapft. Schauen wir mit dem Blickwinkel der Heldenreise dorthin, zeigen sich die personalen und organisationalen Kompetenzen aus einer ganz neuartigen Perspektive. Denn die außergewöhnliche und kraftvolle Wirkung des Heldenprinzips besteht darin, in herausfordernden Entwicklungsprozessen den Beteiligten immer wieder sowohl Orientierung durch ein stabiles Gerüst als auch Freiraum durch optionale Vielfalt zu geben. Das stabile Gerüst schafft Möglichkeiten der gemeinsamen Kommunikation über und Transparenz für die Prozesse. In den Freiräumen ist die bewusste Übernahme von Verantwortung und Partizipation möglich. Dabei geht es nicht darum, Entwicklungsprozesse einheitlich über einen Kamm zu scheren, sondern mit Hilfe des Grundmusters Heldenprinzip spezifische Lösungen zu generieren. In der Umsetzung entfalten sich die Besonderheiten durch differenziertes konzeptionelles und methodisches Vorgehen. Ähnlich beschreibt Christopher Vogler in seinem Buch »Die Odyssee des Drehbuchschreibers« die Widersprüchlichkeit und Spannbreite in der filmischen Auf- und Ausarbeitung von Drehbüchern (vgl. Vogler 2010). Das dramaturgische Muster der Heldenreise hilft auch dort, den roten Faden für den filmischen Entwicklungsprozess zu finden. Allerdings ist die besondere Ausformung ein facettenreicher, jeweils ganz eigener Ablauf mit immer wieder anderen Orten, neuen Protagonisten und Rollen, verschiedensten Konstellationen und Situationen. In dieser vitalen Fülle bietet auch das Heldenprinzip in der Arbeitswelt eine Grundlage für die Begleitung ganzheitlicher Innovations- und Entwicklungsprozesse. Für die Menschen, die sie zu bewältigen haben, schafft es Handlungsoptionen im Spagat von Widersprüchen: Struktur und Offenheit | Stabilität und Flexibilität | Sachlichkeit und Sinnlichkeit | Klarheit und Assoziation | Emotion und Verstand | Identifikation und Reflexion.

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4.1 Grundstruktur Das Heldenprinzip lässt sich mit drei Strukturmerkmalen beschreiben, welche die mythischen Metaphern auf unterschiedliche Weise aufnehmen (siehe Abbildung 1): Die drei Ebenen Die Ebenen der bekannten und der unbekannten Welt, die durch eine Schwelle voneinander getrennt sind, werden immer durchlaufen. Die drei Akte 1. Akt: Der Aufbruch – hier erhält der Held seinen sinnstiftenden Ruf, sich für seine Vision, seinen Auftrag von der alten Welt zu lösen und sich ins Ungewisse zu wagen. 2. Akt: Im Land der Abenteuer gilt es für den Helden, all die Herausforderungen zu bestehen, von denen er zu Beginn niemals weiß, worin sie bestehen werden. Kernpunkt der Abenteuer ist die Öffnung für eine schonungslose Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Hindernissen. Eine besondere Schwierigkeit ist das Loslassen alter Muster, um Platz für Neues zu schaffen. 3. Akt: Die Rückkehr in die bekannte Welt umfasst gleichzeitig die Schwierigkeit und die Freude, die gewonnenen Schätze (Kompetenzen und Erkenntnisse) zum Einsatz zu bringen. Die Szenenfolge Das dritte Strukturelement ist die Differenzierung in zehn einzelne Stationen. Die Szenen beschreiben den Prozess in seiner atmosphärisch-emotionalen Vielfalt, mit unterschiedlichen Gestalten (Rollen) und Handlungen detailliert und vielschichtig. Im 1. Akt steht Ruf versus Weigerung. Der Held spürt mit einer offenen Wahrnehmung, dass es ihn fortzieht aus dem Vertrauten (Szene 1). Doch der Abschied fällt schwer. Innere und äußere Stimmen halten ihn fest (Szene 2). Ein Mentor unterstützt die Ablösung, gibt zusätzliche Ressourcen (Szene 3). An der ersten Schwelle prüfen Schwellenhüter, ob der Held gut gerüstet ist für den Weg ins Unbekannte (Szene 4). Der Weg der Prüfungen im 2. Akt umreißt die herausfordernden Aufgaben und Barrieren, die der Protagonist bewältigt oder auch noch nicht (Szene 5). Die Anforderung steigt. In der entscheidenden Prü-

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fung wird mit hoher Konzentration und Kraftanstrengung die stärkste Angst besiegt, der größte Kampf gefochten (Szene 6) und der Held erhält das Elixier, für das sich alle Kämpfe gelohnt haben (Szene 7). Die Belohnung gibt die Kraft, die zweite Schwelle zurück in die Normalität zu überwinden (Szene 8). Beim schwierigen Rückweg müssen die erworbenen Fähigkeiten unter Beweis gestellt werden und können sich so festigen. Nochmals werden alle Kräfte mobilisiert (Szene 9). Das Gewonnene und Erworbene wird in den Alltag integriert. Als Meister zweier Welten ist die Person handlungsmächtig, wenn der neue Zustand alltägliche Selbstverständlichkeit ist (Szene 10). Abbildung 1: Das Grundmuster des Heldenprinzips

Quelle: Forschungsprojekt »Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip« Zentralinstitut für Weiterbildung an der Universität der Künste Berlin, 2010, Illustration: Christine Krüger.

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4.2 Anwendungsfelder Überall, wo Neues gewagt werden muss, findet das Heldenprinzip Anwendung. Das narrative Muster Heldenprinzip wird von uns in Entwicklungs-, Veränderungs- und Innovationsprozessen zu unterschiedlichen Zwecken genutzt: • • • • •

als Diagnoseinstrument als Leitfaden für Strukturierung als Formgebung für Ästhetisierung als Interventionsinstrument als Seminar- und Trainingskonzept.

Das Projekt im Heldenprinzip Projekte sind Vorhaben, die sich durch die Einmaligkeit ihrer Bedingungen auszeichnen. Neben Routineprojekten gibt es auch die Projekte, in denen ein ganzes Projektteam Neuland betritt. Eins der prominenten Beispiele ist der Bau des Lötschberg-Basistunnels in der Schweiz, der seit 2007 betrieben wird (Steeger 2011: 3). Das Heldenprinzip unterstützt dabei, sich von den bekannten Mustern des Projektmanagements zu lösen und sich auf viele Unwägbarkeiten vorzubereiten und einzulassen. Die Organisation im Heldenprinzip Organisationen/Unternehmen werden häufig zur Tat gerufen. Unternehmensinterne Probleme, Markteinbrüche, Veränderungen von Regulierungsbedingungen u.ä. sind Anlässe, das Neue zu wagen. Andere Unternehmen werden gerade gegründet und suchen nach einer Orientierung im großen Meer der Möglichkeiten. Das Heldenprinzip unterstützt den Prozess der Identifikation des Rufes ebenso wie die aufmerksame und konzentrierte Arbeit in der Übergangsphase, der Phase der Ungewissheit, in der die Organisation verletzlich und anfällig ist. Sie sichert die Rückführung der Erfahrungen in neue Routineprozesse, so dass das Unternehmen (wieder) auf stabilen Füßen laufen kann – bis die nächste Ungewissheit kommt.

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Das Team im Heldenprinzip Ein Team wird neu gebildet oder erhält eine Aufgabe. Jedoch: haben sich alle Teammitglieder schon von den alten Gewohnheiten, Kontakten und Strukturen gelöst? Gibt es schon die gemeinsame Aufgabe, die innere Motivation, in diesem Team Neues zu wagen? Das Heldenprinzip unterstützt diese Teambildungsprozesse, damit das Team schneller und bewusster zu gemeinsamen Leistungen befähigt wird. Der Einzelne im Heldenprinzip Führungskräfte wollen erfolgreicher und besser führen lernen. Beschäftigte wollen eigene Ziele entwickeln. Einzelne wollen das Repertoire ihrer Handlungsmöglichkeiten erweitern, Unzufriedenheit verringern, den Sinn in der Arbeit finden, sich kreativ in Arbeitsprozesse einbringen. All diese Motive führen zur Arbeit mit dem Heldenprinzip auf individueller Ebene. Das Wahrnehmen eigener Bedürfnisse, das Kennenlernen der Ressourcen im Umgang mit neuen, unbekannten Situationen, kreative Arbeit und Auseinandersetzung mit dem Muster des Heldenprinzips stützen den Weg von Menschen, die ihre Persönlichkeit weiter entwickeln wollen. 4.3 Kurze Polemik: Helden im postheroischen Zeitalter Einige Leserinnen und Leser werden sich verwundert die Augen reiben und fragen, welcher Art von Heldenanbetung wir aufgesessen seien. Waren die Helden nicht die notorischen Alleskönner, die schlachtenschlagenden Dauersieger, die ruhmverwöhnten Idole oder die millionenschweren Stars? Waren das nicht die despotischen Alleingänger, die ihre Pläne durchsetzten, ob gegen das eigene Volk oder andere Völker? Diese Art von sogenannten Heroen sind keine Sinnstifter und reifenden Persönlichkeiten. Dennoch gibt es diese Suche nach Identifikationsfiguren. In Zeiten turbulenten Wandels, der großen Freiheit und breiter Zonen der Ungewissheit verändert sich das Bild des Helden. Heldentum speist sich in heutigen Zeiten aus der Art und Weise des Umgangs mit der Ungewissheit und der Sinnstiftung des Rufes. Ein bedeutender Vertreter des postheroischen Managements, Dirk Baecker, formulierte dies so:

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»Management ist in seinen besten Momenten nichts anderes als die Fähigkeit, Irritationen in Ordnungen und Verfahren umzusetzen, die für weitere Irritationen empfänglich und empfindlich bleiben. Management ist die Fähigkeit, mit Ungewissheit auf eine Art und Weise umzugehen, die diese bearbeitbar macht, ohne das Ergebnis mit Gewissheit zu verwechseln« (Baecker 1994: 9).

Zu dieser Art von (post-)heldenhaftem Management kann das Heldenprinzip wirkungsvoll beitragen. 4.4 Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip »Grau, lieber Freund ist alle Theorie, doch grün des Lebens goldener Baum«, das wusste schon Mephistopheles dem Schüler zu entgegen, der in Anbetung reiner Wissenschaft den Dr. Faust aufsuchte. (Goethe 1985: 66) Gleichwohl gibt es seit Oktober 2009 ein Forschungsprojekt Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip. Das Forschungsteam der Universität der Künste Berlin und der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin widmet sich gemeinsam der Aufgabe, eine Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip für kleine und mittelständische Unternehmen zu verifizieren, um deren Innovationsprozesse wirkungsvoll stärken zu können. Im Ergebnis sollen ein Modell, methodische Konzepte und Weiterbildungsangebote helfen, die Prozesse zu unterstützen. Innovation in Unternehmen aus den schwierigen Situationen der Unschärfe und Ungewissheit zu schöpfen, dafür werden hier Modelle entwickelt. Der Weg des Helden ist eine Projektionsfläche, die für jeden Entwicklungsprozess nutzbar ist. Innovationen gehören dazu. Innovationen sind in unserem Verständnis von Menschen getragene Veränderungsprozesse, die sich im Spannungsfeld von ökonomischen, ökologischen und sozialen Einflüssen entfalten. Innovationen können sich auf Prozesse, Strukturen, Produkte beziehen – aber immer spielen sie sich auch dazwischen ab. Denn die Identität der daran beteiligten Menschen wird immer wieder auf den Prüfstand gestellt: Was ist der Sinn dieser Arbeit? Warum soll und will ich mich in diese neue Unsicherheit begeben? Wer hilft mir dabei? Warum ist das Vorhandene nicht mehr gut genug? Warum soll ich mein Verhalten ändern? Wer bin ich dann? Diese und viele andere Fragen begleiten Menschen meist

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implizit, wenn sie sich in Innovationsprozessen bewegen. Mit dem Heldenprinzip werden diese Fragen explizit berührt. Abbildung 2: Auf der Reise

Quelle: Forschungsprojekt »Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip« Zentralinstitut für Weiterbildung an der Universität der Künste Berlin, 2010, Illustration: Christine Krüger.

Unsere Arbeit mit den Unternehmen zeigt, wie fruchtbar es ist, sich auf die universale Grundstruktur des Heldenmythos für gegenwärtige Transformationsprozesse zu besinnen, sowohl für die Organisation als auch für die Einzelnen. Hier stehen vier förderliche Komponenten im Vordergrund: Der stabile Dreischritt des Entwicklungsbogens Das Muster des Heldenprinzips ist einprägsam und nachvollziehbar, es schafft ein relevantes Maß an Sicherheit in der Unsicherheit. Den Beteiligten des Innovationsprozesses gibt es ein Gerüst für das aktive kreative Handeln und setzt den Rahmen für den damit einhergehenden Erwerb neuer Kompetenzen.

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Die Dramatik des Spannungsbogens Zielplanungen und Meilensteine determinieren wirtschaftliche Prozesse. Obwohl es eine Vielzahl von betriebswirtschaftlichen und sozialen Methoden gibt, Entwicklungsprozesse zu gestalten – da werden Ziele vorgegeben, da werden Problemlösungen moderiert, da wird ChangeManagement kultiviert – fehlt dennoch irgendetwas! Parallel schwingen ganz eigene »Logiken«, eher Atmosphären, im Untergrund. Denn das Auf und Ab eines Innovationsweges ist geprägt von Höhen und Tiefen, Krisen und Erfolgen, die Raum beanspruchen und Beachtung finden müssen. Das Heldenprinzip ignoriert die Spannungsfelder nicht, sondern nimmt sie auf und verschärft sie in ihrer Erlebbarkeit. Damit sensibilisiert es für die allgegenwärtigen Ambivalenzen, Konflikte und Polaritäten und behandelt sie als produktiven Bestandteil. Die Kraft der archetypischen Bilder in ihrer Universalität Die Fährte ist tief im Menschen eingespurt. Die Beteiligten folgen ihr meist unbewusst, durch und mit dem Handeln (performativ). Eine explizite Ansprache dieser Bilder schafft Klarheit und bringt zugleich deren Atmosphäre zum Klingen. Dabei wird das Heldenprinzip als Allegorie eingesetzt, das Innovationsgeschichten mit 1000 Gesichtern hervorbringt und begleitet. Die Ästhetik in der Innovationsarbeit Mythen sind ein Teil der ästhetischen Theorien und Praxis. Die Ästhetik als unabschließbare Aufgabe (Barck 2010: 398) mündet in den Bewegungsbegriff Ästhetisieren. »Ästhetisieren heißt wahrnehmbar und fühlbar machen. Ästhetisieren heißt auch: Erfindung eines Gefühlstrainings, das eine deutliche Antistressrichtung hat, in dem das, was die Griechen ›pathos‹ nannten, ersetzt wird durch das, was die Griechen ›ethos‹, moderiertes Gefühl, nannten« (Mühlmann 1996: 137). Mit derartigen Konzepten, Methoden und Techniken, wie sie vor allem in der bildenden, darstellenden und klingenden Kunst eingesetzt werden, geben wir den Führungskräften und Beschäftigten der beteiligten kleinen und mittelständischen Unternehmen die Möglichkeiten, sich den Zonen der Ungewissheit selbst zu nähern, innere Bilder hervorzubringen und damit kommunizierbar zu machen. Das mythische Grundmuster kommt bunt, lebendig, klangvoll, beweglich, düster und hell – also in vielen spezifischen Schattierungen zum Vorschein. Auf

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diese Art und Weise verändert die Arbeit nach dem Heldenprinzip die Kultur der Entwicklungs- und Innovationsarbeit in den Unternehmen.

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K LEINER A USBLICK

Kommen wir ein letztes Mal auf die Geschichte mit den Eseln zurück. In der Zwischenzeit hat der Hausesel gespürt, geübt, gelernt. Er hat sich gefürchtet, ist über seinen Schatten gesprungen und hat Dinge erfahren, die er noch nicht einmal zu träumen wagte. Natürlich – wir wollen ja ein happy end – hat er den anderen Esel getroffen und – natürlich – sind sie ein glückliches Paar geworden, das voneinander lernt. Der Herr Professor hätte seine Freude an der Untersuchung ihrer Gehirne. ›Ein hervorragendes Betriebsklima haben diese Gehirne, fähig, in Strukturen zu agieren und sich immer wieder in neuen Synapsen zu verschalten, um lernfähig zu bleiben‹, so könnte er es in etwa formuliert haben.

L ITERATUR Baecker, Dirk (1994): Postheroisches Management. Ein Vademecum. Berlin: Merve. Barck, Karl-Heinz (2010): »Ästhetik/ästhetisch«, in: Karl-Heinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/ Friedrich Wolfzettel (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Studienausgabe. Band 1, Stuttgart: Metzler, 308–399. Blumenberg, Hans (1971): »Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotenzial des Mythos«, in: Manfred Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München: Fink, 11–66. Campbell, Joseph (1999): Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a.M.: Insel. Ende, Michael (2005): Momo. Ein Roman Märchen, Stuttgart: Thienemann. Hüther, Gerald (2008): Die vergebliche Suche der Hirnforscher nach dem Ort, an dem die Seele wohnt. Vortrag auf dem ZIST Kongress, 2007, Müllberg-Baden, Auditorium Netzwerk.

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Gennep van, Arnold (1999): Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt/New York: Campus. Goethe, Johann, Wolfgang (1985): Faust. Der Tragödie erster Teil, Leipzig: Philipp Reclam. Mühlmann, Heiner (1996): Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien/New York: Springer. Müller, Ernst (2010): »Mythos/mythisch/Mythologie«, in: Karl-Heinz Barck/ Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Studienausgabe. Band 4, Stuttgart: Metzler, 309–345. Steeger, Oliver (2011): »Die Chancen beim Risikomanagement ergreifen«, in: Projektmanagement 1/2011, 22. Jahrgang, 3–11. Turner, Victor (1989/2009): Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Neuauflage, Frankfurt/New York: Campus. Vogler, Christopher (2010): Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins.

Autorinnen und Autoren

Arens-Fischer, Wolfgang, Prof. Dr-Ing., Studiendekan und Leiter des Instituts für Duale Studiengänge, Professur für Unternehmensführung und Engineering, Hochschule Osnabrück, Standort Lingen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Innovationsmanagement, Führung und Organisation, Verhalten in Organisationen. Kontakt: [email protected] Bloem, Jutta, Master of Organizational Psychology, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Duale Studiengänge, Hochschule Osnabrück, Standort Lingen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Personal- und Ausbildungsentwicklung, Verhalten und Stress in Organisationen. Kontakt: [email protected] Böhle, Fritz, Prof. Dr., Leiter der Forschungseinheit Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt an der Universität Augsburg, Vorstandsvorsitzender des ISF München e.V. Arbeitsschwerpunkte: Verwissenschaftlichung und Erfahrungswissen, subjektivierendes Arbeitshandeln und informelle Prozesse. Kontakt: [email protected] Busch, Sigrid, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »International Monitoring« am Institutsverbund Lehrstuhl Informationsmanagement im Maschinenbau, Zentrum für Lern- und Wissensmanagement und An-Institut für Unternehmenskybernetik e.V. (IMA/ZLW & IfU – RWTH Aachen University). Arbeitsschwerpunkte: Nationales Monitoring und nationale Expertenarbeitskreise im Rahmen des BMBF-Programms »Arbeiten – Lernen –

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Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt«. Kontakt: [email protected] Bürgermeister, Markus, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungseinheit Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt an der Universität Augsburg. Forschungsgebiete: Innovation, Controlling, Unternehmensführung und Organisation, unter besonderer Berücksichtigung von Grenzen der Planung. Kontakt: [email protected] Dell, Christopher, Komponist, Musiker und als Architektur- und Organisationstheoretiker Gastprofessor an mehreren Universitäten sowie Gründer und Leiter des Instituts für Improvisationstechnologie (Berlin). Kontakt: www.ifit.de | www.christopher-dell.de Denisow, Karin, Dr., Volkswirtin, Organisationsberaterin, Coach und Mediatorin. Gemeinsam mit Nina Trobisch betreibt sie die Lumen GmbH und ist externe Auftragnehmerin am Zentralinstitut für Weiterbildung an der Universität der Künste. Kontakt: [email protected] Elbe, Martin, Prof. Dr., lehrt an der H:G Hochschule für Gesundheit und Sport in Berlin und an der Fachhochschule für angewandtes Management in Erding. Arbeitsschwerpunkte: Arbeit und Personal, Sozialisation und Salutogenese, Organisation und Organisationsberatung. Kontakt: [email protected] Grote, Gudela, seit 1997 Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich. Arbeitsgebiete: Sicherheitsmanagement, Teamarbeit in Hochrisikosystemen, Auswirkungen neuer Technologien auf Arbeitsprozesse, kollaborative Planung in und zwischen Unternehmen. Kontakt: [email protected]

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Hartmann, Elisa, Dipl. Soziologin, Mitarbeiterin der Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung – GAB München. Forschungsschwerpunkte: Verbindung künstlerischen Handelns mit Arbeit, Einsatz von künstlerischen Methoden in der Aus- und Weiterbildung, erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen und die Entwicklung und Gestaltung von Unternehmenskultur. Kontakt: [email protected] Häring, Benjamin, Theaterpädagoge (BA), Wiss. Mitarbeiter, Institut für Theaterpädagogik, Hochschule Osnabrück, Standort Lingen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theatrale Interventionen in der Theatralen Organisationsforschung, Kreatives Schreiben und Improvisationstechniken. Kontakt: [email protected] Hees, Frank, Dr. rer. nat., 2. Stellvertretender Institutsdirektor des Institutsverbunds Lehrstuhl Informationsmanagement im Maschinenbau, Zentrum für Lern- und Wissensmanagement und An-Institut für Unternehmenskybernetik e.V. (IMA/ZLW & IfU – RWTH Aachen University). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Entwicklung von Qualifizierungskonzepten und Gestaltung organisationaler und interorganisationaler Lernprozesse, Reorganisation von Geschäftsprozessen in kleinen und mittelständischen Betrieben, Kommunikations- und Teamentwicklung in Industrie- und Handwerksunternehmen, Wissensmanagement in Unternehmen- und Unternehmensnetzwerken. Kontakt: Frank. [email protected] Heidling, Eckhard, Dr., Wissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF München) e.V. Forschungsgebiete: u.a. Verteilte Arbeit, Unternehmensnetzwerke und Projektmanagement. Kontakt: [email protected] Heller, Jutta, Prof. Dr., Fachhochschule für angewandtes Management in Erding. Arbeitsschwerpunkte: Training und Coaching, Schlüsselqualifikationen, Resilienz. Kontakt: [email protected]

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Kessler, Oliver, Prof. Dr., für Geschichte und Theorie der Internationalen Beziehungen an der Rijksuniversiteit Groningen. Forschungsschwerpunkte: Theorien der Internationalen Beziehungen und der Internationalen Politischen Ökonomie, unter besonderer Berücksichtigung der Risiko- und Unsicherheitsforschung. Kontakt: [email protected] Linsenmann, Male, M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule für angewandtes Management. Arbeitsschwerpunkte: Schlüsselqualifikationen. Kontakt: [email protected] Munz, Claudia, Dipl. Soziologin, Gesellschafterin der Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung – GAB München. Forschungsschwerpunkte: Entwicklung neuer berufspädagogischer Konzepte, erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen, Transfer des Künstlerischen Handelns auf Arbeitssituationen, lernförderliche Arbeitsgestaltung und berufsbiografische Gestaltungsfähigkeit. Kontakt: [email protected] Neumer, Judith, Soziologin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF München e.V.). Forschungsschwerpunkte: u.a. Entscheidungsfindung in Unternehmen aus einer subjektorientierten Perspektive. Kontakt: [email protected] Peters, Sibylle, Prof. Dr., lehrt an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg. Arbeitsschwerpunkte: Personal- und Organisationsentwicklung, Projektmanagement, Wissensmanagement, Betriebliche Weiterbildung. Kontakt: [email protected] Porschen, Stephanie, Dr., Soziologin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF München e.V.). Forschungsgebiete: u.a. Arbeit und Innovation sowie Phänomene und Möglichkeiten des kooperativen Erfahrungstransfers in Unternehmen. Kontakt: [email protected]

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Renvert, Eva, Dipl. Päd., Dipl. Theaterpäd., Wiss. Mitarbeiterin, Institut für Theaterpädagogik, Hochschule Osnabrück, Standort Lingen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theatrale Interventionen in der Personal- und Organisationsentwicklung. Kontakt: [email protected] Ruping, Bernd, Prof. Dr., Studiendekan und Leiter des Instituts für Theaterpädagogik, Hochschule Osnabrück, Standort Lingen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Ästhetische Theorie, Soziokulturelle Interventionen und Theatrale Organisationsforschung. Kontakt: [email protected] Sauer, Johannes, Diplom-Volkswirt, 40 Jahre Erfahrungen in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung, Forschung und Administration. Zuletzt Referatsleiter zur beruflichen Kompetenzentwicklung im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Initiator der ABWF und der Arbeitsgemeinschaft QUEM. Kontakt: [email protected] Stadelbacher, Stephanie, M.A., Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Soziologie/Sozialkunde an der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie (insbesondere Handlungstheorien, Kommunikation und Interaktion), Körpersoziologie, sozialwissenschaftliche Diskursforschung. Kontakt: [email protected] Stark, Wolfgang, Prof. Dr. phil., lehrt und forscht als Professor für Organisationspsychologie, Organisationsentwicklung und Gemeindepychologie an der Universität Duisburg-Essen. Er ist Leiter und Gründer des Labors für Organisationsentwicklung (www.orglab.de) und des Zentrums für gesellschaftliches Lernen und soziale Verantwortung (www.uniaktiv.org). Kontakt: [email protected] Trantow, Sven, Forschungsgruppenleiter »Innovations- und Zukunftsforschung« sowie Projektleiter »International Monitoring« am Institutsverbund Lehrstuhl Informationsmanagement im Maschinenbau, Zentrum für Lern- und Wissensmanagement und An-Institut für Un-

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ternehmenskybernetik e.V. (IMA/ZLW & IfU – RWTH Aachen University). Aktuelle Themenschwerpunkte: Trends und Dilemmata der Arbeitsund Wirtschaftswelt, Strategien zur Stärkung organisationaler und gesellschaftlicher Innovationsfähigkeit, Entwicklung von Konzepten des Wissensmonitorings. Kontakt: [email protected] Trier, Matthias, Prof. Dr. paed. habil., langjährige wissenschaftliche Tätigkeit auf dem Gebiet der beruflichen Erwachsenenbildung sowie der Hochschulbildung. Arbeitsschwerpunkte: Erhalt und Entwicklung sozialer und beruflicher Kompetenz unter unsicheren und sich wandelnden sozialen Bedingungen, Internationale Trends von beruflichem Lernen und Kompetenzentwicklung, Förderung von Aktivität, Selbstständigkeit und Eigenverantwortung im Hochschulstudium. Kontakt: [email protected] Trobisch, Nina, Dipl. Dramadozentin und systemische Trainerin. Beraterin und Entwicklungsdramaturgin in einer eigenen Firma: Lumen GmbH und Forschungsleiterin des Verbundprojektes Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip am Zentralinstitut für Weiterbildung an der Universität der Künste. Kontakt: [email protected], [email protected] Wagner, Jost, Soziologe, MA, Mitarbeiter der Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung – GAB München. Forschungsschwerpunkte: Berufspädagogik, erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen, arbeitsintegrierte Lernformen, künstlerische Methoden in der Aus- und Erwachsenenbildung und Netzwerkentwicklung. Kontakt: [email protected] Wittlerbäumer, Peter, Dipl. Ing., Wiss. Mitarbeiter, Institut für duale Studiengänge, Hochschule Osnabrück, Standort Lingen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: E-commerce. Kontakt: p.wittlerbä[email protected]

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Weyer, Johannes, seit 2002 Professor für Techniksoziologie an der TU Dortmund. Arbeitsgebiete: Techniksoziologie, Mensch-Maschine-Interaktion in hochautomatisierten Systemen, Netzwerkanalyse, agentenbasierte Modellierung und Simulation. Kontakt: [email protected] Wolf, Harald, PD Dr., wissenschaftlicher Angestellter am Soziologischen Forschungsinstitut an der Georg-August-Universität Göttingen und Privatdozent an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Arbeits- und Industriesoziologie, Sozialtheorie. Kontakt: [email protected]

Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus August 2012, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Wolfgang Bonss, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister Handlungstheorie Eine Einführung Mai 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5

Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat April 2012, 512 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2036-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.) Ortsregister Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1968-3

Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Februar 2012, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung August 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Juni 2012, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.) Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Eine Bestandsaufnahme Mai 2012, ca. 230 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1693-4

Iris Dzudzek, Caren Kunze, Joscha Wullweber (Hg.) Diskurs und Hegemonie Gesellschaftskritische Perspektiven Juli 2012, ca. 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1928-7

Martin Gloger Generation 1989? Zur Kritik einer populären Zeitdiagnose Mai 2012, ca. 318 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1961-4

Leon Hempel, Marie Bartels (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart Juni 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6

Konstantin Ingenkamp Depression und Gesellschaft Zur Erfindung einer Volkskrankheit Februar 2012, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1930-0

Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hg.) Soziologie der Finanzmärkte Juli 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1806-8

Susanne Lettow (Hg.) Bioökonomie Die Lebenswissenschaften und die Bewirtschaftung der Körper Mai 2012, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1640-8

Stephan Lorenz Tafeln im flexiblen Überfluss Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements Januar 2012, 312 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2031-3

Christian Mersch Die Welt der Patente Soziologische Perspektiven auf eine zentrale Institution der globalen Wissensgesellschaft Mai 2012, ca. 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2056-6

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