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German Pages 330 Year 2014
Ulrike Busch, Daphne Hahn (Hg.) Abtreibung
KörperKulturen
Ulrike Busch, Daphne Hahn (Hg.)
Abtreibung Diskurse und Tendenzen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7
DISKURSE, KONTEXTE UND ZEITBEZÜGE Vom individuellen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Abtreibung
Ulrike Busch | 13 Diskurse zum Schwangerschaftsabbruch nach 1945
Daphne Hahn | 41 Schwangerschaftsabbruch und empirische Forschung
Cornelia Helfferich | 61 Moralpolitik und Religion: Die Abtreibungskontroversen in Polen, Italien und Spanien
Anja Hennig | 83 Abtreibung als Gegenstand feministischer Debatten − Hintergründe, Befunde, Fragen
Katja Krolzik-Matthei | 103
ETHISCHE UND JURISTISCHE DIMENSIONEN Schwangerschaftsabbruch, Behinderung, Christentum: Die Ambivalenzen der sexuellen Revolution in Westeuropa in den 1960er und -70er Jahren
Dagmar Herzog | 121 Schwangerschaftsabbrüche im Kontext von Reproduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostik
Hartmut Kreß | 139 Weichenstellungen in Karlsruhe − Die deutsche Reform des Abtreibungsrechts
Sabine Berghahn | 163
Ein Blick über die Grenzen: Die Abtreibungsregelungen der OECD-Länder und ihre Bestimmungsfaktoren im Vergleich
Edith Obinger-Gindulis | 193
P ERSPEKTIVEN RELEVANTER AKTEURE Kein Kinderwunsch und schwanger − Wie wird in einer Partnerschaft entschieden?
Cornelia Helfferich, Heike Klindworth | 215 Schwangerschaftsabbruch − Erleben und Bewältigen aus psychologischer Sicht
Petra Schweiger | 235 Beratung nach § 219 StGB − Hintergründe, Herausforderungen und Anregungen
Jutta Franz | 257 Schwangerschaftsabbruch − Ärztliches Handeln in Forschung und Praxis
Christine Czygan, Ines Thonke | 279 Schwangerschaftsabbrüche im Erleben von Ärztinnen und Ärzten − Eine persönliche Sicht
Helga Seyler | 299 Die Verweigerung einer medizinischen Behandlung ist keine Frage des Gewissens
Christian Fiala, Joyce Arthur | 311 Autorinnen und Autoren | 323
Vorwort U LRIKE B USCH UND D APHNE H AHN
D AS ANLIEGEN Ungewollte Schwangerschaft und Abtreibung zählen zu den umstrittensten Themen nicht nur in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, sondern auch in politischen und wissenschaftlichen Debatten unterschiedlichster Disziplinen (Recht, Medizin, Psychologie, Soziologie, Ethik, Sozialpädagogik etc.). Diese Debatten sind mit gesellschaftlichen Veränderungen wie Autonomievorstellungen, Geschlechterbildern oder Diskussionen über Menschenrechte verwoben. In vielen europäischen Ländern mündeten diese Debatten in Reformen des Rechts zur Abtreibung bzw. rechtlichen Neuregelungen. In Deutschland liegt die letzte derartige Neuregelung mittlerweile etwa 20 Jahre zurück. Ebenso lange zurück liegen die letzten größeren, expliziten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit diesem Thema. In vielen Fachdisziplinen wurde das Thema in den vergangenen Jahren kaum noch aufgegriffen. Für öffentliche Diskurse in Deutschland scheint sich ein eher problematisierender Blick auf das Thema Abtreibung etabliert zu haben, der sich beispielsweise aus ethisch-juristischem Blickwinkel auf das Lebensrecht des Ungeborenen richtet oder aus einer individuellen Perspektive die antizipierten psychischen Folgen für Frauen in den Fokus rückt. Das Buch will die entstandenen Lücken schließen und das Thema in seinen vielfältigen Facetten aus einer Perspektive betrachten, die vom Menschenrecht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit und Selbstbestimmung ausgeht. Da Debatten zu Abtreibung auch mit bioethischen Diskussionen um reproduktionsmedizinische Techniken wie beispielsweise der In-vitro-Fertilisation oder der Präimplantationsdiagnostik verknüpft sind, sollen diese Diskussionsstränge hier ebenfalls aufgenommen werden. Ziel ist, das Thema Abtreibung als Phänomen in seinen vielfältigen sozialen und individuellen Dimensionen aus primär sozi-
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alwissenschaftlicher Perspektive zu beleuchten. Dabei stehen die Entwicklungen in Deutschland im Mittelpunkt, eingebettet in und bereichert um internationale Erfahrungen.
D IE B EGRIFFSWAHL Wir haben uns entschieden, sowohl für den Titel als auch im Text den Begriff der Abtreibung zu verwenden, an vielen Stellen jedoch auch den des Schwangerschaftsabbruchs oder des Abbruchs einer ungewollten Schwangerschaft. Wir sind uns bewusst, dass der Abtreibungsbegriff bedeutungsgeladen ist; er ist Bestandteil der Geschichte der weltanschaulich-moralischen und politischen Auseinandersetzungen. Mit der Entscheidung für diesen Begriff wollten wir dies zugleich sichtbar werden lassen – der sachlichere Begriff Schwangerschaftsabbruch lässt das zurücktreten. In seiner etymologischen Bedeutung ist »abtreiben« ursprünglich ein wertfreier Begriff, der den aktiven Vorgang beschreibt, etwas wegzutreiben, fortzuschaffen, abzuwenden (z.B. Vieh von der Stelle, wo es nicht weiden soll, Holz auf dem Fluss) und den Dingen oder einer Entwicklung damit eine andere Richtung zu geben. Auch die Bezugnahme auf Schwangerschaft war zunächst eher beschreibend für etwas, das in der Verfügungsgewalt des Familienoberhaupts lag, z.B. des Hausherrn der römischen Antike, in dessen Interesse eine Abtreibung oder deren Ausschluss jeweils sein konnten. Negative Konnotationen sind vor allem mit der sich verstärkenden Übernahme der bereits frühchristlichen Ablehnung von Abtreibung als Eingriff in den göttlichen Schöpfungsanspruch verbunden. Sie fanden seit dem 16. Jahrhundert Eingang in die weltliche Rechtsprechung und waren u.a. auch mit der bevölkerungspolitischen Relevanz von Abtreibung verbunden. Erst seit 1953 wird der Abtreibungsbegriff nicht mehr im deutschen Strafrechtskontext verwendet. In den öffentlichen Debatten ist er jedoch präsent geblieben. Er ist ein politischer Begriff, der seit den 1970er Jahren von Gruppierungen genutzt wird, die unterschiedliche Auffassungen vertreten: Diejenigen, die das Recht auf selbstbestimmte Entscheidungen ablehnen und als moralisch und rechtlich verwerfliches Handeln von Frauen bezeichnen, die sich Entscheidungen anmaßen; oder Professionelle, die an Tötungen mitwirken, betonen mit dieser Begriffswahl ihre Ablehnung. Diejenigen, die das Recht auf selbstbestimmte Entscheidung über Fortsetzung oder Abbruch einer Schwangerschaft und damit einer grundsätzlichen Lebensentscheidung befürworten, implizieren mit diesem Begriff den selbstbewussten Umgang mit diesem Aspekt reproduktiven Lebens (beginnend mit »Ich habe abgetrieben« – Stern-Kampagne 1971).
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D IE U MSETZUNG Das Buch ist in drei thematische Schwerpunkte gegliedert. Ein erster widmet sich der Reflexion der jüngeren Geschichte insbesondere in Deutschland. Dafür werden die Diskurse (Themen und Verläufe) in wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten sowie ihre Hintergründe im Spannungsverhältnis zwischen zunehmender Akzeptanz der reproduktiven Selbstbestimmung einerseits und anhaltenden Moralisierungstendenzen andererseits analysiert. In diesem ersten Teil soll Abtreibung auch als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, insbesondere der sozialwissenschaftlichen Forschung reflektiert und beispielsweise danach gefragt werden, welche Forschungsthemen formuliert, welche Fragen gestellt und welche nicht gestellt werden. Auch moralpolitische und religiöse Einflüsse werden dahingehend hinterfragt, wie sie sich auf rechtliche Codierungen und öffentliche Meinungsbildung auswirken. Auf diese Weise wird Abtreibung zugleich als ein Thema anschaulich gemacht, das nicht nur national, sondern auch international politisch weiterhin hoch relevant und brisant ist. Der zweite Teil des Buches richtet den Fokus insbesondere auf ethische und juristische Aspekte der Diskussion und fasst entsprechende Positionen zusammen. Es geht dabei um Perspektiven, die sich sowohl auf den Status als auch auf den Schutz des vorgeburtlichen Lebens in den rechtlichen Regelungen und moralisch-weltanschaulichen-religiösen Begründungen richten. Einbezogen in die Betrachtung werden die Folgen, die die jeweils unterschiedlichen Perspektiven darauf haben, wie das Recht auf reproduktive Entscheidungen bzw. Selbstbestimmung für Frauen beurteilt wird. Eine Auseinandersetzung mit verfassungsrechtlichen Argumentationen zum Beginn des Lebens, die Rechte des Ungeborenen und seiner Würde werden in Relation zum Recht auf reproduktive Selbstbestimmung gesetzt. Diese Auseinandersetzung ist wichtig, um sich fundiert mit konservativen Positionen befassen zu können. Reproduktionsmedizinische Entwicklungen sowie die damit verbundenen bioethischen Diskurse werden bezogen auf den Status des vorgeburtlichen Lebens und sein Schutz thematisiert und insbesondere zu ihrer Relevanz für das Recht auf weibliche Entscheidungsautonomie hinterfragt. Der Schwerpunkt liegt auf der deutschen Perspektive, internationale Vergleiche und Tendenzen werden einbezogen. Einen dritten und letzten Schwerpunkt bilden Beiträge, die die Perspektive der für den Entscheidungsprozess relevanten Akteure aufnehmen. Das bedeutet, vor allem der Frage sich verändernder Entscheidungsfindungen betroffener Frauen und Paare in ihren vielschichtigen Dimensionen nachzugehen und mögliche, auf internationalen Forschungsergebnissen beruhende, neue Sichtweisen z.B. psychischer Aspekte der Verarbeitung von Abtreibung aufzuzeigen. Des
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Weiteren sollen beteiligte Professionelle in ihren Haltungen und die Besonderheiten ihres Tuns eine Reflexionsfläche finden. Die in ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen reflektierten Erfahrungen werden herausgearbeitet, kontextualisiert und diskutiert. Auf diese Weise lassen sich die spezifische Situation der (Pflicht-)beratung und die damit verbundenen Herausforderungen für beraterisches Handeln wie die Grenzen und Möglichkeiten professioneller Beratung im zielorientierten und strafrechtlich eingebundenen verpflichtenden Kontext analysieren. Ebenso finden die ärztliche Haltung zur Abtreibungsfrage, ärztliches Handeln, medizinische Kompetenzen sowie Versorgungsrealitäten Berücksichtigung, die sich – anders als man vermuten mag – in Deutschland nicht zu Gunsten der reproduktiven Rechte von Frauen zu verändern scheinen.
D AS D ANKESCHÖN Unser Dank gilt allen, die das Buchprojekt unterstützt haben. Es geht zurück auf eine im Herbst 2012 stattgefundene Tagung an der Hochschule Merseburg. Wir möchten uns bei der Hochschule für die Förderung sowohl der Tagung als auch der Publikation bedanken, ebenso bei den vielen Menschen, die uns ermutigt haben, die Beiträge der Tagung zu publizieren und für das Buch um interessante Sichtweisen zum Thema zu erweitern. Für die finanzielle Unterstützung danken wir der Stiftung des Bundesverbands von pro familia, die dieses Buch gefördert hat. Die redaktionelle Unterstützung lag in den professionellen Händen von Daniel Hoffmann und Birgit Schumacher. Insbesondere aber bedanken wir uns bei allen, die uns fachlich beraten haben – und natürlich bei unseren Autorinnen und Autoren, die sich in diesem Kontext positioniert haben. Uns war es ein Anliegen, sowohl gestandenen als auch jüngeren Kolleginnen und Kollegen eine Plattform zu bieten und sie in diesem Debattenbuch zusammenzubringen. Nicht alle Standpunkte werden von uns gleichermaßen in den Details geteilt. Sie spiegeln jedoch wichtige Facetten einer notwendigen Debatte wider, die durch dieses Buch aufgegriffen und angeregt werden soll.
Diskurse, Kontexte und Zeitbezüge
Vom individuellen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Abtreibung U LRIKE B USCH
Versuche, auf Fortpflanzung und Fortpflanzungsfähigkeit Einfluss zu nehmen, sind sowohl individuell als auch gesellschaftlich seit Jahrtausenden überliefert. Nachkommenschaft zu haben, aber auch ihre Zahl zu begrenzen oder Einfluss auf deren Eigenschaften zu nehmen, ist schon früh von höchster Bedeutsamkeit – sowohl aus der Perspektive des Einzelnen als auch für die jeweilige soziale Gemeinschaft, die Gesellschaft. Gesellschaftliche Regulierungsversuche individuellen Fortpflanzungs- und Sexualverhaltens ziehen sich durch die Geschichte. Kontrazeption und Abtreibung sind immer zentral, wenn es um Fortpflanzung geht; Normative verstehbar auch als Ausdrucksformen ideologischer Deutungshoheiten, bevölkerungs- und machtpolitischer Interessenlagen.1 Der vorliegende Beitrag will den gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit Abtreibung als zentralem Fortpflanzungsthema nicht kausal aus machtstrategischen Konstellationen ableiten, sondern geht von der Differenziertheit und Wirkmacht der oft heftigen und konträren Erlebensweisen und Deutungsansprüche im »Feld vielfältiger und beweglicher Machtbeziehungen« zwischen »anatomischer Macht« (der auf den Einzelnen, seine Körperlichkeit bezogenen Macht) und Bio-Macht (gerichtet auf den Gattungskörper und die Regulierung von Bevölkerung, u.a. Foucault 1981/85: 230 ff.) aus. Anlass bilden insbesondere die Fokusverschiebungen der letzten Jahre: Liberalisierungstendenzen im Kontext von Abtreibung in den 1970er und 1980er Jahren scheinen durch zunehmende Moralisierung, Retraditionalisierung bis hin zu restriktiven Impulsen gefährdet. Der Beitrag will Verbindungslinien ziehen zwischen den zu konstatierenden Schwierigkeiten, das
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Es wird auf Publikationen u.a. von R. Jütte, G. Jerouschek, U. Ranke-Heinemann verwiesen.
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Recht auf den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft als Bestandteil reproduktiver Rechte anzuerkennen und der Wirkmacht, die hierbei von der Definition von Schutzansprüchen (Rechten) vorgeburtlichen Lebens ausgeht, den historischen Hintergründen der Debatte zum Status ungeborenen Lebens im christlich-abendländischen Kulturkreis und deren Wirkungen auf die Konzeptualisierung des Ungeborenen im Kontext aktueller Entwicklungen, den Abtreibung inhärenten Besonderheiten und den wahrnehmbaren gesellschaftlichen und individuellen Spannungen, die sich offenbar nur lösen, aber nicht auflösen lassen und den Lebens- und Entscheidungskontexten heutiger Frauen und Männer, dem heutigen Stellenwert von Autonomie und Selbstbestimmung und der Bedeutung ihrer sexuellen und reproduktiven Rechte.
D AS R ECHT AUF REPRODUKTIVE G ESUNDHEIT S ELBSTBESTIMMUNG UND DIE ABTREIBUNG
UND
Das 20. Jahrhundert setzt eine bedeutsame Zäsur: Einerseits werden staatliche Einflussnahmen auf Sexualität und Fortpflanzung zu einem »erstrangigen politischen Instrument« – beide an der »Verbindungsstelle zwischen der individuellen Disziplinierung des Körpers und der Regulierung der Bevölkerung« (Foucault). Fruchtbarkeit, Verhütung, Abtreibung, sexuelle und partnerschaftliche Lebensweisen, Geschlechtlichkeit werden rechtlich flankiert, reglementiert und politisch kontextualisiert.2 Andererseits ist es ein Jahrhundert beginnender Forderungen nach sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung, wie die politisch ambitionierten Sozial-, Gesundheits- und Frauenbewegungen der frühen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden diese Forderungen zunehmend Eingang in menschenrechtsbasierte internationale Debatten. Die UNO, die WHO und Nichtregierungsorganisationen wie die IPPF haben erwirkt, dass auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 erstmals dezidiert das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung eingefordert wird - nach langem Ringen beschließen 179 Staaten politische Leitlinien für die nächsten 20 Jahre, darunter im Kapitel 7.2 des Kairoer Aktionsprogramms: »Reproduktive Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens [...] im Hinblick auf alle Belange in Zusammenhang mit dem reproduktiven System, seinen Funktionen und Prozessen. [...] schließt ein, dass Menschen ein
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Die konkreten Ausformungen sind national unterschiedlich und wandeln sich über die Jahrzehnte.
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befriedigendes und ungefährliches Sexualleben haben können, ob, wann und wie oft sie davon Gebrauch machen wollen. In dieses Recht eingeschlossen sind das Recht von Männern und Frauen, informiert zu werden und Zugang zu sicheren, wirksamen, erschwinglichen und akzeptablen Familienplanungsmethoden ihrer Wahl und angemessenen Gesundheitsdiensten [... ] zu haben [... ]« (Pracht/Thoss 2005: 60).
Diese Formulierung ist Ergebnis einer mehr als drei Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung um die Anerkennung des Rechts auf Familienplanung als Menschenrecht (vgl. Busch 2010: 13 ff.) und stellt einen Paradigmenwechsel dar (vgl. Thoss 1999: 3). Selbstbestimmung, Autonomie und Menschenwürde sind zentral zugrunde gelegte Werte, nicht vordergründige bevölkerungspolitische Reglementierungsbestrebungen. Bei aller Bedeutung, die bevölkerungspolitische Überlegungen nach wie vor haben3, verpflichten sich die Staaten jenseits von Einmischung in persönliche Lebensentscheidungen zur Sicherung der Voraussetzungen zum Schutz der sexuellen und reproduktiven Rechte als individuelle Rechte jedes Menschen. Dennoch fällt auf: Das Recht auf den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft wird nicht formuliert. Allerdings wird erklärt, dass dort, wo Abtreibung legal ist, sie unter medizinisch sicheren Bedingungen durchgeführt werden soll. Mehr ist nicht erreichbar eingedenk ausgesprochen heterogener rechtlicher Regelungsansätze und politischer Bestrebungen weltweit. Das ist angesichts der realen Problemlagen höchst problematisch. Zwar ist die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer Liberalisierung im Abtreibungsrecht gekennzeichnet, dennoch leben heute noch etwa 40 % aller Frauen im fertilen Alter weltweit in Ländern mit hoch restriktiver Rechtslage. Die WHO konstatiert: 22 Millionen Abtreibungen finden unter unsicheren Bedingungen statt, etwa 47.000 Frauen sterben in der Folge und etwa 5 Millionen erleiden zeitweise oder permanente Folgeschädigungen, einschließlich Infertilität: »Almost all deaths and morbidity from unsafe abortion is severely restricted in law and in practice.« (WHO 2012: 87). »Restricting legal access to abortion does not decrease the need for abortion, but it is likely to increase the number of women seeking illegal and unsafe abortions, leading to increase morbidity and mortality.« (Ebd.: 90).
Zahlreiche internationale Abkommen und Konventionen betonen den Schutz der Menschenrechte. Sie schließen auch das Recht auf die bestmöglichen Standards der Gesundheitsversorgung, das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der 3
Entwicklungspolitische Maßnahmen, auch in ihren familienplanerischen Ansätzen, sind seit den 1970er Jahren mit dem Blick auf das Wachstum der Weltbevölkerung durchaus bevölkerungspolitisch intendiert.
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Person, Bildung und Information ein. Die Nachfolgekonferenz der Internationalen Weltbevölkerungskonferenz ICPD+5 fordert 1999, dass in den Ländern, in denen Abtreibung nicht dem Gesetz widerspricht, das Gesundheitssystem eine adäquate Ausbildung und Ausstattung der Anbieter von Gesundheitsdiensten sichern müsse, um Abtreibung sicher und erreichbar zu machen. Das oben zitierte WHO-Papier formuliert zudem konkrete Standards der medizinischen Versorgung beim Schwangerschaftsabbruch. Aber nach wie vor nimmt der Anteil der unsicheren Abtreibungen nicht ab. Er liegt heute bei etwa 49 % aller Schwangerschaftsabbrüche weltweit, in einigen Regionen der Welt sind dies nahezu 100 %.4 Eine Änderung diesbezüglicher Ländergesetze kann im Kontext der Interventionen einschlägiger politischer und religiöser Kreise weder in internationalen Konventionen und Pakten noch auf der Ebene anderer Beschlüsse und Empfehlungen angemahnt oder gar verankert werden. Umso bedeutsamer ist, dass 2011 im Kontext des Berichts des Menschenrechtsrats das Recht auf den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft und einen adäquaten Zugang zu den entsprechenden Möglichkeiten der gesundheitlichen Versorgung betont wird.5 In Europa ist die Liberalisierung des Abtreibungsrechts relativ weit vorangeschritten. In den meisten Ländern gelten medizinische und soziale Indikationen oder wird der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft auf Wunsch der Frau akzeptiert, eingebunden in ein notlagenorientiertes Beratungsmodell oder in außerstrafrechtliche Fristenregelungen.6 Ausgesprochen restriktiv ist das Abtreibungsrecht in Polen und nach wie vor in Irland. In Polen ist selbst dieses restriktive Recht (strenge medizinische, kriminologische und embryopathische Indikation) von weiteren Verschärfungen bedroht.7 Fanden 1990 noch mehr als 100.000 Abbrüche statt, so werden für 2011 knapp 700 Abbrüche berichtet. Bei einer Bevölkerungszahl von 38 Millionen und einer zudem schwierigen Verhü4
Vielfach betrifft dies Länder, in denen zugleich der Zugang zu Verhütung und Sexualaufklärung kaum gegeben bis hoch defizitär ist, die Rechte von Frauen, der Zugang zu Bildung und anderen Parametern sozialen und gesundheitlichen Fortschritts eingeschränkt sind (vgl. Kröger, van Olst, Klingholz 2004).
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Der Berichterstatter Anand Grover (Indien) fordert, sämtliche Hindernisse zu Abtreibungen zu beenden, da sie eine Verletzung des Rechts der Frau auf Gesundheit und Selbstbestimmung seien (A/06/254: Right of everyone tot he enjoyment oft the highest attainable standard of physical and mental health. Bericht des Menschenrechtsrates 2011).
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Näheres dazu in diesem Buch im Beitrag von E. Gindulis.
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http://www.polen-heute.de/recht-auf-abtreibung-wieder-auf-dem-pruefstand-69701 (Zugriff am 14.07.2014).
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tungspraxis muss davon ausgegangen werden, dass tausende Frauen auf illegale Abbrüche oder Abtreibungstourismus angewiesen sind.8 In Irland beeinflusst das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2010 die Entscheidung des irischen Parlaments vom Juli 2013 zur Annahme eines Gesetzes, das Abtreibungen zulässt, allerdings auf lebensbedrohliche Ausnahmefälle begrenzt. Progressive Entwicklungen in Spanien werden nur drei Jahre nach der Liberalisierung des Abtreibungsrechts mit dem 2013 beschlossenen »Gesetz zum Schutz des empfangenen Lebens und der Rechte der schwangeren Frau« wieder revidiert. Es ist bemerkenswert, dass im Europa des 21. Jahrhunderts der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft noch derart stigmatisiert und kriminalisiert ist und das Recht von Frauen auf reproduktive Gesundheit, auf Selbstbestimmung über ihren Körper und ihr Leben in diesem Kontext missachtet werden können. Initiativen durch Nichtregierungsorganisationen und Parteien haben zwar dazu beigetragen, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarats am 26.04.2008 in Kenntnis der Entwicklungsprobleme in Europa die Entkriminalisierung von Abtreibung fordert, ebenso die Akzeptanz der Entscheidung der Frau, die Sicherung des Rechts auf Sexualaufklärung und auf einen unbeschränkten Zugang zu Kontrazeptiva. Die Umsetzung derartiger Forderungen, ihre Untersetzung durch politische Vereinbarungen und juristische Fixierungen wird allerdings durch starke konservative Kräfte behindert. Jüngstes Beispiel ist die länderübergreifende europäische Initiative von Abtreibungsgegnern im Verbund mit konservativen politischen Kreisen zur Ablehnung des Estrela-Berichts über sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte. Der Einfluss christlichfundamentalistischer Argumentationen in der Abtreibungsfrage auch in Europa basiert auch auf Unterstellungen und Verzerrung von Realität, erhält aber seine Wirkmacht vor allem durch die effiziente Verbindung zwischen Religion und Politik und die Integration des nunmehr auch bioethisch untersetzen Lebensschutzthemas.9 Die Behinderung der Anerkennung des Rechts auf den Abbruch ungewollter Schwangerschaften und entsprechende Zugänge zu medizinischer Versorgung wird weltweit durch die Rolle der Kirche und die Verbindung von Politik, Moral und Recht und Religion beeinflusst.10 So ist z.B. Afrika der Kontinent, in dem nach unsicheren Abtreibungen unter restriktivsten Bedingungen die meisten Todesfälle zu verzeichnen sind (WHO 2012: 20). Dennoch wird das im Jahr 2005 8 9
http://www.svss-uspda.ch/de/facts/polen.htm (Zugriff am 14.07.2014). Dies zeigte sich u.a. darin, dass die 2013 durch One of us initiierte Unterschriftensammlung zum ablehnenden Abstimmungsverhalten der Abgeordneten des Europaparlamentes zum Estrela-Bericht führte.
10 Dazu u.a. auch in diesem Buch der Beitrag von A. Hennig.
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als Zusatzprotokoll zur »Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker« verabschiedete Maputo-Protokoll wegen des hier geforderten Rechts auf Abtreibung bei Inzest oder Gefahr für Leben und Gesundheit von der katholischen Kirche attackiert. Papst Benedikt sah darin den Versuch, Abtreibung als Menschenrecht anzuerkennen und damit zu trivialisieren (Diehl 2010: 72). Und erst kürzlich feierte die Homepage »Zenit. Die Welt von Rom aus gesehen«, dass es grundsätzlich nicht gelungen sei, Abtreibung in Afrika zu legalisieren. Diese Tendenzen sind häufig verbunden mit einem extremen Konservatismus in familien-, sexualitäts- und beziehungsbezogenen Werten. Als Gefahr für die »natürliche Familie« werden Homosexualität, die Emanzipation von Frauen und Abtreibung ausgemacht. Auch auf dem 6. Weltkongress der Familien 2012 suchten führende Repräsentantinnen und Repräsentanten von konservativen Bürgerrechtsvereinen, Bildungs- und Forschungseinrichtungen gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Politik nach Lösungen, die auf die politische und internationale gesetzgeberische Ebene zielen. Weltweit und auch europäisch sind Strukturen entstanden, die unter familialen Aspekten höchst konservative Doktrin vertreten und strukturell sichern. Viele der Auseinandersetzungen insbesondere der letzten 40 Jahre sind davon gekennzeichnet, dass das Recht einer Frau auf den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft dem Lebensrecht des Ungeborenen gegenübergestellt wird. »Gegen Abtreibung zu sein […] wird mit einer vermeintlichen Kultur des Lebens verbunden« (Diehl 2010: 74). Embryonales Leben wird von seinem Beginn an zum Träger von Rechten und ob seiner Bedrohtheit und Schutzbedürftigkeit zum zu schützenden Rechtsgut, die Rechte von Frauen werden dem untergeordnet und partiell geopfert – insbesondere in den Ländern, die aus diesen Begründungszusammenhängen heraus das Lebensrecht des Ungeborenen in ihre Verfassungen geschrieben haben, z.T. dezidiert bereits ab Konzeption (u.a. Chile, Irland, Philippinen, Dominikanische Republik, 16 mexikanische Staaten). Auch in anderen Ländern gibt es derartige Bestrebungen.
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H ISTORISCHE E NTWICKLUNGSLINIEN 11 UND DER S TATUS UNGEBORENEN L EBENS Dieser historische Exkurs soll verdeutlichen, dass es in der jahrhundertelangen Geschichte nicht primär um moralische Wertschätzung ungeborenen Lebens ging, sondern andere Interessenlagen von zentraler Bedeutung waren. Zudem soll kenntlich werden, dass diese Argumentationsstränge selbst heutige ethische und juristische Debatten sowie politische Entscheidungen beeinflussen. Auch weltliche Rechtsprechung ist davon nicht unberührt: Der seit 1871 im Strafgesetzbuch Deutschlands existierende § 218 fasste Abtreibung zunächst in Kapitel 16 unter die »Verbrechen und Vergehen wider das Leben«. Heute, nach mehreren Novellierungen, ist dieser Paragraf immer noch an derselben Stelle des Gesetzbuchs, nun unter dem Titel »Straftaten gegen das Leben« verortet. Namentlich die Frau wurde schon früh ob ihrer Fortpflanzungsfähigkeit entweder hoch verehrt oder geächtet. Die 25.000 Jahre alte Venus von Willendorf wird u.a. als Symbol gedeutet, das für die Magie der Fruchtbarkeit der Frau steht. Bekannt ist aber auch, dass Frauen aus der Gemeinschaft verstoßen wurden oder späterhin Ehen wieder gelöst werden konnten, wenn sie keine Nachkommen gebären konnten. Das gesellschaftliche Interesse war bereits früh gekoppelt an Fragen der Bevölkerungsentwicklung (z.B. bei hoher Kindersterblichkeit und geringer Lebenserwartung), resp. von großer Bedeutung für den Erhalt der Gemeinschaft. Dies betraf sowohl die Erfüllung der Verpflichtung, Nachkommenschaft zu zeugen, als auch Versuche, auf deren Eigenschaften (Geschlecht, Gesundheit) Einfluss zu nehmen und ggf. zu sanktionieren. Lange Zeit war aber auch die Begrenzung der Fortpflanzung durch die Akzeptanz früher Verhütungs- und Abtreibungsversuche gekennzeichnet, letztlich bis hin zu Kindstötung. Noch in der griechischen und römischen Antike war Abtreibung weitgehend akzeptiert, verhielt man sich ihr gegenüber eher neutral (Jütte1993: 29 ff.), und die Tötung kranker und schwacher Neugeborener war Praxis im Alltag (Ranke-Heinemann 2003: 99ff.). Das Lebensrecht des Ungeborenen war noch kein Thema der Betrachtung oder Normbildung – es ging um das Verfügungsrecht des Ehemanns über die Fortpflanzung und das Leben oder die Gesundheit der Frau. Der Fötus galt als Teil der mütterlichen Eingeweide.
11 Die Geschichte des Abtreibungsthemas kann in diesem Buch nicht ausführlich dargestellt werden. Es wird u.a. auf die Veröffentlichungen von R. Jütte, G. Jeruoschek, U. Ranke-Heinemann und L. Boltanski verwiesen. Hier sollen vor allem die Themen fokussiert werden, die unter dem Aspekt der neueren Debatten um den Status und die Schutzwürdigkeit ungeborenen Lebens besonders relevant sind.
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Veränderungen sind mit dem Aufkommen der monotheistischen Religionen verbunden. Die Etablierung des Christentums geschieht in Auseinandersetzung mit den lebens- und sexualitätszugewandten heidnischen und polytheistischen Religionen der Antike. Die Durchsetzung der Herrschaftsansprüche des noch jungen Christentums gegen andere konkurrierende Religionsgemeinschaften ist offenbar verknüpft mit der Übernahme der Deutungshoheit zu zentralen Lebensthemen (Sexualität, Beziehung, Fortpflanzung, Rolle der Frau in der Gesellschaft), resp. darüber das Alltagsdenken und -handeln von Menschen zu prägen. Zugleich handelt es sich um Themen, die zentrale bevölkerungspolitische Implikationen aufweisen und die Interessen einer aufstrebenden Macht berühren müssen. In diesem Kontext taucht der Schutz des ungeborenen Lebens als sich allmählich etablierende Norm auf. Frühe Zeugnisse aus dem ersten bis dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung belegen dies (Ranke-Heinemann 2003: 107 ff). Der Barnabasbrief, die Synode von Elvira, Augustinus selbst lehnen als frühe christliche Normsetzung den Abbruch einer Schwangerschaft als Tötungsvergehen ab. Jerouschek arbeitet die Hintergründe heraus: zum einen die Verteidigung des jungen Christentums gegen die Vorwürfe, rituell zu töten und Kleinkinder zu verspeisen; zum anderen, weil uneheliche Schwangerschaften bislang hauptsächlichster Abbruchgrund waren und damit unterbunden werden musste, dass Maria ggf. den Messias hätte abtreiben können. Vor allem aber war bedeutsam, das Verfügungsrecht über das Leben neu zu definieren: als nicht mehr individuell entscheidbar, sondern durch Gott als Schöpfer und damit die Kirche bestimmt (Jerouschek 1993: 44ff). Im Kern ging es also nicht um den Schutz des ungeborenen Lebens aus ethischen Gründen, die ggf. in der Schutzwürdigkeit des Fötus gesehen werden, sondern um das Verfügungsrecht in einer zentralen Frage und dessen Begründungshintergrund. Über Jahrhunderte galt zumeist, wenn auch nicht unumstritten, das Prinzip der Sukzessivbeseelung, wird zwischen fetus inanimatus und fetus animatus unterschieden. Auch im ersten deutschen weltlichen Strafgesetzbuch, der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls des V., schlägt sich dies nieder: Abtreibung in der ersten Schwangerschaftshälfte ist eine minderschwere Straftat, in der zweiten eine schwere und damit absolut verboten, auf Kindstötung stehen grausame Todesstrafen. Aus katholischer Perspektive wird Abtreibung zwar zu jeder Zeit als Sünde mit monate- oder jahrelanger Buße belegt, aber der Fötus galt noch als Körperteil der Mutter (pars viscerum matris). Einen beseelten Fötus abzutreiben ist Mord und wird mit Exkommunikation oder gar Todesstrafe sanktioniert.12
12 Dennoch sind Versuche belegt, auf diese sündhaften frühen Abtreibungen Einfluss zu nehmen, so indem Schwangerschaften durch die Dorfgemeinschaften beobachtet, an-
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Das Jahr 1869 bildet eine Zäsur: Das 1. Vatikanische Konzil verabschiedete das päpstliche Edikt Pius des IX, in dem Abtreibung von Anbeginn als Mord begriffen wird, es erfolgte der klare Übergang zum Prinzip der Simultanbeseelung. Hintergrund bildete auch hier nicht der Schutz des ungeborenen Lebens im heutigen Verständnis13, sondern die religions- und kirchendogmatische Überlegung zur unbefleckten Empfängnis Marias: Man könne doch keine vernunftlose Materie feiern (vgl. Ranke-Heinemann 2003: 462 f.). All dies wirkte fort und findet sich selbst in neueren normsetzenden Schriften. So wird 1968 in der Enzyklika Humanae Vitae in Reaktion auf die Einführung der Pille und auf die Debatten um Abtreibung in Verteidigung der christlichen Moral- und Werteordnung und der Deutungshoheit zu diesen zentralen Themen nochmals untersetzt: Die von Gott gewollte Ehe finde ihren Zweck in der Zeugung und Erziehung von Nachkommen, und die »Treue zum Schöpfungsplan Gottes« beinhalte, dass »der Mensch keine unbeschränkte Verfügungsmacht über seinen Körper hat, so auch nicht über die Zeugungskräfte als solche« (vgl. Enzyklica Humanae Vitae 1968). Abtreibung wird als schweres sittliches Vergehen naturrechtlich begründet – damit für alle Menschen geltend. Noch 1983 wird im Codex Kanonisches Recht, dem Gesetzbuch der katholischen Kirche, im Canon 1398 Abtreibung als Straftat gegen das Leben, auf die Exkommunikation steht, geahndet. Die Kommission Weltkirche der deutschen Bischöfe versucht zwar, sich im Kontext neuer Entwicklungen (auch vor dem Hintergrund bevölkerungspolitischer Fragestellungen weltweit) zu verorten und attestiert in ihrem Papier »Bevölkerungswachstum und Entwicklungsförderung« ein Menschenrecht auf Fortpflanzung und Familienplanung (Deutsche Bischofskonferenz 1993: 30 ff). Gemeint ist aber in Sonderheit »verantwortete Elternschaft«, die »nicht von egoistischen Motiven bestimmt sein« darf, sondern der »Verantwortung für die Ehe, Familie, die Situation der Kinder, die der Geschwister bedürfen, […] ebenso (bedenkt – U.B.) wie Alter, körperliches und seelisches Befinden der Frau, berufliche und gesundheitliche Lage der Eheleute…« etc. (ebd.: 50). »Das Moment der Fruchtbarkeit darf […] aus der sexuellen Verwirklichung der Liebe nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden«, letztlich sei dann aber das »Gewissen die maßgebliche praktische Instanz« (ebd.: 52). Und: »Programme der Familienplanung dürfen keine Förderung der Abtreibung beinhalten« (ebd.: 61).14 gezeigt und ggf. bei Verdacht auf ihren Abbruch verfolgt wurden (vgl. entsprechende Schriften von Barbara Duden, Eva Labouvie, Wolfgang P. Müller). 13 Wenngleich Zusammenhänge zur durch den medizinischen Fortschritt deutlicheren Sichtbar- und Vorstellbarkeit des Embryos sicherlich bestehen. 14 Der Rückzug der Beratungsstellen in Trägerschaft der katholischen Kirche aus der Pflichtberatung zum Schwangerschaftsabbruch im Jahr 2001 geht auf ein päpstliches
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Trotz der starken Wirkmacht dieser Ideologie geraten bereits in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext wachsender politischer Bewegungen auch Kontrazeption und Abtreibung in den Fokus. Die Verelendung breiter proletarischer Bevölkerungsschichten, enorme soziale Notstände und gesundheitliche Problemlagen tragen dazu bei, dass sich verstärkt sozialmedizinisch orientierte Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit Politikerinnen und Politikern und nunmehr auch Frauenrechtlerinnen den verschiedenen Facetten von Frauengesundheit und Frauenleben annehmen. Fehlende Möglichkeiten der Kontrazeption, defizitäres Wissen zu Fragen der Familienplanung, patriarchale Rollengefüge im familialen und sexuellen partnerschaftlichen Leben mündeten in zahlreiche Schwangerschaften, eine große Zahl davon ungewollt, und in illegaler Abtreibungen mit allen schon vielfach benannten Folgen.15 Das befördert die öffentlichen Debatten. Die Rechte von Frauen auf Gesundheit und Leben, auf Selbstbestimmung über ihr Leben und resp. den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft werden erstmals zentral und explizit formuliert. Else Kienle und Friedrich Wolf, Magnus Hirschfeld oder Hermine Heusler-Edenhuizen, Helene Stöcker und andere namhafte Personen des öffentlichen Lebens engagieren sich bis zur Machtübernahme durch die deutschen Faschisten und nehmen Partei für die Rechte von Frauen und Männern auf ein selbstbestimmtes und würdiges Leben.16 Debattiert wurde nicht um Status oder Rechte des Ungeborenen oder Fragen des Gewissens, sondern soziale Notwendigkeiten und politische Förderungen. Die 1927 beschlossene Einführung einer medizinischen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch trägt zwar den Gedanken der Güterabwägung zwischen ungeborenem Leben und Leben der Gesundheit der Frau in sich, sieht aber in Leben und Gesundheit des »fertigen Menschen« ein höherwertiges Rechtsgut (Gante 1993: 170). Progressive Stimmen verstummen in der Zeit der faschistischen Diktatur. Bevölkerungspolitische und eugenisch-rassistische Argumentationen sowie die weitgehende Reduzierung der Frau auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter bilden den Rahmen auch in der Abtreibungsfrage. Kinder galten als »Soll der VolksbestandserhalVeto gegen die Mitwirkung an einem Schwangerschaftsabbruch durch die Wahrnehmung der Beratung nach § 219 StGB zurück. 15 Siehe u.a. den Beitrag von Christiane Dienel über das 20. Jahrhundert, die Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau. In: Robert Jütte, a.a.O: 140 ff. 16 International sind dies namhafte Frauen wie u.a. Emma Goldman, Marie Stopes und Magret Sanger, die nicht selten in Anbetracht persönlicher Begegnungen mit betroffenen Frauen und Familien ihren frauen- und gesundheitspolitischen Anspruch formulieren. Auf der Homepage des Museums für Schwangerschaftsabbruch und Kontrazeption Wien sind Personen und Schriften dokumentiert.
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tungsziffer«, »Familie als Keimzelle des Volkes«, die deutsche Frau als »Lebensquell des Volkes« und »Hüterin der Rassenreinheit«. Abtreibung wurde zunächst erheblich eingeschränkt, ab 1943 über die Androhung von Gefängnis oder Zuchthaus hinaus sogar mit der Todesstrafe verboten. Rechtsgut ist nicht das ungeborene Leben, sondern »die deutsche Volkskraft« (ebd.: 171 f.). Erst Anfang der 1960er Jahre werden die alten progressiven Forderungen zu Frauenrechten auch in der Abtreibungsfrage wieder aufgegriffen. Eingebettet in grundlegende gesellschaftliche Veränderungen formiert sich eine neue Frauenbewegung. Impulsgeberinnen sind u.a. Simone de Beauvoir oder Sulamith Firestone, die mit ihrem Anspruch, dass sich die Frauen aus ihrer unterdrückten Position befreien müssen und dies auch wesentlich die Befreiung aus der Knechtschaft der biologischen Mutterschaft einschließe, auch die feministische Bewegung in Deutschland beeinflussen. Autonomie und Subjektivität von Entscheidungen werden zu den entscheidenden Werteparametern der Moderne, die den Anspruch auf die Selbstbestimmung über den eigenen Körper und die Gleichberechtigung der Frau wesentlich flankieren. Die Energie dieser zweiten Frauenbewegung speist sich u.a. auch aus der grundsätzlichen Möglichkeit, durch die wirksame Trennung von Sexualität und Fortpflanzung im Kontext der Verfügbarkeit der Pille selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. In der BRD ist das Thema Abtreibung maßgeblich eingebunden in gesellschaftliche Infragestellungen bestehender Verhältnisse in den 1960er und 1970er Jahren, in ein Revoltieren gegen erstarrte Strukturen und Normen der bundesdeutschen Gesellschaft und die Versuche einer jungen Generation, die herrschenden konservativen Strukturen aufzubrechen. Selbstverwirklichung, individuelle Rechte und Freiheit sind die elementaren Forderungen. Die Liberalisierung der Beziehungsweisen, Freiheit in der Sexualität und damit auch Verhütung und Abtreibung sind Themen, in denen sich diese Forderungen ausdrücken. Sie eignen sich nicht zuletzt durch ihren provokativen Charakter in einer immer noch konservativ geprägten Gesellschaft in besonderer Weise, »gegen den Strich zu bürsten«. Es sind Themen mit enormer Symbolkraft: »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment«, »Mein Bauch gehört mir«, »Ob Kinder oder keine entscheiden wir alleine«, »Weg mit dem § 218«, »Wir wollen nicht mehr nach Holland fahren«. Die Kraft dieser Bewegungen entsteht daraus, dass es in der Abgrenzung von vorherigen ausgesprochen restriktiven juristischen und faktischen Bedingungen darum geht, etwas Wesentliches zu sichern: Selbstbestimmung über den eigenen Körper, Frauengesundheit, Frauenleben und die Rechte von Frauen und Männern in der Gesellschaft – fest gemacht an sexuellen und reproduktiven Themen als essenziellen menschlichen Lebensbereichen. Die Frage
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des Status des ungeborenen Lebens hatte die feministische Bewegung (noch) nicht erreicht bzw. wurde klar zugunsten der Rechte der Frauen beantwortet. In der DDR gilt seit 1950 außerstrafrechtlich das »Gesetz zum Schutz von Mutter und Kind«, in dessen § 11 Abtreibung nun gefasst wird. Es engt die seit 1946 in den meisten östlichen Bundesländern vollzogene Liberalisierung durch die Einführung einer sozialen Indikation wieder ein, indem formuliert wird, dass »eine künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft nur zulässig (ist), wenn die Austragung des Kindes das Leben oder die Gesundheit der schwangeren Frau ernstlich gefährdet oder wenn ein Elternteil mit schwerer Erbkrankheit belastet ist. Jede andere Unterbrechung der Schwangerschaft ist verboten und wird nach den bestehenden Gesetzen bestraft.« Begründungen sind die Überwindung der schwersten Kriegsfolgen und die Verbesserung von Lebensbedingungen, die den Abbruch einer Schwangerschaft nicht mehr erforderlich machen. Erklärtermaßen ist dieses Gesetz zwar grundsätzlich an den Rechten der Frau orientiert – man sieht sich in den Traditionen der progressiven Arbeiterbewegung des frühen 20. Jahrhunderts und reklamiert den Wert der Gleichberechtigung für sich. Unverkennbar ist aber eine Verbindung mit ökonomisch und demografisch begründeten Erwägungen, geht es doch um wirtschaftliche Stabilisierung der noch jungen DDR in einer beginnenden Auseinandersetzung der Systeme. Die Handhabung des Gesetzes bot zwar Entscheidungsspielräume. Soziale Aspekte sollten bei der Beurteilung von Anträgen durchaus berücksichtigt werden, dies wurde aber kaum entsprechend umgesetzt. Die Einbindung des Verfahrens in die Rechtfertigung eines Antrags vor einer Gutachterkommission brachte große Härten für die betreffenden Frauen mit sich (Thietz 1992: 59). Das änderte sich auch durch eine Instruktion aus dem Jahre 1965 nur marginal.17 Abtreibungstourismus nach Polen und in die CSSR, die sich andeutenden Veränderungen in der BRD, Analysen und Mahnungen zu illegalen Abtreibungen und deren gesundheitlichen Folgen aus frauen- und gesundheitspolitischer Perspektive und letztlich der Anspruch, die Gleichberechtigung der Frau nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in Fragen der individuellen Lebensweise sichern zu wollen, führten 1972 zum »Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft« – einer für die damalige Zeit (und selbst heute noch) modernen außerstrafrechtlichen Regelung. Begründet wird es in der Gleichberechtigung der Frau und ihren Rechten, verbunden mit dem Anspruch auf unentgeltliche Kontrazeptiva und ärztliche Information und Beratung. Obwohl nicht von Fraueninitiativen selbst, sondern durch politische Entscheidungsträger und ohne entsprechende öffentliche Debatte initi17 Diese Instruktion erweiterte die vorherige Einengung auf eine medizinische Indikation um soziale Aspekte, behielt aber die Anforderung der Antragstellung bei einer Kommission bei.
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iert, wird dieses Recht von den Frauen rasch angenommen und gewertschätzt, bei allen Problematiken im Einzelnen.18 Debatten, die die Gesetzesänderung in den Kontext einer Rechteabwägung zu vorgeburtlichem Leben stellen, finden kaum statt. Am ehesten in medizinethischen, philosophischen und gesundheitswissenschaftlichen/-politischen) Diskussionen und Schriften der 1980er Jahre wird auch die Frage nach dem Wert und der Schutzwürdigkeit vorgeburtlichen Lebens gestellt. Zum einen geschieht dies in Auseinandersetzung mit einschlägigen Auseinandersetzungen in der BRD sowie mit christlichen Stimmen aus der DDR im Kontext der Einführung des neuen Gesetzes19. Zum anderen stellen sich die Fragen auch aus der Perspektive der eigenen Befassung mit Grenzsituationen ärztlichen Handelns, dem wissenschaftlichem Fortschritt in der Medizin und dem Menschenbild20. In Anerkennung des Beginns der menschlichen Individualentwicklung mit der Befruchtung der Eizelle durch die Samenzelle, der Bedeutung der Nidation für die Entstehung von Schwangerschaft und von Wert und Schutzwürdigkeit embryonal-fetalen Lebens wird dennoch dieses letztlich dem Leben und der Entscheidung des geborenen Menschen untergeordnet. Das Ringen um eine Positionierung in einer wichtigen ethischen Fragestellung ist ebenso erkennbar wie die klare Auffassung, dass in der Werteabwägung das Recht der Frau auf eine eigene Entscheidung dominiert und hierin die »menschenwürdigste Form der Austragung dieses Konfliktes« (Kraatz/Körner 1981: 71) gesehen wird. Die Frauen selbst sind kaum zu hören. Allenfalls in der Belletristik wird das Thema aufgegriffen und findet eine breite Leserschaft, so z.B. 1982 mit Charlotte Worgitzkys »Meine ungeborenen Kinder«. Erst 2010 erscheinen 16 Interviews mit Frauen aus der DDR zu ihrem
18 Das Fehlen vorausgegangener öffentlicher und fachlicher Debatten macht sich u.a. in sanktionierenden Haltungen des medizinischen Personals in den Kliniken gegenüber den Frauen deutlich. Frauen schämen sich und schweigen ob der Vorwürfe, die ihnen begegnen. 19 Insbesondere Abgeordnete aus der CDU der DDR hatten in der Entscheidung der Volkskammer vom 09.03.1972 die Annahme des Gesetzes abgelehnt; die katholische Kirche wie die evangelische Kirche in der DDR äußern sich bereits im Januar 1972 (wenn auch modifiziert ) ablehnend und argumentieren maßgeblich damit, dass es für das Lebensrecht des Menschen keine Schranke geben könne. 20 Seit den frühen 1970er Jahren publizieren und forschen dazu u.a. der Biologe und Philosoph Uwe Körner, der Philosoph Ernst Luther, die Sozialhygieniker Karl-Heinz Mehlan und Ute Fritsche, die Gynäkologen Joachim Rothe, Gert Hennig, Helmut Kraatz und der Jurist Hans Hinderer.
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Schwangerschaftsabbruch, die die besonderen Erlebensdimensionen verdeutlichen.21 Veränderungen in der BRD werden nur gegen große Widerstände der klerikalen und konservativen Lobby erkämpft22: Als umgehende Antwort auf das im April 1974 nach heftigen Diskussionen und in knapper Abstimmung angenommene Gesetz zur Einführung einer Fristenlösung, erfolgte durch Abgeordnete der CDU/CSU die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts. In dessen Urteil wurden die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes erklärt und Leitsätze verkündet, die bis heute maßgebliche Orientierungsfunktion haben. Letztlich wurde eine Reform des § 218 StGB im Sinne einer Indikationenlösung verabschiedet, verbunden mit einer Notlagenindikation und Beratungspflicht – eine Streichung des § 218 StGB und eine außerstrafrechtliche Regelung sind nicht durchsetzbar gewesen. In den Debatten und Argumentationen ist immer wieder der reklamierte Schutz des ungeborenen Lebens zentral. Zwar haben die beiden Kirchen bereits 1970 die »Verpflichtung des Staates zur weltanschaulichen Neutralität« anerkannt, es wird klar unterstellt, dass der § 218 StGB ein Tötungsverbot enthalte und kein christliches Gebot (vgl. Ganter 1993: 199). Dennoch ist der Einfluss der christlichen Moralauffassung in der Frage des Lebensbeginns und Lebensschutzes auf die Rechtssprechung unverkennbar. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1975 hat eine weitgehende Wirkung: Die Rechte der Frau werden denen des sich embryonalen/fötalen Lebens gegenübergestellt und die Schutzpflicht des Staates »auf das sich im Mutterleib entwickelnde Leben« ausgedehnt, insofern es nicht durch die Frau selbst geschützt, weil gewollt ist. Der Lebensschutz gilt von Anbeginn – eine Fristenregelung verbietet sich auch aus dieser Logik. Es wird definiert: »Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.« (BVerfGE 39,1). Der postulierte Wertekonflikt zwischen der Selbstbestimmung der Frau und dem Lebensrecht des Embryos wird gelöst durch eine grundsätzliche Ächtung der Abtreibung als Tötungshandlung, die Definition des ungeborenen Lebens als selbstständiges und durch den Staat zu schützendes Rechtsgut und in einem angenommenen Konfliktfall23 der 21 Heike Walter führt und veröffentlicht diese Interviews in ihrem Buch »Abgebrochen. Frauen aus der DDR berichten« anlässlich der unsäglichen Äußerungen des ehemaligen Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts zu einer angeblichen »Tötungsmentalität« ostdeutscher Frauen. 22 Detaillierter dazu im Beitrag von S. Berghahn in diesem Buch. 23 Der Begriff des Konflikts wird zur zentralen Kategorie in der Neuregelung des § 218 StGB. Mitte der 1990er Jahre taucht er im § 219 StGB und dem darauf basierenden
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selbstbestimmten Entscheidungsmöglichkeit der Frau entzogen. Ausnahmen werden an ärztliche Indikationen gebunden, die einen Abbruch dann straffrei werden lassen, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft als unzumutbar (für Leben und Gesundheit) eingeschätzt werde oder ähnlich zu bewertende außergewöhnliche Belastungen dies begründen.
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UNGEBORENE L EBEN UND DIE AKTUELLEN E NTWICKLUNGEN Das Hineinwirken der christlich-katholischen Normsetzung zum ungeborenen Leben in das Rechtssystem eines säkularen Staats wirft viele Fragen auf, die hier nur angerissen werden können. Die Bestätigung und Untersetzung des 1975 gesetzten Ausgangspunkts geschieht durch ein neuerliches Bundesverfassungsgerichtsurteil im Kontext der Neuregelung des Abtreibungsrechts 1993. Vorausgegangen sind intensive weltanschauliche und politische Debatten zu einem Wertekonflikt, der in beiden deutschen Staaten konträr gelöst worden war. Bereits in diesen Debatten schwang mit, dass die Lösungsfindung des Konflikts zwischen dem Status des werdenden menschlichen Lebens, den zu definierenden Schutzansprüchen einerseits und der reproduktiven Autonomie von Frauen (und Männern) in ihren lebens- und familienplanungsbezogenen Entscheidungen andererseits nicht nur das Abtreibungsthema, sondern auch reproduktionsmedizinische Fragestellungen berührt. Bereits 1990 wägt das Embryonenschutzgesetz Schutzbedarfe embryonalen Lebens, Interessen von Forschung und Wissenschaft sowie reproduktive Bedarfe von Frauen zur Erreichung einer Schwangerschaft ab. Die Auswirkungen sind u.a. auch begrifflich spürbar: Wo zuvor noch von embryonalem/fötalem, vorgeburtlichem und/oder sich entwickelndem menschlichem Le-
Schwangerschaftskonfliktgesetz auf. Ein prinzipieller Wertekonflikt, in dem sich der Staat als Schutzinstanz für das vorgeburtliche Leben verpflichtet hat, wird mit der Einführung der sogenannten Beratungsregelung »verfassungskonform« (so der Auftrag im Einigungsvertrag) gelöst, indem dieser Wertekonflikt zugleich als Not- und Konfliktlage der Frau definiert wird. Die Beratungspflicht, die dem Schutz des ungeborenen Lebens zu dienen hat, intendiert die verfassungskonforme Konfliktbewältigung, nun auf individueller Ebene, und legitimiert darüber diese Gesetzesreform. Es wird Frauen ein Schwangerschaftskonflikt unterstellt und die Lösung des weltanschaulichen Wertekonflikts gemeint. In der Folge ruft der Begriff immer wieder Irritationen hervor (bei Beraterinnen, Betroffenen, aber auch Fachpolitikerinnen und -politikern) und zementiert die so gesetzten Prämissen.
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ben, gar von Leibesfrucht24 die Rede war, ist nun »das ungeborene Leben« fest installiert. Die insbesondere mit der Jahrtausendwende sich verstärkenden juristischen und ethischen Debatten um Spätabtreibungen oder im Zusammenhang mit bioethischen Fragestellungen dominieren heutige öffentliche Debatten. Der Embryo/Fötus als Grundrechtsträger und die Ausdehnung des Begriffs der Menschenwürde auf ihn werden immer wieder postuliert und ausargumentiert. Plurale Ansätze, differenzierte und dissenshafte Debatten sind kaum noch sichtbar oder finden in spezifischen Fachdebatten statt.25 Moralisierende Tendenzen prägen Sichtweisen auf Wertungswidersprüche und Lösungsperspektiven in der medialen Meinungsbildung. Sie bewirken eine zunehmende Implementierung dieser Ausgangssetzungen im Alltagsbewusstsein breiter Bevölkerungskreise – es wird an späterer Stelle darauf zurückzukommen sein. Bedeutsam für diese Entwicklungen ist die Auslegung der Grundgesetzartikel 1.1 und 2.2 durch das Bundesverfassungsgericht von 1975, nachdem die Menschenwürde schon dem ungeborenen Leben zukommt und die Pflicht des Staates darin besteht, dieses zu schützen, ggf. »auch gegenüber der Mutter« (BVerfGE 39,1). Das Urteil von 1993 betont nochmals: »Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung […]. Ein solcher Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen […]«, wobei er zur »Erfüllung seiner Schutzpflicht Ausnahmen definieren darf, die aber wiederum nach dem Kriterium der Unzumutbarkeit zu bestimmen« sind (BVerfGE 88,203). Diese »einheitliche staatliche Wertgebung« mit ihrem Allgemeingültigkeitsanspruch durchaus viel differenzierteren Sachverhalten gegenüber im Kontext eines »juristischen Interpretationsmonopols« schüre, so Baumann, den Glauben, dass es einen Konsens geben würde und müsse, lasse den Dissens verschwinden, habe eine Deutungshoheit erreicht und präge das Alltagsbewusstsein (vgl. Baumann 2001: 171 ff.). Die Ausbalancierung des Wertekonflikts ist zwar für das Abtreibungsthema kompromisshaft gelöst, die Wertungsprobleme, die derzeit die Behandlung der reproduktionsmedizinischen Themen kennzeichnen, lassen allerdings Rückwirkungen auf das Abtreibungsthema vermuten, letztlich auch eine 24 »Leibesfrucht« fokussiert auf die existenzielle Verbindung des Embryos mit dem Körper der Frau, »das ungeborene Leben« wird eine scheinbar selbstständige Wesenheit. 25 Hervorgehoben werden sollen die Beiträge von Eric Hilgendorf, Frank Dietrich, Frank Czerner und Tatjana Hörnle in dem Band »Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch« sowie Monika Frommel in einem Beitrag in der kritischen Justiz aus dem Jahre 2002.
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Fragilität hier gefundener Ansätze. Es ist zu bezweifeln, dass die »Rede vom Lebensrecht letztlich (nur – U.B.) metaphorisch« ist (Frommel 2002: 413). Diese Entwicklungen stehen im Kontext heutiger zu beobachtender Tabuisierung und Moralisierung von Abtreibung, des Verschwindens der Perspektive der Rechte von Frauen, der Arrangements von Professionellen und Politikerinnen und Politikern verschiedenster Couleur (Busch 2012:4 f.). Sie ist aber nur erklärbar, wenn weitergehende Fragen einbezogen werden:26 •
Die Familialisierung der Politik?
Bevölkerungspolitische Interessen bestehen angesichts demografischer Besorgnisse über Geburtenraten. Beim Nachdenken über Fertilitätsraten, idealen vs. realisierten Kinderwunsch, verschobene Geburten, richtige Zeitpunkte und gesellschaftliche Tendenzen in Deutschland werden Fragen nach Hintergründen für das Ungewolltsein von Schwangerschaften und die Entscheidungen zum Abbruch häufig nicht gestellt (vgl. Stock/Bertram u.a. 2012). Für die Politik ist das Thema Abtreibung mit dem seit 1995 beschlossenen parteiübergreifenden Kompromiss zur Reform des § 218 StGB weitgehend geklärt. Familie wird trotz aller Veränderungen der letzten Jahre nach wie vor primär traditionell gedacht. Menschen unterschiedlicher sexueller und geschlechtlicher Orientierungen sind in ihrer Familien- und Lebensplanung mit erheblichen Problemen konfrontiert.27 Im Mittelpunkt des frauen- und familienpolitischen Agierens der Bundesregierung steht in den letzten Jahren zunehmend die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. So sehr dies auch als ein Fortschritt gewertet werden kann, insbesondere aus westdeutscher Perspektive, ist dennoch zu befunden: Frauenrechte werden wesentlich über Familie definiert, wenn auch nunmehr im Kontext von Vereinbarkeitsthemen.28 Flankierungen durch familienpolitische Maßnahmen sind nach wie vor defizitär (Kinderbetreuungsangebote und -kosten, Erziehungszeiten) oder stellen problematische Weichen (Betreuungsgeld, Ehegattensplitting). Und wenn es um den Ausbau von Beratung und Versorgungsleistungen geht, geht es heute hochgradig um frühe Hilfen, Kinderschutz, vertrauliche Geburt – Lebens26 In den Beiträgen dieses Buchs werden diese Entwicklungen z.T. detaillierter weiter verfolgt (siehe u.a. M. Knecht, S. Berghahn und H. Kreß). 27 Trotz aller Veränderungen: Eheschließung ist heterosexuellen Menschen vorbehalten, reproduktionsmedizinische Behandlungen oder Adoption von Kindern sind nicht oder nur eingeschränkt möglich. 28 Zwar sind durchaus Modernisierungen im heutigen Familienverständnis zu verzeichnen. Aber Frauenpolitik ist in Familienpolitik aufgegangen, nahezu unsichtbar geworden.
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schutz vor und nach der Geburt. Insbesondere (werdende) Eltern in schwierigen sozialen Kontexten geraten in den Blick präventiver Konzeptionalisierung eines früh ansetzenden Kinderschutzes. Kinderschutz wird ggf. ausgeweitet auf die vorgeburtliche Phase (Schönecker 2013: 14). Paternalistische, fürsorgerische und partiell restriktive Tendenzen lassen Fokusveränderungen bis in das Selbstverständnis sozialer Arbeit hinein erahnen. •
Genderdiskurse statt Frauenemanzipation?
Auch in Genderdiskursen scheint sich Vieles aufzulösen, was zuvor feministisch debattiert war, bis hin zum Abtreibungsthema. »Mit einer Theorie, die die Auflösung der heterosexuellen Geschlechterdichotomie erklärt, geraten zwangsläufig Themen, die sich so nah am Körper bewegen und auch nur jene Körper betreffen, die gebärfähig sind, in die Kritik dieser Theorie, gehen darin unter oder werden, mangels Erklärungsmöglichkeiten, schlicht nicht beachtet« (KrolzikMatthei 2013: 28). Abtreibung ist – nicht zuletzt auch bedingt durch das fehlende Erleben einer faktischen Notwendigkeit durch die Mehrzahl der Frauen selbst – nur noch randständig präsent. So greifen heutige feministische und emanzipatorische Initiatorinnen dieses Thema entweder kaum, nicht nachhaltig, gar nicht oder mit eigenen großen Dissenzen in den Einschätzungen auf. Dazu tragen Auseinandersetzungen in reproduktiven Diskursen zur Frage der Selbstbestimmung und zum Verständnis/den Grenzen von Autonomie im Kontext der bioethischen Fragen bei, die durch gen- und reproduktionswissenschaftliche Entwicklungen forciert werden (Nüthen 2010: 5 ff.). Die Nicht- oder widersprüchliche Besetzung der Themen um den Status und die Schutzwürdigkeit des vorgeburtlichen Lebens lähmt auch in der Abtreibungsfrage.29 Mit der Frauenbewegung ist offenbar auch das Thema Abtreibung (fast) verloren gegangen (vgl. Krolzik-Matthei 2013), und eine Neuaneignung ist ungewiss. •
Beruhigung statt Beunruhigung?
Vieles, was vor 30-40 Jahren heiß umkämpft war, scheint heute erreicht. Auf der Grundlage einer »gelungenen Entkriminalisierung« wird eine »entspannte Liberalität« konstatiert (vgl. Frommel 2009: 181 ff.). Der Strafkontext ist im Alltag kaum spürbar. Das kann gewertschätzt werden im Vergleich zu Recht und Praxis der Jahrzehnte zuvor. In der Folge allerdings entstehen Arrangements, die problematisch sind, bleibt die Kriminalisierung der Frauen und Ärztinnen und Ärzte doch grundsätzlich weiterhin bestehen durch die strafrechtliche Einordnung des 29 Siehe den Beitrag von S. Berghahn in diesem Buch.
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Abbruchs einer Schwangerschaft als Straftat gegen das Leben. Das Recht ist Ausdruck von und Einflussfaktor auf Moral und führt über seine Implementation im Alltagsbewusstsein dazu, dass »die an das Letztentscheidungsdenken gewöhnten Bürger« (Baumann 2001: 263) kaum noch andere Vorstellungen zulassen können – noch dazu, wenn die Begründungen so massiv, grundsätzlich und selbstverständlich daherkommen und an positive moralische Impulse anknüpfen. Die Dominanz des Schutzauftrags für ungeborenes Leben und die Tötungsdiktion werden weitgehend angenommen oder respektiert, solange der Zugang zum Abbruch grundsätzlich gewährleistet ist – obzwar die Voraussetzungen, die der § 219 formuliert, eine beredte Sprache sprechen. Beunruhigung bleibt aus, Existierendes wird als Erfolg gewertet (»flexibles Schutzkonzept«, »kollektiver Lernprozess«, »praktische Konkordanz von Lebensschutz auf der einen und Achtung der Persönlichkeitsrechte der betroffenen Frauen auf der anderen Seite« – Frommel 2002: 413). Historisch betrachtet (und bezogen auf die BRD) ist der Zugang zum Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft tatsächlich so gut wie nie vorher, aber dennoch bleibt die grundlegende Einordnung als Straftatbestand unter den Tötungsdelikten. Selbst junge Frauen und Männer lehnen heute den Abbruch einer Schwangerschaft stärker ab, plädieren eher für restriktive Regelungen30 und sehen sich nur in ihrem Einzelfall ggf. in einer dann zu akzeptierenden Ausnahmesituation. Das Arrangement mit den Gegebenheiten betrifft auch beteiligte Professionelle: Ärztinnen und Ärzte, Beraterinnen in der Schwangerschaftsberatung, Verbände und Institutionen. Bewegungsorientierte Impulse fehlen nahezu völlig. •
Reproduktionsmedizin und Bioethik?
Die weitgehende Annahme von Schutzauftrag und Tötungsdiktion ist auch mit den bio- und reproduktionsmedizinischen Entwicklungen der letzten Jahre und damit verbundenen öffentlichen und fachlichen Debatten verknüpft. Bilder frühesten embryonalen Lebens – bereits die Momente, da durch die einsetzende Zellteilung eine neue potenzielle menschliche Identität entsteht oder der Embryo in der Gebärmutterschleimhaut andockt sind sichtbar – und die Phasen embryonaler und fötaler Entwicklung sind in 4-D-Format zu verfolgen. Die Reflexionen zum Beginn menschlichen Lebens und zu Status und Schutzwürdigkeit vorgeburtlichen Lebens sind nicht mehr nur theoretisch oder ideologisch, sondern berühren faktische Erlebensdimensionen von Ärztinnen und Ärzten. Rechtlich sind 30 Eine aktuelle Studie »Jugendsexualität 2013« an der Hochschule Merseburg ermöglicht einen Vergleich der Wandlungen von Einstellungen Jugendlicher in der Abtreibungsfrage über mehr als 30 Jahre.
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sie flankiert u.a. durch das Embryonenschutz- und Gendiagnostikgesetz. Und sie werden sichtbar in persönlichen Haltungen und fachlichen Debatten zu Präimplantationsdiagnostik, neuen Gentests, dem Verwerfen von überzähligen Embryonen bei reproduktionsmedizinischen Behandlungen u.a.m. Die Schnittstellen zwischen dem Abtreibungsthema und den bioethischen Debatten im angerissenen Kontext sind vorhanden und zeitigen Wirkung, scheinen sie doch genau in der Frage nach Status und Schutzwürdigkeit vorgeburtlichen Lebens zu liegen. Die Deutungshoheit der Debatten aus konservativer Richtung erfordert eine emanzipatorische Auseinandersetzung, die die Rechte von Frauen, Entscheidungsautonomie und reproduktive Selbstbestimmung wieder mitdenkt und sich der Fragen nach dem vorgeburtlichen Leben konstruktiv annimmt.31 Bedeutsam dafür sind Vielschichtigkeit und Interdisziplinarität statt schlichtem Polarisieren. Vor allem ist wichtig, die dem Thema inhärenten Spannungen anzunehmen, statt sie zu verdrängen.32 Werdendes menschliches Leben zu schützen – in vitro UND in vivo – erfordert nicht, ihn zum Träger von Grundrechten zu machen und daraus folgend individuelle verantwortliche reproduktive Entscheidungen zu erschweren oder zu verunmöglichen. •
Lebensschutz und Abtreibungsgegner/-innen?
Die Einflussnahme sogenannter Lebensschützer/-innen auf öffentliche Debatten hat sich verändert. Sie geschieht nicht mehr primär über lebensfremde und z.T. aggressive Präsenz im öffentlichen Raum, wenngleich es diese Aktionen immer noch gibt33, sondern entsteht zunehmend durch eine konzeptionell durchdachte Verbindung zwischen Abtreibungsthema und Lebensschutzthema aus konservativer Perspektive. Themen, die sich aus o.g. reproduktions- und biomedizinischen Entwicklungen ergeben, werden verbunden mit dem Abtreibungsthema. In diesem Kontext erfolgt nunmehr die Bezugnahme auf den verfassungsrechtlich definierten Auftrag, ungeborenes Leben zu schützen, nicht mehr mit Verweis auf 31 Bernhard Schlink sieht im Kampf um PID ein »Nachhutgefecht um den Schwangerschaftsabbruch«, so in seinem Beitrag im Spiegel 25/2011: Die Würde in Vitro. 32 Weiterführendes zum Thema in den Beiträgen von S. Berghahn, H. Kreß und M. Knecht in diesem Buch. 33 »Gehsteigberatungen« vor entsprechenden Einrichtungen sollen Frauen vom Abbruch abhalten. Die Dominanz im Internet zum Thema mit einschlägigen Visualisierungen und Texten soll meinungsbeeinflussend wirken. Große Demonstrationen sollen zeigen, dass sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Klageandrohungen gegen Ärzte wegen des angeblichen Verstoßes gegen das Werbeverbot sollen diese verunsichern und zum Rückzug zwingen.
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den Schöpfungsauftrag.34 In der Folge wird ein umfassendes Verbot für den Abbruch einer Schwangerschaft gefordert und dieses konsequent auf PID, Gentests u.a.m. bezogen. Die europäische Kampagne »One of us« macht das eindrucksvoll deutlich. Die Wirkung dieser Strategie geht deutlich über die der alten Kampagnen hinaus. Sie erreicht junge, moralisch ambitionierte Menschen und erweist sich als gut verbunden mit konservativer Politik und Wissenschaft. Die generelle Revitalisierung von Religion in unserer säkularen Gesellschaft erfolgt maßgeblich in der Verbindung mit dem Thema »Lebensschutz«35. Sie kann auch als Form betrachtet werden, in einer neoliberalen, globalisierten und dynamischen bis fragilen Welt Wertekohärenz und Eindeutigkeit zu bieten (vgl. Knecht 2006: 279) und ist Ausdruck einer Fähigkeit, moralische Fragen der Zeit aufzugreifen und von sich aus zu definieren. Das alles ist differenzierter und letztlich auch gefährlicher als die radikalen Varianten der »alten« Abtreibungsgegner. Ziel ist letztlich die verfassungsmäßige Festschreibung von gattungsspezifischen Rechten im Kontext der Abtreibung sowie reproduktionsmedizinischen Themen gegenüber. »Das Lebensrecht des Ungeborenen wird über alle anderen Interessen, Erwägungen, Werte, insbesondere die von Frauen, gesetzt und weitgehend sakralisiert.« (ebd.: 34).
S PANNUNGEN ,
DIE SICH NICHT AUFLÖSEN LASSEN
Auch in individuellen Erlebens- und Entscheidungsverläufen von Frauen spiegeln sich viele dieser Aspekte wider. Öffentliche Meinung, rechtliche Sanktionierung, moralisierende Debatten beeinflussen ganz persönliche Sichtweisen. Wenn das Recht des Ungeborenen prioritär gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Frau gesetzt ist und letzteres allenfalls über Ausnahmetatbestände wie soziale, medizinische oder andere Gründe legitimierbar wird, muss gerechtfertigt werden, was nicht Recht ist. Die Stigmatisierung von Abtreibung in der Gesellschaft, das Wegfallen der selbstbewussten Besetzung dieses Themas im öffentli-
34 Christlich fundamentalistische Argumentationen werden entweder naturwissenschaftlich untersetzt oder durch diese nahezu unsichtbar gemacht. 35 Der Begriff »Lebensschutz« in seiner moralisierenden, schwer zu hinterfragenden, weil nur differenzierten Argumenten zugänglichen Dimension, ist kaum mehr durch emanzipatorische Kräfte zu besetzen, so sehr sie auch immer wieder betonen, dass sie es sind, die den eigentlichen Lebensschutz sichern: pro choice und in Anerkennung der Rechte von Frauen auf reproduktive Selbstbestimmung –, zu der es keine andere Alternative geben kann als die der Gebärpflicht.
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chen Diskurs (zumindest im Vergleich mit den feministischen Positionierungen in den 1970er und 1980er Jahren) lässt keinen Raum für gemeinsame Legitimierungsideen oder gar für das Einfordern eines Rechts auf. Es ist eine Individualisierung des Themas zu beobachten, eine Vereinzelung der Frauen in ihrer Lebens- und Entscheidungssituation, ein Schweigen. Beobachtbar ist die gesellschaftliche wie individuelle Neigung, Antworten durch Polarisierung zu finden dadurch, dass Rechtfertigungspole bedient werden: einerseits Verbot von Abtreibung und Delegitimierung und andererseits Akzeptanz und Legitimierung. Wie Boltanski in seiner Analyse der dem Abtreibungsthema inhärenten Spannungen beschreibt, ist die Tendenz zur Polarisierung, zur Legitimierung oder Delegitimierung, ob gesellschaftlich oder individuell, damit verknüpft, dass mit diesem Thema durchaus beunruhigende Fragen verbunden sind: nach der menschlichen Existenz und der Verfügungsmöglichkeit darüber, nach der Fragilität des (eigenen) Seins. Abtreibung ist ein besonderes Thema, indem es damit konfrontiert. Mit der Entscheidung über Existenz und Nichtexistenz des Fötus wird dieser Fötus entweder zum absolut Bedeutsamen, zum »Ganzen« oder er wird ins Nichts entlassen. Der gesellschaftliche Umgang braucht Anerkennung der damit verbundenen Spannung statt Reduktion auf Ablehnung, die letztlich dazu beiträgt, dass Abtreibung in der Lebenswirklichkeit der Menschen stigmatisiert wird und ein Geheimnis bleibt, »das die Spatzen von den Dächern pfeifen« (Boltanski 2007: 40). Wo diese Spannung auf gesellschaftlicher Ebene nicht gut gehalten wird, werden über die inhärente Entwertung weiblicher Entscheidungen Impulse gesetzt, die sich auf verhängnisvolle Weise mit dem ohnehin gespürten Besonderen an der Entscheidung überlagern können und zu zusätzlichen Entscheidungs- und Verarbeitungsproblemen führen können. Ungewollte Schwangerschaft und die Entscheidung für oder gegen ihr Austragen sind immer auch eine ganz individuelle Herausforderung, in der Frauen, ihre Partner oder beteiligte Professionelle das Besondere der Situation spüren. Es ist die sehr unmittelbare, ja leibliche Erfahrung einer Option, zu der eine Frau sich verhalten muss: den Fötus »ins Nichts zu entlassen«, ihn nicht zu »adoptieren«, die Schwangerschaft nicht anzunehmen, oder die Schwangerschaft anzunehmen und dem Embryo/Fötus damit zugleich höchsten Wert zu geben – ihn zum projizierten Kind werden zu lassen in all seiner Einzigartigkeit. Der »Zustand auf Probe« ist fühlbar, und zwar geistig, seelisch und auch körperlich. Schwangerschaft, auch die ungewollte, ist die körperliche Erfahrung zwischen »Fülle«, die zur Disposition gestellt sein kann und damit verbundener »Unruhe«. Schwangerschaftsabbruch als Abschied von einem möglichen »Projekt Kind« sucht, auch wenn es eine sehr klare Entscheidung ist, die innere Positionierung zu Gründen, um sich die Nichtannahme selbst zu erklären (vgl. Boltanski 2007:
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167 ff.). Das ist so auch unter Bedingungen der Legalisierung der Abtreibung.36 Auch wenn Frauen klar entschieden sind, spüren sie das Besondere, erklären sie sich ihre Entscheidung. Und sie gehen in der Regel sehr intim damit um. Die Erfahrung der Schwangerschaft, wenn auch nur für diesen Moment, und der Fötus – auch in seiner Abwesenheit – hinterlassen einen »Abdruck« (Boltanski). Wie Frauen dies in ihr Leben einordnen und es erleben, ist von vielen verschiedenen Bedingungen abhängig. Viele erleben den Abbruch einer Schwangerschaft als Chance, als wichtige Erfahrung in ihrem Leben. Sie wachsen an dieser Entscheidung, gehen ihren Weg. Sie sind befreit, aber dennoch auch traurig37, denn der Abschied von einer Möglichkeit bleibt38.
R ECHTE UND E NTSCHEIDUNGSKONTEXTE HEUTIGER F RAUEN Diese Spannung wahrzunehmen und damit umzugehen, ist wichtig in der individuellen wie der gesellschaftlichen Betrachtung der Besonderheit des Abbruchs einer ungewollten Schwangerschaft im Leben von Frauen. Das Recht auf reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung muss auch in dieser Frage souverän, d.h. ohne schuldig gesprochen zu werden oder sich schuldig fühlen zu müssen, wahrgenommen werden können, sonst bleibt dieses Recht in dieser zentralen Frage weiblicher Sexualität uneingelöst. Vielfach sind Schwangerschaften auch heute noch – trotz aller Planungsmöglichkeiten – ungeplant, werden dann gewollt, angenommen oder nicht gewollt. Entscheidung ist notwendig, wird getroffen, in der Regel klar und selbstbestimmt. Manche Frauen erleben ein qualvolles
36 Die Berichte von Heike Walter über das Erleben von Frauen aus der DDR geben dem eine konkrete sinnliche Dimension. 37 In Anlehnung an den Titel eines differenzierten Buchs zu Erlebensdimensionen von Frauen in diesem Kontext (E. Meyer u.a.: Traurig, aber befreit zugleich.). 38 Das Post Abortion Syndrom gehört zu den Mythen der Abtreibungsgegnerinnen und gegner. Über ausgesprochene Ambivalenzen ihrer Klientinnen, die in psychische Krisen münden, berichten auch Beraterinnen eher selten. Wenn diese beobachtet werden, dann ist dies meist mit Konflikten, die schon länger bestanden und/oder mit der psychischen Situation der Klientin und ihren Konfliktverarbeitungsmodi verknüpft. Mehrheitlich verarbeiten Frauen den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft gut und integrieren diese Erfahrung in ihr Leben. Dazu mehr in den Beiträgen von P. Schweiger und J. Franz.
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Hin- und Hergerissensein, dazwischen alle nur denkbaren Facetten. Mehrheitlich haben Frauen einen sofortigen Impuls, sind nach relativ kurzer Zeit der Selbstbesinnung oder der Vergewisserung mit Partner, Freundin oder anderen nahen Bezugspersonen in der Lage, zu einer guten Entscheidung zu kommen, wie immer diese ausfällt. Eine gute Entscheidung zu fällen, ist von Vielem abhängig, u.a. auch von den gesellschaftlichen Botschaften, die anerkennen oder stigmatisieren. Letzteres zwingt zu zusätzlicher moralischer Rechtfertigung in einer Situation, die ohnehin die Selbsterklärung intendiert (s.o.), und trägt ggf. bei zu Schulderleben und konflikthafter Verarbeitung oder zur als notwendig empfundenen Abgrenzung vor der inneren Auseinandersetzung. Beides behindert Souveränität in der Wahrnehmung des basalen Rechts, über den eigenen Körper, das eigene Leben zu bestimmen, auch wenn dadurch eine andere Option verunmöglicht wird. Die Verunmöglichung der in dieser Schwangerschaft liegenden Option dennoch als Gewinn für Anderes zu erleben, muss Frauen und ihren Partnern zugänglich sein – auch dies ist eine Frage von Menschlichkeit und Menschenwürde. Wenn nach den Hintergründen für das Entstehen ungewollter Schwangerschaften gefragt wird, so ist dies nicht auf mehr oder weniger gelingende, verantwortliche Verhütung zu reduzieren. Selbst dieser argumentative Zusammenhang impliziert das Schuldthema und das Versagen, ggf. die Leichtfertigkeit und die alte argwöhnische Beurteilung triebhaften Verlangens in der Sexualität. Individuell wird der Anspruch, verantwortlich zu handeln, in einer von Rationalität geprägten Welt namentlich von den Frauen angenommen und konstituiert die innere Bereitschaft, sich schuldig zu fühlen, wenn Verhütung misslingt. Ansprüche an gelingende Elternschaft, die optimale Entwicklung von Kindern, gute Partnerschaft und erfülltes Familienleben – das Ganze bei durchaus eigenen Plänen und Vorstellungen beruflicher Entwicklungen, Lebensansprüchen und Rahmenbedingungen – beeinflussen zudem das Entscheidungsgeschehen. Individuelle und gesellschaftliche Maßstäbe haben sich verändert und sind in ihrer Heterogenität und im Kontext der realen Bedingungsgefüge nur schwer auszubalancieren. Wünsche und Bedürfnisse, Werte und Normen, Erwartungen und Ansprüche konkurrieren miteinander und mit Realitäten. Entscheidungsspielräume vergrößern sich, einfache Regeln stehen nicht mehr zur Verfügung oder werden entwertet. Langfristig bindende Entscheidungen, die persönliche Autonomie einschränken, aber auch verantwortliches Dasein für und in Familie (noch) nicht ermöglichen, führen dazu, dass man den »Kinderwunsch in der Schwebe« halten muss (vgl. u.a. Ehrhardt/Huinnink/Kohli/Staudinger 2012: 86/103). Befragungen von Frauen und Beraterinnen (Busch 2009: 24 ff.) haben ergeben: Neben dem vorhandenen oder nicht vorhandenen aktuellen Kinderwunsch hat das subjektive Erleben des »richtigen Zeitpunkts« einen hochgradigen Einfluss auf die Annah-
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me oder Nichtannahme einer ungewollten Schwangerschaft – keineswegs linear kausal die reale soziale Lage.39 Späterer Berufseinstieg und lange Zeit unklare bzw. ungenügende finanzielle soziale Sicherungen, auch bei den Partnern der Frauen, führen dazu, dass eine Schwangerschaft heute noch mit 29 als zu »früh« erlebt werden kann, mit 35 als »jetzt dran« – zu einem früheren Zeitpunkt mithin auch als noch nicht gewollt. Das fertile Fenster wird kleiner, die »Rushhour des Lebens« verlangt, in kurzer Zeit gleichzeitig Vieles zu bewältigen, und Entscheidungen erfordern die volle Präsenz, werden als »Entweder – Oder«Entscheidungen erlebt (Ehrhardt u.a. 2012: 102) und beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, sich bei ungewollter Schwangerschaft für den Abbruch einer »nicht in der Zeit« seienden Schwangerschaft zu entscheiden.40 In einer Welt, in der Kinder seltener geworden sind, erhält DAS Kind einen besonderen Platz im Leben. Und eine Entscheidung für einen Abbruch kann, wie eine Beraterin sagte, eine sehr fürsorgliche und liebevolle Entscheidung sein für ein künftiges Kind, das wirklich gewollt sein soll zum »richtigen Zeitpunkt«. Zwei Aspekte sind vor allem hervorzuheben: •
Der Einfluss der Wandlungen in den sozialen Lebensbedingungen, beruflichen Herausforderungen, Lebensansprüchen und Rollenverständnissen auf das Entscheidungsverhalten bei ungewollter Schwangerschaft betrifft Frauen aus unterschiedlichen Bildungs- und sozialen Schichten. Er wirkt vor allem über das subjektive Erleben der realen, insbesondere aber auch der antizipierten künftigen Lebensbedingungen. Deshalb ist vielleicht stärker noch als vor 20 Jahren für eine große Gruppe von Frauen mit sehr unterschiedlichem Sozial- und Bildungsstatus, vor allem aber für die höher qualifizierten Frauen, die Gefahr der dauerhaften beruflichen Abkopplung, der Unerfüllbarkeit der vielfältigen diesbezüglichen und darüber hinaus reichenden Le-
39 In diesem Buch werden diese Aspekte insbesondere durch C. Helfferich und H. Klindworth sowie P. Schweiger und J. Franz näher dargestellt. Die aktuelle Studie im Auftrag der BZgA, die C. Helfferich zum Thema verantwortet, ist die erste größere empirische wissenschaftliche Befassung mit Entscheidungshintergründen und -verläufen bei ungewollter Schwangerschaft seit mehr als 20 Jahren. 40 Die soziale Situation der Frauen und Familien hat darauf einen bedeutsamen Einfluss. Unterschiede in den reproduktiven Entscheidungen und den erlebten Entscheidungsspielräumen nach dem Sozial- und Bildungsstand der Frauen und Männer sind evident. Sie sind in den Studien zu Teenagerschwangerschaften ebenso herausgearbeitet wie in »frauen leben«, »Männer Leben« oder der jetzigen aktuellen Studie von C. Helfferich.
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benspläne und last but not least eines dauerhaften sozialen Abstiegs relevant. Gerade vor dem Hintergrund unkalkulierbarer Lebenswelten, die doch zugleich optimales Funktionieren und Kalkulieren abzuverlangen scheinen, haben partnerschaftliche und familiale Sicherheiten eine große Bedeutung. Je instabiler Partnerschaften sind, je weniger Vertrauen Frauen in die Qualität ihrer Beziehung, die familien- und partnerschaftsorientierte Haltung ihrer Partner haben, je eher sich Partner auch gegen das Austragen der Schwangerschaft artikulieren, desto eher entscheiden sich Frauen für den Abbruch. Dies steht nicht für Abhängigkeit vom Partner, sondern ist in der Regel eine eigenständige Entscheidung im Interesse der persönlichen und familienbezogenen Lebensplanung.
Dies alles geht ein in Irritationen für Lebensplanungen in einer Welt der Unkalkulierbarkeit, Mobilität, Unsicherheit, in einer Welt, in der alte Geländer nicht mehr existieren, dafür aber sowohl ideelle als auch materielle Fragilitäten – global, ökologisch, wirtschaftlich, aber auch ganz konkret lebensplanbezogen. Ein »Projekt« Kind oder ein »Projekt« Beziehung zu wagen, will überlegt sein – heute mehr denn je. Das ist nicht einfach nur eine Frage nicht gelingender Kommunikation oder psychologischer Dilemmata, sondern systematisch, durch gesellschaftliche Entwicklungen bedingt (vgl. Illouz 2012) und mitzudenken, wenn es um Debatten zu verantwortlicher Entscheidung und individueller Positionierung heute geht – bis hin zum Thema Schwangerschaftsabbruch.
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Diskurse zum Schwangerschaftsabbruch nach 1945 Wie gesellschaftlich relevante (Be-)Deutungen entstehen und sich verändern D APHNE H AHN »Wenn es richtig ist, dass Mutterschaft die nach wie vor stärkste Anbindung an die traditionelle Frauenrolle ist, dann können die Bedeutung von empfängnisverhütenden und regelnden Mitteln sowie die rechtlichen Möglichkeiten, Schwangerschaften zu beenden (§ 218) für die Herauslösung der Frauen aus den traditionellen Vorgaben wohl kaum überschätzt werden.« (BECK 1986:183), (HERVORH. I. O.)
E INLEITUNG Die Art und Weise, wie in einer Gesellschaft über Reproduktion, d.h. über Schwangerschaft ebenso wie über Schwangerschaftsabbruch geredet, geschrieben und gedacht wird, unterliegt historischen Veränderungen. Ebenso historisch veränderlich ist die individuelle Wahrnehmung von Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch, die eng mit diesen gesellschaftlichen Vorstellungen verwoben bzw. eine Folge davon ist. Der folgende Beitrag widmet sich der Frage, wie gesellschaftliche Vorstellungen entstehen und sich verändern, welchen Einflüssen sie unterliegen sowie der Art und Weise, wie sie sich in individuellen Vorstellungen und Wahrnehmungen niederschlagen. Der hier verfolgte Ansatz
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ist ein diskursanalytischer. Ziel ist, Diskurse zum Schwangerschaftsabbruch zu beschreiben und zu zeigen, wie über das Thema Abtreibung gedacht und geurteilt wird sowie diese Diskurse historisch einzuordnen. Der Rahmen der Betrachtung erstreckt sich auf die Zeit zwischen dem Ende des Nationalsozialismus 1945 bis heute. Der Beitrag enthält zwei Teile. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht eine diskursanalytische Betrachtung wissenschaftlicher medizinischer und juristischer Texte zum Thema Schwangerschaftsabbruch, in denen Bedeutung in unterschiedlichen Kontexten konstruiert wird. Der Zeitrahmen dieser diskursanalytischen Betrachtung beginnt nach 1945 und schließt zwei historische Wenden in Deutschland ein, die jeweils mit immensen Auswirkungen auf rechtliche Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch verbunden waren. Ich werde dafür Diskursstränge herauspräparieren, in die das Thema Abtreibung eingebettet war und ist. Im Zeitverlauf will ich zeigen, wie verschiedene Stränge des Diskurses (u.a. der bevölkerungspolitische Diskurs, der Modernisierungs- und Individualisierungsdiskurs sowie der feministische Diskurs) miteinander verwoben sind und zu spezifischen Deutungen, zu einem spezifischen Umfang mit dem Schwangerschaftsabbruch beitrugen.1 Im zweiten Teil, der sich auf die Zeit nach 1990 richtet, nehme ich den Faden aus einer anderen Richtung auf und werde auf eine Arbeit zurückgreifen, die die öffentliche Meinungsbildung zur Abtreibung nach 1989 zum Gegenstand hatte (Gerhards/Neidhard 1998). Außerdem habe ich nach den Inhalten aktueller Veröffentlichungen recherchiert und Zuschriften an die Wochenzeitung »DIE ZEIT« nach einem Beitrag zum Thema Schwangerschaftsabbruch am 12. August 2012 im Hinblick auf ihre hegemonialen Deutungsmuster analysiert.
1
Grundlage dieses ersten Teils ist meine im Jahr 2000 veröffentlichte Dissertation (Hahn 2000), in der ich allerdings nicht primär den Schwangerschaftsabbruch, sondern die Sterilisation und den Umgang mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Ost-West-Vergleich im Blick hatte. Dennoch denke ich, dass ich Entwicklungslinien aufzeigen kann, die bis heute reichen und die Erklärungskraft dafür haben, wie heute das Thema Schwangerschaftsabbruch diskursiviert wird. Die gesamte Analyse ist im Campus Verlag unter dem Titel »Biopolitik und Modernisierung: Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach 1945« erschienen.
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W AS
KANN EINE DISKURSTHEORETISCHE LEISTEN ?
P ERSPEKTIVE
Meine Untersuchungsperspektive orientiert sich an einer wissenssoziologischen Diskursanalyse, deren Perspektive von der Annahme geprägt ist, dass individuelle und gesellschaftliche Realitäten als durch Wissen vermittelt verstanden werden. Wissen wird dabei nicht als absolut wahr und unveränderlich betrachtet, vielmehr stellt es sich als Ergebnis historischer Entwicklungen und diskursiver Aushandlungsprozesse dar. Im Anschluss an Foucault verstehe ich Diskurse als Praktiken, die »systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1981: 74). Die hier analysierten medizinischen und juristischen Texte betrachte ich in Anlehnung an Foucault als Elemente eines Diskurses. Nach Foucault enthalten Diskurse Aussagen, die einem gleichen Formationssystem angehören und zur kollektiven Produktion von Sinn beitragen (vgl. Foucault 1981). Diskurse haben eine Geschichte, die rekonstruiert werden muss, wenn man ihren aktuellen Gehalt verstehen will, und die durch Diskursstränge strukturiert sind (vgl. Jäger 1993). Diskurse werden hier auch verstanden als »Praktiken des Sprach- oder Zeichengebrauchs durch gesellschaftliche Akteure, die institutionell oder thematisch abgrenzbar sind und dabei Bedeutungen konstituieren« (Keller 2008). Soziale Wirklichkeit wird als Wirkung von Diskursen aufgefasst und durch deren Rekonstruktion gesellschaftliche Regelhaftigkeiten erklärt bzw. gesellschaftliche Effekte aufgezeigt (vgl. Keller 2008). Diskurse sind durch Diskursstränge strukturiert, die auf verschiedenen diskursiven Ebenen wie Wissenschaft, Politik, Alltag erscheinen. Grundlage der Analyse waren zunächst medizinische und juristische Texte, d.h. Artikel in Zeitschriften sowie Fachbüchern, die als Äußerungen verstanden werden, in denen sich ein oder mehrere Diskurse in Form konkreter dokumentierter Aussagen materialisieren. Der einzelne Text besitzt dabei den Charakter eines Diskurselementes. In meiner Analyse habe ich die medizinischen und juristischen Texte aus Fachzeitschriften bzw. Fachbüchern danach befragt, wer in welchem Kontext mit welcher Absicht dazu zu Wort kommt und welche Deutungen sich tendenziell als legitime und legitimierte durchsetzen. Gegenstand der Analyse ist auch die Beantwortung der Frage, wie verschiedene Themen miteinander verknüpft werden, neue Verknüpfungen entstehen und durch ihre Einbettung in verschiedene Diskurse (die oft schon eine längere Geschichte haben) zur symbolischen (Be-)Deutung gesellschaftlicher Veränderungen gebracht werden. Für den vorliegenden folgenden Beitrag präpariere ich verschiedene Diskursstränge zum Thema Schwangerschaftsabbruch heraus. Im Zentrum steht dabei, wie über bestimmte Themen, in deren Kontext Abtreibung vorkommt, kulturelle
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Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als selbstverständliche, legitime diskursiv aktiviert und reproduziert werden.
AUSGANGSLAGE
NACH
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Um zu verstehen, welche Themen um den Schwangerschaftsabbruch diskursiviert wurden, soll zunächst kurz der politische, wirtschaftliche, demografische und soziokulturelle Kontext dieser Zeit skizziert werden. 1.
2.
Politische Situation: Nach der kriegsbedingten Teilung befand sich Deutschland an der Schnittstelle zweier politischer Weltsysteme. Mit der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Alliierten (die spätere DDR durch die Sowjetische Besatzungsmacht, die spätere Bundesrepublik durch die Amerikaner, Engländer und Franzosen) begann eine Zuordnung zu politischen Systemen und Einordnung in ein bipolares Weltsystem, das bis 1989 Bestand hatte. Damit verbunden war stets auch ein symbolischer Kampf um das bessere gesellschaftliche System. Mit der Teilung verbunden war die Auseinanderentwicklung der Wirtschaftsverhältnisse in Ost- und Westdeutschland. In der sowjetischen Besatzungszone ging der Wiederaufbau langsamer voran, weil dort größere Reparationsleistungen geleistet wurden. In den westlichen Besatzungszonen gab es ab 1946 wirtschaftliche Unterstützung durch die Amerikaner, und mit der Währungsreform 1948 setzte dort ein immenser wirtschaftlicher Aufschwung ein. Auch der wirtschaftspolitische Ordnungsrahmen musste neu aufgebaut werden. Der westliche Teil integrierte sich in ein marktwirtschaftliches Umfeld, der östliche kam unter sowjetischen Einfluss. Beide Teile nahmen eine unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung. Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges waren in Ostdeutschland dramatischer als im Westen. Vertreibung, Flucht, Abbau von Industrieanlagen und Abwanderung in den Westen erodierten die Wirtschaft im Osten. Demografische Situation: Nach Kriegsende gab es von einem essenziellen Mangel an Männern begleitete demografische Disproportionen und eine überdurchschnittlich hohe Scheidungsrate für die damalige Zeit. Die Menschen, die aus der DDR abwanderten, waren hoch qualifiziert. Hunderttausende von Akademikern und Handwerkern verließen das Land bis zum Mauerbau 1961. Während im Westen die Bevölkerung zunahm, blieb im Osten die Bevölkerung durch die Zuwanderungen einer beträchtlichen Zahl von Umsiedlern und trotz der Abwanderungen bis 1949 relativ stabil, um
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nach 1950 wieder zu sinken. Insbesondere kranke und schwache Personen verblieben auf den sowjetisch besetzten Territorien, während die physisch stärkeren in die westlichen Gebiete migrierten. 1946 ergab eine Volkszählung in der sowjetischen Besatzungszone einen Umsiedleranteil von 20,5 %. Soziokulturelle Situation: Im Zuge der Besatzung und auch in der Folgezeit kam es zu einer Vielzahl von Vergewaltigungen durch alliierte Soldaten. Viele Wohnungen waren zerstört, in Städten bis zu 50 %. Es gab essentielle gesundheitliche Probleme und große Mühen, die physische und psychische Gesundheit bzw. auch Leistungsfähigkeit der Bevölkerung wiederherzustellen. Die demografische Verschiebung zugunsten eines überproportional hohen Anteils an Frauen vor allem im Osten war von mehreren relevanten sozialen Entwicklungen begleitet: Durch die in Kriegszeiten notwendige Selbständigkeit von Frauen war ein Bedeutungsverlust des Mannes als Ernährer eingetreten, der durch die demografische Situation in der Nachkriegszeit fortgesetzt wurde. Es gab 1946 mit 19,3 % im Osten einen hohen Anteil illegitimer Kinder, die nicht in die traditionelle Familienform hineingeboren wurden. In beiden Teilen Deutschlands war man bestrebt, in den Nachkriegsjahren ein stabiles Sozialgefüge wiederherzustellen, u.a., um die verschobene Bevölkerungsstruktur wieder in funktionsfähige Strukturen zu transformieren. Dazu gehörten im Westen die Wiederherstellung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und die Stärkung des bürgerlichen Familienmodells. Die Etablierung der Berufstätigkeit der Frau wurde als Gefahr für die Familie gewertet und wurde – anders als in der DDR – als gesellschaftliche Bedrohung diskursiviert.
D ER BEVÖLKERUNGSPOLITISCHE D ISKURS IM W ESTEN D EUTSCHLANDS Für moderne Gesellschaften ist die Regulierung der Bevölkerung ein Aspekt ihrer Existenz, ihrer Stabilität und ihrer Zukunft. Die Kontrolle der Bevölkerung, deren Wachstum, die Geburten- und Sterberaten und auch der Zugang und die Zahl an Abtreibungen sind daher ein wichtiges Feld staatlicher Politik. Die rechtliche Situation zum Schwangerschaftsabbruch für das westliche Besatzungsgebiet war in den Bundesländern sehr heterogen. Durch Kontrollratsbeschluss wurde zwar die im Nationalsozialismus für Abtreibung eingeführte Todesstrafe aufgehoben. Gültig blieb der § 14 I des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, der eine Abtreibung aus medizinischer Indikation erlaubte.
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Es kam nach 1945 zu einem Anstieg an Abtreibungen, der mit der Lockerung des Abtreibungsverbots durch den Kontrollratsbeschluss erklärt wurde. In diesem Kontext und ungeachtet der sozialen Lebenssituation der Frauen damals wurden mit dem Argument eines in düsteren Farben beschriebenen Notstands der Bevölkerung Vorschriften gefordert, die eine weitgehende Überwachung aller erlaubten Abtreibungen sowie der verbotenen und entdeckten Versuche ermöglichen sollten. Begründet wurden diese Vorschriften mit der notwendigen Schutzpflicht des Staats, Frauen vor »gewissenlosen Männern« schützen zu müssen, wobei damit allein jene Männer gemeint waren, die Abtreibungen vornahmen. Mit dem Verweis auf das Schutzbedürfnis von Frauen, deren Leben und deren Gesundheit hier als gefährdet eingeordnet werden, rückt der Aspekt der Fürsorge in das Zentrum der Argumentation. Damit ist der Bevölkerungsdiskurs auch mit einem Diskurs über Geschlechter verbunden, in dem das Bild der hilfebedürftigen Frau belebt wird, die auf den paternalistischen Schutz des Staats angewiesen ist. Zu Wort kamen meistens Juristen und Mediziner, einzelne Genetiker; Frauen spielten dabei keine Rolle. Diese Verordnung gab es dann ab 1951. Ärztinnen und Ärzte wurden damit verpflichtet Fehl- und Frühgeburten von Frauen zu melden, die auf strafbare Handlungen also verbotene Abbrüche hindeuteten. Praktisch jedoch kamen diese Fälle selten zur Anzeige und führten kaum zu strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, weil Ärztinnen und Ärzte sich weigerten, die Frauen anzuzeigen. In der Not der Nachkriegszeit waren die Strafandrohung und ausgefeilte Kontrollmechanismen für Abtreibungen schwer zu rechtfertigen und ließen sich faktisch kaum durchsetzen. In die 1950er Jahre hinein blieb eine aus dem Nationalsozialismus kommende Argumentationsfigur im Bevölkerungsdiskurs zum Thema weiterhin zentral, um die Legalisierung ebenso wie die Legitimierung der Abtreibung zu verhindern. Dies geschah mit Bildern wie »Aderlass an der Volkssubstanz«, der nicht gleichgültig hingenommen werden könne, und die damit an den Nationengedanken anknüpften. Ins Spiel gebracht wurde bereits in den 1950er Jahren die Metapher der »Überalterung«. Beide Metaphern rufen Assoziationen mit Krankheit und Tod hervor und wurden von der Forderung begleitet, beides verhindern zu müssen. Im medizinischen Diskurs der 1950er Jahre in Westdeutschland wurde auch die Gefahr der wachsenden Selbstständigkeit von Frauen thematisiert, die unabhängig entscheiden wollten, ein Kind auszutragen oder nicht und zu welchem Zeitpunkt dies geschehen solle. Das bedeutet, dass der medizinische Diskurs sich sehr intensiv um bevölkerungspolitische Aspekte rankte und diese gesellschaftlichen Entwicklungen als Gefahr thematisierte.
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In den 1950er Jahren rechtfertigte nur eine medizinische Indikation einen Abbruch, und er galt dann als begründet, wenn ein Risiko für das Leben der Mutter bestand, die dann im Todesfall erstens ihre eigenen vorhandenen Kinder nicht mehr aufziehen und zweitens keine weiteren gebären kann. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre veränderte sich der Schwerpunkt der Argumentation weg vom Verbot hin zur pädagogisch orientierten Fürsorge. Formuliert wurde das Ziel, »durch Erziehung und Belehrung, durch Selbstdisziplin und feste Haltung« Frauen zum Schwangerbleiben zu bewegen. Dazu wurde ein neues Methodenrepertoire entwickelt: die Selbstäußerungen eines Fötus, in denen das Ungeborene erstmals als eigenständiges Subjekt auftritt. In dieser Konstruktion wurde das sprechende ungeborene Individuum der Mutter gegenübergestellt und konnte die Mutter als Mörderin konstituiert werden. Materialien mit Monologen dieser als Subjekt konstituierten Föten wurden damals allerdings nicht allen Frauen, sondern jungen ausgehändigt, was die Argumentation wiederum auch als bevölkerungspolitisch begründet deutlich macht. Eugenische Abtreibungen wurden explizit abgelehnt, argumentativ mit den Massentötungen im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten verbunden und die individuelle Handlung einer Abtreibung mit dem Genozid gleichgestellt. Durch diese Argumentation wurden Frauen, die eine Abtreibung wünschten, zu potenziellen Massenmörderinnen. Diese Deutung findet sich heute noch, ist aber im Vergleich zu damals kaum noch legitimierbar. Im Westen gab es keine Indikation, die Abbrüche nach Vergewaltigungen erlaubte. In der ärztlichen Praxis allerdings wurden sie als medizinisch induziert interpretiert: Als Grund wurden beispielsweise reaktive Depressionen angegeben. Es war zwar auch zu dieser Zeit anerkannt, dass Vergewaltigungen zu ernsten seelischen Schäden führen können, die Gefahr eines offeneren Zugangs zu Abtreibungen wurde dennoch als bevölkerungspolitisch brisanter eingeordnet bzw. als übergeordnetes kollektives oder vielmehr nationales Ziel dem individuellen Leid übergeordnet. Bevölkerungspolitische Diskurse sind eng verbunden mit kollektiven Symbolisierungen, die den Prozess der Nationenbildung begleiten. Bis in die 1960er Jahre hinein blieben Argumentationsfiguren im Bevölkerungsdiskurs wichtig, die sich um die Erhaltung der Nation rankten und die weiterhin dazu dienten, die Legalisierung ebenso wie die Legitimierung der Abtreibung zu verhindern. Zur Regulierung der Bevölkerung gehört aber nicht nur dafür zu sorgen, dass möglichst viele Kinder geboren werden, sondern auch, dass bestimmte nicht geboren werden. Eugenische Indikationen für den Schwangerschaftsabbruch abzulehnen, hieß eben nicht grundsätzlich auf die dahinter stehenden Ideen zu verzichten. Anders als im Osten Deutschlands war im Westen das Gesetz zur Ver-
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hütung erbkranken Nachwuchses noch in Kraft, was bedeutet, dass es ein rechtliches Regulativ gab, unerwünschten Nachwuchs zu verhindern. Bis zum Ende der 1960er Jahre wurde versucht, zwangsweise durchgeführte Sterilisationen zu legitimieren, und die Diskussion über Regulierungsformen zur Verhinderung unerwünschten Nachwuchses war ohnehin die gesamte Zeit virulent. »Dohrn, Hamm: Ich habe in der vorigen Woche eine 18-Jährige aus absolut asozialen Verhältnissen operiert, die ihr viertes Kind bekam. Ich habe eine 29-Jährige operiert, die ihr neuntes Kind bekam. Die Indikation war die, dass die Menschen zu gleichgültig, zu dumm oder zu wenig opferbereit seien, weitere Schwangerschaften zu verhindern, dass sie nicht bereit sind, die Pille zu nehmen oder irgendeine andere Methode der Antikonzeption durchzuführen. Ich meine auch, die eugenische Indikation sei in einem ganz anderen Sinne noch zu begrüßen, als etwa in dem, dass man dadurch nur Erbkrankheiten verhindert. Es ist eine bekannte Folge der Empfängnisverhütung, dass sie dysgenetisch wirkt, indem die Beherrschten, Disziplinierten, ich möchte sagen, die Intelligenteren sich der komplizierten Methoden mit Erfolg bedienen, während die weniger Intelligenten und weniger Beherrschten, also die, an deren Ausbreitung uns eigentlich nicht gelegen sein kann, ganz sorglos eine unbegrenzte Zahl von Kindern in die Welt setzen. Ich meine, auch in dieser Hinsicht sei es gut, wenn da, wo der Entschluss zur Beschränkung der Kinderzahl einmal vorhanden ist, das Fleisch aber schwach ist, der Arzt derjenige wird, der den Entschluss sichert.« (Bockelmann 1969: 26, zit. nach Hahn 2000: 102)
Gegen Ende der 1960er Jahre trat das Argument des Volkswohls in den Hintergrund, es war als Legitimationsmuster weitgehend desavouiert und nicht mehr zeitgemäß. In den Vordergrund schoben sich Argumente, die an der individuellen Belastung und Gesundheit ansetzen und die in einen weit umspannenden Individualisierungsdiskurs eingebettet waren. Gleichermaßen wie sich die Argumentation auf die individuelle Belastung verschob, verschwand der Begriff der eugenischen Indikation. Er schien zu stark an der volksgesundheitlichen Begründung angelehnt und wurde durch den Begriff der »kindlichen« Indikation ersetzt, wobei es in den Formulierungen darum ging, Leiden für das Individuum – d.h. für die nachfolgende Generation – zu vermeiden. Volksgesundheitliche Verknüpfungen verschwanden weitestgehend aus dem Bevölkerungsdiskurs. Ab Ende der 1960er Jahre, im Zusammenhang mit Pille, mit Sterilisation und auch Abtreibung, kamen in diesen Diskursen allmählich, jedoch mit großer Nachhaltigkeit, die psychischen Folgen ins Spiel. Während viel früher – bezogen auf den Umgang mit Zwangssterilisierten nach 1945 – seelische Folgen vollständig abgewiesen wurden, wurden sie nun mehr und mehr zum Thema. Bis 1968 tauchte die Möglichkeit psychischer Folgen in der Diskussion um die Ein-
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führung der hormonellen Kontrazeption auf, fand zunächst aber nur marginal Eingang in die Sterilisationsdebatte. Gegen Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre hatte sie sich binnen kürzester Zeit als gesundheitliche Norm etabliert, der weder Ärztinnen und Ärzte noch die Frauen selbst entgehen konnten. Insbesondere die Psyche von Frauen war Gegenstand der Debatte um negative Folgen einer Sterilisation, nicht die Psyche von Männern. Im Kontext mit der viel weitergehenden Entfernung der Gebärmutter wiederum gab es eine solche Diskussion negativer psychischer Folgen nicht. Im Gegenteil wurden in den 1970er Jahren negative psychische Folgen nach einer Hysterektomie vollständig abgelehnt. Insbesondere der direkte historische Vergleich der diskutierten Folgewirkungen zwischen Sterilisation und Hysterektomie bringt parallel verlaufende unterschiedliche Deutungen sehr gut zum Ausdruck. Während die Angst vor einer Gebärmutterentfernung als »dumm« und aus Unwissenheit resultierend beschrieben wurde, galten negative psychische Folgeerscheinungen bei einer Sterilisation als Folge eines natürlichen Verarbeitungsprozesses. Für die Hysterektomie spielten sie keine Rolle bzw. wurden bagatellisiert. Das Argument begründete nicht nur einen weiteren vor allem medizinischen Zugriff als Zugangsbarriere und Kontrollinstanz, es bedeutete auch ein vielfältig einsetzbares und langfristig wirkungsvolles Argumentationsmuster, das gerade als Gesundheitsnorm für den Schwangerschaftsabbruch heute eine zentrale Rolle spielt – die weibliche Psyche und damit einhergehend die Antizipation der (immer negativen) Folgen von Eingriffen in das reproduktive Geschehen wie bei einem Schwangerschaftsabbruch bzw. einer Sterilisation. Eingeordnet wird dieses Argument in einen Gesundheits- und Geschlechterdiskurs, in dem Frauen als hilfebedürftige Personen eingeführt werden, die Unterstützung bei ihren Entscheidungen benötigen. In der Begründung dessen, was eine gesunde psychische Reaktion ist und was eine kranke, wird deutlich, wie sehr sich die Diskursstränge hier verbinden. Psychische Probleme zu entwickeln, wird als normal bezeichnet und gesunden Frauen zugeordnet; Frauen, die keinerlei Verarbeitungsprobleme aufweisen, werden als unweiblich, unsensibel und körperlich stark attribuiert. Damit wurde eine Verhaltensnorm konzipiert. Diese einmal eingeführte Argumentationsfigur hat sich nicht nur im Hinblick auf die Pille und Sterilisation als sehr erfolgreich erwiesen, sondern erwies sich auch beim Schwangerschaftsabbruch als legitime Begründung, um die Zahl und den Zugang zu regulieren. Dieses erfolgreiche Deutungsmuster ist sehr eng mit dem feministischen Diskurs verbunden, auf den ich später kommen werde. Ich mache an dieser Stelle einen Sprung zurück ins Jahr 1945 und rekonstruiere den bevölkerungspolitischen Diskurs für den Osten Deutschlands. Ich habe zwar bei der Darstellung bezogen auf den Schwangerschaftsabbruch in den
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1970er Jahren aufgehört, werde die späteren rechtlichen Veränderungen dann im nächsten Teil mit der Fristenlösung zusammen darlegen.
D ER BEVÖLKERUNGSPOLITISCHE D ISKURS IM O STEN D EUTSCHLANDS In der Sowjetischen Besatzungszone wurden Anfang 1946 alle Gesetze aufgehoben, die mit der Zwangssterilisation in Verbindung standen. Damit gab es – anders als auf dem Besatzungsgebiet der westlichen Alliierten – keinerlei legale Grundlage mehr für Sterilisationen und die im Gesetz geregelte medizinische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch. Anders als im westlichen Teil wurde das Gesetz hier als »faschistisch tendenziös« und antiwissenschaftlich charakterisiert. Die Deutung des Gesetzes fand historisch allerdings auf eine sehr bestimmte Art und Weise statt, was Handlungsräume für spätere Gestaltungen und Neuinterpretationen eröffnete. Der Geltungsbereich des Gesetzes wurde im Osten mit seiner primären Anwendung für die Unfruchtbarmachung politisch Oppositioneller erklärt und als »eine der Kampfformen des Faschismus gegen politische Feinde« interpretiert. Zunächst gab es im Osten Deutschlands nach 1945 theoretisch die Chance, die während der Weimarer Republik entstandenen Reformbewegungen um den § 218 StGB wieder aufzugreifen und die Reformvorschläge zur Entkriminalisierung der Abtreibung in die Realität umzusetzen, insbesondere auf einem Territorium, dessen Regierung sich in dieser Tradition verstand. Dies geschah jedoch nicht. Unmittelbar nach Kriegsende wurde Frauen durch Verwaltungsanordnungen in den einzelnen Ländern der Sowjetischen Besatzungszone das Recht zugesprochen, unter bestimmten Voraussetzungen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Entscheidungen der Landtage untersagten den Strafverfolgungsbehörden bis zur Neuregelung des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch Verfahren nach § 218 einzuleiten. Noch 1945 erließ beispielsweise Thüringen als erstes Land ein »Gesetz über die Unterbrechung der durch Sittlichkeitsverbrechen verursachten Schwangerschaft«. Die anderen Länder folgten mit gesetzlichen Regelungen, die weitergehende Indikationen enthielten, die medizinische bei Gefahr für Leben und Gesundheit der Schwangeren, die ethische Indikation nach Sittlichkeitsverbrechen sowie die soziale Indikation. Gleichzeitig fixierten alle Länder sehr restriktive Bedingungen für den Schwangerschaftsabbruch, wobei das Verfahren bei ethischen Indikationen nicht nur einen engen Zeitrahmen, in dem eine Anzeige erfolgen musste vorsah, sondern auch eine Glaubwürdigkeitsprüfung der beantragenden Frau, womit verhindert werden sollte, dass es
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Frauen leicht gemacht würde, eine Schwangerschaft aus anderen Gründen abzubrechen. Bei der sozialen Indikation richtete sich die Begründung nicht auf individuelle soziale Notlagen, sondern nur auf gesellschaftliche, was die Voraussetzung dafür war, sie später wieder zurücknehmen zu können. Interessant ist außerdem, dass in die landesrechtliche Regelung in Mecklenburg-Vorpommern eine eugenische Indikation eingefügt worden war, die mit dem Begriff des »seelischen Schadens« umschrieben wurde. Einerseits sollte die Abgrenzung zum Nationalsozialismus deutlich, andererseits nicht auf eugenische Regulative verzichtet werden. Die Formulierung im Gesetzestext unterschied sich von der als nationalsozialistisch apostrophierten kaum. Die Zahl der illegalen Abtreibungen ging mit diesen Gesetzen nicht zurück, die Anzahl der legalen stieg an, was der pronatalistisch orientierten Bevölkerungspolitik widersprach. Das Argument des rasanten und nicht kontrollierbaren Zuwachses von Abtreibungen diente zur Konstruktion der Bedrohung, diesem Anstieg könne ein Bevölkerungsrückgang unvorstellbaren Ausmaßes folgen. Außerdem wurde spekuliert, dass ohne gesetzlich fixierte Norm das Gebärverhalten durch individuelle Interessen überzeichnet würde und damit die biologische Reproduktion der Gesellschaft nicht mehr gewährleistet sei. Die Beurteilung der Lage zeigt ein Zitat, das die Angst vor der Unkontrollierbarkeit der weiblichen Fruchtbarkeit deutlich macht: »Die großzügige Lockerung der Indikation führte zu einer Veränderung der Mentalität der Schwangeren, die man als Abortsucht beschreiben kann« (Mehlan 1960: 1210, zit. nach Hahn 2000: 218). Der Begriff der Sucht impliziert pathologisches Verhalten, das unter Kontrolle gebracht werden muss, wobei die Zuweisung von Kontrollverlust sich ausschließlich auf Frauen richtete und die Kontrolle hier wiederum am weiblichen Körper ansetzte. Während bis 1950 auch körperliche Erschöpfung als Grund für eine medizinisch induzierte Abtreibung anerkannt war, wurden ab 1950 die gesundheitlichen Auswirkungen einer Schwangerschaft positiv und als gesundheitsförderlich gedeutet und galten z.B. selbst Tuberkulose oder Schizophrenie kaum noch als legitime Gründe für einen Abbruch. Die wirtschaftliche Notsituation als ein Argument für die Legalisierung hatte sich bis zum Ende der 1940er Jahre auch im Osten soweit verbessert, dass der Zugang zu Nahrungsmitteln deutlich leichter wurde und gemäß der Argumentation einer sozialen Notlage die Grundlage für die Abschaffung der sozial indizierten Abtreibung geschaffen war. Dies geschah mit dem fundamentalsten Gesetz, das in der frühen DDR zur Regulierung der Bevölkerung verabschiedet wurde, dem »Gesetz über den Mütter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau« von 1950. Diesem Gesetz kommt eine übergreifende Bedeutung für die Abtreibung zu. Bereits in seiner Präambel war die Förderung des Kinderreich-
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tums festgelegt und damit die Grundrichtung für die weitere Bevölkerungspolitik vorgegeben. Die vorher vergleichsweise liberalen Länderregelungen wurden eingeschränkt, zugelassen waren nur noch zwei Indikationen: die medizinische und die erbmedizinische. Letztere nahm sprachlich den Begriff der Medizin auf und ersetzte die Verwendung des Begriffs eugenisch. In der begrifflichen Abgrenzung wurde der Unterschied so konstruiert, dass unter eugenisch eine Veränderung des Erbguts der Rasse, des Volkes, der gesamten Menschheit verstanden wurde, während sich der Begriff der erbmedizinischen Indikation auf das individuelle Leidensschicksal richtete und damit ebenfalls frühzeitig argumentativ an die Interessen der Individuen geknüpft war. Der Ausschluss der sozialen Indikation konnte damit legitimiert werden, dass durch die temporäre Schwäche des Staats die Reproduktion seiner Bürger/-innen nicht abgesichert werden konnte. Zitat: »Je vollkommener der Staat die Forderung seines wahren Sozialismus erfüllt, um so unmöglicher wird die soziale Indikation sein und werden, denn dies wäre ein Widerspruch in sich.« (Lax 1950: 519, zit. nach Hahn 2000: 227) Angelehnt an die internationale Diskussion und dem Bedürfnis der DDR, im internationalen Kontext nicht isoliert zu sein, liberalisierte sich der Zugang zu Abtreibungen vor allem in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Der Anteil sogenannter sozialmedizinischer Indikationen – eine Erweiterung der medizinischen Indikation um soziale Aspekte – war kontinuierlich angestiegen. Alter, Kinderzahl, physische und psychische Zustände für Überlastung konnten einen Abbruch legitimieren. Die Zahl illegaler Abtreibungen blieb weiterhin hoch, der Gesetzgeber nahm diese Situation im Verhältnis zu den antizipierten Folgen wie geringere Geburtenzahlen aber auch gesundheitliche Schäden durch illegale Abtreibungen zunächst noch in Kauf. Der gesamte medizinische wie juristische Diskurs ließ mitnichten eine Fristenregelung erwarten, wie sie 1972 in der DDR in Kraft trat. In der medizinischen Debatte deutete sich nichts dergleichen an, in der juristischen ebenfalls nicht. Das »Gesetz zu Unterbrechung der Schwangerschaft« wurde im Dezember 1971 zur Beratung vorgelegt und am 9. März 1972 in der Volkskammer verabschiedet. In der Frage der Legalisierung trafen Faktoren der DDR-Identität mit ihrer Außenorientierung zusammen und kann die überstürzte gesetzliche Regelung nicht von den Ereignissen in der Bundesrepublik abgetrennt gesehen werden. Als großes Medienereignis hatte die im Stern im Sommer 1971 veröffentlichte Selbstbezichtigungskampagne von Frauen in der Bundesrepublik einen grundlegenden Meinungsumschwung ausgelöst, der die Debatte zum Schwangerschaftsabbruch nachhaltig beeinflusste. Im Zuge dieser Kampagne häuften sich die Vorstöße zur Aufhebung des § 218. In den Führungsgremien der SPD
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zeichneten sich Mehrheiten für eine Fristenlösung ab. Ebenso unterstützt wurde diese durch eine Beschlussfassung der FDP zur Einführung einer Fristenlösung. Im November 1971 tagte ein außerordentlicher Parteitag der SPD, in dem die Mehrheit diesem Modell zustimmte. Damit war der Weg für eine Fristenlösung geebnet, und eine gesetzliche Regelung rückte in greifbare Nähe. Für die DDR war dies der Impuls, ohne Vorbereitung ein eigenes Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch zu formulieren. Die Freigabe der Abtreibung als vormaliges Ziel der Kommunistischen Partei, in deren Traditionslinie die SED sich sah, konnte keinesfalls der Bundesrepublik überlassen bleiben. Das Gesetz kam für die meisten überraschend. Der Liberalisierung des Abtreibungsrechts ging keinerlei öffentliche Diskussion voraus (Gerhard/Neidhard 1998). Dennoch waren die Begründungen in den offiziellen Verlautbarungen sowie den medizinischen und juristischen Kommentaren in vorhandene Diskursstränge eingebettet. Ein wesentliches Argument in dem dann nachträglich einsetzenden Legitimationsdiskurs war die Selbstbestimmung der Frau, die nun noch konsequenter als durch Empfängnisverhütung möglich über Zeitpunkt und Zahl der gewünschten Kinder entscheiden könne. Es wurde mit der Herauslösung von Frauen aus traditionellen Abhängigkeiten argumentiert, die nun neue Entscheidungsspielräume erhielten, was insgesamt ihre Emanzipation voranbringt. Generative Vorgänge könnten nun noch planmäßiger als zuvor gestaltet und biologische Zufälle ausgeschlossen werden. Die Fristenlösung setzte eine bewusste und verantwortungsvolle Handlungsweise voraus, wo noch Jahre zuvor von Abtreibungssucht die Rede war. Das Gesetz knüpfte an die gestalterischen Kräfte der Planbarkeit an und nutzte Argumente aus dem Modernisierungs- und Individualisierungsdiskurs. Die neuen Wahlmöglichkeiten der Frauen standen im Zentrum der Argumentation. Das Gesetz wurde nun auch als gesundheitspolitischer Fortschritt verbucht – auch im Systemvergleich mit der Bundesrepublik – weil weitere illegale Abtreibungen und gesundheitliche Probleme von Frauen dadurch verhindert werden. Was in dieser Auseinandersetzung nirgendwo auftaucht, sind mögliche psychische Folgen durch einen Schwangerschaftsabbruch selbst. Dieses Argument spielte in der DDR nur in dem Zusammenhang eine Rolle, dass psychischen Belastungen durch unglückliche partnerschaftliche Beziehungen oder unterbrochene Karrierewege entstehen können und es dann die bessere Lösung ist, sich gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden. Als eine psychisch relevante Belastung wurde ein Schwangerschaftsabbruch nie diskursiviert.
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M ODERNISIERUNGS - UND I NDIVIDUALISIERUNGSDISKURS Modernisierungsprozesse stellen gleichermaßen Rationalisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse dar und laufen darauf hinaus, dass subjektive Kompetenzen, Autonomie, persönliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten der Einzelnen immer mehr gefordert und gefördert werden. Modernisierung verläuft nicht nur parallel zu strukturellen und kulturellen Veränderungen, sondern führt auch zur Ausprägung eines neuen Persönlichkeitstypus, dem freien und selbstständig handelnden Individuum, das selbstverantwortlich sein Leben plant und mit Blick auf Künftiges gestaltet. Ich habe bereits zuvor die Veränderungen der Argumentation dahingehend beschrieben, dass Begründungen für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch (das Gleiche gilt natürlich für den Zugang zur Empfängnisverhütung) sich allmählich von Begründungen wegbewegten, die den Gedanken der Volksgesundheit zum Inhalt hatten, hin zu Begründungen, die sich auf individuelles Leid und persönliche Lebensplanung richteten. Dies geschah im Osten zunächst für eugenisch indizierte Abtreibungen, im Westen für eugenisch indizierte Sterilisationen. Damit fand ein Wandel zu Regulierungsformen statt, die verstärkt an den Interessen und Bedürfnissen von Individuen ansetzten. In beiden deutschen Staaten erwiesen sich Deutungsformen, die Begriffe wie Volkskörper oder Volksgesundheit aufnahmen, als nicht mehr legitimierungsfähig, in der DDR durch die Abschaffung nationalsozialistischer Gesetzgebungen noch rascher als in der Bundesrepublik. Volksgesundheitliche Aspekte traten in den Hintergrund. In den Vordergrund traten Argumente aus dem Individualisierungsdiskurs, in dem auf individuelle Wünsche Bezug genommen wurde und gesellschaftliche Steuerungsinteressen neu kontextualisiert wurden. Betrachtet man die Abtreibung im Kontext mit der Sterilisation wird noch viel deutlicher, wie stark Argumente aus dem Individualisierungsdiskurs ins Zentrum rückten; hier war von individuellen Interessen und Bedürfnissen die Rede, vom Glück und Leid der Individuen und vom Recht auf weibliche Selbstbestimmung, wenn es darum ging, Sterilisationen von Frauen zu legitimieren, die keine weiteren Kinder mehr bekommen sollten. In Ost- wie Westdeutschland löste aus modernisierungstheoretischer Perspektive betrachtet die individuelle Verantwortung für das eigene Leben, für die eigene Gesundheit zunehmend Regelungen von außen ab. Das Argument der aussterbenden Nation als zentrales Bild im Bevölkerungsdiskurs war weitestgehend delegitimiert und durch das individuelle Leidensschicksal abgelöst. Wenngleich die Fristenlösung in der DDR u.a. in direkter Konsequenz von westdeutschen Bestrebungen formuliert und rechtlich codiert wurde, was vor allem
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auf die Konkurrenz von Systemen verweist, veränderte sie doch faktisch die Möglichkeit für Frauen, autonom über den Zeitpunkt und die Zahl ihrer Geburten zu entscheiden, machte damit das eigene Leben plan- und – zumindest bezogen auf den reproduktiven Bereich – gestaltbarer. Das Gesetz erlaubte für die Frauen in der DDR – bezogen auf die Abtreibung – neue Wahlmöglichkeiten und Handlungsspielräume. Für die Frauen im Westen entstanden diese reproduktiven Wahlmöglichkeiten in anderen Bereichen wie beispielsweise im nach 1969 zunehmend leichteren Zugang zur Sterilisation. Modernisierungstheoretisch wurden in Ost und West gleichermaßen Verhaltensweisen selbstbestimmter Individuen gefördert, die kompetent ihre Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen treffen (können).
G ESCHLECHTERDISKUS –
FEMINISTISCHER
D ISKURS
In den Diskursen zur Abtreibung, wie zur generativen Reproduktion insgesamt, wird auch die Ordnung der Geschlechter produziert und reproduziert. Geschlecht – wie es im Alltagsverständnis existiert – wird diskursiv hervorgebracht. Gerade die Definitions- und Legitimationsmacht der Wissenschaften und die Zuschreibung von wissenschaftlich begründeten natürlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen trug dazu bei, die hierarchische Geschlechterordnung zu reproduzieren und strukturell zu verankern. Diese Diskurse führen nicht nur dazu, dass Männern und Frauen unterschiedliche Verhaltensweise zugeschrieben, sondern dass sie von diesen auch jeweils anders erfahren werden. Die Deutung von dramatischen psychischen Folgen nach einer Abtreibung fügt sich daher gut in Vorstellungen von Frauen als emotionaleres, sensibleres Geschlecht ein, dass seine fürsorgerischen Eigenschaften nach einer Abtreibung nicht ausleben kann. Die Gedankenverbindungen von Natürlichkeit, Schwangerschaft bzw. Geburt gleich Gesundheit und von Abtreibung gleich Krankheit, produzieren wissenschaftlich legitimierte Kausalitäten, die ihre Macht in den Vorstellungen über die Folgen einer Abtreibung entfalten. Mit der Frauenbewegung in den 1970er Jahren entstand ein feministischer Diskurs, der für die Abtreibung und für das Thema Selbstbestimmung bedeutsam war. Dieser feministische Diskurs stellte mit seiner Kritik an den patriarchalen Strukturen der Gesellschaft auch die stereotypen Vorstellungen von Mütterlichkeit und Weiblichkeit in Frage und setzte sich seit den 1970er Jahren für Selbstermächtigung über den eigenen Körper ein. Selbstermächtigung über den Körper richtet sich allerdings auch auf körperliche Individualisierung und Selbstzwang und macht damit gerade Frauen zu engagierten Nutzerinnen von Angeboten, die
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sich um das Psychische zentrieren und die präventiv angelegt sind. Die Auseinandersetzung mit sich selbst, die Selbstbestimmung in Verbindung mit den von außen zugewiesenen aber auch verinnerlichten weiblichen Eigenschaften machte Frauen anfällig für das Argument psychischer Folgen und tun dies bis heute.
D ISKURSE NACH 1990. W AS WIRD THEMATISIERT
UND WAS NICHT ?
Im zweiten Teil meines Betrags will ich auf wichtige Diskurse nach 1989 und die Frage kommen, was eigentlich bezogen auf das Thema Abtreibung tabuisiert ist bzw. was thematisiert wird und wie? 1989 war wiederum eine historische Wende zu verzeichnen, deren Folgen vor allem von vielen ostdeutschen Frauen als einschneidend erfahren wurden; sie wurden oft als Verliererinnen der Wende apostrophiert. Ende 1992 lief das Gesetz aus, wonach eine Schwangerschaft legal, ohne Pflichtberatung und kostenlos in den ersten 12 Wochen beendet werden konnte. In der Zeit nach 1989 musste an unterschiedlichen rechtlichen Regelungen und Erfahrungen angeknüpft werden: im Osten an die Fristenlösung, im Westen an die Indikationsregelung. Nach der Wende wurde die Debatte um Themen wie Abtreibung, Verhütung und Sterilisation, den angeblichen Gebärstreik im Osten in beiden Teilen Deutschlands so plural geführt, wie es im Westen vorher schon der Fall war. Während im Ostteil die Autonomie und Entscheidungsfreiheit von Frauen betont wurde, wurde in der westdeutschen Presse vor allem das Bild der unmündigen Ostfrau bemüht, die leichtfertig auf ihre Fruchtbarkeit verzichtet und die Bedeutung der Mutterschaft für ihre individuelle Entwicklung nur unzureichend verinnerlicht hat. In der Debatte zur Abtreibung wie zur Sterilisation wurden Klischees von »der Ostfrau« reproduziert, die allgemein verunsichert ist und »auf Nummer sicher geht«, d.h. also auch keine Risikobereitschaft hat und unflexibel ist (vgl. Dölling et al. 1998). Die Auseinandersetzung zwischen Ost und West spiegelte sich auch in der Differenz von Ost- und Westfrauen wider. Mit Blick auf den Modernisierungs- und Individualisierungsdiskurs wurde vor allem Ostvon Westfrauen fehlendes Körper- und Frauenbewusstsein attestiert und das Bild der frauenbewussten, starken, flexiblen Westfrau gegenübergestellt. Ostfrauen blieben damit rückständig, Tradionellem verhaftet, westdeutsche waren modern, zukunftsorientiert. In dieser medialen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzung kam nicht den ostdeutschen Frauen die Deutungshoheit über ihre Entscheidungsgründe zu, was wiederum ost-westdeutsche gesamtgesellschaftliche Pro-
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zesse widerspiegelt. Diese als Ost-West-Differenz geführte Debatte hemmte zudem ein gemeinsames Handeln im Sinne einer gesamtdeutschen liberalen Regelung. Analysen öffentlicher Diskurse zur Abtreibung zeigen die große Überrepräsentanz von Parteien oder parteipolitisch begründeter Präsenz, während Organisationen sozialer Bewegungen in öffentlichen Debatten weder zu Wort kommen noch deutungsmächtige Akteure sind. Das Prinzip des Rechts des Fötus oder Fötus als Leben kommt in öffentlichen Diskursen die Hegemonie zu, während das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Frau nur über Ausnahmezustände als legitim erachtet wird. Öffentliche Debatten sind mit politischen Entscheidungsprozessen eng verbunden und bedingen sich wechselseitig. Die Deutungsmusteranalyse der medialen Debatten zum Schwangerschaftsabbruch, die Gerhard und Neidhard in den 1990er Jahren vorgenommen haben, zeigen, dass in den Debatten die Diskussion des Fötus als menschliches Leben mit 25,5 % insgesamt dominiert. In etwas geringerem Umfang taucht der Konflikt zwischen dem Schutz des ungeborenen Lebens (18,2 %) und den Rechten der Frau auf. Selbstbestimmung von Frauen wird mit 11,7 % deutlich weniger thematisiert, aber auch dann im Zusammenhang mit spezifischen Legitimationsaspekten. Gleiches gilt für die Analyse der Dokumente kollektiver Akteure. Auch hier dominiert in den Argumentationen mit 23,1 % die Thematisierung des Fötus als menschliches Leben, wobei das Thema Selbstbestimmung der Frau häufiger (18,3 %) und der Konflikt zwischen dem Schutz des Lebens und den Rechten der Frau in geringerem Umfang aufgegriffen werden. Deutlich wird jedoch, dass im Diskurs dem Prinzip Recht des Fötus hierbei die absolute Hegemonie zukommt (vgl. Gerhard/Neidhard 1998: 128). Am 3. August 2012 wurde in der Wochenzeitung »DIE ZEIT« ein Artikel mit dem Titel »Tabu Abtreibung« veröffentlicht. In dessen Zentrum stand das Leiden an der Entscheidung für eine Abtreibung, was – wie im ersten Teil des Beitrags dargestellt wird – ein zentraler Aspekt in der Debatte ist. In den zahlreichen Kommentaren dazu spiegelt sich die aktuelle Spannbreite der Argumente zur Legitimität einer Abtreibung wider. Diese Analyse zeigt, dass das Prinzip des Rechts des Fötus oder des Fötus als menschliches Leben die Hegemonie zukommt, während das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Frau im Vergleich dazu überwiegend über Ausnahmezustände wie soziale, medizinische und eugenische Gründe akzeptiert wird. Als nicht legitim wird eine Abtreibung dann betrachtet, wenn das zu erwartende Kind gesund sein würde. Häufig wird auf Seiten der Gegner der Abtreibung das Lebensrecht des Fötus als Argument eingebracht und die Selbstsucht und Bequemlichkeit von Frauen
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behauptet, ebenso wie die gravierenden psychischen Folgen für die Frau, die man deshalb davor schützen muss. Auf Seiten derjenigen, die den selbstbestimmten Zugang zu Abtreibungen befürworten, werden das Entscheidungsrecht der Frau und die psychischen Folgen für die ungewollten Kinder, die sogenannte Fehlstart-Hypothek, benannt. Bei Amazon findet man unter den Suchbegriffen Abtreibung und Bücher 556 Quellen, beim Suchbegriff Schwangerschaftsabbruch 627 (Zugriff September 2012). Davon fanden sich 200 Ratgeber, 18 belletristische Bücher, 301 Fachbücher aus Recht, Psychologie, Medizin, Soziologie, 40 aus Religion und Glauben, 2 Geschenkbücher (österreichisches Strafrecht und ein Erinnerungsalbum), 4 Kinder- und Jugendbücher (zumindest dort zugeordnet) wie »Cyankali« von Friedrich Wolf. Auf die Jahre verteilt, werden jährlich 30-40 neue Bücher angeboten. In medizinischen, psychologischen oder sozialwissenschaftlichen Datenbanken finden sich zahlreiche Artikel zum Thema. Eine kurze Recherche in der Süddeutschen Zeitung und Bild erbrachte jeweils etwa 600 gefundene Stellen. Wahrscheinlich gab es niemals mehr Möglichkeiten als heute, etwas über Abtreibungen zu lesen. Es werden insbesondere psychische Probleme, Gründe für Spätabbrüche, internationale Diskurse – insbesondere die Auseinandersetzung in den USA – thematisiert. Warum also wird konstatiert, dass das Thema ein Tabu ist? Die Demarkationslinie der Debatten, die Grenzlinie zwischen dem, was Gegenstand der wissenschaftlichen wie der medialen Diskurse ist und dem, was wirklich tabuisiert ist, liegt genau da, wo es um die Selbstbestimmung über einen Schwangerschaftsabbruch und die freie Entscheidung von Frauen geht. Dies ist tatsächlich selten ein Thema.
L ITERATUR Beck, Ullrich (1986): Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Dölling, Irene/Hahn, Daphne/Scholz, Sylka (1998): »›Gebärstreik‹ im Osten? Wie Sterilisation in einer Pressekampagne diskursiviert wurde und welche Motive ostdeutsche Frauen hatten, sich sterilisieren zu lassen«, in: Biomacht – Biopolitik. Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung 1/1998, Potsdam: Universität Potsdam, S. 9-65. Foucault, Michel (1981): Die Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Schwangerschaftsabbruch und empirische Forschung Zur gesellschaftlichen Konstruktion eines Forschungsgegenstands im Schatten moralischer Diskurse1 C ORNELIA H ELFFERICH
Schwangerschaftsabbruch ist ein emotional, politisch und moralisch hoch aufgeladenes Thema. Ist es der empirischen, sozialwissenschaftlichen Forschung möglich, die gebotene Distanz und Neutralität, wie sie die beanspruchte Wissenschaftlichkeit erfordert, einzuhalten? Ein Rückblick auf die Tradition dieser Forschung, vor allem auf die Tradition der Bevölkerungs- und Zielgruppenbefragung seit den 1970er Jahren im Westen Deutschland soll zeigen, dass die Formulierung von Fragestellungen, die Anlage von Untersuchungen und/oder die Schlussfolgerungen aus Ergebnissen immer auch ihren Gegenstand »Schwangerschaftsabbruch« und »die Frau, die eine Schwangerschaft abbricht« auf eine spezifische Weise konstruiert haben. Und weiter soll gezeigt werden, dass in diese Konstruktionen implizite, zeitgeschichtliche, wertgebundene und weitgehend nicht reflektierte Wertungen und Vorannahmen eingingen, was ein Schwangerschaftsabbruch bedeutet und welche Frauen Schwangerschaften warum abbrechen. Umgekehrt ist die Forschung in diesem Bereich immer auch ein Beitrag zu einem wie auch immer gearteten gesellschaftlich-politischen Diskurs um Schwangerschaftsabbrüche. Sie liefert argumentative Bezugspunkte für die gesellschaftliche Bewertung von Schwangerschaftsabbrüchen. Insofern ist es notwendig, die Wertbezüge der eigenen Forschungsmotivation und die Forschungs-
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Der Beitrag analysiert die empirische soziologische Forschung in der BRD bis 1998.
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interessen zu reflektieren und auszuweisen, um dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gerecht zu werden. Die Forschung im Westen Deutschlands – in der Bundesrepublik bis 1998 – eignet sich besonders gut, um zu zeigen, wie sozialwissenschaftliche Untersuchungen sich lange Zeit an der normativ vorab gesetzten, moralischen Verurteilung von Schwangerschaftsabbrüchen abarbeiteten und erst Ende der 1970er Jahre zögerlich aus dem Schatten der moralischen Argumentation heraustraten. Bis 1976 behandelten die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zu Schwangerschaftsabbrüchen ein kriminelles Delikt. Entsprechende Untersuchungen bei Frauen, die abgetrieben hatten, waren nur schwer durchführbar. Gesellschaftlicher Kontext war eine erst Nachkriegs- und dann Wirtschaftswachstumsgesellschaft, in der eine konservative Familien- und Geschlechterpolitik unter dem großen Einfluss der beiden christlichen Kirchen von der Nachkriegszeit bis Ende der 1960er Jahre den gesellschaftlichen Umgang mit Fragen der Sexualität, Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch prägte. Innerhalb von nur zehn Jahren, zwischen Ende der 1960er und Ende der 1970er Jahre, fand dann ein Umbruch statt: Die relevanten rechtlichen Regelungen, die Sexualität, Gleichstellung der Frau, Ehe und Familie betrafen, wurden grundlegend verändert und liberalisiert. Die Reform des § 218 war eingebettet in diese gesellschaftlichen Umwälzungen. Sie löste eine lebhafte gesellschaftliche Diskussion und eine kurze Blüte der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Schwangerschaftsabbrüchen von Ende der 1970er bis Ende der 1980er Jahre aus. Zahlreiche Studien wurden durchgeführt und vor allem Frauen, die einen Abbruch wollten oder erlebt hatten, befragt. Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (BMJFG) setzte 1974 eine »Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 StGB« ein (Stößel 1982: 168), die eine Reihe von Forschungsberichten und wissenschaftlichen Gutachten in Auftrag gab und veröffentlichte (BMFG 1981 und 1982). Mit der Neuformulierung des § 218 wurde 1976 ein gesellschaftlicher Kompromiss in der alten Bundesrepublik festgeschrieben, der Abbrüche straffrei stellte, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt und nachgewiesen sind. Einer christlich-wertgebundenen Position wurde weiterhin Geltung verschafft, indem die prinzipielle Strafbarkeit, also die Verankerung des Paragrafen im Strafgesetzbuch, nicht angetastet wurde. Es wurde eine Prozedur festgelegt, die erstens den (anderweit nicht auflösbaren) Notfallcharakter der Situation als Ausnahme, die einen Abbruch legitimierte, definierte und zweitens Ärztinnen und Ärzte als Wächter/-innen darüber einsetzte, dass diese Legitimation tatsächlich anerkannt werden konnte. Der Kompromiss spiegelte ein Patt zwischen den konträren Auffassungen, inwieweit Frauen zugestanden werden darf und soll, über das eigene
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Leben in so gravierenden Fragen wie dem Verfügen über das Entstehen von Leben und über ihre eigene Zukunft als Mutter von Kindern selbstbewusst und selbstständig zu entscheiden. In den Verhandlungen um eine Änderung des § 218 nach dem Fall der Mauer – es galt nun, die unterschiedlichen Rechtstraditionen in Ost und West zu vereinheitlichen – zeigten sich die alten Konfliktlinien, und wiederum wurde 1992 und mit einer Verschärfung 1995 ein Kompromiss formuliert, der Schwangerschaftsabbrüche weiterhin als rechtswidrig einordnet, aber mit Ausnahmen unter bestimmten Auflagen straffrei ermöglicht. Als sei es ein prekärer Burgfrieden, an dem nicht gerührt werden soll, verschwand das Thema Schwangerschaftsabbruch seit Anfang der 1980er Jahre weitgehend aus dem gesellschaftlichen Diskurs und seit Mitte der 1980er Jahre aus der empirischen Sozialwissenschaft und unterlag einer erneuten Tabuisierung (vgl. Boltanski 2007). Die sozialwissenschaftliche Forschung verstummte weitgehend für viele Jahre. Schwangerschaftsabbrüche waren lediglich ein Teilaspekt von Studien zu Familienplanung (Helfferich et al. 2001, 2005 und 2011). Verfügbare Datenquelle über die Jahre hinweg war nur die Schwangerschaftsabbruchstatistik des Statistischen Bundesamts mit Daten zu den aufgrund der Meldepflicht gemeldeten Abbrüchen. Sie kann Trends und makrostrukturelle Zusammenhänge abbilden, lässt aber darüber hinaus wenig Auswertungen zu. Erst 2009 erschien dann wieder eine größere Studie zu Schwangerschaftsabbrüchen bei Minderjährigen, die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Auftrag gegeben worden war (Matthiesen et al. 2009). 2014 werden Ergebnisse einer weiteren, von der BZgA beauftragten Familienplanungsstudie erscheinen, durchgeführt vom Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstitut Freiburg, die einen Schwerpunkt bei ungewollten Schwangerschaften und Schwangerschaftskonflikten setzt (Zwischenergebnisse: BZgA 2013). In den folgenden Abschnitten wird herausgearbeitet, welche Konstruktionen von »Schwangerschaftsabbruch« (als abweichendes Verhalten, als pathologische Lebensäußerung, als bewusste Entscheidung, als biografischer Prozess etc.) und welche Bilder einer eine Schwangerschaft abbrechenden Frau in der empirischen Forschung seit den 1970er Jahren zu finden sind – in der Fragestellung, in dem Forschungsdesign oder in den Schlussfolgerungen –, und wie sich diese Bilder in den Rechtfertigungsdiskurs einfügen und als Begründungsnotwendigkeiten für Abbrüche lesen lassen. Die mit unterschiedlichen Frauen- oder Menschenbildern verbundenen Ansätze der empirischen Forschung sind: •
vor den 1970er Jahren: der Abbruch als kriminelles Delikt und die Frau als Täterin,
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ab den 1970er Jahren: der Abbruch als Konfliktlösung und die psychopathologische Frau (die inneren Ursachen ungewollter Schwangerschaften) und der Abbruch als soziale Zwangslage und die abbrechende Frau als Verzweifelte oder rational Entscheidende (die äußeren, sozialen Ursachen ungewollter Schwangerschaften), ab den 1990er Jahren: der Abbruch als biografischer Prozess und Frauen (im Plural) als Trägerinnen unterschiedlicher Lebenschancen und Lebensläufe.
Ein Exkurs wird den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen des Verhütungsverhaltens gewidmet. Am Ende wird eine Bilanz gezogen und die Notwendigkeit der Reflexion der eigenen Wertgebundenheit unterstrichen. Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht darum, ob diese Forschungen falsche oder richtige Ergebnisse aufzeigen und ob sie wissenschaftlich korrekt sind oder nicht. Es geht auch nicht um eine vollständige Darstellung der empirischen, sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, die zwischen 1970 und 2014 durchgeführt wurden. Es geht vielmehr um die Frage, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Ansätze und Menschenbilder in der Forschung auftauchten und favorisiert wurden, während andere Fragen und Perspektiven keine Beachtung fanden. Wissenschaft findet nicht in einem wertfreien Kontext statt, und so wird sich zeigen, inwieweit die Empirie in ihrer Fragestellung, Anlage oder Schlussfolgerung ebenfalls von dem gesellschaftlichen Diskurs um die Legitimität des Schwangerschaftsabbruchs bestimmt war und inwieweit sie mit spezifischen Gegenstandskonstruktionen auf diesen Diskurs reagierte. Aus Platzgründen wird nicht auf die Konjunkturen des Forschungsthemas »Folgen eines Abbruchs« eingegangen und auch nicht auf die sehr wenigen Studien, die es zu Schwangerschaftsabbrüchen aus der Perspektive von Männern gibt.
D IE S CHULD : KRIMINELLES
DER S CHWANGERSCHAFTSABBRUCH D ELIKT
ALS
1971 erschien eine Veröffentlichung von mehreren Teilbefragungen – eine Befragung von Frauen in einer Gemeinde zu ihrem Wissen über das Vorkommen von Abtreibungen, eine Befragung von Ärzten und eine Analyse von Gerichtsakten und Krankenhausstatistiken – unter dem Titel »Soziologie der Abtreibung« (Siebel et al. 1971). Die Arbeit ist ganz im kriminologischen Duktus abgefasst (»Tatentdeckung und Strafverfolgung«, »Tätergruppen«, »Falldichte«, »Dunkel-
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feld« etc.). In der Einleitung wird direkt auf den moralischen Diskurs Bezug genommen: Es »besteht Einigkeit darüber, dass die Abtreibung ein Massendelikt ist, das neben der ›Unzucht zwischen Männern‹ in der Bundesrepublik die geringste Aufklärungsquote hat […]. Weil Abtreibung heutzutage als eine Massenerscheinung auftritt, stellt sich die Frage, ob man durchschnittliches oder ›normales Verhalten‹ als ›abweichend‹ klassifizieren soll. Eine Lösung dieser angedeuteten Schwierigkeiten könnte sich aus der genaueren Definition der Bezugspunkte ergeben, auf die hin ein Verhalten als ›kriminell‹ bzw. ›abweichend‹ klassifiziert wird.« (Siebel et al. 1971: 4 f.) Der normative Bezugspunkt wird dann in mehreren Kapiteln als Menschenwürde und Bewertung des Ungeborenen ausgearbeitet – für eine Soziologie der Abtreibung ist er zumindest begründungsbedürftig geworden. Das Ende der Illegalität von Schwangerschaftsabbrüchen veränderte nicht nur die Möglichkeit, sozialwissenschaftlich zu dem Thema zu forschen, sondern der gesellschaftliche Aufbruch verschaffte auch der Stimme der Frauen (»Ich habe abgetrieben!«) Gehör. Die Perspektive der Frauen zog in die Forschung ein, löste diese aber nicht aus dem moralischen Bezugsrahmen. Ein Sammelband mit Forschungsergebnissen2 mit dem Titel »Die ungewollte Schwangerschaft. Eine anthropologische Synopsis« (Poettgen 1982)3 zeigt, wie ein Eintreten für die Fristenlösung und zugleich eine Bestätigung der moralisch-christlichen Position des Lebensschutzes nur zusammengehen können, wenn die Frau, die einen Abbruch möchte, ebenfalls in den moralischen Kategorien des subjektiven Leidens, des Elends und gleichzeitig des unverschuldeten Missgeschicks und des psychopathologischen Konflikts bei ansonsten tadelloser weiblicher Lebensführung konstruiert wird. In der Einleitung wird eine fiktive Gegenüberstellung vorgestellt, in der ein »naturwissenschaftlich orientierter Arzt« die Position des Lebensschutzes vertritt (»Das Leben beginnt also mit der Befruchtung«) und seine Patientin einen Abbruch wünscht. In dem imaginierten Gespräch spricht Poettgen dem Arzt Recht 2
Es handelt sich um Beiträge des 6. Internationalen Kongresses für psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe 1980.
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Vorangestellt ist ein Zitat von Viktor von Weizäcker: »Der Religion der Liebe aber würde es obliegen, eine Sittenlehre zu schaffen, die zeigt, dass die richtige Geschlechtsnot aus dem Gebot der Liebe selbst stammt und nicht von dem als Natur verkleideten Satan. Denn die Liebe ist es, welche diejenigen geschlechtlichen Handlungen verhindert, welche lieblose Folgen haben.« Dieses Zitat enthält, auf den Schwangerschaftsabbruch bezogen, eine Abgrenzung gegen eine religiöse Vorstellung (Satan) und rückt die Not und die Liebe zueinander; gleichwohl bleibt als Rahmen des Diskurses die »Sittenlehre« als Moralphilosophie.
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zu (»Die Aussage des Arztes ist vom Ansatz seines biologischen Denkens her sicherlich richtig und nicht zu bestreiten«, a.a.O.: 16), er folgt »dem objektivierenden, ärztlich-rationalen Denken« (a.a.O.: 17). Diese Patientin konstruiert Poettgen, indem er sie in Ich-Form sprechen lässt: Sie verträgt die Pille nicht und wurde unter der Spirale schwanger. »Ich habe drei Kinder, das erste von den dreien ist behindert; außerdem muss ich noch meine bettlägerige Schwiegermutter mitversorgen, mein Mann ist meistens auf Montage; wenn er nach Hause kommt, hat er an allem etwas auszusetzen, ich bin mit der Kindererziehung und allem anderen allein gelassen […]. Ich fühle nicht die Kraft in mir, noch ein viertes Kind zu bekommen!« Es wird ein Gegensatz zu dem Arzt aufgebaut: Anders als er ist die Frau reines Subjekt, und sie redet »auf der Gefühlsebene«: »Sie fühlt sich nicht mehr in der Lage, eine weitere Schwangerschaft zu bewältigen; das ›Warum‹ kann sie nicht mit der Kategorie logischer Stringenz beweisen.« (a.a.O.: 16, Hervorhebung im Original) In dieser Gegenüberstellung hat die Frau als Gefühlswesen gegenüber dem der rationalen Wissenschaftssphäre zugehörigen Arzt eine inferiore Position. Dennoch legt Poettgen gerade der überlegenen ärztlichen Autorität auf, sich der Schwangeren zuzuwenden und Schwangerschaftskonfliktberatung als legitimen ärztlichen Auftrag anzunehmen (a.a.O.: 18), denn die Frau hat ein »Anrecht« darauf, in ihrem subjektiven Erleben ernstgenommen zu werden (a.a.O.: 16). Die Begründung liegt – und dies ist das zweite Element der Konstruktion – in der »Psychopathologie des Konfliktes« mit »schwersten somatischen Erkrankungen« bei einem Abbruch durch einen Kurpfuscher, »seelischen Störungen« nach erfolgter wie verweigertem Abbruch und in dem »sozialen Elend« (a.a.O.: 17). Mit dem Phänomen der Krankheit teilt die ungewollte Schwangerschaft den Charakter des »Missgeschicks«, der »Einsamkeit«, der »Prüfung« und der »Bedrohung«. Poettgen tritt dafür ein, dass die Entscheidung über die Fortsetzung der Schwangerschaft offen sein müsse. Es gelte, die jeweils konfliktärmere Entscheidung zu treffen. »Absolute Konfliktfreiheit erzielen zu wollen, wäre jedoch eine Anmaßung. Unser Konfliktbewusstsein muss dabei wachsam bleiben. Völlige Libertinage, die zur Aufhebung personaler Verantwortung führt, ist nicht identisch mit Freiheit. Sie ist es nämlich, die dann zu den lieblosen sexuellen Verhaltensweisen führt, die eine ungewollte Schwangerschaft verursachen.« (a.a.O.: 18) Der Konflikt wird hier zu einem notwendigen Bestandteil der Konstruktion des Gegenstands »Schwangerschaftsabbruch«, weil er ein Bollwerk gegen sexuelle Freiheit, verstanden als Entkoppelung von Begehren und Bindung oder Sexualität und Ehe bilden soll.
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Die Argumentation bleibt innerhalb des moralischen Diskursrahmens, auch wenn sie den Rahmen absteckt, in dem die Frau als Subjekt in die Forschung eintritt. Verständnis für die Frau steht neben moralischen Setzungen, dass die »Herauslösung von Sexualität aus personal bezogener Liebe und Verantwortung zum Zweck eines kurzlebigen, physiologischen Spannungsabbaus […] neben mangelnder Aufklärung über Kontrazeption in den meisten Fällen Pate bei der ungewollten Schwangerschaft (stand – C.H.) […].« (Ebd.) Die Schuldfrage gilt weiterhin, auch wenn sie kritisch gestellt wird: »Wer ist da der Schuldige? Wer will da verurteilen?« (Ebd.) Poettgen ist aber so offen, dass in die Schuldfrage neben dem Konflikt die mangelnde Aufklärung ebenso einbezogen wird wie die gesellschaftlichen Bedingungen. Damit sind die Themen weiterer Forschungsstränge genannt, deren Konstruktionsleistungen weiter hinterfragt werden sollen.
D IE INNEREN G RÜNDE : D ER ABBRUCH ALS NEUROTISCHE K ONFLIKTLÖSUNG UND DIE P SYCHOPATHOLOGIE DER ABBRECHENDEN F RAU Nach der Reform des § 218 entwickelte sich ab 1976 eine Forschungstradition, basierend auf qualitativen, meist tiefenpsychologischen Interviews mit Frauen, in deren Mittelpunkt die psychischen Konflikte der ungewollt Schwangeren und die Konflikthaftigkeit eines Abbruchs standen. Frauen mit einem Schwangerschaftsabbruch konnten vor allem über Beratungsgespräche oder Kliniken für eine Befragung gewonnen werden und wurden von Psychologinnen und Psychologen oder Psychiaterinnen und Psychiatern interviewt, deren fachliches Menschenbild und diagnostische Terminologie in die Konstruktion des Gegenstands eingingen. Um noch einmal darauf hinzuweisen: Die Frage ist hier nicht, ob diese Ergebnisse tragfähig sind oder nicht – viele Ergebnisse sind dies zweifelsohne, sie fanden vielfach in der Praxis fallbezogen eine Bestätigung –, sondern warum zu diesem historischen Zeitpunkt und unter diesen Bedingungen die Deutungshoheit des Phänomens Schwangerschaftsabbrüche in den fachlichen, psychologisch-psychotherapeutischen Bereich wanderte und warum gerade dieser Ausschnitt aus all den möglichen Blickweisen auf Schwangerschaftsabbrüche so prominent wurde. In diese Forschungstradition der psychologisch-psychiatrischen Perspektive lassen sich eine Reihe von Untersuchungen einordnen: So befragte Jürgensen (1982 1978/79) 122 Patientinnen aus einer Beratungssprechstunde zu ungewollten Schwangerschaften, Göbel (1984) befragte 1979/80 228 Abruptio-Patientinnen und Junior (1982) 154 »Konfliktschwangere« in der Beratungsstelle einer
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Universitätsklinik. In der Schweiz interviewte Merz (1979) 33 14- bis 17-jährige Abbruchpatientinnen im Rahmen der Feststellung einer psychiatrischen Indikation4 und in Österreich Wimmer-Puchinger (1983) 1980/81 insgesamt 785 Erstschwangere mit und ohne Abbruch in einer Frauenklinik. In dem theoretischen Erklärungsrahmen, der den Studien zu Grunde liegt, werden ungewollte Schwangerschaften in einen funktionalen Zusammenhang mit der psychodynamischen Situation zum Kontrazeptionszeitpunkt gesetzt. Göbel z.B. identifizierte unterschiedliche typische Konfliktsituationen, auf die bezogen die Schwangerschaft und ihr Abbruch eine Erklärung fanden: Störungen des weiblichen Geschlechtsbildes mit der Angst, nicht konzipieren zu können, Trennungskonflikte, mit Schwellensituationen verbundene Konflikte, Beziehungskonflikte und die Reaktion auf eine geplante Sterilisierung. Bei Merz standen aufgrund des jungen Alters der Befragten vor allem Ablösungskonflikte im Vordergrund. Jürgensen vertiefte den Aspekt der Trennungskonflikte und deutete den Abbruch der Schwangerschaft als »zwanghafte Wiederholung der negativen Erfahrungen der Vergangenheit auf dem Boden unbewusster Hass- und Schuldgefühle« (1982: 119). Konzeption und Schwangerschaftsabbruch seien ein »unglücklicher« oder, mit Göbel, ein unbewusster »neurotischer« Versuch einer Konfliktlösung und hätten auf diese Weise Symptomcharakter. Dieser Deutungsrahmen eröffnet einerseits den Zugang zu einem Verstehen der individuellen Prozesse und geht damit über die Perspektive der Kriminalisierung und der moralischen Verurteilung hinaus. Die »Funktionalität« des Abbruchs als Konfliktlösung gibt diesem eine eigene Logik und Nachvollziehbarkeit. Wie sollte hier die Frage von Poettgen beantwortet werden: »Wer ist da der Schuldige«? Andererseits rückt der Rahmen den Schwangerschaftsabbruch in die Nähe von Krankheiten und Pathologie – ein Schwangerschaftsabbruch muss damit bei allem Verständnis nach wie vor als normwidrig gesehen werden. Mit der Normwidrigkeit korrespondiert die Konstruktion der Frau, die eine Schwangerschaft abbricht, in der sprachlichen Semantik der Konfliktbeschreibung mit den Elementen: schwierige Kindheitserfahrungen, aus denen tiefgehende Konflikte erwachsen, neurotische Mechanismen oder infantile Züge, Desorientierung und fehlende psychosexuelle Reife. Kern der normativen Erwartungen, von denen abgewichen wird, ist nicht nur eine reife Konfliktlösungsfähigkeit, sondern die Bereitschaft, ein Kind aus einer ungewollt eingetretenen Schwangerschaft zu akzeptieren. Der Beitrag der Studien zu der Konstruktion des Schwangerschaftsabbruchs als abweichend und normwidrig – wenn auch individuell verständlich und nachvollziehbar – ergibt sich weniger aus der Beschreibung der Psychodynamik 4
In der Schweiz wurde ein psychiatrisches Gutachten für einen Abbruch verlangt.
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selbst, als vielmehr aus der Anlage der Studien, die Schwangerschaftsabbrüche isoliert betrachtet und ihre psychischen (und psychopathologischen) Auffälligkeiten bestimmen will und nicht, wie Wimmer-Puchinger (1982), Helfferich/v. Troschke (1984) oder Holzhauer (1989), einen Vergleich anstellt zwischen Frauen, die sich für und die sich gegen einen Schwangerschaftsabbruch entschieden haben. Wimmer-Puchinger wies darauf hin, dass »eine ausgetragene Schwangerschaft nicht weniger dazu angetan sein kann, Funktionen beim Lösungsversuch unbewusster Konflikte zu erfüllen« (Wimmer-Puchinger 1982: 109).5 Für die Konstruktion der eine Schwangerschaft abbrechenden Frau hieße das, dass sich die Trennlinie zwischen »normal« und »abweichend« nicht mehr entlang der Unterscheidung »ausgetragene« und »abgebrochene« Schwangerschaft aufrechterhalten lässt. Eine Variante des Deutungsrahmens von Schwangerschaftsabbrüchen im Kontext von lebensgeschichtlichen Konflikten ist weniger psychiatrisch-psychoanalytisch verankert, sondern bezieht sich auf Rollenkonflikte und Rollenunsicherheiten (Junior 1982, Wimmer-Puchinger 1982: 108). Statt der inneren Konflikte werden die äußeren, gesellschaftlichen Widersprüche Bezugspunkt der Deutung; die grundlegende Annahme der Konflikthaftigkeit bleibt aber erhalten.
D ER ABBRUCH ALS R EAKTION AUF SOZIALE B EDINGUNGEN , DIE ABBRECHENDE F RAU ALS V ERZWEIFELTE ODER ALS RATIONAL E NTSCHEIDENDE Parallel zu dem Untersuchungsgegenstand »innere Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch« entwickelte sich eine Forschungstradition, nach »äußeren Gründen«, also nach gesellschaftlichen Bedingungen zu fragen, die Frauen dazu veranlassten, eine Schwangerschaft abzubrechen. Sie konnte anknüpfen an eine politische Diskussion und hatte in einer empirischen Studie von Pross (1971) einen
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Internationale Studien, die Frauen mit ausgetragenen und abgebrochenen Schwangerschaften zwischen 1972 und 1983 verglichen, fanden überwiegend keine auffallenden psychopathologischen Differenzen. Holzhauer kommentierte eine entsprechende Übersicht (1989: 95 f.), dass »ältere Arbeiten deutlich häufiger eine Psychopathologie der Frauen und entsprechend häufiger negative Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs konstatierte.« (Holzhauer 1989: 102) Untersuchungen, die nach der Liberalisierung durchgeführt wurden, zeigten deutlich weniger neurotische Merkmale bei Frauen mit einem Schwangerschaftsabbruch (a.a.O.: 104).
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Vorläufer. Pross hatte schon 1966 einen Aufruf in Massenmedien veröffentlicht und Frauen mit Abbruchserfahrung aufgefordert, ihr die Gründe und Bedenken zu nennen. Für die Zeit ab Ende der 1970er Jahre ist die Befragung von Oeter und Nohke (1982) zu nennen, die 1.977 Klientinnen einer Beratungsstelle, die wegen einer § 218-Beratung gekommen waren, befragten, sowie die von Hendel-Kramer, v. Troschke und Werner (1982), die 1.978 Fragebögen und Erfahrungsberichte von Frauen mit einem Schwangerschaftsabbruch auswerteten. Die Fragestellungen dieser Studien weisen in zwei leicht unterschiedliche Richtungen, die andere Akzente für die Konstruktion der eine Schwangerschaft abbrechenden Frau aufgriffen. Zum einen wurde gefragt, in welcher Lebenssituation sich diese Frauen befanden und inwiefern Besonderheiten ihrer Situation einen Abbruch begründeten. Die Befunde lassen sich zusammenfassen: Sie befanden sich in einer schwierigen Situation. Alle Studien nennen an erster Stelle finanzielle und materielle Probleme, weiter gefolgt von Problemen der Berufstätigkeit und der Ausbildung, familiären Gründen, eingeschränkten Wohnverhältnisse, Partnerproblemen und gesundheitlichen Problemen und Altersgründen, meist mit mehreren Nennungen auf einmal. Dieses Bild kann ergänzt werden um die Sozialdaten aus anderen Befragungen, bei denen ebenfalls vor allem auf die schwierige finanzielle Situation hingewiesen wird. Die typische Frau, die eine Schwangerschaft abbricht, ist, auf den Punkt gebracht, arm und überlastet – wie die Patientin in der imaginierten Auseinandersetzung bei Poettgen (s.o.). Sie ist nicht kinderfeindlich (Hendel-Kramer/v. Troschke/Werner wiesen ausdrücklich darauf hin [1982: 45]), aber in ihrer Situation geht es einfach nicht. Der Abbruch erscheint in der impliziten oder expliziten Schlussfolgerung als ultima ratio, letzter Ausweg und Verzweiflungstat. Die abbrechende Frau ist gekennzeichnet durch Not und Überlastung als eine Art sozialer Pathologie und als eine, die unter diesen Bedingungen einfach nicht anders kann. Die Zumutung, die Schwangerschaft auszutragen, würde, folgt man hier Poettgen in seinem Gedanken, ihrerseits moralische Probleme aufwerfen, zumal die Schuldfrage nun nicht nur die Frau, sondern auch die Gesellschaft einbindet. In einigen Studien wurde die Frage etwas anders gestellt. Es wurde nicht nach der aktuellen Situation, sondern nach den befürchteten Verschlechterungen gefragt. Die Ergebnisse sind sehr ähnlich, aber der Akzent ist ein anderer, denn hier können z.B. auch Frauen mit einem höheren Haushaltseinkommen eine Verschlechterung befürchten. Die Frau, die eine Schwangerschaft abbricht, wird hier konstruiert als eine, die eine Abwägung trifft und verschiedene Güter in die Waagschale wirft – eine Einschränkung des Lebensstandards steht gegen ein Kind. Hier schließen später die Studien an, die sich speziell mit der Entscheidungssituation für oder gegen einen Abbruch beschäftigen und dabei als theore-
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tischen Rahmen sozialpsychologisch verortete, rationale Entscheidungstheorien mit dem entsprechenden Menschenbild des entscheidungsfähigen Akteurs wählen.6 Sie modellieren das Entscheidungsverhalten als bewussten Prozess, in den neben den subjektiv gewichteten Kosten- und Nutzenaspekten auch soziale Normen und Einstellungen eingehen (vgl. zusammenfassend Holzhauer 1989: 77 ff.). Der Schwangerschaftsabbruch ist hier konstruiert als eine rationale Reaktion auf soziale Bedingungen, die abbrechende Frau als eine, die der Rationalität fähig ist – also anders als Poettgens imaginierte Patientin nicht nur auf der Gefühlsebene spricht – und die aufgrund der sozialen Bedingungen eine bewusste Entscheidung gegen ein Kind trifft. Dass dies bezogen auf moralische Kategorien deutlich heikler ist, legt die explizite Kommentierung der in einer Studie aufgetretenen Konstellation nahe, dass das Einkommen ein weiteres Kind »erlauben« würde, jedoch um den Preis der Einschränkung oder Senkung des erreichten Lebensstandards: »Diese finanziellen Nachteile wollen die Frauen und/oder ihre Partner nicht tragen. Die Legitimität dieser Intention lässt sich schwerlich moralisch kritisieren, wenn man berücksichtigt, dass Status und Prestige und damit Fremd- und Selbstachtung in unserer Gesellschaft an den Besitz von Konsumgütern gebunden sind.« (Hendel-Kramer/v.Troschke/Werner 1982: 49) Zu dem Charakter der Konstruktion trägt wiederum bei, dass die Anlage der Untersuchungen darauf zielt, die Besonderheiten des Schwangerschaftsabbruchs und der abbrechenden Frauen zu bestimmen und sich allein auf die Situation der eingetretenen Schwangerschaft zu beschränken. Unterschiede zwischen Frauen, die sich für oder gegen eine Schwangerschaft entschieden, überlagern sich so mit Unterschieden, die überhaupt erst dazu führen, dass ungewollte Schwangerschaften eintreten. Wie die inneren Gründe, sind auch die äußeren Gründe nachvollziehbar. Sie legitimieren das Verhalten der abbrechenden Frauen und tragen so einerseits dem normativ-moralischen Diskurs Rechnung – und bestätigen diese Norm sogar. Andererseits berücksichtigen sie die subjektiven Erfahrungen der Frauen und die Grenzen einer angesichts der schwierigen Lebensbedingungen oder der eingeschränkten Zukunftsaussichten moralisch zu begründenden Zumutbarkeit, das Kind zu bekommen. Oeter und Wilken gaben ihrer Studie auch den Titel »Gründe, Legitimationen, Alternativen« (1982; Hervorhebung C.H.). Die Grenzen der Legitimation sind in den 1970er Jahren offenbar dort erreicht, wo nicht
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Entscheidungstheorien können durchaus mit psychodynamischen Konflikttheorien verbunden werden, wenn etwa ein psychischer »Nutzen« als ein Nutzenaspekt in den modellierten Entscheidungsprozess eingeführt wird (vgl. Luker 1975).
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die äußeren Umstände in ihrer objektiv und allen ersichtlichen Beschränkung ein Austragen der Schwangerschaft verhindern, sondern selbst gesetzte Ziele und subjektive Bewertungen, die materielle Aspekte höher gewichten, als ein Leben mit einem Kind. Auch bei diesen Ansätzen wird eine Konflikthaftigkeit angenommen. Die meisten Studien interviewten Frauen zu einem Zeitpunkt, als sie sich in einer Entscheidungssituation für oder gegen einen Abbruch befanden oder sich für einen Abbruch entschieden hatten, um die besonderen Merkmale abbrechender Frauen zu bestimmen. Die Forschung stellt aber gleichzeitig in Frage, ob es überhaupt möglich ist, auf diese Weise Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen (wollen), zu charakterisieren, oder ob der Fokus nicht eher weg von Frauen hin auf die Lebensbedingungen zu richten ist, in die sehr unterschiedliche Frauen geraten können. Aus biografischer Perspektive wurde nämlich gezeigt, dass es Frauen gibt, die zu einem Zeitpunkt in ihrem Leben eine Schwangerschaft abgebrochen und zu einem anderen Zeitpunkt eine ungewollte Schwangerschaft ausgetragen haben –, ohne dass sich ihre Persönlichkeit verändert hat. Das macht eine Frage nach einem statistischen Vergleich von Frauen, die sich für ein Kind entscheiden, mit denen, die sich gegen ein Kind entscheiden, wenig sinnvoll, weil Frauen aus der ersten Gruppe früher oder später auch in die zweite Gruppe »wechseln« können. Dass eine Frau keine Abbrucherfahrung hat, mag gar nicht an ihrer Person liegen, sondern daran, dass sie einfach nie ungewollt schwanger war –, z.B. weil sie keinen Partner gefunden hatte, weil sie infertil war, weil sie jung zwei gewollte Kinder bekam und sich danach sterilisieren ließ etc., oder weil sie ungewollt schwanger wurde und es zu spät feststellte und/oder keinen Zugang zu einer Abbruchmöglichkeit fand.
D IE B EDEUTUNG VON V ERHÜTUNG Die Forschungsfrage nach dem Abbruchgeschehen ließ sich auch auf das Verhütungsgeschehen übertragen: Wenn es einer Schwangeren nicht möglich ist, ein Kind zu bekommen, warum hat sie dann nicht sicher verhütet? Und weiter: Was sind das für Frauen, die nicht sicher verhüten? Diese Frage konnte erst ab den 1970er Jahren gestellt werden, als sich die Pille als breit zugängliches Verhütungsmittel durchgesetzt hatte.7 Erst damit entstand eine Norm einer sicheren
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Nachdem die Pille in den 1960er Jahren auf den Markt gekommen war, gab es zunächst deutliche Vorbehalte, die auch moralisch begründet waren: Die Folgenlosigkeit von Sexualität würde einer sexuellen Enthemmung Vorschub leisten – also gerade je-
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Verhütung, die sich als neue Instanz auf die »Vernunft« und Eigenverantwortlichkeit beruft, zu deren Verbreitung Sexualaufklärung beitragen soll. Unzureichende Verhütung ist abweichendes Verhalten, das zum Eintreten einer ungewollten Schwangerschaft führt, und dieses ist als Problem empirisch in seiner Genese zu untersuchen. Die sichere Verhütung war vorher nicht ein Thema des Lebensschutzes, da sich dessen Normen nicht auf das Eintreten der Schwangerschaft bezogen, sondern auf deren unbedingte Akzeptanz. Der christliche Diskurs, der die moralische Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs prägte, war in seiner Geschichte eher mit einer Koppelung von Sexualität an Fruchtbarkeit verbunden und nicht mit der Effektivität ihrer Entkoppelung. Eine erste Studie zu Kontrazeption im Zusammenhang mit dem Thema des Schwangerschaftsabbruchs wurde 1976/77 von Oeter (1981) durchgeführt. Befragt wurden 1.490 Frauen zu Verhütung. Verhütung wurde als »Vorsorgeverhalten« bezeichnet und zwar zu dem Zweck, »unerwünschte Schwangerschaften zu vermeiden« (Oeter 1981: 19). Die Verbindung zwischen Schwangerschaftsabbrüchen und Verhütung wird in der Forschungsfrage expliziert und weist auf die bestehenden gesellschaftlichen Bedenken hin: »Ist ein negativer Einfluss der Liberalisierung der gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs auf die Zuverlässigkeit der Empfängnisregelung durch die Bevölkerung zu erwarten? […] Sind Befürchtungen damit realistisch und ernst zu nehmen, die besagen, eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs führe zu einer Infragestellung und Gefährdung der Empfängnisverhütung und damit zu einem Vorschub des Schwangerschaftsabbruchs?« (Oeter 1981: 19 f.)8
Der normative Bezugspunkt der sicheren Verhütung und die Begründungsbedürftigkeit der unsicheren Verhütung finden sich ebenfalls in der Formulierung der Forschungsfragen: »Ist die Anwendung unsicherer Methoden oder der Verzicht auf jede Verhütung Ausdruck mangelnden Problembewusstseins oder mangelnder Verantwortung?« (a.a.O.: 19). Auch in der Studie von Helfferich/v. ner »Libertinage«, die noch Poettgen fürchtete. In der Folge verhielt sich die Ärzteschaft sehr zurückhaltend und formulierte noch 1970 Einschränkungen zur Verschreibung der Pille an junge Frauen (vgl. Oeter 1981: 39). Diese allerdings, so zeigten dann die empirischen Studien, förderten eher das Eintreten ungewollter Schwangerschaften und der Schwangerschaftsabbrüche. 8
Die Befürchtungen konstruieren ebenfalls ein Bild: Die Frau, die es sich »einfach macht« und zu bequem ist, zu verhüten – und die so den Konsens aufkündigt, dass Abbrüche zu vermeiden seien. Alle Untersuchungen werden später das Gegenteil zeigen: Die Verbreitung von Verhütung senkt auf längere Sicht die Abbruchraten.
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Troschke (1984), in der 1980/81 Frauen qualitativ-biografisch befragt wurden, ist die Begründungsbedürftigkeit des »unzureichenden Verhütungsverhaltens zur Vermeidung ungewollter Schwangerschaften« Ausgangspunkt. Die Fragestellungen, die Anlage der Studien als Befragung von Frauen in der Bevölkerung und die Schlussfolgerungen weisen, ähnlich wie die Studien zu Schwangerschaftsabbruch und teilweise auch bei diesen schon mitthematisiert, mit ihrer argumentativen Einbettungen in eine ähnliche Richtung der nachvollziehbaren inneren und äußeren Gründe: Unzureichende Verhütung und die Konzeption einer ungewollten Schwangerschaft können in einem ähnlichen Sinn wie der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft eine »neurotische« Konfliktlösung sein und eine psychodynamische Funktion für die Bewältigung einer Krise haben (z.B. Goebel 1984). Allerdings kann dies auch für sichere Verhütung gelten (Helfferich/v. Troschke 1984: 165 ff.). Und es gibt »äußere Gründe«: Oeter konstatiert neben dem ärztlichen Einfluss, dass »mangelndes Vorsorgeverhalten […] in weiten Bereichen Ergebnis sozialer Defizite und Ungleichheit ist.« (Oeter 1981: 26) Ein weiteres Ergebnis von Oeter geht aber in eine divergente Richtung: Unzureichende Verhütung wurde häufiger von Frauen mit einer hohen Kirchenbindung und Frauen mit einer niedrigen Qualifikation und einem traditionellen Frauenstereotyp berichtet (a.a.O.: 21/13) – dies sind aber Frauen, deren Lebensentwurf nicht eine »abweichende« Bewertung erfährt. Oeter verweist hier zu Recht darauf, dass sichere Verhütung eine historisch neue Handlungsmöglichkeit ist, die in unterschiedlichen sozialen Gruppen mit einer unterschiedlichen Geschwindigkeit übernommen wird (a.a.O.: 21).
D IE UNGEWOLLTE S CHWANGERSCHAFT UND ABBRUCH ALS BIOGRAFISCHER P ROZESS
DER
In den 1990er Jahren beginnt ein weiterer Forschungszugang, der die Frage nach Abbrüchen als Frage nach einem Prozess stellt, an dessen Ende der Abbruch steht, und der so die komplexe Vorgeschichte einbezieht. Erste Überlegungen, dass Schwangerschaftsabbrüche als Prozess betrachtet werden sollten, finden sich in der Studie von Münz und Pelikan (1978; vgl. Hendel-Kramer/ v. Troschke/Werner 1982: 41). Der Prozess erstreckt sich hier von dem vorhandenen oder nicht vorhandenen Wunsch nach/Planung von einem Kind, dann wird die Schwangerschaft nach ihrem Eintritt akzeptiert oder nicht – dann erst erfolgt das Austragen oder Abbrechen der Schwangerschaft. Der letzte Schritt, so das Argument, ist nicht verständlich, wenn man die vorherigen Schritte nicht einbezieht. Diese Schritte in einem Prozess wurden in den Studien zu Familienpla-
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nung im Lebenslauf von Frauen (Helfferich et al. 2001) und Männern (Helfferich et al. 2005), die jeweils eine Lebenslaufperspektive verfolgten, nachvollzogen. Die französische »COCON«-Studie (COhort CONtraception survey), bei der in Frankreich knapp 3.000 Frauen viermal im Zeitraum 2001 bis 2004 befragt wurden, spannte den Bogen weiter. Sie erhob einen Prozess mit fünf Phasen: Zunächst einmal muss heterosexueller Geschlechtsverkehr stattfinden – ohne das würde sich die Frage eines Abbruchs nie stellen. Der zweite Schritt ist die Verhütung, die versagen oder unterlassen werden kann. Als drittes muss eine Schwangerschaft eintreten. Auch das ist nicht selbstverständlich: Bei eingeschränkter Fruchtbarkeit tritt eine Schwangerschaft nur selten ein.9 Dann erst, nach dieser Vorgeschichte, geht es um die Entscheidung, die Schwangerschaft auszutragen oder abzubrechen. In dem letzten Schritt steht der Zugang zu der praktischen Möglichkeit des Abbruchs an (vgl. Rossier et al 2006). Diese Vorgehensweise verändert die Perspektive: Erstens zeigen die Auswertungen, dass auf allen Stufen – bei der Sexualität, bei der Verhütung etc. – unterschiedliche Einflussfaktoren wirksam sind und diese Faktoren auch nicht immer gleichsinnig wirken. Zweitens werden Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenssituationen betrachtet und für diese Frauen bestimmt, welche »Risikoprofile« sie in den Schritten des Prozesses aufweisen. Es geht also nicht um die »typische Frau, die eine Schwangerschaft abbricht«, sondern die Unterschiedlichkeit von Frauen in den Dimensionen Alter, Partnerschaft und Bildung ist Ausgangspunkt: Ein Abbruch hat für sie jeweils eine unterschiedliche Geschichte und Bedeutung. Drittens sind sichere wie unsichere Verhütung und ausgetragene wie abgebrochene Schwangerschaften einbezogen. Die Analyse zielt nicht allein auf die Eigenheiten einer Frau, die eine Schwangerschaft abbrechen will, und nicht allein auf den Abbruch als ein individuelles, abweichendes Verhalten, auch nicht allein auf Konflikthaftigkeit, sondern auf biografische Prozesse, die alles dies mit einschließen können. Ganz am Anfang kann auch ein zufälliges Versagen stehen, und konflikthafte Verläufe sind ebenso bestimmbar wie konfliktfreie. Die Fragestellungen differenzieren sich aus, denn nun gilt es, sexuelles Verhalten, Verhütung und das Eintreten einer ungewollten Schwangerschaft getrennt und dann aufeinander bezogen zu untersuchen.
9
Allerdings könnte die Diagnose einer eingeschränkten Fertilität zu Nachlässigkeit bei der Verhütung führen, und dies wiederum könnte dem Eintreten einer ungewollten Schwangerschaft Vorschub leisten ...
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B ILANZ Forschung ist immer motiviert durch die Fragen ihrer spezifischen Zeit und begrenzt durch den Erkenntnishorizont ihrer Zeit. Dies gilt auch für die Forschung zum Schwangerschaftsabbruch, die in den 1970er Jahren die gesellschaftliche Abkehr von der Kriminalisierung des Abbruchs mit vollzog. Diese Abkehr bedeutete nicht, dass die Schuldfrage nicht virulent blieb, und die große Frage nach der Verwerflichkeit oder der Legitimation von Abbrüchen wurde auch in der Forschung und von der Forschung gestellt: Welche Frauen brechen eine Schwangerschaft ab? Wann ist ein Abbruch verwerflich, und unter welchen Bedingungen ist er weniger verwerflich? Die Forschung machte diese nachvollziehbaren Gründe aus: innere Konflikte und äußere Zwänge, moralische Nöte entschuldigen Frauen, die einen Abbruch vornehmen ließen. Es entstand eine spezifische Konstruktion der schuldlos schuldig eine Schwangerschaft abbrechenden Frau, entschuldigt dadurch, dass sie sich nicht in einem normalen Zustand befand: mit einer psychischen (neurotische Konfliktlösung) oder sozialen (arm und überlastet) Pathologie und gefangen in Konflikten. Die Provokation in diesem letztlich normativ schattierten Diskurs bleiben grundlos (ohne einen Grund, der als legitim und nachvollziehbar anerkannt ist) und konfliktfrei abgebrochene Schwangerschaften. Dass empirische Forschung eingebunden ist in die gesellschaftliche Konstruktion von Realität, ist ein erkenntnistheoretischer Allgemeinplatz. Der Rückblick auf die forschungsmethodischen Merkmale zeigt, dass drei Merkmale der Forschungsansätze dazu beitragen, dass der Gegenstand »Schwangerschaftsabbrüche« in einer verzerrten Weise konstruiert wurde: Erstens ist dies die isolierte Betrachtung von Frauen mit Abbruchwunsch oder Abbrucherfahrung als gesonderte Gruppe, ohne sie mit Frauen, die sich für ein Kind entschieden, zu vergleichen. Die behauptete Besonderheit der für die Abweichung genannten, persönlichen Gründe erweist sich in einem Vergleich nicht unbedingt als tragfähig.10 Zweitens war der Untersuchungsgegenstand der Persönlichkeitseigenschaften, die Frauen mit und ohne Abbrucherfahrung unterscheiden, unterkomplex. Drit-
10 Holzhauer, die Frauen mit einem Schwangerschaftsabbruch, Frauen mit einer ausgetragenen, aber konflikthaften Schwangerschaft und Frauen mit einer ausgetragenen, konfliktfreien Schwangerschaft verglichen hatte, fand heraus, dass die ersten beiden Gruppen der Konfliktschwangeren, unabhängig vom Ausgang der Schwangerschaft, Gemeinsamkeiten aufwiesen und beide sich von den Frauen, die keine konflikthafte Schwangerschaft hatten, unterschieden. Letztere befanden sich in einer bezogen auf alle Lebensfelder konsolidierteren Lebensphase (vgl. Holzhauser 1989: 378).
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tens führte das Ausblenden der Vorgeschichte eines Abbruchs, nämlich die sexuellen Kontakte und die Partnerschaft, die Verhütung und das Eintreten einer ungewollten Schwangerschaft, zu einer Verkürzung der Fragestellung. Nur für ungewollt Schwangere stellt sich die Frage nach einem Schwangerschaftsabbruch und nicht für alle Frauen, und um ungewollte Schwangerschaften zu verstehen, müssen das sexuelle Verhalten und die Verhütung einbezogen werden. Empirische Forschung ist und bleibt eingebunden in die gesellschaftlichen Diskurse ihrer Zeit und spiegelt diese in ihren Fragestellungen und Vorgehensweisen – sie sollte dies mit einer kritischen und selbstreflexiven Distanz tun. Selbst wenn sie in der Fragestellung eine spezifische zeitgeschichtliche Konstruktion des Abbruchs und Vorannahmen über die abbrechende Frau aufgreift, können und dürfen sich die Antworten nicht darin erschöpfen zu bestätigen, was als Annahme in die Forschung eingegangen ist. Die Antworten müssen vielmehr darüber hinausgehen und die Perspektive weiterentwickeln. Die zitierten Ergebnisse enthalten nämlich auch ein kritisches Potenzial: Sie sprengen allesamt vereindeutigende Konstruktionen von Schwangerschaftsabbruch. Sie stellen die »Tausendfältigkeit« der Hintergrundsfaktoren für einen Abbruch fest (HendelKramer/v. Troschke/Werner 1982: 45). Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, so lässt sich sagen, sind so unterschiedlich wie Frauen sonst auch. Die Studien diskutieren darüber hinaus, ob die Daten zu den angegebenen Gründen für einen Abbruch nicht verfälscht sind durch Legitimationszwänge von Frauen, die in der Beratung meinen, Gründe für ihren Wunsch nennen zu müssen, von denen sie annehmen, dass sie akzeptiert werden (vgl. WimmerPuchinger 1982: 109). Studien diskutieren ebenso, ob das, was sie für Frauen mit einem Schwangerschaftsabbruch beschreiben, nicht weniger den Frauen, sondern mehr dem gesellschaftlichen Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen geschuldet ist, also z.B. in die Entscheidung eingeht, dass ein Abbruch verwerflich ist. Aussagen über gesellschaftliche Normen, den kollektiven Umgang mit Fragen des Schwangerschaftsabbruchs und der Verhältnisse von Macht und Kontrolle über Reproduktion sind notwendig, um die Studien zu dem Verhalten und den Motiven von Frauen einzuordnen. Schwangerschaftsabbrüche, auch das ist ein Ergebnis der Forschung, werden nicht vollständig verschwinden: »Schwangerschaftsabbrüche für den Fall des Versagens der Kontrazeption werden […] unvermeidbar bleiben, zumal wir Hinweise dafür gewinnen konnten, dass die potenziell Betroffenen sich umso weniger in die Frage des Austragens oder Abbrechens einer unerwarteten Schwangerschaft hereinreden lassen wollen, je mehr sie vorher geplant haben.« (Oeter 1981: 31) Der Schwangerschaftsabbruch bleibt als ein grundsätzliches gesellschaftliches Konfliktfeld erhalten. Umso wichtiger ist sozialwissenschaftliche
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Forschung, die dieses Konfliktfeld als gesellschaftliches Konfliktfeld ausloten kann. Umso wichtiger sind alle die genannten Forschungsergebnisse – in ihrer überdauernden Erklärungskraft, aber auch und gerade in ihrer zeitgeschichtlichen Beschränkung – und umso wichtiger ist die Reflexion der eigenen Forschungsperspektive in ihrer Wertgebundenheit und ihrer Auseinandersetzung mit der Beunruhigung, die von der Frage der Entstehung des Lebens im Körper der Frau ausgeht, die auf das Verhältnis zu Sexualität und Weiblichkeit ausstrahlt. Sozialwissenschaftlich kann die Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots erforscht werden, die die Konstruktion des Lebensschutzes nachverfolgt (z.B. Jerrouschek 1988), es können die Versorgungssysteme und die beteiligten Professionellen einbezogen und ihre Vorgehensweisen und Konstruktionen erhoben werden (z.B. Häussler-Sczepan 1989) oder es kann der Schwangerschaftsabbruch als Teil der Frage der Kontrolle von Reproduktion und der Entstehung des Lebens im Kontext der Geschlechterbeziehungen untersucht werden. Sozialwissenschaftliche Forschung kann kritisch fragen, welche Aspekte ausgeklammert werden, weil sie dem gesellschaftlichen Diskurs zuwider laufen. Warum z.B. wird der Schwangerschaftsabbruch als Angelegenheit der Frau betrachtet (der Erzeuger wird als Randbedingung und fakultative Einflussgröße abgehandelt)? Die Bedeutung von Schwangerschaftsabbrüchen für Männer ist bislang nur wenig untersucht – und schon gar nicht vor dem Hintergrund sich verändernder Vaterschaftskonzeptionen. Sozialwissenschaftliche Forschung kann Konstruktionen hinterfragen: Warum diese Einschränkung des Blicks auf die Frau, die einen Abbruch wünscht? Weil die Frau, das Individuum allein, Träger von Schuld sein kann? Warum dann die Frau und nicht der Erzeuger einer Schwangerschaft, der Mann? Oder ist es die Beunruhigung, die von der fehlenden Kontrolle der Entstehung von Leben im Körper der Frau ausgeht? Und warum dieses Bestehen darauf, dass ein Schwangerschaftsabbruch für eine Frau immer und per se konflikthaft sein müsse? Wird hier ein großer und existenzieller gesellschaftlicher Konflikt, den der Schwangerschaftsabbruch darstellt und der mit der kollektiven Identifikation mit einem ungeschützten Fötus verbunden ist (Boltanski 2007), in die Frau hinein verlagert, die eine solche Handlung vollzieht? Soll die Annahme der Konflikthaftigkeit besagen, dass Frauen zumindest mit dem Kopf oder dem Bauch den Konsens bestätigen (sollen), dass Leben an einer Entfaltung nicht gehindert werden und positive Utopien beinhalten kann? Wie könnte ein kritischer Blick auf Schwangerschaftsabbrüche als Forschungsgegenstand aussehen? Eine (selbst-)kritische Position in diesem Sinn ist kein Unterfangen Einzelner. Wünschenswert ist eine lebendige »Scientific Community«, die diese Frage – vor allem die Reflexion der Standortgebundenheit der eigenen Forschungsansätze – gemeinsam und auch kontrovers diskutiert,
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Forschungslücken aufdeckt, neue Zugänge zum Thema entwickelt und sich im Sinne Boltanskis der historisch-anthropologischen Dimension des Themas stellt. Schwangerschaftsabbrüche sind ein Teil des Lebens – nur ein tief verankerter moralischer Reflex kann diese Aussage als Bagatellisierung lesen. Gemeint ist vielmehr: Sie nehmen ebenso wie Empfängnis, Zeugung und Geburten ihren Ausgangspunkt in einer heterosexuellen Beziehung und Geschlechtsverkehr – mit allem, was daran mit Emotionalität und Unwägbarkeit verbunden ist. Dann stellt sich die Frage der Verhütung – ein keineswegs in Richtung technokratischer Natur- und Reproduktionsbeherrschung auflösbares Thema. Das Thema Kinderwunsch bleibt angesichts der gesellschaftlichen Widersprüche kompliziert – es bestehen Rechtfertigungszwänge für Frauen, die sich gegen, aber auch: die sich unter den falschen Umständen für ein Kind entscheiden. Und schließlich sind die eingeschränkten ökonomischen Umstände, die es erschweren, ein Leben mit und ohne Kinder so zu führen, wie man es aus guten Gründen entschieden hat, ein herausforderndes Thema. Die sich wandelnden Gesetzgebungen im Bereich der Familie und die Rolle der Medizin werfen neue Forschungsfragen auf. Unterdessen versucht die empirische Studie »frauen leben 3« zumindest drei wesentliche Eckpunkte umzusetzen: Eine Einbindung des Themas Schwangerschaftsabbrüche in eine prozessuale Perspektive reproduktiver Biografien mit standardisierten Daten, mit qualitativen Methoden einen verstehenden Zugang zur Vielfältigkeit der Perspektiven und Deutungsmuster von Frauen bei der Gestaltung ihrer reproduktiven Biografien und schließlich eine Kontextualisierung durch einen Rückbezug auf gesellschaftliche Bedingungen. Wir hoffen, dadurch der empirischen Forschung neue Impulse zu geben und hoffen auf weiter führende Diskussionen bei einem weiterführenden Austausch.
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Moralpolitik und Religion: Die Abtreibungskontroversen in Polen, Italien und Spanien A NJA H ENNIG
E INLEITUNG In liberalen Demokratien, in denen die Trennung von Kirche und Staat ein grundlegendes Prinzip darstellt, sollte Religion eigentlich keinen Einfluss auf die Politik und somit auch nicht auf die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs haben. Zugleich drängt sich der Eindruck auf, dass Religion in dieser Kontroverse eine Rolle spielt. So erregte in Deutschland 2012 der Fall einer vergewaltigten Frau Aufmerksamkeit. Ihr verwehrten zwei katholische Krankenhäuser in Köln eine Behandlung, da Abtreibung der katholischen Doktrin entgegensteht (vgl. Zeit Online 21.2.2013). Auch zeigen Vergleichsstudien, dass Abtreibung tendenziell dort liberaler gehandhabt wird, wo der Protestantismus traditionell vorherrscht. Restriktivere Gesetze (vgl. Minkenberg 2003) bzw. eine zögernde Liberalisierung (vgl. Knill/Preidel/Nebel 2014) kennzeichnen hingegen die Moralpolitik katholisch geprägter Länder. Vor diesem Hintergrund geht der Beitrag der Frage nach, welche Rolle Religion in den nationalen Abtreibungskontroversen Polens, Italiens und Spaniens spielte. Dabei interessiert, inwieweit sich seit den 1990er Jahren Religion auf das Zustandekommen gesetzlicher Abtreibungsregelungen, auf die Protestmobilisierung sowie auf die Versorgungsrealität auswirkte. Religion wird hier als konfessionelle Tradition verstanden, als Theologie bzw. Doktrin, als individuelle Glaubensüberzeugung und religiöse Praxis sowie als religiöse Bewegung und Institution (vgl. Fox 2013; Haynes 2010).Trotz der kategorischen Ablehnung von Abtreibung durch die katholische Morallehre (vgl. Kalbian 2005) wird in mehrheit-
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lich katholischen Ländern wie Polen, Italien und Spanien unterschiedlich mit den reproduktiven Rechten von Frauen umgegangen. Bevor Länderstudien Einblicke in die jeweiligen Kontroversen geben, ordnet ein konzeptioneller Teil den Konflikt um Abtreibung in den moralpolitischen Kontext ein und leuchtet die zentralen Konfliktlinien aus.
ABTREIBUNG
ALS MORALPOLITISCHER
K ONFLIKT
So singulär die nationalen Debatten um die rechtliche Handhabe von Abtreibung scheinen, so klar stellen sie aus vergleichender Perspektive ein gesellschaftspolitisches Konfliktfeld dar, das ähnliche Muster aufweist. Es sind Konflikte um fundamentale wertbezogene Fragen nach der ethischen Rechtmäßigkeit von Abtreibung, nach der rechtlichen Gleichstellung homosexueller Paare oder nach der Legalisierung von Sterbehilfe.1 Moralpolitik betrifft somit nicht nur die politische Regulierung des individuellen Verhaltens, sondern auch der Lebensführung (vgl. Knill 2013; Lowi 2011; Mooney 2001). Da Vorstellungen von Leben, Tod, dem Geschlechterverhältnis und der Familie religiösen Lehren zu Grunde liegen, sind religiöse Akteure besonders häufig in diese Konflikte involviert; selbst in Gesellschaften, in denen der Rückhalt der Kirchen schwindet (vgl. Mooney 2001). Dort versucht eine meist gut organisierte Minderheit religiös konservativ bis fundamentalistisch eingestellter Gruppen ihre Sichtweise politisch geltend zu machen (vgl. Hennig 2012). Auf der anderen Seite werden moralpolitische Konfliktlagen wegen ihrer emotionalen und ideologischen Spannungen oft für politische Ziele instrumentalisiert (vgl. Knill 2013). Folgen moralpolitische Konflikte auch ähnlichen Mustern, bedeutet dies nicht, dass die politische Regelung ethisch sensibler Bereiche in allen Gesellschaften gleichermaßen konfliktreich verläuft. Die Konfliktintensität hängt insbesondere davon ab, welche Stellung Religion bzw. die Kirche in Gesellschaft und Politik erfährt und wie eine Gesellschaft kulturell zusammengesetzt ist (eher homogen oder pluralistisch), (vgl. Studlar 2001: 45; Mooney 2001: 16).
1
Das Konzept »morality politics« stammt aus der US-amerikanischen Politikforschung. In den USA spalten seit den 1970er Jahren Konflikte um moralisch kontroverse Themen wie Abtreibung die Gesellschaft in Vertreter einer liberalen Pro-Choice-Position und einer konservativen Pro-Life-Position (vgl. Putnam/Campbell 2010).
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ABTREIBUNGSREGELUNGEN
IM
Ü BERBLICK
In den nationalen Abtreibungskontroversen geht es nicht nur um die Frage, ob eine Schwangerschaft strafrechtlich oder außerstrafrechtlich abgebrochen werden darf, sondern auch darum, ob Beratungen verpflichtend sind bzw. nach welchem Modell Abtreibung erlaubt ist. Landläufig wird zwischen der Fristenlösung, dem Indikationsmodell und dem Notlagenmodell als Mischform unterschieden (siehe Gindulis 2003 und in diesem Band). Alle drei Modelle können sowohl liberal als auch restriktiv ausgelegt werden. Die Fristenlösung gilt als besonders liberales Modell, da es die Frau grundsätzlich berechtigt, im Rahmen gesetzter Fristen selbst über den Abbruch der Schwangerschaft zu entscheiden (siehe Gindulis in diesem Band). Auf dieses Modell hatte man sich 2010 in Spanien geeinigt. Seit 2011 steht jedoch erneut ein restriktives Indikationsmodell zur Diskussion (vgl. El Huffington Post 22.6.2014), das dem polnischen Gesetz sehr ähnlich ist. Dieses erlaubt Abtreibung nur bei physischer oder psychischer Gefahr für die Frau, bei starker Schädigung des Embryos, oder wenn die Schwangerschaft aus einer Straftat resultiert (vgl. Nowicka 2007). In Italien hingegen wird das Indikationsmodell sehr liberal ausgelegt. Dort darf eine Frau auch aus individuell sozialen Gründen abtreiben; eine Regelung, um die in Polen seit Anfang der 1990er Jahre erfolglos gerungen wird (vgl. Hennig 2012: 271-290; Center for Reproductive Rights 2008).2
Recht der Frau vs. Recht des Embryos Der normative Kern der Abtreibungskontroverse besteht heute in der Frage nach dem Status des Embryos und zwei daraus resultierenden Fragen: Ist ein Embryo ein menschliches Wesen mit eigenen Rechten und wenn ja, ab welchem Stand seiner Entwicklung soll er diese Rechte tragen? Und inwieweit ist eine Frau moralisch verpflichtet ggf. auf Kosten ihrer eigenen Interessen dem vorgeburtlichen Leben Priorität einzuräumen? Je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, wird Abtreibung aus liberaler Sicht als individuelles Recht von Frauen betrachtet, während im konservativen Denken der Schwangerschaftsabbruch als Bereich gilt, der maßgeblich staatlicher Regelung, d.h. vor allem Reglementierungen, bedarf (vgl. Hennig 2012: 91).
2
Für eine stets aktualisierte Übersicht zur weltweiten Gesetzeslage siehe: http://www. worldabortionlaws.com/map (Zugriff am 03.07.2014).
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Der Argumentationsrahmen, in dem sich die liberale Sichtweise bewegt, ist vor allem durch »normative Traditionen« (Htun 2003: 29) des Liberalismus und Feminismus geprägt. Auf Seiten derer, die eine restriktive Sicht vertreten, spielen konservatives Denken und die katholische Moraltheologie als normativer Referenzrahmen eine prägende Rolle. Im liberalen Verständnis ist Abtreibung dem liberalen Denker Ronald Dworkin zur Folge moralisch dann gerechtfertigt, wenn es im Fall von Vergewaltigung, Inzest oder bei gravierenden Missbildungen am Embryo um das Leben der Frau geht. In gewissen Fällen könne Abtreibung gar moralisch notwendig sein. Sie wird aber auch dann akzeptiert – und dies ist der zentrale Unterschied zur konservativ-restriktiven Perspektive –, wenn es im Interesse der Frau liegt. Aufgabe des Staats ist es, ihr die Entscheidung zu überlassen, ob Abtreibung für sie moralisch zu rechtfertigen ist. Im Sinne des Primats individueller Rechte darf der Staat »not impose other people´s conviction upon her« (Dworkin 1993: 34/35). Maßgeblich beeinflusst durch die internationale Frauen-, Gesundheits- und Menschenrechtsbewegung hat sich diese Sicht in den 1980er Jahren zum politischen Konzept der »Reproduktiven Rechte« verdichtet, das als normativer Argumentationsrahmen für internationale Organisationen dient, die in diesem gesetzten Bereich von Sexualität, Gesundheit, Schwangerschaft, Geburt, Geburtenkontrolle sowie reproduktionsmedizinischen Methoden tätig sind (Bueno de Mesquita/Finer 2008: 7-8). Ging es bei der Forderung, Abtreibung zu legalisieren, um das Recht für Frauen, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen, schließt das Verständnis der reproduktiven Rechte ein weiteres Feld und auch die Rechte von Paaren ein. Mittlerweise sind »Reproduktive Rechte« Teil des Menschenrechtskatalogs (Amnesty International 2009).3 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Abtreibung ein einklagbares Recht wäre. Selbst in der EU wurde die Harmonisierung des Abtreibungsrechts nicht weiter forciert, da die Mitgliedsstaaten familienrechtliche und andere moralpolitische Fragen als nationale Domäne betrachten.4 Dennoch sieht es das Europäische Parlament als seine Aufgabe, die Gewährleistung von sicherer Abtreibung etwa in Ländern wie Polen, Malta oder Irland anzumahnen (vgl. Europäisches Parlament 3.7.2002). 3
Die internationalen Veränderungen werden u.a. in dem Beitrag von Ulrike Busch in diesem Band näher beleuchtet.
4
Mit dieser Begründung wies die konservative Mehrheit im Europäischen Parlament allerdings auch die Resolution über eine EU-Garantie sexueller und reproduktiver Rechte ab, wie sie 2013 als Konsequenz des Berichts von Edite Estrela über sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte gefordert wurde. www.europarl.europa.eu/ oeil/popups/summary.do?id=1328123&t=e&l=en (Zugriff am 03.07.2014).
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Gegner eines Konzepts reproduktiver Rechte, das das Recht auf Abtreibung einschließt, folgen aus Sicht Dworkins entweder einer säkularen oder einer religiös überkonfessionellen Argumentationslinie. Das erste Argument gegen Abtreibung folgt einer »abgeleiteten« Rechtslogik (derivative objection). Aus dieser Sicht gelten Embryonen als Lebewesen, die mit eigenen Rechtsinteressen ausgestattet sind; insbesondere dem Interesse, am Leben zu bleiben. Deshalb gebühren ihnen die gleichen Rechte, die andere Menschen auch zum Schutz ihrer Interessen wahrnehmen können. Abtreibung ist aus dieser Sicht prinzipiell falsch, da es das Recht verletzt, nicht getötet zu werden; eine Begründung, die sich aus Rechten und Interessen ableitet, die, so die Annahme, alle Menschen und somit auch Embryonen besitzen. Regierungen trügen somit eine »abgeleitete Verantwortung« (derivative responsibility), Embryonen zu schützen. Die religiös begründete Ablehnung von Abtreibung begreift diesen Eingriff als prinzipiell falsch, da der »intrinsische Wert und heilige Charakter jeder Phase menschlichen Lebens missachtet und verletzt« sei. Leben ist aus dieser Sicht in sich heilig »und der heilige Charakter menschlichen Lebens beginnt, wenn das biologische Leben beginnt« (Dworkin 1993: 11, eigene Übersetzung). Dennoch unterscheiden sich die Religionen bzw. christlichen Konfessionen in ihren theologischen Interpretationen sowie ihrer Haltung zum Schwangerschaftsabbruch. Um die spezifische Haltung sowie Struktur der römischkatholischen Kirche zu kontrastieren, skizziert der nächste Abschnitt auch die Position der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD).
Katholische Kirche Fragen, die Beginn und Ende des Lebens berühren, betreffen alle Religionen. Das besondere der katholische Kirche in diesen Fragen ist, dass auf Grund ihrer hierarchischen Struktur und der transnational geltenden Autorität des Papstes allein die vom Vatikan veröffentlichte Lehrmeinung weltweit gültig ist (vgl. Berger 1999: 207). Dazu gehört vor allem die katholische Morallehre, die als göttlicher Wille und Naturgesetz interpretiert wird (vgl. Kalbian 2005). Sie unterbindet alle Methoden der Abtreibung, Verhütung und künstlichen Befruchtung; eine Haltung, die sich seit der Verlautbarung der Kongregation für die Glaubenslehre von 1974 nicht verändert hat. Demnach richte sich jede Form des Eingriffs in den Prozess der Fortpflanzung gegen das »göttliche Gesetz«; selbst dann, wenn das Leben der Mutter auf dem Spiel steht (Kongregation für die Glaubenslehre 1974). Grundlage dieser Haltung ist die Auffassung über den Zeitpunkt der Beseelung eines Embryos. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die theo-
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logische Sichtweise durchgesetzt, dass die Beseelung des Embryos bereits mit der Empfängnis erfolge (Ranke-Heinemann 1988: 316). Trotz kircheninterner Differenzen darüber, ob therapeutische Abtreibung zur Lebensrettung der Mutter legitim sei, verurteilten alle päpstlichen Enzykliken und Deklarationen des 20. Jahrhunderts Abtreibung aufs Schärfste (vgl. Htun 2003: 34; Dillon 1999). Moralpolitisch gesehen stärkte die Doktrin der unmittelbaren Beseelung die politische Position der katholischen Kirche. Indem die Kirche davon ausging, dass das Leben unmittelbar mit der Befruchtung beginnt, konnte sie sich zugleich auf den Schutz der Rechte und Interessen und somit auf den intrinsischen Wert menschlichen Lebens berufen; mit Dworkin also jene »losgelöste« Logik, die mit dem säkularen Rechtsdiskurs kompatibel ist (Dworkin 1993: 45 f.).5 Dennoch sind auch unter katholischen Theologinnen und Theologen wie Laiinnen und Laien die Lehrmeinungen zu Abtreibung, Verhütung oder Homosexualität divers. So beruft sich etwa die US-amerikanische Organisation Catholics for Choice6 auf die reproduktiven Rechte von Frauen und kritisiert Papst Franziskus, trotz wichtiger Reformimpulse das katholische Abtreibungsverbot nicht anzutasten.7 Ein anderes Beispiel für eine liberale katholische Sichtweise sind die »Christen in der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens« (PSOE)8, die sich für die Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes eingesetzt hatten (vgl. DíazSalazar 2006: 275). Wie die polnische, italienische und spanische Bischofskonferenz verhalten sich auch die deutschen katholischen Bischöfe konform zur Position des Vatikans. Infolge des eingangs genannten Skandals, bei dem ein Vergewaltigungsopfer von zwei katholischen Krankenhäusern abgewiesen wurde, einigte man sich allerdings darauf, die »Pille danach« im Einzelfall zu akzeptieren; vorausgesetzt, sie beinhaltet ein Medikament, dass nur den Eisprung verzögert, aber keine befruchtete Eizelle zerstört. Dieser minimale Kurswechsel ändert jedoch nichts an der prinzipiellen Haltung der deutschen Bischofskonferenz zum Abtreibungsverbot (vgl. Zeit online 21.2.2013).
5
Die Lehrmeinung vom unveräußerlichen Persönlichkeitsrecht eines Embryos ermöglichte es der katholischen Kirche, sich in bioethischen Debatten klar gegen die Verwendung von Embryonen zu positionieren (vgl. Htun 2003: 34).
6 7
Vgl.: http://www.catholicsforchoice.org (Zugriff am 28.11.2013). http://www.catholicsforchoice.org/news/pr/2013/PopeFrancisExposesHisBlindSpoton Women.asp (Zugriff am 28.11.2013).
8
Vgl.: http://www.psoe.es/ambito/cristianos/news/index.do (Zugriff am 03.07.2014).
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Evangelische Kirche Deutschland (EKD) Im Unterschied zur hierarchisch gegliederten katholischen Kirche existiert im protestantischen Christentum kein einheitliches kirchliches Lehramt. Im Zentrum steht vielmehr ein historisch bedingter Pluralismus protestantischer Lehrmeinungen. So kann die EKD als Dachverband sehr unterschiedlicher protestantischer Kirchen nicht für »den« Protestantismus sprechen. Stattdessen veröffentlichen die Leitungsgremien der EKD Stellungnahmen, die von Politik und Gesellschaft zur Kenntnis genommen und von den Landeskirchen als unverbindliche Leitlinien betrachtet werden. Dabei ist für ihre Positionierung zu moralpolitischen Fragen charakteristisch, der individuellen Verantwortung einen hohen Stellenwert beizumessen (vgl. Kreß 2011: 21). Zwar betont die EKD »den Schutz des ungeborenen Lebens« (Kreß 2011: 21). Doch faktisch räumt sie der Entscheidung der Frau Priorität ein: Ihre Entscheidung, »obwohl gegen Gottes Gebot«, dürfe »nicht pauschal und von vorneherein als selbstherrliche Verfügung über menschliches Leben verurteilt werden« (EKD 2011). So sei eine Schwangerschaftskonfliktberatung nur erfolgreich, wenn kein Druck auf die Ratsuchende ausgeübt werde. Weitaus skeptischer zeigt sich die EKD gegenüber der Fortpflanzungsmedizin. Hier spricht sie sich aus Achtung vor dem Leben und aus Furcht vor Missbrauch von künstlicher Befruchtung u.a. für ein Verbot der PID aus; jedoch nicht ohne auf die Notwendigkeit zu verweisen, sich ein persönliches ethisches Urteil zu bilden (EKD 2011). Es gibt aber auch im deutschen Protestantismus fundamentalistische Gruppierungen, die, wie die Evangelische Allianz, im Sinne Dworkins detached objection Schutzrechte für »ungeborene Menschen« fordern und Abtreibung kategorisch ablehnen (Guske 2013: 122).
E INBLICKE : D IE R OLLE VON R ELIGION ABTREIBUNGSKONTROVERSE 9
IN DER
Ausgangspunkt dieses Vergleichs ist, dass moralpolitische Konflikte im katholischen Europa unter anderen Bedingungen verlaufen als im konfessionell gemischten bzw. im protestantisch geprägten Teil des Kontinents. Katholische Ge-
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Die folgenden Darstellungen und Auswertungen resultieren aus der Vergleichsstudie der Autorin: Hennig, Anja (2013): Moralpolitik und Religion. Bedingungen politischreligiöser Kooperation in Polen, Italien und Spanien, Würzburg: Ergon-Verlag.
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sellschaften kennzeichnen, dass dort über 70 % der Bevölkerung angibt, katholisch zu sein (vgl. Halman/Draulans 2004: 296). Auch sind sie – gemessen an der Kirchganghäufigkeit – im Durchschnitt religiöser als protestantisch geprägte Gesellschaften, wenn auch mit sinkender Tendenz (vgl. Norris/Inglehart 2004: 8589). Für die Interaktion zwischen religiösen und politischen Akteuren ist überdies bedeutsam, dass die katholische Kirche in solchen Ländern traditionell über eine Monopolstellung und dadurch über ein historisch gewachsenes weites Netz katholischer Einrichtungen und Organisationen verfügt (vgl. Fix 2001). Obgleich die katholische Morallehre, wie erstmalige Umfragen des Vatikans zur Sexualmoral zeigen (vgl. Die Welt 27.6.2014) für die Gläubigen nur noch bedingt eine Autorität darstellt, stoßen Versuche moralpolitischer Liberalisierung in katholischen Gesellschaften in der Regel auf den Widerstand katholischer Institutionen. Die katholischen Länder Polen, Italien und Spanien zu vergleichen ist interessant, da sich ihre Abtreibungsregelungen, wie eingangs dargestellt, trotzdem unterscheiden.
Religion und Politikergebnis In der Politikwissenschaft differenziert man zwischen dem Politikprozess und dem daraus resultierenden Politikergebnis (vgl. Jann/Wegerich 2003). Dabei können Politikergebnisse (z.B. Gesetze) im Verlauf des politischen Prozesses verändert werden, gerade im polarisierten moralpolitischen Feld, wo es zwischen Befürworterinnen und Befürwortern und Gegnerinnen und Gegnern von liberalen Gesetzen selten zu Kompromissen kommt und Konflikte immer wieder aufflammen (vgl. Hansen 2011). In Italien hatte sich bereits 1978 die Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum gegen die katholische Kirche für die Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes ausgesprochen (vgl. Donovan 2003: 103), das bisher rechtlich nicht angetastet wurde. Stattdessen stand zwischen 1999 und 2005 ein Gesetz zur künstlichen Befruchtung zur Diskussion, das 2004 unter Protest in seiner restriktiven Version verabschiedet wurde und dessen Lockerung durch ein dafür angesetztes Referendum 2005 scheiterte (vgl. Hennig 2012: 324-325). In Spanien stand Abtreibung aus sozialen Gründen bis 2010 unter Strafe. Viele private Kliniken umgingen diesen Tatbestand, indem sie Abtreibungen auf Grundlage der Indikation einer psychischen Gefährdung der Frau durchführten (vgl. Blofield 2006: 93). Nach dem Regierungswechsel 2004 brachte die neue sozialistische Regierung unter Rodriguez Zapatero 2008 jenes liberale Fristenmodell auf den Weg, das 2010 in Kraft trat (vgl. Hennig 2012: 370-374). Als es
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im Kontext der Finanzkrise zu vorgezogenen Neuwahlen kam, kündigte Mariano Rajoy, Vorsitzender der konservativen Volkspartei (Partido Popular, PP), an, das Abtreibungsgesetz wieder zu verschärfen. Die PP gewann, und im Dezember 2013 nahm die neue Regierung trotz massiver Proteste, nun seitens der ProChoice-Koalition, den neuen restriktiven Gesetzesvorschlag an (vgl. El Huffington Post 22.6.2014). Eine Bestätigung durch das Parlament stand zum Zeitpunkt der Drucklegung noch aus. Polens Abtreibungsgesetz, das seit 1993 unverändert zu den restriktivsten Regelungen Europas gehört, resultiert aus einer Allianz kirchennaher konservativer und katholischer Parteien, die der Kirchenhierarchie damals weitreichenden Einfluss auf die Gestaltung des Abtreibungsgesetzes gewährte (vgl. Byrnes 2001; Hierlemann 2005). Dieses Gesetz löste das liberale Modell ab, das die kommunistische Regierung 1956 erlassen hatte (vgl. Standish 1998: 116). Allerdings scheiterte 2007 ebenso der Versuch der fundamentalistischen Partei polnischer Familien, Abtreibung verfassungsrechtlich gänzlich unter Strafe zu stellen (vgl. Hennig, 2012: 287 ff.). Aus der detaillierten Analyse der Konfliktverläufe in den drei Ländern resultiert, dass Religion das Zustandekommen dieser unterschiedlichen Gesetzeslagen eher indirekt beeinflusste. Selbst Kirchenvertreter mit guten Beziehungen zur Politik formulieren in Demokratien in der Regel keine Gesetze. Entscheidend ist vor allem die (moral-)politische Orientierung der politischen Entscheidungsträger. Das verdeutlicht der spanische Fall besonders gut. Der Regierungschef Rodriguez Zapatero vertrat als Nachfolger des konservativen José María Aznar eine liberale, an dem Prinzip der Wahlfreiheit ausgerichtete Weltanschauung, während Mariano Rajoy für ein konservatives Weltbild steht, das der Öffentlichkeit von religiösen Wertvorstellungen und somit auch dem Lebensrecht eines Embryos Priorität einräumt (vgl. Hennig 2012: 160-164). Für alle drei Länder gilt im Rückblick, dass seit 1990 eine moralpolitische Liberalisierung (gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Abtreibung) nicht stattfand, solange konservative Mitte-Rechts-Regierungen im Amt waren, die traditionell den Interessen der katholischen Kirche näher stehen als links-liberale Parteien (vgl. Hennig 2012: 252//257/261). Schwer zu beantworten ist hingegen die Frage, inwieweit sich die politischen Entscheidungstragenden in ihrem moralpolitischen Programm primär von ihren religiösen oder säkularen Wertvorstellungen leiten lassen oder Abtreibung auf die Agenda setzten, um aus strategischen Gründen bestimmte Gruppen anzusprechen. Rajoy etwa, so ein spanischer Analyst, ziele mit dem verschärften Abtreibungsgesetz vor allem darauf zu verhindern, dass die ultra-katholischen Opus Dei-Mitglieder seiner Partei in eine
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unlängst gegründete rechtsradikale Partei wechseln (vgl. Deutschlandfunk 7.2.2014). Noch entscheidender ist allerdings, wie konsequent das jeweilige moralpolitische Programm verfolgt wird und wieweit sich politische Entscheidungsträger auf die Forderungen religiöser Akteure einlassen. Religion kann dieses Handeln bzw. die Wahl bestimmter Strategien indirekt beeinflussen, insbesondere durch zwei Aspekte: durch das historisch gewachsene Verhältnis von Kirche und Staat und durch die Verbindung von niedriger Wahlbeteiligung und hoher Religiosität (vgl. Hennig 2012: 386-388). In Polen und Italien prägen die historisch engen Beziehungen zwischen Kirche und Staat bis heute die nationale Geschichte und Kultur. Mehr noch, in beiden Ländern stellt die katholische Kirche eine moralische Autorität dar, die es liberalen wie konservativen politischen Entscheidungstragenden erschwert, katholische Interessen zu ignorieren bzw. mit der Kirchenhierarchie in Konflikt zu treten. In Spanien ist als Folge der Allianz zwischen dem Diktator Franco und der katholischen Kirche das Verhältnis zwischen Kirche und zumindest den linken Parteien sowie weiten Teilen der Gesellschaft seit den 1970er Jahren kompromittiert. In Polen und Italien herrschte bislang hingegen eine »Kultur der Kooperation« zwischen Kirche und Staat vor. Diese Furcht vor einem Konflikt mit der katholischen Kirche reduzierte den politischen Handlungsspielraum gerade jener, die sich für eine Liberalisierung von Abtreibung bzw. künstlicher Befruchtung einsetzten (vgl. Hennig 2012: 385). Moralpolitische Entscheidungen werden aber auch durch Parteienkonkurrenz, die gerade im Vorfeld von Wahlen zum Tragen kommt, determiniert. Ist die Wahlbeteiligung erfahrungsgemäß niedrig, können moralpolitische Fragen zu strategischen Spielbällen um die politische Macht werden und Zielkonflikte auslösen.10 So scheiterten in Polen die Vorhaben linker Regierungen, das Abtreibungsgesetz zu liberalisieren, da seit Anfang des Jahres 2000 Polens Beitritt zur EU oberste Priorität hatte. Bis heute ist die Wahlbeteiligung in Polen sehr niedrig und jene, die zuverlässig zur Wahl gehen, sind meist besonders religiös. Im Jahr 2003 sollte per Referendum über den EU-Beitritt verbindlich abgestimmt werden – ein Ziel, dem die katholische Kirche und viele Polinnen und Polen überaus skeptisch gegenüberstanden. Daher versuchte die Regierung, die katholische Kirche für dieses Projekt zu gewinnen. Sie versicherte, sich moralpolitisch in Zukunft nach den Vorstellungen der Kirche zu richten und in diesem Sinne auch das Abtreibungsgesetz nicht anzutasten. Es war ein inoffizieller und von Frauenrechtlerinnen kritisierter »Pakt«, der jedoch seine Wirkung zeigt – bis heute (Ramet 2006: 136 ff.). 10 Exemplarisch für die USA siehe Putnam/Campbell 2010.
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Auch in Italien war die Beteiligung an Referenden sehr gering (vgl. Köppl 2007). Als linke Liberalisierungsbefürworter/innen ein Referendum zur Lockerung des Gesetzes zur künstlichen Befruchtung durchsetzen konnten, rief der damalige Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz Camillo Ruini zum Wahlboykott auf. Er hoffte, auf diese Weise das nötige Quorum zu verfehlen und das Referendum scheitern zu lassen – mit Erfolg. Diese für die Kirche ungewöhnliche Strategie richtete sich ebenfalls an jene religiöse politisch aktive Minderheit (vgl. Hennig 2012: 325). Ein genauerer Blick auf die Strategien zeigt, dass vor allem die konservativ politischen und religiösen Liberalisierungsgegner in der Lage waren, sich mit einer Stimme gegen das Recht auf Abtreibung bzw. dessen Liberalisierung zu positionieren. Das Mitte-Links-Lager äußerte sich hingegen meist vielstimmig oder war, wie in Italien, gar ideologisch gespalten11 sowie in Teilen bereit, der katholischen Kirche Zugeständnisse zu machen bzw. katholischen LobbyGruppen Gehör zu schenken (vgl. Hennig 2012: 325). Auch läge es nahe, der Kirchganghäufigkeit in einer Gesellschaft viel Einfluss beizumessen, wirkt diese sich doch auf die öffentliche Meinung gegenüber Abtreibung und die Bereitschaft aus, eine konservative bzw. rechte Partei zu wählen (vgl. Norris/Inglehart 2004: 159 ff., 196 ff.). Doch hier lässt der Vergleich zwischen dem hochreligiösen Polen, dem mittel-hoch religiösen Italien und dem eher gering religiösen und weitestgehend liberal gestimmten Spanien12
11 In Italien war es die Minderheit der papstfreundlichen »Teodem« innerhalb der Demokratischen Partei, die mit für das Scheitern der Liberalisierungsagenda des damaligen links-katholischen Premiers Romano Prodi verantwortlich waren. 12 Laut PEW-Forum waren 2010 in Polen von 94,3 % Christen 97,8 % katholisch, in Italien von 83,3 % Christen 97,5 % und in Spanien von 78,3 % Christen 95,7 % katholisch (siehe dazu die Länderdaten unter: http://www.globalreligiousfutures.org). Der Maßstab zum Vergleich der religiösen Praxis ist im Folgenden der prozentuale Anteil derer, die mindestens wöchentlich die Messe besuchen, also als sehr religiös einzuordnen sind: In Polen praktizierten zwischen den 1990er Jahren und 2006 mit dann leicht sinkender Tendenz etwa 60 % mindestens einmal wöchentlich (Szawiel, Tadeusz [2007], Religiosität in Polen im Europäischen Kontext, Polen-Analysen, 22, S. 2/3). In Italien praktizierten 2005 etwa ein Drittel der Katholiken mindestens wöchentlich, mehr als 20 % monatlich und etwa 10 % gar nicht (Garelli, Franco [2007], La Chiesa in Italia [Bologna: Il Mulino], S. 61). In Spanien besuchten 2005 (ebenfalls mit sinkender Tendenz) etwa 25 % der Katholiken mindestens wöchentlich die Messe (Casanova, José [2009], Religiosität in Spanien. Eine interpretative Lektüre der Resultate des Religionsmonitors, in Berthelsmann Stiftung (Hg..), Woran glaubt die Welt?
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folgenden Schluss zu: Während in Spanien niedrige Religiosität und eine entsprechend liberale Einstellung in der Bevölkerung für die Lockerung von Abtreibungsgesetzen hilfreich war, verhinderte sie dort offensichtlich nicht die erneute Restriktion von Abtreibung. Hohe Religiosität wie in Polen hielt hingegen Politikerinnen und Politiker nicht davon ab, sich öffentlich für eine Liberalisierung einzusetzen. Sie mag aber in letzter Instanz die Bereitschaft, solche Programme konsequent zu verfolgen, begrenzt haben (vgl. Hennig 2012: 389).
Religion und Protestmobilisierung Nach der Analyse der Bedeutung von Religion für das Ergebnis von Moralpolitik geht es nun darum, den Einfluss der katholischen Kirchenhierarchie und katholischer Gruppen auf die Mobilisierung von Teilen der Gesellschaft sowie Politikerinnen und Politiker gegen das Recht auf selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch zu betrachten. In allen drei Ländern zeigt sich, dass trotz der unterschiedlich hohen Religiosität Abtreibungsgegner in den letzten Jahren jeweils etwa eine Million Menschen zur Teilnahme an Demonstrationen bewegen konnten. In Polen mobilisierte neben katholischen Pro-Life-Gruppen vor allem eine Radiostation die Gläubigen. Radio Maryja13 gilt dort als größte charismatisch-fundamentalistische Bewegung. Sie wurde vom Medienunternehmer Pater Rydzyk gegründet, der während der Demonstrationen »für das Leben« stets Messen auf zentralen Warschauer Plätzen feierte (vgl. Mecke 2007; Żurek 2009). In Italien mobilisierte mit Unterstützung der Kirchenhierarchie unter anderem das auf den ersten Blick säkulare Foro delle Associazioni Famigliari 14 (Forum der Familienverbände) seine Unterstützer. In Spanien gab es vor allem bis 2010 massive Proteste von Abtreibungsgegnern mit katholischem Hintergrund. Sie richteten sich insbesondere gegen Privatkliniken, die Abtreibungen auf Grundlage einer psychologischen Indikation auch nach dem dritten Schwangerschaftsmonat durchführten; eine rechtlichen Grauzone, durch die Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen verklagt werden konnten (vgl. El País 4.1.2008). Als Zapatero in seiner zweiten Amtszeit die Liberalisierung des Gesetzes ankündigte, organisierten die Abtreibungsgegner konzertierte Aktionen bisher ungekannten Ausmaßes, bei denen selbst Bischöfe Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008 (Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung), 229-64, S. 241). 13 Siehe http://www.radiomaryja.pl (Zugriff am 03.07.2014). 14 Siehe http://www.forumfamiglie.org (Zugriff am 13.01.2014).
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auf die Straße gingen. Maßgeblich mobilisierende Wortführer waren jedoch – ähnlich wie in Polen und Italien – konservativ bis charismatische katholische Gruppen und Netzwerke. Gemeinsam mit lokalen Kirchengemeinden, die durch den Klerus organisiert werden, bilden die Mitglieder jener recht neuen Bewegung eine »katholische pressure group«, die im Namen der Kirchenhierarchie handeln. Sich auf ihre Mobilisierungskraft zu stützen, sei Teil der neuen Strategie der bedrängten spanischen katholischen Kirche gewesen (vgl. Díaz-Salazar 2006: 255-256).15 Auf diese Weise kamen Ende Dezember 2007 etwa eine Million Menschen auf der Plaza de Colón in Madrid zusammen, um »die Familie als Plan Gottes« zu verteidigen. Der Protest richtete sich dabei auch gegen die 2005 eingeführte »Homo-Ehe« und »Express-Scheidung« (vgl. El País, 29.11.2007). Zusammengefasst kommt es auch für die erfolgreiche Protestmobilisierung gegen Abtreibung offensichtlich weniger auf den Religiositätsgrad einer Gesellschaft an, als auf die Existenz einer sehr religiösen, moralpolitisch restriktiv eingestellten und politisch aktiven Minderheit. So findet sich selbst im gering religiösen Deutschland jährlich eine sichtbare Menschenmenge zusammen, um auch hier auf dem »Marsch für das Leben« gegen Abtreibung und Sterbehilfe zu demonstrieren.16
Exkurs: Mobilisierung auf EU-Ebene Ein prägnantes Beispiel für die überkonfessionelle Mobilisierung von »Lebensschützern« ist die EU-weite Volksinitiative »One of Us«, die im Herbst 2013 mehr als die erforderlichen eine Million Unterschriften erbrachte. 17 Ihr gleichnamiges Motto beruht auf jenem derivativen Rechtsverständnis, demnach der Embryo von Anbeginn »einer von uns« ist, also eine Person mit Individualrechten und Menschenwürde, die es zu schützen gilt. Zentrales Ziel dieser größten zivilgesellschaftlichen Pro-Life-Koalition ist ein EU-weites Verbot alle Aktivitäten, welche »die Zerstörung menschlicher Embryonen voraussetzen« (insbesondere in den Bereichen Forschung, Entwicklungspolitik und öffentlicher Gesund15 So etwa Kiko Argüello als zentrale Figur des »Neukatechumenalen Wegs« http://www. camino-neocatecumenal.org/neo/camino_neocatecumenal.htm oder Hazte Hoir (»Verschaff Dir Gehör«), die sich vor allem an junge Katholiken richtet (siehe: http://www. hazteoir.org) (Zugriff am 03.07.2014). 16 Im Jahr 2013 waren es nach Angaben der Organisatoren etwa 4.500 Personen. Siehe http://www.marsch-fuer-das-leben.de (Zugriff am 17.02.2014). 17 http://www.oneofus.eu (Zugriff am 17.02.2014).
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heit) zu finanzieren.18 Die Initiative argumentiert in einer säkularen Sprache des Rechts. Zu ihren »Botschaftern« aber zählen neben insbesondere konservativen Mitgliedern des Europäischen Parlaments Papst Franziskus, Ärzte katholischer Krankenhäuser und Kardinäle.19 Gestärkt wird die Vermutung, dass sich viele durch die katholische Moralehre zur Unterschrift inspiriert sahen dadurch, dass etwa ein Drittel der erforderlichen eine Million Unterschriften aus Italien, rund 160.000 aus Polen und etwa 80.000 aus Frankreich kamen (Evangelischer Pressedienst 2013).
Religion und Versorgungsrealität Während die erfolgreiche Mobilisierung von katholisch inspirierten Gegnern eines selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruchs nicht zwangsläufig zu Änderungen der Gesetzeslage führt und der politische Einfluss katholischer Interessensgruppen eher indirekt über kooperationsbereite politische Entscheidungstragende verläuft, kann sich »Religion« in bestimmten Fällen direkt auf die Versorgungsrealität von Frauen auswirken: Indem Ärztinnen und Ärzte aus religiöser Überzeugung Abtreibungen nicht durchführen, Apotheker/-innen die Ausgabe rezeptpflichtiger Verhütungsmittel ablehnen oder katholische Krankenhäuser der katholischen Morallehre folgend ihr Personal anhalten, keine Schwangerschaften abzubrechen. Zu diesem Spannungsverhältnis von religiöser (oder ethischer) Überzeugung und persönlich-beruflichem Handeln liegen bisher kaum empirische Studien vor.20 Daher wird im Folgenden die generelle Konfliktlinie skizziert und diese an exemplarischen Fällen dargestellt. Rechtlich gesehen treffen zwei zu schützende Rechtsbereiche aufeinander: Die Religionsfreiheit und damit verbunden das Recht auf Gewissensfreiheit, auf Grund individueller religiös oder ethisch begründeter Bedenken eine bestimmte Handlung abzulehnen, sowie das eingangs erwähnte Recht auf sichere Gesundheitsversorgung im Bereich der reproduktiven Gesundheit, inklusive des Schwangerschaftsabbruchs. Im internationalen Menschenrechtsschutz herrscht die Auffassung vor, dass das Recht auf Gewissensfreiheit nicht den Schutz reproduktiver Rechte gefährden darf (vgl. Bueno de Mesquita/Finer 2008: 4-6).
18 Siehe die offizielle Zieldarstellung gegenüber der EU: http://ec.europa.eu/citizensinitiative/public/initiatives/finalised/details/2012/000005 (Zugriff am 13.01.2014). 19 Siehe der Blog auf http://www.1-von-uns.de (Zugriff am 14.02.2014). 20 In diesem Buch setzt sich Christina Fiala mit dem Thema der Gewissensentscheidung im ärztlichen Handeln auseinander.
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Allerdings versuchen, u.a. in Folge der Liberalisierung von Abtreibung, seit etwa zwanzig Jahren gerade medizinische Versorgungsanbieter, zunehmend das Recht auf Gewissensfreiheit für ihre Leistungsenthaltung zu reklamieren. In Europa geschieht das vor allem dort, wo die katholische Kirche besonders einflussreich ist, so der Bericht eines britischen Menschenrechtszentrums (vgl. Bueno de Mesquita/Finer 2008: 3). In Polen erregten zwei Fälle internationale Aufmerksamkeit, bei denen Frauen direkt oder indirekt aus Gewissensgründen keine adäquate Versorgung erhielten. Der bekannte Fall der Alicja Tysiąc, die auf Grund eines verweigerten Schwangerschaftsabbruchs fast erblindete, endete 2007 mit einer erfolgreichen Klage vor dem Europäischen Gerichtshof.21 Der andere Fall betrifft ein vierzehnjähriges Vergewaltigungsopfer, dem zwei katholische Krankenhäuser nahelegten, das Kind auszutragen. An einem öffentlichen Warschauer Krankenhaus sahen sich die Ärztinnen und Ärzte u.a. durch Pro-Life-Aktivistinnen und Aktivisten unter Druck gesetzt, nachdem der Fall publik geworden war. Erst nach dem Eingreifen des Gesundheitsministeriums führte ein Danziger Krankenhaus die Abtreibung durch (vgl. BBC Europe 30.10.2012; Amnesty International 31.10.2012). Da Abtreibung in Polen aus sozialen Gründen unter Strafe steht, fürchten sich öffentliche Krankenhäuser vor potenzieller Strafverfolgung. Katholische Krankenhäuser berufen sich hingegen oft auf die Gewissensklausel. Als Konsequenz fanden viele Abtreibungen selbst nach medizinischer Indikation bisher an kostenpflichtigen Privateinrichtungen oder aber im »Untergrund« statt (Środa 2007: 656-657; Nowicka 2007: 664). In Italien gibt es zwar seit 1979 eine liberale Gesetzeslage (vgl. Donovan 2003). Dennoch hat sich die Versorgungsrealität aus Sicht von Frauenrechtlerinnen zunehmend verschlechtert. Auch hier würden immer mehr Ärtzeinnen und Ärzte aus Gewissens- oder Karrieregründen Pro-Life-Positionen vertreten. Problematisch sei überdies, dass katholische Pro-Life-Zentren direkt in öffentlichen Krankenhäusern beratend tätig sind (vgl. Vitiello 26.10.2005).22 Sollte in Spanien das neue Gesetz, das etwa so strikt ist wie das polnische, tatsächlich implementiert werden, wird sich die Frage der Gewissensentscheidung kaum stellen. Insgesamt scheint die Entscheidung, aus religiöser Überzeugung heraus keine Abtreibungen durchzuführen, eine Möglichkeit, einer sich säkularisierenden Gesellschaft religiöse Argumente entgegenzusetzen. 21 Genaueres zu diesem Fall siehe: www.reproductiverights.org/en/document/tysiąc-vpoland-ensuring-effective-access-to-legal-abortion (Zugriff am 06.07.2014). 22 So die Frauenrechtlerinnen Eleonara Cirant im Interview mit der Autorin am 18.10.2007 und Assunta Sarlo am 19.10.2007 in Mailand.
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F AZIT Es ist deutlich geworden, dass Religion in den Kontroversen um das Recht auf selbstbestimmte Abtreibung von vielschichtiger Bedeutung ist. Es wäre zu kurzsichtig, selbst in katholischen Ländern ein restriktives Abtreibungsgesetz allein »der Macht« der katholischen Kirche oder dem Einfluss einer religiös geprägten öffentlichen Meinung zuzuschreiben. Vielmehr hängt das Politikergebnis entscheidend vom ideologie- oder aber interessengeleiteten Handeln der politischen Entscheidungstragenden sowie von ihrer Bereitschaft ab, auf religiöse Forderungen einzugehen. Einerseits gibt es hier etwa auf Grund des jeweiligen Verhältnisses von Kirche und Staat oder der Struktur von politischen Zielkonflikten innerhalb katholischer Länder Unterschiede. Andererseits ist es zumindest für den Konfliktverlauf von Bedeutung, ob der soziokulturelle Handlungsrahmen katholisch, protestantisch bzw. in erster Linie durch Entkirchlichung geprägt ist; ob es also eine vorherrschende Morallehre gibt, die in Teilen von Politik und Gesellschaft auf Gehör stößt sowie religiöse Akteure, die sich einstimmig gegen eine liberalere Moralpolitik positionieren. Hinsichtlich des Politikergebnisses zeichnet sich jedoch trotz andauernder Proteste oder neuer Protestformen wie »One of Us« in Europa ein Trend zu liberaleren Gesetzen im Bereich der reproduktiven Rechte und bioethischer Fragen ab (vgl. Knill/Preidel/Nebel 2014). In Deutschland hat sich das Parlament beispielsweise trotz des Vetos der EKD (vgl. Kreß 2011: 22 f.) im Jahr 2011 für die PID entschieden, wenn auch unter Auflagen (vgl. Barbato 2011). Inwieweit die diesem Trend entgegenlaufende spanische Gesetzesnovelle von Bestand ist, wird sich zeigen. Hingegen scheint die Versorgung für Frauen, die ihre Schwangerschaft abbrechen wollen, gerade in katholischen Ländern durch die religiöse Überzeugung einzelner nicht überall gesichert. Hier einen Trend zu ermitteln, wäre Aufgabe entsprechender Studien. Der Verweis auf die Gewissensfreiheit scheint jedenfalls eine Strategie von Religiösen, ihre Wertvorstellungen in einer zunehmend säkularen Gesellschaft unabhängig der Gesetzeslage einzubringen. In diesen Fällen das Recht auf reproduktive Gesundheit zu schützen, wird europäische Regierungen sowie die internationale Gemeinschaft weiterhin oder gar zunehmend vor Herausforderungen stellen.
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Abtreibung als Gegenstand feministischer Debatten – Hintergründe, Befunde, Fragen K ATJA K ROLZIK -M ATTHEI
H ISTORISCHES Ihre stärkste Triebkraft bezog die Abtreibungsdebatte seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem großen Teil aus der Frauenbewegung. Von dort aus wurde – mal lauter, mal leiser – das Recht auf Abtreibung und freie Entscheidung darüber eingefordert. Bereits 1871, mit Inkrafttreten des § 218, formierten sich Proteste von Frauen1 (vgl. von Behren 2004: 111 ff.). Anfang des 20. Jahrhunderts waren es unter anderem Helene Stöcker und der von ihr gegründete Bund für Mutterschutz und Sexualreform (BMS), die die Streichung des § 218 und das grundsätzliche Recht für Frauen forderten, selbst über ihren Körper und ihre Sexualität zu bestimmen (vgl. Holland-Cunz 2003: 49 ff.). Nach Ende des Ersten Weltkriegs und der sich verändernden Rolle der Frauen2 gewannen sie an Selbstbewusstsein und Zuspruch. Auch die Forderung nach Abschaffung des § 218 RStGB wurde in der öffentlichen Massenbewegung mit unterstützt (vgl. von Behren 2004: 234 ff.). Die intensiven Bemühungen, die von SPD und KPD aufgegriffen und in die parlamentarische Debatte eingebracht wurden, mündeten 1926 in einer Gesetzesreform, die zumindest das Strafmaß von Zuchthaus auf Gefängnis reduzierte und 1
Im Verständnis dieses Beitrags bezeichnet der Begriff Frauen weiblich sozialisierte Menschen, die auf Grund ihrer biologischen Merkmale in der Lage sind, schwanger zu werden und in die Situation kommen können, über das Austragen oder Beenden einer Schwangerschaft zu entscheiden.
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Insbesondere Frauen ärmerer Schichten nahmen die Rolle der Haupt- oder Alleinverdienerin innerhalb ihrer Familien an, da die Väter invalid oder gefallen waren.
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in ein Gerichtsurteil, dass 1927 feststellte, dass eine Abtreibung im Falle einer schweren Gesundheitsgefährdung der Schwangeren nicht strafwürdig sei. Damit wurde gewissermaßen die medizinische Indikation eingeführt. Gesetzlich verankert wurde dieses Urteil jedoch nicht (vgl. Notz 2012b: 26). Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg erstickten jedwede emanzipatorischen Bewegungen, was auch für die feministische Bewegung galt. Nach 1945 knüpften die bürgerlichen Frauen in den westlichen Besatzungszonen an die Forderungen und Strukturen der bürgerlichen Frauenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts3 an. Die Themen der proletarischen bzw. sozialistischen Frauenbewegung – wozu unter anderem die Abtreibungsdebatte gehörte – fanden allerdings keinen Eingang in die Aktivitäten der Frauenverbände dieser Jahre (vgl. Wolff 2012: 267 ff.). Erst die international und national aufflammenden Proteste Studierender in den 1960er Jahren lieferten den Rahmen, in dem sich eine neue, die bürgerliche Ausrichtung überschreitende, feministische Bewegung entwickeln konnte (vgl. ebd.: 269 ff.). Aus einer radikalen Herrschaftskritik heraus ging es den Frauen dieser Jahre vor allem um Selbstbestimmung in allen Bereichen des Lebens.4 Das »tonangebende Leitmotiv« (Lenz 2010: 69) der zweiten Frauenbewegung war »der Kampf für die Abschaffung des § 218, der zum ›Zeichen‹ des politischen Engagements der Frauen wurde.« (Ebd.) Empörung, Wut und Unwillen der Frauen, die damals existierenden menschenunwürdigen Bedingungen weiterhin hinzunehmen, fanden mit der 1971 von Alice Schwarzer initiierten, von 374 Frauen direkt und vielen zehntausend Frauen indirekt getragenen Selbstbezichtigungskampagne Eingang in die breite Öffentlichkeit5 (vgl. EMMA 2007: 116). Damit verbunden war die Forderung nach ersatzloser Streichung des § 218 StGB, nach Sexualaufklärung und Zugang zu Verhütungsmitteln (vgl. Lenz 2010: 71). 3
Die Frauenbewegung in Deutschland wird häufig in drei Phasen eingeteilt. Innerhalb der ersten Welle zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es zwei Strömungen: die proletarische/sozialistische und die bürgerliche. Zwischen den beiden Strömungen gab es vor allem hinsichtlich der Fragen nach sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung von Frauen erhebliche Diskrepanzen (vgl. Gerhard 2009: 50).
4
Die Frauenbewegung der 1970/80er Jahre wird von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als zweite Welle der Frauenbewegung bezeichnet. Eine detaillierte Darstellung der Entstehungsbedingungen der neuen bzw. zweiten Frauenbewegung bietet Lenz 2010.
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Die beteiligten Frauen bekennen im Magazin Stern: »Wir haben abgetrieben!« Darunter sind auch prominente Frauen. Der Stern setzt diese Initiative auf den Titel der Ausgabe.
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Die Bewegung gegen den § 218 wurde (erneut) zur Massenbewegung, getragen von breiten frauenbewegten Bündnissen, unterstützt von Gewerkschaften und anderen demokratischen Organisationen (vgl. Lenz 2010: 71). Erneut führten die Debatten und Proteste in der Bevölkerung dann auch zu einer parlamentarischen Auseinandersetzung. Mitte der 1970er Jahre wurde nach einigem Ringen die Abtreibungsgesetzgebung in der BRD reformiert. Ergebnis war das 1976 vom Bundesverfassungsgericht gebilligte Indikationsmodell. Das stellte zwar im Vergleich zum Davor einen Fortschritt dar, bedeutet aber vor allem hinsichtlich der sozialen Indikation eine Demütigung und Bloßstellung für die Frauen (vgl. Notz 2012b: 29).6 Die zentrale Forderung der Frauenbewegung nach Streichung des Paragrafen blieb unerfüllt. Dieser ernüchternde Ausgang der kraftvollen intensiven Aktivitäten löste innerhalb der Frauenbewegung einen »Rückzug nach innen« aus (vgl. Schenk 1980, zit. in: Thon 2008: 23). Die Frauenbewegung setzte sich nach diesen Erfahrungen in anderen Formen fort: in Selbsterfahrungsgruppen, in Vereinen, Organisationen, Diskussionsgruppen. Die Ausdifferenzierung der neuen Frauenbewegung, die in den ersten Jahren vor allem ein Thema – die Streichung des § 218 – hatte, nahm in den nächsten Jahren ihren Lauf (vgl. Thon 2008: 23 ff.). Neben inhaltlichen Auseinandersetzungen innerhalb der von weißdeutschen Frauen dominierten Bewegung nahm vor allem auch die Kritik von Migrantinnen und afro-deutschen Frauen zu, was zu Differenzierung beitrug.7 In der DDR existierten außer dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) keine weiteren Frauenorganisationen oder -verbünde. Der DFD selbst stand nicht in Opposition zur DDR-Regierung, da diese bereits für sich reklamierte, Gleichberechtigung der Geschlechter in Programm und Realität umgesetzt zu haben. Erst Ende der 1980er Jahre bildeten sich oppositionelle Frauenorganisationen heraus (vgl. Lenz 2010: 23). Davor waren es eher einzelne Frauen, vor allem aus Kunst und Kultur, die bewusst Frauenrechtsthemen in ihre Arbeiten einflochten und damit öffentlich machten (vgl. ebd.). 1950 wurde das Gesetz über den Mutter- und Kindschutz und die Rechte der Frau verabschiedet, worin auch der Schwangerschaftsabbruch geregelt wurde (vgl. Aresin 1996: 87). Das Gesetz sah eine medizinische und eine erbmedizinische Indikation vor, hielt an der grundsätzlichen Strafbarkeit der Abtreibung aber fest (vgl. von Behren 2004: 447 f.) und goss die pronatalistische Bevölkerungspolitik der DDR damit in Gesetzesform. Sinkende Abbruchzahlen und die 6
Bei der sozialen Indikation musste die Schwangere eine schwere Notlage vorweisen,
7
Zur afro-deutschen und migrantischen Frauenbewegung in Deutschland: Lenz 2010:
die von einer Ärztin oder einem Arzt bescheinigt werden musste (vgl. ebd.). 707 ff.; Piesche 2012.
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Bemühungen der DDR-Regierung, mit den sich ändernden Diskursen in anderen Ländern Schritt zu halten, führten 1965 zur Einführung einer sozialen Indikation, über die von einer Kommission befunden wurde – befördert von dem Engagement von Medizinerinnen und Medizinern und vielen Frauen, die sich mit »individuellen Bitten« an die Regierung wandten (vgl. Hahn 2000: 217 ff.). Die individuellen Beschwerden von Frauen im Zusammenhang mit der Abtreibungsregelung nahmen aber auch in den Folgejahren nicht ab. Im Gegenteil: Die Verfahrensweise der Kommission wurde stark kritisiert. Zudem mussten die Regierenden feststellen, dass die mit dem Gesetz von 1950 verbundenen Ziele – Rückgang illegaler Abbrüche und vor allem Beförderung des Bevölkerungswachstums – nicht erreicht wurden (vgl. Hahn 2000: 265 ff.). Diese Entwicklungen führten 1972 zur Abschaffung der prinzipiellen Strafbarkeit von Abtreibung in der DDR. Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Unterbrechung der Schwangerschaft konnten Frauen in der DDR von da an einen Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche vornehmen lassen – ohne jede weitere Bedingung (vgl. von Behren 2004: 447 f.). Mit der Wiedervereinigung und dem Einigungsvertrag wurde auch die gesetzliche Regelung der Abtreibung erneut zum Diskussionsgegenstand. Für die Frauenbewegung bedeutete diese historische Zäsur erneute massenhafte Mobilisierung gegen den § 218 (Westfrauen) beziehungsweise die Beibehaltung der Fristenlösung (Ostfrauen).8 Frauenpolitisch Engagierte sahen eine historische Chance und demonstrierten für die Abschaffung des § 218. Im Osten sammelte der Unabhängige Frauenverband (UVF) 50.000 Unterschriften von DDRBürgerinnen und Bürgern für die Beibehaltung der Fristenregelung. Frauenpolitische Runde Tische wurde eingerichtet, an denen auch Empfehlungen und Vorschläge für die Neugestaltung der Abtreibungsgesetzgebung erarbeitet wurden (vgl. Lenz 2010: 871 ff.). Im Jahr 1992 wurde dann von einem fraktionsübergreifenden Bündnis im Bundestag der § 218 reformiert (nicht gestrichen, aber im Sinne einer Fristenregelung mit Beratungspflicht ausgestaltet). Bereits 1993 wurde auf Antrag der bayerischen CDU/CSU-Fraktion vom Bundesverfassungsgericht diese Gesetzesentscheidung teilweise für verfassungswidrig erklärt – Geschichte wiederholt sich (vgl. Lenz 2010: 871). Auch danach hielt das gemeinsame Engagement von Frauen aus beiden Teilen Deutschlands zunächst noch an, wenn auch nicht immer einige Positionen 8
Für eine ausführliche Darstellung der Geschehnisse zur Zeit der Wiedervereinigung: Ockel, Edith (2000): Die unendliche Geschichte des § 218. Erinnerungen und Erlebnisse; Thietz, Kirsten (Hg.) (1992): Ende der Selbstverständlichkeit? Die Abschaffung des § 218 in der DDR.
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und Vorgehensweisen gefunden werden konnten. Am 8. März 1994, nach dem BVG-Urteil und im Kontext erneuter Gesetzesdebatten, fand der FrauenStreikTag, vorgeschlagen vom UVF, statt. Unterschiedlichste Frauenorganisationen aus allen feministischen Richtungen schlossen sich dieser Initiative an, und Tausende von Frauen überall in Deutschland nahmen daran teil (ebd.: 873). Die gemeinsamen Aktionen waren dennoch stets begleitet von zum Teil heftigen Auseinandersetzungen zwischen engagierten Frauen aus Ost- und Westdeutschland. Grundsätzliche Standpunkte dazu, wie Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht und gestaltet werden kann, basierten auf völlig unterschiedlichen Erfahrungen und waren entsprechend divergent. Konflikte innerhalb der Bewegung trugen wesentlich zu deren Schwächung bei (vgl. Thon 2008: 30). Nach langer parlamentarischer Debatte, Taktieren und Paktieren, wurde 1995 der reformierte § 218 B verabschiedet, der bis heute in seiner Form gültig ist. Wieder blieben die bewegten Frauen auf ihren unerfüllten Utopien sitzen: »Die Frauenbewegungen nahmen […] das Gesetz als ›lebbaren, aber faulen Kompromiss‹« (EMMA 1995, zit. in: Lenz 2010: 873). Spätestens an dieser Stelle enden die Darstellungen der Geschichte des § 218 (vgl. von Behren 2004) und der Abtreibungsdebatte in der Literatur. Eine tiefergehende Analyse über die Weiterentwicklung oder auch das Verschwinden der Abtreibungsdebatte aus dem öffentlichen, aber auch aus dem feministischen Diskurs, fehlt bisher (vgl. Hahn 2012: 7 ff.). Wenige feministische Autorinnen und Autoren nehmen sich auch gegenwärtig des Themas Abtreibung an. In einigen eher queer-orientierten Zeitschriften wird das Thema aufgegriffen. Die Haltung der Autorinnen und Autoren in den entsprechenden Büchern/Texten ist eindeutig: Sie stellen unmissverständlich fest, dass Abtreibung (nach wie vor) ein Thema im Feminismus ist und sein muss, weil die Zwangsbedingungen, unter denen Frauen gegenwärtig in Deutschland abtreiben können, und die nach wie vor existierende Strafbarkeit nach ihrer Ansicht unwürdig sind. Welche Konsequenzen sich daraus für eine politische feministische Praxis ergeben (Aufklärung, Mobilisierung, direkte Aktionen), wird wenig thematisiert.
G EGENWÄRTIGES Frauen unterschiedlichen Alters, die sich in der Vergangenheit für ein Recht auf Abtreibung einsetzten oder dies gegenwärtig tun, können darüber Auskunft geben. Die folgenden Ausführungen bilden Ergebnisse aus acht Interviews mit jeweils vier jüngeren und vier älteren Frauen zu dieser Frage ab, die sich in der
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Vergangenheit und/oder gegenwärtig für das Recht auf Abtreibung eingesetzt haben bzw. einsetzen.
Annehmen ohne auflehnen Die interviewten Frauen verwiesen auf Gründe, die direkt bei den schwangeren Frauen zu suchen sind. Dazu gehörte vor allem ein Gefühl der Selbstverständlichkeit, das sich mit Boltanskis (2007) Darstellungen zu den Eigenschaften der Abtreibung deckt. Er beschreibt Abtreibung als »Praktik, deren Möglichkeit überall bekannt ist« (ebd.: 35), ähnlich dem Ausdruck der »entspannten Liberalität«, wie ihn Frommel verwendet (vgl. Frommel 2009: 186). Die Interviewten verwiesen mehrfach darauf, dass die meisten Frauen in Deutschland um die Wege wüssten, die sie gehen müssen, um eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen zu können. Die Hintergründe zu den bestehenden Regelungen kennen die Wenigsten, so die Interviewten. In Verbindung mit der zweiten großen Thematik bei den Schwangeren selbst – den Schuldgefühlen in Zusammenhang mit ungewollter Schwangerschaft an sich und einer Abtreibung – führe diese Selbstverständlichkeit dazu, dass die ungewollt Schwangeren sich im bestehenden System einrichten, ohne es zu hinterfragen oder sich gar dagegen aufzulehnen.
Ein- und Ausschlüsse der feministischen Bewegung Weiterhin wurden als Erklärungsansätze gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge angeführt. Die Interviewten bezogen sich auf tief verankerte Moralvorstellungen, auf Einflüsse christlicher Kirchen und auf Re-Traditionalisierungstendenzen. Neben diesen beiden Facetten – die ungewollte Schwangere und die gesamtgesellschaftliche Situation – konnten in den Interviews aber auch Erklärungsansätze gefunden werden, die sich explizit auf die feministische Bewegung beziehen. Hervorgehoben wird die strukturelle Verfasstheit der feministischen Bewegung. Der – zumindest vermutete – Anspruch, alles richtig machen zu müssen und bestimmte Anforderungen zu erfüllen, widerspruchsfrei zu sein, sowohl innerhalb der feministischen Bewegung als auch innerhalb der Gesellschaft, hindere Menschen daran, sich positiv für ein Recht auf Abtreibung auszusprechen oder gar einzusetzen. Mangelndes Wissen und falsche Vermutungen unterstützen diese ablehnende Haltung. Widersprüche, die beim Thema Abtreibung unvermeidbar sind, werden nicht akzeptiert oder stellen eine zu große Herausforde-
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rung dar. Hier wird ein großer Unterschied zur eher einheitlichen Positionierung der Vertreter/-innen einer ablehnenden Haltung gegenüber der Abtreibung gesehen. Da sich Befürworter/-innen eines Abtreibungsverbots auf christliche Werte und dogmatische Ge- und Verbote stützen, stellt sich ihnen ihre Haltung deutlicher und als nicht hinterfragbar dar.9 Unabhängig von diesem Defizit gegenüber anderen Positionen wird auch ein Defizit in der Vermittlung von Inhalten, Zielen und Herangehensweisen von feministischen Gruppen nach außen konstatiert. Eine Vermeidung von Konfrontationen birgt aber auch die Gefahr, dass Gruppen in sich verharren und weniger ein strategisch agierendes, politisches Bündnis als ein soziales Netzwerk darstellen, das auf persönlichen Beziehungen beruht und deren Pflege dient (vgl. Bock 2010: 879). Entscheidend ist dies für die Zielsetzung: Laut Bock (2010) richtet sich das Interesse eines sozialen Netzwerks auf individuelle Unterstützung, während ein politisches Bündnis gesellschaftspolitische Ziele verfolgt (vgl. ebd.). Hier wird ein Widerspruch deutlich zwischen dem, was die Interviewten hinsichtlich der Transparenz und Beteiligungsmöglichkeiten feministischer Gruppen wahrnehmen und dem, was sie als Motive für ein Engagement für ein Recht auf Abtreibung identifizierten. Diese beinhalteten zwar keine konkrete strategische Zielformulierung. In der Tendenz richten sich die genannten Motive aber deutlich auf gesellschaftspolitische Dimensionen und weniger auf individuelle Aspekte. Möglicherweise befinden sich die bestehenden feministischen Netzwerke in einer erneuten Übergangsphase – weg vom sozialen Netzwerk hin zum politischen Bündnis – und sowohl Ziele als auch konkrete Herangehensweisen sind zwar innerhalb der Gruppen bereits bekannt, werden aber noch nicht nach außen getragen.
Queer Theory und queer-feministische Praxis Ein Aspekt, der – aus Sicht der jüngeren Interviewten10 – Einfluss darauf hat, inwiefern innerhalb der feministischen Bewegung Abtreibung thematisiert wird, 9
Sam Harris (2013) plädiert dafür, dass Wissenschaft ebenso konkrete Antworten auf ethische Fragen findet, wie es Religion tut. Er kritisiert, dass nicht-religiöse Menschen auf Grund eines »moralischen Relativismus […] Toleranz noch gegenüber der Intoleranz« (ebd.) zeigen und weist darauf hin, dass dadurch »der Moralismus beider Lager nicht dieselbe Kraft entfaltet« (ebd.).
10 Von den Interviewten der älteren Generation wird dieser Punkt nicht als Problem für die Abtreibungsdebatte thematisiert.
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ist im Spannungsfeld zwischen Queer Theory11 und queerer politischer Praxis zu suchen. Das Verschwinden von Abtreibung als Thema queer-feministischer12 Kontexte liegt nach Meinung der Interviewten unter anderem auch darin begründet, dass durch Fokussierung auf dekonstruktivistische Theorien und deren Praxis bestimmte geschlechtsbezogene frauenpolitische Fragen, wie Abtreibung eine ist, in der Auseinandersetzung kaum einen Platz finden. Ähnlich vermutet es Diehl in einem Artikel von 2007: »Berührungsängste gegenüber einem Thema, das so sehr an den körperlich-biologischen Vorgängen zu kleben scheint« (S. 11). Die Ablehnung und Distanzierung der queer-feministischen Gruppen gegenüber den Methoden und Themen der Frauenbewegung der 1970er Jahre wird als zusätzliche Erklärung von den Interviewten herangezogen. Neben den Aussagen über die Vermeidung von bestimmten Körperthemen im queeren Kontext – insbesondere dem der Abtreibung – wurde zwar festgestellt, dass es auch dort durchaus Menschen gibt, die sich noch des Themas annehmen. Allerdings würde es eher als »unerledigtes Relikt aus der zweiten Frauenbewegung« behandelt. Von den Interviewten werden Ansatzpunkte genannt, wie Queer Theory a) selbst einen Zugang zum Thema Abtreibung finden und b) einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Debatte leisten kann. Dazu gehöre der queere Ansatz der Selbstermächtigung des eigenen Körpers ebenso, wie der Ansatz, eindimensionale Geschlechtszuschreibungen abzuwenden. Das Recht auf Abtreibung könne so als Beitrag zur Erweiterung weiblicher Rollenzuschreibungen betrachtet werden. Außerdem verhelfen dekonstruktivistische Ansätze innerhalb der Abtreibungsdebatte, zu erkennen und im Auge zu behalten, dass Abtreibung nicht zwangsläufig ein Thema aller Frauen sein muss. Die starke Konzentration auf dekonstruktivistische Ideen in postmodernen, queer-feministischen Kontexten könnte eine Rolle in der Entwicklung der Abtreibungsdebatte und deren Verschwinden aus feministischen Zusammenhängen spielen. Über das Ausmaß des Einflusses sind sich die Interviewten uneinig, und auch die Literatur liefert wenig Anhaltspunkte bzw. ist sich darüber noch nicht im Klaren. Die Konsequenzen von queerer Theorie seien, so zitiert Thon (2008) Lenz, für die Praxis (der Frauenbewegung, K.K.-M.) nicht zu ermessen (vgl. 11 Zu den Begriffen vgl. Czolleck, Leah Carola/Perko, Gurdrun/Weinbach, Heike (2009): Lehrbuch Gender und Queer: Grundlagen, Methoden und Praxisfelder. Weinheim: Beltz Juventa. 12 Queer-Feminimus schließt neben der feministischen Forderung nach der Gleichstellung von Frauen und Männern die Forderung nach Gleichstellung für Menschen unterschiedlicher Diskriminierungskategorien ein und nimmt die Verschränkung dieser Kategorien in den Blick.
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Thon 2008: 31). Und sie stellt weiter fest: »Es bleibt abzuwarten, ob, wie und in welchem Ausmaß eine Radikalisierung der Theorie eine erneute Radikalisierung der politischen Praxis mit sich bringen kann.« (Ebd.) Auf welche Themen sich diese möglicherweise neu entstehende radikale Praxis bezieht, bleibt offen.
Selbstbestimmungsbegriff und pränatale Diagnostik Einen weiteren Erklärungsansatz bilden die Auseinandersetzungen im Kontext von Selbstbestimmung und (befürchteter) Selektion durch Abtreibung nach pränatal-diagnostischem Befund (vgl. Berghahn 2010). Auf der einen Seite wird die Ansicht vertreten, dass in jedem Fall der Frau das Recht auf selbstbestimmte Entscheidung über Austragen oder Abbrechen einer Schwangerschaft zukommt, eingeschlossen auch die Fälle, in denen Frauen auf Grund eines Befunds nach Pränataldiagnostik (PND) eine Schwangerschaft abbrechen.13 Auf der anderen Seite stehen Vertreter/-innen einer Position, die mit Abtreibung im Zusammenhang pränataldiagnostischer Befunde die Gefahr von Selektion sehen. Vertreter/ -innen dieser Position kritisieren in diesem Zusammenhang den Begriff der Selbstbestimmung stark.14 Sprachlosigkeit entstehe, weil sich Konfliktparteien gegenüberstehen, die ihre Positionen als vollkommen unvereinbar betrachten. Die Aussagen der Interviewten zeigen vor allem, wie widersprüchlich diese Auseinandersetzung ist und wie wenig diskutiert. Es sei auch zu fragen, inwiefern es sich hier tatsächlich um unvereinbare Positionen handelt, oder ob es nicht möglich ist, beide Positionen zu vertreten: für weibliche Selbstbestimmung und gegen selektive Abtreibungen 13 Hierbei handelt es sich in der Regel um Spätabbrüche, die nach der 12. Schwangerschaftswoche (SSW) auf Grundlage der medizinischen Indikation durchgeführt werden. Die Zahl dieser Fälle ist gering, laut offizieller Statistik handelte es sich 2012 um 3.326 Fälle bzw. 3,1 % aller durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche. Allerdings beinhalten diese 3,1 % alle Abbrüche nach medizinischer Indikation, also auch die vor der 12. SSW durchgeführten. Der Anteil der nach der 12. SSW durchgeführten Abbrüche betrug 2,6 %. Nach der 22. SSW wurden lediglich 0,4 % aller Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt (vgl. Statistisches Bundesamt 2013). 14 In einem Positionspapier der Gruppe Kritische Feminist/-innen (2012) heißt es, der Begriff werde heute »häufig in einer individualistischen Engführung benutzt«, »die Frage nach der sozialen Bedingtheit« werde nicht gestellt, und der so verwendete Begriff sei abgekoppelt von einer Kritik sozialer Verhältnisse, sei »unpolitisch, eurozentrisch, ahistorisch und bietet mannigfache Anschlusspunkte für neoliberale Diskurse« (vgl. ebd.).
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zu sein. In mehreren Aussagen wird auch deutlich, dass die Interviewten die Risiken von PND durchaus sehen, aber deshalb nicht davon abrücken, sich für die Selbstbestimmungsrechte von Frauen auszusprechen. Schmincke (2012) weist darauf hin, dass »der Umschlag von Selbstbestimmung in einen Zwang zur Selbstoptimierung« (ebd.: 316 – einer der Kernpunkte derjenigen, die pränataldiagnostische Möglichkeiten kritisieren – etwas mit »gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen« (ebd.) zu tun hat und von daher nicht der Frauenbewegung angerechnet werden könne (ebd.). Feministisch-emanzipatorisch verortete Kritiker/innen eines Selbstbestimmungsbegriffs, der zu stark auf Selbstoptimierung und Machbarkeit reduziert ist, wäre damit entgegen gehalten, dass sie ihre Kritik falsch adressieren. Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen reichen weit in den bevölkerungspolitischen Diskurs hinein. Sie tangieren ebenso die Fragen nach Wert und Beginn menschlichen Lebens. Es wurde in einigen Aussagen deutlich, wie schmal die Trennlinie zwischen der Argumentation von Abtreibungsgegner/innen und Feministinnen und Feministen ist. Der Eindruck entsteht, dass einige Akteurinnen und Akteure den Konflikt um die Frage nach einem grundsätzlichen Recht auf Abtreibung auf diesen öffentlich ebenfalls vieldiskutierten Teilaspekt verlagern. In der Konsequenz trägt das offenbar mit dazu bei, dass sich Konfrontation und Engagement nach innen verlagern. Das wiederum kann dazu führen, dass die überschaubaren Kräfte der Engagierten dadurch gebunden werden.
Generationenfragen im Feminismus Inwiefern das Verschwinden der Abtreibungsdebatte aus dem öffentlichen und dem feministischen Raum auf einen Generationenkonflikt zurückzuführen ist, wurde in den Interviews ebenfalls thematisiert. Dass dieser Aspekt befragungswürdig ist, zeigt sich u.a. in der Geschichte der Frauenbewegung generell. So stellt Wolff (2012) als Ursache für die Geschichtslosigkeit der Frauenbewegung der 1970er Jahre fest, dass das Bild, was nach 1945 von der ersten Frauenbewegung vermittelt und tradiert wurde, den Frauen in den 1970er Jahren kein Identifikationspotenzial bot und deshalb die Vorgängerinnen und deren Errungenschaften und Erfahrungen von der zweiten Frauenbewegung kaum gewürdigt wurden (vgl. ebd.: 257-275). Zu prüfen wäre, ob es eine ähnliche Distanz bei jungen Feministinnen heute gegenüber den Feministinnen und Themen der 1970er und -80er Jahre gibt. Danach befragt, gaben die Interviewten verschiedene Aspekte an, die zum Scheitern eines Generationendialogs führen können. Zusammengefasst sind das folgende:
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Die Aktionsschwerpunkte und -formen der unterschiedlichen Generationen sind zum Teil sehr different. Besonders deutlich treten dort Unterschiede zutage, wo ältere Feministinnen und Feministen auf Queerfeministinnen und -feministen treffen, die sich nicht nur mit anderen Themen beschäftigen, sondern sich auch in ihren Sprechweisen von den Älteren unterscheiden. Hinsichtlich der Aktionsformen gibt es generationsbedingte Unterschiede. Diese hängen zum Teil damit zusammen, dass die älteren Frauen häufig institutionell eingebunden sind und dementsprechend nicht gleichermaßen frei agieren (können), wie es jüngere Feministinnen und Feministen tun. Die Älteren haben sich aus verschiedenen Gründen aus der politischen Aktivität zurückgezogen. Für einige treffe möglicherweise auch zu, dass sie nach zum Teil frustrierenden Erfahrungen keine Kraft mehr spüren, partiell weniger politisch ambitioniert sind oder die Auseinandersetzungen Jüngeren überlassen. Weitere Erklärungen stehen im Zusammenhang mit den Herausforderungen der Frauenbewegung durch die unterschiedlichen Erfahrungen im geteilten Deutschland und der Wiedervereinigung. Die Wiedervereinigung habe zwar Chancen für eine Frauenbewegung und damit verbunden für die Übernahme der selbstbestimmten Fristenlösung aus der DDR-Gesetzgebung geboten. Allerdings standen Frauen aus beiden deutschen Teilen, Frauen aus der ehemaligen DDR in besonderem Maße, vor gewaltigen Herausforderungen, die das Engagement für eine emanzipatorischere Regelung der Abtreibung in den Hintergrund rücken ließen: Nach einer kurzen frauenpolitischen Welle waren die Frauen aus der ehemaligen DDR vor allem damit beschäftigt, einen neuen Alltag zu gestalten und aufrecht zu erhalten. Der Transformationsprozess der Wiedervereinigung wurde umfassend analysiert. Dennoch: Viele Untersuchungen davon widmeten sich den »drastischen Beschäftigungseinbrüchen« und deren Auswirkungen insbesondere auf Frauen (vgl. Fischer 2010: 508). Gespräche und Austausch über das, was war und das, was verlorenging, u.a. festgemacht am Abtreibungsthema, hatten da offenbar keinen Platz. Nach Aussage der Interviewten waren viele der politisch engagierten Frauen im Osten, nach den kräftezehrenden Prozessen im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Veränderungen einerseits und den frustrierenden Verlusten für die eigene Lebenswirklichkeit andererseits, erschöpft und resigniert.15
15 Vgl. dazu auch Ockel 2000: 96/108.
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Zusammenfassend ist festzustellen, dass es einen Generationenkonflikt zwischen älteren und jüngeren Feministinnen und Feministen nicht gibt. Es existieren die beschriebenen Differenzen beispielsweise in Organisations- und Aktionsformen. Keine dieser Differenzen scheint zu einem Konflikt in dem Sinne zu führen, dass sich die Generationen voneinander abzugrenzen versuchen oder sogar ablehnend aufeinander reagieren. Einen wirklichen Austausch/Dialog zwischen den beiden Generationen scheint es allerdings auch nicht zu geben. Die Notwendigkeit dieses Austauschs kann durchaus hinterfragt werden, ebenso inwiefern das Agieren in unterschiedlichen Räumen dem gemeinsamen Anliegen zuträglich ist. Die meisten Interviewten jedenfalls wiesen darauf hin, dass ein Erfahrungsaustausch bereichernd wäre. Wolff (2012) konstatiert den Bruch zwischen der ersten und der zweiten Frauenbewegung in Deutschland in den Nachkriegsjahren und die Notwendigkeit der vollkommenen Neuorganisation der Frauenbewegung (vgl. ebd.: 257 ff.). Die Umwälzungen, die mit der Wiedervereinigung einhergingen, sind nicht vergleichbar mit dem Ende des Nationalsozialismus. Die Neuorganisation der Frauenbewegung war aber auch in dieser Zeit, in der sich ein ganzes Gesellschaftssystem neu organisieren musste, notwendig (vgl. Lenz 2010: 27). Verknüpft mit den unterschiedlichen Realitäten der Frauen aus Ost- und Westdeutschland und den damit einhergehenden Brüchen, ergibt sich ein komplexer Zusammenhang von unterschiedlichen Erwartungen und Erfahrungen, die in dieser Zeit aufeinander getroffen sind und wahrscheinlich nachhaltig Verständigung erschwert haben.
AUSBLICK Gefragt nach ihren Prognosen für die weitere Entwicklung der Abtreibungsdebatte, zeichneten die Interviewten kein zuversichtliches Bild. Ihre Ausführungen waren vor allem geprägt von der Befürchtung, dass sich – auf Grund konservativer gesellschaftlicher Stimmungen – sogar erneut Verschlechterungen für das Selbstbestimmungsrecht auf Abtreibung entwickeln könnten. Gleichzeitig aber brachten sie ihren Unwillen, derartige Verschlechterungen hinzunehmen, zum Ausdruck. Damit verbunden war der Wunsch, dass sich die überschaubaren Aktiven stärker vernetzen und in Austausch begeben, um Kräfte zu bündeln und Strategien zu entwickeln, dem spürbaren Backlash etwas entgegensetzen zu können. In den Erklärungsansätzen der Interviewten spiegeln sich die geschlechtertheoretischen, bevölkerungspolitischen und moralischen diskursiven Anteile der
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Abtreibungsdebatte wider. Es zeige sich, wie immer noch zum Teil uralte Begründungen zur Sanktionierung von Abtreibung den gegenwärtigen Umgang damit bestimmen. Familienplanung und Kinderwunsch als planbares Projekt mit dem Ziel optimaler Ergebnisse (vgl. Boltanski 2007: 167 ff.) übe zusätzlichen Druck auf Frauen aus. Sie haben sich dennoch in bestehende Verhältnisse eingerichtet. Ablehnung und Aufbegehren dagegen scheinen keine Option zu sein. Durch traditionelle christliche Moralvorstellungen geprägt, die durch aktuelle bioethische Debatten um den Wert und die Ehrfurcht vor dem ungeborenen Leben untersetzt werden, ist die ablehnende Haltung gegenüber der Abtreibung tief in der Gesellschaft verankert. »Dagegen« zu sein, heißt »gut« zu sein und könne für die eigene Imagepflege genutzt werden – und sei einfacher, als sich mit komplexen Argumentationen »dafür« auseinanderzusetzen. Die Argumentationen radikaler Abtreibungsgegner/-innen fallen somit auf fruchtbaren Boden. Die grundsätzliche Ausrichtung ihres Engagements erfährt keine offene Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft und wird vor allem von Teilen der deutschen Politik offen befürwortet und unterstützt. Feministische/emanzipatorische Bestrebungen leiden unter den Verquickungen der historisch bestehenden Diskurse mit postmodernen Entgrenzungen und Diversifizierungen. Die gegenwärtige Gesetzgebung bietet kein ausreichendes »Feindbild«, die Auseinandersetzung mit radikalen Abtreibungsgegner/-innen ist auf Dauer frustrierend. Die komplexen Zusammenhänge, in denen sich Abtreibung als Thema für Aktivismus befindet, bieten vielfältige Möglichkeiten für Konflikte innerhalb frauenbewegter Kontexte. Zum Teil werden diese Konflikte so zugespitzt, dass jegliche Bündnisoption unmöglich scheint. Ältere und jüngere Frauengenerationen beobachten sich gegenseitig und tauschen sich auch gelegentlich aus. Dennoch scheint es, als würde dieser Austausch gerade erst wieder aufgenommen. Wie genau Abtreibung als Thema der Frauenbewegung immer stärker von anderen Themen überlagert werden konnte, nach 1976, 1992 oder 1995, konnte nach Auswertung der Interviews nicht beantwortet werden. Allerdings scheint es, als gewännen feministische Fragestellungen, damit auch die Forderung nach dem Recht auf Abtreibung, insbesondere in linken, selbstorganisierten Zusammenhängen, die sich häufig als queer-feministische definieren, (wieder) an Bedeutung. Welche Bedeutung es für die Abtreibungsthematik hat, wenn queere Diskurse die Debatte darum beeinflussen? Die Theoriedebatte ist durch dekonstruktivistische Perspektiven bereits verändert. Wie kann dies praktisch in das Engagement für ein Recht auf Abtreibung einfließen? Diese Fragen können und sollten Anstoß für die gegenwärtigen und zukünftigen Auseinandersetzungen um das Thema Abtreibung sein.
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Ethische und juristische Dimensionen
Schwangerschaftsabbruch, Behinderung, Christentum: Die Ambivalenzen der sexuellen Revolution in Westeuropa in den 1960er und -70er Jahren D AGMAR H ERZOG
Wer sich genauer in die Diskussionen über das Recht auf Abtreibung im Westeuropa der 1960er und -70er Jahre vertieft, wird schnell feststellen, dass vieles nicht so war, wie wir uns heute zu erinnern meinen. Historiker/-innen wie Journalistinnen und Journalisten greifen, wenn sie über diese Jahrzehnte der sexuellen Revolution, des aufkommenden Feminismus und des Rückzugs der Religion berichten, auf immer gleiche Motive und Muster zurück. In diesen »Master Narratives« kommen die Schwierigkeiten nicht vor, vor die sich Verfechter/-innen des Rechts auf Abtreibung gestellt sahen, wenn sie ethische Argumente für die Beendigung ungewollter Schwangerschaften suchten, genauso wenig wie die bewussten oder unbewussten Widerstände, denen sie begegneten. Zwei Beobachtungen könnten gegenwärtige Debatten besonders bereichern. Zum einen gilt es zu konstatieren, dass es damals ernste Bestrebungen gab, das Recht auf Abtreibung mit religiösen, speziell christlichen, Argumenten zu verteidigen. Zum anderen muss man befremdet feststellen, dass religiöse wie säkulare Verfechter/-innen eines weitreichenden Rechts auf Abtreibung der Überzeugung anhingen, es sei eine Zumutung des Schicksals, ein behindertes Kind austragen und aufziehen zu müssen1.
1
In der griechischen Antike war die Aufzucht nicht gesunder Kinder untersagt, auch das römische Recht kannte kein generelles Abtreibungsverbot zum Schutz personaler Rechte des Fötus. Die Geschichte der Umwertung durch das Christentum beschreibt G. Jerouschek (1988) ausführlich.
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Christentum – Behinderung – Abtreibung: Die genauere Analyse dieses Dreiecks öffnet den Blick für Ambivalenzen der sexuellen Revolution in verschiedenen westeuropäischen Ländern. Indem ich im Folgenden die Argumente von Theologen, Parlamentarierinnen, Journalisten und Feministinnen mit- und gegeneinander lese, rekonstruiere ich bislang vernachlässigte Aspekte der Auseinandersetzung in Großbritannien, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, Italien und der Schweiz in den Jahren zwischen 1960 und 1980.2 Der Vergleich dieser fünf Nationen ist nicht nur deshalb aufschlussreich, weil er eine Gegenüberstellung von katholischen, protestantischen und gemischt-konfessionellen Ländern ermöglicht, von denen vier (die Schweiz nicht) in den 1960er und -70er Jahren eine Liberalisierung der Gesetzgebung erlebten. Genauso interessant ist der Vergleich zwischen Staaten mit einer nationalsozialistischen, faschistischen oder zumindest KollaborationsVergangenheit und solchen mit einer durchgehend demokratischen Tradition. Der moralische Eifer, mit dem Abtreibungsgegner/-innen wie -befürworter/ -innen ihre Haltung vertraten, speiste sich nicht nur aus religiösen Motiven, sondern mindestens ebenso stark aus dem Bedürfnis, die bleibenden Hinterlassenschaften des Faschismus zu überwinden. Zugleich war es damals nicht einfach zu bestimmen, welche Phänomene als Säkularisierung zu werten waren und welche womöglich als Ausdruck religiöser Erneuerung – eine Unschärfe, die auch heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, noch besteht. Gerade die 1960er und -70er Jahre waren eine Zeit der hitzigsten Auseinandersetzungen unter Theologinnen und Theologen wie Laien über die Lehren der Evangelien, über die Beziehung zwischen Glaube und Politik, über das Wesen Gottes überhaupt. Eine wachsende Zahl christlicher Theologinnen und Theologen beharrte darauf, dass Gott nicht mehr länger als eine Art übernatürlicher Magier gesehen werden solle, der Menschen wie Schachfiguren hinund herschob, Flugzeugabstürze oder Minenunfälle zuließ oder abwendete und auf inbrünstige Gebete mit Wundern reagierte. Dies alles galt ihnen eher als Aberglaube denn als echte Frömmigkeit. Andere forderten dazu auf, jene als die echten Ungläubigen zu betrachten, die Religion dazu benutzten, den grausamen politischen Status quo des Krieges in Vietnam und den ausbeuterischen Kapitalismus zu unterstützen. Sie setzten der Orthodoxie als der »rechten Lehre« die »Ortho-Praxie« als das richtige Handeln in der Welt entgegen. Besonders im westdeutschen Kontext waren solche theologischen Argumente eng mit dem Bemühen verbunden, Lehren aus der NS-Vergangenheit zu zie2
Einen wertvollen Überblick über die der Abtreibungskontroversen der 1960er und -70er Jahre in vielen westeuropäischen Ländern, darunter Großbritannien, Frankreich, West-Deutschland und Italien, bietet Dorothy M. Stetson (2001).
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hen – und den Einfluss der konservativen Formen des Christentums, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten dominiert hatten, zurückzudrängen. Aber auch in Großbritannien, Frankreich, Italien und der Schweiz forderten zahlreiche – evangelische wie katholische – Theologinnen und Theologen unter dem Einfluss des Zweiten Vatikanischen Konzils, der Tod-Gottes-Bewegung, der Politischen Theologie oder auch der Befreiungstheologie, dass die Kirchen ihre Botschaft an die sich ändernden Zeiten und die praktischen Bedürfnisse der Menschen anpassen sollten, dass tradierte Gottesbilder korrigiert werden müssten und dass Solidarität mit den Unterdrückten die beste Form des Christseins sei (vgl. Herzog 2006: 425-460). Diese Diskussionen über das Wesen Gottes und des Glaubens sowie über die Beziehung zwischen Religion und Politik wurden noch komplizierter, weil es gleichzeitig um Sexualität und Fortpflanzung ging. Durch die ersten drei Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts hindurch waren Sexualmoral und Glaubensfragen stets aufs Engste verbunden. Einerseits hat nichts Menschen so von der Religion entfremdet wie die Einmischung der Kirchen in das, was in ihren Betten passierte. Seelsorger/-innen und Theologinnen und Theologen wussten sehr genau, dass Fragen der sexuellen Lust und der Fruchtbarkeitskontrolle ihren Gemeindemitgliedern zentrale Anliegen waren. Andererseits können wir immer wieder sexuell liberale Bewegungen innerhalb des christlichen Klerus ausmachen. Zwischen 1930 und 1970 gab es Priester in Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Italien und Irland, die die verzweifelten Bemühungen ihrer Gemeindemitglieder, ihren Glauben mit aktiver Familienplanung zu vereinbaren, unterstützten. Es gab holländische, französische, britische Priester und Pastoren, die sich in den 1950er und -60er Jahren für die Rechte von Homosexuellen engagierten (vgl. Oosterhuis 1996: 95-112; Hekma 2004: 100-113; Martel 1996; Dieckhoff 1956). Und es gab – wie ich unten ausführlicher zeigen werde – katholische und evangelische Geistliche und Theologen in jedem westeuropäischen Land, die sich für legale Zugänge zur Abtreibung aussprachen, und das nicht, weil sie darin ganz pragmatisch das kleinere Übel sahen, sondern weil sie diese Möglichkeit für aus christlicher Sicht geboten hielten.3 Inmitten all der starken Argumente für einen liberalisierten Zugang zur Abtreibung gab es in den 1960ern und -70ern aber auch, wie schon angedeutet, ei3
So schreibt der Schweizer protestantische Theologe Gyula Barczay: »Charakteristisch für die neu sich herausbildende Einstellung evangelischer Ethik ist, dass sie die Schwangerschaftsunterbrechung nicht mehr bloß im Hinblick auf nicht anders abwendbare menschliche Not duldet, sondern von der Schwangerschaftsunterbrechung, unter ganz bestimmten Bedingungen mit einem guten Gewissen ermöglicht, als einer legitimen Grenzüberschreitung redet« (Barczay 1974: 91).
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nen sehr problematischen Strang: Die medizinischen Überlegungen waren gekennzeichnet von einem unreflektierten und unsensiblen Umgang mit Behinderung. Heute, im 21. Jahrhundert, greifen geschickte Gegner/-innen der Abtreibung diese Schwachstelle auf und versuchen, die Rechte Behinderter für ihre Sache nutzbar zu machen. Zwei traditionell progressive Gruppen, die Aktivistinnen und Aktivisten für Behindertenrechte und die Frauenrechtler/-innen, werden so gegeneinander ausgespielt. Um diesem gefährlichen Spiel zu entkommen, müssen die Debatten der Vergangenheit noch einmal gelesen werden. Dabei zeigt sich, dass sich Verweise auf das Thema Behinderung wie ein roter Faden durch die Kontroversen um das Recht auf Abtreibung ziehen.
O FFENE G EHEIMNISSE Will man die Debatten der 1960er und -70er Jahre rund um das Thema Abtreibung besser verstehen, muss man sich die zahlreichen offenen Geheimnisse in jenen Jahren vergegenwärtigen. Ein erstes offenes Geheimnis ist mit folgendem Widerspruch verbunden: Einerseits gab es einen Zusammenhang zwischen der Stärke des Katholizismus in einem Land und den Schwierigkeiten beim Versuch, Empfängnisverhütung und Abtreibung zu entkriminalisieren. Andererseits gab es aber einen Zusammenhang zwischen der Stärke des Katholizismus und der tatsächlichen Nutzung von Abtreibung als Instrument der Familienplanung – eben weil die katholische Kirche Empfängnisverhütung so vehement bekämpfte. Es galt also nicht nur der Satz: Je katholischer, desto mehr Babys (dies insbesondere in den katholischen Gegenden der Niederlande und in Belgien). Genauso galt – und das vor allem für Spanien und Portugal, am deutlichsten jedoch für Italien: Je katholischer, desto mehr Abtreibungen.4 Ein zweites offenes Geheimnis war, dass die verbreitete Position, Abtreibung für rechtswidrig zu halten, gar nicht so viel mit dem Schutz des »Lebens« zu tun hatte, wie damals religiös Konservative und heute noch manche Historiker/ -innen behaupten, sondern dass diese Position Teil einer umfassenderen Feindseligkeit gegenüber Verhütung war. Die Gesetze gegen Verbreitung und Verkauf von Verhütungsmitteln, die 1920 in Frankreich, 1930 im faschistischen Italien und 1941 in Nazi-Deutschland erlassen wurden, sollten die demografische Stär-
4
Zu Spanien und Portugal: Markham: 1980; Linhard: 1983; Howe: 1976; Jolliffe: 1984.
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ke der Nation fördern und nicht etwa das Leben als »heilig« schützen.5 Diese Gesetze waren noch in den sechziger Jahren geltendes Recht. Zu unterstreichen ist schließlich auch, wie zäh sich die Sorge um die demografische Entwicklung und die Ambivalenz gegenüber Empfängnisverhütung bis weit in die postfaschistische, nach-nationalsozialistische bzw. Nach-Vichy-Zeit hinein hielten. Von Italien über West-Deutschland bis Frankreich beschränkten Gesetzgeber und Gerichte weiterhin den Zugang zu Verhütung und hatten dabei die nationale Geburtenrate im Blick. Was unklar bleibt ist, ob der Widerstand gegen Verhütungsmittel tatsächlich mit Demografie zu erklären ist, oder ob es in Wahrheit nicht um die Frage ging, wofür Frauen bestimmt seien. Vielleicht trifft ja beides zu. In den 1920er bis 40er Jahren galten sinkende Geburtenraten in jeder Nation als Bedrohung der nationalen Stärke. Aber es spielte auf jeden Fall auch eine Rolle, dass Frauen in Abhängigkeit gehalten wurden, solange sie Lebensentscheidungen in Sachen Fortpflanzung nicht selbst treffen durften. Bezeichnenderweise blieb die Ambivalenz gegenüber mehr Freiheit für Frauen bis in die Ära der sexuellen Revolution hinein bestehen. Um nur ein paar kleine Beispiele zu nennen: Die Hälfte der jungen Männer, die in einer britischen Umfrage in den 1970ern interviewt wurden, hatten Vorbehalte gegenüber der Antibabypille – eben weil sie Frauen sexuelle Freiheit verschaffte, die die Männer als Bedrohung ihrer »dominanten Rolle« sahen (Collins 2003: 173). Der italienische Sozialpsychologe und Sexualrechts-Aktivist Luigi De Marchi beobachtete, dass Männer Widerstände gegenüber Verhütung hätten – und zwar behagte ihnen nicht nur das unhandliche Kondom nicht, sondern auch die Pille: »Sie befürchteten, dass ihre Frauen ohne die Angst vor einer Schwangerschaft frei sein würden, zu einem anderen zu gehen.« (Marchi/Zardini 2007: 39) Und Simone Veil, die französische Gesundheitsministerin im Kabinett Giscard d’Estaing, erinnert sich an erbitterte Angriffe während der Parlamentsdebatten im Jahr 1974, als sie die Gesetzesvorlage vorstellte, die für die folgenden fünf Jahre Abtreibung straffrei stellen sollte: »Die Männer hatten Angst, dass die Frauen ihnen entgleiten würden.«6 Für Frauen hatte die Nicht-Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln verheerende Folgen, denn für Hunderttausende von ihnen war Sex, auch in der Ehe, ein 5
Deutlich benennt dies das belgische Gesetz über die Empfängnisverhütung von 1923. Dass Familienplanung unter Strafe gestellt wurde, wurde als »Akt von glühendem und weitsichtigem Patriotismus« verstanden (zitiert nach Stevens/Hooghe 2003: 136).
6
Simone Veil im Interview mit Maud Dugrand und Mina Kaci, »Trente ans après, Simone Veil se souvient«, in: L’Humanité, 26.11.2004, http://www.humanite.fr/node/ 303984 (Zugriff am 01.03.2014).
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Erlebnis voller Angst statt Lust. Als Simone de Beauvoir ihr Buch »Das andere Geschlecht« veröffentlicht hatte, schrieb ihr eine Apothekerin, viele Frauen würden sie um Rat fragen, würden sich aber schließlich doch auf illegale Abtreibungen verlassen. Für diese Frauen mache das Fehlen von Verhütungsmitteln sexuelle Lust unmöglich. Für eine ihrer Kundinnen, 29 Jahre alt, aber weit älter wirkend, seien die arbeitsfreien Tage ihres Ehemanns schlicht »Folter«. Sie hatte vier Kinder, zehn Fehlgeburten und »kein Vergnügen, niemals«. Der Apothekerin kamen viele Frauen vor »wie Tiere in der Falle«: »Sie wagen nicht, öffentlich das zu fordern, was sie sich im Privaten unter Tränen wünschen.«7 Hinter allen offenen Geheimnissen gab es also noch mehr. Sie betrafen: sexuelle Gewohnheiten und Vorlieben, Spannungen in der Intimität, oft unerfüllte Sehnsüchte rund um Sexualität, Schwierigkeiten, über Sex zu sprechen – auch mit dem Ehemann oder Liebhaber, das Verlangen nach besonderen Lusterfahrungen (besonders intensiv, oder besonders unkompliziert), die Unterwerfung von Frauen als Teil dessen, was Sexualität für manche Männer überhaupt erotisch machte, die Annahme (auch unter Frauen), dass Weiblichkeit zwangsläufig Masochismus und aufopfernde Hingabe bedeute, und schließlich die zwiespältigen Gefühle von Frauen wie Männern, was Fortpflanzung und den Wert der Mutterschaft angeht. Das größte offene Geheimnis der westeuropäischen Sexualkultur der 1960er Jahre aber war das Vorherrschen der illegalen Abtreibung. Für ein kleines Land wie die Schweiz lagen die Schätzungen bei 20.000 bis 50.000 illegalen Abtreibungen pro Jahr – zusätzlich zu 21.000 legalen, die unter der Indikation der Gesundheit der Mutter (ein entsprechendes Gesetz war seit 1942 in Kraft) durchgeführt wurden (vgl. Pfürtner 1974: 45/47). Schätzungen für Großbritannien reichten von 40.000 bis 100.000 pro Jahr.8 Die Zahlen für die anderen Nationen lagen weit höher. Schätzungen für die Bundesrepublik Deutschland gingen von mindestens einer Million Abtreibungen jährlich aus – ebenso viele wie Geburten. (vgl. Delille/Grohn 1985: 123; Der Spiegel 1964: 87; Nedelmann 1965: 6). Die Schätzungen für Frankreich lagen bei 300.000 bis 1 Million, für Italien zwischen 800.000 und 3 Millionen.9 7
Brief einer Apothekerin an Simone de Beauvoir vom 20.3.1950, zitiert nach Coffin 2010: 1061-1088.
8
»Abortions in Britain total 40,000 a Year«, in: The Guardian, 15.7.1966, S. 5 (drei Viertel der geschätzten 40.000 wurden hier als illegal gezählt); für die höhere Zahl siehe: Church Assembly Board for Social Responsibility, Abortion: an Ethical Discussion, Westminster 1965, S. 7.
9
Von drei Millionen oder sogar mehr gehen aus: Rosemary Ruether, »Italy’s ›Third Way‹ on Abortion Faces a Test«, in: Christianity and Crisis, 11.5.1981 und Arthur
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Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die Entkriminalisierung, die die Abtreibung in den drei letztgenannten Ländern – in Frankreich 1974, in Westdeutschland 1976 wenigstens in Teilen (im Prinzip war sie weiterhin illegal, aber mit rechtlich stark gesicherten Ausnahmen), in Italien 1978 – schließlich erfuhr, nicht auf den feministischen Slogan »Mein Bauch gehört mir« zurückzuführen ist. Stattdessen verdanken wir die Entkriminalisierung den von Aktivistinnen und Aktivisten sowie Politik vorgebrachtem Argument, dass das Recht an Kraft und Respekt verloren habe, weil es in der Praxis so weitreichend missachtet werde. Dies war zum Beispiel das wichtigste Argument von Simone Veil, als sie Ende 1974 die genannte Gesetzesvorlage ins Parlament brachte: »Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Behörden sich nicht mehr länger ihrer Verantwortung entziehen können. […] Die derzeitige Situation ist schlecht, beklagenswert, ja dramatisch. Das bestehende Gesetz wird offen missachtet, schlimmer noch: lächerlich gemacht. […] Wir haben einen Zustand von Anarchie erreicht, der nicht tragbar ist.«10 In Italien schrieb die feministische Gruppe Rivolta Femminile 1971: »Wir […] behaupten, dass die jährlich ein bis drei Millionen heimlicher Abtreibungen, die in Italien vermutet werden, ausreichen, um das Gesetz, das Abtreibung unter Strafe stellt, für real ungültig zu erklären.« (Femminile 1971, übersetzt in: Wunderle 1977: 103) Und auch in der Bundesrepublik Deutschland argumentierte das führende Nachrichtenmagazin Der Spiegel: »Kaum ein Gesetz in der Bundesrepublik wird so häufig übertreten wie das gegen die Abtreibung – jeden Tag mehr als tausendmal.« Und: »Kaum ein Gesetz […] ist derart zur Farce degradiert wie das gegen die Abtreibung.« (Der Spiegel 1971: 134/136) Unter den wichtigsten Argumenten war auch in den westlichen Ländern – genau wie für die meisten Ostblockregierungen, die schon in den 1950er und 60er Jahren zu Gunsten der Legalisierung entschieden hatten – das Argument, dass es um die Gesundheit und das Leben der Frauen gehe, dass illegale Abtreibungen aber unweigerlich mit Gesundheitsschäden und -gefahren verbunden sei-
Mawick, The Sixties: Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c. 1958 – c. 1974 [»c.« steht für »circa«; D.H.], Oxford 1998, S. 713. Für niedrigere Zahlen siehe Massimo Livi-Bacci, »Demografia dell’aborto in Italia«, in: Sapere 195, Nr. 784, S. 41-46, und Patrick Hanafin, Conceiving Life: Reprodauctive Politics and the Law in Contemproary Italy, Hampshire 2007, S. 29. 10 Zitiert nach dem Parlamentsprotokoll vom 26.11.1974, S. 6998 f.: www.assembleenationale.fr/histoire/interruption/1974-11-26-1.pdf (Zugriff am 17.03.2014; übersetzt aus dem Französischen von Gabriele Kammerer).
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en. Wichtig war auch das Klassenargument: dass es ungerecht sei, dass gut situierte Frauen leichter an sichere Abtreibungen kommen könnten als ärmere. Die britische Zeitung The Guardian, dem Abbruchsrecht zugeneigt, schrieb 1967, ein Elitearzt könne »pro Jahr 175.000 britische Pfund legal kassieren von den Frauen, die es schafften, 150 Pfund und seine Telefonnummer aufzutreiben. Abtreiber in bescheideneren Straße hingegen könnten etwa 100.000 Operationen im Jahr vornehmen, eine Handvoll ihrer Patientinnen töten, weitere Frauen dauerhaft unfruchtbar machen und ihnen allen Erlebnisse zumuten, die, wenn sie von Männern oder von Pferden erlitten werden müssten, schon längst den Einfallsreichtum der parlamentarischen Reformer angeregt hätten.«11 Ärzte verdienten sehr gut an der Illegalität. Ein wichtiger Grund für den Widerstand dieser Berufsgruppe gegen die Entkriminalisierung der Abtreibung war also beileibe nicht nur moralischer Skrupel, sondern schlicht Gier.
R ELIGIÖSE ARGUMENTE ABTREIBUNG
FÜR DAS
R ECHT
AUF
Viele Befürworter/innen der Abtreibung fühlten das dringende Bedürfnis, dem christlichen Glauben nicht auszuweichen, sondern ihn direkt einzubeziehen. Und es gab sowohl protestantische als auch, bemerkenswerterweise, katholische Theologen und Laien, die einen besseren Zugang zum Schwangerschaftsabbruch mit Nachdruck verteidigten. Eines ihrer zentralen Argumente basierte auf der Idee, dass jede ethische Abwägung über Abtreibung beim Leben der einzelnen Frau in ihrer spezifischen Situation ansetzen müsse, bei ihrem Leben in seiner Gesamtheit. Die Methodistenkonferenz in Großbritannien drückte es 1966 so aus: »Zuallererst ist eine Frau, die eine Abtreibung will, nicht jemand, der dabei ist, ein Verbrechen zu begehen, sondern ein Mensch in Not.« (Potts/Diggory/Peel 1977: 295)12 Die Antwort auf die von Jesus gestellte Frage: »Wer ist mein Nächster?« lautete für westdeutsche, französische und Schweizer Theologinnen und Theologen: Das sei unbedingt in erster Linie die Frau selbst (Ringeling 1974: 41). Eine Kommission der britischen anglikanischen Kirche kam im Jahr 1967 zu dem Schluss, dass »Abtreibung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt werden« könne. Die Kommission befand nicht nur, dass Abtreibung gerechtfertigt sei, wenn »davon
11 Editorial (»Aborton Law Reformers Attacked«), in: The Guardian, 14.2.1967, S. 8. 12 Vgl. auch die Forderung der Methodisten nach einer Liberalisierung des Abtreibungsrechts in The Guardian, 7.7.1966, S. 15.
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ausgegangen werden kann, dass die Geburt Gefahr für Leben oder Wohlbefinden der Mutter bedeuten würde«, sondern auch, dass »ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden verstanden werden müssen als integral mit dem Leben und dem Wohlbefinden ihrer Familie verbunden.«13 Der Schweizer protestantische Theologe Gyula Barczay forderte, moralische Überlegungen dürften nicht von dem »Abstractum ›menschliches Leben‹« ausgehen, sondern von dem »konkreten Mitmenschen«. Es wäre eine Schande, wenn das bereits bestehende Leben einer Frau in all seiner Fülle und Komplexität als gleichwertig oder gar als weniger wertvoll behandelt, jedenfalls in Konkurrenz gesehen würde zu dem in ihr wachsenden Leben (vgl. Barczay 1974: 94). Zweitens argumentierten Theologen für die reproduktive Selbstbestimmung: Es sei ein grundlegendes moralisches Recht des Menschen, die Anzahl der Kinder und den Zeitpunkt selbst festzulegen. Eine weitere – aus heutiger Sicht vielleicht überraschende – These war, dass zum Menschsein das Gewolltsein, das Ersehnt- und Begehrtsein, dazugehöre. Ein Team von katholischen Ärztinnen und Ärzten, Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern sowie Theologinnen und Theologen veröffentlichte diese Argumentation in der französischen Jesuitenzeitschrift »Études«, bevor sie auf Deutsch in der Schweizer Zeitschrift »Orientierung« erschien. Die Thesen waren provokant, die Vokabeln auch: Das beginnende Leben müsse »zum Geborenwerden gerufen werden«, um in vollem Umfang menschliches Leben zu werden. »Man kann deshalb bei der Abtreibung nicht von einem Mord sprechen«, war da zu lesen, »weil sie gerade auf Grund der Verweigerung oder der Unmöglichkeit, den Embryo zu humanisieren, vorgenommen wird.« Der Schwangerschaftsabbruch sei gerechtfertigt, wenn er in der Weigerung gründe, »eine Entmenschlichung hervorzurufen«.14 Ähnliche Argumente wurden von westdeutschen Protestantinnen und Protestanten vorgebracht: »Nicht schon die physische 13 Church Assembly Board for Social Responsibility, Abortion: An Ethical Discussion, Westminster 1965, S. 61. Auch die Schwesterkirche der Anglikaner, die US-amerikanische Episkopalkirche, stellte 1967 fest, dass Abtreibung moralisch legitim sein könne – und wiederholte dies 1976. Die Episkopalen erklärten, verantwortungsvolle Familienplanung, einschließlich des Gebrauchs von Verhütungsmitteln, sei der beste Weg, Gottes Geschenk an die Menschen, dass sie Leben geben können, zu ehren. Vgl. http://www.episcopalarchives.org/cgi-bin/acts/acts_resolution.pl?resolution=1976-D0 95 (Zugriff am 01.03.2014). 14 Die deutsche Fassung des Études-Textes findet sich in: Dossier Abtreibung: I. Motivationen; II. Der Ruf zum geboren werden; III., Suche nach einer neuen Politik, in: Orientierung 37, 1973, Nr. 3, 4 und 5. Original: Pour une réforme de la legislation française relative à l’avortement, in: Études 1973, Nr. 338, S. 55-84.
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Zeugung, sondern erst die menschliche Annahme macht das Leben als menschliches Leben möglich.« (Jüngel/Moltmann/Käsemann 1971: 552-454) Oder wie der Schweizer Protestant Gyula Barczay sagte: »Man merkt: Es geht eben nicht um die Alternative zwischen ›Recht auf Leben‹ und ›Recht auf Erwünschtsein‹; es geht um die Erkenntnis, dass das ›Erwünschtsein‹ eine grundlegende Bedingung der humanen Qualität menschlichen Lebens ist und dass diese Bedingung nicht durch Androhung von Strafe erzwungen werden kann. Der Frage ›Darf es leben?‹ ist die Frage ›Muss es leben?‹ als gleichwertig gegenüberzustellen.« (Barczay 1974: 97) Unter den religiösen Kommentaren gingen nur wenige auf Sex als solchen ein, also auf die Frage, wie genau Frauen schwanger wurden. Die ÉtudesAutoren allerdings bemerkten dazu – und wurden vom Deutsch-Schweizer Katholiken Stephan Pfürtner zustimmend zitiert –, dass Frauen »es nicht mehr annehmen [werden, D.H.], dass sie das Vergnügen der Männer, besonders jener, die sich nicht um die möglichen Folgen sexueller Beziehungen kümmern, zu bezahlen haben«. (Pfürtner 1974: 49) Schließlich, und ganz wichtig: Viele Theologinnen und Theologen unterstrichen den Unterschied zwischen Embryo oder frühem Fötus einerseits und einem Fötus in späterem Stadium, im zweiten oder dritten Schwangerschaftsdrittel, andererseits. Die Anglikaner sprachen von einem »noch ungeformten menschlichen Organismus« und bezweifelten offen, ob man bei einem Embryo schon von einer »lebendigen Seele« sprechen könne.15 Stephan Pfürtner sagte deutlich, ganz am Anfang einer Schwangerschaft gebe es ein »biologisches Etwas«, das aber noch kein Mensch sei, sondern nur eine Möglichkeit – eine Möglichkeit, die ethisch keinen Vorrang haben könne vor einer schon längst im Leben stehenden Frau. Er berief sich auf einen »Wandel des moralischen Bewusstseins in breiten Schichten der Bevölkerung«; in diesem Bewusstsein sei Abtreibung keine Tötung, denn der Fötus könne nicht »als selbstständiges Menschenwesen eingestuft« werden; ein Schwangerschaftsabbruch sei »lediglich als medizinischer Eingriff in das körperliche Leben der Frau« zu werten (Pfürtner 1974: 52). Besonders radikal argumentierte der Schweizer Protestant Gyula Barczay. Nicht nur seien Frauen, die abtrieben, keineswegs unmoralisch oder gar Mörderinnen – die wahre Unmoral, der wahre Abfall von Gott, liege auf Seiten der Gegner des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch. Deren Überzeugung, dass jede Schwangerschaft unter allen Umständen ausgetragen werden müsse, war in seinen Augen purer Biologismus. Die von vielen Konservativen hochgehaltene Idee, in jeder Schwängerung sei Gottes Schöpferkraft und Wille am Werke, fand Barczay widerwärtig und obszön: »Es wäre nicht nur grotesk, sondern geradezu 15 Church Assembly Board for Social Responsibility, a.a.O., S. 7.
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eine Gotteslästerung, wollte man die Verantwortung für eine Vergewaltigung, für Ungeschicklichkeit oder technisches Versagen auf den Gott schieben, den Jesus als den guten Vater aller Menschen verkündet hat.« Kurz: Barczay definierte komplett um, welche Argumentation als säkular-biologistisch und welche als christlich zu verstehen sei (vgl. Barczay 1974: 102).
ABTREIBUNG UND E UGENIK Noch eine weitere Argumentationslinie gab es unter weltlichen wie unter religiösen Verfechterinnen und Verfechtern des Rechts auf Abtreibung: Beide traten für die Möglichkeit ein, eine Abtreibung »eugenisch« zu begründen, also mit dem Hinweis auf eine zu erwartende Behinderung. Wenn wir heute die Texte der 1960er und -70er Jahre neu lesen, stellen wir fest, dass beide Seiten in der Abtreibungskontroverse häufig auf das Thema Behinderung Bezug nahmen. Denn auch die Abtreibungsgegner/-innen verließen sich mitnichten ausschließlich auf religiöse Argumente. In einem höchst komplexen Prozess, den die Wissenschaft bislang erst in Ansätzen analysiert hat, wurde das »Dritte Reich« zur Folie der moralischen Auseinandersetzungen. In Westdeutschland warfen konservative Katholikinnen und Katholiken den Sozialdemokraten nicht nur vor, sie würden das »größte Auschwitz in der europäischen Geschichte« planen, den »seit 1945 bedenklichsten Angriff gegen die sittlichen Grundlagen unserer Gesellschaft.«16 Die Abtreibungsgegner erinnerten auch gezielt an die nationalsozialistische »Ermordung von Krüppeln und Kranken«17. Französische Parlamentarier/-innen, die gegen die Entkriminalisierung der Abtreibung auftraten, sprachen wiederholt von »Völkermord«, von »NaziÄrzten«, von »rassischer Eugenik«, von »organisierter Barbarei«, vom »schlimmsten Nazi-Rassismus«, von den »Verbrechen, die während des letzten Krieges verübt wurden« und von »Nazi-Krematoriums-Feuern«.18 Es fällt auf,
16 So Franz Hengsbach, der katholische Bischof von Essen, und der katholische Arzt Siegfried Ernst, zitiert nach: »Abtreibung: Massenmord oder Privatsache«, in: Der Spiegel, 21.5.1973, S. 39. 17 Neue Bildpost, zitiert nach: Der Spiegel, »Ich habe nur Umgang mit Mörderinnen«, a.a.O.. Die Vergleiche von Abtreibung mit Auschwitz begannen übrigens bereits 1946. Vgl. dazu Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005, S. 96 ff. 18 Vgl. die Protokolle der Diskussionen der Nationalversammlung zwischen 26. November und 19. Dezember 1974: Loi du 17 janvier 1975 relative à l’interruption volontaire
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dass im laizistischen Frankreich von Politikerinnen und Politikern kaum religiöse Argumente verwendet wurden: Ihre moralische Funktion übernahmen Verweise auf die Schrecken des Nationalsozialismus. Aber eben auch die Befürworter/-innen der Legalisierung, ob weltlich oder theologisch orientiert, nahmen auf das Phänomen Behinderung Bezug. Großbritannien war außerhalb Skandinaviens das erste Land in Europa, welches die Abtreibung in vollem Umfang straffrei stellte – und das 1967, also tatsächlich in vorfeministischen Zeiten. Es ist keine Frage, dass es damals nicht nur um die Hoffnung ging, die Rate der illegalen Abtreibungen und die damit verbundenen Gesundheitsschäden zu reduzieren. Die Legalisierung war vielmehr auch eine Reaktion auf den Skandal um Geburtsschäden, die in den frühen 1960er Jahren durch das Anti-Übelkeits-Medikament »Thalidomide« – in Deutschland vertrieben und bekannt als »Contergan« – verursacht wurden. Tausend Kinder in Großbritannien (und mehr als zehntausend weltweit) wurden mit verkürzten Gliedmaßen geboren. Und, was weniger bekannt ist, weitere tausend Kinder in Großbritannien sind innerhalb von wenigen Monaten nach der Geburt gestorben, weil das Medikament auch zur Missbildung innerer Organe führen konnte. Viele der Frauen, die diese Kinder ausgetragen hatten, hatten versucht, an Abtreibungen zu kommen, aber es war ihnen verweigert worden. Vor allem der Tod der Kinder mit missgebildeten inneren Organen ließ die Einbeziehung einer »eugenischen Indikation« im 1967 erlassenen Abortion Act als moralisch unerlässlich erscheinen. Auch die bereits erwähnte anglikanische Kirchenkommission begründete in ihren Überlegungen von 1965 ausführlich ihr Argument, dass in Fällen wie dem Contergan-Skandal oder in anderen Fällen, wo eine Fehl- oder Missbildung zu erwarten stand, eine Abtreibung die angemessene Wahl sein könne.19 Eugenische Überlegungen wurden auch noch direkter ausgesprochen. In West-Deutschland ereiferte sich zum Beispiel Der Spiegel in seiner ProAbtreibungs-Kampagne von 1971: »15 Prozent der westdeutschen Frauenärzte sind noch dafür, dass Kinder gegen den Willen der Mutter auch dann geboren werden sollen, wenn zu erwarten ist, dass sie als Krüppel oder Schwachsinnige zur Welt kommen.« (Der Spiegel 1971: 134/136) Das französische »Études«Autorenkollektiv aus Ärzten und Geistlichen sprach von der »wachsende[n] Zahl der Debilen«, von der »Angst« gerade auch älterer Frauen, »anormale Kinder zu gebären«, und meinte mit bemerkenswerter Gefühllosigkeit, zunehmend werde gefragt, »in welchem Maße es moralisch verantwortbar sei, Kinder auszutragen, de grossesse, Débats à l ’ Assemblée Nationale, http://www.assemblee-nationale.fr/ histoire/interruption/sommaire.asp (Zugriff am 01.03.2014). 19 Vgl. Church Assembly Board for Social Responsibility, a.a.O., hier S. 8 f. und 36 ff.
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deren Leben unheilbar gestört sein wird« und die »die Gesellschaft schwer belasten« würden.20 Mit etwas mehr Mitgefühl merkten westdeutsche und Schweizer Theologen an, dass zum Beispiel ein Kind mit Down-Syndrom (zu der Zeit hieß das freilich »mongoloide Idiotie«) ein durchaus »glückliches Bewusstsein« habe und dass es »eine Ehe bereichern [könne, D.H.], wenn es angenommen wird«. Sie warnten davor, auf eine schiefe Ebene hin zur Tötung sogenannten lebensunwerten Lebens zu geraten. Aber sie betonten auch, dass eine Ehe an einem solchen Kind zerbrechen könne und dass es in manchen Fällen zu empfehlen sei anzuraten, das Kind nicht auszutragen.21 Zu dieser Indienstnahme des Themas Behinderung wäre viel zu sagen. Zum Beispiel, dass es für die Verteidiger eines Rechts auf Abtreibung offensichtlich unglaublich schwierig war, unumwunden für sexuelle Lust ohne reproduktive Folgen als ein Menschenrecht auch für Frauen zu plädieren. (Ein weiteres Indiz hierfür dürften übrigens auch die enorm vielen Hinweise auf die angebliche Gefahr der globalen Überbevölkerung sein – als ob diese Gefahr irgendeine Relevanz für die moralische Rechtfertigung der Antibabypille in der industriell entwickelten Welt hätte.)
20 Die Autoren drückten ihre Besorgnis darüber aus, dass Babys, die früher im Kindesalter gestorben wären, heute erwachsen würden und selbst Eltern werden und eine Gefahr für »das genetische Erbe der Menschheit« werden könnten. Vgl. Dossier Abtreibung, in: Orientierung 37, a.a.O., S. 27. 21 Vgl. Ringeling, a.a.O., S. 26 f. Auch in Italien spielte das Thema Behinderung eine Rolle. Schon 1975 erlaubte das italienische Verfassungsgericht die Abtreibung mit medizinischer Indikation – und in der Begründung des Gerichts umfasste diese Indikation nicht nur Leben und Gesundheit der Mutter, sondern auch »mögliche Missbildungen beim Kind« (vgl. Wunderle, a.a.O., S. 22). Später bezogen sich italienische Abtreibungsaktivistinnen und -aktivisten auf die Umweltkatastrophe von Seveso (aus einer Fabrik in der Nähe von Mailand war Dioxin ausgetreten, die Anwohner wurden umgesiedelt), um zu begründen, dass es unmoralisch sei, schwangeren Frauen, die fötale Schädigungen durch das Gift fürchteten, eine Abtreibung zu verweigern – während der Mailänder Erzbischof Leiden zum »Geschenk Gottes« erklärte und Katholiken dazu aufrief, behinderte Kinder, die von ihrer Mutter zurückgewiesen wurden, zu adoptieren. Vgl. Laura Centemeri, Ritorno a Seveso: Il danno ambientale, il suo riconoscimento, la sua riparazione, Mailand 2006, und Wunderle, a.a.O.. Der Versuch eines Priesters, eine schwangere Frau, die befürchtet, ihr ungeborenes Kind sei durch Dioxin geschädigt, von einer Abtreibung abzuhalten, findet sich als Video hier: http://www.youtube.com/ watch?v=TTm5knVO4Go (Zugriff am 01.03.2014).
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Doch werfen wir noch einen Blick zurück. Eugenische Argumentationsstrategien gehörten schon vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts an anscheinend unauflöslich zu den Kampagnen für Empfängnisverhütung und Abtreibung. Diese Argumentation war inhärent rassistisch, und zwar in dreifachem Sinne: in der Verachtung für die niederen Schichten innerhalb Europas; in der Sorge, dass die »braunen«, »schwarzen« und »gelben« Völker sich stärker vermehrten als die »weißen«; und schließlich in der Antipathie gegen Behinderte.22 Auch nach dem Sieg über den Nationalsozialismus blieb die eugenische Argumentation gegen die unteren Klassen und gegen die Behinderten bestehen – selbst in jenen Nationen, die durchgehend demokratisch geblieben waren. Im England der Nachkriegszeit, um nur ein Beispiel zu nennen, gab ein Lehrer bei einer Umfrage zum Thema Verhütung an, diese werde von den falschen Leuten angewandt: »Intelligente Menschen sollten sich fortpflanzen und uns mehr von ihrer Sorte geben. Aber es sind die Semi-Idioten, die sich wie Kaninchen vermehren.«23 Auch in der Schweiz gab es in der Nachkriegszeit ähnliche Töne.24 Offensichtlich war es ziemlich schwer, eugenisches Denken zu verlernen.25 Es ist ein enormer Fortschritt für Gerechtigkeit und Menschenrechte, dass die
22 So schrieb zum Beispiel der Schweizer Arzt Auguste Forel, »den Kranken, den Unfähigen, den Blöden, den Schlechten, den inferioren Rassen« müsse die Geburtenkontrolle systematisch beigebracht werden. »Den Kräftigen, Gesunden und geistig höher Stehenden dagegen muss man […] eine kräftige Vermehrung ans Herz legen« (Auguste Forel, Die sexuelle Frage, München 1909, S. 504). 23 Mass-Observation Archive, University of Sussex, TC 12 Box 14, Akte A (Lehrer), Nr. 29. 24 Hier sprach sich der Arzt und Eheberater Theodor Bovet dafür aus, »dem gesunden Erbgut unseres Volkes Sorge zu tragen«. Er beklagte, dass »gerade die weniger wertvollen Elemente, ganz besonders die Schwachsinnigen, sich ungefähr doppelt so stark vermehren wie die gesunden Familien. Es ist deshalb unbedingt nötig, wollen wir nicht einst ganz von jenen überflutet werden, dass jeder, der sich gesund fühlt, […] so vielen Kindern das Leben gebe, als ihm irgendwie möglich ist« (Theodor Bovet, Von Mann zu Mann. Eine Einführung ins Reifealter für junge Männer, Tübingen 1955, Seite 47). 25 Nach 1945, nach dem Massenmord an Behinderten, hatten weder die Eugenik noch diese Morde einen schlechten Ruf. Es brauchte eine geraume Zeit, bis die Ermordung Behinderter als Verbrechen verstanden wurde. Vgl. Jürgen Pfeiffer, Phases in the Postwar German Perception of the »Euthanasia Program« (1939-1945) Involving the Killing of the Mentally Disabled and its Exploitation by Neuroscientists, in: Journal of the History of the Neurosciences 15, 2006, S. 210-244; Dagmar Herzog, Gray Bus, in:
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Rechte von Behinderten jetzt endlich auf die Tagesordnung nicht nur einschlägiger Organisationen, sondern auch der europäischen Regierungen und der EU gekommen sind. Enorme – wenn auch immer noch unzureichende – Fortschritte hat es hier gerade in den letzten zehn Jahren gegeben (vgl. Quinn/Degener 2002; Lawson/Gooding 2005; Degener 2003; Dies. 2001; Meister 2001). Aber just in dem Moment, wo die Behindertenrechte einen späten, kostbaren, immer noch unsicheren Platz im öffentlichen Bewusstsein erlangt haben, werden sie gegen die Rechte der Frauen auf Zugang zur Abtreibung ausgespielt. Anti-Abtreibungs-Aktivistinnen und Aktivisten in England, Deutschland, Frankreich und Italien – und neuerdings auch in Spanien – stellen das Recht auf Abtreibung im zweiten Drittel mit der Begründung einer fötalen Behinderung (oder jetzt auch die Möglichkeit, bei einer künstlichen Befruchtung eine befruchtete Eizelle mit Trisomie 21 nicht einzupflanzen) als einen furchtbaren Affront gegen die Rechte von Behinderten dar. Aktivistinnen für die weibliche sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung werden damit stark in die Defensive gedrängt.26 Was hat das Ganze mit der Frage nach Religion und Säkularisierung zu tun? Meine These ist, dass wir es in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Abtreibung nicht nur mit der Wiederbelebung von Religiosität in einem postsäkularen Europa zu tun haben, sondern mit einem anspruchsvollen und aggressiven Sexual-Konservatismus, der sich auf religiöse Traditionen bezieht, wenn es nützlich ist (vor allem etwa im nachkommunistischen Osteuropa, wenn Religion mit Nationalstolz, demografischer Sorge und mit Feindseligkeit gegenüber dem angeblichen Hedonismus des Westens verschmolzen werden kann). Zunehmend allerdings treten nicht-religiöse Strategien hinzu. Zwei Argumentationsstränge sind besonders hervorzuheben: Erstens die Instrumentalisierung der emotionalen Alison Cole/Kyoo Lee (Hg.), Safe (special issue of Women’s Studies Quarterly, Bd. 39), New York 2011, S. 300-314. 26 Vgl. Notz, Gisela, »Guter Tag für ›Lebensschützer‹«, in: SoZ-Sozialistische Zeitung 6,6, 2009; »Gentests an Embryonen: ›Es gibt keinen Dammbruch‹«, in: Spiegel Online, 13.7.2010, http://spiegel.de/wissenschaft/medizin/gentests-an-embryonen-esgibt-keinen-dammbruch-a-705997.html (Zugriff am 18.03.2014); Furedi, Ann, »Disability Cleansing« – or a reasonable choice?, in; Pro-Choice Forum, 28.8.2001: http://www.prochoiceforum.org.uk/comm78.php (Zugriff am 18.03.2014); Smith, Peter J., UK: Rising Number of Abortions Confirm Need to Change 1967 Law, LifeSiteNews.com,
1.8.2006:
http://www.lifesitenews.com/news/uk-rising-number-of-
abortions-confirm-need-to-change-1967-law (Zugriff am 21.03.2014); ProLife Alliance, Aborting Disabled Babies, ProLife.org, 3.1.2009: http://prolife.org.uk/2009/ 01/aborting-disabled-babies (Zugriff am 21.03.2014); Vassy, Carine, How prenatal diagnosis became acceptable in France, in: Trends in Biotechnology 23, 5, Mai 2005.
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Unsicherheit die sexuelle Revolution und besonders die sexuelle Freiheit von Frauen betreffend. Und zweitens die Taktik, zwei an sich progressive Gruppen – Abtreibungs- und Behindertenrechtler/-innen – gegeneinander auszuspielen, indem der Kampf gegen die Abtreibung als Fortschritt für die Behindertenrechte dargestellt wird. Gerade Letzteres ist ein dringendes moralisches Problem, das direkt, mit all unserer Kreativität und Sensibilität, angegangen werden muss.27 Aus dem Englischen übersetzt von Gabriele Kammerer.
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27 Es muss möglich sein, mit Leidenschaft die Rechte Behinderter zu vertreten – auch ihr Recht auf Partnerschaft und Sexualität – und Behinderte und die, die um sie sind, zu unterstützen, dabei aber nicht in einen unverschämten Paternalismus zu verfallen, der Eltern moralisch verurteilt, wenn sie glauben, nicht in der Lage zu sein, in dieser Welt ein behindertes Kind großzuziehen – in einer Welt also, die Behinderte mit Missachtung, mit Hürden und mit mangelhafter Infrastruktur konfrontiert. Das Recht auf Abtreibung muss eloquenter verteidigt werden. Dafür müssen einige Motive zur Sprache gebracht werden, die in gegenwärtigen Diskussionen unterbelichtet bleiben. Unter anderem müsste deutlicher daran erinnert werden, wie emotional komplex jene sexuellen Momente sind, in denen eine ungewollte Empfängnis stattfindet. Und wir könnten von den Theologen der Vergangenheit lernen, klarere Unterscheidungen zwischen Embryonen, Föten und Kindern zu treffen. Zur Spannung zwischen dem weiblichen Recht auf reproduktive Selbstbestimmung und Behindertenrechten vgl. Michael Bérubé, Life as We Know It: A Father, a Familiy, and an Exceptional Child, New York 1996.
D IE A MBIVALENZEN DER
SEXUELLEN
R EVOLUTION IN W ESTEUROPA | 137
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Schwangerschaftsabbrüche im heutigen Kontext von Reproduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostik Reproduktive Autonomie und der Status des vorgeburtlichen Lebens in ethischer Abwägung H ARTMUT K RESS Ministerialrat a.D. Dr. Rudolf Neidert zum 80. Geburtstag gewidmet
P ROBLEMSTELLUNG Über den Schwangerschaftsabbruch wird ethikgeschichtlich seit der Antike nachgedacht. Es handelt sich um ein »Ewigkeitsproblem der Menschheit« (Neidert 2008: 848, unter Rückgriff auf den Rechtsphilosophen Reinhard Merkel). Ethisch-normativ ging und geht es immer wieder darum, wie der Stellenwert des vorgeburtlichen Lebens einzuschätzen ist, das vom Abbruch, von einer vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft betroffen ist. In der Moderne und in der Gegenwart sind darüber hinaus das Selbstbestimmungsrecht und die Persönlichkeitsrechte der Frau zur Geltung gebracht worden. Neuerdings ist begrifflich auch von reproduktiver Autonomie zu sprechen. Aktuell lassen sich ethische sowie rechtliche Überlegungen zum Schwangerschaftsabbruch zusätzlich in einen weiteren Horizont einstellen. Im Folgenden wird erörtert, welche Konsequenzen sich aus einem Vergleich mit der Fortpflanzungsmedizin, namentlich mit der Präimplantationsdiagnostik (PID), ergeben.
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Daher sollen Entscheidungskonflikte verglichen werden, die für eine Frau einerseits bei fortpflanzungsmedizinischen Therapien, d.h. vor Beginn einer Schwangerschaft, sowie andererseits im Verlauf der Schwangerschaft aufbrechen können. Nach Legaldefinition gemäß § 218 Absatz 1 Satz 2 Strafgesetzbuch liegt ein Schwangerschaftsabbruch vor, nachdem sich eine befruchtete Eizelle bzw. ein Embryo in der Gebärmutter eingenistet hat. Aus dem breiten Themenspektrum von Schwangerschaftskonflikten werden im hier vorliegenden Beitrag vor allem Abbrüche im Mittelpunkt stehen, die im Anschluss an eine pränatale Diagnostik erfolgen. Ethisch wird insbesondere das Selbstbestimmungsrecht der Frau zu betonen sein. Vor diesem Hintergrund wird darzulegen sein, dass bestimmte gesetzliche Bestimmungen, die in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft sind, dem Selbstbestimmungsgrundrecht bzw. der reproduktiven Autonomie der Frau und ihrem Anrecht auf eine eigenverantwortete Entscheidung nicht hinreichend gerecht werden. Einführend sind einige Hinweise auf den heutigen Stand und auf Entwicklungstendenzen der Fortpflanzungsmedizin zu geben.
H ANDLUNGSMÖGLICHKEITEN UND E NTWICKLUNGSDYNAMIK DER F ORTPFLANZUNGSMEDIZIN Erstmals gelang es im Jahr 1978 in England, ein Kind zur Welt zu bringen, das mit reproduktionsmedizinischer Unterstützung durch die Vereinigung von Samen- und Eizelle außerhalb des Mutterleibs erzeugt worden war. Der damals behandelnde Arzt, Robert Edwards, erhielt im Jahr 2010 den Medizinnobelpreis. Eine außerkörperliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation/IVF) dient der Behandlung von Sterilität, etwa aufgrund von Eileiterschädigung, oder von Subfertilität bei der Frau. Inzwischen verhilft die ärztlich unterstützte Reproduktion/IVF gleichfalls dazu, einen Kinderwunsch bei Subfertilität des Mannes zu erfüllen. Zu diesem Zweck wird eine intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) vorgenommen, bei der das Spermium extrakorporal direkt in eine Eizelle eingeführt wird. Über die einzelnen Anwendungen hinaus strahlt die Möglichkeit außerkörperlicher Befruchtung in der heutigen Gesellschaft generell auf die Bewusstseinsbildung und auf das Menschenbild aus. Sie symbolisiert die Handlungsmacht moderner Medizin und hat das kulturelle Verständnis von Sexualität und Fortpflanzung beträchtlich verändert. Schon zuvor, in den 1960er-Jahren, hatte die Entwicklung hormoneller Antikonzeptiva (»Antibabypille«) Sexualität und die Erzeugung von Nachkommen voneinander entkoppelt. Durch die Angebote
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der Fortpflanzungsmedizin ist die menschliche Fortpflanzung nun in noch höherem Maß steuerbar und planbar geworden. Kulturgeschichtlich ist dies neuartig. Ihrerseits zeichnet sich die Fortpflanzungsmedizin durch eine sehr hohe Entwicklungsdynamik aus. Zum Beispiel ist es inzwischen technisch möglich, unbefruchtete Eizellen zu kryokonservieren. Hierdurch entsteht für Frauen die Option, eine Schwangerschaft gezielt auf eine spätere Lebensphase zu verschieben. Das Einfrieren von Eizellen mit der Aussicht, sie später auftauen und mit den Spermien eines Partners befruchten zu lassen, kann zum Beispiel von Patientinnen mit Tumorerkrankungen genutzt werden, die eine keimzellschädigende Therapie, etwa eine Chemotherapie, durchführen lassen müssen. Denkbar ist ebenfalls, dass gesunde Frauen eine zeitversetzte Schwangerschaft ins Auge fassen, weil sie aus persönlichen biografischen oder sozialen Gründen – fehlender Partner, Beanspruchung durch berufliche Anforderungen oder anderes – erst in einem späten Lebensjahrzehnt ein Kind austragen möchten. In der Öffentlichkeit wird dies unter dem Begriff »social freezing« diskutiert (vgl. Kreß 2013b; von Wolff 2013). Hier kann es nicht darum gehen, die verschiedenen Angebote der ärztlich assistierten Reproduktion im Einzelnen darzulegen und sie genauer zu diskutieren (umfassend: vgl. Diedrich/Ludwig/Griesinger 2013). Ebenso wenig sind potenzielle Risiken der medizinisch assistierten Fortpflanzung/IVF zu erörtern. Zu ihnen gehören die Belastung der Frau durch eine hormonelle Stimulation, um genügend Eizellen für die außerkörperliche Befruchtung zu erlangen, sowie leicht erhöhte gesundheitliche Risiken für Kinder, die nach außerkörperlicher Befruchtung geboren werden (vgl. Hart/Norman 2013a; Hart/Norman 2013b; Leinmüller 2014). In unserem Zusammenhang kommt es vor allem auf eine Anwendung der Fortpflanzungsmedizin an, die seit Beginn der 1990er-Jahre verfügbar geworden ist, nämlich die Präimplantationsdiagnostik (PID). Bei diesem Verfahren erfolgt eine außerkörperliche Befruchtung/IVF zu dem Zweck, an einer befruchteten Eizelle bzw. am frühen Embryo genetische Untersuchungen vorzunehmen, um einem erhofften Kind schwere Erkrankungen und gravierende Belastungen zu ersparen. Die betreffenden gesundheitlichen Gefahren sind bei den Erzeugern und in deren Familien bereits aufgetreten und ihnen bekannt. Sofern mit Hilfe einer präimplantativen genetischen Diagnostik an einem Frühembryo, der sich noch außerhalb des Mutterleibs befindet, die befürchteten Schädigungen festgestellt werden, wird man ihn der Frau nicht einsetzen. Er wird beiseitegelegt und stirbt ab. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die PID sehr kontrovers diskutiert. Im Jahr 1999 empfahl die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz eine normierte Zulassung (vgl. Caesar 1999). Der Bundesgesetzgeber blieb jedoch
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untätig. Erst 2011 beschloss der Deutsche Bundestag, die PID eingegrenzt zu erlauben. Nach längeren Kontroversen über die Umsetzung des Gesetzes bahnt sich 2014 an, dass das Verfahren im Inland unter engmaschigen Bedingungen künftig praktiziert werden darf. Dass diese Bedingungen aus Sicht des Verfassers zu restriktiv sind und das Selbstbestimmungsrecht der Frau nicht hinreichend geachtet wird, wird im vorliegenden Beitrag noch deutlich werden. Der Sache nach lässt sich die Selektion bzw. das Aussondern krankheitsbelasteter Embryonen, das im Zuge der PID erfolgt, als ein vorweggenommener Schwangerschaftsabbruch deuten. Als in den Jahren 2010/2011 rechtspolitisch darüber diskutiert wurde, ob der Gesetzgeber die PID legalisieren solle, wurde sie daher im Licht der bereits eingebürgerten pränatalen Diagnostik (PND) erörtert. Bei einer PND werden Föten im Verlauf einer Schwangerschaft auf genetische Defekte oder Chromosomenfehlbildungen hin untersucht. In einer Reihe von Fällen ist die Schwangerschaft ohnehin nur »auf Probe« begonnen worden (vgl. Nippert 1998). Sofern bei der PND erkannt wird, dass der Fötus geschädigt ist, wird die Schwangerschaft gegebenenfalls beendet (vgl. Bundesärztekammer 2011: A 1703; Deutscher Ethikrat 2011: 86 ff./116 ff.). Im hier vorliegenden Beitrag sind die Fragestellung und die Blickrichtung freilich gegenläufig: Es geht nicht – wie 2010/2011 – um die Legitimität von PID und Embryonenselektion angesichts von Schwangerschaftsabbruch nach PND, sondern umgekehrt um die Bewertung von Schwangerschaftsabbrüchen vor dem Hintergrund heutiger Fortpflanzungsmedizin und der PID. Um dies zu erläutern und zu vertiefen, sind die derzeitigen rechtlichen Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch in Umrissen in Erinnerung zu bringen. Sie sind vom Deutschen Bundestag im Jahr 1995 beschlossen worden.
G ESETZLICHE V ORGABEN ZUM S CHWANGERSCHAFTSABBRUCH , ZUM S PÄTABBRUCH
INSBESONDERE
Den gesetzlichen Regulierungen des § 218 StGB zufolge sind in der Bundesrepublik Deutschland Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis (post conceptionem) zulässig, sofern sie von einem Arzt vorgenommen werden und die Schwangere sich zumindest drei Tage zuvor hat beraten lassen (Pflichtberatung). Der Abbruch gilt als rechtswidrig, bleibt aber straffrei. Sofern ein Abbruch unter eine Indikation subsumiert werden kann, ist er nicht nur straffrei, sondern darüber hinaus auch nicht rechtswidrig. Dies betrifft die kriminologische Indikation, die einer Frau einen Ausweg aus einer
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durch Vergewaltigung aufgenötigten Schwangerschaft eröffnet. Darüber hinaus ist insbesondere seit 1995 eine neuere, weit gefasste Ausformung der medizinischen Indikation relevant. Herkömmlich fiel ein Abbruch nur dann unter die medizinische Indikation, wenn für die Schwangere die Gefahr einer physischen Schädigung bestand (»vitale Indikation«). Inzwischen liegt der deutschen Gesetzgebung gemäß eine medizinische Indikation ebenfalls vor, wenn die Schwangere ihren seelischen Gesundheitszustand potenziell beeinträchtigt sieht. Hierbei können soziale und familiäre Umstände eine Rolle spielen, sodass auch von medizinisch-sozialer Indikation gesprochen wird. Die Begründung für den Abbruch, der unter Berufung auf die bedrohte psychische Gesundheit erfolgt, enthält prognostische und hypothetische Elemente, denn es geht um Belastungen, die für die Schwangere aus ihrer Sicht künftig entstehen könnten, falls das Kind tatsächlich geboren würde. Die weit gefasste medizinische Indikation ersetzte 1995 der Sache nach die bis dahin zulässige eugenische Indikation, die auch als genetische, embryopathische oder kindliche Indikation bezeichnet wurde (vgl. Eser 1998: 269). Diese ließ es zu, eine Schwangerschaft bis zur 22. Woche nach der Empfängnis abzubrechen, sofern anzunehmen war, »daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann« (§ 218a Absatz 2 Nr. 1 StGB in der Fassung von 1976). Der Gesetzgeber wollte 1995 begrifflich jedoch keine Schwangerschaftsabbrüche mehr dulden, die aufgrund einer drohenden Behinderung und genetischen Schädigung des Kindes geschehen. Faktisch sollten solche Abbrüche freilich weiterhin zulässig sein. Sie werden nun unter die ausgeweitete medizinische Indikation gefasst (Gefahr für die Schwangere nicht nur in Bezug auf ihren körperlichen, sondern auch auf ihren seelischen Gesundheitszustand). Dies hat zugleich zur Konsequenz, dass ein Spätabbruch, der aufgrund kindlicher Schäden und Behinderungen stattfindet, in Deutschland seitdem nicht mehr nur bis zur 22. Woche, sondern unter Umständen bis zum Ende der Schwangerschaft statthaft ist. Denn für Abbrüche mit medizinischer Indikation, die sich im ehemals enggefassten Sinn auf die Bedrohung von Leben und physischer Gesundheit der Schwangeren bezogen hatte, gilt keine Befristung.
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E THISCHE E NTSCHEIDUNGSKONFLIKTE BEIM NACH PRÄNATALER D IAGNOSTIK
ABBRUCH
In der Gegenwart sind Schwangerschaft und Geburt in hohem Maß medikalisiert worden, insofern sie zunehmend von medizinischen Vorsorgemaßnahmen und Interventionen begleitet werden. Hierzu gehören Vorsorgeuntersuchungen mit Ultraschall. Zu späten Abbrüchen kann es kommen, nachdem vor allem im zweiten oder auch im dritten Drittel der Schwangerschaft mit Hilfe eines invasiven Eingriffs – Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie – eine pränatale Diagnostik/PND vorgenommen wurde, die beim Fötus Krankheitsgefahren und Behinderungen feststellte. Die invasive PND ist in den 1970er-Jahren eingeführt worden. Seit dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts werden zusätzlich neue nichtinvasive PND-Verfahren anwendungsreif. Auf ihrer Basis kann ein Abbruch, dessen Anlass kindliche Schädigungen – insbesondere Trisomie 21 – sind, im zweiten Trimenon oder sogar bereits gegen Ende des ersten Trimenons stattfinden (vgl. Heinrichs/Spranger/Tambornino 2012). Das medizinische Angebot der PND hat zwei Seiten. Einerseits kann eine PND das Leben von Föten retten und ihrer gesundheitlichen Versorgung dienen. Ein Beispiel: Sofern in einer Familie eine erbliche Anlage zur Duchenne’schen Muskeldystrophie bekannt ist, kam es früher dazu, dass sämtliche männlichen Föten vorsorglich abgetrieben wurden, weil die Krankheit nur beim männlichen Geschlecht auftritt. Der technische Fortschritt der PND führte dazu, dass erkennbar wurde, ob ein einzelner männlicher Fötus von der erblichen Belastung tatsächlich betroffen ist. Daher wurde es hinfällig, männliche Föten auf bloßen Verdacht hin abzutreiben. Dass in den 1980er-Jahren die Zahl von Abbrüchen aufgrund embryopathischer Indikation signifikant abnahm, wird auch auf solche lebensrettenden Effekte der PND zurückgeführt (vgl. Hepp 1998: 53). Darüber hinaus besteht ein gesundheitlicher Nutzen der PND darin, dass sie frühzeitige, heute sogar schon intrauterin durchgeführte Therapien ermöglicht. Andererseits sind Schattenseiten der PND zu sehen. Sofern sich eine Frau nach pränataler Untersuchung dazu entschließt, die Schwangerschaft zu beenden, bedeutet dies die Tötung eines Fötus. Gemäß den Kategorien der Sterbehilfedebatte wäre ein solcher Abbruch als umständebedingt nichtfreiwillige aktive/direkte Sterbehilfe zu charakterisieren. Nach ca. der 23. Schwangerschaftswoche vermögen Föten extrauterin zu überleben, sodass der Arzt sie beim Spätabbruch noch im Mutterleib, vor dem Austritt, töten muss. Hierzu erfolgt eine Punktion des fötalen Herzens mit einer kardioplegischen Lösung (vgl. Scharf 2011: 26). Würde der Fötus lebend aus dem Mutterleib austreten, müssten seine Lebensfunktionen medizinisch aufrechterhalten werden. Als Geborener stünde er
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unter dem vollen Schutz des Menschseins. Für ihn wäre in Verbindung mit seiner Menschenwürde das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und auf gesundheitliche Versorgung maßgebend. Schon zuvor ist der Fötus schmerzempfindlich. Das vorgeburtliche Schmerzempfinden lässt sich als eine werdende und als ansteigende Funktion charakterisieren. In ersten Ansätzen, als Nozizeption bzw. als reflektorische Antwort auf schädigenden Reiz, bildet sich Schmerzempfindlichkeit ca. ab der 8. Schwangerschaftswoche aus. Später beginnt das zentrale Nervensystem zu entstehen. Die Voraussetzung für bewusste Wahrnehmung von Schmerz ist im Gehirn die Verbindung zwischen Thalamus und Kortex, die nach der 28. Schwangerschaftswoche zustandekommt. Doch schon von der 22. Woche an »ist zunehmend mit einem (wie auch immer gearteten) Schmerzerlebnis des Fetus zu rechnen« (Wissenschaftlicher Beirat 1991: A 4166; vgl. Zimmermann 1991; Schwarzer/Zenz 2006; relativierend: Royal College of Obstetricians and Gynaecologists 2010). Eine besondere Problematik von Spätabbrüchen resultiert daher daraus, dass die betroffenen Föten in ihren Hirnfunktionen weit entwickelt sind und sie Schmerzen wahrnehmen oder zumindest vorbewusst erleben. Bei den Ethikdebatten zum Schwangerschaftsabbruch ist dieser Aspekt thematisch bislang oft zu stark ausgeblendet worden (vgl. Kreß 2009: 194 f.; zum Stellenwert von Schmerz in ethischer und anthropologischer Hinsicht s. nochmals unten S. 148). Sicherlich ist zu beachten, dass für den Status des Menschseins die Geburt einen ganz wesentlichen Einschnitt markiert. Kulturgeschichtlich wurde die Geburt oft als »Beginn« des Menschseins gedeutet, etwa im antiken Rom oder im antiken Judentum. Auch heute ist zwischen vorgeburtlichem Leben und geborenem Menschsein eine Statusdifferenz zu sehen. Medizinisch wird die Geburt als »ein äußerst dramatischer Einschnitt im Leben des Menschen« beschrieben, die die völlige Abhängigkeit des kindlichen Organismus von dem der Mutter beendet. Vor- und nachgeburtlich unterscheidet sich der Mensch physiologisch; vorgeburtlich existiert z.B. noch keine eigenständige Lungenfunktion (vgl. Schlößer 2012: 101/98 ff.). Die Geburt bildet gleichfalls rechtlich sowie alltagsweltlich eine Zäsur. Nach seiner Geburt wird das Kind von Dritten als lebender Mensch wahrgenommen. Es wird leiblich visualisiert, wohingegen während der Schwangerschaft Visualisierungen nur indirekt durch Ultraschallaufnahmen möglich waren. Zugleich kommt eine neue Stufe der Reziprozität zustande. Das geborene Kind lebt mit seiner Umwelt und mit den ihm begegnenden Personen – seinen leiblichen oder sozialen Eltern sowie anderen Menschen – in realer Wechselbeziehung. Vorgeburtlich hatte ein direkter Kontakt, eine direkte Wechselwirkung lediglich mit der Mutter bestanden.
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Zugleich ist jedoch die Kontinuität zwischen dem späten vorgeburtlichen Fötus und dem geborenen Kind zu bedenken, etwa in der Funktionalität des Nervensystems (vgl. Zimmermann 1991: 128). Dass dem Fötus insbesondere in der Spätphase der Schwangerschaft ein eigener Schutzanspruch gebührt, ergibt sich schon allein aus seinen Stressreaktionen, seinem gestuften Schmerzerleben und aufgrund seiner weit ausgereiften Organ- und Hirnfunktionen. Aus seinem Sein als menschliches Individuum resultiert der ethische und rechtliche Zwiespalt, den vor allem späte Abbrüche erzeugen. Deshalb lassen fast alle europäischen Staaten eine eugenisch bzw. genetisch bedingte Indikation nur bis zur 22. oder 24. Schwangerschaftswoche zu. In der Bundesrepublik Deutschland hat der Gesetzgeber diese Befristung durch die soeben angesprochene Gesetzesänderung des Jahres 1995 aufgehoben.
V ERTIEFUNG . Z UM S CHUTZANSPRUCH VORGEBURTLICHEN L EBENS L ICHT HEUTIGER R EPRODUKTIONSMEDIZIN UND E MBRYOLOGIE
IM
Aktuell beeinflusst die Reproduktionsmedizin das Verständnis vorgeburtlichen Lebens. Medizinisch assistierte Fortpflanzung, IVF und PID betreffen die erste, ganz frühe Phase des vorgeburtlichen Seins. Über sie existiert auf der Basis reproduktionsmedizinisch-naturwissenschaftlicher Forschung heute eine Fülle von Erkenntnissen, die in der Vergangenheit noch nicht einmal annähernd vorhanden war. In der abendländischen Kulturgeschichte hatten philosophische und theologische Spekulationen dominiert, die einen späten Beginn des Menschseins postulierten. Während der Schwangerschaft nehme das Menschsein erst dann seinen Anfang, wenn sich im vorgeburtlichen Leben eine Geistseele (anima intellectiva) ausbilde bzw. wenn sie von Gott eingestiftet werde. Als beseelte Leibesfrucht, die den Status eines Menschen besitzt, galt es vom 40., 80. oder – häufig – vom 90. Tag nach der Befruchtung an. Daher wurde ein früher Schwangerschaftsabbruch weniger streng sanktioniert als eine Abtreibung, die nach der Beseelung bzw. nach der Menschwerdung vorgenommen wurde. In der seit dem 12. Jahrhundert entstehenden Rechtssammlung der katholischen Kirche, dem Corpus Iuris Canonici, hieß es: »Der ist kein Mörder, der eine Abtreibung vornimmt, bevor die Seele dem Körper eingegossen ist« (zit. nach Demel 1995: 88). Ähnliche Aussagen fanden sich im weltlichen Recht, etwa in den Strafbestimmungen Kaiser Karls V. aus dem Jahr 1532 – mit Nachwirkungen bis in die staatlichen
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Strafgesetze zur Abtreibung im 19. Jahrhundert und sogar noch in unserer Gegenwart (vgl. Neidert 2008: 843). In der Moderne sind solche Vorstellungen sachlich hinfällig geworden, weil sie durch naturwissenschaftlich gestützte Einsichten ersetzt werden konnten. Diesen zufolge hängt der Beginn des menschlichen Lebens nicht von einer Geistseele, sondern von der Vereinigung von Samen- und Eizelle und der Auflösung der männlichen und weiblichen Vorkerne ab. Andererseits ist es im Licht von Fortpflanzungsmedizin und heutiger naturwissenschaftlicher Embryologie allerdings bestreitbar geworden, dass die befruchtete Eizelle bzw. der frühe Embryo sofort im vollen Sinn als »Mensch«, als menschliche »Person« oder als menschliches »Individuum« zu bezeichnen ist. Die meisten frühen Embryonen sind von Natur aus gar nicht lebens- und entwicklungsfähig, sondern sterben ab. Selbst wenn sich ein Embryo im günstigen Fall zum Menschen entwickeln kann, stellt diese Möglichkeit oder Potenzialität – sein Menschwerden-»Können« – noch kein Mensch-»Sein« dar. Eigene genetische Aktivitäten setzen in der Embryonalphase erst nach dem Achtzellstadium ein. Ferner steht die genetische Identität eines späteren Menschen noch nicht von vornherein fest. Vielmehr entscheidet es sich epigenetisch erst nach und nach, welche Teile des mütterlichen oder väterlichen Genoms aktiviert werden. Strikt betrachtet ist der frühe Embryo überdies noch kein »Individuum« (griechisch: »atomon«/das Unteilbare), weil Zwillingsbildung möglich ist. Insofern bildet die Nidation, die Einnistung des frühen Embryos in die Gebärmutter, die ca. am sechsten Tag stattfindet, einen wesentlichen Einschnitt. Danach endet die Teilbarkeit. Mit der Ausbildung des Primitivstreifens setzen sodann erste Ansätze zur Gestaltwerdung, zur körperlichen Existenz ein.
E THISCH - RECHTLICHE S CHLUSSFOLGERUNGEN AUF S CHWANGERSCHAFTSABBRÜCHE
IM
B LICK
Dieser aktuelle naturwissenschaftliche Erkenntnisstand verdankt sich wesentlich den Forschungen, die aus Anlass der Reproduktionsmedizin und in ihrem Kontext erfolgten. Legt man ihn zugrunde, ist der frühe Embryo, an dem eine PID durchgeführt und der im Fall genetischer Belastung beiseitegelegt wird, noch nicht als »Mensch«, als »human being« im eigentlichen Sinn anzusehen. Allerdings ist er mehr als ein bloßer Gegenstand oder als ein Ding, weil er unter Umständen zu einem Menschen werden könnte und er menschliches Leben (»human life«) darstellt. Daher ist ein achtsamer und achtungsvoller Umgang geboten. Weil er aber noch kein Mensch »ist« und insofern nicht unter den umfassenden
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Schutz der Menschenwürde fällt, sind Güterabwägungen zulässig (vgl. Rehmann-Sutter 2008; Beckmann 2009: 29-50; Kreß 2009: 159-174; Dreier 2010; Deutscher Ethikrat 2011: 51 ff.; Kreß 2013a: 661 f.). Eine PID soll dazu dienen, einem erhofften Kind nach seiner Geburt schwere gesundheitliche Schädigungen und Behinderungen zu ersparen. Dieses Anliegen besitzt so hohes Gewicht, dass es ethisch vertretbar ist, bei einer PID frühe Embryonen absterben zu lassen, die überzählig und krankheitsbelastet sind. Im Vergleich hierzu erscheint die Beendigung des vorgeburtlichen Lebens, die bei Schwangerschaftsabbrüchen erfolgt, ethisch zwiespältiger und fragwürdiger. Je weiter sich das vorgeburtliche Leben im Verlauf der Schwangerschaft zum Menschen entwickelt, umso nachdrücklicher sind sein Schutzanspruch und seine Schutzwürdigkeit zu betonen. Die Übergänge zwischen den Phasen des vorgeburtlichen Werdens sind zwar fließend. In der späten Phase der Schwangerschaft gehört es jedoch zu den relevanten Einschnitten, wenn der Fötus ansatzweise Schmerz zu erleben vermag. Dass aus dem Schmerzempfinden ein Schutzanspruch resultiert, ist ein Gedanke, der ethisch zur Begründung des Tierschutzes geltend zu machen ist (vgl. Höffe 1984: 133 ff.; Zimmermann 1991: 128). Umso mehr ist er dann für den Umgang mit der menschlichen Existenz zu berücksichtigen. Durch den Schmerz treten das Selbst-Verhältnis und das Sichselbst-Erfahren eines menschlichen Subjekts zutage: »Dort, wo ein Mensch Schmerzen leiden kann, dort ist er wirklich da« (von Weizsäcker 1926/1927: 323; zur anthropologischen Schmerzdeutung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts: vgl. Kroß 1992: 1319 f.). Abgesehen vom Schmerzempfinden markiert die extrauterine Lebensfähigkeit einen »vorgeburtlichen Wendepunkt« (Neidert 2008: 846), einen qualitativen Sprung im vorgeburtlichen Werden. Sie symbolisiert das Eigenständigsein des menschlichen Individuums in einer Weise, wie es in den zurückliegenden Schwangerschaftsmonaten noch nicht gegeben war. Für die normativ-ethische Bewertung von Schwangerschaftsabbrüchen haben solche Gesichtspunkte zur Konsequenz, dass Abbrüche umso ambivalenter werden, • •
je weiter der Embryo oder der Fötus in seiner Entwicklung fortgeschritten ist und je weniger gravierend die Schädigung ist, die bei ihm hinsichtlich seiner eigenen späteren Lebensfähigkeit und seiner Gesundheit festgestellt wurde.
Anders gesagt: Bei einer PID werden frühe Embryonen ausgesondert, bei denen die Disposition zu schweren, unter Umständen untherapierbaren und tödlich ver-
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laufenden Krankheiten erkannt worden ist. Eine Selektion von Frühembryonen ist aber ein geringeres Übel als Schwangerschaftsabbrüche, die weiter entwickelte Föten treffen. Im Anschluss an eine PND werden Föten getötet, die – jenseits der Dreimonatsfrist – in ihrer Individuation recht weit vorangeschritten sind. Eine solche Handlung ist vor allem dann zwiespältig, wenn bei den Föten Schädigungen und Krankheiten diagnostiziert worden sind, die weniger gravierend und prinzipiell therapierbar sind. Angesichts dieses ethischen Dilemmas entstand im zurückliegenden Jahrzehnt die Überlegung, der Gesetzgeber möge die 1995 aufgehobene Befristung von Schwangerschaftsabbrüchen – Zulässigkeit von eugenisch/genetisch bedingten Abbrüchen nur bis zur 22. Schwangerschaftswoche – wieder einführen. Für schwere Problemfälle, die nach der 22. Woche aufbrechen, seien spezielle Ausnahmebestimmungen vorzusehen und könne der Notstandsparagraf des Strafgesetzbuchs greifen (vgl. Neidert 2008: 848; Kreß 2009: 214 f.). Im Gegenzug ist jedoch zu bedenken, dass die Frau und der Fötus während der Schwangerschaft als »Zweiheit in Einheit« symbiotisch verbunden sind (Bundesverfassungsgericht 1993: 1753). Selbst wenn die Beziehung zwischen der Schwangeren und dem Fötus inter-individuelle Elemente besitzt, stellt sie sich für die Schwangere stets zugleich als intra- bzw. inner-individuell dar. Staatliche Zwangsmittel und das Strafrecht sind nur sehr begrenzt geeignet und letztlich sogar unangemessen, um den Fötus gegen die Mutter oder vor ihr zu schützen, sofern Zweifels- und Konfliktsituationen entstehen. Daher spricht viel für den rechtspolitischen Kompromiss, der im Jahr 2009 zu späten Schwangerschaftsabbrüchen gefunden wurde. Seit 2010 sieht das Schwangerschaftskonfliktgesetz vor, dass nicht nur bei Abbrüchen in der Dreimonatsfrist eine vorherige Beratung stattfindet. Vielmehr wird nun auch vor einem späten Abbruch ärztlich beraten. Zusätzlich wird auf psychosoziale Beratung aufmerksam gemacht. Ferner ist eine dreitägige Bedenkfrist vorgesehen (vgl. Kentenich/Vetter/Diedrich 2009). Diese Bestimmungen tragen dem Sachverhalt Rechnung, dass späte Abbrüche für die Schwangeren selbst existenziell höchst zwiespältig sind und sie sich sogar traumatisierend auswirken können (vgl. Kersting/Bäz 2002). Darüber hinaus berücksichtigen sie den Schutzanspruch weitentwickelter Föten, der im Beratungsgespräch angesprochen werden kann. Vorausgesetzt, dass eine Indikationsfeststellung durch einen Arzt vorliegt, hat eine Schwangere dann aber selbst zu entscheiden, ob sie einen Abbruch vornimmt. Dass ihr dies zuzugestehen ist und dass – genauso wie beim Abbruch in der Dreimonatsfrist – Dritte sowie der Staat ihren persönlichen Entschluss zu respektieren haben, ergibt sich aus ihren Grundrechten und legt sich aus ethischen Gründen nahe.
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R EPRODUKTIVE AUTONOMIE UND PERSÖNLICHE ETHISCHE V ERANTWORTUNG DER
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Wenn es um Fortpflanzungsfragen geht, sind auf der Ebene der Grundrechte das Selbstbestimmungsrecht, die Handlungsfreiheit sowie die Persönlichkeitsrechte der Frau hervorzuheben. Darüber hinaus ist das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens einschlägig, das in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention kodifiziert ist. Bei Fragen der Fortpflanzung wird es zugunsten der Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Frau inzwischen sehr weit ausgelegt. Es deckt zum Beispiel den Entschluss einer Frau bzw. eines Paares ab, künstliche Befruchtung in Anspruch zu nehmen (vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 2011: 207/208 f.). In der Gegenwart werden die Fortpflanzungsfreiheit bzw. das Grundrecht auf reproduktive Selbstbestimmung und reproduktive Gesundheit sogar dem Kern der Persönlichkeitsrechte zugerechnet. Die reproduktive Selbstbestimmung umschließt das »Recht, positiv oder negativ über die eigene Fortpflanzung« und »über das ›Ob‹ und das ›Wie‹ der Fortpflanzung« eigenständig zu beschließen (Gassner u.a. 2013: 31). Dies gilt ungeachtet aller rechtspolitischer Kontroversen, die hierzu bis heute ausgetragen werden, ebenfalls für den Schwangerschaftsabbruch (vgl. Europäisches Parlament 2013). Das Gleiche ist ethisch zu sagen. Ausgehend von der Aufklärungsphilosophie wird der Selbstbestimmung und der sittlichen Autonomie der Menschen in der Gegenwart normativ-ethisch ein sehr viel höherer Stellenwert zugeschrieben, als es geistesgeschichtlich der Fall war. Das persönliche Selbstbestimmungsrecht ist letztlich ein integraler Teil der Menschenwürde selbst (vgl. Kreß 2012: 163170; Hufen 2014: 177-195). Unter ethischem Blickwinkel sind darüber hinaus die intentionale Seite, die Handlungsabsicht bzw. die subjektiven Motive von Frauen bzw. von Paaren zu bedenken, die sich ein Kind wünschen, seine Geburt dann unter Umständen aber verhindern. Sofern eine Frau oder ein Kinderwunschpaar eine vorgeburtliche genetische Untersuchung – sei es eine PID oder eine PND – in Betracht ziehen, können bei ihnen Motive leitend sein, die menschlich verständlich sind und Achtung verdienen. Unter Umständen haben sie begründeten Anlass zu der Besorgnis, ihr Kind sei nach der Geburt von bestimmten Behinderungen und Schädigungen betroffen. Hieraus kann bei ihnen der Gedanke entstehen, ihm Leiden, gesundheitliche Lasten und Schmerzen ersparen zu wollen. Zwar hat niemand ein »Recht« auf ein Kind und erst recht kein Anrecht auf ein gesundes Kind. Zudem vermag selbst die fortgeschrittene Medizin nicht zu gewährleisten, dass ein Kind tatsächlich gesund geboren wird. Das Basisrisiko für Schäden und Behinderung, das bei jeder Schwangerschaft vorhanden ist, lässt sich weder durch PID noch durch PND ausräumen. Jedoch ist es
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nachvollziehbar, wenn ein Kinderwunschpaar für den Fall, dass spezielle Schädigungen zu befürchten sind, aus Sorge um die Gesundheit und das Wohlergehen des Kindes eine PID oder eine PND in Anspruch nehmen. Es handelt sich um eine präventive Entscheidung, die angesichts konkreter Befürchtungen in der jeweiligen familiären Situation getroffen wird. Manchmal wird der Einwand erhoben, hierdurch würden Heranwachsende oder Erwachsene diskriminiert, die mit Behinderungen leben. Eine PID oder eine PND findet jedoch vorgeburtlich statt – im Fall der PID noch vor der Schwangerschaft, bei der PND in ihrem Verlauf. Sofern Paare sich in ihrer persönlichen Situation präventiv zu einer vorgeburtlichen Klärung genetisch bedingter Risiken ihres erhofften Kindes durchringen, ist dies nicht als Abwertung von Menschen zu interpretieren, die mit Behinderungen geboren worden sind oder sich im Lauf ihres Lebens Behinderungen zuziehen. Vorgeburtliche Untersuchungen erzeugen auch keinen generellen gesellschaftlichen Sog, der zwangsläufig, quasi eigengesetzlich negative Rückwirkungen für geborene Behinderte auslösen würde (vgl. van den Daele 2005; Dreier 2010: 45; Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz 2011: 10). Ethisch ist überdies auf die Gewissensfreiheit der Frau und ihres Partners hinzuweisen, die eine vorgeburtliche Untersuchung erwägen. Voranstehend war betont worden, dass das vorgeburtliche Leben einen intrinsischen Wert besitzt und ihm eigene ansteigende Schutzrechte zuzuschreiben sind. Andererseits ist in unserer pluralistischen Gesellschaft ein Nebeneinander divergierender religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen anzutreffen. Zum Schwangerschaftsabbruch werden weltanschaulich-religiös ganz unterschiedliche Standpunkte vertreten – vom absoluten Nein der römisch-katholischen Kirche bis zur Akzeptanz von PID und von Abbrüchen nach PND im Judentum. Einzelne religiöse oder weltanschauliche Positionen lassen sich freilich nicht verallgemeinern. Sie gelten nicht für alle, sondern nur für diejenigen, die sie jeweils nachzuvollziehen vermögen. Ethisch ist ausschlaggebend, dass eine Schwangere in der Lage ist, zu einer eigenen Entscheidung zu gelangen, die persönlich authentisch ist und mit ihrem Gewissen und ihrer subjektiven weltanschaulichen und sittlichen Überzeugung in Einklang steht. Eine ergebnisoffene Beratung kann sie hierbei unterstützen (vgl. Kreß 2013a: 662-665/668). Mit der Beratungslösung, die das Schwangerschaftskonfliktgesetz enthält, hat sich der Gesetzgeber dieses Anliegen eigentlich durchaus zu Eigen gemacht. Hierzu steht jedoch in Widerspruch, dass andere gesetzliche Vorgaben das Entscheidungsrecht der Frau neuerdings sehr stark – aus Sicht des Verfassers: unvertretbar stark – einengen. In jüngster Zeit hat der staatliche Gesetzgeber die Selbstbestimmungsrechte der Frau im Umgang mit vorgeburtlichem Leben ten-
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denziell eingeebnet. Dies betrifft die PND mit eventuellem nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch und gleichfalls die PID. Nachfolgend werden zunächst staatliche Bestimmungen zur PID, danach zur PND angesprochen und problematisiert.
F RAGWÜRDIGE E INSCHRÄNKUNGEN DES S ELBSTBESTIMMUNGSRECHTS DURCH DEN G ESETZGEBER Eingriffe in Selbstbestimmung und Privatsphäre durch die Rechtsverordnung zur Präimplantationsdiagnostik Im Jahr 2011 hat der Deutsche Bundestag das Präimplantationsdiagnostikgesetz verabschiedet, das es einer Frau bzw. einem Paar gestattet, aufgrund familiärer erblicher Belastungen Frühembryonen genetisch untersuchen zu lassen. Defektive Embryonen dürfen weggelegt werden; der Arzt lässt sie absterben. Das Gesetz hat jedoch weder Rechtsfrieden noch Rechtssicherheit erzeugt. Nach seiner Verabschiedung entbrannte eine heftige Kontroverse über die Rechtsverordnung, die zur Umsetzung und Anwendung des Gesetzes notwendig war. Sie wurde schließlich am 25.2.2013 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht, ist am 1.2.2014 in Kraft getreten und muss von den Bundesländern umgesetzt werden. Die Auseinandersetzungen, die zu ihr ausgetragen wurden, hatten zum Ergebnis, dass das Selbstbestimmungsrecht von Frauen bzw. von Kinderwunschpaaren, die eine PID erwägen, in hohem Maß eingeschränkt worden ist. Der Rechtsverordnung zufolge muss jede einzelne PID von einer Ethikkommission beurteilt werden (Verordnung zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik – PIDV 2013, § 4). Der Begriff »›Ethik‹-Kommission« findet sich schon im PID-Gesetz selbst (= Embryonenschutzgesetz § 3a – neu – Absatz 3 Nr. 2). Nun ist es berechtigt, dass der Staat zur PID Kontrollen vorsieht und prüfen lässt, ob das Verfahren im gesetzlich zulässigen Rahmen durchgeführt wird. Zu diesem Zweck ist jedoch keine »Ethik«-Kommission notwendig. Stattdessen wäre es sachgemäß gewesen, hiermit Gremien zu beauftragen, die pragmatisch als PID-Kommission zu bezeichnen gewesen wären. Dies war auch von der Bundesärztekammer (vgl. Bundesärztekammer 2011: A 1707) und von der Bioethik-Kommission des Mainzer Justizministeriums (vgl. Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz 2011: 8) vorgeschlagen worden. Denn die eigentliche »ethische« Entscheidung, eine PID in Anspruch zu nehmen oder auf sie zu verzichten, ist Sache der Frau und des Kinderwunschpaars. Sie ergibt sich aus ihrem persönlichen Gewissen und unterliegt ihrer reproduktiven Autonomie.
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Demgegenüber symbolisiert die Errichtung von Ethikkommissionen eine Rückkehr zu staatlichem moralischem Paternalismus. Die Gefahr des staatlichen Moralpaternalismus und staatlicher Bevormundung tritt noch deutlicher zutage, wenn man sich vor Augen führt, wie weitreichend die Befugnisse sind, die die Rechtsverordnung den Ethikkommissionen zubilligt. Es handelt sich um Genehmigungskommissionen. Ohne ihre »zustimmende Bewertung« darf keine PID durchgeführt werden (PIDV 2013, § 6 Absatz 4). Sie müssen ihre Zustimmung sogar mit Zweidrittelmehrheit erteilen. Aufgrund der von der Rechtsverordnung vorgegebenen Anzahl von Mitgliedern (acht) läuft dies faktisch auf eine Dreiviertelmehrheit hinaus. Nun ist es ohnehin zweifelhaft, ob eine staatlich eingesetzte Kommission tatsächlich über das Lebensrecht und den Lebenswert einzelner Embryonen beschließen sollte. Dies bleibe hier dahingestellt. Vielmehr sei problematisiert, dass der PID-Rechtsverordnung zufolge die Ethikkommission die Frau vorladen und sie »mündlich anhören« darf (PIDV 2013, § 6 Absatz 2 Nr. 4). Zwar sind Beratungsgespräche an sich sinnvoll. Doch hier geht es um eine Anhörung als Voraussetzung für den Ja-/Nein-Beschluss der Kommission. Mehr noch: Die Frau muss befürchten, dass die Ethikkommission in ihre Privatsphäre eindringt. Denn bevor die Ethikkommission eine PID genehmigt, hat sie laut PID-Rechtsverordnung die »im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkte« zu erörtern (PIDV 2013, § 6 Absatz 4). Diese Bestimmung ist erst ganz spät in die PID-Rechtsverordnung eingefügt worden. Sie geht über das vom Parlament beschlossene PID-Gesetz (in der Entwurfsfassung: vgl. Deutscher Bundestag 2011) sowie über den ersten Referentenentwurf zur Rechtsverordnung vom 11.7.2012 hinaus. Unter Aspekten des Selbstbestimmungsrechts der Frau, ihrer Persönlichkeitsrechte und ihres grundrechtlich geschützten Rechts auf Privatleben ist sie nicht haltbar. Im Extremfall droht der Frau seitens der Ethikkommission eine »inquisitorische Befragung« (Kentenich/Griesinger/Diedrich 2013: 139). Es bildet einen Eingriff in ihre Privatsphäre, gegebenenfalls auch in ihre Gewissensfreiheit und Persönlichkeitsrechte, wenn sie ihre subjektiven Motive, eventuell ihre religiös verwurzelte Motivation – zum Beispiel die Akzeptanz der PID vor jüdisch-religiösem Hintergrund – und ihr »forum internum« einer Kommission offenbaren muss. Sofern eine Frau im Rahmen des Gesetzes eine PID in Anspruch nehmen möchte, dann sollten die psychosoziale Dimension und moralische oder weltanschauliche Motive ihr selbst, ihrem eigenen Gewissen überlassen bleiben. Unter Aspekten der Persönlichkeitsrechte der Frau und ihres Grundrechtsschutzes ist es nicht hinnehmbar, dass die ethische Sicht einer Frau und ihres Partners von der Be-
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wertung überlagert zu werden droht, die die Ethikkommission mit Mehrheitsbeschluss vornimmt. Begrenzung des Entscheidungsrechts von Schwangeren und Kinderwunschpaaren nach pränataler Diagnostik in § 15 Absatz 2 Gendiagnostikgesetz An den weitreichenden Befugnissen der staatlich eingesetzten PID-Ethikkommissionen zeigt sich, wie restriktiv die Rechtslage zur PID in der Bundesrepublik Deutschland ausgestaltet ist. Dies wird erst recht deutlich, wenn man sich die Vorgaben zur PID und zur PND im Vergleich ansieht. Die PND ist in wesentlichen Punkten liberaler geregelt. Anders als die PID ist eine PND auch dann zulässig, wenn dem Fötus gar keine »schweren« Erkrankungen drohen. Der Schwangerschaftsabbruch, der sich an eine PND anschließen darf, bedarf keiner Genehmigung (»zustimmende Bewertung«) durch eine Kommission. Dies ist ethisch und rechtlich auch auf gar keinen Fall anzustreben. Jedoch springt der Widerspruch ins Auge, dass im weniger problematischen Fall, dem Absterbenlassen von Frühembryonen nach einer PID, eine Ethikkommission ihre Zustimmung zu erteilen hat. Hingegen ist die Tötung eines mehrere Monate alten, unter Umständen schmerzempfindlichen und lebensfähigen Fötus genehmigungsfrei statthaft – obwohl das Schutz- und Lebensrecht des Fötus aufgrund seines humanen Entwicklungsstandes sehr viel schwerer wiegt als dasjenige des frühen Embryos. In einer ganz bestimmten Hinsicht kommen die Vorgaben zur PID den Entscheidungsrechten der Frau bzw. des Kinderwunschpaares dann aber stärker entgegen, als es bei der PND der Fall ist. Im Jahr 2010 trat das Gendiagnostikgesetz in Kraft. Dort wird in § 15 Absatz 2 untersagt, eine pränatale Diagnostik vorzunehmen, »die darauf abzielt, genetische Eigenschaften des Embryos oder des Fötus für eine Erkrankung festzustellen, die nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres ausbricht«. Diese Verbotsnorm ist, soweit bekannt, in keinem anderen Staat anzutreffen. Sie soll verhindern, dass eine PND zum Beispiel auf die schwere Erbkrankheit Chorea Huntington oder auf erblichen Brust- oder Darmkrebs vorgenommen wird. Zu diesem Zweck enthält sie einen Stichtag, nämlich den 18. Geburtstag. Sofern eine Krankheit erst nach dem Stichtag auftritt, darf keine PND erfolgen, die sie erfassen würde. Die Norm bleibt schon von der Sache her unpräzis. Fraglich ist, ob der Gesetzgeber das Vollbild einer Krankheit oder frühe subklinische Symptome meint, oder ob an das Durchschnittsalter des Auftretens einer Krankheit oder an den
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frühest denkbaren Zeitpunkt ihrer Manifestation gedacht ist. Der starre Stichtag des 18. Lebensjahrs ist als Abgrenzungskriterium ferner deshalb ungeeignet, weil manche Krankheiten, die in der Regel erst im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt auftreten, juvenile Formen besitzen und sich eventuell bereits bei Heranwachsenden bemerkbar machen (vgl. Kreß 2012: 249 f.; Krones u.a. 2014: 35 ff.). Als der Gesetzgeber die Verbotsnorm erließ, wollte er offenkundig späte Schwangerschaftsabbrüche eindämmen – obgleich er Abbrüche im Anschluss an eine PND ja eigentlich zulässt. Im Unterschied zum Abbruch in der Dreimonatsfrist sind sie auch nicht rechtswidrig, weil sie seit 1995 faktisch unter die medizinische Indikation fallen. Paradox ist, dass auf minder schwere Krankheiten und Behinderungen – z.B. Trisomie 21 – eine PND in der Bundesrepublik Deutschland zugelassen ist, wohingegen eine PND auf äußerst schwere unheilbare Krankheiten – etwa Chorea Huntington, bestimmte erbliche Tumorerkrankungen – unstatthaft geworden ist. Eine weitere paradoxe Konsequenz des Verbots besteht darin, dass eine Frau, die um die familiäre Krankheitsdisposition weiß, die PND im Ausland durchführen lassen darf. Falls festgestellt wird, dass der Fötus krankheitsbelastet ist, kann sie dann im Inland legal einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Bevor das PID-Gesetz 2011 verabschiedet wurde, hatte der Deutsche Ethikrat gefordert, das Verbot, spätmanifestierende Krankheiten zu untersuchen, auch auf die PID auszudehnen (vgl. Deutscher Ethikrat 2011: 83). Der Gesetzgeber ist diesem Vorschlag – zu Recht – nicht gefolgt. Jetzt ist umgekehrt die Schlussfolgerung zu ziehen, dass solche Krankheitsbilder künftig genauso wie mit Hilfe der PID auch durch PND erfassbar sein sollten. Die Verbotsnorm, die in § 15 Absatz 2 Gendiagnostikgesetz fixiert ist, sollte aufgehoben werden. Dies ergibt sich nicht nur aus den Widersprüchen, die voranstehend angedeutet wurden, sondern noch aus weiteren Schwächen der damals genannten Gesetzesbegründung (vgl. Kreß 2012: 250 f.; Krones u.a. 2014: 39). Stattdessen ist die Belastung der Schwangeren ernst zu nehmen, der die familiäre Krankheitsdisposition bekannt ist, sodass sie unter der Ungewissheit um die Gesundheit des Kindes leidet und Sorge um dessen Schicksal hat. Im PID-Gesetz von 2011, d.h. im Rahmen der Gesetzgebung zur Fortpflanzungsmedizin, ist die reproduktive Autonomie der Frau angesichts spät auftretender Krankheiten akzeptiert worden. Daher ist die Beschränkung der persönlichen Entscheidungsrechte bei der PND, die das Gendiagnostikgesetz von 2010 enthält, jetzt noch weniger nachvollziehbar, als sie es zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung gewesen war.
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F AZIT . S ELBSTBESTIMMUNGSRECHT , G EWISSENSFREIHEIT UND ETHISCHE V ERANTWORTUNG IM U MGANG MIT MENSCHLICHEM L EBEN VOR DER G EBURT Die Leitfrage des vorliegenden Beitrags bestand darin, ethische Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs im Horizont heutiger Fortpflanzungsmedizin zu erörtern. Die Fortpflanzungsmedizin hat den Zweck, Paaren bei der Erfüllung eines Kinderwunsches zu helfen. Hierbei können jedoch überzählige Embryonen entstehen, die beiseitegelegt werden und absterben. Dies ist der Fall sowohl bei der IVF als Therapie von Sterilität, die heute zur Behandlungsroutine geworden ist, als auch bei der voranstehend ausführlich erwähnten PID. Bezogen auf das Absterbenlassen von Embryonen und auf Schwangerschaftsabbrüche ist ethisch vom Selbstbestimmungsrecht und von der reproduktiven Autonomie der Frau auszugehen. Bei Schwangerschaftskonflikten gilt dies schon allein deshalb, weil das vorgeburtliche Leben mit der Schwangeren leiblich symbiotisch verbunden ist. Sofern Embryonen mit fortpflanzungsmedizinischer Hilfe erzeugt worden sind, ist dies zwar anders. Denn sie befinden sich noch außerhalb des Mutterleibs. Die Zweifels- und Entscheidungsfragen, die sich im Umgang mit ihnen stellen, sind häufig, zumal bei der PID, jedoch antizipierte Schwangerschaftskonflikte. Ethisch und rechtlich (laut § 4 Absatz 1 Nr. 2 Embryonenschutzgesetz) ist es unzulässig, einer Frau einen extrakorporalen Embryo gegen ihren Willen zu implantieren. Das Entscheidungsrecht der Frau stellt freilich zugleich eine Entscheidungslast dar. Denn das vorgeburtliche Leben hat einen Anspruch auf Achtung; es besitzt – gerade auch in ethischer Hinsicht – sein eigenes Recht. Hierzu ist jedoch eine differenzierte Betrachtung erforderlich. Wenn man die neueren naturwissenschaftlich verankerten Erkenntnisse zum vorgeburtlichen Werden aufarbeitet, führt dies ethisch dazu, vorgeburtlichem Leben eine ansteigende Schutzwürdigkeit zuzuschreiben, die seinem jeweiligen Entwicklungsstand entspricht. Für die normativ-ethische Bewertung von Schwangerschaftsabbrüchen heißt dies: Sie sind umso bedenklicher, je weiter sich der Embryo oder Fötus entwickelt hat und je weniger schwerwiegend die Schädigung ist, die bei ihm eventuell festgestellt wurde. So gesehen ist ein Schwangerschaftsabbruch eher vertretbar, wenn das vorgeburtliche Leben noch nicht weit entwickelt ist. Diese Einsicht gehört zu den Argumenten, die die neue nichtinvasive molekulargenetische Pränataldiagnostik (NIPD/pränataler Bluttest) als legitim erscheinen lassen. Die NIPD findet bereits vor oder im Umfeld der 12. Schwangerschaftswoche, d.h. erheblich früher als die bislang übliche invasive PND statt. Das Absterbenlassen von Frühembryonen nach einer PID ist dann ein nochmals geringeres Übel.
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Da das Leben des Ungeborenen, abgesehen von den ethischen Aspekten ebenfalls ein Rechtsgut darstellt, ist der Staat verpflichtet, zu seinen Gunsten Schutznormen und Verfahrensregeln vorzugeben. Dies sollte allerdings nicht in einen Paternalismus umschlagen, der das persönliche Entscheidungsrecht der Frau überlagert. Voranstehend ist angesprochen worden, dass in jüngster Zeit Tendenzen eines staatlichen Neopaternalismus zu beobachten sind, der die ethisch legitimen Entscheidungsspielräume und das Selbstbestimmungsrecht einer Frau bzw. eines Kinderwunschpaars zu sehr einengt. Dies ist sowohl im Zusammenhang von Reproduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostik als auch in Anbetracht eventueller Schwangerschaftsabbrüche zu kritisieren. Eine Alternative zu überdehnten staatlichen Verboten, Bevormundungen und Überregulierungen besteht darin, medizinische und psychosoziale Beratung anzubieten, die dazu beiträgt, dass eine Frau und ihr Partner zu einem eigenverantworteten gewissenhaften Entschluss gelangen. Ob das Absterbenlassen von Embryonen oder ein Abbruch vertretbar sind, sollten Betroffene vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Situation und ihrer Lebensumstände, aufgrund ihrer moralischen Überzeugungen und ihrer weltanschaulichen oder religiösen Standpunkte letztlich selbst festlegen. Im heutigen soziokulturellen und sozioreligiösen Pluralismus werden bei ihnen ganz unterschiedliche religiöse, metaphysische, philosophische oder weltanschauliche Standpunkte ausschlaggebend sein, die von Dritten und vom Staat zu respektieren sind. Zwischen den Entwicklungsstufen des vorgeburtlichen Lebens – von der Individuation nach der Nidation bis zur graduellen Ausprägung von Schmerzwahrnehmung und zur potenziellen extrauterinen Lebensfähigkeit – sind die Übergänge fließend. Starre Normierungen und starre Grenzziehungen, die der Gesetzgeber vorgäbe, wären inadäquat. Daher gilt auch in dieser Hinsicht, dass die Frau – und ihr Partner – aus ihrer eigenen Überzeugung heraus entscheiden sollten. Durch ergebnisoffene Beratung sind sie hierbei zu unterstützen. Der hier vorliegende Beitrag rückt mithin das Selbstbestimmungsrecht der Frau und ihre reproduktive Autonomie in den Mittelpunkt. Zum Abschluss ist einem potenziellen Einwand zu begegnen und zu sagen, dass dies nicht auf bioethische Beliebigkeit hinausläuft. Eine ethisch relevante Grenzlinie ist vor allem dann gegeben, sofern vorgeburtliche Untersuchungen – sei es hypothetisch bei einer PID oder im Rahmen einer PND – in Zukunft ermöglichen würden, das Genom eines Embryos oder Fötus sehr weitgehend oder praktisch vollständig zu erfassen (Ganzgenomsequenzierung/Ganzgenomanalyse). Eine solche Option stößt schon allein pragmatisch auf Grenzen der Sinnhaftigkeit. Wenn Kinderwunschpaare tatsächlich alle genetisch bedingten oder mitbedingten Krankheitsrisiken ausschließen wollten, könnten sie praktisch fast gar nicht mehr zu einem
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eigenen Kind gelangen (vgl. Nationale Ethikkommission Bern 2013: 32 unter Pkt. 2). Ethisch ist an dieser Stelle erneut das Grundrecht auf Selbstbestimmung zur Geltung zu bringen – jetzt freilich mit anderer Zuspitzung: nicht auf die Frau bezogen, sondern als vorwirkendes Selbstbestimmungsrecht des noch nicht geborenen Kindes. Eine umfassende genetische Analyse des vorgeburtlichen Lebens hätte zur Folge, dass der betreffende Mensch – sofern er geboren würde – nach seiner Geburt in seiner informationellen Selbstbestimmung und in seinem Recht auf Nichtwissen um das eigene Genom ganz erheblich beeinträchtigt wäre. Ihm wäre die Möglichkeit genommen worden, über eine Analyse seines Genoms selbst frei entscheiden zu können. Letztlich läge ein Verstoß gegen den von Hans Jonas formulierten bioethischen Imperativ vor: »Achte das Recht jedes Menschenlebens, seinen eigenen Weg zu finden und eine Überraschung für sich selbst zu sein« (Jonas 1985: 194). Deshalb sollten bei vorgeburtlichen Untersuchungen prinzipiell nur solche genetischen Informationen gewonnen werden, die für die Mutter bzw. die Erzeuger präventiv relevant sind. Hierbei wird es sich um Informationen über Krankheiten und Schädigungen handeln, die bei einem erhofften Kind begründet zu befürchten sind und die man ihm ersparen möchte.
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VON
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Weichenstellungen in Karlsruhe – Die deutsche Reform des Abtreibungsrechts S ABINE B ERGHAHN
E INLEITUNG Zweimal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland liberalisierte die Gesetzgebung nach längeren öffentlichen und fachlichen Debatten das mehr als 100 Jahre existierende grundsätzliche Abtreibungsverbot des § 218 StGB. 1974 stand dies u.a. im Zusammenhang mit der Reformkonkurrenz in der DDR, die 1972 eine Fristenregelung geschaffen hatte (vgl. Thietz 1992). In der Bundesrepublik scheiterte ein solcher Versuch 1975 am Bundesverfassungsgericht, das lediglich Indikationen als Ausnahmen vom Abtreibungsverbot zugestand. Erst die deutsche Vereinigung von 1990 eröffnete eine neue Reformphase, da es nun notwendig wurde, eine einheitliche gesamtdeutsche Regelung zum Schwangerschaftsabbruch zu beschließen. Der Auftrag dazu war in Art. 31 Abs. 4 unter der Überschrift »Familie und Frauen« im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 verankert worden. Ziel: eine Regelung, »die den Schutz vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen vor allem durch rechtlich gesicherte Ansprüche für Frauen, insbesondere auf Beratung und soziale Hilfen, besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands derzeit der Fall ist«. Eine Chance zur Liberalisierung im Sinne von mehr Selbstbestimmung für ungewollt schwangere Frauen eröffnete sich nur für die alte Bundesrepublik (hier galt noch die Indikationsregelung von 1976, nach den Maßgaben des ersten Karlsruher Abtreibungsurteils vom 25. Februar 1975). In Ostdeutschland existierte die liberale DDR-Fristenregelung auch nach der deutschen Vereinigung vorerst weiter. Nach intensivem parlamentarischem Ringen um eine einheitliche Regelung kam in der Nacht des 26. Juli 1992 eine Stimmenmehrheit aus fünf
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Fraktionen des Deutschen Bundestags für den sogenannten Gruppenantrag zustande. Die Fraktionsdisziplin war aufgehoben worden, alle Abgeordneten sollten nach ihrem Gewissen entscheiden dürfen. Das verabschiedete Gesetz war ein Kompromiss, der die selbstbestimmte Entscheidungsmöglichkeit für Frauen innerhalb der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft vorsah; der Abbruch sollte gerechtfertigt sein, allerdings nur nach einer (ergebnisoffenen) Pflichtberatung, die jedoch den hohen Rang des ungeborenen Lebens zum Ausdruck bringen sollte. Das Bundesverfassungsgericht setzte das Inkrafttreten des Reformgesetzes aus, weil die unterlegene Bundestagsminderheit von Abgeordneten der CDU/CSU das Karlsruher Gericht angerufen hatte. Fast ein Jahr später revidierte das Verfassungsgericht den legislativen Kompromiss mit seiner Entscheidung vom 28. Mai 1993 in wesentlichen Punkten. Es hob die Rechtfertigungswirkung des Abbruchs gemäß dem sogenannten Beratungsmodell auf und erklärte den Abbruch unter bestimmten Voraussetzungen für lediglich straflos (nicht mehr für nicht rechtswidrig), erlegte der Frau die Kosten für den Abbruch auf und verengte die Bedingungen der Pflichtberatung. 1995 übernahm die Gesetzgebung die verlangten Verschärfungen weitgehend in die Paragrafen des Strafgesetzbuchs (§§ 218 ff. StGB). Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 stieß zwar in vielen Kreisen der Politik und Öffentlichkeit auf Kritik und Protest, die emotionale Erregung und ihr Anlass sind aber angesichts einer langen Zeit der Gewöhnung an den weitgehend routinierten und pragmatischen Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen und an die Modalitäten des Verfahrens bei Vielen in Vergessenheit geraten. Wird heute in Deutschland kontrovers über die Problematik von Schwangerschaftsabbrüchen debattiert, so geht es häufig um Spätabbrüche nach pränataler Diagnostik (PND), bei der eine schwere Schädigung des Fötus1 festgestellt wurde, oder man streitet über die Anwendung der In-vitro-Fertilisation mit anschließendem Embryotransfer (IVF+ET). Besonders heftig umstritten ist die Präimplantationsdiagnostik (PID), d.h. die Untersuchung der in vitro gezeugten Embryonen und deren etwaiges Verwerfen. Die PID galt lange als durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Im Dezember 2011 trat eine Änderung in Kraft. Auch hier hat sich die Gesetzgebung deliberativ nach Aufhebung der Fraktionsdisziplin zur Lockerung des grundsätzlich weiter bestehenden Verbots der PID
1
In der Frühphase der Schwangerschaft spricht man von Embryo, ab dem Anfang des dritten Monats von Fötus.
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durchgerungen.2 Die notwendige Durchführungsverordnung existiert seit Februar 2014, ist aber sehr restriktiv.3 Die vorsichtige Aufweichung des Verbots der PID war wiederum 2010 durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs4 initiiert worden. Der biopolitische Streit um Themen wie PID, Embryonenforschung oder das »Designerbaby« ist eine Fortsetzung des alten Abtreibungsstreits, ohne dass dieser dabei primär in den Blick gerät. Über den alten Streit besteht vielfach die Vorstellung, dass die eingetretene faktische Liberalisierung (jedenfalls gegenüber der vorherigen westdeutschen Rechtslage) als das ausgewogene Ergebnis eines gesetzgeberisch-parlamentarischen Reformprozesses zu betrachten sei. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts ist oftmals nicht bekannt. Dadurch wird der spezifische Gestaltungseinfluss unterschätzt, den das Bundesverfassungsgericht speziell bei dieser Materie ausgeübt hat. Erst eine genauere Analyse zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht gerade die Bestandteile der Regelung verantwortet, die heute nach wie vor aus rechtsstaatlich liberaler und frauenpolitischer Sicht zu kritisieren sind. Aber auch aus der Perspektive von Abtreibungsgegner/-innen und »Lebensschützerinnen und -schützern« fand und findet die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1993 keine Zustimmung, da das Letztentscheidungsrecht für schwangere Frauen zugelassen wurde – wenngleich eingebunden in einen nach wie vor strafrechtlichen Kontext und stark reglementiert. Die Persönlichkeitsrechte werden nur in Neben- und Verfahrensaspekten berücksichtigt. In der Hauptsache, d.h. in der Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen den Grundrechten schwangerer Frauen und dem gebotenen Schutz des Embryos, wurden Grundrechte der Frau vom Verfassungsgericht gerade als »nicht durchgreifend« eingeschätzt, allerdings ohne Erörterung grundrechtlicher Argumente.5 Die Letztentscheidung gestand der Zweite Senat Frauen nur deshalb zu, weil auf diese Weise die Chance vergrößert werde, dass ungewollt Schwangere sich durch die Beratung zum Austragen entscheiden könnten.6
2
PID ist zulässig, wenn aufgrund der genetischen Veranlagung der Eltern eine schwer-
3
Vgl. den Beitrag von Hartmut Kreß.
4
BGH v. 6.7.2010, Az. 5 StR 386/09.
5
BVerfGE 88, 203, 255.
6
Das Bundesverfassungsgericht hat sogar den normativen Vorbehalt erklärt, dass nach
wiegende Erbkrankheit beim Kind oder eine Tot- oder Fehlgeburt wahrscheinlich ist.
einiger Zeit die Effizienz der gesetzlichen Regelung anhand der dann feststellbaren Häufigkeit der Abbrüche überprüft werden solle, BVerfGE 88, 203, 309.
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Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass die zwei Anläufe zur Reform des Abtreibungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland entscheidend vom Bundesverfassungsgericht konterkariert wurden. Das Ergebnis ist, dass eine von der Frau verlangte und nicht von einem Arzt oder einer Ärztin indizierte Abtreibung als Unrecht gilt. Die Entscheidung der Frau für einen Abbruch wird auf der normativ-symbolischen Ebene stigmatisiert und auf der praktischen Ebene finanziell sanktioniert (die Frauen müssen die Kosten des Abbruchs seitdem selbst tragen). Da nur Frauen schwanger werden können, ist ihre Freiheit geschlechtsspezifisch eingeschränkt. In beiden Urteilen wird der ungewollt schwangeren Frau eine grundsätzliche Gebärpflicht auferlegt, für die ein Ausweg angeboten wird, der die »Schwangere im Unrecht sitzen lässt«, wie es Erhard Denninger formuliert hat (Denninger 1994: 563 f.). Diesem weiblichen Rechts- und Anerkennungsdefizit soll dieser Beitrag auf den Grund gehen. Im Folgenden werden zunächst Inhalte und Umstände der beiden Urteile kritisch nachvollzogen. Anschließend liegt der Schwerpunkt auf der (Re-)Konstruktion des Verhältnisses der Rechtssphären von Embryo und schwangerer Frau. Herauszuarbeiten ist, wie es zur Unterordnung der Grundrechte von Frauen kam und was verfassungsrechtlich und geschlechterpolitisch daran zu kritisieren ist. Schließlich geht es um die Frage, wie mit der »dogmatisierten« Rechtsprechung umgegangen werden kann. Dabei sind insbesondere Alternativinterpretationen von feministisch inspirierter Seite zum grundlegenden Rechtsstatus des Embryos und dem Rechtskonflikt mit der schwangeren Frau von Interesse.
AUTORITATIVE R ECHTSSETZUNG STATT AUSGEHANDELTER G ESETZGEBUNG
DEMOKRATISCH
Die beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichts im Überblick 1975 und 1993 wurde jeweils vom Bundesverfassungsgericht über ein verabschiedetes Reformgesetz zum Strafgesetzbuch im Wege einer Normenkontrollklage gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 Grundgesetz (GG) entschieden. Beide Gesetze sahen (nach wie vor im strafrechtlichen Kontext) vor, einen Abbruch, der innerhalb der ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis auf Wunsch der schwangeren Frau von einem Arzt oder einer Ärztin vorgenommen wird, nicht nur straffrei, sondern auch rechtmäßig zu stellen, bei Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen. Unterschiedlich war indes die Beratungssituation geregelt: Während das verabschiedete Reformgesetz 1974 eine primär ärztliche Beratungspflicht enthielt (Ärztinnen und Ärzte sollten die Patientin über medi-
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zinische Umstände und Folgen, autorisierte Beratungsstellen über soziale Hilfen bei Austragung informieren) enthielt das Reformgesetz von 1992 eine Verpflichtung für die Schwangere, sich einer ergebnisoffenen »Konfliktberatung« zu unterziehen. Diese Pflichtberatung war ausdrücklich als Schutzmaßnahme zugunsten des »ungeborenen Lebens« und zur Sicherstellung der Gewissensbetätigung der Frau vorgesehen. Sie sollte über die rechtlich-moralische Abwägung zwischen ihrem Grundrecht auf Selbstbestimmung und der hohen Wertschätzung der deutschen Rechtsordnung für das vorgeburtliche menschliche Leben informiert werden. Ziel war, die normative Folge, nämlich die Rechtmäßigkeit des Abbruchs, prozedural, d.h. durch das Beratungsverfahren, zu legitimieren. Das sollte den normativen Vorgaben aus dem ersten verfassungsgerichtlichen Urteil von 1975 gerecht werden, auch wenn dessen Aussagen zum Wertkonflikt umstritten waren und sich die Gesetzgebung 1992 nicht daran gebunden fühlen musste. Mit beiden Urteilen wurden die jeweiligen Gesetze in wesentlichen Punkten für verfassungswidrig erklärt. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sah in seiner Entscheidung von 1975 das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als »selbständiges Rechtsgut« an und stellte es unter den allgemeinen Lebensschutz des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (»Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (»Die Würde des Menschen ist unantastbar«). Die Senatsmehrheit ließ damals allerdings offen, ob schon der Embryo/Fötus den vollen Schutz des Grundrechts auf Leben als »Rechtssubjekt« in Anspruch nehmen könne. Sie war der Meinung, dass es darauf nicht ankomme, weil die Grundrechte auch eine »objektive Wertordnung« darstellten, aus der sich staatliche Schutzpflichten ableiten ließen. Der Vorrang des Lebensschutzes und seine Verwirklichung durch das Strafrecht gelte auch gegenüber der Schwangeren. Folglich müsse sie eine Einschränkung ihrer Rechte hinnehmen, ihr sei somit eine grundsätzliche Gebärpflicht auferlegt. Es dürfe jedoch Ausnahmen geben, wenn außergewöhnliche Belastungen vorliegen und die Austragung unzumutbar ist. Darüber dürfe die Frau aber nicht selbst entscheiden; im Urteil klingen Befürchtungen an, Frauen könnten leichtfertig abtreiben. Vielmehr müsse ein Arzt oder eine Ärztin beurteilen, ob die Austragung der Schwangerschaft unzumutbar sei. Das Verfassungsgericht empfahl dem Gesetzgeber vier mögliche Indikationen. In einer Gesamtbetrachtung versuchte die Senatsmehrheit zu begründen, warum eine strafrechtliche Sanktion notwendig sei, um Abtreibungen auch faktisch zu verhindern. Hier wurde unterstellt, dass die Strafdrohung eine wesentliche Abschreckungswirkung erzeuge und daher Abbrüche verhindere.
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Die Richterin Wiltraut Rupp-von Brünneck und der Richter Helmut Simon verfassten ein Minderheitsvotum und kritisierten die Entscheidung umfassend. Sie stellten u.a. den Unterschied zwischen einem Tötungsdelikt und der Abtreibung heraus. Bei einer Abtreibung liege eine singuläre Einheit von »Täter« und »Opfer« vor. Anders als bei den Tötungsdelikten werde der Frau bei der Abtreibung weit mehr abverlangt als ein bloßes Unterlassen: »Sie soll nicht nur die mit dem Austragen der Leibesfrucht verbundenen tiefgreifenden Veränderungen ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens dulden, sondern auch die Eingriffe in ihre Lebensgestaltung hinnehmen, die sich aus Schwangerschaft und Geburt ergeben, besonders die mütterliche Verantwortung für die weitere Entwicklung des Kindes nach der Geburt tragen.«7
Da diese »Weigerung der Frau, die Menschwerdung ihrer Leibesfrucht im eigenen Körper zuzulassen«8, keineswegs mit einer Tötungshandlung eines geborenen Menschen vergleichbar sei, könnten auch die Grundsätze über die strafrechtliche Sanktionierbarkeit hier nicht angewendet werden. Es sei nicht abzuleiten, dass der Staat strafen müsse. 1976 kam schließlich das gemäß den Vorgaben aus Karlsruhe gestaltete Änderungsgesetz zum Strafgesetzbuch zustande, das bis 1993 in der (alten) Bundesrepublik galt. Es sah vier Indikationen als Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot der Abtreibung vor: die medizinische (wenn der Frau Gefahr für Leben und Gesundheit droht), die embryopathische (bei schwerer Schädigung des Embryos/Fötus), die kriminologische (nach Vergewaltigung) und die allgemeine Notlagenindikation, die auch als soziale Indikation bezeichnet wurde, weil hier hauptsächlich ungünstige soziale Umstände berücksichtigt wurden. Das zweite Urteil zum Schwangerschaftsabbruch gab der Zweite Senat9 am 28. Mai 1993 bekannt. Demnach seien beratene, aber ärztlich nicht indizierte Abbrüche zwar »Unrecht« (»rechtswidrig«), sie bräuchten aber nicht mehr bestraft zu werden. Das Gesetz dürfe den Abbruch in diesen Fällen jedoch nicht als »gerechtfertigt« ansehen, vielmehr solle er aus dem Tatbestand der strafbaren Abtreibung ausgenommen werden. Das »Untermaßverbot« verlange, dass der Staat rechtliche Missbilligung ausspreche und die Kosten für den Abbruch nicht durch die Krankenkassen getragen würden. Bei sozial bedürftigen Frauen müsse der Staat die 7
BVerfGE 39, 1, 79.
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BVerfGE 39, 1, 79.
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BVerfGE 88, 203 ff.
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Kosten übernehmen. Der vom Gesetzgeber vollzogene Übergang zum »Beratungskonzept« sei gleichwohl grundsätzlich zulässig. Trotz des Unrechtscharakters des Abbruchs sei eine ihn verhindernde Nothilfe (z.B. durch Hilfspersonen) nicht erlaubt. Die arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bleibe auch bei derartigen Abbrüchen unberührt bestehen. Ebenso sei der Behandlungsvertrag mit der ärztlichen Person, die den Abbruch vornimmt, gültig. Die staatliche Kontrolle der Beratungsstellen und das Beratungsverfahren seien jedoch (zielorientiert auf die Austragung der Schwangerschaft) zu verschärfen; ferner müssten sich Ärztinnen bzw. Ärzte Tatsachen und Gründe von der abbruchwilligen Schwangeren ausführlich darlegen lassen. Die medizinische und die embryopathische (früher »eugenische«) Indikation sollten weiter bestehen dürfen, die kriminologische Indikation wurde wieder in Kraft gesetzt, die »allgemeine Notlagenindikation« war durch das Beratungskonzept entfallen und sollte nach gerichtlicher Ansicht nicht wieder eingeführt werden. Die Richter Ernst-Gottfried Mahrenholz und Bertold Sommer begründeten in ihrem gemeinsamen Sondervotum ihre das Reformgesetz stützende und die Senatsmehrheit kritisierende Beurteilung. Ernst Wolfgang Böckenförde legte in seinem die Mehrheitsmeinung ansonsten befürwortenden Sondervotum dar, warum er die Krankenkassenfinanzierung »beratener« Abbrüche (ohne Indikation) nicht für verfassungswidrig halte.
Die Stille nach dem Eklat: Übergehen zur Tagesordnung Das Ergebnis deutet auf eine Kompetenzüberschreitung des Bundesverfassungsgerichts hin: vom »Hüter der Verfassung« zum Ersatz- oder besser zum GegenGesetzgeber. Dennoch ist das politische System des vereinigten Deutschlands nach dem zweiten Urteil zum Abtreibungsrecht schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die Akteure definierten diesen Rechtssetzungsakt des Verfassungsgerichts als etwas Normales und setzten die Anweisungen des Urteils und der »Vollstreckungsanordnung« 1995 weitgehend um. Auch in der Bevölkerung und in der Frauenbewegung glätteten sich die Wogen. Nach anfänglichem Protest fanden sich die meisten Beratungseinrichtungen, Ärztinnen und Ärzte, Kliniken und Betroffene selbst mit der pauschalen Diskreditierung selbstbestimmter Abbrüche und den Verfahrensregelungen mehr oder weniger ab. Die Urteile, ihre Begrifflichkeiten, Kategorisierungen und Bewertungen haben dennoch deutliche Spuren hinterlassen. Die normativen Beurteilungen wur-
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den zum Großteil aufgegriffen und immer wieder reproduziert. Wer kurz nach dem Urteil von 1993 grundsätzlich andere Überzeugungen äußerte, etwa der Rechtsphilosoph und Rechtsethiker Norbert Hoerster, der zwischen »Idealnorm« (Rechte nur für personale Wesen) und »Praxisnorm« (ab der menschlichen Geburt keine Einschränkungen von Rechten unabhängig vom konkreten Zustand eines lebenden Menschen) unterscheidet, wurde in der öffentlichen Auseinandersetzung geradezu außerhalb des angeblichen verfassungsrechtlichen Konsenses gestellt.10 Die ideologische Dogmatisierung der beiden Urteile erstreckte sich über die Entscheidungsmaßgaben hinaus auf die grundlegenden Annahmen zum ethisch-moralischen Status des Embryos. Selbst in den Sozialwissenschaften wurde die deutsche Lösung bisweilen sogar als vorbildlich oder moderat gepriesen, grundsätzliche Kritik als radikal oder extrem eingestuft (vgl. Gerhards 1997; Neidhardt 1996; kritisch Berghahn 1998). Erst mit dem Einsetzen der biopolitischen und genethischen Debatte nahm die Kritik zu (s.u.). In der feministischen Debatte ergab sich in der Folgezeit eine erhebliche Polarisierung. Lange hatte der Kampf gegen den Paragrafen 218 die zweite deutsche Frauenbewegung geeint (vgl. die Kampagne 1971 im Stern: »Wir haben abgetrieben!«). Nach 1993 bzw. 1995 galt das frauenpolitische Jahrhundertproblem jedoch als faktisch ausgestanden, da eine selbstbestimmte Abtreibung im Prinzip für alle Frauen in Deutschland erreichbar geworden war. Dafür entbrannte eine Debatte um Reproduktionsmedizin und Biopolitik, in der einige Feministinnen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Stützung ihrer eigenen, aus feministischer Wissenschaftskritik abgeleiteten Gegnerschaft zu PID (vgl. z.B. Graumann/Schneider 2003) und anderen Techniken in Anspruch nehmen (vgl. z.B. Riedel 2001).
Politische versus verfassungsrechtliche Logik Obwohl sich Viele in der biopolitischen Debatte an das Bundesverfassungsgericht anlehnen, herrschen heute tiefe Meinungsverschiedenheiten nicht nur in ju10 Das lässt sich an den Leserbriefen verfolgen, die in der Frankfurter Rundschau (FR) als Reaktion auf einen Artikel von Hoerster (»Ist die menschliche Leibesfrucht ein ›Mensch‹«? Veröffentlicht am 9.8.1993) abgedruckt waren. Am 24.8., 27.8., 30.8 und 15.9.1993 wurde Hoerster zum Teil heftig angegriffen und ihm eine »faschistoide« Grundeinstellung und die Nähe zur Freigabe »lebensunwerten Lebens« zur Tötung unterstellt. Auch Vorträge und Lehrveranstaltungen von Hoerster wurden vor allem 1997 häufig gestört und mussten unter Polizeischutz gestellt werden. Als Professor in Mainz ließ er sich aufgrund dieser Vorfälle 1998 frühzeitig pensionieren.
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ristischen und politischen Debatten, sondern auch in Expertinnen- und Expertenkommissionen wie dem Deutschen Ethikrat (2011) oder der bioethischen Enquetekommission des Bundestags, ebenso unter frauenpolitisch Engagierten und Feministinnen (Positionen vgl. Geyer 2001). Allerdings sind politisch-parlamentarische Vorstöße zur Entschärfung gesellschaftspolitischer Konfliktthemen oft argumentativ unscharf, sie enthalten Begründungselemente, die widersprüchlich sind oder wenig zusammenpassen; Tabuthemen werden umgangen und vordergründige Argumente benutzt. Von der verfassungsgerichtlichen Aufarbeitung einer Konfliktmaterie ist ein gründliches, konsistentes und überzeugendes Argumentieren und Entscheiden zu erwarten. Das Bundesverfassungsgericht kann und soll den Dingen auf ihren verfassungsrechtlichen Grund gehen. Gründe und Gegengründe sind dabei argumentativ zu erörtern. In politischen Debatten begnügt man sich häufig mit Formelkompromissen, mit Rücksicht auf bestimmte Fraktionen und Wählerschichten. Bei der Argumentation für ein liberaleres Abtreibungsrecht war demgemäß von »Hilfe statt Strafe«, von Entkriminalisierung und vom Schutz des ungeborenen Lebens »mit der Mutter/Schwangeren und nicht gegen sie« die Rede. Es herrschten Zweckmäßigkeitsstrategien vor. Die grundlegende Frage, welchen Rechtsstatus der Embryo hat oder haben sollte, blieb häufig außen vor. Dahinter stand nicht selten eine bewusste Strategie: Man musste Zielformulierungen und Argumente für Akteure und Publikum mit sehr unterschiedlichen religiösen, weltanschaulichen und parteipolitischen Anschauungen finden.
Weitere verfassungsgerichtliche Entscheidungen und gesetzgeberische Initiativen seit dem zweiten Abtreibungsurteil Seit 1993 bzw. 1995 hat es infolge der Rechtsprechung des Ersten Senats Veränderungen gegeben, die auf den ersten Blick als liberale Korrekturen der grundsätzlichen Statuierungen des Zweiten Senats in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs und des Rechtsstatus des Embryos erscheinen. Zu fragen ist aber, ob die Weichen dadurch grundlegend neu gestellt wurden. Zu nennen ist hier zunächst der »Hauskrach« (vgl. Berghahn 1998) zwischen den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts um das »Kind als Schaden«. Der Zweite Senat hatte im Abtreibungsurteil von 1993 in einem »obiter dictum«, d.h. einer beiläufigen, nicht verbindlichen Äußerung, zum Ausdruck gebracht, dass fortan Schadensersatzansprüche wegen »planwidriger Geburt« z.B. nach fehlgeschlagener Sterilisation nicht mehr zugesprochen werden dürften, weil das
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Dasein eines Kindes nicht als Schaden zu qualifizieren sei.11 Anlässlich von Verfassungsbeschwerden von Ärztinnen und Ärzten kam es 1997 zum Streit zwischen den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts. Der Zweite Senat verlangte, dass gemäß § 16 BVerfGG das Plenum des Bundesverfassungsgerichts einberufen werden sollte, weil er befürchtete, dass sein obiter dictum vom Ersten Senat missachtet werden würde. Der Erste Senat lehnte dies ab und entschied allein abschlägig über die Verfassungsbeschwerden; auch legte er dar, warum die Erwägung des Zweiten Senats zum »Kind als Schaden« nicht »tragend« sei.12 Eine weitere Entscheidung des Ersten Senats betraf die Grenzen landesrechtlicher Verschärfungen zum Verfahren bei Abbrüchen. Zu beurteilen waren Restriktionen in Bayern zur Durchführung von Abtreibungen. Sie wurden als Verstoß gegen die gesetzgeberische Kompetenzordnung des Grundgesetzes und als unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit der Ärztinnen und Ärzte (Art. 12 Abs. 1 GG) beurteilt. Verneint wurde dabei u.a. eine Offenbarungspflicht für die Schwangere gegenüber Ärztinnen und Ärzten (und Beratungsstellen). Die Entscheidung vom 27. Oktober 199813 berührte jedoch nicht substanziell die Vorgaben, die der Zweite Senat 1993 für die Durchführung und Qualifizierung von Schwangerschaftsabbrüchen gemacht hat und die in das StGB und das SchKG aufgenommen worden waren. Auch die Debatte um Spätabbrüche nach pränataler Diagnostik (PND) mit der medizinisch-embryopathischen Indikation hat nichts Grundlegendes geändert. Eine zum 1. Januar 2010 erfolgte Änderung des § 2 SchKG erweiterte medizinische und psychosoziale Beratungsangebote und -pflichten und führte eine Drei-Tage-Bedenkfrist für die schwangere Frau ein. Im § 218 StGB von 1995 wurde die embryopathische Indikation geradezu unsichtbar gemacht.14 Eine Befristung entfiel, da es für medizinische Eingriffe bei Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren keine zeitliche Begrenzung geben kann. Im Gegensatz zu den genannten Rechtsprechungs- und Gesetzgebungsereignissen war die begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) im 11 Allerdings hat der BGH seine Rechtsprechung stets darauf gestützt, dass nicht das Kind, sondern die Unterhaltsverpflichtung für die Eltern den Schaden darstelle. 12 BVerfGE 96, 375 ff. 13 BVerfGE 98, 265 ff. 14 § 218a Abs. 2 StGB: Der Abbruch ist demnach nicht rechtswidrig, wenn er »unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann«.
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Jahr 2011 durchaus ein Schritt, den man als veränderte Weichenstellung begreifen kann. Von drei jeweils fraktionsübergreifenden Gesetzentwürfen setzte sich der vergleichsweise liberalste mehrheitlich durch.15 In der parlamentarischen Diskussion prallten die aus dem lange andauernden Streit um die PID bekannten Argumente und Befürchtungen aufeinander: Für eine Lockerung wurden die Nöte erblich belasteter Paare vorgebracht, die Vermeidung von Spätabtreibungen schwer kranker Föten beschworen, versichert, dass es nicht um »Selektion« gehe. Die Gegenseite behauptete, dass es genau darum gehe, dass die PID zur Diskriminierung Behinderter beitrage und das Wertgefüge der Gesellschaft auf dem Spiel stehe. Das Embryonenschutzgesetz stellt seitdem in Aussicht, dass in vitro gezeugte Embryonen vor der Einpflanzung in die Gebärmutter auf Krankheiten untersucht und ggf. vernichtet werden dürfen, nämlich dann, wenn bei den potenziellen Eltern riskante genetische Dispositionen vorliegen oder die Untersuchung der Embryonen zur Feststellung einer schwerwiegenden Schädigung des Embryos dient, »die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird« (vgl. § 3a Abs. 2 ESchG). Auch wenn es bis 2014 gedauert hat, bis die für die praktische Zulassung notwendige Durchführungsverordnung geschaffen wurde und diese sehr restriktiv ist16, so bedeutet die Gesetzesänderung dennoch einen »Paradigmenwechsel« (Wolfgang Thierse).17 Tatsächlich ist dies eine Abkehr vom kategorischen Verbot. Sie berührt die grundlegende normative Dimension, weil PID im Gegensatz zum Schwangerschaftsabbruch sogar als Selektion betrachtet und von vielen deshalb als Verstoß gegen die absolut geschützte Menschenwürde des Embryos bewertet wird. Gleichwohl bleibt das Diktum des Bundesverfassungsgerichts zum Unrechtscharakter der lediglich beratenen Abtreibung und zur Unterordnung der Grundrechte schwangerer Frauen unter die behaupteten Rechte des Embryos erhalten, es wurde weder durch das Bundesverfassungsgericht selbst, noch durch neue Deutungen der Gesetzgebung erschüttert. Somit lohnt sich auch heute noch der analytische Blick auf das Fundament der beiden nach wie vor zentralen Urteile von 1975 und 1993.
15 BT-Drucksache 17/5451, 17/5450, 17/5452. Es handelt sich um den Vorschlag der Parlamentariergruppe um Peter Hintze (CDU/CSU) und Ulrike Flach (FDP). 16 Dazu u.a. auch im Beitrag von H. Kreß im vorliegenden Buch. 17 Vgl. Bericht: PID in Deutschland künftig eingeschränkt erlaubt. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/35036974_kw27_de_pid/2058 98 (Zugriff am 30.06.2014).
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Z UM S TATUS
DES E MBRYOS UND Z UM GRUNDLEGEND FALSCHEN AN DEN BEIDEN ABTREIBUNGSURTEILEN Die Metamorphose des Embryos: vom Schutzgut zum Grundrechtsträger Rechtsdogmatisch war der Embryo gemäß dem Urteil von 1975 ein verfassungsrechtliches »Schutzgut«. Ein Schutzgut besitzt kein eigenes subjektives Recht, sondern wird durch objektivrechtliche Pflichten geschützt. Dass der Embryo dennoch rechtlichen Vorrang haben sollte, widerspricht der ansonsten herrschenden Grundrechtsdogmatik, denn das Grundrecht eines (geborenen) Menschen und Grundrechtsträgers kann sich gegenüber dem Interesse eines Schutzguts in aller Regel durchsetzen.18 In der Frage des Schwangerschaftsabbruchs wurden das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit auf Seiten der Frau, ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und weitere Grundrechtsaspekte dem hypothetischen Lebensinteresse des Embryos untergeordnet. Für den Ersten Senat folgte die Vorrangstellung des Embryos aus dem Gebot des lückenlosen Lebensschutzes, einer (vermeintlich) aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gezogenen Lehre,19 sowie aus der biologischen Konstellation: Nur die Frau könne Kompromisse bei ihrer Selbstbestimmung und Lebensführung eingehen, nicht jedoch der Embryo. Er büße bei jedem Versuch eines Kompromisses seine Existenz ein.20 Das war ein Zirkelschluss (vgl. Jerouschek 1989: 280), denn ein selbstständiges Lebensrecht folgt nicht daraus, ebenso wenig eine rechtliche Gleichrangigkeit von Frau und Embryo, auf der die Interessenabwägung (Existenzrecht vor Lebensgestaltung) aufbaut. Dennoch bejahte das Gericht das individuelle Lebensrecht von vornherein, obwohl es dem Embryo gerade keinen Subjektstatus zuordnet hatte. Im Urteil von 1993 wurde der Embryo explizit zum individuellen Träger des Grundrechts auf Leben und der Menschenwürde erklärt. Damit steht in der Abwägung ein Grundrechtssubjekt gegen das andere (Embryo versus Frau). Das macht vordergründig den Vorrang des Embryos plausibler und stützt die Idee, dass Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich »Unrecht« seien, hat jedoch bei
18 Diese Rangordnung führt etwa im Verhältnis von Forschungsfreiheit versus Tierschutz auch nach der Verankerung des Tierschutzes in Art. 20a GG dazu, dass Tierversuche nicht völlig unterbunden werden können. 19 BVerfGE 39, 1, 36. 20 BVerfGE 39, 1, 43.
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der Regelung der Folgefragen schwerwiegende Widersprüche und Inkonsequenzen geschaffen. Schon die Subsumtion der Legitimität des Beratungsmodells unter die Prämisse des »Lebensschutzes« kann vor dem Hintergrund des pathetisch proklamierten Rechts auf Menschenwürde und Leben für den einzelnen Embryo nur als eklatanter Widerspruch bezeichnet werden, denn die Tötung des Embryos wird faktisch massenhaft und noch dazu gesetzlich »verregelt« zugelassen. Hätte die Senatsmehrheit die Höherstufung des Embryos zum individuellen Grundrechtsträger wirklich ernst gemeint, so hätte jeder Abbruch, der nicht zur Lebensrettung der schwangeren Frau erfolgt, für unzulässig erklärt werden müssen. Die inkonsequente Argumentation setzt sich bei den Folgefragen von Kosten, Lohnfortzahlung und ärztlicher Vertragshaftung für Kunstfehler fort. Konsequent ist lediglich der Voluntarismus, mit dem Unvereinbares scheinbar in Einklang gebracht wurde: Die »lückenlose« staatliche Schutzpflicht für das ungeborene Leben mit der faktischen Freigabe der Abtreibung in den ersten drei Monaten und bei Indikationen, das bestehen bleibende Unrechtsverdikt mit staatlicher Reglementierung und Kontrolle bis in Details. Verneint man dagegen ein subjektives individuelles Lebensrecht des Embryos, würde dies nicht bedeuten, dass das vorgeburtliche Leben generell schutzlos wäre. Eine staatliche Schutzpflicht für Embryonen und Föten lässt sich weitgehend konsensfähig als »vorwirkender Reflex« aus dem Grundrecht auf Leben geborener Menschen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ableiten und dabei auch zeitlich in der Schwangerschaft abstufen. Sie richtet sich nach dieser Interpretation aber in erster Linie gegen Eingriffe Dritter. Mit ihr kann keine generell vorrangige Rechtsposition des Embryos oder Fötus gegenüber der schwangeren Frau für die gesamte Schwangerschaft begründet werden.
Lernen aus den Verbrechen im Nationalsozialismus? Das zur Rechtfertigung im ersten Abtreibungsurteil angeführte Verfassungsziel eines lückenlosen Rechtsschutzes gegen elementare Ausgrenzung und Inhumanität kann in seiner Übertragung auf den vorgeburtlichen Zeitraum verfassungsrechtlich nicht überzeugen. Über die Zuerkennung von Grundrechten zur »Leibesfrucht« bestand im Parlamentarischen Rat als historischem Gesetzgeber kein Konsens, schon wegen des innewohnenden Konflikts der Frau mit dem ungewollten (potenziellen) Kind in ihrem Körper. Die Ausführungen des Verfassungsgerichts im Urteil von 1975 sind diesbezüglich unklar und letztlich un-
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schlüssig.21 Entsprechend besteht auch heute unter Verfassungsrechtler/-innen kein Konsens über diese Frage.22 Vor allem aber sind die im ersten Abtreibungsurteil verstärkend angeführten assoziativen Verknüpfungen mit den Verbrechen des NS-Regimes an geistig Behinderten und Juden begründungslogisch falsch und irreführend. Zum einen verschärfte der NS-Staat die Strafdrohung bei freiwilligen Abbrüchen »arischer« Frauen sogar noch, zum anderen setzte er aus rassistischen und eugenischen Gründen Abtreibungen mit anschließender Zwangssterilisation durch (vgl. Bock 1983), deren Unrechtsgehalt aus heutiger Sicht im Zwang gegenüber den Betroffenen und in deren Menschenwürdeverletzung zu sehen ist. Das Bundesverfassungsgericht erwähnte diese NS-Maßnahmen 1975 in dem historischen Abschnitt nicht einmal. Der angeführte Völkermord an den Juden und die Tötung Behinderter im Rahmen der »Euthanasie«-Aktionen bestanden jedoch in der massenhaften Tötung geborener Menschen; hier wurde das Tötungstabu in direkter Weise gebrochen, ohne Umweg über eine »Lockerung« der Normen für das ungeborene Leben. Der Zweite Senat verzichtete 1993 vielleicht auch deshalb auf den historischen Rekurs.
Ist der Embryo Grundrechtsträger »von Anfang an«? Der Zweite Senat begründet die grundrechtliche Gleichstellung einer soeben vereinigten Ei- und Samenzelle bzw. eines zwei Wochen später in der Gebärmutter eingenisteten Embryos23 mit einem geborenen Menschen lediglich mit dem schlichten Hinweis, dass es sich bereits um genetisch menschliches Leben handele, das sich nach der Einnistung in der Gebärmutter nicht mehr teilen könne, sodass es »individuelles« menschliches Leben sei.24 Diese Argumentation bezeichnen Kritiker als »Speziesismus« (Hoerster 1991: 64) oder »biologistische Reduktion« (Jerouschek 1989: 280). Betrachtet man die relativ kurzen Begründungspassagen25, das Fundament der gesamten Judikatur des zweiten Abtrei-
21 BVerfGE 39, 1, 38 ff. 22 Darüber gibt schon eine Lektüre der verschiedenen GG-Kommentare zum Lebensrecht und zur Menschenwürde Aufschluss. 23 Obwohl der Zweite Senat die Grundrechtsträgerschaft von der Empfängnis an bejaht, lässt er den abtreibungsrechtlichen Schutz erst mit der Einnistung beginnen (Schwangerschaft), BVerfGE 88, 203, 251. 24 BVerfGE 88, 203, 252. 25 2-3 Druckseiten von 163 bzw. 134 Druckseiten (ohne abweichende Voten).
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bungsurteils und der dogmatisierenden Festlegungen zum Status des Embryos oder Fötus, so kann man feststellen, dass ausgerechnet die tragende Begründung eigentlich keine ist. Denn das Gericht statuiert nur, d.h. es stellt fest oder ordnet an, was eigentlich argumentativ zu begründen wäre. Es drängt sich die Frage auf, warum es für die Grundrechtsträgerschaft des Embryos ausreichen soll, ein Wesen mit genetisch menschlicher Struktur im Leib einer Frau zu sein, wenn genau dies den Konflikt hervorruft. Die Würde des Embryos liege im Dasein um seiner selbst willen und werde nicht durch die »Annahme seitens der Mutter« begründet.26 Auch spiele es für die Anerkennung als Rechtsträger und damit als Rechtssubjekt keine Rolle, ob ein solches Wesen personale Eigenschaften habe oder nicht.27 Neben der genetischen menschlichen Substanz klingen weitere Argumente an: die kontinuierliche Entwicklung des Embryos »als Mensch«, das Fehlen markanter Einschnitte28 und das der Potenzialität. Letztere bedeutet, dass der Embryo bereits über alle Anlagen verfüge, die sich später, insbesondere nach der Geburt und beim Heranwachsen entfalten und die personale Identität des Menschen ausmachen. Mit der Zeugung und der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ist demnach das menschliche Wesen biologisch als fertiger Mensch determiniert, der Grundrechtsträger ist entstanden, zumindest was sein Recht auf Leben und Menschenwürde betrifft; ein Beitrag der Frau zur Menschwerdung der »Leibesfrucht« wird nicht gesehen oder ist unbeachtlich. Dennoch spricht die Senatsmehrheit mit Blick auf die spezifische Konstellation der Schwangerschaft scheinbar respektvoll von einer »Zweiheit in Einheit«, gesteht der Frau aber dann doch keine Rechtsposition zu, die »im Normalfall« einer ungewollten Schwangerschaft über das (hypothetische) Erdulden und Austragenmüssen hinausgeht.29 Die Rechtsfolgen sollen sich aus der staatlichen Schutzpflicht ergeben, die ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG (Garantie der Menschenwürde) habe; »ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG bestimmt« (Lebensrecht).30 Es folgt eine Darlegung dazu, welche Verhaltensanforderungen an den Staat zur Erfüllung der Schutzpflicht gerichtet seien. Zum einen soll der Staat »präventive und repressive Schutzwirkungen im einzelnen Fall« entfalten, zum anderen »im Volke lebendige Wertvorstellungen und Anschauun26 BVerfGE 88, 203-366, 252. Horst Dreier nennt diese Begründung eine »autoritative Setzung [...], die den Verzicht auf eine Begründung erst gar nicht zu kaschieren sucht« (1995: 1037). 27 BVerfGE 88, 203, 251. 28 Die Geburt als Einschnitt wird dabei ausgeblendet. 29 BVerfGE 88, 203, 253. 30 BVerfGE 88, 203, 251.
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gen über Recht und Unrecht stärken und unterstützen und ihrerseits Rechtsbewusstsein bilden«.31 Aber trotz der Schutzpflicht im einzelnen Fall, d.h. gegenüber dem einzelnen Embryo, sei der Schutz des Lebens »nicht in dem Sinne absolut geboten, daß dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösse«; das zeige sich schon am Gesetzesvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG. Als kollidierende oder zumindest das Lebensrecht des Ungeborenen »berührende« Rechte kämen dabei die Menschenwürde der schwangeren Frau in Betracht (Art. 1 Abs. 1 GG), ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 GG). Eine Klärung, wie diese Rechte zu der zuvor festgestellten grundsätzlichen Gebärpflicht stehen, lässt das Gericht vorläufig offen und gibt die Bestimmung von Art und Umfang des Schutzes in die Hand des Gesetzgebers, der jedoch das »Untermaßverbot« zu beachten habe.32 Die Gesetzgebung müsse Mindestanforderungen genügen. Betont wird zugleich, dass das gebotene Maß unabhängig vom Alter der Schwangerschaft zu beurteilen sei, also keine gestufte Schutzwürdigkeit definiert werden dürfe. Auch in der Frühphase der Schwangerschaft habe die Rechtsordnung diesen Schutz zu gewährleisten. Schließlich mündet die Passage in die Feststellung, dass zu den Mindestanforderungen gehöre, den Schwangerschaftsabbruch für die gesamte Dauer grundsätzlich als Unrecht anzusehen. Es dürfe keine normative Preisgabe stattfinden. Denn »Grundrechte der Frau greifen gegenüber dem grundsätzlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs nicht durch«.33 Sie führen aber in Ausnahmesituationen dazu, dass die grundsätzliche Gebärpflicht nicht auferlegt werden müsse. Das seien die Indikationssituationen, die von Dritten (Ärztinnen und Ärzten) attestiert werden. Die Ausnahme gelte aber nicht im Falle eines Abbruchs nach dem Beratungskonzept. Es gebe keinen Zeitraum, in dem das Persönlichkeitsrecht der Frau generell vorgehe. Die grundlegenden Erwägungen zum Status des Embryos haben nach Meinung der Senatsmehrheit »unabhängig von bestimmten religiösen oder philosophischen Überzeugungen« zu gelten, »über die der Rechtsordnung eines religiös-weltanschaulich neutralen Staates kein Urteil zusteht«.34 Diese Behauptung ist ganz offenkundig kontrafaktisch, denn es ist nur zu bekannt, dass es auf der Welt und in Deutschland tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten zu diesen Fragen gibt, die mit weltanschaulich-religiösen, philosophischen oder ethischmoralischen Einstellungen korrespondieren.35 Da es der Zweite Senat aber gera31 BVerfGE 88, 203, 253. 32 BVerfGE 88, 203, 254. 33 BVerfGE 88, 203, 255. 34 BVerfGE 88, 203-366, 252. 35 Vgl. z.B. Geyer 2001.
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de im Grundlegenden unterlassen hat, sich mit anderen Ansätzen auseinanderzusetzen, weckt der zitierte Satz den Verdacht, dass die Senatsmehrheit eigene partikulare (Glaubens-)Überzeugungen allgemein verbindlich gemacht hat – ganz entgegen einem an Pluralismus und religiöser Neutralität orientierten Auftrag. Die Urteilsbegründung enthält keine argumentative Auseinandersetzung mit rechtsphilosophischen und verfassungstheoretischen Positionen, die Gründe und Kriterien für einen gestuften Lebensschutz nennen, z.B. die Zuschreibung von Rechten an bestimmte Eigenschaften (grundlegend: eigenständige Körperlichkeit), insbesondere personale Eigenschaften (wie Ich-Bewusstsein, Überlebensinteresse, Zukunftspläne usw.) knüpfen bzw. erst den geborenen Menschen individuelle Grundrechte zuschreiben (z.B. Hoerster 1991; Dreier 1995). Das gilt auch für feministische Positionen. Feministinnen halten es wegen des einzigartigen intrapersonalen Charakters des Schwangerschaftskonflikts meist für verfehlt, gedanklich zwischen der schwangeren Frau und dem Wesen in ihrer Gebärmutter zu trennen (vgl. Oberlies 1997). Die Trennung entspreche einer unangemessenen technischen Sicht auf die Schwangerschaft und verletze normativ den innersten Kernbereich der Persönlichkeits- und Gewissensfreiheit der Frau. Die Rechtsphilosophin und Kriminologin Monika Frommel argumentierte in der Zeit vor dem zweiten Abtreibungsurteil mehrfach und mit großer Überzeugungskraft gegen eine Gebärpflicht der schwangeren Frau (1991a/b). Das Recht, sich für einen selbstbestimmten Abbruch entscheiden zu können, stützte sie auf mehrere Grundrechte, vor allem aber in Anlehnung an US-amerikanische Ansätze (z.B. Dworkin 1994) auf die Gewissensfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 GG, die nach ihrer Interpretation die moralische Autonomie jedes Menschen schützt, um Entscheidungen über das eigene Leben, den eigenen Körper und die eigene Lebensgestaltung selbst treffen zu können. Die Entscheidung über Austragung oder Abbruch einer Schwangerschaft betrifft demnach den Kern der persönlichen Freiheit, und diese ist wiederum eng mit dem Gewissen und oft auch mit religiösen, weltanschaulichen oder anderen metaphysischen Deutungen verbunden (Frommel 1991b). Da Schwangerschaft nur von Frauen erlebt werden kann, gehöre es zur moralischen Autonomie und Gewissensfreiheit von schwangeren Frauen, über Austragung oder Abbruch zu entscheiden. Ähnliche Argumentationsmuster finden sich vor allem bei nordamerikanischen Feministinnen (z.B. MacKinnon 1991; Olsen 1991), die noch mehr als Frommel die Gleichberechtigung von Frauen als Begründungsbasis hervorheben und damit gegen den liberalen Mainstream in den USA argumentieren, der das Recht zum Schwangerschaftsabbruch im »Recht auf Privatheit« verortet.
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Menschenwürde als Schutzwall gegen Selektion und Ausgrenzung? Mit der Anerkennung von Menschenwürde und Lebensrecht im Grundgesetz haben die Verfassungsväter und -mütter einen umfassenden Lebensschutz etabliert. Selektion von »lebensunwürdigem Leben« oder nach der (vermeintlichen) »Rasse« sollte fortan für alle Zeit verhindert werden. Da in der Nazi-Zeit der »Dammbruch« jedoch direkt beim geborenen Leben ansetzte, sowohl in eugenischer als auch in rassistischer Hinsicht, liegt es gerade nicht nahe, einen normativen »Schutzwall« schon im Vorfeld der Geburt errichten zu wollen. Dennoch war das Bundesverfassungsgericht auch im zweiten Abtreibungsurteil davon geleitet. Den symbolischen Preis dafür zahlen Frauen, die sich nach dem Beratungsmodell für einen Abbruch entscheiden. Ihr Tun wird zum Unrecht, übrigens ohne dass der vermeintliche Schutzwall die Embryonen und Föten davor bewahrt, ihre Existenz einzubüßen. Das Urteil will vor allem die grundlegende verfassungsgerichtliche Interpretationskontinuität – bei deutlich veränderter Rechtsfolgenzulassung – wahren und greift mit dem Vorrang der Rechte des Embryos vor denen der Frau auf das Urteil von 1975 zurück. Anders als im ersten Urteil wurde der vorrangige Fokus 1993 jedoch auf die Menschenwürde gelegt. In Verbindung mit dem Lebensrecht werde das Maß des Schutzes bestimmt. Was das genau heißen soll, blieb offen. Insbesondere wurde nicht erläutert, wie sich der Schutz durch die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) von dem durch das Lebensrecht (Art. 2 Abs. 2 GG) unterscheiden kann. Verfassungsdogmatisch ist die Menschenwürde nicht einschränkbar, ihr Schutz gilt absolut, während das Lebensrecht gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG unter einem Gesetzesvorbehalt steht.36 Den Schutz des Embryos durch die Menschenwürde interpretierte die Senatsmehrheit vordergründig in Anlehnung an Immanuel Kant. Der Mensch – so auch der Embryo – existiere um seiner selbst willen, und verbindliche Rechte sollten dies absichern. Weder der geborene noch der ungeborene Mensch dürfe zum Instrument der Willkür anderer Menschen gemacht werden, kein Mensch darf gegen einen anderen »aufgerechnet« werden, denn keiner ist »mehr wert« als der andere. Allerdings passen die üblichen Beispiele des Verstoßes – beispielhaft ausgedrückt in Günter Dürigs verfassungsrechtlicher »Objektformel« (Dürig 1956: 127) – nicht zum Fall des Schwangerschaftsabbruchs, denn der Embryo wird nicht »erniedrigt«, »verächtlich gemacht«, »gebrandmarkt«, zum
36 Das Lebensrecht kann gesetzlich eingeschränkt werden, z.B. für Soldaten und gegenüber berechtigter Notwehr.
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Objekt des Staates, zum bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt. Dies alles ist bei einem Abbruch nach dem Beratungsmodell nicht der Fall. Aber die Senatsmehrheit legt eine Differenzierung zwischen der Menschenwürde und dem Lebensrecht des Embryos nahe. Die Menschenwürde darf nicht verletzt werden, das Lebensrecht durchaus, im Fall von Indikationen sogar mit Rechtfertigung. Nimmt man diese Differenzierung ernst, so sind gerade bestimmte indizierte Abbrüche problematisch: diejenigen mit embryopathischem Hintergrund und kriminologischer Ausnahmeregelung. Ist der Embryo/Fötus nämlich schwer geschädigt und wird als geborener Mensch voraussichtlich behindert sein, oder beruht die Schwangerschaft auf einer Vergewaltigung, so findet im Wege der Indikationserteilung gerade eine Selektion wegen bestimmter Eigenschaften oder wegen der Umstände der Empfängnis statt. Der Abbruch mag mit Rücksicht auf die Frau gerechtfertigt sein, widerspricht aber der Logik der absoluten Menschenwürdezuschreibung zum Embryo bzw. Fötus. Zudem bleibt fraglich, ob die Menschenwürde, die rechtsdogmatisch unscharfe und verschwimmende Konturen hat, dem Embryonalstadium zugeschrieben werden kann, ohne dass Kantsche Intentionen ad Absurdum geführt werden. Kant hat seine Rechts- und Würdetheorie für die klassischen Konfliktsituationen geborener Menschen entwickelt (vgl. Dreier 1995: 1039). Menschliche Vernunft und Willensfreiheit sollen Autonomie sichern: Dies setzt personale Eigenschaften voraus, die nur bei geborenen und herangewachsenen Menschen vorhanden sein können. Auch wenn sie in manchen Fällen, z.B. bei Komapatienten oder schwer geistig Behinderten – vorübergehend oder dauerhaft – nicht vorhanden sind, so spricht dies nicht gegen die juristisch-pragmatische, aber dennoch unauflösbare Verlinkung von Geburt und Rechtsinhaberschaft, denn bei geborenen Menschen ist die Inhaberschaft von Rechten nicht an aktuelle personale Eigenschaften gebunden (vgl. Hoerster 1991: 128 ff.). Rechte und objektive Pflichten sind immer Übereinkünfte von Menschen in Staaten und Gesellschaften, unabhängig davon ob sie naturrechtlich oder rechtspositivistisch begründet werden. Dass es zur Grundlegung von Menschenrechten gehört, sich Menschenwürde und Lebensrecht nicht bei tatsächlichem Fehlen personaler Eigenschaften wie Vernunft, Identitätsbewusstsein, Überlebensinteresse und ähnlichem gegenseitig abzusprechen, gehört ebenfalls zu den grundlegenden Übereinkünften, die in modernen Rechtsstaaten für geborene Menschen akzeptiert sind. Insofern kann das Postulat Immanuel Kants, dass der Mensch immer Selbstzweck sein muss und nie Mittel zum Zweck sein darf, allenfalls in sehr vorsichtiger Analogie auf das vorgeburtliche Stadium übertragen werden. Diese Übertragung sollte aber nicht als subjektives Recht ausgestaltet sein, sondern als objektive Schutzwirkung; sie lässt sich widerspruchsfrei graduieren.
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Auf einer urteilskritischen Basis soll nun überprüft werden, ob es möglich ist, vom heutigen Standpunkt der tatsächlichen und normativen Entwicklungen einen gestuften Grundrechtsschutz für das vorgeburtliche Leben oder ein zumindest zeitweise vorrangiges Entscheidungsrecht der Frau mit den Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zu vereinbaren. Wenn nicht, wäre zu klären, was das für die weitere verfassungsrechtliche und rechtspolitische Argumentation in Bezug auf biopolitische Themen bedeutet. Seit der Jahrtausendwende stellten vermehrt kritische Stimmen aus der (Rechts-)Philosophie37 das verfassungsgerichtliche Dogma der Grundrechtsträgerschaft des Embryos »von Anfang an« in Frage. Sie wurden von Verteidigern der fundamentalen Einbeziehung des Embryos (etwa Robert Spaemann 2001) heftig angegriffen, was die Debatte anheizte (vgl. Geyer 2001). Im Mittelpunkt standen Stammzell- und Embryonenforschung und PID. Zur Frage, welchen Geltungsanspruch man dabei den Statuierungen des Bundesverfassungsgerichts im zweiten Abtreibungsurteil vom 28. Mai 1993 einräumen müsse, vertrat Reinhard Merkel, Strafrechtsprofessor und Rechtsphilosoph in Hamburg, eine sehr dezidierte Meinung: »Spätestens seit dieser Entscheidung gibt es in Deutschland kein Lebensrecht des Embryos mehr. Die Rechtspraxis in Justiz und Verwaltung hat die zitierten Einzelanordnungen des Gerichts verwirklicht, also das Gegenteil von Menschenrechten des Embryos. Damit ist der verbale Rest des Urteils Makulatur. Ein ›Recht‹ auf Leben und Menschenwürde, das in keiner Weise durchgesetzt, dem im Gegenteil die staatlich garantierte, organisatorisch gesicherte, von der Berufsfreiheit gedeckte Möglichkeit der Tötung des Rechtsinhabers ausdrücklich beigestellt wird, ist keines. Sowenig wie über die Regeln der Logik gebietet das BVerfG über die Prinzipien des Rechts. Die Rechtswidrigkeit von Handlungen kann es nicht her-, sondern – mehr oder weniger zutreffend – nur feststellen.« (Merkel 2001: 53)
Merkel sieht die angeordnete Grundrechtszuschreibung zum Embryo als »materiell derogiert« an (ebd.), d.h. die Zuschreibung wurde durch die anderen Anordnungen im Urteil ungültig. Auf der Basis dieser Interpretation stünde es dem Gesetzgeber und jedem anderen rechtspolitischen Akteur frei, neuerlich eine Fristenregelung anzustreben, nunmehr mit Rechtfertigungswirkung und ohne derart
37 Neben Norbert Hoerster waren dies vor allem Reinhard Merkel, Julian Nida-Rümelin, Horst Dreier und Wolfgang Kersting.
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»zielorientierte« Pflichtberatung. Auch in den anderen biopolitischen Streitfragen gäbe es zwar weiterhin kontroverse Positionen, jedoch kaum entgegenstehende normative Vorgaben, denn diejenigen des Bundesverfassungsgerichts hätten sich durch ihre Widersprüchlichkeit selbst ad absurdum geführt. Dieser Schluss ist jedoch wenig realitätsnah, da er die politisch-institutionelle und juristisch-autoritative Wirkung von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen in Deutschland außer Acht lässt. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben zwar nur eine begrenzte Bindungswirkung für die Gesetzgebung (Säcker 1989: 81)38 und können vor allem durch das Verfassungsgericht selbst inhaltlich »überholt« werden. Solange dies aber nicht geschehen ist, bleibt meist eine mehr oder weniger gehorsame Folgebereitschaft in der Jurisprudenz, Politik und Öffentlichkeit bestehen. Dennoch steht es allen am Diskurs Teilnehmenden frei, eine solche Konsequenz, wie sie Reinhard Merkel vorgeschlagen hat, nach Darlegung der Widersprüche und Inkonsistenzen der Urteile (vgl. Merkel 2001: 55 ff.) zu ziehen. Im feministischen Kontext haben sich nach der relativen Befriedung in der Abtreibungsfrage zwei Lager herausgebildet: diejenigen, welche die neuen Reproduktionstechniken der IVF+ET und der PID, aber auch die massenhafte Anwendung der PND als »eugenisch« ablehnen und bekämpfen, sowie diejenigen, die sie grundsätzlich als Erweiterung reproduktiver Freiheit begreifen. Weil der Fokus dieses Aufsatzes auf der juristischen Rezeption der verfassungsgerichtlichen Urteile zum Schwangerschaftsabbruch liegt, sollen daher im Folgenden die Positionen zweier feministischer Juristinnen vorgestellt werden, die unterschiedliche Auffassungen zum Grundrechtsstatus des Embryos und zur reproduktionsrechtlichen Nachfolgefrage der Abtreibungsdebatte, der PID, vertreten: Ute Sacksofsky und Monika Frommel.
Mit dem Bundesverfassungsgericht gegen das Aussortieren von Embryonen Ute Sacksofsky, seit 1999 Professorin für Öffentliches Recht und Verfassungsrecht in Frankfurt am Main, hat im Jahre 2001 für die Enquete-Kommission des Bundestags »Recht und Ethik der modernen Medizin« ein Gutachten über den verfassungsrechtlichen Status des Embryos erstattet und entsprechende Vorträge
38 Demnach ist das BVerfG nicht an seine eigene Rechtsprechung gebunden. Die Bindungswirkung dient nur dazu, den Gesetzgeber daran zu hindern, sofort einen neuen Anlauf mit demselben als verfassungswidrig verworfenen Inhalt zu beschließen.
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gehalten. Ihre Rechtsauffassung lehnt sich grundsätzlich an die der Senatsmehrheit an und sieht den Embryo als Träger von Menschenwürde und Lebensrecht (vgl. Sacksofsky 2003: 276).39 Sie bemüht sich, die Statuierungen der Senatsmehrheit plausibler und frauenfreundlicher darzustellen, als diese im Urteilstext selbst erscheinen, und deutet das Urteil auch teilweise um (s.u.). Sacksofsky vertritt die Ansicht, dass das vorgeburtliche Leben den Schutz des Grundrechts auf Leben genieße, allerdings nicht den gleichen Schutz wie der geborene Mensch. Sie setzt sich von der Senatsmehrheit ab und konzidiert, dass mit der fortschreitenden Entwicklung des Embryos bzw. Fötus sein Lebensrecht umso stärkeres Gewicht bekomme in der Abwägung mit anderen Interessen (vgl. Sacksofsky 2003: 279). Dass eine solche Abstufung in der Rechtsordnung völlig normal sei, zeige etwa die Differenzierung bei den Tötungsdelikten, nicht zuletzt in Form der milderen Strafdrohung für den Schwangerschaftsabbruch. Ohnehin sei die strafrechtliche Behandlung der Abtreibung bekanntlich nach Wochen differenziert (Zwölf-Wochen-Frist). Insofern interpretiert Sacksofsky die Aussagen der Senatsmehrheit im Grunde als Annahme eines zeitlich gestuften Lebensrechts, obwohl die Senatsmehrheit sich genau davon distanziert hat. Das »Konzept des anwachsenden Lebensschutzes« werde dem Entwicklungsgeschehen besser gerecht als das »kategorische Postulat«, die »befruchtete Eizelle sei ebenso wie ein Mensch zu behandeln« (Sacksofsky 2003: 279). Allerdings wäre dann die gerichtliche Bewertung des Abbruchs nach Beratung als unheilbares »Unrecht« nicht mehr stimmig: Wenn (noch) kein überwiegendes Lebensrecht anzunehmen wäre, warum sollte der Abbruch in den ersten drei Monaten dann generell rechtswidrig sein? Allenfalls müsste auf das erste Abtreibungsurteil zurückgegriffen werden, welches besagt, dass die Frau nicht selbst entscheiden dürfe; dies aber widerspräche Sacksofskys feministischem Grundtenor. Kernpunkt ihrer Interpretation beider verfassungsgerichtlicher Urteile ist die Differenzierung zwischen der Menschenwürdegarantie und dem Lebensschutz. Der Verstoß der reformierten Gesetzesfassung von 1992 sei »gegen Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG« festgestellt worden (Sacksofsky 2003: 281). Menschenwürde- und Lebensschutz könnten auseinanderfallen. Der Lebensschutz für frühe Embryonen dürfe relativiert werden, dagegen gelte die Menschenwürdegarantie absolut. Der Abbruch nach dem Beratungskonzept verstoße nicht gegen die Menschenwürdegarantie, Selektion sei hingegen ein Verstoß gegen die Menschenwürde entsprechend der sogenannten Objekt-Formel, weil hier der Mensch nicht mehr als Selbstzweck behandelt werde (vgl. 39 Sie war in der Zeit von 1991 bis 1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht, just in der Zeit, als sich der Zweite Senat mit der Abtreibungsmaterie zu befassen hatte.
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Sacksofsky 2003: 282). Bezogen auf den Embryo in vitro bedeute dies, dass durch das Untersuchen und Verwerfen einzelner Embryonen tatsächlich eine Selektion stattfinde. Diese stelle eine »Parallele zu den schlimmsten Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes« dar, wenn man sie gedanklich auf geborene Menschen transponiere, denn mit der PID würden Embryonen/Menschen als »lebensunwert« aussortiert. Insofern sei Schwangerschaftsabbruch anders zu beurteilen als die PID (Sacksofsky 2003: 286). Selbst der Abbruch nach PND (gemäß der medizinisch-embryopathischen Indikation des § 218a Abs. 2 StGB) stelle den Lebenswert des Embryos nicht in Frage, anders sei dagegen das Screening der Embryonen in vitro zu beurteilen. Denn die akute psychische Konfliktsituation, dass die Frau nicht weiß, ob sie sich zutraut, das in ihr wachsende und voraussichtlich schwer geschädigte Kind auszutragen, zu gebären und großzuziehen, bestehe im Fall der PID nicht, weil noch keine Schwangerschaft und folglich keine Unsicherheitssituation existierten (vgl. Sacksofsky 2003: 287). Durch diese Differenzierung zwischen der Zulassung von Schwangerschaftsabbrüchen und der (damals noch geltenden) Nicht-Zulassung einer die Qualität eines potenziellen Menschen überprüfenden PID sucht die Autorin eine gewisse Übereinstimmung mit dem feministischen Grundkonsens, der in der Priorisierung der Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper im Falle der Schwangerschaft besteht (vgl. Sacksofsky 2003: 287). Demgegenüber ermögliche die PID »die Institutionalisierung einer Kontrolle darüber, wer als Mensch zugelassen wird« (Sacksofsky 2003: 289). Hier klingt das Argument der Ausgrenzung Behinderter im Falle der Zulassung von PID an. Nach Sacksofsky entfalte der grundlegende Einwand gegen selektive Menschenwürdezuschreibung seine Kraft auch dann, wenn dem Embryo die Menschenwürde nicht subjektivrechtlich, d.h. als Rechtsträger, zugesprochen würde. Denn dann gelte immer noch die objektivrechtliche Bindung aller Grundrechte an die Menschenwürde (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG). Ihr Fazit: Eine liberale Abtreibungsregelung ist verfassungsrechtlich zulässig, daher darf auch im Falle einer In-vitro-Befruchtung keine Frau gezwungen werden, eine Implantation zu dulden; jedoch sei die vorherige Untersuchung gefolgt vom Verwerfen eines Embryos in vitro nicht zulässig. Da die PID nur bei extrakorporaler Befruchtung möglich sei, würde anderenfalls die Zulassung der PID noch mehr Frauen dazu bringen, sich den belastenden Prozeduren auszusetzen. Außerdem würde sich die bei der PND bereits zeigende Tendenz zur Ausweitung der medizinisch-embryopathischen Indikation noch verstärken; der Zwang zum perfekten Kind würde weiter steigen, die Akzeptanz gegenüber Behinderten dagegen sinken (vgl. Sacksofsky 2003: 292).
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Negative und positive Reproduktionsfreiheit in großzügiger Abstraktion von verfassungsgerichtlichen Statuierungen Die Rechtsphilosophin und Kriminologieprofessorin Monika Frommel hat bereits vor dem zweiten Abtreibungsurteil versucht, eine Verfassungsinterpretation zustimmungsfähig zu machen, die der Frau ein autonomes Entscheidungsrecht (mit Rechtfertigungswirkung) zugesteht. Nach dem Urteil von 1993 und der gesetzlichen Regelung von 1995 deutete Frommel die verfassungsrechtliche Situation dennoch so, als hätte das Bundesverfassungsgericht insgesamt die weiblichen Grundrechte normativ berücksichtigt und Frauen eine »negative Reproduktionsfreiheit« im Falle ungewollter Schwangerschaft zugestanden (Frommel 2002: 411). Ihre Deutung kann als Versuch verstanden werden, die Darlegung der Senatsmehrheit normativ »vernünftiger«, d.h. mit üblichen verfassungsrechtlichen Auslegungsstandards vereinbarer zu machen. Insofern hat ihre Interpretation des status quo »mit dem Urteil gegen das Urteil« eine logische Ähnlichkeit mit Reinhard Merkels Schluss (s.o.). Ganz anders als Merkel und Sacksofsky lehnt es Frommel aber als »hierarchisch« und »abstrakt formalistisch« ab, Aussagen zum isolierten Rechtsstatus des Embryos zu machen. Die »konservative« Sicht, dass des Embryos Lebensrecht Vorrang vor den Grundrechten der Frau habe, sei genauso verfehlt wie die »utilitaristische« Perspektive, die dem Embryo jedes Lebensrecht abspreche (vgl. Frommel 1991a). Ihre Argumentation fokussiert auf andere Kriterien. Moralisch muss eine Entscheidung demnach sowohl für den Schwangerschaftsabbruch als auch für die PID »universalisierbar, kontextorientiert und in ihren Folgen bedacht sein« (Frommel 2002: 411). Das Embryonenschutzgesetz stelle darauf ab, dass nur zur Herbeiführung einer Schwangerschaft Eizellen in vitro künstlich befruchtet werden dürften; nicht aber könnten Frauen gezwungen werden, sich einen Embryo gegen ihren Willen implantieren zu lassen. Sie plädiert für eine weite Auslegung des Embryonenschutzgesetzes und sieht sogar die Möglichkeit, auf Vorrat mehr als drei Eizellen entnehmen und befruchten zu können, weil mit Hilfe der Gefrierkonservierung der Verschmelzungsprozess von Ei- und Samenzelle rechtzeitig gestoppt und später nachgeholt werden könne. Sie kommt zum Urteil: »Lebensschutz und Freiheitsrechte sind ausbalanciert. Aber Juristinnen und Juristen sowie Politiker/innen streiten über die Gewichte«. Dennoch seien die Maßstäbe »weitgehend klar« (Frommel 2002: 412). Frommel arbeitet heraus, dass sowohl das Embryonenschutzgesetz40 als auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 1975 und 1993 wie auch die
40 Damals noch vor der vorsichtigen Zulassung der PID.
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geltende gesetzliche Regelung zum Schwangerschaftsabbruch in großzügiger Interpretation und unter Absehung von entgegenstehenden verfassungsgerichtlichen Statements, eine »angemessene« Anwendung zulässig erscheinen lassen. Angemessen heißt für sie, dass »eine praktische Konkordanz von Lebensschutz auf der einen und Achtung der Persönlichkeitsrechte der betroffenen Frau auf der anderen Seite« erreicht wird. Dieses Ziel zu verfolgen, attestiert sie allen modernen Rechtskulturen, so auch der deutschen. Deshalb sei »die Abtreibungsreform« so erfolgreich gewesen, »weil sie die Überzeugungskraft einer kontextorientierten Moral in einem für alle lebenswichtigen Bereich etabliert hat«. »Das ungeborene Kind wird mit ihr [der Frau, S.B.], nicht gegen sie geschützt. Es ist ein wertvolles Gut, aber gegen den Willen der Schwangeren hat es in der deutschen Rechtsordnung kein durchsetzbares Recht. Also ist die Rede vom Lebensrecht letztlich metaphorisch« (Frommel 2002: 412). Auf dieser Basis erörtert Frommel die »situationsspezifischen Handlungsgebote auch für die IVF-Therapie« (Frommel 2002: 412). Sie konstatiert einen Wandel in der Bevölkerung in moralischen und religiösen Einstellungen und zur Anwendung reproduktiver Technologien. Dabei erörtert sie innerfeministische Meinungsverschiedenheiten und Einwände gegen die Inanspruchnahme assistierender Methoden, diskutiert auch gattungsethische Bedenken wie etwa die von Jürgen Habermas (2001), kommt aber zu der Einschätzung, dass es eine Gattungsmoral im Sinne der absoluten Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens in keiner Kultur und historischen Phase gegeben habe. Die Gattungsethik habe die Relativierung der Unbedingtheit des menschlichen Lebens in der Abtreibungsfrage überstanden, im Hinblick auf die PID werde sich diese Entwicklung fortsetzen. Die Quintessenz sei, dass positive Pflichten »in egalitären Gesellschaften (bezogen auf die Gleichheit von Männern und Frauen) nur autonom übernommen werden« könnten. Da Mutterschaft kein Geschlechtsschicksal mehr darstelle, weswegen sich in den letzten Jahrzehnten in allen modernen Rechtskulturen (bis auf Polen und Irland) Fristenlösungen oder liberale Indikationenregelungen durchgesetzt hätten, könnten Reproduktionsentscheidungen in egalitären Rechtskulturen nicht mehr repressiv reguliert werden, sondern nur prozedural über Kompetenznormen (Frommel 2002: 416). Des Weiteren erörtert Frommel die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die PID. Sie attestiert der Senatsmehrheit Zirkelschlüsse, deutet aber die Ausführungen zur Beratungslösung und zu den Indikationen sowie die geltenden Regelungen zu den §§ 218 ff StGB derart, dass es »nicht um absolute Rechte« gehe, »sondern um etwas sehr Bescheidenes: um eine sozialverträgliche Konfliktlösung in einer dilemmatischen Situation«. Auch sie betont, dass weder das Beratungskonzept mit seiner faktischen »Freigabe« des Embryos zur Tötung inner-
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halb der ersten zwölf Wochen, noch die weit gefasste »medizinisch-soziale« Indikation verfassungsrechtlich zu rechtfertigen wäre, wenn Embryonen wirklich Grundrechtsträger mit durchsetzbaren Rechten wären (Frommel 2002: 421). D.h. Frommel nimmt die Aussagen der Senatsmehrheit im Urteil von 1993 wegen ihrer Unschlüssigkeit und Widersprüchlichkeit schlicht nicht ernst und deutet sie stattdessen in eine implizite Akzeptanz eines »angemessenen« Kompromisses zwischen Lebensschutz einerseits und Berücksichtigung weiblicher Autonomie andererseits um. Dies müsse dann ebenso zugunsten von Frauen gelten, die im Rahmen einer IVF+ET-Behandlung erst schwanger werden wollen. Das bedeute auch, dass Frauen/Paare ein Recht haben müssten, im Falle entsprechender Vorbelastung eine Untersuchung mit ggf. verwerfender Konsequenz an den befruchteten Embryonen vornehmen zu lassen. Die 2011 erfolgte Lockerung des Verbots der PID gibt ihrer Deutung Recht. Nach Frommels Einschätzung bedeutet das aber kein abgestuftes Lebensrecht für den Embryo, denn ein solches habe das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich verworfen. Dennoch genieße das vorgeburtliche Leben keinen absoluten Schutz (vgl. Frommel 2002: 421). Frommel sieht die Relativierung aber nicht als Folge eines gestuften Lebensschutzes, sondern als Folge eines praktischen Abwägungskonzepts zwischen den Persönlichkeits- und Freiheitsrechten der Frau und einem angemessenen Schutz für den Embryo in vivo und in vitro. Mit der Menschenwürdegarantie, deren Heranziehung Frommel ohnehin für metaphorisch hält, seien sowohl der Schwangerschaftsabbruch nach Beratung vereinbar als auch PND und PID. Trotz Selektivität gehe es praktisch um vergleichbare Dilemmata zwischen Lebensschutz und Autonomie, einmal in der Form negativer, einmal in Form positiver Reproduktivität (vgl. Frommel 2002: 425 f.).
Fazit: Widersprüche aufzeigen und für einen gestuften Lebensschutz argumentieren! Beide vorgestellte Alternativdeutungen befriedigen rechtspolitisch und rechtstheoretisch nicht (vollständig). Ute Sacksofskys Interpretationen sind zu sehr an den in sich widersprüchlichen Statuierungen des Bundesverfassungsgerichts angelehnt, Monika Frommels Darlegungen sind wiederum zu weit entfernt davon und setzen sich gerade über die Spezifika der Rechtsprechung hinweg. Letzteres ist für die fachlich-juristische und öffentliche Auseinandersetzung weniger geeignet, da Leser/-innen schwer nachvollziehen können, was Frommels souveräne Deutung ist und was Aussagen der Senatsmehrheit sind. Frommels summarische Perspektive auf »fast alle modernen Rechtskulturen« abstrahiert von den Kon-
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struktionsdetails der deutschen Regelung, die maßgeblich auf den fragwürdigen Grundprämissen des Bundesverfassungsgerichts beruht. Hilfreicher für eine streitbare Auseinandersetzung wäre es, die Differenzen in den Interpretationen transparent zu machen. Interessant ist, dass sowohl Sacksofsky als auch Frommel bei ihrer Interpretation der Verfassungsrechtslage Anschluss an feministische Überzeugungen suchen: Sacksofsky arbeitet heraus, dass Schwangerschaftsabbruch auch mit der Karlsruher Entscheidung von 1993 liberal und unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen zu regeln wäre, sie unterstützt mit ihrem Plädoyer gegen die PID und mit deren Bewertung als Selektion und Menschenwürdeverstoß die feministischen Gegnerinnen der Reproduktionsmedizin. Dagegen stützt sich Frommel in bewusster Ablehnung der verfassungsgerichtlichen Prämissen auf die feministischen Positionen, wonach die Trennung zwischen Frau und Embryo formalistisch und konstruiert sei. Sie konzentriert sich darauf, die normativen Konsistenzanforderungen für eine Regelung herauszuarbeiten, die mit den weiblichen Grundrechten vereinbar wäre (Gebärpflicht widerspricht Grundrechtsinhaberschaft). In beiden konträren Sichtweisen auf das »intrapersonale« Konfliktverhältnis (Frommel) bzw. das zweipolige Rechtsverhältnis von Embryo und (ungewollt) schwangerer Frau (Sacksofsky) müssten jedoch auch die generellen Anforderungen an die Konstruktion von Rechten und Rechtsinhaberschaft geklärt werden. Sacksofsky räumt ein, dass die Zuschreibung von individuellen Grundrechten zum Embryo keineswegs zwangsläufig sei (2003: 292), entscheidet sich aber dennoch für die Anwendung eines Selektionsverbots bei der PID, das sie aus der Menschenwürdezuschreibung ableitet. Für Inhaber der Menschenwürde verbietet sich nach herrschender Auffassung eine Abwägung mit anderen Interessen, wenn die Menschenwürde verletzt ist. Dies gilt aber nicht unbedingt, wenn der Schutz des Embryos nur objektivrechtlich, also nicht durch individuelle Grundrechtsinhaberschaft, begründet wird. Immerhin lassen sich bei der PID für »Selektion« und Transfer unbelasteter Embryonen durchaus achtenswerte Abwägungsgründe vorbringen (vgl. Frommels Argumentation). All diese rechtstheoretischen und rechtsdogmatischen Widersprüche und Streitpunkte können letztlich nicht ausgeräumt oder versöhnt werden. Sowohl die Argumentation von Sacksofsky als auch die Verteidigungsstrategie des Bundesverfassungsgerichts und seiner Anhänger/-innen beruhen auf der Zielvorstellung, den Grundrechtsschutz normativ »lückenlos« zu machen sowie auf der puren Entscheidung (Kersting 2002: 6), dies durch Einbeziehung des Embryos zu tun. Die Folgen dieser Erweiterung der Grundrechtsgeltung auf das vorgeburtliche menschliche Leben werden sodann durch weitere dezisionistische An-
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ordnungen geregelt, deren Widersprüchlichkeit sich nicht verdecken lässt, weil dies die Rechte der (schwangeren) Frau verletzt. Aber auch Frommels Argumentation enthält logische Lücken, denn die von ihr abgelehnte »utilitaristische« (nutzenorientierte) Betrachtung müsste vorgenommen und erörtert werden, schon um ausschließen zu können, dass dem Embryo ein schwerwiegendes Unrecht widerfährt, wenn sein hypothetisch unterstelltes Lebens- und Würderecht von Seiten der Frau nicht anerkannt wird. Dazu müsste der isolierte Status des Embryos gedanklich durchaus betrachtet werden. Beiden Argumentationen fehlt es somit an der Auseinandersetzung mit der tatsächlichen, materiell erfassbaren Schutz- und Abwehrfunktion von Rechten, die dem Inhaber dazu dienen soll, dass ihm kein materielles Unrecht angetan wird bzw. ein solches in seinem Namen abgewehrt und sanktioniert werden kann. Dies wäre die Voraussetzung für eine subjektivrechtliche Grundrechtszuschreibung. Es stellt sich folglich die Frage, ob eine Rechtsordnung dem vorgeburtlichen Stadium des Menschen Rechte und Rechtsträgerschaften nur zur Herstellung von symbolischer Lückenlosigkeit des Grundrechtsschutzes zuerkennen darf, wenn genau dadurch unauflösbare Widersprüche entstehen, die das Recht der unstreitigen Rechtsträgerin (schwangere Frau) gravierend beschädigen, dem statuierten Rechtsträger Embryo aber nichts »nützen«. Letztendlich wird man beide Perspektiven, die getrennte Betrachtung von Embryo und Frau sowie die feministisch integrierte Sicht auf die »Zweiheit in Einheit«, durchspielen müssen, um auf diese Weise das konträre Modell, einen gestuften Lebensschutz, besser würdigen zu können. Dieser bezieht sich vor der Geburt auf ein »Schutzgut«, das mit fortschreitender fötaler Entwicklung – u.U. auch gegenüber der Schwangeren – stärker geschützt wird als in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft. Jedoch wirkt auch diese Argumentation nicht gegenüber allen Zweiflern überzeugend. Entgegenstehende religiöse Vorstellungen und/oder die willentliche Entscheidung für ein »kategorisches Fundament« (Kersting 2002: 6) lassen sich vermutlich auch durch die besten rechts- und demokratietheoretischen Argumente nicht überwinden. Gleichwohl bleibt es unerlässlich, sich immer wieder gesellschaftlich darüber auseinanderzusetzen und eine Versöhnung der Standpunkte wenigstens zu versuchen.
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Ein Blick über die Grenzen: Die Abtreibungsregelungen der OECD-Länder und ihre Bestimmungsfaktoren im Vergleich E DITH O BINGER -G INDULIS
E INLEITUNG In allen Gesellschaften und Epochen wurden Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, denn betroffene Frauen »haben das Gebären noch nie als unveränderliches Schicksal aufgefasst, egal, wie hart die Strafen waren, die ihnen nach einer Abtreibung drohten«.1 Kaum ein anderes Thema ist weltweit so umstritten wie die Zulässigkeit von Abbrüchen. Im Widerstreit stehen dabei religiöse sowie moralisierende, emanzipatorische und feministische Wertvorstellungen. In den leidenschaftlich geführten Kontroversen stoßen unversöhnliche Positionen aufeinander: »Pro-Choice«, die Forderung, nach Legalisierung, und »Pro-Life«, die Forderung nach absolutem Schutz des Ungeborenen. Die unterschiedliche Gewichtung dieser Positionen hat eine internationale Rechtsvielfalt zur Folge, welche sich nicht linear mit gegensätzlichen religiösen und ethischen Vorstellungen einer Bevölkerung erklären lässt (anders Minkenberg 2002, 2003). Viele Staaten mit hohem katholischem Bevölkerungsanteil wie Belgien, Frankreich, Italien, Österreich, Portugal und Spanien haben liberale Gesetze eingeführt, während in protestantisch bzw. anglikanisch geprägten Ländern wie Finnland, Großbritannien und Neuseeland der Liberalisierungsgrad geringer ist. Ungleich stärker als andere Bereiche staatlicher Steuerung wird dieses konfliktive Politikfeld von gesellschaftlichen und parteipolitischen Kräfteverhältnissen sowie den institutio-
1
Bergmann, Christine: Die Mär vom Schutz, in: Die Zeit vom 8. Mai 1992, S. 80.
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nellen Besonderheiten des nationalen politischen Systems geformt (vgl. Gindulis 2003). Der vorliegende Beitrag skizziert zunächst die historische Entwicklung der nationalen Gesetzgebungen. Die anschließenden Abschnitte stellen die divergierenden Abtreibungsregime der OECD-Kernländer dar und analysieren ihre parteipolitischen sowie institutionellen Bestimmungsfaktoren. Eine Zusammenfassung der zentralen Befunde schließt den Beitrag ab.
H ISTORISCHE E NTWICKLUNG Kaum ein anderes Rechtsgebiet hat in den vergangenen Jahrzehnten international eine größere Reformwelle erlebt als das Strafrecht über den Schwangerschaftsabbruch. Die meisten Länder haben eine rechtspolitische Wandlung vollzogen. Die Gesetzgeber begnügten sich vielfach nicht mit Detailkorrekturen, sondern stellten das Recht auf ein völlig neues Fundament. Bemerkenswert sind jedoch nicht allein der Reformeifer, sondern auch die verschiedenen rechtspolitischen Wege, welche dabei beschritten wurden. Das gegenwärtige Spektrum geltender Abtreibungsregimes reicht vom Verbot (z.B. Irland, Malta und Polen)2 über stark eingeschränkte Zulässigkeit (z.B. Australien) bis hin zu einer völlig offenen Regelung (z.B. Schweden). Die Neugestaltung der politischen Regulierung der Schwangerschaftsunterbrechung verlief in 22 OECD-Ländern3 zeitlich gestaffelt (vgl. Becker 1972; Eser/Koch 1988, 1989, 1999; Europäisches Parlament 1994; European Network 1996; United Nations 2007). Die Reform setzte mit fortschreitender Säkularisierung und Modernisierung zunächst in Großbritannien4 (Abortion Act von 1968) ein, um alsbald auf die nordischen sowie englischsprachigen und schließlich auf
2
In Irland, Malta und Polen ist der Abbruch einer Schwangerschaft, außer als gesundheits- und lebensrettende Maßnahme, untersagt (United Nations 2007).
3
Bei den 22 Demokratien handelt es sich um Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Luxemburg, Neuseeland, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, die Schweiz und die USA, Griechenland, Portugal und Spanien. Die Auswahl der Länder basiert auf einem »most-similar-cases-design«.
4
Ohne Nordirland.
D IE A BTREIBUNGSREGELUNGEN DER OECD-L ÄNDER IM V ERGLEICH
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die mitteleuropäischen Länder überzugreifen.5 Zu Beginn der 1970er Jahre modifizierten Dänemark, Finnland und Schweden ihr Abbruchsrecht. Eine Liberalisierung der Gesetzgebungen erfolgte ebenfalls in den Einzelstaaten bzw. Provinzen von Australien, Kanada und den USA. Vorausgegangen waren bedeutsame Gerichtsurteile, welche als Impulsgeber fungierten (Moors 1997). In der Folgezeit reformierten auch Österreich, Frankreich, Norwegen, die Bundesrepublik Deutschland, Neuseeland, Italien und Luxemburg ihre Strafvorschriften. In den 1980er Jahren erfasste die Reformwelle zuerst die Niederlande, anschließend Portugal, Spanien und Griechenland. Die Schlusslichter stellen Belgien, Japan und die Schweiz dar. Die über hundertjährige belgische Rechtsordnung wurde nach langen und kontroversen Diskussionen 1990 umgestaltet. In Japan erfuhr der Abtreibungsparagraf Ende der 1990er Jahre eine einschneidende Novellierung. In der Schweiz wurde der einschlägige Strafartikel von 1942 nach langem und zähem Ringen erst 2002 reformiert. Im Sommer 2007 liberalisierte Portugal sein Abbruchsrecht, nachdem 1998 ein Versuch gescheitert war.6 Im Juli 2010 novellierte auch Spanien erneut sein Abtreibungsgesetz.7
I NTERNATIONALE R EGELUNGSFORMEN Hinter den Gesetzgebungen der OECD-Länder verbirgt sich in der Regel ein umfangreiches Motivbündel, das durch verschiedene Detailbestimmungen umgesetzt wird. Im Vordergrund steht dabei der rechtspolitische Konflikt um den Grad der Schutzwürdigkeit des werdenden Lebens und der Anerkennung der Rechte von Frauen, wie das Recht auf Gesundheit und Leben, auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Recht auf Privatsphäre.8 Je nach Gewichtung dieser Rechtsgüter wird dieser Zielkonflikt durch entsprechende Verbots- und Erlaubnisnormen austariert. Die Rechtsordnungen sind dementsprechend vielfältig. Neben gleichartigen Regelungselementen kann eine erhebliche Bandbreite von Detailunterschieden bis hin zu völlig gegensätzlichen Rechtspositionen und Regelungsformen konstatiert werden.
5
Die Reformwelle in Europa setzte zunächst in den hier nicht berücksichtigten sozialistischen Staaten ein, die bereits 1955 mit der Umgestaltung ihrer Abtreibungsgesetze begannen (Koch 1985: 1043).
6
Neue Züricher Zeitung vom 12. August 2012.
7
Frankfurter Rundschau vom 26. Februar 2010, S. 8.
8
Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes.
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Hinsichtlich der formalen Erfordernisse für einen zulässigen Schwangerschaftsabbruch sind im internationalen Vergleich erhebliche Differenzen sichtbar. Bei der Auswertung der Gesetzgebungen muss auf Feinheiten verzichtet werden, da es für den Vergleich der Generalisierung bedarf. Im Folgenden sollen deshalb die international typischen Regelungselemente, welche im Einzelfall ebenso kumulativ auftreten können, aufgezeigt werden. Dabei handelt es sich explizit um die formalrechtlichen Komponenten eines Gesetzes und nicht um seine Anwendungspraxis. Die Problematik der Implementation wird, da nicht zuletzt große innerstaatliche Unterschiede auftreten und die Rechtswirklichkeit einer Gesetzgebung über den Abbruch schwer messbar ist, in dem vorliegenden Beitrag nicht erörtert. Die Bestimmungen sind in den meisten Ländern sowohl im Sozial- als auch im Strafgesetzbuch verortet.9 Innerhalb des strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Rahmens gibt es drei Grundformen der Gesetzgebung (Eser/Koch 1988, 1989, 1999; Europäisches Parlament 1994; European Network 1996; United Nations 2007): 1.
Indikationslösung (Modell stark bis mäßig eingeschränkter Zulässigkeit): Sie schließt die Rechtswidrigkeit eines Abbruchs aus, wenn die im Gesetz ausgestalteten Bedingungen erfüllt sind und der Eingriff innerhalb einer angegebenen Schwangerschaftsdauer erfolgt. Die rechtsverbindliche Feststellung ist der Ärztin/dem Arzt (bzw. der beratenden Person) überlassen. Das Indikationsmodell findet sich in Australien, Finnland, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Luxemburg und – mit außergewöhnlich restriktiver Strafbestimmung – in Irland.
2.
Fristenlösung (Modell weiter rechtlicher Zulässigkeit): Hier besteht eine Straflosigkeit, wenn der Eingriff binnen einer bestimmten Frist der Schwangerschaftsdauer erfolgt. Die Frau ist grundsätzlich berechtigt, selbst über den Abbruch einer Schwangerschaft zu entscheiden. Länder, in denen das Fristenmodell zur Anwendung kommt, sind Dänemark, Griechenland, Norwegen, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden und die USA.
9
Während z.B. das schwedische Abbruchsgesetz lediglich im Sozialrecht angesiedelt ist, wird die österreichische Regelung zusätzlich im Strafgesetzbuch flankiert.
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3.
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Drittens gibt es eine Mischform (Modell weiter rechtlicher Zulässigkeit bei gleichzeitiger expliziter Bewertung des Eingriffs als grundsätzlich zu vermeidendem Ausnahmefall): Für die Zulässigkeit einer Abtreibung kommt es substanziell auf das Vorliegen einer »Notlage« bzw. »Notsituation« an. Im Gesetz wird jedoch nicht versucht, die in Betracht kommenden Fälle genauer zu umschreiben. Die rechtsverbindliche Einschätzung ist der Frau oder einer gemeinsamen Entscheidungsfindung von Patientin und Ärztin/Arzt (bzw. beratender Person) überlassen. Staaten, in denen heute eine Mischformregelung gilt, sind Belgien, Deutschland, Frankreich, die Niederlande und die Schweiz.
Die rechtlichen Rahmenbedingungen bei einem zulässigen Abbruch sind vielfältig. In einschlägigen Publikationen werden jedoch vor allem die Frage nach der Kostenübernahme durch die Institutionen der Krankenversicherung sowie der Wartefrist zwischen Beratung und Eingriff als essenzielle Kriterien betroffener Frauen geltend gemacht (vgl. König 1980; Evert/van Praag 1985; Europäisches Parlament 1994). Die längste Wartezeit weist das französische Abtreibungsgesetz auf. Demnach muss nach Konsultation eines Arztes bis zum Eingriff eine Karenzzeit von sieben, ab Sozialberatung eine Wartezeit von zwei Tagen vergangen sein. Diese Fristen können jedoch parallel laufen (vgl. Wüst-Reichenbach 1988: 526). Inwieweit die Frau die Kosten der Behandlung selbst tragen muss oder diese von Institutionen der Krankenversicherung übernommen werden, ist ebenfalls unterschiedlich geregelt. In Deutschland z.B. wurde das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit mehrfach mit dem Ziel bemüht, die Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung für nicht rechtswidrige Abbrüche lediglich auf strenge Fälle der medizinischen Indikation zu beschränken.10 In seinem Urteil vom 28. Mai 1993 verdeutlichte das Bundesverfassungsgericht, dass es mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, Ansprüche auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung für die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen zu gewähren, deren Rechtmäßigkeit nicht in einer den zuvor entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäben entsprechenden Weise festgestellt wurde. Folglich werden die Kosten für einen Eingriff im Rahmen der Beratungsregelung nicht übernommen. Nur in attestierten Indikationsfällen erfolgt eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen.11 In der Schweiz musste ein Entscheid des Bundesgerichts klären, dass die Krankenkassen an die ärztliche Indikationsbeurteilung gebunden und somit nicht befugt sind, die Rechtmäßigkeit einer Ab10 BVerfGE 67, 26. 11 BVerfGE 88, 201, 312.
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treibung selbstständig nachzuprüfen (vgl. Koch 1992: 220). Zuletzt wurde am 9. Februar 2014 in einer Volksinitiative erfolglos versucht, die Finanzierung des induzierten Aborts aus der obligatorischen Grundversicherung zu streichen.12 Hingegen gibt es zur medizinischen Methode kaum Bestimmungen. Das im Einzelfall anzuwendende Verfahren bleibt grundsätzlich dem behandelnden Arzt überlassen. Regelungen über die apparative und personelle Mindestausstattung der Einrichtungen gibt es z.B. in Frankreich, Großbritannien und Schweden, d.h. Vorschriften über Abgabe und Anwendung von Mifepristone (RU-486) als Mittel zur medikamentösen Durchführung legaler Abtreibungen (vgl. Koch 1992: 48). Im Jahre 1988 wurde in Frankreich, erstmals in Europa, dieses neue Medikament arzneimittelrechtlich zugelassen. Großbritannien führte 1991, Schweden 1992 und Deutschland sowie Österreich 1999 Mifepristone ein. Seit dem Jahr 2000 ist in den meisten westeuropäischen Ländern das Medikament RU-486 erhältlich. In fast allen diesen Staaten wurden zuvor intensive Debatten über seine Zulassung geführt.
P ARTEIPOLITISCHE E INFLUSSFAKTOREN Parlament und Regierung können auf gegebene Problemlagen höchst unterschiedlich reagieren. Für den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess kommt den Parteien eine Schlüsselrolle zu. Dementsprechend unterscheiden sich Politikergebnisse in Abhängigkeit der ideologischen Präferenzen der regierenden Parteien. Insbesondere im Hinblick auf moralisch-ethische Fragen (vgl. Knill u.a. 2013) ist zu vermuten, dass Linksparteien (sozialdemokratische sowie weiter links von ihnen positionierte Parteien) und liberale Parteien, welche sich programmatisch der Geschlechteregalität bzw. dem unteilbaren Recht auf einen selbstbestimmten Lebensentwurf von Frauen und Männern verpflichtet fühlen, andere Politiklösungen favorisieren als säkular-konservative Parteien oder christdemokratische Parteien, die sich durch eine besondere Nähe zur katholischen Kirche bzw. durch eine konservative Frauen- und Familienpolitik auszeichnen. In der Regel verfolgen Linksparteien beherzter als andere politische Parteien eine progressive Geschlechterpolitik, welche die universelle Gleichheit zwischen Frauen und Männern anstrebt. Vor allem in protestantisch geprägten Ländern nehmen sie einen außerordentlich liberalen Standpunkt in der Frauen- und Familienpolitik ein. Das gilt etwa für Dänemark, Norwegen und
12 http://www.parlament.ch/d/dokumentation/dossiers/abtreibung/Documents/12-052argumentarien-pro-d.pdf (Zugriff am 24.05.2014).
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Schweden. Im Unterschied zu den säkular-konservativen Parteien stellt für Linksparteien der Abbau sozialer und gesellschaftlicher Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Eingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt traditionell eine bedeutende politische Aufgabe dar (vgl. Schmidt 1993a: 64-65). Eine detaillierte Betrachtung der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung im Gesetzgebungsjahr unterstützt die Parteiendifferenzthese: Säkularkonservative Regierungsparteien wie in Neuseeland (1977) gestalteten das Abbruchsrecht restriktiver, während sozialdemokratische Regierungen wie in Dänemark (1973), Österreich (1975), Schweden (1975), Norwegen (1976), Griechenland (1986), Portugal (2007) und Spanien (2010) liberale Regelungen eingeführt haben (vgl. Gindulis 2003: 68 ff.). In Irland hingegen fand das Verfassungsreferendum von 1983 Unterstützung bei der säkular-konservativen Fianna Fáil (vgl. Luthardt 1994: 80). In Ländern mit starken säkular-konservativen Parteien, die am traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenverständnis festhalten, ist das Abtreibungsgesetz einschränkender gestaltet. In der Regel legen diese Parteien hohe Priorität auf die Aufrechterhaltung einer Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, welche die Mutterschaft und Familienbetreuung als Hauptaufgabe von Frauen hervorhebt (vgl. Schmidt 1993a: 64). Sie verfolgen, besonders bei ideologischer Nähe zur katholischen Kirche, eine konservative Familien- sowie Frauenpolitik. Damit lässt sich beispielsweise das ungewöhnlich restriktive Strafgesetz Irlands begründen, wo Fianna Fáil lange Zeit die Regierungspartei stellte. Auch gegen das aktuelle Ergänzungsgesetz zum Rechtsanspruch der Frauen auf einen Abort bei Fällen von »realer und erheblicher Gefährdung des Lebens« hatte vor allem die katholische Kirche gekämpft.13 Dieses Gesetz war notwendig geworden, nachdem 2012 die Zahnärztin Savita H. aufgrund unterlassener ärztlicher Hilfeleistung verstorben war. Der 31-Jährigen war trotz schwerer gesundheitlicher Beschwerden ein Abbruch mit Verweis auf den noch vorhandenen Herzschlag des abgehenden Fötus verweigert worden. Nach zwei Tagen starben das Ungeborene und kurz darauf auch die Mutter an einer Blutvergiftung.14 13 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Juli 2013, S. 1-2. 14 Süddeutsche Zeitung vom 14. November 2012. In Polen wurde 2000 einer Schwangeren trotz medizinischer Indikation ein Abbruch verweigert. Alicja T. brachte das Kind zur Welt und erkrankte schwer, sodass sie seitdem Invalidin ist. 2003 verklagte sie den polnischen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf Entschädigungszahlung. Dieser stellte am 20. März 2007 fest, dass der polnische Staat seine Pflicht zum Schutz und Achtung des Privatlebens der Beschwerdeführerin aus Art. 8 EMRK verletzt hatte. Das Gericht sprach ihr dafür u.a. Schmerzensgeld zu (Urteil 5410/03, Tysiac v. Poland).
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Kein Zusammenhang zwischen der parteipolitischen Färbung der Regierung und dem Abtreibungsregime lässt sich für liberale Parteien feststellen. Dies dürfte an Koalitionszwängen liegen, da sich liberale Parteien oft als koalitionspolitisch flexibel erwiesen haben. Sie sind typischerweise in Regierungsbündnisse mit linken oder christdemokratischen Parteien eingebunden und tragen entsprechende Gesetzentwürfe bzw. Ergebnisse mit. Beispielweise war die Gesetzesvorlage der FDP 1992 zur zweiten Reform des § 218 StGB in verfahrensrechtlicher Hinsicht einschränkender gestaltet als jener Entwurf, den die Freidemokraten gemeinsam mit Teilen der SPD zur Modifizierung des Strafparagrafen im Jahr 1973 verfasst hatten. In Bezug auf christdemokratische Regierungsparteien ist im internationalen Vergleich auffällig, dass sie hinsichtlich der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch, besonders wenn sie mit starken Linksparteien um Wählerstimmen konkurrieren, einen rechtspolitischen Mittelweg gewählt haben. Als mittlerer Weg kann z.B. die italienische und deutsche Rechtsbestimmung bezeichnet werden. Auch Finnland, das einen hohen Anteil christdemokratischer Parteien an den Kabinettssitzen aufweist, verfügt über ein offenes Indikationsmodell. In Belgien gilt eine Mischformlösung, wohingegen in den Niederlanden 1984 der liberal-christdemokratische Gesetzgeber sogar eine Fristenregelung einführte. Die vom Trend abweichenden Länder sind Japan, Kanada und die USA. Trotz der geringen Beteiligung von Linksparteien und starken säkular-konservativen Regierungsparteien weisen diese Länder eine liberale Gesetzgebung auf. Für den japanischen Fall spielt das Politikerbe der Vergangenheit, allen voran eine militärisch motivierte pronatalistische Bevölkerungspolitik, eine wichtige Rolle. In Japan dominierte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein konservatives, patriarchalisches und staatsinterventionistisches Muster der Gesetzgebung, das auch im Abtreibungsregime erkennbar wird (vgl. Korpi 1989: 154-155). Im Vergleich zu den übrigen Regelungsformen der OECD-Staaten ist das japanische Eugenikschutz- bzw. Mutterschutzgesetz aus dem Jahr 1948 bzw. 1996 in verfahrensrechtlicher Hinsicht dem offenen Indikationsmodell zuzuordnen. Das liberale Recht wurde durch die regierenden Koalitionsparteien PP (Progressive Reform Party)15, SPJ (Japan Socialist Party) und CP (Japan Cooperative Party)16 im Zuge bevölkerungspolitischer Maßnahmen eingeführt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte das Land im Zuge seiner militärischen Expansionsbestrebungen auf dem Festland eine pronatalistische Politik verfolgt (vgl. Githens/ 15 Die Progressive Reform Party (PP) wird aufgrund ihrer parteipolitischen Programmatik den säkular-konservativen Parteien zugeordnet. 16 Die Japan Cooperative Party (CP) wird aufgrund ihrer parteipolitischen Programmatik den säkular-konservativen Parteien zugeordnet.
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McBride Stetson 1996: 120). Nach dem Verlust aller kontinentalen Besitzungen sah sich Japan mit der Situation einer drohenden Überbevölkerung konfrontiert. In wenigen Jahren schaffte das Land, seine Geburtenrate zu halbieren, wobei die Liberalisierung der Abtreibungsvorschrift das entscheidende Instrument darstellte (vgl. Jürgens 1980: 18). Im Jahr 1948 wurde von einer konservativen Regierungskoalition das Gesetz über die Volkshygiene verabschiedet, welches »minderwertigen Nachwuchs« verhindern und Leben sowie Gesundheit der Frauen schützen sollte (Heiss 1967: 232). 1952 wurde eine ethisch-humanitäre, eugenische und soziale Indikation eingeführt, wonach die Schwangerschaft unterbrochen werden durfte, wenn die »wirtschaftlichen Umstände« der Frau ihre Gesundheit ernstlich gefährdeten (Simson/Geerds 1969: 112). Der rechtmäßige Abbruch darf aber nur mit Zustimmung des »Ehe«-Partners erfolgen (Yamamoto/Yamamoto/Hayase 1993: 178). Kanada und die USA weisen trotz fehlender Regierungsbeteiligung von Linksparteien permissive Regelungen auf. In beiden Föderalstaaten waren es die jeweiligen Höchstgerichte, die den Schwangerschaftsabbruch durch aufsehenerregende Urteile über ›Nacht‹ legalisierten (Moors 1997). Dies zeigt, dass die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung Staatstätigkeit nicht vollständig erklären kann. Ein zentraler Grund dafür ist, dass der politische Handlungsspielraum von Regierungen in der Willensbildung und Entscheidungsfindung durch institutionelle Rahmenbedingungen abgesteckt wird (vgl. Schmidt 1993b: 378).
I NSTITUTIONELLE E INFLUSSFAKTOREN Beispiele für Institutionen, welche den Gestaltungsspielraum von Legislative und Exekutive einschränken können, sind der Föderalismus, eine Verfassungsgerichtsbarkeit, Referenden, ein symmetrisches Zweikammersystem oder das Verhältniswahlrecht. In Australien obliegt die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch zwar den Gliedstaaten. Die Rechtslage in den Gliedstaaten wurde aber besonders durch die englischen Entscheidungen R. v. Bourne17 (1939) sowie durch die ein-
17 R. v. Bourne (1939), 1 K.B. (Law Reports, King´s Bench Division) 687. Es handelt sich um ein Verfahren gegen den Arzt Aleck Bourne, der 1938 in einer Londoner Klinik bei einem 15-jährigen schwangeren Mädchen, welches Opfer einer Vergewaltigung war, einen Abbruch vornahm. Bis dato war jedoch der Abort nur zur Abwendung einer Gefahr für das Leben der Frau erlaubt.
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zelstaatlichen Gerichtsurteile R. v. Davidson18 (1969), R. v. Wald and Other19 (1971) verbindlich festgestellt und in einem liberalen Sinn weiterentwickelt (vgl. Scutt 1989: 88). Deshalb weisen die Rechtsordnungen der Einzelstaaten einander gleichende Normierungen auf. So haben beispielsweise Westaustralien, Victoria und das Australian Capital Territory (Bundesterritorium ACT) eine Fristenregelung eingeführt und den Abortparagrafen aus ihrem Strafrecht gestrichen. In Kanada obliegt die Strafrechtskompetenz dem Bund und damit auch die Gestaltung der Strafbestimmung zum unerlaubten Abort. Die Gesetzgebung zum erlaubten Eingriff dagegen erfolgt durch die Provinzen. Allerdings hat der Oberste Gerichtshof eine Reihe von Entscheidungen im Zeitraum zwischen 1975 und 1998 getroffen, die den Provinzen wenig Gestaltungsspielraum für individuelle Regelungen ließen (vgl. Moors 1997: 141 ff.). Insbesondere im Januar 1988 hat der kanadische Supreme Court das Abtreibungsstrafrecht aufgehoben und damit einen Strafbarkeitsfreiraum geschaffen. In seiner Morgentaler-Entscheidung20 befand er die Strafbestimmung für verfassungswidrig, weil das vorgehende Verfahren der Feststellung der Zulässigkeit eines Eingriffs vor dessen Durchführung die Frau unzumutbar beeinträchtigte. Die folgenden parlamentarischen Auseinandersetzungen blieben mit dem Versuch, ein neues Gesetz zu verabschieden, bis heute erfolglos. In den USA dagegen liegt die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch ausschließlich bei den Einzelstaaten, jedoch prägten verfassungsrechtliche Argumente die US-amerikanischen Abtreibungsgesetze maßgeblich. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs zwischen 1971 und 2002, an denen sich die einzelstaatlichen Gesetzesvorhaben stets orientieren müssen (vgl. Moors 1997: 83 ff.). Folglich weisen die entsprechenden Vorschriften der einzelnen Gliedstaaten übereinstimmende Rechtselemente auf.21 Der Supreme Court der USA hat insbesondere in seinem Urteil Roe v. Wade22 1973 ein deutliches Votum für das Entscheidungsrecht der Frau abgegeben und damit konkrete Vorgaben an die zuständigen bundesstaatlichen Gesetz-
18 R. v. Davidson (1969) V.R. (Victorian Reports) 667. 19 R. v. Wald and Other (1971) 3 N.S.W.D.C.R. (New South Wales District Court Reports) 25. 20 Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385, 1988. 21 Die Verfassungsgerichtsbarkeit der Supreme Courts in den USA und den Commonwealth-Staaten ist auf die konkrete Normenkontrolle, also die Prüfung der in einer konkreten Einzelfallentscheidung sich stellenden verfassungsrechtlichen Fragen, beschränkt. 22 Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 1973.
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geber formuliert.23 Der Oberste Gerichtshof Kanadas vermied dagegen ein ausdrückliches Urteil im rechtspolitischen Konflikt um die Schutzwürdigkeit der konkurrierenden Rechtsgüter. Beide Verfassungsgerichte haben durch ihre Entscheidungen den Schwangerschaftsabbruch abrupt liberalisiert. Im Konflikt um die Vorrangigkeit der zentralen Rechtsgüter haben die nationalen Verfassungsgerichte jedoch beachtenswert differierende Entscheidungen gefällt. Einige bestätigten den restriktiven Status quo, andere verwarfen ihn und ließen progressive Neuregelungen als verfassungsmäßig passieren. Im internationalen Vergleich ist eine Tendenz zur Bestätigung der Reformgesetzgebung hinsichtlich ihrer Verfassungskonformität durch die Gerichte festzustellen. So trieb beispielsweise in Italien der Verfassungsgerichtshof mit zwei richtungsweisenden Urteilen aus den Jahren 1971 und 1975 die Reform des Abtreibungsparagrafen voran (vgl. Bosch/Menges 1988: 831). In Österreich (1974), Frankreich (1975), Portugal (1984) und Belgien (1991) bestätigte die Verfassungsgerichtsbarkeit die Änderung des Abbruchsrechts. In Irland (1992) ordnete der Supreme Court an, das Abtreibungsverbot in Fällen auszusetzen, wenn das Leben der Mutter unmittelbar gefährdet ist. Als eine Ausnahme erwiesen sich jedoch die Entscheidungen der Verfassungsgerichte in Deutschland und in Spanien. Beide Gerichte, das Bundesverfassungsgericht 197524 sowie 199325 und das spanische Tribunal Constitucional 1985, erklärten die Liberalisierung der Strafvorschriften für verfassungswidrig (siehe dazu Gindulis 2003: 77 ff.). Das in Spanien bis zum Jahre 1985 gültige Recht stellte den Schwangerschaftsabbruch ausnahmslos unter Strafe und ging im Wesentlichen auf den Código Penal von 1848 zurück (vgl. Perron 1988: 1634). Seine Änderung erwies sich als eines der schwierigsten Gesetzgebungsverfahren in der Geschichte der jungen spanischen Demokratie. Im Jahre 1982 legte die sozialistische Regierung kurz nach ihrem Wahlsieg einen Reformentwurf vor, der ein Indikationsmodell vorsah. Nach hitzigen Debatten verabschiedete das Parlament im November des folgenden Jahres diese Vorlage als Gesetz (vgl. Perron 1988: 1635). Aufgrund einer von der Opposition beim Verfassungsgericht initiierten Normenkontrollklage konnte es jedoch nicht in Kraft treten. Das Gericht erklärte in seinem Ur23 Allerdings hat in einzelnen Bundesstaaten der USA eine Entwicklung zur restriktiven Regelung eingesetzt, seit der Supreme Court 1989 mit der Entscheidung Webster v. Reproductive Health Services den Einzelstaaten einen größeren Gestaltungsspielraum zugestanden hat (vgl. Sollom 1991: 82-85). Diese Stärkung der einzelstaatlichen Regelungskompetenz wurde in der Entscheidung Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania v. Casey von 1992 verstärkt fortgeführt (vgl. Moors 1997: 123 ff.). 24 BVerfGE 39, 1, 43. 25 BVerfGE 88, 203, 251.
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teil vom 11. April 1985 den Gesetzbeschluss, der eine zaghafte Liberalisierung der Strafvorschriften vorsah, für verfassungswidrig. In der Folge trat im Juni 1985 eine seinen detaillierten Auflagen entsprechende Regelung in Kraft, wonach der Abbruch einer Schwangerschaft in besonders eng umgrenzten Fällen straflos blieb (vgl. Perron 1988: 635). Die spanische Rechtsordnung wurde somit ähnlich wie in Deutschland zunächst durch einen Verfassungsgerichtsentscheid verschärft. Deshalb wies Spanien, trotz starker Regierungsbeteiligung von Linksparteien, lange Zeit ein äußerst einschränkendes Abtreibungsregime auf. Erst 2010 gelang der sozialistischen Regierung unter der Führung von Luis Rodriguez Zapatero gegen den Widerstand der Opposition – angeführt von der konservativen Volkspartei Partido Popular (PP) – eine grundlegende Liberalisierung des Abbruchsrechts. Die konservative Nachfolgeregierung unter der Führung des konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy (PP) versucht, diese Liberalisierung gegenwärtig rückgängig zu machen. Am 20. Dezember 2013 hat das spanische Kabinett beschlossen, die geltende Fristenregelung durch ein restriktives Indikationsmodell zu ersetzen. »Das Leben des Ungeborenen sei ein Grundwert, und der Staat sei verpflichtet, dies zu verteidigen«, führte Justizminister Alberto Ruiz-Gallardón als Begründung an.26 Der Entwurf muss jedoch das Parlament passieren. Eine Annahme gilt als wahrscheinlich, da Rajoys rechtskonservative Volkspartei dort über eine absolute Mehrheit verfügt. Die Gerichtsentscheide des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind zweifellos Entscheidungen mit politischer Wirkung wie z.B. seine Entscheidungen zur eingeschränkten Strafbarkeit von Haschisch-Besitz27, zur Straffreiheit von Sitzblockaden28, zum Kruzifix-Verbot29 und zum Tucholsky-Zitat »Soldaten sind Mörder«30. Das gilt auch für das zweite Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Schwangerschaftsabbruch31 von 1993. Hier hatte das Gericht mit außerordentlich detaillierten »ersatzgesetzgeberischen« Vorgaben für Legislative und Exekutive die politische Streitfrage um die Reform der §§ 218 ff. StGB entschieden (Scholz 1999: 8). Die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit öffnet sich einer Einbeziehung in den politischen Prozess, anders als beispielsweise in den USA, durch die grundgesetzlich ermöglichte abstrakte Normenkontrolle. So be26 Vgl. Derichsweiler, Cornelia (2013): Spanien verschärft Abtreibungsrecht, Neue Züricher Zeitung vom 20.12.2013, siehe: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/spanienverschaerft-das-abtreibungsrecht-1.18209008 (Zugriff am 14.01.2013). 27 BVerfGE 90, 145. 28 BVerfGE 92, 1. 29 BVerfGE 93, 1. 30 BVerfGE 93, 266. 31 BVerfGE 88, 203.
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müht sich die jeweilige Opposition bisweilen, ihren parlamentarisch unterlegenen Vorstellungen durch den Gang vor das Bundesverfassungsgericht möglichst doch noch zum Sieg zu verhelfen, was die Gerichtsbarkeit über die Verfassungsanwendung hinaus in eine »aktive politische Funktion« führt (Nova 1976: 118). Wie in Deutschland wird ebenso in anderen westeuropäischen Staaten, welche über eine Verfassungsgerichtsbarkeit verfügen, eine Tendenz zu einer »Justizialisierung der Politik« (Loewenstein 1969) beklagt. Ein weiterer institutioneller Vetopunkt ist die direkte Demokratie. Das Volk wird dann zum Vetospieler, wenn es die Möglichkeit hat, per Referendum ein Gesetz zu verwerfen. Irland hat beispielsweise als erstes Land Europas mit einem Volksentscheid das Recht des Ungeborenen auf Leben in den Rang einer Verfassungsnorm erhoben und damit dem Lebensrecht der schwangeren Frau ausdrücklich gleichgestellt.32 Im internationalen Vergleich lässt sich allerdings kein eindeutiger Effekt von Referenden auf die Ausgestaltung des Abbruchsrechts feststellen. Eine besondere Bedeutung kommt der Direktdemokratie in der Schweiz zu: Zwischen 1970 und 2002 wurden drei erfolglose Versuche einer Modifizierung der Strafvorschrift unternommen. In drei Abstimmungen wies das Schweizer Volk drei mögliche Varianten einer Neuregelung des Abtreibungsparagrafen von 1942 zurück. Dabei verwarf es sowohl Vorlagen zur liberalen als auch zur restriktiven Änderung: Eine Volksinitiative für die Fristenlösung, einen indirekten Gegenentwurf des Bundesrats auf der Grundlage eines permissiven Indikationsmodells und zuletzt die Volksinitiative »Recht auf Leben«, welche zukünftige Liberalisierungsbemühungen verhindern sollte. Erst ein erneuter Urnengang im Juni 2002 öffnete den Weg für eine liberale Abtreibungsgesetzgebung. Die Befürworter setzten sich aus liberalen Parteien, Linksparteien sowie Frauenorganisationen zusammen, während Konfessionsparteien, Kirchenvertreter und zahlreiche Lebensschutzorganisationen gegen eine Liberalisierung mobilisierten. In Irland gilt seit 1861 der »Offences Against the Person Act«, wonach Abtreibung, außer als lebensrettende Maßnahme, untersagt ist. Um zukünftige Liberalisierungsbestrebungen des Strafrechts zu verhindern, setzte sich die »Pro-Life Amendment Campaign« gemeinsam mit der »Society for the Protection of Unborn Children« und der katholischen Kirche für ein Verfassungsreferendum ein, mit dem das Recht des Ungeborenen auf Leben in den Rang einer Verfassungsnorm erhoben werden sollte (vgl. Huber 1988: 780). Parteipolitische Unterstützung fanden sie bei der säkular-konservativen Fianna Fáil (vgl. Luthardt 1994: 80). Am 7. September 1983 sprach sich die Bevölkerung mit 841.000 gegen 416.000 Stimmen bei einer geringen Wahlbeteiligung von 54 % für die Än32 Eighth Amendment to the Constitution Bill, 1983.
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derung aus.33 In Art. 40 Abs. 3 Nr. 3 der irischen Verfassung heißt es: »Der Staat anerkennt das Recht des ungeborenen Lebens mit gebührender Rücksicht auf das Leben der Mutter, und er verbürgt sich in seinen Gesetzen, dieses Recht zu achten und, soweit dies durchführbar ist, es zu verteidigen und zu schützen«. So enthält der Maastrichter Vertrag vom Februar 1992 ein Protokoll, das Irland gestattet, Frauen davon abzuhalten wegen eines Schwangerschaftsabbruchs in EULänder zu reisen, deren Gesetzgebung einen legalen Eingriff ermöglicht (vgl. Luthardt 1994: 81). Insgesamt liefern institutionelle Vetospieler in Form einer Verfassungsgerichtsbarkeit und der Direktdemokratie einen hohen Beitrag zur Erklärung der politischen Regulierung der Schwangerschaftsunterbrechung einzelner OECDStaaten. In Deutschland und Spanien hat das Verfassungsgericht die liberale Reformbestimmung verworfen, eine Reihe von detaillierten Vorgaben aus der Verfassung für den Gesetzgeber abgeleitet und damit den Gestaltungsspielraum der politischen Akteure zunächst limitiert. Im Gegensatz dazu wurde in Kanada und den USA das Abbruchsrecht der Provinzen bzw. Einzelstaaten durch höchstrichterliche Entscheidungen »über Nacht« liberalisiert. Während in Kanada dies durch die Aufhebung des Strafgesetzes erfolgte, hat der Supreme Court in den USA das »right of privacy« der Frau als Selbstbestimmungsrecht über eine Schwangerschaft definiert, dem Ungeborenen den verfassungsmäßigen Schutz bis zu seiner autonomen Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs abgesprochen und die Einführung der Fristenregelung auf Bundesstaatenebene forciert (vgl. Brugger 1986). Während in Italien das Volk 1981 das neue begrenzt liberale Abbruchsrecht bestätigte, wies in der Schweiz der Souverän lange Zeit alle Bemühungen zur Modifizierung der Rechtsordnung zurück. In Irland hat die Bevölkerung überdies mit einem Referendum zur Verfassungsänderung zukünftige Liberalisierungsbemühungen zum Abtreibungsparagrafen verhindert und den rechtspolitischen Handlungsspielraum der Entscheidungsträger erheblich begrenzt.
S CHLUSS Kaum ein anderes Thema ist weltweit so umstritten wie die staatliche Regulierung der Abtreibung: für die Einen eine Forderung nach Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung, für die Anderen ein Zeichen von Immoralität und Destruktion. Die politischen Auseinandersetzungen nehmen bisweilen auch eine in-
33 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. September 1983, S. 6.
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ternationale Dimension an. Als Amnesty International forderte, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Menschenrecht zu verankern, rief dies erbitterte Abtreibungsgegner wie die katholische Kirche und die Pro-Life-Bewegung in den USA auf den Plan. Das ehemalige Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Benedikt XVI., beklagte »die beständigen, in allen Kontinenten verbreiteten Angriffe gegen das Leben« und verlangte ein Moratorium zum Schutz der »Würde des Lebens«. 34 Auch auf symbolischer Ebene lässt sich der hohe Konfliktgrad dieses Politikfelds ablesen: So erklärte sich 1990 der belgische König Baudoin aus Gewissensgründen bei der Verabschiedung der aktuellen Rechtsbestimmung für zwei Tage regierungsunfähig. Nur mit diesem Schritt schien es dem katholischen Monarchen möglich, die vom Parlament bereits genehmigte Fristenregelung zu bestätigen, ohne das liberale Reformgesetz zu unterzeichnen. An seiner Stelle verkündete der Ministerpräsident Martens das neue Recht. In Polen35 erklärte Parlamentspräsident Marek Jurek von der rechtskonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im April 2007 nach einem gescheiterten Versuch, durch eine Verfassungsänderung das Abbruchsrecht zu verschärfen, seinen Rück- und Parteiaustritt. Jurek hatte sich für eine Verankerung des Schutzes ungeborenen Lebens in der Verfassung eingesetzt und empfand deshalb den Abstimmungsausgang im Parlament auch als persönliche Niederlage. Wie lassen sich die divergierenden politischen Regulierungen des Schwangerschaftsabbruchs erklären? Welche Faktoren bedingen die Ausgestaltung der Abtreibungsregime in den hier untersuchten 22 OECD-Ländern? Die Zusammenschau des internationalen Vergleichs ergibt folgendes Gesamtbild: In allen entwickelten Demokratien lässt sich im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung und Säkularisierung bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein klarer Trend zur Liberalisierung der Rechtsvorschriften zum Schwangerschaftsabbruch beobachten. Dessen ungeachtet sind im Hinblick auf den Reformzeitpunkt und die gewählten nationalen Lösungen Unterschiede erkennbar, die mit politisch-institutionellen Faktoren erklärt werden können. Ein liberales Abbruchsrecht findet sich in Staaten, die traditionell eine starke Regierungsbeteiligung von Linksparteien aufweisen, und wo der Handlungsspielraum einer re34 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Januar 2008, S. 1. Auch der aktuelle Papst Franziskus sieht den Abort als Ausdruck der heutigen »Wegwerfkultur« (http://www. spiegel.de/panorama/leute/papst-franziskus-kommentiert-abtreibungen-als-schrecklich vom 13.01.2014). 35 In Polen war die Abtreibung bis 1993 erlaubt. Seither gilt ein enges Indikationsmodell, das nur bei medizinischer, embryopathischer oder kriminologischer Indikation einen Abbruch erlaubt.
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formorientierten Regierung nicht von einer autonomen Verfassungsgerichtsbarkeit und Referenden begrenzt wurde. Demgegenüber bilden eine starke Beteiligung von Rechtsparteien an der Regierung und eine einflussreiche gesellschaftliche Stellung der katholischen Kirche wie in Irland, Malta oder Polen, sowie mächtige institutionelle Vetospieler ungünstige Voraussetzungen für eine permissive Ausgestaltung der Rechtsbestimmungen. In christdemokratisch geprägten Ländern wie in der Bundesrepublik und in Italien wird hingegen typischerweise ein rechtspolitischer Mittelweg beschritten.
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Perspektiven relevanter Akteure
Kein Kinderwunsch und schwanger – wie wird in einer Partnerschaft entschieden? Eine empirische Analyse mit den Daten der BZgA-Studie »frauen leben 3« C ORNELIA H ELFFERICH , H EIKE K LINDWORTH 1
E INLEITUNG Eine Frau stellt fest, dass sie schwanger ist – sie hat es gefühlt, sie hat einen Schwangerschaftstest machen lassen und/oder der ärztliche Befund liegt vor. Sie hatte nicht vor, schwanger zu werden, und nun ist sie es doch geworden. Wie geht es nun weiter? Mit der Entscheidung für ein Kind würde vor allem dann, wenn es sich um das erste Kind handelt, eine dauerhafte und unumkehrbare Veränderung des Lebens von Frau und Mann einhergehen, die nun lebenslang Mutter und Vater werden, und die Beziehung zwischen beiden würde sich wandeln. Aber auch dann, wenn bereits ein Kind oder zwei Kinder da sind, würde die Geburt eines weiteren Kindes eine mehr oder weniger große Umstellung bedeuten. Die nicht gewollt eingetretene Schwangerschaft schafft ein Faktum, mit dem Frau und Mann jeweils für sich und als Paar konfrontiert sind. Üblicherweise wird diese Situation als eine Entscheidungssituation entworfen: Die Frau hat theoretisch zwei Optionen – sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind –, nämlich die Schwangerschaft zu akzeptieren oder sie abbrechen zu lassen, und es muss eine Entscheidung für eine der beiden Optionen fallen. Das Ergebnis der Entscheidung steht nicht fest. Immerhin besagen die Daten der Studie »frauen leben 3 – Familienplanung im Lebenslauf«, dass 57 % aller ungewollten
1
Unter Mitarbeit von Diana Cichecki, Judith Eckert, Yvonne Heine, Anneliese HendelKramer, Jennifer Wägerle, Julia Wiesinger, Ines Wlosnewski und Rainer Wagner.
216 | H ELFFERICH / KLINDWORTH
Schwangerschaften im Leben der befragten 20- bis 44-jährigen Frauen ausgetragen wurden und 43 % abgebrochen (BZgA 2013). Studien in anderen Ländern kommen auf in etwa ähnliche Größenordnungen.2 Welche Rolle spielt die Partnerschaft als Kontext ungewollter Schwangerschaften? Wie wird entschieden über Akzeptanz oder Abbruch der Schwangerschaft? Fällt eine Entscheidung gemeinsam, oder entscheidet die Frau allein? Diese Fragen – wie das gesamte Thema der Schwangerschaftsabbrüche – wecken Emotionen und Befürchtungen. Unausgesprochen steht bei manchen dahinter die Frage, ob Frauen verantwortungsvoll oder »leichtfertig« entscheiden. Die Schwangerschaft entwickelt sich im Körper der Frau, und damit haben der Mann und die Frau eine grundsätzlich andere Entscheidungsposition. Auch daran machen sich Befürchtungen fest, dass die Entscheidung in der Partnerschaft nicht fair verhandelt wird, z.B. dass der Mann oder andere Personen im Umfeld der Frau (wie etwa bei jungen Frauen die Eltern) diese unter Druck setzen, eine Schwangerschaft gegen ihren Willen abzubrechen oder auszutragen. Umgekehrt gibt es die beunruhigende Sorge, der Mann habe »nichts zu sagen«, die Frau würde ihn nicht einbeziehen und sich bei ihrer alleinigen Entscheidung über ihn hinwegsetzen. Und nicht zuletzt gibt es eine Hoffnung, wenn man nur die Gründe der Frau, eine Schwangerschaft abzubrechen, genau genug kennen würde, dann könne es gelingen, Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren oder ganz auszuschließen. Der folgende Beitrag möchte die Diskussion versachlichen und differenzieren, indem empirische Aussagen aus der Studie »frauen leben 3« zusammengetragen werden. Die Situation nach dem Eintreten einer Schwangerschaft, ohne dass zu diesem Zeitpunkt ein Kind gewünscht wurde, wird als Teil eines biografischen Prozesses betrachtet: Die Schwangerschaft ist in einem bestimmten Alter und in einer bestimmten Lebenssituation eingetreten und insbesondere in einer bestimmen Beziehung zu dem Erzeuger, die ihre eigene Geschichte hat. Zunächst wird eine Differenzierung angemahnt: Es ist wichtig zu unterscheiden, ob »nur« der Zeitpunkt der Schwangerschaft zu früh war oder ob unabhängig vom Zeitpunkt kein Kinderwunsch bestand (1). Die Partnerschaftssituation als Kontext für die Entscheidung über die Akzeptanz oder den Abbruch der Schwangerschaft wird in Abschnitt (2) betrachtet. Gestützt auf qualitative Interviews wird die Art der Entscheidungsfindung in unterschiedlichen Formen von Partnerschaft näher beschrieben (3). Die Ergebnisse werden am Ende zusammengefasst und eingeordnet (4). Es werden die Daten der Studie »frauen leben 3« genutzt.3 Diese Studie, die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Auftrag ge2
Vgl. Singh et al. (2009: 52 f.) mit einem internationalen Vergleich.
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geben und vom Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstitut Freiburg (SoFFI F.) durchgeführt wurde, liefert ein umfassendes Bild der Familienplanung im Lebenslauf von 20- bis 44-jährigen Frauen. In der groß angelegten standardisierten Telefonbefragung wurden n= 4.002 Frauen in Baden-Württemberg, Berlin, Niedersachsen und Sachsen4 u.a. retrospektiv zu ihrem reproduktiven Lebenslauf befragt und unter anderem erhoben, ob die erlebten Schwangerschaften in den jeweiligen Lebensphasen und unter den jeweiligen Lebensumständen gewollt, zu früh oder explizit ungewollt eingetreten waren, wie mit Schwangerschaftskonflikten umgegangen wurde und wie die Entscheidung zum Austragen oder Abbrechen einer ungewollten Schwangerschaft getroffen wurde.5 Einige Auswertungen beziehen sich nicht auf die Gesamtgruppe der befragten Frauen, sondern auf die von ihnen berichteten Schwangerschaften. Insgesamt liegen die standardisiert erhobenen Angaben zu 4.794 Schwangerschaften vor, von denen 4.427 ausgetragen und 367 abgebrochen wurden. In der qualitativen Teilstudie wurden biografische Interviews mit 97 Frauen geführt, die jemals in ihrem Leben eine Schwangerschaft ohne Kinderwunsch erlebt hatten. Diese Frauen erzählten ihre Lebensgeschichte und ihr Erleben ungewollter Schwangerschaften mit eigenen Worten. Ergänzend wurden 26 Beraterinnen als Expertinnen interviewt, die die Ergebnisse aus ihrer Perspektive kommentierten und einordneten.
N ICHT JEDE S CHWANGERSCHAFT , DIE NICHT BEABSICHTIGT WAR , WAR UNGEWOLLT Die in der Studie »frauen leben 3« befragten Beraterinnen äußerten sich auch zu den Begrifflichkeiten »ungewollt« und »ungeplant«. »Ungewollt«, so war die überwiegende Meinung, ist verbunden mit einem inneren Widerstand, mit »da ist festgelegt: Schwangerschaft, das geht gar nicht» und »größerer Ablehnung«. »Ungeplant« sind die »trotzdem erwünschten Schwangerschaften«, »wenn eine
3
Der Abschlussbericht erscheint 2014 in der Schriftenreihe der BZgA. Zwischenergebnisse wurden 2013 veröffentlicht (BZgA 2013).
4
Die Auswertungen nach Bundesländern werden für den vorliegenden Beitrag zurückgestellt. Sie werden ausführlich im Abschlussbericht dargestellt.
5
Bei retrospektiv erhobenen Daten zu reproduktiven Ereignissen wie z.B. Geburten, Heiraten oder Schwangerschaftsabbrüchen ist zu beachten, dass diese Ereignisse, je nach Alter der Befragten, mehr oder weniger weit zurückliegen (hier: zwischen 1983 und 2012).
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Frau sich letztendlich doch noch auf das Kind einlassen kann«, »oft ist es dann auch gewollt, wenn die Entscheidung getroffen ist … dann ist es nicht mehr ungewollt, sondern dann ist es zwar ungeplant, aber eben doch gewollt«. Andere Studien, darunter die Vorläuferstudien »frauen leben 1« (Helfferich et al. 2001) und »männer leben« (Helfferich et al. 2005), haben gezeigt, dass eine solche Differenzierung, wie die Beraterinnen sie vornehmen, wichtig und notwendig ist: Die Vielfalt der Formen der Gewolltheit kann nicht auf das Begriffspaar »gewollt« versus »ungewollt« reduziert werden. Es gibt vielmehr ein Kontinuum an abgestuften Formen der Gewolltheit, und »ungewollte« Schwangerschaften markieren darin nur einen Endpunkt. In den qualitativen Interviews kamen eindeutige Formulierungen zur Ungewolltheit vor, aber auch diese Uneindeutigkeit, für die viele »Aber« und »Eigentlich« typisch sind: »Ich wollte eigentlich kein Kind, aber (es passierte/ich habe mich gefreut etc.)« oder »Ich wollte eigentlich Kinder, aber (nicht so früh/die Situation passte nicht etc.) «. Die Studie »frauen leben 3« hält sich an die international gebräuchliche Begrifflichkeit. Sie nimmt dabei, anders als die Beraterinnen, Abstand von dem Begriff der »Planung«, weil Frauen zwar von »ungeplanten« Schwangerschaften sprechen, aber der Ursprungsbegriff, die »geplante«, womöglich genau »auf den Termin hin geplante« Schwangerschaft, nicht auf allgemeine Akzeptanz stößt. Die Frage (die sich von der Formulierung her ausdrücklich auf das Eintreten der Schwangerschaft und nicht auf ein geborenes Kind bezieht) und die Antwortmöglichkeiten lauten: »Und wenn Sie nun an die Zeit zurückdenken, bevor dieses Kind geboren wurde. War die Schwangerschaft damals von Ihnen gewollt? Die Schwangerschaft war… 1 …von mir gewollt, auch der Zeitpunkt war gewollt 2 von mir gewollt, aber eigentlich erst später 3 ungewollt eingetreten 4 ich war zwiespältig bzw. unentschieden.«
Auf Schwangerschaften, die als »gewollt, aber später« eingeordnet wurden, trifft das zu, was Beraterinnen mit »ungeplant« assoziierten: Es war durchaus »eigentlich« ein Kinderwunsch da, aber der Zeitpunkt war ungünstig. Bei mehr als knapp drei Viertel (71,6 %) der zu früh eingetretenen Schwangerschaften wurde Verhütung weggelassen, und bei 56 % war die Reaktion, als die Schwangerschaft festgestellt wurde, erfreut oder sehr erfreut.6 Damit zeigen viele dieser 6
Für alle Schwangerschaften, die nicht zum Zeitpunkt gewollt/nicht beabsichtigt waren, kann eine Aussage zur ersten Reaktion auf den Eintritt der Schwangerschaft ge-
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Schwangerschaften Merkmale, die üblicherweise von gewollten Schwangerschaften erwartet werden. Das ist anders bei den als »ungewollt« eingeordneten Schwangerschaften. Diese traten häufiger unter Verhütung ein; Verhütung wurde »nur« bei 42,9 % weggelassen. Der Anteil (sehr) positiver Reaktionen liegt deutlich niedriger, beträgt aber immer noch 12,7 %. »Ungewollt« erweist sich damit als eine entschiedenere Kategorie, weiter weg von einem möglicherweise vorhandenen Kinderwunsch – ganz so, wie es die Beraterinnen inhaltlich gefüllt haben. Aber auch diese Schwangerschaften wurden zu einem beträchtlichen Anteil ausgetragen (siehe unten). Für die drei Varianten der früh eingetretenen, der unentschiedenen und der ungewollten Schwangerschaft wird der Oberbegriff »nicht auf den Zeitpunkt hin gewollte« oder »nicht beabsichtigte« Schwangerschaft verwendet. Das greift den im Englischen üblichen Begriff »unintended« auf. Ungewollte Schwangerschaften sind somit nur eine Teilmenge der nicht beabsichtigten Schwangerschaften, und neben den »ungewollten« gibt es vor allem die »gewollt, aber später« eingetretenen Schwangerschaften (die Antwortmöglichkeit »unentschieden/zwiespältig« wurde nur von wenigen Befragten gewählt, siehe unten). Für die Berechnung der Häufigkeit ungewollter Schwangerschaften wurden abgebrochene Schwangerschaften als »ungewollt« gesetzt. Dies ersparte den Befragten eine möglicherweise als unpassend empfundene Frage nach der Gewolltheit der abgebrochenen Schwangerschaft und entspricht dem üblichen Vorgehen in Bevölkerungsbefragungen.7 Mit dieser Festlegung gilt: Nicht beabsichtigte Schwangerschaften (also zu früh eingetretene, ungewollte oder unentschiedene Schwangerschaften) sind durchaus häufig, aber die Mehrheit aller Schwangerschaften war gewollt, auch auf den Zeitpunkt hin. Bezogen auf alle Schwangerschaften (Schwangerschaftsabbrüche einbezogen)8, die die 20- bis 44-jährigen Frauen im Lebenslauf erlebt hatten, waren 66,3 % der Schwangerschaften zum Zeitpunkt (oder früher) gewollt, 33,7 % waren nicht beabsichtigt eingetreten. Letztere setzen sich so zusammen: 13,3 % waren zwar gewollt, hätten aber eigentlich erst später eintreten macht werden. Bei ausgetragenen Schwangerschaften wurde direkt danach gefragt und eine 6-stufige Bewertungsskala angeboten von 1 = »sehr erfreut« bis 6 = »überhaupt nicht erfreut«. Bei abgebrochenen Schwangerschaften wurde 6 = »überhaupt nicht erfreut« gesetzt mit der gleichen Begründung wie die Setzung dieser Schwangerschaften als ungewollt. 7
Santelli et al. 2003, Font-Ribera et al. 2007, Sihvo et al. 2003. Gewollte Schwangerschaften werden vor allem mit einer medizinischen Indikation abgebrochen, dies machte 2014 aber weniger als 3,6 % der Schwangerschaftsabbrüche aus.
8
Fehl- und Totgeburten wurden nicht erhoben.
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sollen; 17,7 % waren explizit ungewollt, und bei 2,6 % war die Frau unentschieden. Die Studie »frauen leben 3« zeigt weiter, dass auch explizit ungewollte Schwangerschaften nicht immer abgebrochen wurden. Insgesamt wurden mehr als die Hälfte aller ungewollten Schwangerschaften, die die Frauen in ihrem Leben erfahren hatten, ausgetragen (57 %) und 43 % abgebrochen. Die Häufigkeit von Erfahrungen mit nicht beabsichtigten oder ungewollten Schwangerschaften kann auch auf die Frauen berechnet werden (von denen einige einmal, andere mehrmals und wiederum andere bislang nicht schwanger waren). Bezogen auf alle Frauen in der Stichprobe, einschließlich der Kinderlosen, hatten 29,9 % schon einmal (mindestens) eine nicht auf den Zeitpunkt hin gewollte Schwangerschaft erlebt. Für eine Reihe von Fragen ist es sinnvoll, den Anteil bezogen auf die Frauen zu berechnen, die überhaupt schon einmal schwanger waren. Dann gilt: Mehr als jede Zweite der Frauen mit Schwangerschaftserfahrung hat (mindestens) eine Schwangerschaft erlebt, die nicht auf den Zeitpunkt hin gewollt war (53,1 %), unabhängig davon, ob die betreffenden Schwangerschaften schließlich ausgetragen oder abgebrochen wurden. 8,2 % aller befragten Frauen hatten (mindestens) eine Schwangerschaft abgebrochen. Berechnet auf die jemals schwangeren Frauen liegt die Abbruchquote bei 12,9 %.9
(E NTSCHEIDUNG ÜBER ) UNGEWOLLTE UND ABGEBROCHENE S CHWANGERSCHAFTEN IM K ONTEXT DER P ARTNERSCHAFT Werden ungewollte Schwangerschaften in schwierigen Phasen einer Partnerschaft eher abgebrochen? Wird in Partnerschaften gemeinsam entschieden? Antworten auf diese Fragen werden im Folgenden auf der Basis der Daten der Studie »frauen leben 3« gegeben. In dem standardisierten Erhebungsteil wurden für alle Schwangerschaften – gewollt wie nicht beabsichtigt, ausgetragen wie abgebrochen – die Lebensumstände zum Zeitpunkt des Eintritts der Schwangerschaft erfragt. Damit kann der Einfluss der partnerschaftlichen Situation auf das Schwangerschaftsgeschehen und auf die Entscheidung für das Austragen oder Abbrechen der Schwangerschaft berechnet werden. Für Frauen, die bei Eintritt der Schwangerschaft einen festen Partner hatten, wurde eine »schwierige Partnersituation« darüber definiert,
9
Es gibt Hinweise darauf, dass der Wert etwas unterschätzt ist (»underreporting«), s. Helfferich et al. 2014.
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dass entweder eine Krise oder Trennungssituation vorlag oder der Partner kein Kind wollte. Hier werden Schwangerschaften in »schwierigen Partnerschaftssituationen« verglichen mit denen, bei denen keines der Probleme genannt wurde (»stabile Partnerschaftssituation«). Auf die Bedeutung der ebenfalls wichtigen unsicheren beruflichen und finanziellen Situation und des Alters bei der Geburt bzw. bei dem Abbruch wird nicht eingegangen; hier wird auf die Publikation der Zwischenergebnisse verwiesen (BZgA 2013). Unter den vielen abgefragten Aspekten der Lebenssituation hat die Partnerschaftssituation den größten Einfluss auf die Gewolltheit einer Schwangerschaft: Wenn eine Schwangerschaft in einer schwierigen Partnerschaftssituation eintrat, handelte es sich etwa sechsmal so häufig um eine ungewollte Schwangerschaft (Anteil ungewollter ausgetragener oder abgebrochener Schwangerschaften an allen Schwangerschaften: 57,7 %), verglichen mit Schwangerschaften, die in stabilen Partnersituationen eingetreten waren (10,1 %). Und ungewollte Schwangerschaften in schwierigen Partnerschaften wurden häufiger abgebrochen (53,7 %) als solche in stabilen Partnerschaften (32,4 %). Im Fall eines Schwangerschaftsabbruchs wurde gesondert nach den Hauptgründen gefragt und wiederum die Liste vorgelegt, die auch bei der Abfrage der Lebenskontexte bei Eintritt der Schwangerschaft genutzt worden war. Auch hier zeigt sich die besondere Bedeutung der Partnerschaft: Für etwa ein Drittel aller abgebrochenen Schwangerschaften (34 %) wurde eine »schwierige Partnerschaftssituation« als Hauptgrund angegeben.10, 11 Dieser Anteil fällt bei Frauen, die zum Zeitpunkt des Schwangerschaftsabbruchs (noch) kinderlos waren, etwas höher (39,5 %) und bei Befragten, die bereits zwei oder mehr Kinder hatten, deutlich niedriger aus (21,3 %).
Die (gemeinsame) Entscheidung im Kontext der Partnerschaft Die Partnerschaftssituation (einschließlich Partnerlosigkeit) ist nicht nur der häufigste Grund für einen Abbruch, sondern sie bestimmt auch den Rahmen für die Entscheidung, was mit der eingetretenen Schwangerschaft geschehen soll. Nur 10 Hier wurde nicht nur nach den Lebensumständen bei Eintritt der Schwangerschaft gefragt, sondern ausdrücklich nach den Hauptgründen für den Schwangerschaftsabbruch. 11 Auf diesen meistgenannten Grund folgen, der Häufigkeit der Nennungen nach geordnet, die Argumente »berufliche oder finanzielle Unsicherheit« (20,3 %), »gesundheitliche Bedenken« (19,7 %) und altersbezogene Gründe wie »in Ausbildung oder Studium« (17,6 %) oder »jung, unreif« (16,4 %, s. BZgA 2013: 14).
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zu einem sehr geringen Anteil bestand bei Eintritt der Schwangerschaften keine feste Partnerschaft.12 Bei nicht beabsichtigten Schwangerschaften wurde im Fall einer festen Partnerschaft nach dem Entscheidungsmodus gefragt: »Inwieweit war Ihr damaliger Partner an der Entscheidung beteiligt?« Dabei waren die folgenden Antwortmöglichkeiten vorgegeben: »Es gab keine Entscheidung, weil sofort klar war, was wir machen«, »Wir haben gemeinsam beschlossen, das Kind zu bekommen/die Schwangerschaft abzubrechen«, »Er hat es letztlich mir überlassen, ob ich das Kind bekommen/die Schwangerschaft abbrechen will oder nicht«, »Ich habe das allein für mich entschieden«.13 Insgesamt, bezogen auf alle nicht beabsichtigten ausgetragenen Schwangerschaften, dominiert der gemeinsame Beschluss mit 43,2 %, gefolgt von der selbstverständlichen Akzeptanz mit 37,5 %. In 8,6 % der Fälle wurde die Entscheidung der Frau überlassen und bei 10,6 % hatte die Frau allein entschieden, das Kind zu bekommen. Es zeigt sich wieder ein Unterschied zwischen den zu früh eingetretenen und den explizit ungewollten Schwangerschaften. So war bei fast jeder zweiten Schwangerschaft, die gewollt war, aber zu früh eintrat, beiden Partnern sofort klar, das Kind zu bekommen (46,5 %), und bei weiteren 42,1 % war es eine gemeinsame Entscheidung beider Partner, die zu früh eingetretene Schwangerschaft zu akzeptieren, zusammen machen diese beiden Antworten 88,6 % aus. Nur ein geringer Prozentsatz der gewollten, aber zum falschen Zeitpunkt eingetretenen Schwangerschaften wurde damit von der Frau allein entschieden – mit Einverständnis des Partners (5,1 %) oder nicht (6,4 %). Die beiden auf Gemeinsamkeit hinweisenden Antwortmöglichkeiten werden bei explizit ungewollten Schwangerschaften zusammen genommen deutlich seltener genannt: Klar war die Akzeptanz der Schwangerschaft bei 26,8 %, eine gemeinsame Entscheidung fiel in 44,0 % der Fälle, zusammen sind das 70,8 %. Dafür entschied die Frau häufiger allein – weil der Partner ihr die Entscheidung überlassen hatte (12,3 %) oder sie allein entschieden hat (16,9 %). Aufgrund des starken Einflusses der Gewolltheit werden bei der weiteren Analyse der Partnerbeteiligung nur die Schwangerschaften berücksichtigt, die 12 Eine feste Partnerschaft bestand bei 91,8 % der nicht beabsichtigten, 91 % der explizit ungewollten, ausgetragenen Schwangerschaften und 81,5 % der Schwangerschaftsabbrüche. Die Partnerschaft konnte aber gerade in einer Krise sein und die Frau bei der Geburt oder bei dem Abbruch dann möglicherweise alleinstehend und ohne Partner. 13 Weitere Antwortmöglichkeiten: »Partner wusste nichts von der Schwangerschaft« (0%) und bei Schwangerschaftsabbrüchen »Partner wollte den Abbruch, ich habe mich nach ihm gerichtet« (1,4 %, n=4 Abbrüche).
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explizit ungewollt waren. Dabei werden ausgetragene und abgebrochene Schwangerschaften getrennt voneinander betrachtet.14
Gemeinsamkeit der Entscheidung für das Austragen der ungewollten Schwangerschaft Bei ungewollten, ausgetragenen Schwangerschaften, die im Kontext einer festen Partnerschaft eintraten, wurde der gemeinsame Beschluss mit 44,4 % am häufigsten genannt. Dass die Frau allein entschieden hat, traf auf 16,8 % der Fälle zu. Der Zusammenhang mit der Reaktion auf die eingetretene Schwangerschaft hilft besser zu verstehen, was die Antworten im Einzelnen bedeuten. Die Antwort »Es gab keine Entscheidung, es war sofort klar, dass wir das Kind bekommen« wird umso häufiger gegeben, je positiver die Reaktion auf die ungewollte Schwangerschaft ausfiel (Tabelle 1). Das legt zwei mögliche Interpretationen nahe: Die Reaktion war positiv, weil eine gemeinsame Haltung gegenüber Kindern in der Partnerschaft eine Akzeptanz problemlos ermöglichte. Oder umgekehrt: Die positive Reaktion bahnte den Weg hin zu einer konsensuellen Akzeptanz ohne weitere Aushandlungen. Die Antwort »Wir haben gemeinsam beschlossen, das Kind zu bekommen« steht in keinem linearen Zusammenhang mit der Reaktion auf die eingetretene Schwangerschaft und scheint eher so etwas wie eine Art genereller Auseinandersetzungskultur in einer Partnerschaft zu bezeichnen. Dass die Entscheidung der Frau überlassen wurde und dass sie allein entschieden hat, nimmt mit einer negativen Reaktion zu. Auch wenn es eine Form des indirekten und formalen Konsens‘ sein kann, dass der Mann der Frau die Entscheidung überlässt und diese Entscheidung, egal wie sie ausfällt, mitträgt, weist dieser Zusammenhang eher auf eine weniger starke Gemeinsamkeit bei der Kinderfrage hin. Auch hier kann der Zusammenhang zwischen Reaktion und dem alleinigen Entscheiden seitens der Frau in beide Richtungen vermittelt sein: Weil die Gemeinsamkeit schwächer war, war die Reaktion negativer, oder weil die Reaktion negativer war, war die situationsbezogene Gemeinsamkeit schwächer.
14 Dies ist auch aus einem erhebungstechnischen Grund notwendig: Bei der entsprechenden Frage im Kontext von Schwangerschaftsabbrüchen wurden Mehrfachnennungen zugelassen, im Kontext von ausgetragenen Schwangerschaften aber nicht.
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Tabelle 1: Entscheidungsbeteiligung des Partners bei ungewollten ausgetragenen Schwangerschaften – nach emotionaler Reaktion auf die Schwangerschaft (in %) Emotionale Reaktion auf die Schwangerschaft*
(sehr) erfreut
eher erfreut
weniger erfreut
(überhaupt) nicht erfreut
n=101
n=119
n=60
n=135
Es gab keine Entscheidung, war sofort klar
42,6
30,3
23,3
13,3
Gemeinsamer Beschluss, das Kind zu bekommen
36,6
48,7
46,7
44,4
Entscheidung der Frau überlassen
9,9
10,9
15,0
14,1
Allein entschieden
10,9
10,1
15,0
28,2
Gesamt
100
100
100
100
Quelle: BZgA, Datensatz »frauen leben 3« 2012, 20- bis 44-jährige Frauen in vier Bundesländern, Filter: akzeptierte, ungewollte Schwangerschaften, * = signifikante Unterschiede.
Die weiteren Ergebnisse zeigen einen engen Zusammenhang zwischen der Qualität der Partnerbeziehung, der Reaktion auf das Eintreten einer ungewollten Schwangerschaft, die dann ausgetragen wurde, und der Art der Entscheidungsfindung. In einer stabilen Partnerschaft fiel die Reaktion auf den Eintritt einer ungewollten Schwangerschaft eher positiv aus, und die Entscheidungsfindung war deutlich häufiger von Gemeinsamkeit gekennzeichnet – verglichen mit einer schwierigen Partnersituation (siehe Tabelle 2). Die Selbstverständlichkeit, das Kind zu akzeptieren, und der gemeinsame Beschluss machen zusammen 88,4 % aus, in einer schwierigen Partnersituation beträgt der Anteil dieser auf – voraussetzbaren oder hergestellten – Konsens hinweisenden Entscheidungsmodi gerade 40,2 %. Eine schwierige Partnersituation wirft die Frau wesentlich stärker darauf zurück, dass sie allein entscheidet – in mehr als einem Drittel der Fälle
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(36,8 %), auch ohne dass dies aufgrund eines Zugeständnisses des Partners in einen Partnerschaftskonsens rückgebunden wäre. Tabelle 2: Entscheidungsbeteiligung des Partners bei ungewollten ausgetragenen Schwangerschaften – nach Partnerschaftssituation (in %) Partnerschaftssituation*
schwierig
stabil
n=144
n=266
Es gab keine Entscheidung, war sofort klar
7,6
37,6
Gemeinsamer Beschluss, das Kind zu bekommen
32,6
50,8
Entscheidung der Frau überlassen
22,9
5,6
Allein entschieden
36,8
6,0
Gesamt
99,9
100
Quelle: BZgA, Datensatz »frauen leben 3« 2012, 20- bis 44-jährige Frauen in vier Bundesländern, Filter: ungewollte akzeptierte Schwangerschaften, * = signifikante Unterschiede.
Gemeinsamkeit der Entscheidung für den Abbruch der ungewollten Schwangerschaft Auch bei der Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch handelte es sich häufig um einen gemeinsamen Beschluss beider Partner (43,9 %). In 29,8 % der Fälle berichteten die Frauen aber auch von der alleinigen Entscheidung, bei weiteren 25,6 %, dass ihr die Entscheidung überlassen wurde. Bei gut einem Fünftel der Schwangerschaftsabbrüche (21,1 %) war die Entscheidung sofort klar.15 Die Qualität der Partnerschaft wirkt sich auch hier aus. Wenn eine stabile Partnerschaft bestand, war, wie bei ungewollten ausgetragenen Schwangerschaften auch, der Anteil an gemeinsamem Beschluss und nicht notwendiger Aushandlung (»sofort klar«) höher. Mehr als die Hälfte der Frauen berichteten von einem 15 Mehrfachnennungen waren möglich, daher beträgt die Summe mehr als 100 %.
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gemeinsamen Entschluss, ein weiteres Viertel von der Selbstverständlichkeit der Entscheidung (s. Tabelle 3). Ein Unterschied zu ausgetragenen Schwangerschaften liegt aber darin, dass die alleinige Entscheidung der Frau oder die ihr überlassene Entscheidung einen höheren Anteil auch in stabilen Partnerschaften ausmachen (dies gilt, auch wenn die Zahlen nicht direkt verglichen werden können; siehe Fußnote 13). Lag eine schwierige Partnerschaftssituation vor, so hatte die Frau mit knapp 40 % deutlich häufiger allein entschieden, die Schwangerschaft abzubrechen, als dies bei stabilen Partnerschaften der Fall war. Tabelle 3: Entscheidungsbeteiligung des Partners bei abgebrochenen Schwangerschaften – nach Partnerschaftssituation (in %) Partnerschaftssituation*
schwierig
stabil
n=158
n=124
Es gab keine Entscheidung, war sofort klar
17,1
26,6
Gemeinsamer Beschluss, die Schwangerschaft abzubrechen*
36,7
53,2
Entscheidung der Frau überlassen
27,2
23,4
Allein entschieden*
38,6
17,7
Quelle: BZgA, Datensatz »frauen leben 3« 2012, 20- bis 44-jährige Frauen in vier Bundesländern, Mehrfachnennungen möglich, Filter: abgebrochene Schwangerschaften, * = signifikante Unterschiede.
AUSHANDLUNGSPROZESSE ALS T EIL DER G ESCHICHTE DER P ARTNERSCHAFT – DIE SUBJEKTIVE S ICHT In den qualitativ-biografischen Interviews berichteten 97 Frauen über 151 Schwangerschaften, die nicht auf den Zeitpunkt hin gewollt waren, darunter über 45 Schwangerschaftsabbrüche, und über 63 auf den Zeitpunkt hin gewollte Schwangerschaften. Die Auswertung muss sich hier auf einen engen Fokus begrenzen; sie kann nicht die biografische Bedeutung der Partnerschaft und insbe-
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sondere der Partnerschaftskonflikte aufgreifen. Generell liegt die Stärke qualitativer Forschung darin zu zeigen, wie unterschiedlich Frauen selbst eine Situation verstehen, die in dem standardisierten Fragebogen z.B. mit nur vier Antwortausprägungen erfasst werden konnten, zwischen denen gewählt werden musste, unabhängig davon, ob diese Alternativen nun passen oder nicht. Erzählt werden die Entscheidungsmodi im Kontext einer Beziehungsgeschichte, d.h. gesprochen wird über die Schwangerschaft und gleichzeitig über etwas Anderes, nämlich die Beziehung. Die Erzählungen haben einen typischen Aufbau: Ausgangspunkt ist die Mitteilung »Ich bin schwanger«, und dann folgt die Erwähnung der Reaktion des Mannes darauf. Das gemeinsame oder alleinige Entscheiden macht Sinn nur als ein Teil dieser Geschichte, die eine Vorgeschichte hat und die nach der Entscheidung weitergeht. Mit seiner Reaktion, so stellen es die Frauen dar, bezieht der Mann eine Stellung zu der Beziehung und zu ihr, der Partnerin. Die Entscheidung oder die Haltung des Mannes hat so eine direkte Bedeutung als eine aushandelbare Position, aber auch eine indirekte: Sie zeigt an, wie es um eine mögliche gemeinsame Zukunft mit einem Kind steht, und das wiederum wirkt sich auf die Entscheidung der Frau aus. Das im Folgenden vorgestellte gemeinsame und das alleinige Entscheiden hat eine hohe symbolische Bedeutung in der Beziehungsgestaltung – und zwar in der Hinsicht, ob es eine Gemeinschaftlichkeit gibt, ob diese Gemeinschaftlichkeit hergestellt werden kann oder ob sie gerade zerbricht. Das gemeinsame Entscheiden und die Gemeinschaftlichkeit in der Beziehung wird semantisch über die Verwendung von »Wir« und »gemeinsam« oder »zusammen« angezeigt, während bei dem alleinigen Entscheiden die Frau und der Mann als »Ich« und »Er« auftreten. Gemeinsamkeit anzeigende Formulierungen sind: »Wir haben uns beide dafür entschieden, dass wir das Kind wollen« (1-YH-05). In den Berichten kommen ganz unterschiedliche Qualitäten von Partnerschaften oder Männerbeziehungen vor, in denen Frauen schwanger wurden – feste, langjährigen Beziehungen ebenso wie »Affären«, die große Liebe ebenso wie Gewaltbeziehungen. Vier Partnerschaftskontexte können unterschieden werden, in denen der Entscheidungsprozess jeweils eine spezifische Rahmung erfährt: (1) Tragfähige Beziehungen mit einem starken »Wir«-Akzent und einer starken konsensuellen Basis, (2) mehr oder weniger tragfähige Beziehungen, in denen die ungewollte Schwangerschaft Teil von Aushandlungen ist, die die Beziehung bzw. den Partner auf die Probe stellen, (3) problematischen Beziehungen mit prekärer Gemeinschaftlichkeit und schließlich (4) Affären. In tragfähigen, meist länger andauernden Beziehungen mit einer starken Gemeinschaftlichkeit (1) überwog die »Wir«-Entscheidung. Im Hintergrund standen beispielsweise »Wir«-Pläne, sich ein gemeinsames Leben aufzubauen,
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ein Heiratsversprechen oder eine allgemeine und von beiden geteilte Vorstellung davon, mehrere Kinder zu haben. »Wir wollten zwei …. Ich musste es nicht mal erwähnen, er hat es gleich verstanden. Aber es stand bei allen drei Kindern nie zur Debatte, sie nicht zu bekommen. Den Ersten wollten wir. Beim Zweiten haben wir gesagt: den kriegen wir auch noch … groß.« (2-DP-15) »Noch schöner fand ich es, als er sagte: Klar, ich steh dazu und ich will das auch und da gibt es überhaupt kein großes Gequatsche.« (2-DP-03, 4. Kind)
Gemeinschaftlichkeit bedeutet nicht immer eine Entscheidung für das Austragen der Schwangerschaft. Beide können sich auch gemeinsam für einen Abbruch entscheiden mit der Priorität bei der Aufrechterhalten der Beziehung. Nicht immer ist dann aus der Erzählung klar, wie ausgewogen die Machtbalance und wie partnerschaftlich die Gemeinschaftlichkeit war. Die hohe Bedeutung des gemeinsamen Beschlusses stand hier im Zusammenhang mit der Furcht vor einer Trennung oder Argumenten wie: »Ich will ja auch, dass er das Kind liebt und auch mir dann wieder weiterhin helfen würde – nee, das hätte nicht geklappt.« (2-DP-08) Die Entscheidung für einen Abbruch kann aber dennoch als gemeinsam ausgehandelte Option dargestellt werden, auch wenn die Frau unter anderen Umständen das Kind bekommen hätte. Gemeinschaftlich zurückgebunden sein kann auch die Variante, bei der es Teil der gemeinsamen Überzeugung war, dass die Frau über das Austragen oder Abbrechen einer Schwangerschaft allein entscheidet, weil dies in ihre »Zuständigkeit« fällt. In Beziehungen, in denen (potenzielle) Gemeinschaftlichkeit durch die ungewollte Schwangerschaft auf die Probe gestellt wird, finden sich Mischungen aus gemeinsamem und alleinigem Entschluss der Frau, mit dem sie den Mann konfrontiert. Letzteres wird bei einer Variante erzählerisch in einen Zusammenhang damit gestellt, dass es der Frau in dem Moment, als sie von der Schwangerschaft erfuhr, klar war: Sie wollte das Kind. Das folgende Zitat zeigt über die sprachliche Verwendung von »Ich« und »Er« und das Auftauchen einer Vorstellung von »Wir« das, was dann als »Zusammenraufen« bezeichnet wird. »Für mich war das völlig klar, dass ich das Kind bekomme …. Ich werde das meinem Partner erzählen müssen. Wie der reagiert, weiß ich nicht …, aber gut, ich meine, er war fünfundzwanzig … und eigentlich ist er ein vernünftiger Mann. Ich dachte mir, er wird das schon gut aufnehmen. … Dann hab ich ihm das erzählt, wir saßen auf der Couch und ich sagte: Ich muss dir was erzählen und du weißt ja, ich hab den Verdacht, dass es vielleicht doch – dass ich schwanger bin und-und-und sag: Ja, meine Mutti hat das Ergebnis
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und ich bin schwanger. Er hat dann erstmal gar nichts gesagt, hat sich nur auf der Couch hinten über fallen lassen, musste das noch ein bisschen verarbeiten und war dann erstmal nur baff. Hab ich gedacht: Das ist ja toll, wie jetzte? Also erstmal hat – wie gesagt, er hat ja noch nichts gesagt, aber ich dacht mir: toll findet er’s nicht. Aber na gut. Dann ist er wieder hoch gekommen und sagt dann: Na gut, dann kriegen wir eben jetzt ein Kind. Ja, das war schon – er musste das erstmal – aber es war toll, ich hab mich sehr gefreut, dass er da so reagiert hat. Und also er hatte zwar dann später nochmal als – er hat zwar erst gesagt: Ja, wir kriegen das zusammen und so und da sind wir uns sicher und dann kamen natürlich schon noch Bedenken auf und wär’s denn – könnten wir’s denn noch abtreiben. Ich sag: Nee, wir sind doch schon drüber. Ich war schon im vierten Monat, das wär gar nicht machbar gewesen und, na ja, dann ist ja eh vorbei. Na, dann machen wir’s Beste draus. Und dann haben wir uns also so wirklich mal zusammengerauft.« (2-DP-08)
Die Frau hatte hier ihre Position durchgesetzt, aber im weiteren Verlauf der Beziehung wurde die Gemeinsamkeit (wieder) hergestellt: »Wir kriegen ein Kind« – der Mann »freundete« sich mit dem Gedanken an die Vaterschaft an. Die Auseinandersetzung nach einer alleinigen Entscheidung der Frau und auch die Entscheidung für einen Abbruch können, ähnlich wie bei dem Beginn einer Beziehung, Gemeinsamkeit stiften: »Die Frage ist nur, wie gehen wir damit um, wir beide? Kriegen wir uns wieder zusammen oder nicht? Und wenn nicht, wie machen wir das? … Dadurch mussten wir uns wieder zusammensetzen und haben dann zusammen gefunden, das [war] dann besser als vorher.« (2- DP-04)
In den Fokus tritt die Frage, ob eine tragfähige Gemeinsamkeit als Basis für einen gemeinsamen Beschluss vorhanden ist und wenn nicht, ob sie auch bei Dissens und alleiniger Entscheidung der Frau hergestellt werden kann. Ausgehandelt wird dann nicht nur die Entscheidung für Akzeptanz oder Abbruch der Schwangerschaft, sondern die Entwicklung der Beziehung. Nun kann die Frau allein entscheiden und eine Trennung in Kauf nehmen: »Die Entscheidung selber hab ich getroffen. Da hätt ich mich also von niemandem rein reden lassen. Also hätt jetzt mein Mann zu mir gesagt: Nee, er will das Kind nicht, dann hätte ich gleich von Anfang an gesagt: Da vorne hat der Zimmermann das Loch gelassen.« (1-CS-01)
Das selbstständige Entscheiden der Frau ist vor allem verbunden mit krisenhaften oder problematischen Beziehungen (3; Beziehungskrisen, Gewaltbeziehun-
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gen, trinkende Partner etc.) mit nur (noch) wenig Gemeinsamkeit und/oder mit einer Absage an ein Kind und an die Frau (»Er meinte, wenn ich schwanger werde, würde er sowieso nicht für mich da sein«: 2-DP-05, »Er sagte dann, ich soll abtreiben«: 2-DP-06 etc.). »Ich hatte eigentlich gedacht, dass da mehr draus werden würde, aber für ihn war das halt nur so ein Spiel. …Er hat dann auch gesagt: Nee, er will das Kind nicht und so, er will damit nix zu tun haben und überhaupt.« (1-YH-05, Abbruch, 18 Jahre, Trennung)
Die alleinige Entscheidung der Frau für das Austragen oder das Abbrechen der Schwangerschaft führte jeweils zu einer Trennung und zu einer Lösung aus der Beziehung. Hier liegt der Sinn nicht in der Chance, Gemeinsamkeit herzustellen, sondern die Beziehung zu beenden. In den Erzählungen von Schwangerschaften, die in einer unverbindlichen Beziehung oder Affäre (4) eintraten, wird kein gemeinsamer Entscheidungsprozess berichtet. Dies wird überwiegend nicht weiter begründet, doch es ist ersichtlich, dass keine gemeinsame Zukunft angenommen wurde und – unabhängig davon, ob die Schwangerschaft ausgetragen oder abgebrochen wurde – davon ausgegangen wurde, dass die Frau allein die Folgen trägt.
D ISKUSSION Die Ergebnisse können helfen, die Prozesse der Entscheidung über eine nicht auf den Zeitpunkt hin gewollte Schwangerschaft besser zu verstehen und Befürchtungen und Ängste in ein realistisches Licht zu rücken. Ein Ergebnis der Studie »frauen leben 3« ist die Notwendigkeit, zwischen verschiedenen Formen nicht beabsichtigter Schwangerschaften zu unterscheiden. Als Pole eines Kontinuums gibt es auf der einen Seite die »gewollt, aber später«Schwangerschaft, die freudig begrüßt und ausgetragen wurde, und auf der anderen Seite die ungewollte Schwangerschaft, die negative Reaktionen hervorrief und die abgebrochen wurde. Dazwischen – und das macht das Thema vielschichtig – gibt es viele Zwischenformen, auch ungewollte Schwangerschaften, die freudig begrüßt wurden. Und mehr als jede zweite nicht auf den Zeitpunkt hin gewollte Schwangerschaft wurde ausgetragen. Die qualitativen Interviews zeigen, dass und wie bei ausgetragenen Schwangerschaften aus der ungewollten Schwangerschaft ein gewolltes Kind werden kann. Deutlich wurde die große Bedeutung des Partnerschaftskontextes. Die freudig begrüßten, »nur« zu früh eingetretenen Schwangerschaften traten häufiger in
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stabilen Beziehungen, ungewollte Schwangerschaften häufiger in schwierigen Partnerschaftssituationen ein. In einer stabilen Partnerschaft waren Kinder als ein weiterer Schritt der Konsolidierung, also der verbindlichen Festlegung der beiden Elternteile, möglicherweise schon vor Eintritt der Schwangerschaft Thema gewesen, und eine nicht beabsichtigte Schwangerschaft zieht eine Familiengründung oder -erweiterung »nur« vor. Wenn keine (stabile) Partnerschaft oder eine Partnerschaftskrise vorlag, ist nachvollziehbar, dass dies als eine ungünstige Situation empfunden wird, in der Frauen nicht beabsichtigen, ein Kind zu bekommen. Wenn sie doch schwanger werden, bezeichnen sie das als »ungewollt«. Aber auch hier gibt es über diese Bestimmung von Einflussfaktoren hinaus eine Vielfalt von Kombinationen. Was die Frage der Entscheidung über die Schwangerschaft angeht, dominiert der gemeinsame Beschluss: In etwas weniger als der Hälfte der ungewollten ausgetragenen ebenso wie der abgebrochenen Schwangerschaften wurde gemeinsam beschlossen. Nur selten hatten Frauen angegeben, dass sie sich nach dem Mann richteten. Auch hier bildet die Qualität der Partnerschaft den Rahmen für die möglichen Formen, über die nicht beabsichtigt eingetretene Schwangerschaft zu entscheiden: Der gemeinsame Beschluss bei Akzeptanz wie Abbruch der Schwangerschaft kam häufiger in stabilen und seltener in schwierigen Partnerschaften vor. Bei in schwierigen Partnersituationen eingetretenen ungewollten Schwangerschaften entschied die Frau dagegen häufiger allein, oder ihr wurde die Entscheidung überlassen. Wurde dann die Schwangerschaft ausgetragen, dann war nur selten »sofort klar«, dass das Kind kommt. Diese Zahlen machen deutlich, dass das Fehlen einer gemeinsamen Zukunftsaussicht in der Partnerschaft von Frauen als eine große Schwierigkeit wahrgenommen wird. Die Zahlen zeigen auch, dass ein Schwangerschaftsabbruch auch in stabilen Partnerschaftssituationen häufiger von der Frau entschieden wird, verglichen mit dem Austragen der Schwangerschaft. Das Austragen bedarf offenbar stärker der Vergewisserung, dass das geborene Kind von beiden gewollt ist und dass der Beschluss, das Kind zu bekommen, gemeinsam getroffen wird. Die qualitativen Interviews zeigen die Schwierigkeit einer klaren Abgrenzung: Auch aus einer alleinigen Entscheidung einer Frau kann Gemeinsamkeit erwachsen. Gemeinsamkeit in der Partnerschaft ist ein hohes Gut –, wenn sie vorhanden ist, führt sie eher zur Akzeptanz einer ungewollt eingetretenen Schwangerschaft und zu einem gemeinsamen Beschluss (auch zu einem gemeinsamen Beschluss eines Abbruchs). Wenn sie nicht da ist, führt sie zur Entscheidung der Frau allein, ob sie trotz des Fehlens einer gemeinsamen Perspektive ein Kind bekommt oder wegen des Fehlens die Schwangerschaft abbricht. Entscheidend ist, so die qualitativen Interviews, ob Gemeinsamkeit, wenn sie nicht vor-
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handen ist, hergestellt werden kann. In der Entscheidung über die Schwangerschaft wird eigentlich die Frage der möglichen und für das Aufziehen eines Kindes nötigen Gemeinsamkeit verhandelt, für die es je nach Hintergrund der Frau und nach situativem Kontext unterschiedliche Antworten gibt. Eine alleinige Entscheidung der Frau kann in stabilen wie in schwierigen Partnerschaften ebenso Ursache wie Folge einer partnerschaftlichen Krise sein. Viele Aspekte gilt es noch zu vertiefen. Einzubeziehen sind zum Beispiel die Entscheidungsregeln, die in einer Partnerschaft etabliert sind: Gibt es eine – von beiden gemeinsam festgelegte und akzeptierte – Aufgabenteilung oder eine Zuständigkeit der Frau für die Angelegenheit der Kinder, sodass sie hier auch die Entscheidungen zu treffen und zu verantworten hat? Bedürfen egalitäre Paare einer besonders anspruchsvollen Aushandlungskultur und Konsensfindung? Sind in einem familialistischen Milieu ungewollte Schwangerschaften prinzipiell willkommen?16 Und hängt die Frage, ob gemeinsam oder von der Frau allein entschieden wird, auch davon ab, ob der Mann und die Frau gemeinsam oder nur die Frau die Folgen trägt, was wiederum stark von den gesellschaftlichen Umständen abhängt? Hier ist es notwendig, auch den zweiten Hauptgrund für einen Abbruch zu untersuchen: eine schwierige berufliche und finanzielle Situation. Auch konnten wichtige Unterschiede aufgrund der Bildung der befragten Frauen hier nicht berücksichtigt werden. Dennoch hoffen wir, mit den Forschungsergebnissen Vorurteilen und unrealistischen Ängsten beim Thema Schwangerschaftsabbruch entgegen treten und die Diskussion versachlichen zu können.
L ITERATUR BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) (Hg.) (2013): frauen leben 3 – Familienplanung im Lebenslauf. Erste Forschungsergebnisse zu ungewollten Schwangerschaften und Schwangerschaftskonflikten. Zwischenbericht, Köln: BZgA. Font-Ribera, Leia/Pérez, Gloria/Salvador, Joaquin/Borrell, Carme (2007): »Socioeconomic Inequalities in Unintended Pregnancy and Abortion Decision«, in: Journal of Urban Health, 85(1), S. 125-135. Helfferich, Cornelia et al. (2001): frauen leben. Eine Studie zu Lebensläufen und Familienplanung im Auftrag der BZgA. In Zusammenarbeit mit Wilfried
16 Hier wurde eine Typologie von Koppetsch/Burkart (1999) zugrunde gelegt, die um ein Ost-Milieu ergänzt werden muss.
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Karmaus, Kurt Starke und Konrad Weller, Köln: BZgA, Schriftenreihe Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung Bd. 19. Helfferich, Cornelia/Klindworth, Heike/Kruse, Jan (2005): Männer leben. Studie zu Lebensläufen und Familienplanung. Vertiefungsbericht. Eine Studie im Auftrag der BZgA, Köln: BZgA, Schriftenreihe Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung Bd. 27. Helfferich, Cornelia/Hessling, Angelika/Klindworth, Heike/Wlosnewski, Ines (2014): »Unintended pregnancy in the life course perspective«, in: Advances in Life Course Research, 19, siehe http://www.sciencedirect.com/science/ article/pii/S1040260814000124 (Zugriff am 29.04.2014). Koppetsch, Cornelia, Burkhart, Günter (1999): Die Illusion der Emanzipation. Zur Wirksamkeit latenter Geschlechtsnormen im Milieuvergleich, Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz. Rossier, Clementine/Michelot, Francois/Cocon Group/Bajos, Nathalie (2006): »Modeling Abortion as a Process. An application to a French National Cohort on Reproductive Health«, siehe http://paa2006.princeton.edu/papers/ 61133 (Zugriff am 07.10.2013). Santelli, John S./Rochat, Roger/Hatfield-Timajchy, Kendra/Colley Gilbert Brenda/Curtis Kathryn/Cabral, Rebecca/Hirsch, Jennifer S./Schieve, Laura & other members of the Unintended Pregnancy Working Group (2003): The Measurement and Meaning of Unintended Pregnancy. Perspectives on Sexual and Reproductive Health, 35(2), S. 94-101. Sihvo, Sinikka/Bajos, Nathalie/Ducot, Beatrice/Kaminski, Monique & The COCON Group (2003): »Women’s life cycle and abortion decision in unintended pregnancies«, in: Journal of Epidemiology and Community Health, 57, S. 601-605. Singh, Susheela/Wulf, Deirdre/Hussain, Rubina/Bankole, Akinrinola/Sedgh, Gilda (2009): Abortion Worldwide: A Decade of Uneven Progress. New York: Guttmacher Institute.
Schwangerschaftsabbruch Erleben und Bewältigen aus psychologischer Sicht P ETRA S CHWEIGER
P ROLOG Ende der 1980er Jahre beendete ich mein Psychologiestudium an der Universität Salzburg und hatte in nur einer Vorlesung etwas über psychologische Aspekte ungewollter Schwangerschaften und über Motive der Frauen zum Schwangerschaftsabbruch gehört. Die universitäre Ausbildung in diesem speziellen Bereich der Frauengesundheit war ungenügend für meine ersten Berufsjahre in Fraueneinrichtungen. Ich machte viele Erfahrungen mit dem Thema und lernte am meisten von den Betroffenen selbst. Ich begleitete Frauen und Mädchen zum Schwangerschaftsabbruch nach Wien, da es im Westen Österreichs kein öffentliches Krankenhaus gab, an dem Abbrüche durchgeführt wurden. Dieses Versorgungsdefizit wurde erst 2005 mit der Etablierung einer Ambulanz am Salzburger Universitätsklinikum behoben. Bis dahin mussten Frauen zur Inanspruchnahme einer medizinischen Dienstleistung über 600 Kilometer »reisen«. Viele erlebten diese Situation belastender als den Eingriff selbst. Diese Erfahrungen mit Klientinnen und persönliche Erlebnisse mit Freundinnen motivierten mich zu meinem beruflichen Engagement für die reproduktive Gesundheit von Frauen und Mädchen.
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U NGEWOLLT
S CHWANGER »Ich war geschockt ... « (PATIENTIN)
In der Fachliteratur wird die Einstellung zu einer diagnostizierten Schwangerschaft mit unterschiedlichen Begriffen differenziert. Von »ungewollten« Schwangerschaften wird meist bezogen auf den Zeitpunkt der Entstehung gesprochen, wobei der weitere Verlauf – Abbruch oder Austragen der Schwangerschaft – offen bleibt. »Ungeplant« wird als Unterkategorie zu »ungewollt« verwendet, als eine Schwangerschaft, die auf »diesen Zeitpunkt hin« nicht geplant war (Helfferich 2013: 11). Ungewollte Schwangerschaften sind für Mitarbeiterinnen in Frauenberatungseinrichtungen nichts Außergewöhnliches. Frauen und Mädchen, die sich in dieser Situation befinden, sind unterschiedlich: jünger oder älter, kinderlos oder bereits mit Kind/ern, in einer Partnerschaft oder Single, in Ausbildung, im Beruf stehend oder auf Arbeitsuche, mit mehr oder weniger Geld und hilfreicher bis ohne Unterstützung durch den Partner. Ob Frauen und Mädchen sich für die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden oder dagegen – die Gründe sind vielfältig, und jede Entscheidung ist zu respektieren. Ungewollte Schwangerschaften entstehen unter anderem aufgrund fehlender oder misslungener Verhütung. Betroffene wissen zu wenig über ihre eigene Fruchtbarkeit und die ihres Partners oder schätzen die Wirksamkeit der angewandten Verhütungsmethode falsch ein (vgl. Fiala/Schweiger 2012: 17). Die Verhütung misslingt, wenn wirksame Methoden aus Geld- oder Zeitmangel nicht verfügbar sind oder aufgrund erlebter oder befürchteter Nebenwirkungen abgelehnt werden; wenn Sexualität in Situationen passiert, die unerwartet sind, und wenn die Sprache darüber zwischen den Partnern fehlt. Verhütung misslingt auch, wenn Frauen in Beziehungen Gewalt erfahren (vgl. Helfferich 2013). Wie konsequent verhütet wird, ist von komplexen äußeren und inneren Faktoren beeinflusst (vgl. Springer-Kremser 1984). Eine wirksame Anwendung von Verhütungsmethoden hängt erfahrungsgemäß auch vom (un-)bewussten Wunsch nach einem Kind ab und von der unterschiedlichen Paardynamik, die dahinter stehen kann. Ebenso haben Trennungssituationen einen Einfluss auf die Kontrazeption. Manchmal ist fehlende Verhütung bzw. eine ungewollte Schwangerschaft ein unbewusster Versuch, die Beziehung zum Partner zu retten oder symbolisiert das Bedürfnis nach Ablösung von der Herkunftsfamilie. Es kann auch eine Sehnsucht nach Sinngebung und Orientierung im Leben dahinter stehen (vgl. Lunneborg 2000). Nicht zuletzt kann eine als konfliktreich erlebte Sexualität die
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Verhütung beeinflussen, denn die aktive Kontrolle der eigenen Fruchtbarkeit impliziert für Frauen ein bewusstes Engagement und die grundsätzliche Zustimmung zur eigenen sexuellen Lust (vgl. Pasini 1980). Frauen und Mädchen1 spüren nach Eintritt einer Schwangerschaft oft rasch körperliche Veränderungen. Meist gibt es bereits leise Vorahnungen oder konkrete Erinnerungen an eine »Verhütungspanne« in den vorangegangenen Wochen. Durch die heute in jeder Drogerie erhältlichen Tests kann eine Frau bereits vor der erwarteten Regelblutung mit großer Sicherheit eine Schwangerschaft selbst feststellen, ähnlich zuverlässig wie ein eine Ärztin/ein Arzt. Die medizinischen Fortschritte in der Diagnostik ermöglichen sehr früh, in den darauf folgenden Entscheidungsprozess einzutreten. Ein positiver Schwangerschaftstest ist ein besonderer emotionaler Moment, sowohl für Frauen mit Kinderwunsch als auch für Frauen, die eine nicht gewollte Schwangerschaft feststellen. Die ersten Reaktionen von Frauen auf die Schwangerschaft lassen häufig schon die späteren Handlungstendenzen erkennen: Drei Viertel der Frauen, die sich für die Schwangerschaft entscheiden, äußern große Freude, Glück, Stolz und das Gefühl der Erfüllung eines Wunsches. Bei Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, überwiegen als erste Reaktion Schock2, Panik, Entsetzen, Verzweiflung und Hilflosigkeit (vgl. Wimmer-Puchinger 2001). Eine ungewollte Schwangerschaft durchkreuzt Pläne, irritiert, verunsichert und fordert zur Auseinandersetzung mit zukünftigen Lebensmöglichkeiten heraus. Bei manchen Frauen wandelt sich der anfängliche Schrecken in Zuversicht oder Freude, fruchtbar und »potent« zu sein. Andere stellen schnell fest, dass sie in ihrer momentanen Lebens- und Beziehungssituation die Verantwortung für ein (weiteres) Kind nicht übernehmen können und möchten. Einige sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich auf diese Schwangerschaft einzulassen und dem Zweifel, ob dies zum jetzigen Zeitpunkt möglich ist. Diese Ambivalenzen müssen austariert werden. Wenn der erste Schock vorbei ist, beginnt die Suche nach einer Lösung. Meist sind Gespräche mit dem Partner, einer Freundin oder Familienangehörigen möglich und hilfreich. Die Entscheidung kann ein paar Wochen dauern – mitunter ist sie unmittelbar nach dem Testergebnis klar. Die Erfahrungen zeigen, dass in einem Land, in dem es keine gesetzlich vorgeschriebene »Bedenkzeit« gibt, sich jede Frau die Zeit nimmt, die sie zur persönlichen Entscheidungsfindung braucht.
1
Im Folgenden wird der Begriff »Frauen« benutzt. Sehr junge Frauen und Mädchen sind hier mitgemeint.
2
Schock wird hier umgangssprachlich verwendet im Sinne von Erschrecken, das auch wieder abklingt, wenn die Gedanken und Gefühle sortiert sind.
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Nach der Feststellung einer ungewollten Schwangerschaft kreisen unzählige Fragen in den Köpfen betroffener Frauen: Was wird mein Partner dazu sagen? Wie soll ich das (alleine) schaffen? Was wird aus meiner Ausbildung, meinem Beruf? Möchte ich überhaupt ein (weiteres) Kind? Würde ich einen Schwangerschaftsabbruch psychisch verkraften? Es gibt Partner, die in dieser Situation nicht so reagieren, wie sich Frauen dies wünschen. Dabei ist es selbstverständlich und legitim, dass Männer in dieser speziellen Situation ebenso eigene Wünsche und Bedürfnisse haben. Im besten Fall können unterschiedliche Vorstellungen gemeinsam geklärt werden. Manche Männer sind überfordert, ratlos oder fühlen sich schuldig, weil sie nicht besser »aufgepasst« haben. Viele haben sich darauf verlassen, dass ihre Partnerin wirksam verhütet. Es kommt vor, dass sich Partner in dieser Situation aus der Beziehung zurückziehen. Eine Trennung kann eine zusätzliche Belastung in dieser emotional dichten Lebenssituation sein. Wenn die Ressourcen der partnerschaftlichen Unterstützung fehlen, ist der Austausch mit einer guten Freundin, vertrauten Angehörigen oder die Gewissheit, Entscheidungen selbst (wie bisher auch) gut treffen zu können, hilfreich. Prinzipiell gibt es in Krisensituationen mehrere Möglichkeiten der Problemlösung: das Problem selbst lösen, das soziale Netz in Anspruch nehmen oder professionelle Hilfe suchen. In der psychosozialen Beratung werden diese Lösungsmöglichkeiten als gleichwertig betrachtet (vgl. Reichel 2005). Die Kraft der Unterstützung durch vertraute Menschen sollte jedoch nicht unterschätzt werden: »Das weitaus Wichtigste von allem ist allerdings die emotionale und reale Unterstützung durch Angehörige, Freunde und andere Menschen, die jedoch der Einzelne auch aktivieren und nützen muss.« (Sonneck 2000: 33) Um sich mit anderen auszutauschen, brauchen Frauen einen gesellschaftlich offenen Umgang mit dem Thema. Dabei hilft die Erkenntnis, dass eine ungewollte Schwangerschaft kein seltenes Ereignis ist. Die Wahrscheinlichkeit liegt für Frauen im Bereich der historischen und statistischen »Normalität« (Hühn 1996). Es kann innerhalb der etwa 350 Zyklen der reproduktiven Lebensjahre durchaus vorkommen, einmal oder mehrmals ungewollt schwanger zu werden. In der BZgA-Studie »Frauen leben 3« (Helfferich 2013) und dem Österreichischen Verhütungsreport (Fiala/Schweiger 2012) berichten 17-20 % der befragten Frauen, bereits einmal oder mehrmals in ihrem Leben ungewollt schwanger gewesen zu sein. Die Dunkelziffer ist aufgrund der Tabuisierung und Intimität des Themas vermutlich noch höher.
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D IE E NTSCHEIDUNG
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ABBRUCH »Having a child is a gift to the world. Not having a child is a gift to the world.« (W. SHIBLES)
Weltweit lassen mehr als die Hälfte der ungewollt schwangeren Frauen einen Abbruch durchführen (vgl. Singh et al. 2009). In Deutschland entscheiden sich 43 % der ungewollt schwangeren Frauen für einen Schwangerschaftsabbruch (vgl. Helfferich 2013). Der Österreichische Verhütungsreport belegt die Entscheidung zum Abbruch bei 55 % der ungewollt schwangeren Frauen (vgl. Fiala/Schweiger 2012). Die Wahrscheinlichkeit für einen Abbruch der eingetretenen Schwangerschaft ist größer, je mehr folgender Lebensumstände zutreffen: eine schwierige Partnerschaft, abgeschlossene Familienplanung, keine auf ein Kind bezogene Zukunftsvorstellung, in Ausbildung, berufliche und finanzielle Unsicherheit, altersbedingte Überlegungen, körperliche und/oder psychische Erkrankungen (vgl. Wimmer-Puchinger 2001; Brown 2013; Helfferich 2013). Am Beginn des persönlichen Entscheidungsprozesses steht die subjektive Bewertung der aktuellen Lebenssituation. Ist eine (erneute) Mutterschaft zum jetzigen Zeitpunkt denkbar? Ist die Partnerschaft dafür stabil genug? Kann die Schwangerschaft als positive Herausforderung und anziehendes Lebensprojekt erlebt werden? Sind unterstützende Rahmenbedingungen für ein Leben mit einem (weiteren) Kind vorhanden? Diese grundsätzlichen Fragen werden wiederholt durchdacht. Eine Entscheidung wird nicht unüberlegt getroffen, sondern ist das Ergebnis eines differenzierten Prozesses, »in dem die betroffene Frau alle ihre vorhandenen psychosozialen und sozioökonomischen Ressourcen einer gewissenhaften Prüfung unterzieht.« (Wimmer-Puchinger 2001: 156). Als hilfreich erleben Frauen die Sichtweise, dass Entscheidungen nicht einfach nur »richtig« oder »falsch« sind, sondern unterschiedliche neue Erfahrungsräume öffnen. Bei jeder Entscheidung wird auch etwas zurückgelassen – das kann traurig machen, weil wir Anteile davon gern gelebt hätten, aber nicht jetzt oder unter diesen Bedingungen. Das betrifft auch die Entscheidung zum Abbruch und die Entscheidung zur Fortsetzung einer Schwangerschaft. Der Prozess der Entscheidungsfindung kann für Frauen konflikthaft sein – dies muss jedoch nicht zwangsläufig eintreten. Generell spricht man von einem Konflikt (lat. confligere »zusammentreffen«), wenn Wertvorstellungen, Interessen oder Zielvorstellungen von Personen oder gesellschaftlichen Gruppen unvereinbar sind oder unvereinbar erscheinen. Konflikte, die im Zusammenhang mit einer ungewollten Schwangerschaft auftreten können, sind zum einen Wertkonflikte auf der intra- bzw. interpersona-
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len Ebene und Informationskonflikte bzw. Machtkonflikte auf gesellschaftlicher Ebene. Der Wertkonflikt, in dem sich Betroffene befinden können, ist häufig ein antizipierter Konflikt zwischen eigenen Bedürfnissen, individuellen Lebensvorstellungen und gesellschaftlichen Erwartungen. Frauen, die sich für die Mutterschaft entscheiden, bekommen ideelle Wertschätzung; Frauen, die einen Abbruch durchführen lassen, erfahren Abwertung und Stigmatisierung. Viele Frauen erleben im Zusammenhang mit ihrer ungewollten Schwangerschaft auch Informationskonflikte (falsche oder ungenügende Informationen zum Abbruch) oder Machtkonflikte (gesetzlich vorgeschriebene Pflichtberatungen, Bedenkzeit und Wartefristen), die nicht hilfreich in der Bewältigung der aktuellen Situation sind. Auf der persönlichen Ebene ist der eigentliche intrapersonale Konflikt – »das Unvereinbare« – die Tatsache, dass die betroffene Frau schwanger ist und gleichzeitig kein Kind haben möchte. Das konflikthafte Aufeinandertreffen dieser Fakten liegt zeitlich vor der Entscheidung für oder gegen die ungewollte Schwangerschaft. Der Schwangerschaftsabbruch kann die Lösung dieses Konflikts sein und die »Normalität« des bisherigen Lebens wieder herstellen. In der Entscheidungsphase suchen Betroffene auch nach Informationen über den Schwangerschaftsabbruch. Diese Suche gestaltet sich nicht immer einfach. Sie treffen dabei auf strukturelle Behinderungen, die auch ein Ausdruck der grundsätzlichen gesellschaftlichen Missbilligung sind und die ungewollt schwangere Frauen als solche erleben. Selbst professionelle Fachkräfte im Gesundheitswesen agieren mitunter mit Falschinformationen, wertenden Kommentaren und subtilen Manipulationen. Frauen berichten, dass ihnen während der gynäkologischen Untersuchung gegen ihren Willen der Ultraschallmonitor zugewandt wurde. Auch zögerliche Unterstützung beim Empfehlen einer medizinischen Einrichtung, die Abbrüche durchführt, oder falsche Hinweise über die Dauer der gesetzlich geregelten Frist sind nicht selten. Die Betroffenen benötigen in sehr kurzer Zeit umfangreiche und komplexe Informationen. Gefragt ist sowohl Grundsätzliches über den Ablauf eines Abbruchs als auch Konkretes wie zum Beispiel Adressen von wohnortnahen Kliniken und finanzielle Aspekte. Sobald die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch feststeht, müssen Frauen Zugang zur medizinischen Durchführung haben. Jede unfreiwillige Wartezeit ist eine psychische und zum Teil auch körperliche Belastung (wegen ggf. bereits eintretender schwangerschaftsbedingter Symptome). Eine wichtige Informationsquelle in der Entscheidungsphase ist das Internet. Es bietet ungewollt Schwangeren die gewünschte Anonymität für persönliche Recherchen. Dieses Suchverhalten wird auch von religiös motivierten Gruppen weltweit genutzt, um Falschinformationen auf scheinbar »neutralen« Webseiten zu verbreiten (vgl. FrauenSicht 2/2013: 3). In Österreich sind medizinische
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Fachkräfte proaktiver als die selbsternannten »Lebensschützer/-innen«. Die Internetadresse »abtreibung.at« führt auf umfassende, evidenzbasierte Informationen für Betroffene in der Entscheidungsphase, für Interessierte und für Fachkräfte. Eine psychosoziale Beratung zur Entscheidungsfindung ist nur selten erforderlich. Diese Beratung soll im Rahmen der allgemeinen Angebote der psychosozialen Versorgung möglich sein, selbstverständlich freiwillig und ergebnisoffen. Beratung definiert sich als »komplexe zwischenmenschliche Interaktion, die aufgrund einer konkreten Nachfrage in Gang kommt, inhaltlich und zeitlich begrenzt ist und dem/der Rat Suchenden (KlientIn) Freiheit lässt« (Reichel/ Rabenstein 2001: 7). Ein gesetzlich vorgeschriebenes Beratungsgespräch kann diesem Anspruch nur bedingt gerecht werden. Das Kriterium der Freiwilligkeit ist in diesem Fall nicht gegeben. Meine Erfahrungen zeigen, dass in einer Einrichtung, in der jährlich etwa 900 Abbrüche durchgeführt werden, maximal eine von zehn Frauen psychosoziale Beratung zur Entscheidungsfindung benötigt. Grundsätzlich hat jeder Mensch das Recht, Umfang und Grenzen eines medizinischen und psychosozialen Behandlungsauftrags selbst zu bestimmen. Frauen müssen wählen können, ob sie mit der behandelnden Ärztin/dem Arzt und/ oder einer Beraterin zu den Aspekten ihrer Entscheidung sprechen möchten. Ergebnisoffene Beratung und Information gehören zum Selbstverständnis einer Institution, die ungewollt Schwangere behandelt, ganz im Interesse der Sicherung einer »informierten Entscheidung«. Für die Gestaltung einer psychosozialen Versorgung, die sich an den Bedürfnissen der Frauen orientiert, ist es bedeutsam, zwischen einer Schwangerschaftskonfliktberatung (Beratung bei Ambivalenzen) und dem Beratungsgespräch für Frauen, die zum Abbruch entschieden sind, zu unterscheiden. Letzteres hat stärker informativen Charakter. Fast alle Frauen, die in einer Klinik/Praxis anrufen, um einen Termin zum Schwangerschaftsabbruch zu vereinbaren, haben ihre Entscheidung bereits im Vorfeld getroffen und diese mit vertrauten Personen besprochen3. Sie sind zum Abbruch entschlossen und wünschen sich zusätzliche Informationen über Aspekte der Behandlung, eine wertschätzende Betreuung und ggf. Verhütungsberatung. Wenig Bedarf hingegen gibt es, über persönliche Motive oder religiöse Aspekte zu sprechen (vgl. Vandamme 2013). Best Practice ist, das (freiwillige) Beratungsgespräch in einer Klinik nach gynäkologischer Feststellung der ungewollten Schwangerschaft mit Fragen zu eröffnen wie: »Wie geht es Ihnen mit Ihrer Entscheidung zum Abbruch?«,
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Das trifft auch für Frauen zu, die in Deutschland einen Termin zur vorgeschriebenen Beratung nach den §§ 218/219 StGB in einer Beratungsstelle vereinbaren.
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»Konnten Sie mit jemandem darüber sprechen?«, »Gibt es jemanden, der/die Sie unterstützt?«. So gut wie alle Frauen nehmen dieses Gesprächsangebot an und reden offen auch über Ängste und Fantasien (z.B. »Kann ich danach noch Kinder bekommen?«, »Spürt der Embryo etwas davon?«), über Schuldgefühle (»Ich bin grundsätzlich gegen Abtreibung und dachte nicht, dass ich jemals in so eine Situation kommen würde!«) oder die aktuelle Beziehungssituation. Beratung über die unterschiedlichen Methoden des Schwangerschaftsabbruchs, die nachfolgende Verhütung und eine einfühlsame Begleitung sind integrale Bestandteile jeder professionellen Betreuung ungewollt schwangerer Frauen und längst internationaler Behandlungsstandard (vgl. WHO 2012). Es gibt keinen Beleg, dass eine gesetzlich verordnete Pflichtberatung Frauen Vorteile bringt. Das bundesdeutsche »Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten« regelt im Abschnitt 2/§ 5 den Inhalt der verpflichtenden Beratung4 und geht dabei nicht darauf ein, dass sich die überwiegende Mehrheit der ungewollt schwangeren Frauen in keinem Schwangerschaftskonflikt befindet. Dieses fundamentale Missverständnis führt dazu, dass zum Abbruch entschlossene Frauen, eine verpflichtende »Konfliktberatung« absolvieren müssen, die wie folgt definiert ist: »Die Beratung soll ermutigen und Verständnis wecken... und dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Die Beratung umfasst das Eintreten in eine Konfliktberatung; dazu wird erwartet, dass die schwangere Frau der sie beratenden Person die Gründe mitteilt, derentwegen sie einen Abbruch der Schwangerschaft erwägt.« (BM für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012 - Schwangerschaftsberatung § 218: 32)
Um diese Verordnung legal zu umgehen reisen jährlich u.a. Frauen/Paare aus Deutschland zum Abbruch nach Österreich (vgl. Gynmed Ambulanz 2013) oder in die Niederlande (vgl. Ministerie van Volksgezondheid 2011).
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Näheres dazu ist dem Beitrag von Jutta Franz in diesem Buch zu entnehmen.
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B EHANDLUNG »Die freundliche und einfühlsame Art des ganzen Teams hat uns bei diesem schwierigen Schritt viel Kraft gegeben. Danke.« (NOTIZ VON PATIENTIN MIT PARTNER)
Nachdem die grundsätzliche Entscheidung für den Abbruch der Schwangerschaft gefallen ist, stehen verschiedene medizinischen Behandlungsmethoden zur Auswahl: der chirurgische Abbruch mittels Saugkürettage in Vollnarkose oder mit lokaler Anästhesie und der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch. Erfahrungsgemäß sind Frauen sehr gut in der Lage, nach entsprechenden Informationen über Vor- und Nachteile die für sie passende Methode zu wählen. Frauen entscheiden sich für die medikamentöse Methode vor allem, weil sie um Vermeidung von Invasivität in Form von Kürettage und Narkose bemüht sind und einen instrumentellen Eingriff oft als Verletzung ihrer Intimsphäre wahrnehmen. Sie legen Wert auf selbstbestimmtes Entscheiden, körperliche Autonomie und bewusste Übernahme der Kontrolle und Verantwortung auch für die Durchführung des Abbruchs selbst (vgl. Hemmerling 2003). Die chirurgische Methode in Vollnarkose wird gewählt, um sich dem physischen Teil des Abbruchs bewusst entziehen zu können und dadurch Sicherheit zu gewinnen, weil die Durchführung einer fachkundigen und kontrollierenden Instanz überlassen werden kann. Die lange Erfahrung im Umgang mit diesem Verfahren wird geschätzt wie auch der geringere Zeitaufwand (vgl. Wimmer-Puchinger 2001; Hemmerling 2003). Alle genannten Methoden sind sicher und wirksam. Sie unterscheiden sich jedoch deutlich im subjektiven Erleben und zeitlichen Verlauf. Beim chirurgischen Abbruch in örtlicher Betäubung und beim medikamentösen Abbruch erleben Frauen den Prozess des Abbruchs bewusst mit. Dieses bewusste Erleben des Abbruchs beinhaltet die Chance, innere Bilder darüber zu differenzieren (vgl. Knopf/Mayer/Mayer 1995; Fiala 2001; Fiala 2003). Jede Frau und jeder Mann hat Fantasien vom Ablauf eines Schwangerschaftsabbruchs. Da aber kaum jemand einen Abbruch selbst gesehen hat, werden die Phantasien durch die Berichte anderer angeregt. Bilder aus dem Internet prägen die Vorstellungen stark mit. Bedauerlicherweise gibt es im Netz fast ausnahmslos Bilder, die den Abbruch abschreckend darstellen. Insofern ist es nachvollziehbar, dass viele Frauen eine Vollnarkose verlangen, um den in ihren Vorstellungen dramatischen Verlauf nicht miterleben zu müssen. Beim Abbruch in Vollnarkose gibt es für Betroffene kaum Möglichkeiten, die Fantasien durch reale Erfahrungen zu diffe-
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renzieren. Eine einfühlsame Erklärung, Betreuung bis zur Wirkung der kurzen Narkose und in der darauffolgenden Aufwachphase wird als hilfreich erlebt. Frauen, die einen Abbruch in örtlicher Betäubung wählen, sind zumeist erstaunt, wie kurz der medizinische Eingriff gedauert hat und wie undramatisch sich der Ablauf gestaltete. »Die Ärztin hat gesagt, was sie gerade tut. Ich habe ein Ziehen gemerkt. Darauf hatten die beiden mich vorher hingewiesen. Sie haben mir gesagt, was ich zu erwarten hätte. Dann ging es ganz schnell vorbei. Ich war im Grunde genommen positiv überrascht, wenn das passend ist für diese Situation.« (Knopf/Mayer/Meyer 1995: 69)
Im Unterschied zum kurzen chirurgischen Eingriff ist der medikamentöse Abbruch mit Mifegyne ein längerer Prozess über mehrere Tage. Die Frauen erleben mit Blutungsbeginn das Ausscheiden der Schwangerschaft und sehen manchmal den Fruchtsack. Dieser ist je nach Alter der Schwangerschaft zwischen einem und etwa vier Zentimeter klein. Es hat sich bewährt, beim Beratungsgespräch ein Foto eines Fruchtsacks der siebten Schwangerschaftswoche in der Originalgröße zu zeigen (z.B. http://abtreibung.at/fur-allgemein-interessierte/die-methoden). Die Frauen bzw. Paare sind erstaunt, dass die Schwangerschaft »so« aussieht und erleben diese Tatsache sichtlich entlastend. Oft wird der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch als »natürlicher« empfunden. Das bewusste Erleben ermöglicht eine Korrektur der Fantasien und eine Differenzierung innerer Bilder. Je nach Phase der Behandlung fokussieren Frauen unterschiedliche Aspekte des Geschehens: In der Zeitspanne zwischen der Mifegyne-Einnahme (Abbruch der Schwangerschaft) und der zwei Tage später erforderlichen ProstaglandinEinnahme stehen parallel zum Alltagsverlauf das Beobachten des Körpers und das Warten auf die Blutung im Zentrum der Aufmerksamkeit. Erfolgt die Prostaglandin-Einnahme zu Hause, erleben Frauen die nun »sichtbare Phase« des Abbruchs in ihrer vertrauten Umgebung. Sich ins eigene Bett zurückziehen können, ein Schmerzmittel einnehmen und vom Partner oder einer lieben Freundin versorgen lassen, hilft in diesen Stunden über unangenehme Nebenwirkungen wie Bauchschmerzen oder Übelkeit hinweg. Subjektiv beruhigend ist die Gewissheit, über eine Telefonhotline jederzeit die behandelnde Ärztin oder den behandelnden Arzt erreichen zu können. Nach Blutungsbeginn erfordert die Wartezeit bis zum ärztlichen Kontrolltermin (nach etwa einer Woche), die subjektive Ungewissheit aushalten zu können, ob die Methode auch tatsächlich »funktioniert« hat. Jede Einrichtung, die Abbrüche durchführt, sollte alle drei Methoden zur Auswahl anbieten, über die Methoden bereits bei der Terminvereinbarung in-
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formieren und den unterschiedlichen Verlauf erklären. Administrative oder finanzielle Überlegungen sollten bei der Wahl keine Rolle spielen. Und auch hier gilt: Eine allgemein gültige »richtige« oder »falsche« Entscheidung gibt es nicht – lediglich andere Erfahrungen während des Behandlungsverlaufs.
D IE Z EIT
DANACH »Well
something’s
lost
and
something’s
gained...« (AUS: »BOTH SIDES NOW« J. MITCHELL)
Ein Schwangerschaftsabbruch umfasst eine Bandbreite von Gefühlen. Mitte der 1990er Jahre erschien das Buch: »Traurig und befreit zugleich« (Knopf/Mayer/ Mayer 1995), in dem die Ergebnisse einer Befragung von Frauen im Familienplanungszentrum Hamburg veröffentlicht wurden. Beinahe 20 Jahre später ist diese Beschreibung der Gefühle von Frauen nach einem Abbruch nicht besser formulierbar. Die Emotionen der Frauen schwanken zwischen Schuldgefühlen, Traurigkeit und spürbarer Erleichterung. Gefühle, die auch Frauen nach einer Geburt nicht fremd sind. Viele Frauen erleben die Zeit bis zum Termin des Abbruchs wesentlich belastender als den Eingriff selbst oder die Zeit danach. Die Gewissheit, dass nach dem Abbruch der ungewollten Schwangerschaft das »normale Leben« wie bisher weitergeht, ist stabilisierend. »Für Frauen bedeutet eine Abtreibung, dass sie ihr bisheriges Leben fortsetzen und damit ihrer Verantwortung sich selbst, ihren Familien bzw. ihren Kindern und der Gesellschaft gegenüber weiter gerecht werden können.« (Lunneborg 2000: 3). Voraussetzungen für die gute Bewältigung eines Schwangerschaftsabbruchs sind eine selbstbestimmte Entscheidung, ausreichende Informationen, eine wohlwollende Akzeptanz im persönlichen Umfeld sowie eine angenehme und respektvolle Atmosphäre während der Behandlung bei gleichzeitig hohem medizinischem Standard. Für die Krisenbewältigung rund um eine ungewollte Schwangerschaft gelten die gleichen psychologischen Mechanismen wie für andere kritische »live events« (vgl. Homes/Rahe: 1964). Auch die Erkenntnisse der Zufriedenheitsforschung können auf Ereignisse im Bereich der reproduktiven Gesundheit übertragen werden. Demnach hat jede Person einen relativ konstanten Zufriedenheitswert, von dem sie/er bei bedeutenden Ereignissen i.d.R. nur für kurze Zeit abweicht. Besondere Lebensereignisse erhöhen oder verringern nach dieser »SetPoint-Theorie« (vgl. Headey/Wearing: 1989) das subjektive Wohlbefinden tem-
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porär und nach einiger Zeit erfolgt eine Wiederannäherung an das ursprüngliche Niveau. Für Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch bedeutet dies, dass sie meist kurze Zeit danach wieder in der Befindlichkeit ihres vorangegangenen Alltagslebens sind. Dies ist auch eine der Kernaussagen der zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Schwangerschaftsabbruch und Psyche: Das vorbestehende psychische Befinden hat den größten Einfluss darauf, wie sich Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch fühlen. (Vgl. SVSS 2001; Major et. al 2008; ANSIRH 2010; Munk-Ohlsen et al. 2011; Segh et al. 2012) Aktuelle Übersichtsarbeiten und Studien belegen, dass das relative Risiko von psychischen Problemen bei Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft in den ersten Wochen abbrechen, nicht höher ist, als wenn sie sich für die Mutterschaft entscheiden (vgl. Gilchrist et al. 1995; Major et. al. 2008, Charles et. al 2008, Academy of Medical Royal Colleges/National Collaborating Centre for Mental Health 2011). Keine Zunahme von psychischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen bei Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch belegt auch eine große dänische Studie (vgl. Munk-Olsen et al. 2011). Depressionen in Folge eines Abbruchs werden meist nur in Studien gefunden, die methodologische Fehler aufweisen und vorbestehende depressive Erkrankungen oder Gewalterfahrungen nicht berücksichtigt haben (vgl. Guttmacher Institute 2011, 2012). Erwiesen ist auch, dass junge Frauen, die einen Abbruch durchführen lassen, später kein höheres Risiko haben, an einer Depression zu erkranken oder unter geringem Selbstwertgefühl zu leiden (vgl. Warren et. al. 2010). Ein Abbruch ist ein Ereignis im Leben einer Frau, das positive und/oder negative Wirkungen haben kann. Er kann, wie viele andere schwierige Lebenssituationen, manchmal prägend in Erinnerung bleiben. Wie bei allen schweren Entscheidungen wird etwas zurückgelassen, was betrauert werden darf. Diesem Gefühl auch Raum und Ausdruck zu geben, ist ein normaler und wichtiger Prozess der Verarbeitung schwieriger Ereignisse. Auffallend ist, dass in unserer Gesellschaft der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft als Stressfaktor deutlich überbewertet wird im Vergleich zu anderen Belastungen, die Frauen erleben wie beispielsweise den Tod naher Angehöriger, eine Trennung oder Scheidung, eine schwere körperliche oder psychische Erkrankung, den Verlust des Arbeitsplatzes, finanzielle Schwierigkeiten oder die chronischen Mehrfachbelastungen durch Familien- und Erwerbsarbeit. Selbstverständlich gibt es Risikofaktoren, die eine psychische Verarbeitung erschweren können. Es sind dies psychische Erkrankungen, starke Ambivalenzen und Entscheidungsschwierigkeiten, soziale Isolation, der Abbruch einer gewünschten Schwangerschaft (z.B. ein Spätabbruch nach einer medizinischen Indikation), die Geheimhaltung bzw. ein äußerer Druck bei der Entscheidung, star-
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ke religiöse Bedenken und auch Übergriffe von religiösen Fanatikerinnen und Fanatikern (vgl. Major et al. 2008). Frauen mit diesbezüglichen Vorerfahrungen brauchen besondere Aufmerksamkeit im Behandlungsverlauf und danach. Manche von ihnen sind während des Schwangerschaftsabbruchs das erste Mal in einer professionellen Beratungssituation, und dieser Kontakt kann zur Vermittlung in eine weiterführende Beratung oder Psychotherapie genützt werden. Immer wieder werden Mythen über anhaltende psychische Beeinträchtigungen nach einem Schwangerschaftsabbruch kolportiert. Auch unwissenschaftliche Behauptungen halten sich hartnäckig in der Diskussion. Es ist zu bedenken, dass Aussagen über psychische Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs große gesellschaftliche Relevanz haben, da Abtreibungsgegner/-innen sie als Rechtfertigung für Zugangseinschränkungen instrumentalisieren (vgl. Guttmacher 2011; Thonke 2012). Frauen werden mit der Absicht beunruhigt, um sie von ihrer Entscheidung abzubringen. Beispiel dafür ist das so genannte Post Abortion Syndrom. Der Begriff wurde erstmals von einem »Pro-Life« Aktivisten (Rue 1981) in einer Aussage vor dem Justizausschuss des U.S.-Senats verwendet. Später wurde das Syndrom als Variante einer posttraumatischen Belastungsstörung infolge eines Schwangerschaftsabbruchs konzeptualisiert (vgl. Speckhard/Rue 1992). Argumentationsgrundlage dafür waren Interviews mit 30 Frauen, die rekrutiert wurden, weil sie eine Abtreibung, die 1 bis 25 Jahre zurücklag, als »extrem belastend« bewerteten. Über die Hälfte der interviewten Frauen hatte Spätabbrüche im zweiten oder dritten Trimenon, einige Frauen hatten illegale Abtreibungen (Major et al. 2008: 18). Dieses Untersuchungssample ist definitiv nicht vergleichbar mit Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft in den ersten Wochen selbstbestimmt abbrechen lassen. Das »Post Abortion Syndrom« ist weder in der Medizin noch in der Psychologie anerkannt und wird auch in keinem Diagnosemanual beschrieben. Dennoch ist es immer wieder Thema, wenn aus konservativer Perspektive über Schwangerschaftsabbruch und Psyche geschrieben oder gesprochen wird – möglicherweise, weil mit diesem psychischen »Gesundheitsargument« Frauen stärker verunsichert werden können als mit gängigen »moralischen« Argumenten. Weltweit lassen jährlich 43,8 Millionen Frauen eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen (vgl. Segh et al. 2012). Ein Schwangerschaftsabbruch ist somit der häufigste gynäkologisch-chirurgische Eingriff. Wird er unter legalen Bedingungen durchgeführt, ist ein Abbruch weder für Betroffene noch für Durchführende eine traumatische Erfahrung »außerhalb der normalen menschlichen Erfahrungen mit außergewöhnlicher, katastrophenartiger Bedrohung« (BMG 2013: 220 - ICD 10/F.43.1). Wenn posttraumatische Belastungsreaktionen und anhaltende psychische Probleme zu erwarten wären, würde es unzählige Frauen ge-
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ben, die eine Behandlung benötigen würden. Tatsächlich gibt es dafür keine Evidenz. »Was mir auf dem Herzen liegt und was ich sehr schlimm finde ist, dass so viele Irrtümer über psychische Folgen verbreitet sind. Dass nicht gefragt wird, haben mögliche Folgen wirklich etwas mit dem Abbruch zu tun oder nicht viel mehr mit der Situation, in der die Frau lebt... « (Knopf/Mayer 1995: 109)
AUS
DER
S ICHT
BETROFFENER
F RAUEN
»Nicht die Dinge machen uns zu schaffen, sondern die Art und Weise, wie wir diese wahrnehmen.« (EPIKTET)
Frau A. (Fallbeispiel aus dem Frauengesundheitszentrum) Frau A. kommt zur psychologischen Beratung ins Frauengesundheitszentrum. Der Erstkontakt erfolgte per E-Mail. Frau A. ist 30 Jahre alt, Studentin und schreibt an ihrer Dissertation. Im persönlichen Gespräch erzählt sie, seit einigen Monaten »aus der Bahn geworfen« zu sein, unter Schlafstörungen zu leiden und manchmal weinerlich und »berührt« zu sein. Sie führt dies auf einen »nicht verarbeiteten« Schwangerschaftsabbruch vor eineinhalb Jahren zurück und möchte eine Form des Abschieds, ein Ritual finden, um mit der Entscheidung besser leben zu können. Sie erzählt über ihr »unstetes und bewegtes Liebesleben«, bevor sie bei einem OneNight-Stand schwanger wurde. Die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch in der 7. SSW sei rasch klar gewesen. Danach habe sie sich erleichtert gefühlt. Erst nach dem Kennenlernen ihres jetzigen Partners – ein halbes Jahr später – sei der Abbruch gedanklich wieder Thema geworden. Sie meint, dass sie sich ein Trauern nach dem Abbruch nicht gestattet hätte und ihre momentanen Befindlichkeitsstörungen vermutlich die psychischen Folgen dieses Abbruchs sind. Auf die Frage nach der »positiven Bedeutung« dieser Schwangerschaft in ihrem Leben meint Frau A. spontan, dass ihr dazu viel einfalle: Sie sei sehr stolz gewesen, tatsächlich schwanger werden zu können, habe dieses potente Gefühl erlebt, und ihr wurde damals klar, dass sie grundsätzlich einmal Kinder haben möchte. Weiter bewirkte die ungewollte Schwangerschaft ein Innehalten in ihrem ansonsten sehr turbulenten Leben – sie habe sich nach einer behüteten Kindheit und dem ersten Studienabschluss einfach mal ins Leben schmeißen wollen, und die Schwangerschaft sei eine Art »Stopp« gewesen und ein Über-
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prüfen, ob sie so weitermachen wolle. Sie habe damals entschieden, etwas ruhiger zu werden und wollte sich auf eine neue tragfähige Beziehung einlassen. In der Zeit der Entscheidungsfindung habe sie erstmals einen anderen Umgang mit ihren Eltern erlebt. Besonders ihren Vater empfand sie hilfreich im Abwägen aller Möglichkeiten. Gleichzeitig habe sie sich erstmals von ihren Eltern in ihrer eigenen Entscheidungsfindung respektiert gefühlt. Der Gedanke, dass diese Erfahrungen ohne die ungewollte Schwangerschaft eventuell nicht möglich gewesen wären, hatte etwas sehr Positives für die Klientin. Im Lauf des Gesprächs wurde Frau A. deutlich, dass die Schlafstörungen vielmehr mit ihrem aktuellen Leistungsdruck und perfektionistischen Herangehen an die Dissertation zusammenhängen und in direktem, zeitlichem Zusammenhang mit diesem Stress aufgetreten sind. Hier hatte offensichtlich die latente Angst vor den »zu befürchtenden Folgen« eines Schwangerschaftsabbruchs gut als Erklärung gedient und das eigentlich belastende Thema der Klientin – ihr Perfektionismus und hoher Leistungsanspruch – verdeckt. Auf die Frage, wann genau die Gefühle des »Berührt-Seins« auffällig für sie wurden, meint Frau A., dass das in Zusammenhang mit dem Beginn ihrer neuen Beziehung war. Ihr Partner sei sehr selbstständig, und erstmals in ihrem Leben führe sie eine Beziehung, in der sie nicht die Starke und Unterstützende ist. Scheinbar habe sich ihre vertraute Rolle in dieser Beziehung verändert, und sie könne damit schwer umgehen. Sich fallen lassen und nicht wie bisher als »die Starke« zu funktionieren, sei ihr fremd, und gleichzeitig merkt sie, wie gut es ihr tut, von ihrem Partner zu hören: »Ich will Dich unterstützen«. Neu war auch der Kontakt mit Kindern aus der Verwandtschaft ihres Partners. Sie erlebte die gemeinsamen Stunden mit den Kindern als sehr liebevoll, was sie emotional stark berührte. Erstmals würde sie sich erlauben, über ihren Kinderwunsch zu reden, und das alles sei so neu und fremd, dass es sie sehr stresse und irgendwie »aus der Bahn werfe«. Der Leistungsdruck durch den Studienabschluss, die neue Beziehung, das Zulassen von Nähe und die Möglichkeit, sich erstmals auch fallen lassen zu können, scheinen Ängste, Unsicherheiten und Stress bei Frau A. ausgelöst zu haben. In der Beratung wurde dann gemeinsam nach Möglichkeiten eines Abschiedsrituals (die ungewollte Schwangerschaft betreffend) gesucht, was zu Beginn auch das Hauptanliegen von Frau A. war. Es wurde Frau A. zugesichert, dass sie nachträglich eine Kopie des Ultraschallbildes aus der Klinik bekommt. Insbesondere die Idee, einen Brief zu schreiben und sich innerlich für die wichtigen Erfahrungen, die mit dem Erleben der ungewollten Schwangerschaft verbunden waren, zu bedanken, fand die Klientin hilfreich. Für ihre Themen »Umgang mit herausfordernden Arbeitssituationen« und »meine neue Beziehung«
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wollte sich Frau A. mehr Zeit nehmen und zeigte sich sehr interessiert an weiterführenden psychotherapeutischen Sitzungen. Frau B. (E-Mail an die Klinik) Ich war letztes Jahr im November bei Ihnen in der Ambulanz. Vielleicht können Sie sich noch erinnern. Ich möchte mich nur noch einmal für Ihre großartige Arbeit bedanken. Sie haben mir mit Ihren Gesprächen wirklich sehr geholfen, auch wenn es zuerst nicht so aussah. Einige Wochen nach dem Abbruch verkroch ich mich in mich selbst und glaubte, so nicht weiterleben zu wollen. Ich lernte eine ganz neue Seite an mir kennen. Ich konnte einfach nicht vergessen, was ich da gemacht habe. Nun, fast ein Jahr später, kann ich voll und ganz hinter dieser Entscheidung stehen. Natürlich werde ich das kleine Wesen, das in mir war, sicher nie vergessen. Es war Teil meines Lebens, wenn auch eher ein unglücklicher. Ich bereue diese Entscheidung auch nicht mehr. Ich habe zwei Kinder, die ich sehr liebe, ein drittes hätte alles verändert. Nie werde ich die liebevolle Betreuung aller Beteiligten an diesem Tag vergessen. Nicht ein Mal habe ich irgendeine Spur von Vorwürfen gespürt, ganz im Gegenteil. Sie konnten soviel Verständnis für meine damalige Situation übermitteln, dafür bin ich Ihnen dankbar. Vielleicht hat mir auch geholfen, dass meine Schwester kurz nach meinem Abbruch schwanger wurde, so unverständlich es klingt, ich glaube fest daran. Vor wenigen Wochen hat sie entbunden, und ich durfte dabei sein. Und so süß kleine Babys auch sind, bestätigte es doch meine Gedanken, dass in meinem Leben kein Platz mehr für ein drittes Kind ist. Auch meine Partnerschaft hat sich verändert, sehr zum Positiven übrigens. Er konnte lange nicht darüber sprechen, doch bald kam der Tag, an dem wir gemeinsam Abschied nehmen konnten, auch das hat mir sehr geholfen. Unsere zehnjährige Partnerschaft hat sich so zum Positiven gewendet, dass wir vor wenigen Wochen geheiratet haben. Ich möchte hier keineswegs einen Schwangerschaftsabbruch gut reden, dennoch möchte ich sagen, dass er auch ein Weg zu etwas Neuem sein kann und bei weitem nicht immer für den Rest eines Lebens, mit Schmerz und Trauer verbunden sein muss. Ich wollte Ihnen einfach nach fast einem Jahr ein Fazit einer Betroffenen übermitteln und Ihnen meine aufrichtige Dankbarkeit für Ihre Arbeit zeigen.
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T ÖCHTER »Ich träume von dem Tag, an dem alle Kinder, die geboren werden, gewollt sind, Männer und Frauen gleich sind und die Sexualität als Ausdruck von Liebe, Freude und Innigkeit gilt.« (E. O. JENSEN)
»Wir müssen über Abtreibungen reden...« lautete der Titel einer Serie in der Wiener Stadtzeitung »Falter« (2013), in der zahlreiche Beiträge über den Schwangerschaftsabbruch veröffentlicht wurden. Selbstverständlich muss mehr und vor allem sachlicher darüber gesprochen werden. Nur so kann die öffentliche Meinung verändert und ein Schwangerschaftsabbruch als etwas wahrgenommen werden, was in einem Frauenleben vorkommen kann. Frauen müssen sich ermutigt sehen, im privaten wie im öffentlichen Raum auch über ihre positiven Erfahrungen beim Abbruch zu berichten. Zudem muss die Vergangenheit reflektiert werden, damit sichtbar wird, warum das gesetzliche Verbot dieser gynäkologischen Behandlung tausenden Frauen das Leben gekostet hat und in keinem einzigen Land der Welt zu einem Rückgang an Abbrüchen geführt hat. Das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs war und ist Ausdruck einer Haltung, die Frauen die Entscheidungsfreiheit über ihren Körper und ihr Leben nimmt. Es muss auch darüber diskutiert werden, dass die Legalisierung über die juristische Konstruktion der gesetzlichen »Straffreistellung« unbefriedigend ist und der Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetz gestrichen gehört. Ein Schwangerschaftsabbruch darf kein »Delikt« sein, das unter definierten Umständen geduldet und straffrei gestellt ist. Der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft ist eine gynäkologische Dienstleistung. In Kanada gibt es seit 1988 kein Gesetz mehr zum Schwangerschaftsabbruch. Er ist, wie andere medizinische Behandlungen, integraler Bestandteil der allgemeinen gynäkologischen Versorgung und wird vom Staat bezahlt (vgl. Arthur 2008; MUVS 2013). Öffentliche und sachliche Debatten über den Schwangerschaftsabbruch haben zusätzlich eine wichtige Dimension für Betroffene: Sie ermöglichen ungewollt schwangeren Frauen, sich nicht als isolierte Einzelfälle zu erleben. Darüber zu reden bedeutet, »dass andere Frauen weniger leiden müssen, um zu einer ihrer Situation angemessenen Entscheidung und Problemlösung zu gelangen. Nicht zu wissen, wie Millionen von Frauen vor ihnen dachten und fühlten, lässt künftig Millionen von Frauen ohne Leitbilder und Bezugspunkte unnötig allein« (Lunneborg 2000: 71) Die Auseinandersetzung mit dem Thema führt bis zu Aspekten der Prävention: Der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft ist häu-
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fig die Folge fehlender oder nur mäßig wirksamer Verhütung. Regelmäßige Verhütungskampagnen sollen integraler Bestandteil einer präventiven Gesundheitspolitik sein. Wirksame Verhütungsmittel müssen kostengünstig und leicht erhältlich sein. Zur Prävention gehört auch die Information, dass bestimmte Lebensphasen das Risiko, ungewollt schwanger zu werden, begünstigen: nach einer Geburt, während der Stillzeit, in Trennungsphasen und auch in partnerlosen Zeiten (Lebenserfahrung: Sexualität ergibt sich gelegentlich spontan). Generell sollten Gespräche über die unterschiedliche Wirksamkeit der Verhütungsmethoden in der Sexualpädagogik und bei der Frauenärztin oder dem Frauenarzt einen zentralen Platz haben. »Wir müssen über Abtreibungen reden...« bedeutet nicht zuletzt, über dieses Thema konsequent Expertinnen und Experten zu Wort kommen zu lassen und es nicht beruflich Unerfahrenen und religiös Motivierten zu überlassen. Es ist ein Plädoyer für mehr Sachlichkeit in dem Bewusstsein, dass der Diskurs nicht ohne spürbare Verbesserungen im Bereich allgemeiner frauenpolitischer Forderungen geführt werden kann.
E PILOG »Non, je ne regrette rien.« (E. PIAF)
Im Spätherbst 2013 spaziere ich mit meiner langjährigen Freundin E. am See entlang. Wir kennen uns seit über 30 Jahren. E. ist Pädagogin, verheiratet und kinderlos geblieben. Ich weiß, dass sie zwei Schwangerschaftsabbrüche und eine Fehlgeburt während ihres Studiums hatte. Wen, wenn nicht E., könnte ich noch um eine persönliche Botschaft für diesen Beitrag bitten. E. erkundigt sich nach dem genauen Titel des Artikels und denkt dann lange nach. »Weißt du, mir fällt da eigentlich nichts ein. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich da irgendetwas ›bewältigen‹ musste. Die Situation war für mich beide Male klar. Ich erzähle davon aber kaum jemandem und frage mich, warum ich das für mich behalte. Ich glaube, aus Angst, von anderen dafür verurteilt zu werden. Das ist der einzige Konflikt, den ich habe. Sonst berührt mich das Thema nicht mehr.«
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L ITERATUR Academy of Medical Royal Colleges/National Collaborating Centre for Mental Health (2011): Induced Abortion and Mental Health – a systematic review, London, siehe: www.nccmh.org.uk/publications_SR_abortion_in_MH.html (Zugriff am 23.05.2014). Arthur, Joyce (2008): Canada Does Not Need an Abortion Law, Abortion Rights Coalition of Canada, siehe: www.arcc-cdac.ca/action/dont-need-abortionlaw.html (Zugriff am 25.11.2013). Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (2012): Schwangerschaftsberatung § 218, Berlin, siehe: www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/ Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Schwangerschaftsberatung-_C2_A7-218,pro perty=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf (Zugriff am 23.05.2014). Bundesministerium für Gesundheit (2013): ICD 10 – BMG 2013, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme
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Beratung nach § 219 StGB – Hintergründe, Herausforderungen und Anregungen J UTTA F RANZ
Der sogenannten Schwangerschaftskonfliktberatung wird in Gesetzen, in fachlichen Diskursen und im praktischen Procedere rund um Schwangerschaftsabbrüche in der Bundesrepublik Deutschland eine exponierte Bedeutung zugewiesen. Nach der Vereinigung von BRD und DDR stand der Gesetzgeber vor der Aufgabe, die unterschiedlichen Regelungen bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs in eine gemeinsame Gesetzgebung zu überführen. Die Schwierigkeit bestand darin, die strafrechtlich sanktionierte Indikationenregelung der BRD mit der außerstrafrechtlichen Fristenregelung der DDR zu harmonisieren. Zwischen den unterschiedlichen und teilweise sehr kontroversen Haltungen zum Schwangerschaftsabbruch, die in der Bevölkerung, im Parlament und in den Parteien, in Verbänden und Interessengruppen, in Kirchen sowie in medizinischen und psychosozialen Fachkreisen artikuliert und diskutiert wurden, musste ein Kompromiss gefunden werden. Es gab die Stimmen, die für das absolute Selbstbestimmungsrecht von Frauen über das Austragen oder den Abbruch einer Schwangerschaft eintraten, und es gab die Stimmen, für die Schwangerschaftsabbruch nahezu mit der Tötung eines Kindes gleichzusetzen und deshalb aus ethischen oder religiösen Gründen inakzeptabel war. Juristisch betrachtet gerieten dabei zwei definierte Rechte in Konflikt: das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und das Lebensrecht von Ungeborenen. Der Staat sah sich also Anfang der 1990er Jahre vor die Aufgabe gestellt, für diesen gesellschaftlichen und juristischen Schwangerschaftskonflikt eine gesetzliche Neuregelung zu finden, und zwar auf der Grundlage des bis heute bedeut-
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samen Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 19751. Darin wird dem Lebensrecht des Ungeborenen – ohne Differenzierung nach dessen Entwicklungsstand – Grundrechtsstatus zugewiesen und Priorität eingeräumt. Daraus abgeleitet wurde ein staatlicher Schutzauftrag für das ungeborene Leben definiert, Schwangerschaftsabbruch weiterhin im Strafgesetz geregelt und grundsätzlich unter Strafe gestellt. Weil aber historische und internationale Erfahrungen nahelegten, dass noch so strenge Strafandrohungen Schwangerschaftsabbrüche nicht wirksam verhindern können, institutionalisierte man die sogenannte Schwangerschaftskonfliktberatung2. Sie soll unter dem Motto »Hilfe statt Strafe« auf den Entscheidungsprozess ungewollt schwangerer Frauen Einfluss nehmen. Vorrangige Aufgaben sollen die Auslotung aller Möglichkeiten für die Fortsetzung einer ungewollten Schwangerschaft und entsprechende Hilfsangebote sein. Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen, bleiben gemäß § 218a StGB straffrei, wenn sie der Pflicht, eine solche Beratung im Vorfeld in Anspruch zu nehmen, nachgekommen sind. In der obligatorischen Beratung und der Einrichtung eines Netzes staatlich anerkannter Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen wurden die geeigneten Mittel gesehen, den Schutzauftrag des Staats für das ungeborene Leben zu erfüllen. Die Pflichtberatung diene diesem Schutz, wenn sie erstens den Frauen hilft, eine eigene »verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung« zu treffen und zweitens bemüht ist, die Frauen »zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihnen Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen«. (§ 219 Abs.1 StGB) Aus dieser gesellschaftspolitischen Vorgeschichte und auf diesem juristischen Hintergrund ergeben sich für die konkrete Durchführung der Schwangerschaftskonfliktberatung Besonderheiten und Herausforderungen, die sie von anderen Formen der psychosozialen Beratung unterscheiden. Auf einige dieser Herausforderungen und mögliche Umgangsweisen mit ihnen will ich praxisbezogen aus Sicht der Beraterinnen3 eingehen. Diese Sicht beruht auf jahrzehntelanger eigener Beratungserfahrung, auf meiner Lehrtätigkeit in der Ausbildung
1
Im Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR war eine entsprechende Aufforderung
2
Ich verwende den Begriff unter Vorbehalt, weil er im allgemeinen Gebrauch auf einen
fixiert. für selbstverständlich gehaltenen individuellen Konflikt der schwangeren Frauen fokussiert und dabei gesellschaftliche sowie politische Konfliktdimensionen aus dem Blick geraten. 3
Ich verwende in diesem Beitrag zugunsten der Lesbarkeit die weiblichen Formen »Beraterinnen« und »Klientinnen« usw., obwohl ich Männer weder als Klientel noch als Berater ausschließe.
B ERATUNG
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von Beratungsfachkräften und nicht zuletzt auf intensivem Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen.
G ESETZLICHE P FLICHT UND PROFESSIONELLES B ERATUNGSVERSTÄNDNIS Umgangssprachlich wird Beratung oft verstanden als das Erteilen von Ratschlägen. Etwa wenn eine Journalistin fragt: » … und in welchen Fällen raten Sie denn dann zum Abbruch?«, oder wenn die Ministerialbeamtin in der Einführungsveranstaltung für neue Beraterinnen verkündet: »Erfolgreich sind Ihre Beratungen dann, wenn Sie die Frauen überzeugen können, die Schwangerschaft auszutragen!« Auch Menschen, die als Klientel eine Beratungsstelle aufsuchen, tun dies nicht selten in der Erwartung, dort einen Rat zu erhalten. »Was raten Sie mir denn nun, was ich am besten machen sollte?« Es ist für Beraterinnen eine Herausforderung, sich gegen derartige Anrufungen abzugrenzen, die sie als Einladung, als Versuchung, als Zumutung, als Projektion oder als Auftrag verstehen können. Noch schwieriger ist es, die gesetzlichen Vorgaben für die Schwangerschaftskonfliktberatung in Einklang zu bringen mit einem professionellen Verständnis von institutioneller psychosozialer Beratung. »Institutionelle Beratung […] bezieht sich auf Menschen, die in Fragen der allgemeinen Lebensplanung, der Gestaltung von menschlichen Beziehungen und im Umgang mit Konflikten und Entwicklungsproblemen in Partnerschaft, Ehe und Familie nach Veränderungen und neuen Lösungen suchen. Beratung hat prozesshaften Charakter und ist darauf angelegt, dass Ratsuchende […] eigene Lösungswege erarbeiten können. […] Für die Arbeit Institutioneller Beratung ist die Beziehung zwischen Berater/Beraterin und Klient/Klientin konstitutiv. […] Die Arbeit von Beratungsstellen ist wenig an formale Vorgaben und Kriterien gebunden […]. Beratung kann im Allgemeinen nur dann erfolgreich sein, wenn die Ratsuchenden freiwillig, das heißt aus persönlichen Beweggründen, die Beratung aufsuchen.« (Deutscher Arbeitskreis für Jugend-, Ehe- und Familienberatung 2001: 6 f.)
Bei der Schwangerschaftskonfliktberatung scheinen manche dieser Prinzipien in Frage gestellt, weil die Beratung durch das Strafgesetzbuch (§§ 218, 218a, 219 StGB) im Kontext strafbarer Handlungen zur Pflicht erklärt und inhaltlich festgelegt wird. »Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu er-
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öffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen«. (§ 219 StGB) Das wird vorgeschrieben unabhängig davon, ob diese Form des Helfens von den Frauen überhaupt gewünscht wird, welche persönlichen Beweggründe zum Besuch der Beratungsstelle geführt haben und ob solche überhaupt vorhanden sind. Weitere sehr detaillierte Vorschriften zu Inhalt und Durchführung der Schwangerschaftskonfliktberatung finden sich zusätzlich im Schwangerschaftskonfliktgesetz. Zwar kommt es auch in anderen Feldern psychosozialer Beratung vor, dass die Klientel sie nicht absolut freiwillig in Anspruch nimmt, sondern nur um andere unangenehme Konsequenzen zu vermeiden. Etwa wenn überforderten Eltern Erziehungsberatung vom Jugendamt nahegelegt wird, weil ansonsten der Entzug des Sorgerechts ansteht, oder wenn ein Sexualstraftäter eine Therapie als Bewährungsauflage absolvieren muss. Es gibt aber neben der Schwangerschaftskonfliktberatung kein weiteres Beispiel für eine strafbewehrte Verpflichtung zur Beratung im Vorfeld, d.h. bevor ein negativ sanktioniertes Ereignis überhaupt eingetreten ist. Die Verankerung der Beratungspflicht und der Beratungsinhalte im Strafgesetz führt zu Irritationen und stößt aus fachlicher Perspektive immer wieder auf Kritik. Weil außerdem durch die Kontextualisierung mit strafbewehrten Tötungsdelikten die betroffenen Frauen kriminalisiert und in ihren sexuellen und reproduktiven Rechten nicht respektiert werden, fordern pro familia und andere nicht nur aus fachlicher, sondern auch aus frauen- und menschenrechtlicher Perspektive die Streichung der §§ 218 und 219 aus dem Strafgesetzbuch.4
B ERATUNG IN EINEM S PANNUNGSFELD
MEHRDIMENSIONALEN
Der Begriff Schwangerschaftskonfliktberatung suggeriert, es gehe vor allem um einen intrapersonellen persönlichen Konflikt der ungewollt schwangeren Frau, ob sie die Schwangerschaft austrägt oder nicht. Im Kontext dieser Beratung spielen aber viele weitere Konfliktdimensionen eine Rolle. Juristische und gesellschaftliche Konflikte über die Bewertung von Schwangerschaftsabbrüchen wur-
4
Dieser Forderung schließe ich mich an, wenngleich ich die Schwangerschaftskonfliktberatung als ein überaus spannendes und auch erfüllendes Arbeitsgebiet empfinde und deshalb immer nach Wegen gesucht habe, mit den geschilderten Spannungsfeldern konstruktiv umzugehen, so lange sie bestehen.
B ERATUNG
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den schon genannt, ebenso der Konflikt zwischen professionellem Beratungsverständnis und gesetzlichen Vorgaben. Die betroffenen Frauen geraten in Konflikt mit dem Strafgesetz, wenn sie sich für einen Abbruch entscheiden oder bereits im Vorfeld, wenn sie Widerstand entwickeln gegenüber dem Diktat der Pflichtberatung. Häufig bestehen vielfältige interpersonelle Konflikte zwischen der ungewollt schwangeren Frau und Personen in ihrem persönlichen Umfeld. Die Beraterinnen fürchten, in Konflikt mit dem Gesetz oder mit dem professionellen Beratungsverständnis zu geraten. Die Beratung findet also in in einem mehrdimensionalen Konfliktgeflecht statt, in einem Spannungsfeld, in dem sich die Beraterinnen mit Umsicht und Behutsamkeit, aber auch in Transparenz und Klarheit bewegen sollten. Während die anderen Dimensionen des »Schwangerschaftskonflikts« selten explizit werden, scheint der intrapersonelle Konflikt der Frauen als quasi selbstverständlich vorausgesetzt. Es wird sozusagen unterstellt, jede ungewollt schwangere Frau befinde sich in einem derartigen Konflikt und bedürfe der professionellen Hilfe, um dafür Lösungen zu finden. Nach den Erfahrungen der Beraterinnen ergibt sich ein differenzierteres Bild. Dass ungewollt schwangere Frauen sich der anstehenden Entscheidung über das Austragen oder den Abbruch ihrer Schwangerschaft nicht eigenständig gewachsen fühlen, ist äußerst selten. Die meisten sind sehr wohl in der Lage, widerstreitende Gefühle und Gedanken abzuwägen und werden sich bald klar, was für sie in ihrer aktuellen Situation der bessere Weg ist. Sie haben zudem in der Regel Ansprechpartner in ihrem sozialen Umfeld. Das bedeutet nicht, dass ihnen die Entscheidung generell leicht fallen würde. Die Suche nach dem gangbaren Weg kann mit Ambivalenzen behaftet sein, und viele Frauen spüren durchaus die Spannungsfelder, denen sie ausgesetzt sind. Sie erschrecken über die Erkenntnis, schwanger zu sein und erschrecken gleichzeitig darüber, dass dies wenige oder keine positiven Gefühle auslöst. Sie müssen sich mit ihren bisherigen und zukünftigen Wünschen, Befindlichkeiten und Haltungen auseinandersetzen, die sie zu Kinderwunsch und Familienplanung, zu Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch haben und meist auch mit Menschen in ihrem persönlichen Kontext. Ich halte das allerdings für durchaus zu bewältigende Herausforderungen im Leben erwachsener Menschen und kann mich des Eindrucks nicht erwehren, die Pflichtberatung habe weniger mit den persönlichen Konflikten und Bedarfen der betroffenen Frauen zu tun, als viel mehr mit der gesellschaftlichen Ambivalenz und Hilflosigkeit gegenüber dem Thema Schwangerschaftsabbruch. Klientinnen haben mich mit ihren kompetenten Umgangsweisen in dieser Situation immer wieder tief beeindruckt.
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»Wissen Sie, ich sehe das so: Ich werde meinen Kinderwunsch behalten. Er wird ein wertvoller Teil meines Lebens bleiben, auch wenn ich ihn mir jetzt nicht und vermutlich nie mehr erfüllen werde und erfüllen kann. Meine Entscheidung ist für mich richtig, aber der Schwangerschaftsabbruch fällt mir schwer, und wenn ich später daran denke, werde ich manchmal auch traurig sein.«
Die zitierte Aussage fiel in einem Beratungsgespräch mit einer Frau, die völlig unerwartet trotz Verhütung schwanger geworden war. Altersmäßig ging sie bereits dem Ende der sogenannten fruchtbaren Lebensphase entgegen. Ihr Frauenleben war geprägt davon, eigentlich gern Mutter werden zu wollen. Aber auf Grund ihrer jeweiligen Partnerschaftskonstellationen und Lebensumstände, ihres beruflichen Werdegangs und bestimmter gesundheitlicher Einschränkungen sah sie dafür nie eine reelle Chance. Unter ungünstigen Bedingungen ein Kind auf die Welt zu bringen, empfand sie als unverantwortlich, deshalb war für sie sichere Empfängnisverhütung immer oberstes Gebot. Nun war sie trotz aller Vorsorge doch schwanger geworden, musste sich also ganz akut und sehr konkret mit ihrem Kinderwunsch, ihrer Lebenssituation und ihrem Lebenskonzept auseinandersetzen. Dem ist sie nicht ausgewichen, sondern hat die Komplexität ihrer Situation reflektiert und ausgehalten. Ein in einer Pflichtberatung zu bearbeitendes Konfliktpotenzial muss man darin nicht sehen.
AUSGEWÄHLTE ASPEKTE ZU DEN BESONDEREN ANFORDERUNGEN AN DIE B ERATUNGSPRAXIS Gespräche mit Frauen und Paaren in Schwangerschaftskonfliktberatungen sind durchaus berührend, denn die Beraterinnen sind teilnehmend und begleitend in einen Entscheidungs- und Entwicklungsprozess einbezogen, in dem zentrale Lebensthemen angesprochen werden. Das macht den Beruf der Schwangerschaftsberaterin herausfordernd und interessant. So wie die Klientinnen die Komplexität ihrer Lebenssituation reflektieren, aushalten und sich in ihr zurechtfinden müssen, so müssen dies die Beraterinnen in der Komplexität der Beratungssituation. Sie müssen den Beratungsprozess klientenzentriert unter Berücksichtigung der gesetzlichen und professionellen Vorschriften gestalten und moderieren.
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Das Beratungszimmer ist kein Schonraum Ungewollt schwangere Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch in Erwägung ziehen oder planen und deshalb pflichtgemäß eine Beratungsstelle aufsuchen, sind selten voll informiert über die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen. Sie sind auf ihre Schwangerschaft bzw. ihre Entscheidungsfindung fokussiert und empfinden Interventionen von außen oder formale Richtlinien häufig als Störung. Und sie befinden sich psychisch in einer Belastungssituation. Dies gilt selbst dann, wenn sie einen Schwangerschaftsabbruch als verantwortlichen Umgang mit ihrer Fruchtbarkeit definieren, wenn sie in ihrer Entscheidung klar sind, und wenn sie in ihrem sozialen Umfeld Unterstützung finden. Es gilt umso mehr, wenn solche guten Voraussetzungen nicht gegeben sind: Wenn Frauen in Gewissensnöte kommen, in Partnerschaftskonflikten verwickelt sind, sich alleingelassen oder abgelehnt fühlen, vor dem Eingriff Angst haben oder ihr gesamtes Lebens- und Selbstkonzept in Frage gestellt sehen. Hinzu kommt, dass eine so schwerwiegende Entscheidung über das Austragen oder Abbrechen einer Schwangerschaft in kurzer Zeit gefällt werden muss, häufig in Lebensabschnitten, die bereits ohnehin von Veränderungen und Herausforderungen geprägt sind. Ungewollte Schwangerschaften korrespondieren oft mit sogenannten Schwellensituationen, wie sie Pubertät, Beginn einer Partnerschaft, Trennungsund Ablöseprozesse, Prüfungszeiten, Berufseinstieg oder Kündigung, Wechseljahre usw. darstellen. Die organisatorischen Anforderungen (Schwangerschaftstest, Arzttermine, Beratungstermin, Suche nach einer Praxis für den Abbruch, Klärung der Kostenübernahme usw.) kommen als Stressoren hinzu. Um weitere Zumutungen zu vermeiden, unterliegen Beraterinnen deshalb häufig der Versuchung, den Zusammenhang der Beratungspflicht mit dem Strafgesetz eher in einem möglichst sanften Licht darzustellen oder ganz auszublenden. Beraterinnen möchten ein Beratungsgespräch als eine von Vertrauen geprägte dyadische Beziehung zwischen Beraterin und Klientin definieren. In der Schwangerschaftskonfliktberatung kann das prekäre Gefühl entstehen, das Strafgesetz schiebe sich sozusagen als unsichtbare Barriere zwischen sie und die Klientin, oder das Strafgesetz schleiche sich hinter die Beraterin, sitze ihr sozusagen im Nacken und könne ihr in den Rücken fallen.
Das Bild vom Beratungs- bzw. Auftragsdreieck Es kann eine Entlastung sein, die Konstellation einer Schwangerschaftskonfliktberatung von vornherein nicht als Dyade, sondern als Triade zu sehen, ver-
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gleichbar einem Dreieck aus: 1. Klientin, 2. Beraterin, 3. Gesetz.5 Die Seitenlinien des Dreiecks veranschaulichen, dass jeder dieser drei Punkte mit den jeweils beiden anderen in Beziehung steht, es sich also um eine Dreiecksbeziehung handelt. Es gibt erstens die Beziehung zwischen Beraterin und Klientin. Beraterinnen wollen eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen und die Klientinnen dabei unterstützen, eigene Wege und Lösungen zu finden. Sie verstehen Beratung primär als Beziehungsarbeit und wollen sich klientenzentriert an den jeweiligen Anliegen, Bedürfnissen und Zielvorstellungen der Frauen orientieren. Es gibt zweitens die Beziehung zwischen Beraterin und Gesetz. Das Gesetz schreibt formal und inhaltlich sehr vieles sehr genau vor, und die Beraterin ist verpflichtet, diesen Vorschriften zu entsprechen. Schwangerschaftskonfliktberatung professionell durchzuführen, verlangt gegenüber dem Gesetz Loyalität, wobei dies aus meiner Sicht durchaus eine kritische Loyalität sein kann. Es gibt drittens eine Beziehung zwischen der Klientin und dem Gesetz. Die Klientin wünscht in Deutschland einen Schwangerschaftsabbruch, den sie straffrei nur dann durchführen lassen kann, wenn sie vorher an einem Beratungsgespräch entsprechend den Gesetzen teilgenommen hat. In vielen Schwangerschaftskonfliktberatungen stellt sich heraus, dass die Klientinnen über diese Dreiecksbeziehung nur unzureichend oder gar nicht informiert sind. Das Thema Schwangerschaftsabbruch und erst recht die Auseinandersetzungen über die §§ 218 und 219 StGB sind seit der Neuregelung im Jahr 1995 weitgehend aus dem Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit geraten. Es ist für Menschen normalerweise kein naheliegender Gedanke, mit dem Strafgesetz in Berührung zu kommen, schon gar nicht im Zusammenhang mit ihrer Fruchtbarkeit und ihrer Familienplanung. Ungewollt schwangere Frauen sind sich meist nicht bewusst, dass sie sich mit einem Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich strafbar machen. Nach meiner Erfahrung werden sie in der Arztpraxis zwar darauf hingewiesen, dass sie eine Beratungsstelle aufsuchen müssen, weil sie »so einen Schein von denen« brauchen. Aber eine solide Information über die rechtlichen Rahmenbedingungen erhalten sie selten. Manche Frauen kommen deshalb zur Beratung in der Vorstellung, es ginge um eine Formalie, zügig zu erledigen. Sie äußern das z.B., indem sie auf ihr knappes Zeitbudget hinweisen und darauf, dass sie selber keine Anliegen hätten, außer eben schnell diese Bescheinigung zu kriegen. Andere Frauen hingegen wirken eher ängstlich bemüht, weil sie vermuten, die Bescheinigung nur dann zu 5
Das Bild vom Dreieck entstammt einem Ausbildungscurriculum für Beratungsfachkräfte, das gemeinsam mit Sonja Freund, Petra Schlierf und Gertrud Stockert entwickelt wurde.
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erhalten, wenn sie die Beraterin von der Notwendigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs überzeugen können. Sie rechnen damit, sich vor der Beraterin rechtfertigen zu müssen und empfinden ein Machtgefälle. Manche Klientinnen fühlen sich unter Druck und entwickeln Verärgerung oder Aggression, deren Adressatin dann die Beraterin wird. All dies kann sich als Störung für den Beratungsprozess auswirken. Um dem vorzubeugen empfiehlt es sich, über die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die darin implizierten Aufträge Transparenz herzustellen, bildlich gesprochen also die Dreiecksbeziehung offen zu legen und zum konstruktiven Umgang mit ihr einzuladen.
Auftragsklärung und Transparenz Entgegen der professionellen Definition von psychosozialer Beratung stehen in einer Schwangerschaftskonfliktberatung nicht nur die Anliegen der Klientin im Fokus des Gesprächs, sondern bestimmte Inhalte sind gesetzlich vorgeschrieben: »Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Dabei muss der Frau bewusst sein, dass das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und dass deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt. Die Beratung soll durch Rat und Hilfe dazu beitragen, die in Zusammenhang mit der Schwangerschaft bestehende Konfliktlage zu bewältigen und einer Notlage abzuhelfen.« (§ 219 StGB).
Im Schwangerschaftskonfliktgesetz findet sich ergänzend folgende Anweisung: »Die nach § 219 StGB notwendige Beratung ist ergebnisoffen zu führen. Sie geht von der Verantwortung der Frau aus. Die Beratung soll ermutigen und Verständnis wecken, nicht belehren oder bevormunden.« (SchKG § 5(1)). Als Inhalte der Beratung werden das »Eintreten in eine Konfliktberatung«, »je nach Sachlage erforderliche medizinische, soziale und juristische Information« sowie umfassende Hilfsangebote vorgeschrieben (SchKG § 5(2)).
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Mit diesen widersprüchlichen, komplizierten und komplexen Vorschriften müssen sowohl die Klientinnen als auch die Beraterinnen umgehen: Einerseits dient die Beratung dem Schutz des ungeborenen Lebens, andererseits soll sie ergebnisoffen sein. Sie soll der Frau etwas bewusst machen, aber sie nicht belehren. Verwirrungen und Irritationen, Auftrags- und Rollenkonfusionen scheinen programmiert. Es ist Aufgabe der Beraterin, dem vorzubeugen und Transparenz über die Situation herzustellen. Wenn man mit dem Bild des Dreiecks davon ausgeht, dass von seinen Seitenlinien sozusagen der Raum umschrieben wird, in dem die Beratung stattfindet, dann sollte die Klientin darüber aufgeklärt werden, was sie in diesem Raum erwartet, also darüber, was das »Eintreten in eine Schwangerschaftskonfliktberatung« bedeutet. Für mich hat es sich als gute Praxis erwiesen, das etwa wie folgt zu formulieren: »Mir ist es wichtig, dass Sie über die gesetzlichen Rahmenbedingungen unseres Gesprächs informiert sind. Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland laut Strafgesetz grundsätzlich nicht erlaubt. Aber der Gesetzgeber hat Ausnahmeregelungen erlassen. Das sind genaue Vorschriften, welche Bedingungen für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch erfüllt sein müssen. Eine dieser Bedingungen ist, dass jede Frau vor dem Schwangerschaftsabbruch ein Beratungsgespräch in einer staatlich anerkannten Beratungsstelle wahrnimmt. Diese Vorschrift entstand aus dem Anliegen, beide Anteile in der Entscheidungssituation sehr ernst zu nehmen, also einerseits das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau, andererseits und vorrangig aber auch das Lebensrecht des Ungeborenen, zu dessen Schutz sich der Staat verpflichtet hat. In dem Beratungsgespräch soll es also immer auch darum gehen, alle Möglichkeiten auszuloten, die Schwangerschaft doch auszutragen und dafür Hilfen anzubieten. Die Beratungsbestätigung – sie liegt hier schon für Sie vorbereitet – erhalten Sie dafür, dass das Beratungsgespräch diese Bedingungen erfüllt hat. Jetzt müssen wir beide besprechen, was wir darüber hinaus noch bereden sollen, damit das Gespräch für Sie hilfreich wird, unabhängig davon, wie Ihre Entscheidung aussieht. Welche Fragen oder Anliegen haben Sie denn vielleicht schon mitgebracht?«
Im Innenraum des Beratungsdreiecks werden nicht nur Themen besprochen und Aufträge erfüllt, die von der Klientin selbst mitgebracht wurden, sondern die Beraterin muss darüber hinaus weitere Inhalte einbringen und Aufträge erfüllen, die das Lebensrecht des Ungeborenen und den staatlichen Schutzanspruch dafür betreffen. Sie muss die Klientin einladen, sich auf die Suche zu begeben nach Perspektiven für ein Leben mit dem Kind, muss dazu ermutigen und Hilfen anbieten. Von der Klientin wird erwartet, dass sie dabei mitwirkt, aber »der Beratungscharakter schließt aus, dass ihre Mitwirkungsbereitschaft erzwungen wird«
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(SchKG §5). Nicht von ungefähr spricht das Gesetz davon, dass es bei der Suche nach Perspektiven und bei der Ermutigung um ein »Bemühen« geht. Selbst wenn sich – und das ist in vielen Gesprächen der Fall – Ansatzpunkte auftun, die aus Sicht der Betroffenen eine Schwangerschaft und das Leben mit einem (weiteren) Kind als Option erscheinen lassen, können Bedenken und Sorgen über ungünstige Lebensumstände letztlich überwiegen. Die Qualität einer Schwangerschaftskonfliktberatung ist nicht danach zu bemessen, wie viele Frauen sich anschließend zum Austragen der Schwangerschaft entscheiden, aber sehr wohl danach, ob die Lebenssituation der Frau reflektiert und die zentralen Lebensthemen angesprochen worden sind, mit denen die Schwangerschaft positiv oder negativ korrespondiert und ob Hilfsangebote gemacht wurden. Die Beratungsbestätigung bescheinigt, dass eine gesetzeskonforme Beratung stattgefunden hat, die Beraterin muss mit der Klientin vereinbaren, wie sie dafür zusammenarbeiten. Wenn durch diese Transparenz eine Basis für ein vertrauensvolles Gespräch gelegt wurde, äußern die meisten Frauen durchaus eigene Anliegen an die Beratung, die über die Aushändigung der Bescheinigung hinausgehen. Sie wünschen vielfältige Informationen, viele möchten ihre Partnerschaftskonzepte, ihre Lebens- und Familienplanung, ihren Kinderwunsch reflektieren oder über ihren inneren Zwiespalt und ihre Gefühle, Sorgen und Ängste sprechen. Aber selbst wenn sie »nur den Schein« wollen, muss die Beraterin trotzdem von sich aus die tiefergehenden Themen ansprechen. Das ist dennoch ein klientenzentriertes Verhalten, denn es folgt den Vorschriften für die Ausstellung der Bescheinigung, die ja von der Klientin gewünscht wird.
Rollen und Rollenübernahmen Transparenz herzustellen über die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die Modalitäten der Schwangerschaftskonfliktberatung bedeutet auch, die Klientin über die Rolle der Beraterin zu informieren. Diese Rolle kann während des Beratungsprozesses variieren. Über den gesamten Verlauf ist die Beraterin die Moderatorin des Gesprächs und zuständig für dessen Struktur. Zu großen Anteilen ist sie empathische, respektvolle und fördernde Begleiterin des eigenen Prozesses der Frau und kann mittels ihrer Fragen weiterführende Impulse geben. Manchmal ist sie Expertin, gibt sozialrechtliche Hinweise und medizinische Informationen. Manchmal ist sie vielleicht Pädagogin, die der Frau Verhütungsthemen nahebringen will. Sie kann Vermittlerin sein zu anderen Einrichtungen der psychosozialen Versorgung oder relevanten Anlaufstellen. Die Liste ließe sich je nach Sachlage verlängern. Soweit unterscheiden sich diese Rollen im Wesentli-
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chen nicht von denen in anderen psychosozialen Beratungskontexten. In der Schwangerschaftskonfliktberatung kommt noch eine weitere Rolle hinzu: Die Beraterin hat den staatlichen Schutzauftrag für das ungeborene Leben in den Beratungsverlauf zu integrieren. Sie wird sozusagen zur »Botschafterin« für den Schutzauftrag, aber ohne diesen zu übernehmen. Deutlich abgrenzen muss sich die Beraterin von anderen Rollen, die dem professionellen Verständnis von Beratung widersprechen und deren Übernahme sich fatal auf den Beratungsverlauf auswirken könnte. Eine Beraterin ist keine Anwältin, weder die Anwältin der Frau noch die Anwältin des potenziellen Kindes noch die Staatsanwältin. Und sie ist erst recht keine Richterin. Ein Beratungsgespräch bzw. die Entscheidungsfindung der Klientin ist ein Prozess im psychologischen Sinn von Entwicklung und Dynamik, aber kein Prozess im Sinn eine Gerichtsverhandlung. Des Weiteren hat die Beraterin keine Prüffunktion und keine Entscheidungsbefugnis. Am Ende eines Beratungsgesprächs darüber zu befinden, ob ein Schwangerschaftsabbruch im konkreten Fall gerechtfertigt sei oder nicht, gehört weder zu ihren Aufgaben noch zu ihren Kompetenzen. Im Umkehrschluss heißt das: Eine ungewollt schwangere Frau, die eine Schwangerschaftskonfliktberatung in Anspruch nimmt, ist keine Angeklagte, keine Prüfungskandidatin und keine Bittstellerin. Sie ist eine autonom und eigenverantwortlich Handelnde und allein entscheidungsbefugt, auch wenn das Gesetz sie für die Dauer der Beratung in die Rolle der Klientin zwingt. Sie ist mit der Beraterin gemeinsam Teilnehmende und Mitwirkende an einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren, und sie ist gleichzeitig Kundin, die eine professionelle Dienstleistung in Anspruch nimmt.
N EUTRALITÄT H ALTUNG
ALS NOTWENDIGE BERATERISCHE
Eine weitere Besonderheit der Schwangerschaftskonfliktberatung besteht darin, dass es sich (mit seltenen Ausnahmen) um einen einmaligen Beratungskontakt handelt. Beraterische Kunstfehler, wie sie ein Verlust der neutralen Haltung darstellen würde, können nicht in weiteren Sitzungen ausgebügelt werden. Das Gespräch kann von hoher Intensität gekennzeichnet sein, es werden zentrale Lebensthemen angesprochen, und es geht um eine wesentliche Weichenstellung. Neutralität meint nicht Gleichgültigkeit, sondern Offenheit und Respekt gegenüber der Gedanken- und Gefühlswelt der Klientinnen und gegenüber ihren Entscheidungen.
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Beraterinnen werden in den Gesprächen mit einer unendlichen Vielfalt an Lebensformen und Lebensverläufen, Werthaltungen, Einstellungen, Schicksalen, Wünschen, Ängsten, Hoffnungen und Enttäuschungen konfrontiert. Sie bekommen Einblick in die unterschiedlichsten Kulturen und Weltanschauungen. Die Themen, die bei der Schwangerschaftskonfliktberatung im Vordergrund stehen, berühren sie aber auch selbst. Auch Beratungsfachkräfte haben mit Fragen von Fruchtbarkeit und Familienplanung zu tun, müssen sich dazu Meinungen bilden und Entscheidungen treffen, verbinden damit Freude oder Schmerz. Ob eine Beraterin selbst als Privatperson eine überzeugte Christin oder eine engagierte Frauenrechtlerin ist, ob sie selbst Mutter ist oder nicht, ob sie selbst schon einen Schwangerschaftsabbruch hatte oder nicht, all dies muss sie zurückstellen gegenüber den Einstellungen ihrer Klientinnen und den Imperativen ihrer professionellen Aufgabe6.
Neutralität gegenüber Haltungen, Werten und Wirklichkeitskonstruktionen Es sollte im Beratungsgespräch nicht erkennbar sein, ob die Beraterin es persönlich gut oder schlecht findet, wenn ein 14-jähriges Mädchen einen Schwangerschaftsabbruch macht oder eine 52-jährige Frau eine Schwangerschaft austrägt. Ich muss als Beraterin offen lassen, ob ich Ängste und Zweifel für angemessen oder übertrieben halte, ob ich die Sorglosigkeit einer Klientin als mutig oder als verantwortungslos empfinde. Vielleicht würde es mich freuen, wenn eine Frau eine Schwangerschaft austrägt, der ich das auf Grund meines Eindrucks von ihr absolut zutraue. Es kann auch sein, dass ich eher erschrecke, wenn ein Kind in eine Lebenssituation hineingeboren werden soll, die mir dafür so gar nicht günstig erscheint. Es macht mich vielleicht traurig, wenn Frauen eine Schwangerschaft deshalb nicht austragen, weil sie einem Kind materiell »nichts zu bieten« haben, ich sie mir aber als liebevolle Mutter vorstellen könnte. Wenn manche der betroffenen Frauen einen Schwangerschaftsabbruch für sich nur als Entfernung störenden Gewebes, andere dies wie den Mord an einem Kind empfinden, steht mir als Beraterin keine Bewertung zu, weder zustimmend noch ablehnend. Aber die Beraterin sollte solche Äußerungen thematisieren. »Habe ich das richtig
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Insofern dürften Fundamentalistinnen aller Couleur als Beratungsfachkräfte in einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle fehl am Platz sein. Neutralität ist im Übrigen ein professionelles Kriterium, das auch unabhängig von den Werthaltungen eines Trägers von Beratungsstellen erfüllt werden muss.
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verstanden, für Sie ist das so …? Haben Sie schon immer so gedacht, oder hat sich das verändert? Wie sieht das Ihre Umwelt, wer teilt Ihre Ansicht, wer nicht? Was vermuten Sie, werden Sie das auch in fünf Jahren noch so sehen?« Wenn der Beraterin etwas fremd ist, darf sie es sich erläutern lassen. Das kann etwa der Fall sein, wenn es um kulturelle oder religiöse Sichtweisen geht. Der Beraterin etwas zu erklären, kann die Frauen dabei unterstützen, ihre eigenen Haltungen zu reflektieren, diese vielleicht zu hinterfragen und in ihrer Bedeutung zu überprüfen und für sich selber Klarheit zu gewinnen.
Neutralität gegenüber Personen Häufig kommt zur Schwangerschaftskonfliktberatung nicht nur die betroffene Frau, sondern Partner, Eltern oder andere beteiligte Personen sind beim Gespräch dabei. Jedenfalls spielen sie eine Rolle im Leben der Frau. Sie ist in einem Kontext schwanger geworden und wird in diesem Kontext die Schwangerschaft austragen oder abbrechen. Sie muss für sich klären, wer in diesem Kontext welche Bedeutung für sie hat. Durch zirkuläre Fragen kann die Beraterin die Meinungen und Haltungen der Bezugspersonen einbeziehen. Die Entscheidung über das Austragen oder den Abbruch der Schwangerschaft liegt zwar letztlich allein bei der schwangeren Frau. Betroffen von dieser Entscheidung sind aber auch Menschen in ihrem Lebensumfeld, und deren Betroffenheit und deren Reaktionen wirken wiederum auf die Frauen zurück. Es ist eine sehr herausfordernde Aufgabe, sich als Beraterin offen und aufgeschlossen gegenüber allen geäußerten bzw. vermittelten Positionen zu halten und nicht »auf eine Seite zu schlagen«, etwa wenn die Argumente einer besorgten und lebenserfahrenen Mutter gegenüber den unreflektierten Schwärmereien ihrer minderjährigen schwangeren Tochter viel nachvollziehbarer erscheinen. Oder wenn die tiefe Verbundenheit einer Frau zu dem möglichen Kind in ihrem Bauch sehr berührt, die Vorbehalte ihres Partners hingegen eher oberflächlich erscheinen. Es passiert oft, dass eine Beraterin subtil eingeladen oder sogar explizit aufgefordert wird, Partei zu ergreifen. »Sie haben doch Erfahrung, meinen Sie nicht auch, dass …?« oder »Sagen Sie ihm doch mal, wie eine Frau das empfindet …!« Nicht selten erwägen Beraterinnen die Option, exklusiv mit der Frau zu sprechen und die anderen Personen als Störfaktoren kommunikativ auszuschließen oder tatsächlich vor die Tür zu schicken. M.E. bringt es die Frauen nicht weiter, wenn sie für eine Stunde vor ihren Kontextpersonen beschützt werden. Sie sind Teil eines Systems, das nach der Beratung weiter besteht. Hilfreicher ist es, die bestehenden Konflikte und unterschiedlichen Perspektiven anzusprechen: »Was
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bedeutet es für Sie, dass Ihre Mutter/Ihr Partner so oder so denkt?«, »Wie wünschen Sie sich oder wie befürchten Sie, wird es sich auswirken, wenn Sie sich trotzdem so oder so entscheiden?«, »Wo liegen Ihre Grenzen, wo können Sie aber vielleicht auch Angebote machen, wenn Ihre Tochter/Ihre Frau diesen oder jenen Weg geht?«, »Welche Wünsche und Hoffnungen verbinden Sie mit Ihrer Position, welche Sorgen und Ängste stecken vielleicht dahinter.« Alles was die Beteiligten äußern, sollte für die Beraterin im wörtlichen Sinn fragwürdig sein. Mit Hilfe zirkulärer, hypothetischer und reflexiver Fragen die beteiligten Personen verstehen zu wollen, kann ihnen dazu helfen, sich untereinander verständlich zu machen. Aber keine dieser Positionen darf die Beraterin positiv oder negativ sanktionieren bzw. übernehmen.
Neutralität in der Sprache Bei der Neutralität geht es um eine beraterische Haltung, methodisch gesehen gibt es dafür Hilfestellungen. Eine davon ist der bewusste Umgang mit Sprache. Dazu gehören zunächst Wortwahl und Sprachgebrauch der Beratungsfachkräfte, sei es im Beratungsgespräch selbst, in Flyern oder Anmeldebögen. Nicht jede schwangere Frau ist eine werdende Mutter. Es geht um eine Schwangerschaft, die ausgetragen oder abgebrochen werden kann, noch nicht um ein Kind, das erwartet wird. Es geht um einen Embryo, um einen Fötus, aus dem ein Kind werden kann. Es geht nicht um die Entscheidung »für oder gegen Ihr Kind«, sondern um die Entscheidung »für das Austragen oder für den Abbruch Ihrer Schwangerschaft«. Genauso wichtig ist das sensible Hören auf die Wortwahl und den Sprachgebrauch der Klientinnen. Es macht möglicherweise einen Unterschied, ob die Frauen davon sprechen, »es wegmachen zu lassen« oder »das Kind abzutreiben«. Es könnte aber auch sein, die Klientin bedient sich nur eines Sprachgebrauchs, der ihr von außen begegnet ist, z.B. in Internetforen. Ich darf als Beraterin nicht sofort interpretieren und Schlüsse ziehen, sondern ich kann die Wortwahl der Klientin zum Thema machen: »Mir fällt auf, dass Sie von Kind sprechen. Heißt das, dass ein Schwangerschaftsabbruch für Sie bedeuten würde, sich von einem Kind zu verabschieden? Oder gar ein Kind zu töten?«, »Wenn Sie sagen, Sie werden ›es wegmachen lassen‹, meinen Sie damit, dass Sie diese Schwangerschaft als etwas Störendes wahrnehmen, das gar nicht wirklich zu Ihnen gehört? So wie einen Fremdkörper?«. Frauen teilen zu ihrer Schwangerschaft sehr unterschiedliche Gefühle mit. Sie lassen die Schwangerschaft sozusagen unterschiedlich nah an sich heran, las-
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sen sich unterschiedlich weit darauf ein. Selbst bei gewünschten Schwangerschaften wahren viele Frauen anfangs noch eine gewisse Distanz zu ihrem möglichen Kind, wenn es etwa darum geht, erst die Ergebnisse pränataler Diagnostik abzuwarten. Um sich vor Schmerz zu schützen, vermeiden sie es, vorzeitig Beziehung und Bindung entstehen zu lassen. Umso mehr gilt das für Frauen, die ungewollt schwanger sind. Viele Frauen können diese psychischen Vorgänge für sich sehr differenziert erkennen und auch verbalisieren. Aber auch, wenn Klientinnen sich weniger elaboriert ausdrücken bewährt es sich, sensibel auf ihre Sprache zu hören. Es kann von Bedeutung sein, ob eine Frau sagt: »Ich habe mir hin und her überlegt, ob ich es behalte«, oder: »Ich weiß wirklich noch nicht, ob ich es nehmen soll«. Die erste Aussage könnte darauf hinweisen, dass im Erleben der betroffenen Frau die Schwangerschaft schon angekommen ist, dass sie etwas in sich wahrnimmt, vielleicht sogar mit liebevollen Gefühlen verbunden, von dem sie aber noch nicht weiß, ob sie es behalten wird. Wenn sie sich entscheiden würde, die Schwangerschaft abzubrechen, dann müsste sie etwas hergeben bzw. beenden, dann hätte das vielleicht mit Abschied und Verlust zu tun und mit schmerzlichen Gefühlen. Die zweite Aussage könnte bedeuten, dass die Frau noch viel Distanz zu ihrer Schwangerschaft hat, sie noch nicht als »ihr innewohnend« wahrnimmt, sondern eher wie ein Angebot oder eine Zumutung, die sie erst noch annehmen oder ablehnen muss. Wenn sie sich zum Schwangerschaftsabbruch entscheiden würde, könnte das vielleicht eine eher befreiende Wirkung haben und vorwiegend mit Gefühlen der Erleichterung verbunden sein. Zunächst sind das meine Hypothesen als Beraterin, ob sie zutreffen und ob sie relevant für die Klientin sind, kann nur diese selbst feststellen. Dazu muss ich solche Überlegungen äußern und die Klientin fragen. Das kann dann als Einstieg dienen für die Auseinandersetzung damit, wie die Frauen ihre eventuelle Fortsetzung der Schwangerschaft oder ihren eventuellen Schwangerschaftsabbruch bewältigen würden, und wer sie auf welche Weise dabei vielleicht unterstützen könnte.
K LARE E NTSCHEIDUNGEN
UND GEMISCHTE
G EFÜHLE
Ich habe in den Beratungsgesprächen häufig den Eindruck gewonnen, dass Klientinnen vor allem unter der Unsicherheit vor ihrer Entscheidung leiden und sich Eindeutigkeit, Komplexitätsreduktion, Ambivalenzfreiheit wünschen würden. Auch in ihrem Umfeld wird eine solche Eindeutigkeit oft erwartet und ausgedrückt in Sätzen wie: »Das solltest Du aber nur machen, wenn Du Dir hundertprozentig sicher bist«. Daher neigen ungewollt schwangere Frauen im Entschei-
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dungsprozess bisweilen dazu, Zweifel gar nicht zuzulassen, um sich nicht unsicher zu fühlen und um nicht ambivalent zu erscheinen. Wenn man Ambivalenz aber nicht pathologisch definiert, sondern eher als ganz normales Hin- und Hergerissensein angesichts einer Weggabelung, fällt es leichter, sich vom Ideal der Ambivalenzfreiheit zu lösen. Es wäre sicher schön, wenn alle Frauen nach dem Beratungsgespräch den Raum verlassen würden mit den Worten: »Ich weiß, was für mich das Richtige ist, und das werde ich auch so machen, und damit wird es mir gut gehen«. Solche Fälle gibt es, so selten sind sie gar nicht. In der überwiegenden Zahl der Beratungsgespräche wird jedoch deutlich, dass die Frauen auch bei einer festen Entscheidung gewisse Zweifel und Unsicherheiten spüren, egal ob ihr Weg in Richtung eines Schwangerschaftsabbruchs geht, oder ob sie die Schwangerschaft austragen werden. Das ist nicht anders zu erwarten, wenn diese Schwangerschaft in einer dafür ungeeigneten Lebenssituation eingetreten ist. Es ist nach meiner Überzeugung hilfreicher, wenn die Beraterin Ambivalenzen in solchen Situationen als üblich darstellt und sozusagen »erlaubt«. Frauen, für die ein Schwangerschaftsabbruch eine gute Lösung ist, können und dürfen danach dennoch Traurigkeit empfinden. Frauen, die sich dafür entscheiden, die Schwangerschaft auszutragen und ein (weiteres) Kind zu bekommen, müssen darüber keine uneingeschränkte Freude empfinden. Sie dürfen damit Ängste und Sorgen verbinden und dies auch als Last erleben. Sich für einen Weg von zwei möglichen Wegen zu entscheiden, die man – zumindest zu diesem Zeitpunkt – aber eigentlich beide nicht gehen will, wird selten ohne solche Zweifel und ohne ambivalente Gefühle möglich sein. Im Beratungsgespräch könnte thematisiert werden, wie die Frauen trotzdem eine Entscheidung treffen und wie sie es zukünftig bewältigen können, mit einem gewissen Maß an Zweifeln zu leben. Ähnliches gilt im Übrigen auch für die Schuldgefühle, die nicht wenige Frauen in diesem Zusammenhang entwickeln. Wie auch immer sich eine Frau bei einer ungewollten Schwangerschaft entscheidet, kann sie sich als schuldig erleben. Schuldig gegenüber religiösen oder ethischen Geboten, gegenüber dem ungeborenen Kind, gegenüber Prinzipien und Gesetzen, gegenüber eigenen und gesellschaftlichen Ansprüchen, schuldig gegenüber sich selbst, gegenüber dem Partner, gegenüber den bereits vorhandenen Kindern usw. Es ist nicht Aufgabe der Beraterin, die Schuldgefühle zu nehmen oder zu zerstreuen. Vielmehr sollte sie mit der Frau darüber sprechen, wie sie mit ihren Schuldgedanken und -gefühlen umgeht und welche Möglichkeiten sie in ihrem Kontext hat, sich dabei unterstützen zu lassen.
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Aus meiner Therapieausbildung habe ich die schöne Metapher mitgenommen, dass Verantwortungen so sind wie Bälle: Sie fliegen in der Luft herum, und wer sie fängt, der hat sie. Sozialpädagoginnen neigen dazu, solche Bälle, die von anderen oft nur weitergetatscht wurden, eilfertig aufzufangen, damit sie bloß nicht runterfallen. Beim Thema Schwangerschaftskonfliktberatung ist das nicht anders. Gesellschaftlich sind Schwangerschaftsabbrüche negativ sanktioniert, sie gelten als Straftatbestand und sollen verhindert werden. Man will Frauen aber auch nicht bestrafen, wenn sie aus schwerwiegenden Gründen eine Schwangerschaft nicht austragen. Der Staat sieht sich in der Verantwortung für den Schutz des ungeborenen Lebens, kann diese Aufgabe aber pauschal nicht hinreichend erfüllen, sondern ist im konkreten Einzelfall darauf angewiesen, die Verantwortung zu delegieren. Die gesetzliche Pflicht zur Schwangerschaftskonfliktberatung scheint – aus dieser Perspektive gesehen – die Intention zu haben, nun nicht der betroffenen Schwangeren allein diese Verantwortung zu übergeben, sondern mit der Beraterin gewissermaßen eine weitere Instanz einzuschalten. Um es mit dem Bild des Ballspiels auszudrücken: Man spielt mit dem Ball nicht direkt die schwangere Frau an (weil man ihr die Verantwortung nicht zutraut?), sondern man setzt eine Mitspielerin ein, wirft den Ball zwischen den beiden in die Luft und stiftet Verwirrung (mit Formulierungen wie »dient dem Schutz des ungeborenen Lebens«, »zielorientiert aber ergebnisoffen« oder »wird bestraft, aber Straftatbestand nicht verwirklicht, wenn …«). Und dann kommt es oft dazu, dass die Beraterinnen meinen, sie müssten den Ball nun fangen. Bis hinein in Fachkreise findet sich die Vorstellung, Beraterinnen trügen Verantwortung für den Schutz des ungeborenen Lebens und müssten die Gespräche mit den Frauen so gestalten, dass diese ihre Schwangerschaft fortsetzen. Es muss sorgfältig differenziert werden, wer im Fall einer ungewollten Schwangerschaft und einer Schwangerschaftskonfliktberatung welche Verantwortung hat. Verantwortung kann man nur übernehmen, wo man etwas oder jemanden sozusagen in der Hand hat, also die Kontrolle über das, was geschieht. Für die Entscheidungen und die Lebensführung der Klientinnen trifft dies nicht zu. Sehr wohl aber für das eigene Verhalten als Beraterin. So gesehen haben Beraterinnen Verantwortung in jedem Beratungsgespräch: Verantwortung für die Steuerung und Strukturierung, Verantwortung für Inhalte und dafür, bestimmte Themen anzusprechen, Verantwortung dafür, den Schutz des ungeborenen Lebens ins Blickfeld zu rücken, Verantwortung für eine wertschätzende und empathische Atmosphäre und für absolute Vertraulichkeit, Verantwortung für ausreichende und solide Informationen, Verantwortung für einen umfassenden Über-
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blick über Hilfsangebote, also alles in allem Verantwortung für die Qualität der Beratung. Beraterinnen in der Schwangerschaftskonfliktberatung sind aber nicht verantwortlich für die Lebenswege der Klientinnen7. Es ist Aufgabe der Beraterinnen, die betroffenen Frauen darin zu bestärken, ihre eigene Verantwortung wahrzunehmen. Beratung kann sie ermutigen, sich ihre Kompetenzen, ihre Stärken und ihre Ressourcen zu erschließen. Dass der Begriff Empowerment im sozialpädagogischen Diskurs etwas aus der Mode gekommen scheint, ist bedauerlich. Er drückt gut aus, was Beraterinnen den Frauen mitgeben können bei der Klärung von Verantwortlichkeiten.
R ESÜMEE Der Schwangerschaftskonfliktberatung wird bei den Bemühungen um die Regelung eines gesellschaftlich brisanten Themas eine prominente Rolle zugeteilt. Im gesellschaftlichen Diskurs und auch in Fachkreisen wird die Arbeit der Schwangerschaftsberaterinnen jedoch diskreditiert durch die gesetzlich fixierte Beratungspflicht und die Nähe der Beratung zu einer Straftat im Kontext des § 218 StGB. Die Beratung wird abgewertet, weil sie professionell definierten Standards (Freiwilligkeit, klientenzentrierter Gesprächsverlauf) nicht vollständig genügt. Immer wieder werden Beraterinnen von selbsternannten Lebensschützerinnen und Lebensschützern diskriminiert8. Engagierte Beraterinnen können sich dadurch in ihrem beruflichen Selbstwert gekränkt und in die Defensive gedrängt fühlen. Dann ist die Versuchung groß, die Nützlichkeit der Schwangerschaftskonfliktberatung umso mehr zu betonen, zumal auch die Frauen sich nach der Beratung oft dankbar zeigen. Unbeabsichtigt kann dies dazu führen, die – eigentlich als kontraproduktiv empfundene – Beratungspflicht doch wieder affirmativ zu stabilisieren. Nach meinen Erfahrungen und denen vieler Kolleginnen gelingt es in den meisten Schwangerschaftskonfliktgesprächen, Frauen etwas mitzugeben, was sie auf ihrem weiteren Weg unterstützt. Bei realistischer Betrachtung ist das Beratungsgespräch aber nur eine Stunde im Leben dieser Frauen, bildlich ausge-
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Anders ist dies beim Schutzauftrag der Jugendämter in Fällen von Kindeswohlgefährdung. Hier sind die Fachkräfte mit Kompetenzen zu Kontrolle und Interventionen ausgestattet.
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Das kann im Extremfall so weit gehen, dass Fotos von Beraterinnen in einer eigens dafür eingerichteten Kapelle zur Schau gestellt werden, wie Kolleginnen aus der Oberpfalz berichtet haben.
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drückt ein kleiner Mosaikstein im komplexen Geschehen ihrer Lebens- und Familienplanung. Wenn es eine wertvolle und nachhaltige Stunde war, wenn es ein für das Gesamtbild farblich bedeutender Mosaikstein war, dann umso besser. Aber die entscheidenden Parameter für das Austragen oder den Abbruch einer Schwangerschaft liegen im Lebenskontext der schwangeren Frauen. Sie können im Beratungsgespräch reflektiert, konkretisiert und hinterfragt, aber nicht wesentlich beeinflusst oder verändert werden. Weil die Gespräche für die Frauen dennoch meist hilfreich sind, sollte m.E. Beratung bei gewünschten wie bei ungewünschten Schwangerschaften flächendeckend als institutionalisiertes, professionelles und qualifiziertes Angebot vorgehalten werden. Vermutlich würde es von den Frauen umso lieber angenommen, je toleranter und empathischer der gesellschaftliche Diskurs zu den Herausforderungen von Fruchtbarkeit und Familienplanung sich entwickelt und je weiter sich die Gesetzgebung in diesem Lebensbereich von Strafandrohungen entfernt. Dann könnten sowohl die Entscheidungen und Lebenswege der Frauen als auch die Arbeit der Beraterinnen mehr Wertschätzung erfahren.
L ITERATUR Deutscher Arbeitskreis für Jugend-, Ehe- und Familienberatung (2001): Grundsatztexte des DAKJEF: S. 6 f. Bauer, Ursula (2008): »Paragraph 218. Gesprächssituationen aus dem Alltag der Schwangerschaftskonfliktberatung«, in: Sabine Weinberger, Klientenzentrierte Gesprächsführung, Weinheim: Beltz Juventa, S. 179 -199. Busch, Ulrike (1994): »Die Pflichtberatung zum Schwangerschaftsabbruch in den neuen Bundesländern«, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, Heft 1, S. 119-129. Franz, Jutta (2004): »Schwangerschaftskonfliktberatung im Kontext des Alleinerziehens«, in: Ruth Limmer, Beratung von Alleinerziehenden, Weinheim: Juventa Verlag, S. 53-80. Franz, Jutta (2012): »Pflichtberatung vor dem Schwangerschaftsabbruch«, in: pro familia-Magazin 3-4/2012. Koschorke, Martin (2008): »Schwangerschaftskonflikt-Beratung«, in: Kleine Texte aus dem evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung, Nr. 40. 2008. Koschorke, Martin (2007): »Schwangerschaftskonflikt-Beratung«, in: Frank Nestmann u.a. (Hg.), Das Handbuch der Beratung Band 2, Tübingen: Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, S. 1111-1126.
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Levold, Tom: »Schwangerschaftskonfliktberatung aus systemischer Perspektive«, in: System Familie 1998, Heft 11, S. 155-165. Madeker, Michael/Jacobs, Marion/Simon, Alfred (2012): »Beratungs- und Rollenverständnis von Schwangerschaftskonfliktberaterinnen. Ergebnisse einer empirischen Befragung«, in: Frauenarzt 2012, Heft 1, S. 30-34. Menne, Klaus/Moersch, Eva (1980): »Zur Psychoanalyse von Schwangerschaftskonflikten«, in: Psyche 1980, Heft 2, S. 21-151. Standpunkt Schwangerschaftsberatung pro familia, siehe: www.profamilia.de (Zugriff am 04.06.2014).
Schwangerschaftsabbruch – Ärztliches Handeln in Forschung und Praxis C HRISTINE C ZYGAN , I NES T HONKE
Der Schwangerschaftsabbruch nimmt in der Medizin eine besondere Rolle ein. Es geht um einen Eingriff, über den kontroverse Positionen bestehen, die auch ärztliches Handeln beeinflussen. Ärztliches Handeln erfolgt nach den Grundvoraussetzungen der Indikationsstellung, des informierten Einverständnisses von Patientinnen und Patienten und nach allgemein anerkannten fachlichen Standards. Bei ärztlichen Behandlungsmaßnahmen, die Grenzbereiche des Lebens berühren, können persönliche Grundwertorientierungen in einen Konflikt mit dem ärztlichen Auftrag geraten. Bei der Beendigung einer Schwangerschaft liegt daher die Vermutung nahe, dass die persönliche Überzeugung einen Einfluss auf das ärztliche Handeln und damit Auswirkungen auf die Versorgung hat. Der folgende Beitrag konzentriert sich auf den Zusammenhang zwischen persönlicher Einstellung und professionellem ärztlichen Handeln sowie auf Faktoren, die ärztliches Handeln beeinflussen. Mit Bezug auf internationale Entwicklungen sollen die aktuelle Situation für Ärztinnen und Ärzte in Deutschland beleuchtet und sich daraus ergebende Fragen für die Forschung abgeleitet werden.
S TUDIEN UND B EFASSUNGEN AUS D EUTSCHLAND (1970 BIS 1990) – H INTERGRÜNDE , E INORDNUNG UND D ARSTELLUNG Zur Einstellung von Ärztinnen und Ärzten zum Schwangerschaftsabbruch gibt es in Deutschland keine aktuelle Forschung. Die Reform des § 218 in den 1990er Jahren hat eine Beruhigung der zuvor stattgefundenen Debatten und damit
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ein Abflauen der Forschungsbedarfe mit sich gebracht. Ausnahmen bilden die Diskussionen um den Bayerischen Sonderweg Ende der 1990er Jahre sowie um das Thema Spätabtreibung im Kontext der gesetzlichen Regelung der Beratung zu pränataler Diagnostik. In den rechts- und berufspolitischen sowie ethischen Auseinandersetzungen um die Legalität und die Bedingungen des Eingriffs, die nach der Reform des § 218 StGB in der 1970er Jahren geführt wurden, nimmt die Berufsgruppe der Ärztinnen und Ärzte als gesetzlich bestimmte ausführende Instanz hingegen eine wichtige Rolle ein. Entsprechend der unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklung der beiden nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen deutschen Staaten sind sowohl Intensität als auch Inhalte und Zielstellungen der Debatten ausgesprochen unterschiedlich. Das spiegelt sich ebenso in den Forschungen zum Thema Arzt und Schwangerschaftsabbruch wider. Sie werden deshalb im Folgenden getrennt für die beiden Systeme betrachtet.
Bundesrepublik Deutschland (BRD) In der Bundesrepublik der 1970er und -80er Jahre fanden breite Diskussionen zum Thema statt. Die nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschenden konservativen und christlich geprägten Wertevorstellungen waren durch eine lange Phase einer rigiden Familien- und Geschlechterpolitik geprägt. Die gesellschaftlichen Bewegungen der 1970er Jahre sind mit deutlichen Protesten gegen eine autoritäre Sexualmoral, gegen die Kriminalisierung von Abtreibung sowie für die Verbesserung des Zugangs zu Kontrazeption und Schwangerschaftsabbruch verbunden. Die lebhaft geführten Debatten innerhalb der Bevölkerung erreichten auch die Ärzteschaft. Parallel zu diesen Auseinandersetzungen und den damit verbundenen Reformbestrebungen entstanden Forschungsarbeiten zum Thema »Arzt und Schwangerschaftsabbruch«. Insbesondere nach der Reform des § 218 StGB im Jahr 1976 und der Einführung der Indikationsregelung rückte die Perspektive von Ärztinnen und Ärzten verstärkt in den Fokus (vgl. Häußler-Sczepan 1989: 1). Die folgenden Befunde dazu können auch für heutige Positionsbestimmungen anregend sein. Eine der ersten Arbeiten ist die von Kirchhoff 1971. Vor dem Hintergrund der Debatten um die mögliche Streichung des § 218 oder eine Erweiterung der Indikationen analysierte er die Einstellungen von Gynäkologinnen und Gynäkologen. Ergebnis seiner Untersuchung ist, dass dem Schutz von werdendem Leben in den Haltungen der Ärzteschaft eine zentrale Bedeutung zukommt (vgl. Kirchhoff 1971: 1481). Dennoch wünschten sich 93 % eine Liberalisierung und Modifizierung des Gesetzes sowie eine Erweiterung der Indikationen, damit die
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soziale und gesundheitliche Lage der Frau Berücksichtigung finden kann (vgl. Kirchhoff 1971: 1483). Eine indikationslose Beendigung der Schwangerschaft, so wie es die Frauenbewegung forderte, war zu diesem Zeitpunkt für die Mehrheit der Befragten nicht vorstellbar. Zu dominierend waren moralisierende Befürchtungen und Vorbehalte sowie die Annahme, dass Frauen eine Schwangerschaft leichtfertig, unbegründet und einem subjektiven Wunsch folgend beenden (vgl. Kirchhoff 1971: 1483 f.). Stattdessen wurde für Sonderkommissionen plädiert. Eine durch das Gesetz geschaffene mögliche soziale Indikation sollte in die Hände einer Sonderkommission bzw. eines Entscheidungsgremiums gegeben werden, welches die jeweilig komplexe Situation mit ihrer Vielzahl von Faktoren und Motiven sorgfältig zu überprüfen hätte, um ›Missbrauch‹ und einer »unverantwortlichen Ausbreitung« vorzubeugen (Kirchhoff 1971: 1484). Eine ablehnende Haltung gegenüber der Fristlösung zeigte sich auch in einer Untersuchung von Knöferl 1981. Die Notlagenindikation erwies sich als ein zentrales Problem für die Ärzteschaft, war ihre Handhabung doch abhängig von subjektiven Werten, aber auch sachlichen und fachlichen Einschätzungskompetenzen, wie der Erfragung und Beurteilung relevanter Daten zur Feststellung einer »Notlage«. Die daraus resultierende Unzufriedenheit spiegelt sich u.a. in dem Ergebnis wider, dass die Notlagenindikation eher abgelehnt wurde als die medizinische Indikation (vgl. Knöferl 1981: 57). Häußler-Sczepan (1989) untersuchte mit gut zehn Jahren Abstand zur Gesetzesnovellierung von 1976 die ärztlichen Einstellungen und das Verhalten zum Schwangerschaftsabbruch unter Berücksichtigung der Anwendung des reformierten § 218 StGB. Ihre quantitative Befragung richtete sich an niedergelassene und in Kliniken tätige Gynäkologinnen und Gynäkologen in Hessen und BadenWürttemberg (vgl. Häußler-Sczepan 1989: 5). Insgesamt wurden 20,7 % der Gynäkologinnen und Gynäkologen befragt. Auch hier lag das zentrale Problem in der übertragenen Verantwortung. Häußler-Sczepan führte das auf deren besondere Rolle im Prozess der Durchsetzung von Normen zurück (HäußlerSczepan 1988: A-1685). Sie konstatierte zudem einen gefühlten Widerspruch zwischen dem berufsethischen Selbstverständnis »Du sollst als Arzt Leben retten und nicht töten« und der Durchführung des medizinischen Eingriffes (HäußlerSczepan 1989: 223/234 f.) Die Mehrzahl der befragten Gynäkologinnen und Gynäkologen empfand das Zusammentreffen des Auftrags, Leben zu schützen auf der einen und den Wunsch der Frau nach einem Schwangerschaftsabbruch auf der anderen Seite als konflikthaft, wobei sich dieser Konflikt offenbar besonders aus der Notlagenindikation ergab (ebd.: 235). Etwa 57,9 % akzeptieren den Schwangerschaftsabbruch lediglich als Notlösung (vgl. Häußler-Sczepan 1989: 135). Zwar war die grundsätzliche Bereitschaft unter Ärztinnen und Ärzten vor-
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handen, einen Abbruch durchzuführen, allerdings wurden klare Definitionen für Notlagen seitens des Gesetzgebers und fachärztliche Leitlinien vermisst. (vgl. Häußler-Sczepan 1989: 161). Auch Amtenbrink untersuchte die Einstellung der Ärzteschaft vor dem Hintergrund der im Jahr 1976 in Kraft getretenen Indikationsregelung. Ihre fragebogengestützte Untersuchung unter 104 klinisch tätigen Gynäkologinnen und Gynäkologen fokussierte auf die Einstellungen zum Schwangerschaftsabbruch sowie auf die Möglichkeiten der zukünftigen Ausgestaltung der betreffenden Paragrafen. Ein zentraler Aspekt der Studie war die Überprüfung der Hypothese, dass eine Korrelation zwischen der Religionszugehörigkeit und der Bereitschaft bestünde, Abbrüche vorzunehmen. Diese bestätigte sich nicht. Allerdings beeinflusste die Religiosität den Grad der empfundenen Überwindung sowie die Belastung durch den Eingriff (vgl. Amtenbrink 1989: 46/53). Als emotional belastend wurden ein fortschreitendes Gestationsalter und das direkte Erkennen anatomisch-embryonaler Struktur genannt (vgl. ebd.: 57). Die Befragten gaben an, dass Frauen eine höhere Verantwortlichkeit zukommen müsse, sichere Verhütungsmethoden zu nutzen, um die Zahlen ungewollter Schwangerschaften zu senken (vgl. ebd.: 68). Claassen führte im Jahr 1989 eine qualitative Studie zum Themenkomplex durch. Ihre Untersuchung zielte auf das Verstehen individueller psychischer Prozesse bei Gynäkologinnen und Gynäkologen, die mit der Durchführung eines Abbruchs einhergehen. Die Ergebnisse aus acht Interviews weisen auf unterschiedliche Konfliktebenen hin, deren Bedeutung individuell variiert (Claassen 1989: 47). Die Befragung verdeutlicht die erlebte Isolation und Außenseiterposition, in die Ärztinnen und Ärzte geraten können, wenn sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen (vgl. ebd.: 43). Claassen machte deutlich, dass Ärztinnen und Ärzte vor dem Hintergrund heterogener Positionen zum Schwangerschaftsabbruch in der Gesellschaft eine persönliche Haltung für ihre Arbeit finden müssen. In allen Untersuchungen zeigt sich, dass gesellschaftliche und persönliche Wertvorstellungen und subjektive Aushandlungsprozesse entscheidend dafür sind, ob Ärztinnen und Ärzte Schwangerschaftsabbrüche durchführen und wie sie dies tun und erleben. Es scheint unumstritten, dass die per Gesetz in den Bereich der Gewissensprüfung jeder Ärztin und jedes Arztes gelegte Entscheidungsmöglichkeit, in jedem Einzelfall oder generell am Abbruch einer Schwangerschaft mitzuwirken oder nicht, nicht nur akzeptiert, sondern auch gewünscht ist.
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Deutsche demokratische Republik (DDR) In der DDR galt das Abtreibungsthema mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Unterbrechung einer Schwangerschaft von 1972 weitgehend als gelöst. Frauen hatten das Recht, eine ungewollte Schwangerschaft bis zur zwölften Schwangerschaftswoche zu beenden und somit ihre Kinderzahl sowie den Zeitpunkt eigenverantwortlich zu bestimmen. Studien konzentrierten sich primär auf Fragen des Kinderwunsches und des Verhütungsverhaltens. In der Ärzteschaft war die Reaktion auf die Einführung der Fristenregelung durchaus heterogen. Einerseits wurde begrüßt, dass Frauen nun nicht mehr den vorherigen Prozeduren und Belastungen sowie Risiken ausgesetzt waren, andererseits empfanden sich viele Ärztinnen und Ärzte in ihren Einstellungen nicht hinreichend respektiert. Öffentlich diskutiert oder beforscht wurde dies jedoch kaum. Ethische Fachdebatten zum Schwangerschaftsabbruch als Grenzsituation ärztlichen Handelns wurden geführt, ebenso zum Status und Schutz vorgeburtlichen Lebens und zur generellen Haltung zum Abbruch als letzter, korrektiver Methode im Rahmen von Familienplanung (vgl. u.a. Körner 1986: 58 ff.; Luther 1986: 138 ff.). Mit der Einheit Deutschlands war zu erwarten, dass eine gesetzliche Neuregelung Folgen für die ärztliche Praxis haben und die Meinungsbildung der Ärztinnen und Ärzte in besonderer Weise herausgefordert herausfordern würde. In diesem Kontext ist eine Studie von Busch verortet, die mit dem Ziel durchgeführt wurde, Fakten für fachliche Debatten zu liefern sowie auf fachpolitischer Ebene Kenntnisse über das Meinungsbild unter Gynäkologinnen und Gynäkologen zu schaffen und den Prozess der Neuregelung des Abtreibungsrechtes zu begleiten (vgl. Busch 1992: 156). Auch in dieser Studie wurde deutlich, dass sich aus dem Zusammentreffen der ärztlichen Verpflichtung, Leben zu bewahren und der rechtlichen Regelung, dass Frauen selbst entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austragen wollen, Reibungspotenzial ergeben kann (vgl. ebd.: 160 ff.). Vor dem Hintergrund der Diskussion über eine einheitliche Gesetzgebung in Deutschland wurden vor allem Aspekte näher betrachtet, zu denen Veränderungen zu erwarten waren: Einstellung zur rechtlichen Regelung, zur Finanzierung des Abbruchs, zur Beratung (Beratungspflicht). Die große Mehrheit der 312 Befragten präferierte eine Fristenlösung (72 %). Eine finanzielle Beteiligung der Frauen und ihrer Partner wurde von 67 % befürwortet. Offenbar wurde hierin eine Form angemessener Sanktionierung gesehen. Im Gegensatz zur finanziellen Beteiligung am Abbruch
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wurde eine kostenpflichtigen Abgabe von Kontrazeptionsmitteln eher abgelehnt1 (vgl. ebd.: 162). Die Akzeptanz eines Abbruchwunsches der Frau durch die Gynäkologin bzw. den Gynäkologen war stark davon abhängig, wie Frauen diesen begründete. Die Mehrzahl der Befragten wollten über die Beweggründe für den Abbruch informiert werden (85 %) um besser auf die Frauen eingehen zu können. Entscheidungsmotive wurden in unterschiedlichem Maß akzeptiert (vgl. ebd.: 165). Ungeachtet der eigenen Ansprüche, der Patientin gegenüber sachlich und vertrauensvoll zu sein, versuchte ein Teil der erfassten Ärzteschaft »so oft wie möglich abzuraten« und besaß offenbar ein eher direktives Beratungsverständnis. Die Pflichtberatung lehnte die Hälfte der Befragten aufgrund des Zwangscharakters ab. Viele sahen sie dennoch als eine sinnhafte Möglichkeit, diejenigen Frauen besser zu erreichen, die sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit der Thematik auseinandergesetzt hatten (vgl. ebd.: 164). Generell kann geschlussfolgert werden, dass sowohl die durch weitgehende Gleichberechtigung geprägte gesellschaftliche Verfasstheit der DDR im Allgemeinen als auch die liberale Praxis im Kontext des Abbruchs einer ungewollten Schwangerschaft im Besonderen eine offenere Haltung der Gynäkologinnen und Gynäkologen zum Schwangerschaftsabbruch mit sich brachte. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den erst jüngst durchgeführten Interviews im Rahmen einer kleineren qualitativen Studie in Ostdeutschland (Czygan 2013).
ÄRZTIN /ARZT BEACHTETES
UND ABBRUCH : E IN INTERNATIONAL T HEMA IN DER W ISSENSCHAFT
Im Gegensatz zur deutschen Forschungssituation der jüngeren Zeit finden sich international zahlreiche aktuelle Studien zu unterschiedlichen Aspekten von ärztlicher Haltung und Einstellung im Kontext von Schwangerschaftsabbrüchen. Für die Fragestellung nach den Beweggründen und dem Einfluss von individuellen Erfahrungen niedergelassener Ärztinnen und Ärzte sowie von medizinischem Personal aus Kliniken werden an dieser Stelle beispielhaft Ergebnisse aus den Vereinigten Staaten sowie aus Südafrika vorgestellt. Für Südafrika, das seit dem Ende der Apartheid im Jahr 1994 eine der liberalsten Gesetzesregelungen zum Schwangerschaftsabbruch weltweit besitzt, gibt eine Untersuchung der WHO (2010) wichtige Hinweise. Von Ärztinnen und Ärzten und medizinischen Angestellten wird der Schwangerschaftsabbruch als ein Teil ihrer Profession angese-
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In der DDR war im Gesetz zur Unterbrechung der Schwangerschaft von 1972 der unentgeltliche Zugang zu Kontrazeptiva geregelt worden.
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hen. Durch das Wissen um die Folgen unsicherer Schwangerschaftsabbrüche und die Bedeutung, die den Rechten von Frauen beigemessen wird, wird diese Haltung noch verstärkt (vgl. WHO 2010: 3 ff.). Vergewaltigung ist in Südafrika ein großes gesellschaftliches Problem (vgl. Gould 2013: 43) und spiegelt sich in einem quantitativ relevanten Aufkommen als Abbruchmotiv wider (vgl. WHO 2010: 3 ff.). Neben Inzest wird es als ein besonderer Beweggrund für einen Abbruch bewertet, für den auch Abbruchgegner Verständnis zeigen (ebd.). Trotzdem erfahren südafrikanische Ärztinnen und Ärzte sowie medizinische Angestellte, die den Eingriff anbieten, gesellschaftliche Stigmatisierung, Missachtung durch Kollegen und Isolation, was nicht selten zu konsekutivem Burnout führt (ebd.). Die Befragten äußerten den Wunsch, spezialisierte Kliniken zu etablieren, um ein unterstützendes Klima ohne Vorurteile und Bewertungen für alle Beteiligten zu schaffen. Lehnen Ärztinnen bzw. Ärzte und medizinisches Personal den Schwangerschaftsabbruch ab, so wird dies einerseits mit religiösen und moralischen Überzeugungen begründet, andererseits aber auch mit der Angst, gesellschaftlich ausgegrenzt und verachtet zu werden (ebd.: 5). Das Thema der Stigmatisierung und Isolation wird auch in einer USamerikanischen Untersuchung (vgl. Harris et. al. 2013) aufgegriffen. Sie bestätigt, dass Ärztinnen und Ärzte die Abbrüche durchführen, mit gesellschaftlicher und beruflicher Stigmatisierung, Belästigung und Gewalt konfrontiert sind. Derartige Angriffe werden nicht in der Öffentlichkeit diskutiert, sondern fördern das Stillschweigen über ihre Arbeit. Für die betroffenen Ärztinnen und Ärzte entsteht ein schwer zu durchbrechender Teufelskreis, welchen Harris et. al. (2013) als »legitimacy paradox« bezeichnet. Dieses Phänomen hat gesamtgesellschaftliche Auswirkungen, da es die Frage aufwirft, inwiefern sich die Darstellung der betroffenen Ärztinnen und Ärzte als »minderwertige Mediziner« auf die Bereitschaft niederschlägt, Schwangerschaftsabbrüche auszuführen. Noch weitaus ernster ist die Konsequenz für Fachpersonal, das sich durch seine Tätigkeit in der Abbruchversorgung sogar direkter Gewalt bzw. Lebensgefahr ausgesetzt sieht. Von 1993 bis 1999 wurden in den USA sieben Personen auf Grund ihrer Tätigkeit durch fanatische Abtreibungsgegner getötet, 17 wurden verletzt. Dass diese Ereignisse eine direkte negative Wirkung auf die Haltung und die Bereitschaft von Fachkräften haben, sich an der Abbruchversorgung zu beteiligen, konnte durch zwei Untersuchungen belegt werden (Ventura 1999, Fischer et al. 2005). Gleichzeitig zeichnet sich in den USA auf Bundesstaatenebene der Trend ab, das 1973 getroffene liberale Grundsatzurteil2 des Obersten US-Bundesgerichts durch 2
Roe gegen Wade: Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten im Januar 1973. Der Schwangerschaftsabbruch wurde unter das Recht auf Privatsphäre gestellt: Eine Schwangere darf, ohne dass die Gründe dafür unterschied-
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Restriktionen und Limitationen für betroffene Frauen und praktizierende Ärztinnen und Ärzte beim Schwangerschaftsabbruch zu unterlaufen3 (vgl. Guttmacher 2014). Nationale, aber auch regionale Zugehörigkeit beeinflussen ebenfalls die Haltung zum Abbruch in den USA (McKee und Adams 1994). Ihre umfassende Untersuchung ergab, dass innerhalb der Vereinigten Staaten die ablehnende bzw. unterstützende Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch stark variiert. Weitere internationale Untersuchungen befassen sich mit der Frage, welche Haltung Fachkräfte im Gesundheitswesen gegenüber dem Schwangerschaftsabbruch haben und welche Faktoren diese möglicherweise beeinflussen oder verändern können. Das gesellschaftliche Klima wird auch im Fall einer liberalen Gesetzgebung und einer »entspannten« gesellschaftlichen Einstellung zu ungewollter Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch als ein bedeutender Einflussfaktor auf die Haltung von Professionellen hinsichtlich ihrer Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch genannt. In Schweden wird die eigene Gesetzgebung, die eine Fristenlösung bis zur 18. Schwangerschaftswoche vorsieht, von der überwiegenden Mehrheit der 527 befragten Gynäkologinnen und Gynäkologen befürwortet (vgl. Hammerstedt et al. 2005: 60). In Großbritannien wurde in zwei Studien die Haltung von niedergelassenen Allgemeinärztinnen und -ärzten (Francome und Freeman 2000) und von Studierenden der Medizin zum Schwangerschaftsabbruch abgefragt (Gleeson 2008). Bei den befragten Studierenden befürworteten 62 % eine liberale Regelung im Sinn einer freien Entscheidung der Schwangeren, 33 % sprachen sich gegen eine straffreie Möglichkeit zum Abbruch aus, 7 % waren unentschieden. Es fand sich eine enge Korrelation zwischen der jeweiligen Einstellung zum moralischen Status des Fötus, den Persönlichkeitsrechten der Frau sowie der persönlichen Einschätzung der Rechtslage einerseits und der Bereitschaft, sich an der Abbruchversorgung zu beteiligen andererseits. Die Akzeptanz eines Abbruchs korrelierte in den Befragungen mit den von der Frau vorgebrachten Begründungen: Die Bereitwilligkeit der Befragten, einen Abbruch durchzuführen, fiel deutlich ab, wenn als Grund »Kind unerwünscht« angegeben wurde. Bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten fand sich eine im Vergleich deutlich liberalere Haltung. lich gewichtet werden, die Schwangerschaft abbrechen bis zu jenem Zeitpunkt, an dem ein Fötus lebensfähig wird (Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Roe_v._ Wade, Zugriff am 23.07.2014) 3
1992 wurde das Gesetz in dem Urteil Planned Parenthood v. Casey bestätigt, jedoch durch den Zusatz maßgeblich geschwächt, innerstaatliche Regulierungen zu erlauben, wenn sie Frauen nicht unverhältnismäßig belasten. 2014 behindern in mindestens der Hälfte aller Bundesstaaten umfangreiche Reglementierungen den Zugang zum Abbruch.
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IN
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Und eine Bereitschaft, sich an Beratung, Gutachten und Durchführung zu beteiligen, betrug selbst in der Gruppe der Ärztinnen und Ärzte, die sich grundsätzlich gegen liberale Regelungen ausgesprochen hatten, noch etwa 50 %. Jedoch sank auch diese merklich ab, wenn als Grund für den Abbruch eine unerwünschte Schwangerschaft angegeben wurde oder wenn die Schwangerschaft bereits fortgeschritten war. Die Bereitschaft blieb nur in den Fällen einer Gefahr für die mütterliche Gesundheit unverändert hoch. Diese Erkenntnisse haben eine hohe Relevanz, da in Großbritannien etwa 97 % aller Schwangerschaftsabbrüche aus dem Grund »ungewollt/ungeplant« vorgenommen werden. In der Studie blieb unbeantwortet, ob die im Vergleich liberalere Haltung von im Beruf stehenden Ärztinnen und Ärzten auf die bereits erworbenen Erfahrungen zurückzuführen ist und sich demnach im Rahmen der praktischen Arbeit entwickelt hat, oder ob sie auf Veränderungen der Haltung in der Ärzteschaft im Zeitraum zwischen den Befragungen beruht. In Irland untersuchte eine aktuelle Studie die Einstellung der Studierenden. Nach dieser Studie war eine befürwortende Haltung zum Abbruch bei Studierenden etwa gleich häufig zu finden wie bei Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern. Analog zu Großbritannien wurde auch hier ein Schwangerschaftsabbruch von den Professionellen tendenziell eher dann befürwortet, wenn als Grund nicht nur das Verlangen der Mutter vorlag (vgl. Fitzgerald et al, 2013, Murphy et al 2012: 139). Die Einstellung nach Berufsgruppen untersuchte Fonnest et al. (2000) in Dänemark und fand beim gynäkologischen Fachpersonal eine unterschiedlich hohe Akzeptanz: Sie lag für das Recht auf einen Abbruch ohne Einschränkungen bei Ärztinnen und Ärzten am höchsten (95 %), gefolgt von Hebammen (85 %) und Pflegepersonal (78 %). Anlass für eine Untersuchung in der französischsprachigen Schweiz waren die Einführung des medikamentösen Abbruchs im Jahr 1999 und die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs im Jahr 2002. Perrin et al (2012) untersuchte in einer qualitativen Studie mittels Tiefeninterviews die Einstellung von 77 Personen aus dem Gesundheitsbereich zum Abbruch, darunter 25 Ärztinnen und Ärzte. Das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch wurde von keiner der befragten Personen in Frage gestellt, und auch dem vereinfachten Verfahren für die Frau vor dem Abbruch stimmten alle Befragten zu. Unterschiede bestanden hinsichtlich der Einschätzung, wie schnell Frauen den Wunsch nach einem Abbruch umsetzen dürfen. Viele der Befragten sahen einen Konflikt zwischen der gesetzlichen Auflage, in jedem staatlichen Krankenhaus den Zugang zum Abbruch zu garantieren, und der ebenfalls gesetzlich festgelegten Möglichkeit für medizinisches Personal, aus Gewissensgründen die Beteiligung am Schwangerschaftsabbruch zu verweigern. Es wurde diskutiert, ob es überhaupt möglich sein sollte,
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den Facharztstatus zu erlangen, wenn die Teilnahme an der Durchführung des Abbruchs von einer Ärztin bzw. einem Arzt prinzipiell abgelehnt wird. In einer repräsentativen Studie in Schweden, das eine vergleichbare gesetzliche Regelungen bereits 1975 implementierte, bejahte etwa die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen, gleichzeitig betrachteten jedoch 87 % die Durchführung des Abbruchs als Aufgabe einer Frauenärztin bzw. eines Frauenarztes (vgl. Hammarstedt 2006). Wie bereits in den älteren Untersuchungen aus Deutschland dargestellt, zeigt auch die internationale Studienlage, dass unterschiedlichen Faktoren auf die ethisch-moralische Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs durch Ärztinnen und Ärzte, auf ihre persönliche Haltung und ihre Motivation einwirken, Dienstleistungen zum Abbruch anzubieten. Es sind die Beweggründe einer Frau und die Schwangerschaftsdauer zum Zeitpunkt des Abbruchs, die die professionelle Haltung der Ärztinnen und Ärzte beeinflussen. Bei nicht-medizinischen Gründen und höherem Schwangerschaftsalter sinken Zustimmung und Bereitschaft zur Durchführung des Abbruchs (vgl. Marek 2004, Fischer 2005). Weiterhin scheint die professionelle Einstellung eng an die Versorgungssituation und die Struktur der Dienstleistungsangebote gekoppelt.
D IE V ERORTUNG DES S CHWANGERSCHAFTSABBRUCHS IN DER M EDIZIN : D AS B EISPIEL F ORT - UND W EITERBILDUNG UND Q UALITÄTSSICHERUNG Da für Deutschland keine aktuellen Studien zur Motivation oder Haltung von Ärztinnen und Ärzten zum Schwangerschaftsabbruch vorliegen, können Gründe für diese erhebliche Leerstelle in der Forschung wegen fehlender Daten nur auf der Basis eigener Beobachtungen und Analysen vermutet werden. Es ließe sich einerseits annehmen, dass die Versorgung von Frauen rund um den Abbruch inzwischen einen gesellschaftlich weitgehend akzeptierten und selbstverständlichen Bereich medizinischer Tätigkeit darstellt und insofern kein weiterer Forschungsbedarf bestünde. Andererseits könnten sich mangelndes Forschungsinteresse und die daraus resultierende Forschungslücken daraus erklären, dass es sich in Deutschland bei den medizinischen Dienstleistungen zum Schwangerschaftsabbruch noch immer um ein unliebsames und tabuisiertes Feld medizinischer Versorgung handelt, das nolens volens dem Fachgebiet Gynäkologie zugeordnet wird. Vieles spricht dafür, dass die zweite Begründung den Kern des Problems trifft, zumal – und dies wird im Folgenden näher ausgeführt – sich
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Ärztinnen und Ärzte im deutschen Versorgungssystem zum Schwangerschaftsabbruch mit einer Reihe von Problemen konfrontiert sehen. Die These, dass eine Verortung des Schwangerschaftsabbruchs in der Frauenheilkunde in Deutschland bislang nicht konsequent stattfindet, wird dadurch bestätigt, dass der Abbruch – ein jährlich in der Frauenheilkunde über 100.000 Mal durchgeführter Eingriff – in der Aus- und Weiterbildung nicht berücksichtigt wird. Weder im Studium noch in der fachärztlichen Weiterbildung der Frauenheilkunde und Geburtshilfe nehmen die unterschiedlichen Abbruchverfahren einen entsprechenden Stellenwert ein. Das Staatsexamen wie auch die fachärztliche Prüfung verlangen im Themenblock »Abbruch« ausschließlich Kenntnisse zur »Beratung bei Schwangerschaftskonflikten sowie der Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch unter Berücksichtigung der gesundheitlichen einschließlich psychischen Risiken«4. Fachorganisationen in den USA hingegen bewerten den Abbruch als wichtigen Ausbildungsinhalt, der als integraler Bestandteil in medizinische Curricula aufgenommen werden muss. Die Effekte von ärztlichen Ausbildungsmaßnahmen zum Schwangerschaftsabbruch sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen: Besteht ein Fortbildungsangebot nur auf freiwilliger Basis, wird es deutlich seltener genutzt als wenn es obligatorisch stattfindet. Die Implementierung von Fortbildungen im vorklinischen und klinischen Studienabschnitt wurde von Espey et al. (2008) wissenschaftlich begleitet: Studierende wertschätzten die Fortbildungsinhalte und hielten sie als festen Bestandteil der Facharztausbildung für außerordentlich wichtig. Die Universitiy of California konnte zeigen, dass ein Praktikum im Bereich Reproduktive Gesundheit Kenntnisse und Verständnis bei ungeplanter Schwangerschaft und dem Wunsch eines Abbruchs verbesserte und zu größerer Beratungssicherheit führte.
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Für die medizinische Ausbildung gilt die Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte: siehe Anlage 15 (zu § 28 Absatz 3 Satz 2): Prüfungsstoff für den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung: »[...] Beratung und Beurteilung in Konfliktsituationen, insbesondere medizinische, rechtliche und ethische Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs.« Im Internet unter: http://www.gesetze-im-internet.de/_appro_2002 (Zugriff am 23.07.2014). Für alle Angelegenheiten der ärztlichen Weiterbildung sind in Deutschland die Landesärztekammern als Körperschaften des Öffentlichen Rechts zuständig. Daher hat die von der Bundesärztekammer erarbeitete (Muster-)Weiterbildungsordnung für die Landesärztekammern nur empfehlenden Charakter. Zum Zeitpunkt des Drucks war sie in der Version vom 28.6.2013 auf der Homepage der Bundesärztekammer abrufbar unter: www.bundesaerztekammer.de/downloads/20130628-MWBO_V6.pdf (Zugriff am 23.07.2014).
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Auch erhöhte es die Motivation von Ärztinnen und Ärzten, selbst Abbrüche anzubieten (vgl. Pace 2008). Die Ergebnisse von Steinauer (2003; 2008) untermauern dies. Sie zeigen, dass die Intensität, die dem Thema Schwangerschaftsabbruch in der Facharztausbildung beigemessen wird und die Menge an Erfahrung, die dabei gesammelt werden können, positiv mit der Bereitschaft korrelieren, später Abbrüche anzubieten. Unterschiedliche Ansätze wurden daher verfolgt, um ein flächendeckendes qualitativ hochwertiges Dienstleistungsangebot zum Abbruch bereitzustellen. Der instrumentelle und der medikamentöse Abbruch sind inzwischen Bestandteil jeder Facharztausbildung (ACGME5) in den USA. Eine aktuelle Studie konnte darüber hinaus zeigen, dass strukturierte Facharztausbildungsprogramme zu Familienplanung und Schwangerschaftsabbruch, die neben einer umfassenden klinischen Ausbildung auch soziale und Public-HealthKompetenzen vermitteln, effektiver sind als Ad-hoc-Routinefortbildungen (vgl. MacIsaac 2012). Insbesondere verbessern solche Programme bei Ärztinnen und Ärzten die Selbsteinschätzung der eigenen Kompetenz und bestärken sie deutlich in dem Vorsatz, selbst Abbrüche durchzuführen. Einen positiven Zusammenhang zwischen dem Umfang an praktischen Erfahrungen von Ärztinnen und Ärzten und der Akzeptanz eines Abbruchs zeigt auch die schwedische Studie von Hammerstedt (2005: 61). Ein weiterer Indikator für unzureichende Behandlung des Themas in der Frauenheilkunde in Deutschland ist die fehlende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenbereich Schwangerschaftsabbruch auf gynäkologischen Fachkongressen und Tagungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften. Auch gynäkologische Qualitätszirkel befassen sich nicht regelhaft damit. Fehlenden Rückhalt in der eigenen Fachorganisation beschreibt eine aktuelle qualitative Untersuchung von Astbury-Ward (2014). Die im Nationalen Gesundheitssystem in Großbritannien beschäftigten Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal erfahren eine Stigmatisierung durch ihre Beteiligung an der Abbruchversorgung innerhalb der eigenen Profession. Sie fühlen sich in ihrem professionellen Umfeld isoliert, gehen ausweichend und zurückhaltend mit der Beschreibung ihrer Tätigkeit um und fürchten negative Konsequenzen wie Verunglimpfung und Repressionen. Verantwortlich für diese Entwicklung zeichnen die gesellschaftliche Entwicklung, die negative Haltung der eigenen Berufsverbände und die Zunahme von Verweigerung aus Gewissensgründen.
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ACGME: Accreditation Council for Graduate Medical Education: Clarification: family planning services. Online unter: http://www.acgme.org/acgmeweb/Portals/0/ PFAssets/ProgramResources/220_OBGYN_Abortion_Training_Clarification.pdf (Zugriff am 23.07.2014).
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Klinische Kompetenz bezüglich der unterschiedlichen Abbruchmethoden in der deutschen Facharztausbildung ist kein formuliertes Ausbildungsziel und es stellt sich die Frage, wo und nach welchen Standards die Methoden des Schwangerschaftsabbruchs in der Frauenheilkunde gelehrt und erlernt werden. Systematisch entwickelte Leitlinien »als Instrument der Qualitätssicherung« (vgl. Kopp et al. 2002) liegen für den Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nicht vor. International werden Leitlinien und Standards als eine geeignete Orientierung für eine wissenschaftlich begründete und ökonomisch angemessene ärztliche Vorgehensweise unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Einstellung von Patientinnen6 bewertet. Mögliche Folgen einer fehlenden systematischen Ausbildung zeigen sich im Vergleich internationaler Zahlen zum prozentualen Anteil des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs an der Gesamtzahl der durchgeführten Abbrüche. Die Methode wurde 1999 in Deutschland zugelassen. Etwa 17 % aller Abbrüche werden heute in Deutschland medikamentös durchgeführt (mit großer regionaler Streuung), während in europäischen Nachbarländern der Anteil dieser Abbruchmethode bis zu 80 % beträgt und eine hohe Akzeptanz bei freier Wahlmöglichkeit beschrieben wird (vgl. pro familia 2012: 7). Als ein Grund für diese Diskrepanz wird die fehlende Informiertheit der Frauenärztinnen und Frauenärzte genannt (vgl. Arp 2013: A-2422). Selbst der Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte bezeichnete die medikamentöse Methode in diesem Zusammenhang als für viele Frauen »belastend und traumatisch«, die Saugkürette hingegen als »weniger traumatisch, für einen längeren Zeitraum zugelassen und sicherer« (ebd.). Eine solche tendenziöse Botschaft steht dem Ziel einer umfassenden, evidenzbasierten und wertfreien Information und Aufklärung über alle optionalen Abbruchmethoden entgegen.
Z ENTRALE T HEMEN IN D EUTSCHLAND : V ERSORGUNGSSITUATION UND DIE B EDEUTUNG RECHTLICHER R AHMENBEDINGUNGEN In den USA war die dramatische Abnahme von Ärztinnen und Ärzten, die Abbrüche durchführen, und die damit verbundene sich verschlechternde Versorgungslage die Triebfeder für die Implementierung von Ausbildungsmaßnahmen. In Deutschland fehlen bisher systematische Angaben zu Versorgungssituation, -strukturen und -prozessen. Das Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) regelt
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Aus dem Leitlinien-Manual von AWMF und ÄZQ. Online unter: www.awmf.org/ uploads/media/llman-10_01.pdf (Zugriff am 01.07.2014).
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zwar den Zugang und die Verfügbarkeit medizinischer Angebote. Danach müssen die Bundesländer ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs vorhalten. Wie die Versorgungssituation in den Ländern überprüft werden soll, bleibt allerdings offen. Die ambulante und stationäre Behandlung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ist im Sozialgesetzbuch festgelegt (SGB V, §§ 24, 92). Die gesetzliche Grundlage für die Sicherstellung der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung ist ebenfalls dort fixiert (SGB V § 75) und obliegt den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Kassenärztlichen Bundesvereinigungen gegenüber den Krankenkassen. Der Sicherstellungsauftrag der stationären Versorgung (SGB V § 70) liegt bei den Ländern. Nach Auskunft einzelner Kassenärztlicher Vereinigungen erfolgt die Überprüfung der Sicherstellung ausschließlich mittels Bedarfsplan und der Ermittlung der Anzahl der gynäkologischen Praxen im Versorgungsbereich. Nicht geprüft wird darüber hinaus, ob im Versorgungsbereich ein ausreichendes Angebot zum Schwangerschaftsabbruch sichergestellt ist. Nach § 12 Abs. 1 SchKG kann niemand zur Mitwirkung an einem Schwangerschaftsabbruch verpflichtet werden. Es besteht keine Transparenz zu den medizinischen Angeboten zum Schwangerschaftsabbruch. Demnach können weder zum flächendeckenden medizinischen Angebot noch zur Frage, ob für Frauen bundesweit die Versorgung für den instrumentellen und den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch sichergestellt ist, fundierte Aussagen gemacht werden. Hinweise auf regionale Unter- und Fehlversorgung bestehen zum Beispiel für bestimmte Gebiete Bayerns. Als Einflussfaktor für die Haltung und die Situation von Ärztinnen und Ärzten sollen an dieser Stelle die grundsätzlichen rechtlichen Rahmenbedingungen diskutiert werden. Die Gesetzeslage zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland kann im internationalen Vergleich als komplex bezeichnet werden. Sie basiert auf einem komplizierten Regelwerk auf der Grundlage des am 21.08.1995 eingeführten Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes (SFHÄndG) und findet sich in verschiedenen Gesetzestexten. Die wesentlichen Bestandteile dieses Gesetzespakets sind das Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (SchKG), in Verbindung mit den strafrechtlichen Rahmenbedingungen nach den §§ 218 und 219 Strafgesetzbuch (StGB). Darüber hinaus wurden im SFHÄndG das fünfte Sozialgesetzbuch SBG V in §§ 24 a und b, 75 und 76 geändert. Der Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland im Rahmen des Strafrechtes generell verboten und wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Ärztinnen und Ärzte werden im Gesetzestext explizit als für
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den Abbruch verantwortlich benannt und sind die Personen, die in ihrer Funktion das Gesetz ausführen. Damit wird ihnen eine große Verantwortung übertragen. Das Strafmaß für Ärztinnen und Ärzte ist insgesamt höher als für die Frau, die einen Abbruch vornehmen lässt. Diese verantwortliche Rolle ist auch für weitere gesetzliche Regelungen wie das in § 219a StGB festgelegte Werbungsverbot für den Schwangerschaftsabbruch von Bedeutung. Demnach ist es strafrechtlich untersagt, zum eigenen Vermögensvorteil öffentlich eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs bzw. Mittel oder Verfahren, die zum Abbruch geeignet sind, zu verbreiten. Dabei herrscht bei den Akteuren zum Teil Unklarheit darüber, ob Informationen zum Dienstleistungsspektrum der Kategorie »Information« oder der Kategorie »Werbung« zuzuordnen sind. Diese Verunsicherung wird auch durch Gruppierungen befördert, die sich gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch aussprechen. Unter Berufung auf den genannten StGB-Paragrafen stellen sie Strafanzeigen gegen Ärztinnen und Ärzte, die für Frauen Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bereitstellen. Rechtliche Unklarheiten und strafrechtliche Anzeigen können konsekutiv eine Problemvermeidung zur Folge haben und dazu führen, dass die angebotenen Dienstleistungen zum Schwangerschaftsabbruch eingestellt werden. Das gesetzlich vorgegebene Werbeverbot und das Verbot, Beihilfe zum unerlaubten Schwangerschaftsabbruch zu leisten (§ 27 StGB, § 218 StGB), führt in der Praxis häufig dazu, dass die öffentlich zugängliche Information und Aufklärung zum Schwangerschaftsabbruch von Dienstleistern auf diesem Gebiet unterbleiben7. Gynäkologinnen und Gynäkologen haben in der Folge den Schwangerschaftsabbruch aus den Informationen zu ihrem Leistungsspektrum heraus genommen und informieren dort auch nicht zu den fachlichen Aspekten der Methoden u.a.m. Die Vermutung liegt nahe, dass die vorliegenden strafrechtlichen Regelungen zu einer defensiven und restriktiven Weitergabe von Informationen und damit zu einer Unterinformierung von Frauen führen und einer unterschwelligen Tabuisierung des Themas Vorschub leisten.
7
Mit dem Vorwurf Beihilfe zum Abbruch wurde 2013 in Niedersachsen ein Gynäkologe angeklagt, der einer in der 17. SSW befindlichen Schwangeren den Namen einer Abbruchklinik in den Niederlanden genannt hatte. Die Tatsache, dass die Informationen über Abbruchkliniken in den Niederlanden frei im Internet verfügbar sind, blieb in diesem Verfahren unberücksichtigt. Online unter: http://www.rechtsprechung .niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?doc.id=KORE208012013&st=nu ll&showdoccase=1¶mfromHL=true (Zugriff am 23.07.2014).
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S CHLUSSFOLGERUNGEN
UND OFFENE
F RAGEN
International liegen zahlreiche Untersuchungen zum Themenkomplex Arzt und Schwangerschaftsabbruch vor. Viele der genannten einstellungs- und verhaltensrelevanten Faktoren spielen ineinander und geben wichtige Hinweise auf gesellschaftliche und professionelle Rahmenbedingungen. In früheren Studien aus Deutschland und in aktuellen internationalen Untersuchungen korreliert das Maß der Zustimmung zum Abbruch mit der Akzeptanz von Abbruchgründen der Frau und dem eigenen Wertesystem. International wird der Schwangerschaftsabbruch in zahlreichen Empfehlungen und Deklarationen einzelner Organe der Vereinten Nationen, die im Kontext eines menschenrechtsbasierten Ansatzes der sexuellen und reproduktiven Rechte und Gesundheit erarbeitet und beschlossen wurden, behandelt. Auf die Fachdiskussion zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland hat sich dieser Rechteansatz bisher nicht ausgewirkt. Für Deutschland kann aus den dargestellten strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen über die Situation und das atmosphärische Umfeld für Ärztinnen und Ärzte nur gemutmaßt werden. Aus dieser Situation lassen sich zahlreiche Forschungsfragen ableiten. Festgehalten werden kann, dass Fakten zu Abbruchmöglichkeiten, Versorgungsangebot, -strukturen und -qualität weder für Ärztinnen bzw. Ärzte noch für betroffene Frauen ausreichend transparent sind. Der Schwangerschaftsabbruch ist nur unzureichend in die medizinische Aus-, Fort- und Weiterbildung implementiert, es gibt keine verbindlichen Leitlinien von Fachgesellschaften, eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu Schwangerschaftsabbruchmethoden wird in der zuständigen Fachgesellschaft kaum geführt. Die Gründe dafür und für die im internationalen Vergleich deutlich seltenere Anwendung eines medikamentösen Abbruchs sollten im Sinn des Qualitätsmanagements untersucht werden. Interprofessionelle Unterstützung etwa im Rahmen von Qualitätsmanagements- oder Supervisionsmaßnahmen ist nicht etabliert. Daraus ergeben sich Fragen zur regionalen und bundesweiten Versorgungsqualität sowie einer Qualitätssicherung in Bezug auf Fehl- und Unterversorgungen. Gefragt werden sollte hierbei auch, welche Bedeutung das gesetzlich verankerte Weigerungsrecht von medizinischem Personal, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, auf die Versorgungsstruktur hat, etwa die »Nicht-Behandlung« in konfessionellen Krankenhäusern, in denen laut kirchlichem Arbeitsvertrag der Eingriff verweigert wird und werden muss. In konfessionell gebundenen Häusern kommt die systematische Auslassung der Abbruchmethoden in der Facharztausbildung hinzu. Die Haltung anderer am Abbruchprozess beteiligten Berufsgruppen wurde in diesem Beitrag nicht vertieft. Dennoch werfen Unterschiede in der Haltung Fra-
S CHWANGERSCHAFTSABBRUCH – Ä RZTLICHES H ANDELN IN FORSCHUNG
UND
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gen nach den Ursachen und Auswirkungen auf. In Bezug auf die Konsequenzen der rechtlichen Regelungen zum Abbruch in der Praxis bestehen Forschungsdesiderate zum Beispiel in den Fragen, ob die strafgesetzliche Verankerung des Schwangerschaftsabbruchs eine normative Wirkung auf die Einstellung von Ärztinnen und Ärzten zum Schwangerschaftsabbruch ausübt und welchen Einfluss direktive (gesetzliche) Auflagen bei der Beratung haben. Hier bedarf es der Prüfung, ob diese Vorgaben die Qualität der Beratung verändern und für Ärztinnen und Ärzte ein Problem darstellen. Auch der Einfluss einer fehlenden eindeutigen gesetzlichen Regelung zur Behandlung von Minderjährigen (insbesondere von 14 bis 16jährigen Mädchen) auf das ärztliche Handeln ist ungeklärt. Alle offenen Fragen haben direkte Auswirkungen auf die Arbeitssituation von Ärztinnen und Ärzten und besitzen eine erhebliche gesundheitspolitische Relevanz für die Versorgung von Frauen.
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Schwangerschaftsabbrüche im Erleben von Ärztinnen und Ärzten – Eine persönliche Sicht H ELGA S EYLER
Ärztinnen und Ärzte spielen eine zentrale Rolle bei der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen. Sehr oft sind sie die erste Anlaufstelle für Frauen, die vermuten, ungewollt schwanger zu sein. In dieser Rolle müssen sie mit einem sichtbar werdenden Schwangerschaftskonflikt umgehen oder auf das Anliegen eines Schwangerschaftsabbruchs reagieren. Wenn eine Frau einen Abbruch aus medizinischen Gründen braucht, sind sie es, die eine entsprechende Indikation stellen müssen. Und schließlich sind sie diejenigen, die den Abbruch durchführen. Diese zentrale Rolle spiegelt sich in der Gesetzgebung wider, die den Schwangerschaftsabbruch als potenzielle Straftat gegen das Leben einordnet und seine straffreie Durchführung an Ausnahmeregelungen bindet. Insofern sind auch Ärztinnen und Ärzte von Strafe bedroht. Und sie stehen im Mittelpunkt der Angriffe von Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern. Es liegt nahe zu fragen, wie Ärztinnen und Ärzte ihre Rolle beim Mitwirken an oder der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen erleben. Welche Haltung haben sie gegenüber Frauen, die einen Abbruch wünschen? Welche Bedeutung hat der Eingriff für ihre Arbeit und berufliche Identität, wie beurteilen sie ihn? Ist er für sie ein Routineeingriff, mit Akzeptanz oder Ablehnung verbunden? Gibt es – zumindest in einigen Regionen des Landes – Probleme bei der Versorgung von Frauen, die einen Abbruch wünschen, weil nicht genügend Ärztinnen und Ärzte Abbrüche durchführen? Auf Studien zu diesen Fragen gehen Thonke und Czygan in diesem Buch ein. Ich werde im Wesentlichen auf persönliche Erfahrungen aus meiner langjährigen Tätigkeit in der Gynäkologie zurückgreifen. In einigen Aspekten werden die Ergebnisse der referierten Studien bestätigt, in anderen weichen sie jedoch
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ab, wohl wegen des besonderen Umfelds, in dem ich seit gut 20 Jahren arbeite. Ich blicke auf mehr als 30 Jahre praktische Erfahrung in der Beratung und Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zurück. In dieser Zeit haben sich die gesetzlichen Vorgaben und auch die gesellschaftliche Haltung verändert. Räumlich beschränken sich meine Eindrücke auf das liberale Umfeld einer norddeutschen Großstadt.
30 J AHRE E RFAHRUNG MIT ABBRÜCHEN Bis auf zwei Jahre bei einer pro familia-Beratungsstelle habe ich während meiner gesamten Tätigkeit in der Gynäkologie immer auch selbst Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Die Settings und Bedingungen waren allerdings sehr unterschiedlich, entsprechend vielfältig waren auch meine Erfahrungen damit. Das Umfeld in den Kliniken, in denen ich anfangs gearbeitet habe, später die Atmosphäre in einem Familienplanungszentrum und zuletzt in einer Praxis hätte tatsächlich kaum unterschiedlicher sein können. Dies betrifft sowohl die medizinischen Standards bei der Durchführung der Abbrüche als auch die Haltungen gegenüber dem Eingriff und den Frauen. Dies bezieht sich auch auf die beiden Kliniken, in denen ich in den 1980er Jahren tätig war. In der Großstadt-Klinik waren Abbrüche recht selbstverständliche Routine, über die wenig gesprochen wurde. Im Kreiskrankenhaus einer Kleinstadt waren sie dagegen von etwas unausgesprochen Heiklem und Delikatem umgeben. Die Frauen brachten zwar Notlagenindikation und Beratungsbescheinigung mit, mussten aber in der Klinik ein ärztliches Gespräch absolvieren, in dem sie noch einmal ihre Notlage deutlich machen mussten und die Indikation für den Abbruch überprüft wurde. Ich kann mich nicht erinnern, dass einer Frau der Abbruch verweigert wurde. Allerdings wurde das Gespräch sehr ernst genommen, den Frauen sollte »auf den Zahn gefühlt werden«, ob sie es sich mit der Entscheidung auch nicht zu leicht machten. Im Familienplanungszentrum1 dagegen war und ist die Akzeptanz von Schwangerschaftsabbrüchen ein Herzstück des Konzepts, der Corporate Identity. Die freie Entscheidung über einen Abbruch wird als Recht der Frauen angese-
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Familienplanungszentren sind medizinische Zentren (z.T. mit vielfältigen beraterischpädagogischen Angeboten verknüpft), die verschiedene Ort- oder Landesverbände von pro familia unterhalten, z.T. im Verbund mit anderen Trägervereinen. Ihr Ziel besteht in einer klientinnenzentrierten, frauengerechten Durchführung von Abbrüchen nach modernsten medizinischen Standards und in enttabuisierter Atmosphäre.
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hen, die Haltung ihnen gegenüber ist unterstützend und wertschätzend. Das Zentrum soll ein »Ort gegen die Angst« sein, das die Erfahrung des Abbruchs für Frauen möglichst wenig belastend gestalten soll. Große Unterschiede bestanden auch in der Technik der Abbrüche. In den beiden Kliniken bekamen die Frauen am Abend vor dem Abbruch ein Prostaglandin, um den Muttermund zu öffnen. Bei den damals benutzten Substanzen war das eine schmerzhafte Prozedur für die Frauen. Im Kreiskrankenhaus wurde am Abend vor dem Abbruch ein Prostaglandingel in den Gebärmutterhals gespritzt, das starke Unterleibskrämpfe verursachte. Die Betreuung dieser Frauen in den Nachtdiensten belastete mich sehr, sie taten mir leid, und ich sah ihre Schmerzen als unnötige Zumutung an. Es stand nicht in meiner Macht, das Vorgehen zu verändern, aber ich erinnere mich, dass ich versuchte, das Gel nicht zu tief zu spritzen, um den Frauen Schmerzen zu ersparen. Die Abbrüche selbst wurden mit der Kürette durchgeführt. In der Städtischen Klinik gab es ein anderes Verfahren – vom Chefarzt selbst entwickelt und sehr exotisch. Den Frauen wurde am Abend vor dem Abbruch ein an einer Spirale befestigter Kunststoffschlauch in die Gebärmutter eingeführt, durch den eine Prostaglandinlösung langsam über Nacht in die Gebärmutter eingeführt wurde. Dieses Verfahren verursachte zwar geringere Schmerzen als das Gel, war aber aus heutiger Sicht eine abenteuerliche und für die Frauen sehr unangenehme Prozedur. In dieser Klinik erlernte ich das Absaugverfahren, wenn auch mit unnötig großen Absaugkanülen und mit obligatorischer Nachkürettage. In beiden Kliniken erschienen mir Abbrüche als große operative Eingriffe. Insbesondere der damals übliche mehrtägige Klinikaufenthalt nach dem Eingriff ist rückblickend unglaublich und völlig unangemessen. Als in der Frauengesundheitsbewegung engagierte Feministin setzte ich mich in der Klinikzeit mit der Frauenfeindlichkeit der Gynäkologie kritisch auseinander. Zwar war ich nicht aktiv an den politischen Kämpfen gegen den § 218 beteiligt, hatte aber auch damals eine klare Haltung zum Recht der Frauen auf den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft. Mir war sehr bewusst, dass die Behandlung der Frauen demütigend war und ich nahm wahr, dass sich die unterschwellig ablehnende Haltung der beteiligten Ärztinnen und Ärzte gegenüber Schwangerschaftsabbrüchen auch darin ausdrückte, dass Frauen durch unnötig schmerzhafte Prozeduren bestraft werden sollten. Ich wusste, dass es schonendere Techniken des Abbruchs gab, die zum Beispiel in Holland angewendet wurden. Auch das Familienplanungszentrum der Stadt kannte ich und hospitierte dort einmal bei einem Abbruch. Trotzdem war ich, als ich einige Jahre später anfing, dort zu arbeiten, sehr überrascht, wie einfach ein Abbruch mit der richtigen Technik durchgeführt
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werden kann. Der Eingriff selbst dauert nur wenige Minuten, anschließend ruhen sich die Frauen etwa eine Stunde lang aus, dann gehen sie nach Hause. Etwa 14 Jahre lang gehörte diese Tätigkeit – Absaugungen in Lokalanästhesie und später auch medikamentöse Abbrüche – zu den Schwerpunkten meiner Arbeit, bis das FPZ aus politischen Gründen die Durchführung von Abbrüchen aufgeben musste. Seitdem habe ich neben anderen Arbeitsschwerpunkten mit dem Thema Abbruch weiter bei Beratungen und Voruntersuchungen zu tun. Die Durchführung von Abbrüchen gehört, wenn auch in geringem Umfang, weiter zu meinen Tätigkeiten in einer Praxis, in der ich eine Nebentätigkeit habe.
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ABBRÜCHEN
Wie geht es mir als Ärztin bei der Durchführung von Abbrüchen? Im Familienplanungszentrum, wo Schwangerschaftsabbrüche den Schwerpunkt meiner Tätigkeit bildeten, war der kontinuierliche Austausch über unsere Erfahrungen mit den Teamkolleginnen Teil der Arbeit. Anders als die meisten Frauenärztinnen und -ärzte, die wegen der anhaltenden Tabuisierung des Themas im beruflichen Umfeld selten über ihre Erfahrungen sprechen, habe ich mich recht intensiv damit auseinandergesetzt. Im Mittelpunkt stand und steht bei mir das Anliegen, die Frauen beim Abbruch gut zu unterstützen und zu begleiten. Sie stehen mit ihrem Erleben für mich im Vordergrund. Ungewollte Schwangerschaften wird es immer geben. Es ist ein Teil meines frauenärztlichen Selbstverständnisses, auch in einer solchen Lebenssituation kompetent und emphatisch ärztliche Unterstützung zu geben. Besonders bei den Abbrüchen in Lokalanästhesie erleben wir – die Ärztin und die assistierende Pflegekraft – die manchmal sehr intensiven emotionalen Prozesse der Frauen mit und begleiten sie dabei. Oft sehen wir die große Erleichterung der Frauen: darüber, dass der Eingriff tatsächlich so schnell und schmerzarm ablief, und dass sie sich so gut aufgehoben fühlen. Manchmal steht jedoch die große Angst vor dem Eingriff im Vordergrund, oder körperliche Schmerzen, die nicht völlig vermeidbar sind. Andere Frauen begleiten wir bei intensiver Trauer. Manchmal brechen auch (erstmals) Konflikte um die Entscheidung zum Abbruch auf, und wir sind gefordert, mit der Frau zu entscheiden, ob der Eingriff wirklich jetzt durchgeführt werden soll. Ganz selten trafen wir die Entscheidung, einen Abbruch nicht durchzuführen, da die Frau zu unentschieden schien und nicht deutlich ausdrücken konnte, dass sie den Abbruch wirklich wünscht.
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Eigene Konflikte oder moralische Bedenken waren und sind dabei kaum Thema. Ich gehe davon aus, dass Frauen das Recht haben, selbst über einen Abbruch zu entscheiden. Meine Aufgabe sehe ich darin, sie bei dem manchmal schwierigen Entscheidungsprozess zu unterstützen und ihnen einen schonenden Abbruch zu ermöglichen. Wie fern mir zumindest bei frühen Schwangerschaften der Gedanke an den Embryo ist, wurde mir in einer Supervisionssitzung bewusst, als ich eine Beratung besprach, bei der es schwierig war, die Frau bei der Entscheidungsfindung gut zu unterstützen. Nachdem ich den Gesprächsverlauf geschildert hatte, fragte die Supervisorin: »Wo blieb denn da der Embryo?« Ich war zunächst zu sprachlos, um die Antwort zu formulieren, die mir auf der Zunge lag, »tja, den Embryo habe ich nicht beraten«. Aber je fortgeschrittener die Schwangerschaft und je größer und sichtbarer der Embryo ist, desto mehr wird diese Haltung herausgefordert. Mit zunehmendem Schwangerschaftsalter empfinde ich – wie auch die Pflegekräfte – den Abbruch als belastender. Der Eingriff ist dann technisch anspruchsvoller, in Lokalanästhesie ist er unter Umständen, wenn auch nicht immer, für die Frau schmerzhafter. Aber auch das Anschauen der Teile des Embryos (etwa ab der 11. Woche nach der letzten Regel sind im abgesaugten Gewebe Teile des Embryos deutlich sichtbar und müssen auf Vollständigkeit geprüft werden) konfrontiert mehr mit der Bedeutung des Eingriffs, als wenn in den ersten Wochen nur Fruchtsack und Plazentazotten zu sehen sind. Bei diesen Abbrüchen waren wir im FPZ nicht mehr so klar in der Kommunikation mit den Frauen. Während wir ihnen bei frühen Abbrüchen nahelegten, das abgesaugte Gewebe anzuschauen, um falsche Vorstellungen von einem »Baby«, das abgesaugt wurde, zu zerstreuen, vermieden wir das bei späteren Abbrüchen. Wenn eine Frau von sich aus den Wunsch äußerte, das Gewebe anzusehen, reagierten wir zurückhaltend und zeigten ihr, wenn es sich nicht vermeiden ließ, die Plazenta und den Fruchtsack, aber nicht die Teile des Embryos. Auch die Entwicklung der Ultraschalltechnik, die immer früher immer mehr menschliche Details des Embryos sichtbar macht, beeinflusst das Erleben von Abbrüchen, sowohl bei Professionellen als auch bei den betroffenen Frauen. Bei erwünschten Schwangerschaften ist es für beide Seiten ein sehr berührendes Erlebnis, beim Ultraschall in der 11. oder 12. Woche Einzelheiten des Embryos zu sehen und die Bewegungen von Armen und Beinen zu beobachten. Natürlich mute ich diese Bilder einer Schwangeren, die einen Abbruch wünscht, nicht zu. Diese Erfahrungen, oft kurz nacheinander in der gleichen Sprechstunde, beeinflussen jedoch mein Gefühl gegenüber dem Abbruch, und auch die Frauen, die
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sich für einen Abbruch entscheiden, kennen diese Bilder aus den Medien oder haben sie in einer früheren Schwangerschaft gesehen. Bei späteren Abbrüchen werden daher meine Anteilnahme an der Situation der Frau und die Solidarität mit ihr stärker herausgefordert. Ich kann verstehen, wenn Ärztinnen und Ärzte für sich Grenzen ziehen und spätere Abbrüche nicht mehr durchführen. Insbesondere im zweiten Trimenon stellt ein chirurgischer Abbruch neben hohen technischen Anforderungen auch eine psychische Belastung für die durchführende Ärztin bzw. den Arzt dar. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum solche Abbrüche in Deutschland nur medikamentös durchgeführt werden, auch wenn diese Methode für viele Frauen belastender ist. Schuldgefühle begegnen uns eher als Thema der abtreibenden Frauen. Im FPZ wurden sie oft aktiv angesprochen, und es wurde versucht, sie zu relativieren. Wir wiesen darauf hin, wie viele Frauen in ihrem Leben Abbrüche haben und dass bei der Verhütung immer mal etwas schiefgehen könne. Besonders, wenn Frauen mehrfach zum Abbruch ins FPZ kamen, wurde viel Wert darauf gelegt, Schuldgefühle anzusprechen und den Frauen das Gefühl von Akzeptanz und Respekt zu geben. Allerdings wurden diese Frauen intensiver über Verhütung beraten. Darin zeigte sich wohl doch die in der Gesellschaft verbreitete Haltung, dass Frauen ungewollte Schwangerschaften vermeiden sollten, indem sie mehr Verantwortung für eine effektive Verhütung übernehmen.
ANFEINDUNGEN VON
AUSSEN
Ob und in welcher Weise Ärztinnen und Ärzte, die Abbrüche durchführen, in Deutschland stigmatisiert werden, ist wenig bekannt. Die mangelnde Anerkennung für diese Tätigkeit im ärztlichen Umfeld ist jedoch deutlich spürbar. Schwangerschaftsabbrüche sind kein Tätigkeitsfeld, in dem sich Ärztinnen und Ärzte profilieren können – im Gegensatz zu Bereichen wie der Reproduktionsmedizin oder der Onkologie. Ärztinnen und Ärzte, die im Rahmen ihrer operativen Tätigkeit einzelne Abbrüche bei »ihren Patientinnen« durchführen, sind eher akzeptiert als die wenigen, die sich auf Abbrüche spezialisieren und diese schwerpunktmäßig anbieten. Letztere erfahren in Fachkreisen wenig Anerkennung, manchmal sogar eine subtile Ächtung. Offen negative Reaktionen habe ich selten erlebt. Gelegentlich bekam das Familienplanungszentrum Post von Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern, manchmal mit Plastikbabys. Von solchen Gruppierungen wurde das Zentrum auch wegen unerlaubter Werbung für Abtreibungen angezeigt, da es auf der Website ausführlich über die Durchführung von Abbrüchen informiert. Die Er-
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mittlungen verliefen im Sande, inzwischen hat die Anzeige ihre Grundlage verloren, da im Zentrum keine Abbrüche mehr durchgeführt werden. Häufiger erfahre ich subtile negative Reaktionen aus dem beruflichen Umfeld, verpackt in Fragen wie: »Ist das nicht sehr belastend, immer Abbrüche zu machen?« Die provozierende Antwort »überhaupt nicht, ich mache das gerne«, die mir auf der Zunge liegt, halte ich meist zurück. Ich erkläre stattdessen, dass es mich nicht mehr belastet, Frauen bei Abbrüchen zu begleiten, als in anderen schwierigen Lebenssituationen, und dass ich diesen Teil meiner Arbeit als erfüllend und befriedigend erlebe. Auch dabei bleibt oft die Skepsis meines Gegenübers spürbar. Gelegentlich ist auch die subtile Verachtung für diese Arbeit bei einer Frau, die zum Abbruch kommt, spürbar, etwa in der Äußerung: »Wie können Sie so etwas jeden Tag machen?« Diese Abwertung kann auf irritierende Weise vermischt sein mit ihrer Dankbarkeit.
H ALTUNG
DER G YNÄKOLOGINNEN UND GEGENÜBER ABBRÜCHEN
G YNÄKOLOGEN
Abbrüche sind ein Thema, über das in der (frauen-)ärztlichen Fachwelt wenig bis gar nicht gesprochen wird. Eine Ausnahme bildete in den letzten Jahren die durch die gesetzlichen Veränderungen angeregte Diskussion über späte Abbrüche bei pränataldiagnostischen Befunden. Auch der medikamentöse Abbruch war zumindest in der Zeit nach der Zulassung von Mifegyne in Deutschland Thema von Fortbildungen und Fachveröffentlichungen. Die Absaugung als Routineeingriff ist dagegen in Fachkreisen kein Thema. Es gibt in Deutschland keine Standards oder Leitlinien zur Durchführung, und es finden keine Fortbildungen dazu statt. Während der Weiterbildung zur Fachärztin bzw. zum Facharzt lernen Ärztinnen und Ärzte diesen Eingriff in der Klinik, sofern sie die Weiterbildung nicht in einer kirchlichen Einrichtung absolvieren. Die Weiterbildungsordnung führt unter zu erwerbenden Fähigkeiten auf: »Beratung bei Schwangerschaftskonflikten sowie die Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch unter Berücksichtigung der gesundheitlichen einschließlich psychischen Risiken«. Der Schwangerschaftsabbruch als operativer Eingriff taucht in der Weiterbildungsordnung nicht als solcher auf. Er ist wohl unter Eingriffen »am äußeren und inneren Genitale und der Brust, z.B. Abrasio, Nachkürettage, diagnostische Exstirpation, Hysteroskopie« subsumiert, die während der Weiterbildung durchgeführt werden sollen. Die Vakuumaspiration als Standardverfahren wird nicht genannt.
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In den rund 30 Jahren meiner gynäkologischen Tätigkeit beobachte ich Veränderungen in Fachkreisen, die die Entwicklung der gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber Abbrüchen widerspiegeln. Anfangs war die Haltung in der Ärztekammer und im Berufsverband der Frauenärzte äußerst konservativ. Deutlich wurde ich damit konfrontiert bei der obligatorischen Fortbildung für Ärztinnen und Ärzte für die Zulassung zur Beratung nach § 218. Diese Veranstaltung war auf absurde Weise von Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern dominiert, einer der »Höhepunkte« an Frauenfeindlichkeit, die ich in der Weiterbildung erlebte. Zu ethischen Fragen sprach ein Würdenträger der katholischen Kirche, der entgegen geltenden Rechts jegliche Rechtfertigung für einen Schwangerschaftsabbruch, explizit auch eine Vergewaltigung ablehnte. Zu den medizinischen Aspekten referierte ein Klinikarzt, der zugab, kaum Erfahrung mit der Durchführung von Abbrüchen zu haben. Die Qualifikation, die zu seiner Einladung geführt hatte, bestand offensichtlich in der moralischen Ablehnung von Abbrüchen. Er hatte keine Skrupel, Fotos von einem 11 Wochen alten Embryo zu demonstrieren, die während eines Abbruchs bei einem 13-jährigen Mädchen per Kaiserschnitt entstanden waren. Ich war die einzige, die empört aufstand und ihn auf das medizinisch völlig unangemessene Vorgehen ansprach. Inzwischen wird die Fortbildung für Ärztinnen und Ärzte zur Schwangerschaftskonfliktberatung zumindest in meiner Region selbstverständlich in Kooperation mit Einrichtungen wie der pro familia und dem Familienplanungszentrum konzipiert, und die Inhalte haben sich entsprechend verändert. Für die Durchführung von ambulanten Abbrüchen gab es in den 1980er Jahren außerhalb von Kliniken einige wenige »einschlägige« Adressen, meist engagierte Gynäkologen (fast ausschließlich Männer), die auch schon vor der Gesetzesänderung von 1976 Frauen in dieser Notlage geholfen hatten. Sie sahen ungewollte Schwangerschaften als nicht vermeidbares Problem an und Abbrüche als einen Teil ihrer Arbeit als Frauenärzte. Nicht bei allen war der Umgang mit den Frauen von Respekt geprägt, im Gegenteil, viele hatten eine durchaus paternalistische Haltung, und einer der Ärzte war für seine sexuellen Übergriffe gegenüber Patientinnen bekannt. Inzwischen ist der relativ unkomplizierte Zugang zu sicheren Abbrüchen für die meisten Ärztinnen und Ärzte eine Selbstverständlichkeit; sie machen sich die politische und ethische Dimension des Eingriffs wenig bewusst, oder sprechen zumindest nicht darüber. Eine der Motivationen zur Durchführung stellen sicher auch finanzielle Interessen dar, da der Eingriff im Rahmen der Kostenübernahmeregelung bzw. privaten Bezahlung außerhalb von begrenzenden Budgets vergütet wird.
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Einige Gynäkologinnen sehen im Rahmen ihres feministischen Engagements den uneingeschränkten Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen als ihre Aufgabe und bieten mit dieser Haltung Abbrüche an. Die Mehrzahl der Ärztinnen und Ärzte, die Abbrüche durchführen, respektiert die Entscheidung der Frau. Mein Eindruck ist, dass die seit 1996 geltende Beratungsregelung dies erleichtert, da seitdem nicht mehr die rechtliche Vorgabe besteht, Notlagen bescheinigen bzw. überprüfen zu müssen. Manchmal zeigt sich eugenisches Gedankengut, insofern als (späte) Abbrüche bei auffälligen Befunden der pränatalen Diagnostik deutlich größere Akzeptanz erfahren, als bei psychosozialen Gründen. Einzelne Gynäkologinnen und Gynäkologen, die selbst keine Abbrüche durchführen, haben eine explizit ablehnende Haltung und lassen diese auch Frauen spüren, die das Anliegen eines Abbruchs äußern. In einigen seltenen Fällen erfahre ich von Frauen, dass ihre Frauenärztin bzw. ihr Frauenarzt sie an einem Abbruch hindern wollte, indem sie bzw. er fälschlich mitteilte, die Schwangerschaft sei zu weit fortgeschritten und ein Abbruch nicht mehr möglich. Häufiger beklagen Frauen, dass ihnen bei der Ultraschalluntersuchung gegen ihren Willen Details des Embryos gezeigt wurden, um sie von dem Wunsch des Abbruchs abzubringen.
U MGANG MIT
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G ESETZ
Die zentrale Funktion von Ärztinnen und Ärzten beim Schwangerschaftsabbruch findet sich im Strafgesetz wieder, indem primär sie von Strafandrohung betroffen sind. Bei Abbrüchen entsprechend der seit 1996 geltenden Beratungsregelung bestehen nach meiner Erfahrung inzwischen kaum Unsicherheiten in Bezug auf rechtliche Regelungen. In den ersten Jahren nach der Gesetzesreform waren jedoch viele Ärztinnen und Ärzte verunsichert über die vorgeschriebenen Anforderungen an die Beratung, aber auch in Bezug auf die verordnete Trennung zwischen Abbruch und Beratung. Deutliche Unsicherheiten bzw. Unkenntnisse bestehen dagegen im Umgang mit der medizinischen Indikation. Hier zeigt sich eine zunehmend restriktive Praxis trotz liberaler gesetzlicher Regelung. So nahm der Anteil an Abbrüchen im ersten und zweiten Trimenon mit medizinischer Indikation zwischen 1983 und 1995 (vor der Änderung des Gesetzes) von 16,5 auf 5 % ab. Seit der Gesetzesänderung liegt der Anteil nur noch bei etwa 3 %, wobei die frühere eugenische Indikation nun in dieser Indikation enthalten ist.
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In der Praxis werden an eine medizinische Indikation sehr hohe Anforderungen gestellt. Im ersten Trimenon werden kaum noch Abbrüche mit dieser Indikation durchgeführt. Das könnte damit zusammenhängen, dass die Beratungsregelung Ärztinnen und Ärzte von der unangenehmen Aufgabe entbindet, über rechtfertigende Gründe für einen Abbruch zu entscheiden. Der Rückgang der medizinischen Indikationen könnte aber zumindest teilweise auch finanzielle Gründe haben, da diese Abbrüche nicht außerhalb des Budgets vergütet werden. Für die Frauen ohne Anspruch auf eine Kostenübernahme hat das finanzielle Konsequenzen, sie müssen den Abbruch aus eigener Tasche bezahlen. Oft ist es auch für die psychische Verarbeitung des Abbruchs wichtig, dass die medizinischen Gründe der Frau anerkannt und durch eine entsprechende Indikation bestätigt werden. Insbesondere bei Abbrüchen im zweiten Trimenon ohne pränataldiagnostischen Befund bestehen Unklarheiten in Bezug auf die Rechtslage. Viele Ärztinnen und Ärzte sind der Ansicht, dass ein Abbruch dann rechtlich in Deutschland nicht mehr möglich ist. Einrichtungen, die solche Abbrüche durchführen, stellen sehr hohe Anforderungen an eine medizinische Indikation, sowohl in Bezug auf akzeptierte Gründe für einen Abbruch als auch auf formale Voraussetzungen für die Erstellung der Indikation. Entgegen der gesetzlichen Regelung, die keine Vorgaben in Bezug auf die fachliche Qualifikation macht, akzeptieren viele Kliniken nur Indikationen von Fachärztinnen und Fachärzten aus bestimmten Disziplinen, bei psychiatrischen Indikationen von Psychiatern/Psychiaterinnen bzw. sogar nur von Fachambulanzen der eigenen Klinik.
Z UGANG DER F RAUEN ZU S CHWANGERSCHAFTSABBRÜCHEN In der Großstadt, in der ich tätig bin, ist es im Allgemeinen für Frauen kein Problem, einen Termin für einen Schwangerschaftsabbruch zu bekommen, weder für eine Absaugung noch für einen medikamentösen Abbruch. Die Mehrzahl der operativ tätigen Gynäkologinnen und Gynäkologen bieten auch Abbrüche an. Zwar gibt es nur wenige, die Absaugungen in Lokalanästhesie durchführen. Da aber immer weniger Frauen diese Möglichkeit nachfragen, besteht hier kein offener Versorgungsmangel. Auch medikamentöse Abbrüche in der 9. SSW werden seltener angeboten als in früheren Schwangerschaftswochen, jedoch ist es nur in Ausnahmen für eine Frau schwierig, einen Termin dafür zu bekommen. Größere Probleme treten in speziellen Fällen auf. Zum Beispiel, wenn Frauen aufgrund eines unklaren Aufenthaltsstatus keinen Anspruch auf eine Kosten-
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VON
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übernahme haben und die Kosten für den Abbruch nicht tragen können. Zwar gibt es einige Gynäkologinnen und Gynäkologen, die bereit sind, auch für ein geringes Honorar Abbrüche durchzuführen, aber diese Kontakte müssen wir pflegen und darauf achten, die Hilfsbereitschaft nicht zu überfordern. Probleme gibt es auch für Frauen am Ende der Dreimonatsfrist. In diesen Fällen sind deutlich weniger Ärztinnen und Ärzte bereit, Abbrüche durchzuführen. Da die Zeit drängt, brauchen die Frauen einen zeitnahen Termin. Ohne Unterstützung durch eine engagierte und gut vernetzte Frauenärztin bzw. Frauenarzt oder eine Beraterin ist es schwierig für die Frauen, eine entsprechende Praxis zu finden. Außerdem erleben wir es gelegentlich, dass eine Frau dort mit der Information, die Schwangerschaft sei schon zu weit fortgeschritten, abgewiesen wird. Die Unschärfe der Bestimmung des Schwangerschaftsalters durch sonografische Messung des Embryos ermöglicht unterschiedliche Schätzungen. Diese Situation ist für die betroffene Frau sehr belastend – oft erfolgt diese Mitteilung wenig einfühlsam. Insbesondere aber bedeutet das faktisch, dass ihr der Abbruch verwehrt wird, da sie kaum eine Chance hat, schnell genug eine andere Praxis zu finden, die bereit ist, den Abbruch durchzuführen. Theoretisch bleibt dann die Möglichkeit eines Abbruchs mit medizinisch-psychiatrischer Indikation. Der Zugang dazu ist jedoch wegen der beschriebenen hohen Hürden extrem schwierig.
F AZIT Auf den ersten Blick erscheint der Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen für Ärztinnen und Ärzte zumindest im liberalen Umfeld einer norddeutschen Großstadt inzwischen selbstverständliche Routine zu sein. Abbrüche im ersten Trimenon mit Beratungsregelung sind hier für Frauen gut zugänglich, sowohl chirurgisch als auch medikamentös durchgeführt. Probleme treten bei fortgeschrittenen Schwangerschaften auf, zum Teil schon am Ende der für die Beratungsregelung erlaubten Frist, besonders aber bei Abbrüchen im zweiten Trimenon mit medizinischer Indikation. Trotz liberaler Gesetzgebung ist der Umgang mit diesen Abbrüchen in der Praxis sehr restriktiv, und der Zugang ist für Frauen in diesen Fällen sehr schwierig. In subtiler Weise zeigen sich Schwierigkeiten mit der Akzeptanz von Abbrüchen in der mangelnden Anerkennung des Themas in der Fachwelt. So ist die fachgerechte Durchführung von Abbrüchen kein Thema in der Fachdiskussion. Auch eine fachliche Profilierung ist damit nicht möglich, eine Spezialisierung
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auf die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen ist dagegen mit einer subtilen Ächtung in Fachkreisen verbunden. Meine Erfahrungen sind wegen meiner Arbeit in einem gegenüber Abbrüchen ausgesprochen akzeptierenden und offenen Umfeld sicher sehr untypisch. Aus Gesprächen weiß ich, dass viele Ärztinnen und Ärzte unter der Tabuisierung des Themas leiden; das gesellschaftliche Schweigen erschwert es zudem, die eigene Haltung zu reflektieren. Welche positiven Auswirkungen der offene Umgang hat, zeigte und zeigt die hohe Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiterinnen in unserer Einrichtung genauso wie die vielen erleichterten und dankbaren Rückmeldungen der Patientinnen.
Die Verweigerung einer medizinischen Behandlung ist keine Frage des Gewissens C HRISTIAN F IALA , J OYCE A RTHUR
E INLEITUNG Die Verweigerung einer medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen (englisch: Conscientious Objection, CO) bezieht sich auf eine konkrete medizinische Behandlung, die einem Patienten oder einer Patientin aufgrund persönlicher, meist religiöser, Gründe vorenthalten wird, obwohl die Dienstleistung legal ist und die Fachkraft bzw. die Institution die Qualifikation und die Möglichkeit für die Durchführung besitzt. In vielen Teilen der Welt ist CO in der Medizin nicht geregelt, und da, wo Regelungen bestehen, werden sie häufig nicht eingehalten und wird deren Einhaltung selten überprüft. CO wird fast ausschließlich im Bereich der reproduktiven Gesundheit und gegenüber Frauen ausgeübt, vor allem bei Verhütung sowie beim Schwangerschaftsabbruch. Die meisten Fachkräfte, die sich bei der Weigerung auf ihr eigenes Gewissen berufen, nehmen eine Position gegen das Selbstbestimmungsrecht von Frauen ein, mit der Begründung, dass sie persönlich die Entscheidung der Frau ablehnen, eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern oder zu beenden. Die weit verbreitete Praxis der Behandlungsverweigerung aus Gewissensgründen (CO) wird in diesem Beitrag erstmalig detailliert hinterfragt. Dabei werden unterschiedliche Standpunkte betrachtet und miteinander verglichen, sowie die realen Auswirkungen der derzeitigen Praxis aufgezeigt. Dazu gehört eine Analyse des Ursprungs der »Verweigerung aus Gewissensgründen« beim Militär als Kriegsdienstverweigerung, um darauf aufbauend die grundlegenden Unterschiede zur Medizin und reproduktiven Gesundheit darzustellen. Ferner soll aufgezeigt werden, warum ein »Kompromiss« zwischen dem Gewissen der Fachkraft und dem Recht der Patienten in der Praxis nicht funktionieren kann.
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Im Folgenden werden acht Argumente angeführt, mit denen die Verweigerung einer medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen meist begründet wird.1, 2, 3 Diese Argumente werden kritisch hinterfragt und die Auswirkungen auf das reale Leben, insbesondere von Frauen, werden dargestellt. 1.
Das Recht des Einzelnen, sich nach seinen religiösen oder anderen persönlichen Überzeugungen zu verhalten, ist ein essenzielles Menschenrecht. Die Möglichkeit, seinem Gewissen folgend zu handeln, ist eine fundamentale Voraussetzung für die individuelle Integrität.
Wir stimmen dieser Aussage vollinhaltlich zu. Dennoch: Wer das Recht auf Gewissensfreiheit verteidigt, übersieht, dass CO im Bereich der reproduktiven Gesundheit nichts mit einer Verweigerung aus Gewissensgründen zu tun hat. Eine medizinische Fachkraft, die sich weigert, einen Patienten zu behandeln, zwingt damit ihre persönliche Überzeugung einer Person auf, die von ihr abhängig ist. Damit wird das Recht des Patienten auf medizinische Versorgung unterlaufen. Das Gesundheitssystem hat primär Dienstleistungen legaler Handlungen zu sichern, dabei evidenzbasierte Medizin auszuüben und nicht zu diskriminieren. CO steht dazu im Widerspruch und würde das ganze System der gesundheitlichen Versorgung sprengen, wenn es allgemein angewandt würde. CO stellt in der Konsequenz eine ungerechtfertigte Verweigerung dar, die Pflichten des Berufs auszuüben, für den man engagiert wurde und bezahlt wird.4 Zudem führt dies zu einer geschlechtsspezifischen Diskriminierung, weil medizinische Leistungen im Bereich der reproduktiven Gesundheit zum größten Teil Frauen betreffen. Die Argumentation zur Weigerung aus Gewissensgründen hat ihren Ursprung in der militärischen Gewissensfreiheit, der Wehrdienstverweigerung. Allerdings hat die Weigerung einer Behandlung mit der ursprünglichen Bedeutung 1
Conscientious objection to the provision of reproductive healthcare, International Journal of Gynecology & Obstetrics 2013, Volume 123, Supplement 3, siehe: www.ossyr.org.ar/pdf/bibliografia/314.pdf (Zugriff am 05.08.2014).
2
Competing Rights: Exploring the Boundaries of ›Conscientious Objection‹, Wendy Chavkin, Global Doctors for Choice, RH Reality Check, May 28, 2014, siehe: http://rhrealitycheck.org/article/2014/05/28/competing-rights-exploring-boundariesconscientious-objection/ (Zugriff am 05.08.2014).
3
Jennie
Bristow,
editor
of
Reproductive
Review,
15
May
2014,
http://
www.reproductivereview.org/index.php/rr/article/1586 (Zugriff am 05.08.2014). 4
Frauen zahlen genauso in Krankenkassen ein wie Männer, bekommen in gewissen Situationen aber keine Behandlung.
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nichts gemeinsam, mit der sie fälschlich in Verbindung gebracht wird. Gegen den Militärdienst entscheiden sich normale Staatsbürger, die zur Wehrpflicht gezwungen werden, wohingegen medizinische Fachkräfte in einer privilegierten Vertrauens- und Machtposition sind – eine Rolle, die sie sich selbst ausgesucht und für die sie sich freiwillig ausgebildet haben, im vollen Wissen, dass es sich dabei um die Erfüllung von Pflichten gegenüber Patienten und um die Erbringung von sicheren und notwendigen medizinischen Leistungen handelt. Im Besonderen beinhaltet das Fachgebiet Geburtshilfe/Gynäkologie die Verpflichtung, Frauen auch bei ungewollter Schwangerschaft zu helfen. Was es bedeutet, wenn Frauen dieser Zugang nicht zur Verfügung steht, ist in Geschichte wie Gegenwart hinlänglich belegt (siehe die Situation von unsafe abortion insbesondere in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern weltweit). Approbierte medizinische Fachkräfte genießen ein Monopol in der Gesundheitsversorgung; die Patientinnen und Patienten haben keine Alternative als sie aufzusuchen. Trotz dieses Umstandes müssen medizinische Fachpersonen normalerweise eine Verweigerung aus Gewissensgründen nicht rechtfertigen, sind selten mit disziplinären Maßnahmen konfrontiert, behalten ihre Positionen und Gehälter, und werden in ihrer Ablehnung meist sogar noch vom Gesetz geschützt. Die Verweigerung einer solchen medizinischen Maßnahme bringt ihnen oft noch zusätzlichen Nutzen; dazu gehört der Zeitgewinn, indem sie Arbeit auf Kolleginnen und Kollegen delegieren, ggf. »abwälzen« – und gleichzeitig für die »Behandlung« von Patienten bezahlt werden, die sie ablehnen. Indem sie das Stigma »Schwangerschaftsabbruch« vermeiden, halten sie ihren Ruf »rein«. Und schließlich fördern sie ihre Karrieren, indem sie stattdessen lukrativere oder prestigeförderliche Aktivitäten übernehmen. Im Gegensatz dazu müssen Wehrdienstverweigerer ihre prinzipiell strafbedrohten Haltungen gegenüber höheren Stellen rechtfertigen und werden oft in ein strenges Überprüfungsverfahren gezwungen. Die angebliche Parallele zur unterlassenen Tötung stellt CO in der reproduktiven Gesundheitsversorgung in Wahrheit auf den Kopf. Denn Verhütung und Schwangerschaftsabbruch schützen die Gesundheit und das Leben von Frauen, wogegen CO in der Medizin in der Folge die Gesundheit und das Leben von Frauen gefährdet.
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2.
Ärztinnen und Ärzte sollten nicht zu medizinischen Maßnahmen gezwungen werden, wenn sie diese ablehnen, speziell nicht beim Schwangerschaftsabbruch. Es ist schwer vorstellbar, dass es irgendjemandem nützt, wenn Ärztinnen und Ärzte gesetzlich gezwungen werden, gegen ihr Gewissen zu handeln.
Dies ist eine irreführende Aussage und knüpft an die Position an, die mit dem Schwangerschaftsabbruch verbunden ist, indem dieser Eingriff anders behandelt wird als andere Maßnahmen in der Medizin. Gleichzeitig wird damit eine scheinbare Normalität insofern hergestellt, als es als ganz »natürlich« und »normal« dargestellt wird, keinen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu wollen. Üblicherweise gilt es nicht als Zwang, wenn jemand für seinen Beruf bezahlt wird, vielmehr als Selbstverständlichkeit, alle mit der jeweiligen Position verbundenen Pflichten durchzuführen. Es gilt auch dann nicht als Zwang, wenn jemand seine Arbeit nicht gerne macht. »Zwang« impliziert, dass man keine Wahl hat; das trifft für die Arbeit im Gesundheitswesen aber nicht zu, weil man sich im vollen Wissen um die damit verbundenen Pflichten um eine Ausbildung und später um eine Stelle beworben hat und erst nach einem erfolgreichen Wettbewerb mit anderen Kandidatinnen und Kandidaten die Stelle bekommen hat, um anschließend damit Geld zu verdienen. Wenn eine Patientin oder ein Patient für eine dringend notwendige Blinddarmoperation in ein Krankenhaus geht, interessiert es sie bzw. ihn nicht, ob der Chirurg oder die Chirurgin diesen Eingriff gerne durchführt oder nicht, ob er/sie sich dazu gezwungen sieht oder nicht. Selbst wenn der Chirurg bzw. die Chirurgin Blinddarmoperationen hasst oder die Patientin bzw. den Patienten aus irgendwelchen Gründen nicht mag, kann man mit vollen Recht erwarten, dass er/sie die Operation professionell durchführen wird. Gleiches gilt für alle Dienstleistungen in der Medizin sowie im übrigen Leben. Wenn jemand mit den Anforderungen, die an seine Position gestellt werden, nicht einverstanden ist, stehen ihm entsprechende Möglichkeiten offen: 1.
2.
Sie sollten als erstes davon Abstand nehmen, sich für einen Beruf auszubilden oder eine Stelle anzunehmen, wenn sie die damit verbundenen Aufgaben aus persönlichen Gründen nicht ausführen können. Sie können ihren Job kündigen und eine andere Stelle suchen, sie können um Versetzung in einen Bereich ersuchen, in dem die abgelehnte Aufgabe nicht erforderlich ist, oder sie können eine Ausbildung für etwas machen, gegen das sie keine Einwände erheben.
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Sie können sich dafür entscheiden, den Aufgaben ihres Berufs trotz ihrer Einwände professionell nachzukommen – schließlich ist kein Job perfekt. Sie können die Arbeit verweigern und Disziplinarmaßnahmen ihres Arbeitgebers riskieren, einschließlich einer Herabstufung oder Beendigung des Dienstverhältnisses.
Die angeführten Handlungsoptionen gelten selbstverständlich auch für Fachkräfte im Gesundheitswesen. 3.
Die Rechte der Frauen müssen gegen die Rechte der Fachkraft abgewogen werden. Hier stehen zwei Rechte im Widerspruch.
Diese Aussage fußt auf der Annahme, dass die Notwendigkeit einer Patientin nach medizinischer Grundversorgung mit der privaten Überzeugung einer medizinischen Fachkraft moralisch gleichwertig wäre. Die Ansicht, dass das Recht von Frauen auf Leben und Gesundheit im Wettbewerb stehen würde mit oder abgewogen werden sollte gegen das vermeintliche Recht der Ärztin bzw. des Arztes, eine Behandlung zu verweigern, trivialisiert Leben und Gesundheit von Frauen. Diese Auffassung impliziert auch, dass die Menschenrechte von Frauen verhandelbar sind und vernachlässigbar, sobald jemand sie in Abrede stellt. Aber warum sollte die Weigerung akzeptiert werden, eine Frau zu behandeln, welche eine reproduktive medizinische Behandlung benötigt, während die Weigerung, jemanden zu behandeln, der homosexuell, schwarz oder Muslim ist, als Diskriminierung eingestuft würde? Tatsächlich wurden verschiedene Versuche der amerikanischen Regierung und amerikanischer Unternehmen, homosexuellen Menschen Dienstleistungen zu verweigern, aus gutem Grund abgelehnt, etwa die Weigerung von Bäckereien, Hochzeitstorten für Homosexuelle herzustellen. Genau wie für Unternehmen ist es auch die Aufgabe des Gesundheitswesens, der Gesellschaft zu dienen, weshalb Beschäftigte im Gesundheitswesen kein Recht haben, gezielt Frauen bestimmte Dienstleistungen vorzuenthalten. Zusätzlich zum Recht auf Leben und Gesundheit haben Patientinnen und Patienten auch ein Recht auf ihr Gewissen, ebenso wie auf Freiheit, gleichen Schutz, Privatsphäre, Würde und andere Grundrechte. Diese werden aber verletzt, wenn ihnen eine Ärztin oder ein Arzt eine medizinische Behandlung verweigert. Selbst wenn die Ausübung von CO eine echte Gewissensentscheidung wäre, kann das Recht des Einzelnen auf Gewissensentscheidung nicht schwerer wiegen als diese ganze Liste humanitärer Grundrechte von Frauen. Ironischerweise respektieren z.B. die Vereinigung »Global Doctors for Choice« und andere Gruppen zwar, dass »Menschenrechte nur solchen Eingrenzungen
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unterliegen, die nötig sind, um die Grundrechte anderer zu schützen«, aber sie sehen nicht, dass eine ganze Vielfalt menschlicher Grundrechte mit Bezug auf CO in Frage gestellt wird.5 Es kann kein »Gleichgewicht« geben, wenn eine Person in einer machtvollen Position ihre Überzeugungen jemand anderem aufzwingt, der von ihr abhängig ist. Noch dazu wenn die abhängige Person darauf angewiesen ist, eine medizinische Behandlung zu erhalten. Nicht die Erbringerin oder der Erbringer der medizinischen Dienstleistung bezahlt den Preis und trägt die Last der Therapieverweigerung, sondern die Patientin bzw. der Patient. Jede Verweigerung von medizinischen Dienstleistungen schadet unweigerlich der Patientin bzw. dem Patienten; das reicht von Unannehmlichkeiten über Demütigung, psychische Belastungen, bis zu zusätzlichen Kosten, Verzögerungen bei der Gesundheitsversorgung, ungewollter Schwangerschaft, erhöhten Gesundheitsrisiken und sogar dem Tod. Wegen der resultierenden Folgen für die Patientinnen ist CO im Bereich der reproduktiven Gesundheit nicht zu rechtfertigen. 4.
Die Weigerung aus Gewissensgründen ist oft unzureichend definiert, ungeregelt und inkonsequent. Die negativen Auswirkungen von CO können verringert werden durch bessere Regeln, durch bessere Information medizinischer Fachpersonen über ihre Pflichten und durch die Verpflichtung der Gesundheitssysteme, ihren Patientinnen und Patienten Zugangsmöglichkeiten zu juristischer Beratung zu sichern.
Viele Menschen unterstützen die sogenannte Eingeschränkte CO, die es Ärztinnen und Ärzten erlaubt, eine bestimmte Behandlung abzulehnen, wenn sie Patientinnen und Patienten die Gründe für ihre Verweigerung offen legen und zu einer anderen Ärztin bzw. Arzt überweisen, über alle Behandlungsoptionen unparteiisch informieren und die Behandlung selbst durchführen, sollte es sich um einen Notfall handeln. Zusätzlich sollen die Behörden einen Überblick über die Fachkräfte haben, die bestimmte Behandlungen ablehnen, sowie über die kooperierenden Fachkräfte, um allen Patientinnen und Patienten Zugang zu den medizinischen Behandlungen zu garantieren. Allerdings ist die eingeschränkte CO in sich selbst widersprüchlich und funktioniert daher in der Praxis nicht oder schlecht. Alle Versuche, Regeln für CO zu entwickeln, werden weltweit ignoriert und missachtet, weil die entspre5
Competing Rights: Exploring the Boundaries of ›Conscientious Objection‹, Wendy Chavkin, Global Doctors for Choice, RH Reality Check, May 28, 2014, http://rhrealitycheck.org/article/2014/05/28/competing-rights-exploring-boundariesconscientious-objection (Zugriff am 05.08.2014).
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chenden Vorgaben im Widerspruch zu den Überzeugungen der verweigernden Fachkräfte stehen, ihre Patientinnen von einer bestimmten medizinischen Maßnahme abzuhalten, etwa der Anwendung von Verhütungsmitteln oder einem Schwangerschaftsabbruch. Vorschriften wie die Überweisungspflicht, damit die Patientin trotzdem die gewünschte Behandlung erhalten kann, unterlaufen die Absichten der verweigernden Person und führen die Weigerung ad absurdum. Hier handelt es sich um einen klaren Widerspruch: Die persönlichen Überzeugungen, die zur Verweigerung einer Behandlung führten, waren so stark, dass eine Behandlung abgelehnt wurde. Wie soll gleichzeitig die eigene Überzeugung so zurückgestellt werden können, dass die Patientin doch noch zu der abgelehnten Behandlung kommt? Fachkräfte, die bestimmte Behandlungen verweigern, haben das Gefühl, sich durch eine Überweisung an Kolleginnen und Kollegen zum »Komplizen« zu machen und lehnen daher die Überweisung ebenso ab wie die Behandlung selbst. Einige Fachkräfte werden falsche Informationen geben oder die Patientin wenig respektvoll behandeln, und einige nehmen eher den Tod von Patientinnen in Kauf, als einen legalen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, wie es etwa in Irland im Jahr 2012 in einem Krankenhaus geschehen ist.6 Möglicherweise sind einige der Therapieverweigerinnen und -verweigerer eher schlecht informiert als von ihrem Gewissen geleitet, und eine Fortbildung über verschiedene Aspekte wie die Notwendigkeit dieser Behandlungen, warum Frauen sie benötigen und welche Folgen ungewollte Schwangerschaften auf ihre Gesundheit haben, wie man mit derartigen Patientinnen umgeht, welche Auswirkungen die Ablehnung aus Gewissensgründen auf Patientinnen und Patienten hat und das Wissen über die Fürsorgepflicht gegenüber Patientinnen und Patienten würden hier zu einem Umdenken beitragen. Um das zu erreichen wäre eine Fortbildung über diese Punkte notwendig. Trotzdem wird eine beträchtliche Zahl der verweigernden Fachkräfte aus Gewissensgründen – vielleicht sogar die Mehrheit –, einer Beschränkung der CO niemals zustimmen; besonders werden diejenigen einer Einschränkung nicht zustimmen, die Schwangerschaftsabbruch für Mord halten. Eingeschränkte CO ist daher völlig ungeeignet, die negativen Auswirkungen von CO zu verringern. Darüber hinaus lastet sie den Patientinnen, dem Gesundheitssystem und den kooperativen Kolleginnen und Kollegen zusätzliche Bürden auf.
6
Remarkable account of Savita’s death, The Irish Times, Saturday October 26th by Olivia O’Leary, siehe: http://www.abortioninireland.org/archives/473 (Zugriff am 05.08.2014).
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5.
CO wird von ärztlichen Berufsvereinigungen, internationalen Menschenrechtsgruppen und Gesundheitsorganisationen unterstützt.
Es trifft zu, dass einige medizinische Organisationen CO in der oben beschriebenen Weise beschränken oder regeln, etwa FIGO, WHO, ACOG, AAFP und andere. Die Vereinten Nationen fordern ihre Mitgliedsstaaten auf sicherzustellen, dass Verweigerungen aus Gewissensgründen genau definierte Ausnahmen sind, deren Anwendung präzise geregelt ist, und dass in diesem Fall die Überweisung und die Verfügbarkeit durch andere Fachkräfte sichergestellt ist. »Global Doctors for Choice« hat Vorschläge erarbeitet, um die Probleme, welche durch die Weigerung entstehen, zu minimieren, etwa die Standardisierung einer Definition von CO, die Entwicklung von Zulassungsvoraussetzungen für verweigernde Fachkräfte, deren Registrierung und Verpflichtung Patienten zu überweisen, unparteiische Information zu geben und im Notfall die entsprechende medizinische Leistung zu erbringen. Mit anderen Worten, diese Organisationen sind sich der Probleme bei der Anwendung von CO und der Schäden, die CO Patienten zufügt, bewusst, tolerieren diese aber, weil sie fälschlich annehmen, dass sich die negativen Folgen bis zu einem vertretbaren Ausmaß verringern lassen. Ein Teil des Problems ist, dass der irreführende Begriff »Weigerung aus Gewissensgründen« weitgehend akzeptiert wird. Dabei wird u.a. übersehen, dass dieser Begriff von religiösen Gruppen eingeführt wurde, welche Frauen das Recht auf Selbstbestimmung absprechen. Medizinische Institutionen sollten demgegenüber eine »evidenzbasierte Medizin« umsetzen. Die Toleranz von CO durch diese Institutionen steht im fundamentalen Widerspruch zu ihren eigenen Grundsätzen und ethischen Richtlinien, wonach medizinische Fachkräfte ihren Patienten nicht schaden dürfen, sie die jeweils am besten geeignete Behandlung erbringen müssen und sie nur evidenzbasierte medizinische Entscheidungen treffen dürfen. Medizinische Organisationen und solche, die den Menschenrechten verpflichtet sind, sollten stattdessen Vorkämpfer sein, die Schäden durch CO aufzuzeigen, und daran arbeiten, diese zu reduzieren bzw. CO auch in der Reproduktiven Gesundheit zu verbieten. Dazu sollte es gehören, CO zu verhindern, indem verweigernde Fachkräfte durch Screeningmaßnahmen der Zugang zu solchen Ausbildungsprogrammen oder Fachausbildungen verwehrt wird, die die reproduktive Gesundheit betreffen, wie Allgemeinmedizin oder die gynäkologischgeburtshilfliche Fachausbildung. Dazu gehören auch disziplinarrechtliche Maßnahmen für Fachkräfte, die weiterhin Patientinnen und Patienten eine Therapie aus ideologischen Gründen verweigern.
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»Gesundheitseinrichtungen haben die Pflicht, jede legale Gesundheitsleistungen zu erbringen und zu definieren, wie weit eine Verweigerung statthaft ist [...] es ist auch festzulegen, ob diese Verpflichtung vorwiegend auf der Ebene der einzelnen medizinischen Fachkraft oder auf dem der Institution liegt.« 7
Diese Aussage ist bereits im ersten Teil des Satzes widersprüchlich. Eine Verpflichtung, jede Gesundheitsleistung zu erbringen, schließt natürlich die Möglichkeit aus, eine Gesundheitsleistung zu verweigern. Aber die Aussage enthält einen weiteren Widerspruch: Wie kann eine Organisation, ein Krankenhaus oder ein ganzes Land eine Behandlung aus »Gewissensgründen« verweigern und damit allen Fachkräften, die in dem Bereich arbeiten, vorschreiben, wie sich deren individuelles Gewissen zu äußern hat? Die Diskussion über CO macht deutlich, um was es tatsächlich geht: die Bevormundung, nicht nur der Patientinnen und Patienten, sondern auch der Fachkräfte. Weil die Fachkräfte in den allermeisten Fällen gar nicht gefragt werden, ob sie eine bestimmte medizinische Behandlung durchführen würden. Vielmehr wird vom Krankenhausträger aus ideologischer Überzeugung vorgegeben, was nach dessen Ansicht moralisch gerechtfertigt ist und was nicht. Nur so lässt sich erklären, dass einer Frau nach einer vermuteten Vergewaltigung in einem katholischen Krankenhaus in Deutschland sogar die Untersuchung verweigert wurde, weil sie möglicherweise die »Pille danach« gebraucht hätte, deren Verordnung von dem Krankenhausträger aus »moralischen« Gründen verboten worden war.8 In ähnlicher Weise werden von einigen Krankenhäusern mittels interner Vorgaben auch andere Leistungen willkürlich verweigert, obwohl sie legal und im Interesse der Patientinnen und Patienten sind. Wenn Fachkräfte dies ignorieren und eine medizinische Behandlung doch durchführen, trotz internem Verbot, dann müssten sie mit Disziplinarmaßnahmen rechnen. Wenn die Verteidigung des Gewissens der Fachkräfte ernst gemeint wäre, dann gäbe es diese »institutionelle Weigerung aus Gewissensgründen« nicht, und die Einzelnen wären wirklich frei in ihrer Entscheidung. Aus der Tatsache, dass dem nicht so ist, sondern vielmehr unzählige Organisationen und Kranken7
Competing Rights: Exploring the Boundaries of ›Conscientious Objection‹, Wendy Chavkin, Global Doctors for Choice, RH Reality Check, May 28, 2014, http://rhrealitycheck.org/article/2014/05/28/competing-rights-exploring-boundariesconscientious-objection/ (Zugriff am 05.08.2014).
8
»Katholische Kliniken weisen Vergewaltigungsopfer ab«, Süddeutsche Zeitung, 17. Januar 2013, www.sueddeutsche.de/panorama/koeln-katholische-kliniken-weisen-ver gewaltigungsopfer-ab-1.1575220 (Zugriff am 05.08.2014).
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häuser ihren Angestellten vorschreiben, was sie aus angeblich »moralischen« Gründen nicht machen dürfen, ergibt sich klar und deutlich die Bevormundung als Ziel von CO. 7.
Reproduktive Gesundheit ist nicht der einzige Gesundheitsbereich, der von CO betroffen ist. Auch die medizinische Versorgung am Lebensende sowie Stammzelltherapien sind Bereiche, in denen CO vorkommt.
Wir konzentrieren uns auf Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, weil diese beiden medizinischen Leistungen sowohl zur medizinischen Basisversorgung zählen als auch eine der häufigsten Behandlungen darstellen – im Gegensatz zu den beiden anderen Beispielen. Zusammengenommen sind Verhütung und Schwangerschaftsabbruch bei weitem die häufigsten Gründe für CO im Gesundheitswesen. Es gibt ein paar stichhaltige Fälle, in denen eine medizinische Fachperson aus Gewissensgründen eine gesetzlich zulässige Behandlung ablehnen kann, aber das sollte in Einklang stehen mit ihren beruflichen Verpflichtungen und medizinethischen Anschauungen. Ärztinnen und Ärzte können Behandlungen nach dem Prinzip »Primum non nocere« ablehnen, wenn sie der Patientin bzw. dem Patienten schaden oder seinem Wohlergehen zumindest nicht nützen würden. Das trifft nur in einer sehr kleinen Anzahl von Fällen zu, wenn beispielsweise eine Patientin bzw. ein Patient eine riskante Behandlung verlangt, die noch im Erprobungsstadium ist, oder wenn ein geistig beeinträchtigter Patient eine medizinisch nicht notwendige Maßnahme fordert, etwa eine Amputation. Selbstverständlich ist die Verweigerung auch dann gerechtfertigt, wenn eine medizinische Fachperson eine illegale oder nur fast legale Maßnahme durchführen soll, die Menschen schadet oder ihre Rechte verletzt, etwa Folter oder die Genitalverstümmelung von Kindern. Das sind allerdings keine medizinischen Therapien und sie werden von der Patientin bzw. vom Patienten nicht gefordert; daher kann hier nicht von CO gesprochen werden. 8.
Ein Verbot von CO könnte den Zugang zu diesen Behandlungen weiter erschweren, weil es den Widerstand derer verstärkt, die man nach und nach hätte überzeugen können, die Dienstleistung doch durchzuführen.
Das ist reine Spekulation; es gibt keinen Beweis und kein Beispiel, das dieses Argument bestätigen würde. Aber es gibt Beweise für das Gegenteil: Die Duldung von CO hat in vielen Ländern dazu geführt, dass Frauen der Zugang zu gesetzlich erlaubten medizinischen Behandlungen erschwert wird. Jahrzehnte die-
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ser Praxis haben bewiesen, dass dies eindeutig eine Fehlentwicklung war, die zu vielen negativen Folgen geführt hat. Ein Verbot der »Weigerung aus Gewissensgründen« wird nicht von denen bekämpft, die man überzeugen könnte, reproduktive Gesundheitsleistungen zu erbringen, sondern von denen, die man niemals überreden würde.
Z USAMMENFASSUNG Die Weigerung, eine Patientin bzw. einen Patienten zu behandeln oder eine medizinische Dienstleistung anzubieten (CO), ist eine Pflichtverletzung von Fachkräften im Gesundheitswesen, deren Kernaufgabe ja gerade darin besteht, Patientinnen und Patienten zu helfen. Diese Weigerung wird auf zwei Ebenen praktiziert: auf der individuellen (die persönliche Entscheidung von Ärztinnen und Ärzten oder anderen Fachkräften) sowie auf einer institutionellen (ein ganzes Krankenhaus oder Gesundheitssystem verpflichtet alle Angestellten, eine gewisse Behandlung nicht durchzuführen, unabhängig von deren persönlicher Einstellung). Wenn sich Fachkräfte im Gesundheitswesen auf CO beziehen, dann missbrauchen sie ihre Vertrauens- und Machtposition, um von ihnen abhängige Patientinnen und Patienten ihre persönliche Überzeugung aufzuzwingen. Wenn Gesundheitssysteme ihr Gewissen als Grund dafür anführen, dass sie die Abgabe von Verhütungsmitteln oder die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen verbieten, dann diskriminieren sie die von dieser Behandlung abhängige Bevölkerungsgruppe und missachten das Gewissen derjenigen Mitarbeiter/-innen, die zur Durchführung bereit sind oder dies sogar als ihre Aufgabe sehen. Verhütung und Schwangerschaftsabbruch sind legal und stellen eine medizinische Basisversorgung dar, die jedoch aufgrund der gesetzlichen Regelung nur von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt werden darf. Somit bedeutet jeder Versuch, einen »Kompromiss« zu finden zwischen dem Gewissen der Ärzte und dem Recht auf Behandlung der Patientinnen automatisch eine Verletzung der Rechte und der Würde von Frauen. Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Susanne Krejsa MacManus.
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W EITERFÜHRENDE L ITERATUR bpas Reproductive Review (2014): »The Conscientious Objection Debate«, in: Reproductive Review, May 15, 2014, siehe: http://www.reproductivereview. org/index.php/rr/article/1586 (Zugriff am 05.08.2014). Fiala, Christian/Arthur, Joyce H. (2014): »›Dishonourable Disobedience‹: Why Refusal to Treat in Reproductive Healthcare Is Not Conscientious Objection. Woman – Psychosomatic Gynaecology and Obstetrics«, in press, siehe: www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2213560X14000034 (Zugriff am 05.08.2014). Fiala, Christian/Arthur, Joyce H. (2014): Why We Need to Ban »Conscientious Objection« in Reproductive Health Care, RH Reality Check, May 14, 2014, siehe: http://rhrealitycheck.org/article/2014/05/14/why-we-need-to-ban-cons cientious-objection-in-reproductive-health-care (Zugriff am 05.08.2014). Heino, Anna/Gissler, Mika/Apter, Dan/Fiala, Christian (2013): »Conscientious objection and induced abortion in Europe«, in: European Journal of Contraception and Reproductive Health Care, Aug; 18(4): S. 231-3, siehe: http://informahealthcare.com/doi/abs/10.3109/13625187.2013.819848 (Zugriff am 05.08.2014).
Autorinnen und Autoren
Arthur, Joyce, Journalistin und Frauenrechtsaktivistin in Kanada. Von 1995 bis 2005 Leitung der Vereinigung für den legalen Schwangerschaftsabbruch (ProChoice ActionNetwork) in British Columbia, Kanada. Herausgeberin des kanadischen Newsletters »Pro-Choice Press«. Mitbegründerin von FIRST, einer feministischen Vereinigung zur Verteidigung der Rechte von Sexarbeiterinnen und gegen die Kriminalisierung von Prostitution. Veröffentlichung einer großen Anzahl von Artikeln zu Schwangerschaftsabbruch, Sexarbeit und anderen politischen sowie sozial-politischen Themen sowie zahlreiche Vorträge dazu. Berghahn, Sabine, Dr. iur., Juristin und Politikwissenschaftlerin, Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin. Langjährige Tätigkeit in Lehre und Forschung, darunter Vertretungs- und Gastprofessuren in Berlin, Bremen, Cottbus und Münster. Diverse Forschungsprojekte, z.B. Beteiligung am EU-Projekt VEIL (Values, Equality & Differences in Liberal Democracies. Debates about Female Muslim Headscarves in Europe) und Leiterin des Projekts »Ernährermodell«. Veröffentlichungen u.a. zur rechtlichen Entwicklung der Geschlechtergleichstellung, zum männlichen Ernährermodell, zu Abtreibung sowie zu Einwanderung und Multikulturalität. Busch, Ulrike, Prof. Dr. phil., Professorin für Familienplanung an der Hochschule Merseburg. Wirkt an Forschungs- und Fortbildungsprojekten des Instituts für Angewandte Sexualwissenschaften mit und ist Partnerschafts- und Sexualberaterin in eigener Praxis. Ihre Arbeitsschwerpunkte: Sozialwissenschaftliche Aspekte von Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung, Beratung und soziale Arbeit, Familie und Familienbildung; reproduktives Verhalten insbesondere unter den Aspekten Schwangerschaften Minderjähriger, Schwangerschaftsabbruch und Schwangerschaftsberatung.
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Czygan, Christine, Diplom-Sozialpädagogin und M.A. Angewandete Sexualwissenschaften. 2011-2014 tätig als Erzieherin, derzeit freiberufliche Sexualpädagogin; in ihrer Masterthesis beschäftigte sie sich mit den Erfahrungen und Einstellungen von Ärztinnen und Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Franz, Jutta, Diplom-Pädagogin, Zusatzausbildung in systemischer Paar- und Sexualtherapie. War bis zu ihrem Ruhestand Beratungsfachkraft und Leiterin von Schwangerschafts(-konflikt-)beratungsstellen. Sie ist in der Fort- und Weiterbildungen für Beratungsfachkräfte tätig und hat diverse Fachartikel veröffentlicht, so insbesondere zu Teenagerschwangerschaften, Frühen Hilfen und Beratung für Alleinerziehende. Fiala, Christian, DDr., Arzt für Allgemeinmedizin und Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Dr. phil. (PhD) in wissenschaftlichem Arbeiten an der Universitätsklinik Karolinska, Stockholm. Internationale Berufserfahrung in Thailand, Afrika, Frankreich. Ärztlicher Leiter des Gynmed Ambulatoriums Wien und Salzburg. Vorstandsmitglied und ehemaliger Vorsitzender der Internationalen Berufsvereinigung von Fachkräften zu Schwangerschaftsabbruch und Kontrazeption, FIAPAC. Mitglied der Forschungsgruppe zu Verhütung und Schwangerschaftsabbruch der Universitätsklinik Karolinska, Stockholm, Schweden. Gründer und Leiter des Museums für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, Wien. Hahn, Daphne, Prof. Dr., Professorin für Gesundheitswissenschaften und Empirische Sozialforschung an der Hochschule Fulda und Vorsitzende des Bundesverbands von pro familia. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheits- und Geschlechterforschung, Individualisierung der Verantwortung für Gesundheit, sexuelle und reproduktive Gesundheit sowie gesundheitliche Folgen von Gewalt. Helfferich, Cornelia, Prof. Dr., Professorin für Soziologie an der Ev. Hochschule Freiburg, Privatdozentin am Institut für Soziologie der Universität Freiburg und Leiterin des Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstituts (SoFFI F.). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender- und Lebenslaufforschung insbesondere im Zusammenhang mit Familie(-nplanung), Gewalt im Geschlechterverhältnis/Partnergewalt sowie Geschlechterbeziehungen in der Jugend. Hennig, Anja, Dr., studierte Politikwissenschaft in Potsdam, Breslau und Berlin. Seit 2010 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende
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Politikwissenschaft der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2012 erschien ihr Buch »Moralpolitik und Religion: Bedingungen politisch-religiöser Kooperation in Polen, Italien und Spanien.« Ihre Forschung konzentriert sich auf Grenzverschiebungen im Verhältnis von Religion und Moral bzw. Religionspolitik. Herzog, Dagmar, Prof. Dr., Historikerin mit dem Schwerpunkt HolocaustStudien, Religions- und Sexualgeschichte; seit 2005 am Graduate Center der City University of New York. Zahlreiche Veröffentlichungen zur modernen deutschen und europäischen Geschichte sowie zu Politik der evangelikalen Rechten in den USA. U.a.: Sexuality in Europa: A Twentieth Century History (Cambridge 2011). Klindworth, Heike, Dipl. Biologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstitut Freiburg (SoFFI F.). Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Familienplanung im Lebenslauf von Frauen und Männern, Familien- und Lebenslaufforschung sowie Gesundheitsforschung und -berichterstattung. Kreß, Hartmut, Professor für Sozialethik an der Universität Bonn, Evang.Theol. Fakultät, Abteilung Sozialethik; zuvor 1993 bis 2000 Professor für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Kiel. Publikationen zu Grundlagenfragen der Ethik, zur Medizin- und zur Rechtsethik. Mitglied in der Bioethikkommission des Landes Rheinland-Pfalz, der Arbeitsgruppe »Memorandum Präimplantationsdiagnostik« der Bundesärztekammer (2010/2011), der Zentralen Ethikkommission für Stammzellenforschung u.a. Krolzik-Matthei, Katja, Diplom-Sozialpädagogin und M.A. Angewandte Sexualwissenschaften. Tätigkeitsschwerpunkte: Arbeit mit Zielgruppen und Multiplikatorinnen- und Multiplikatoren-Weiterbildung zu den Themen sexuelle Bildung, geschlechtsspezifische Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen sowie Feminismus/Gleichstellung, seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Einrichtungen an der Hochschule Merseburg. Obinger-Gindulis, Edith, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen im dortigen Sonderforschungsbereich 597 »Staatlichkeit im Wandel«, Teilprojekt C1 »Sozialpolitik in kleinen offenen Volkswirtschaften«. 2000 Mitarbeit im Teilprojekt »Sozialpolitik in der DDR«
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der vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und dem Bundesarchiv herausgegebenen 12-bändigen »Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland« unter der Leitung von Prof. Dr. Manfred G. Schmidt. 2000-2002 Promotionsprojekt zu den Bestimmungsfaktoren der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch im OECD-Ländervergleich. Schweiger, Petra, Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin, Sexualpädagogin. Gründungsmitglied Frauenhaus Salzburg; langjährige Mitarbeiterin im Frauengesundheitszentrum ISIS und in der Gynmed Ambulanz für Schwangerschaftsabbrüche an der Universitätsklinik Salzburg; wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Salzburg im Lehrgang »Psychotherapeutisches Propädeutikum«. Seyler, Helga, Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Seit 1991 im Familienplanungszentrum Hamburg tätig. Aktuelle Schwerpunkte dort: Beratung und Versorgung von Frauen im Bereich Antikonzeption, gynäkologische Versorgung von Frauen ohne Krankenversicherung, Beratung zu Themen wie Kinderwunsch, pränatale Diagnostik, Hymenrekonstruktion, Genitalverstümmelung. Redaktion von »pro familia medizin. Der Familienplanungsrundbrief«. Vorträge und Veröffentlichungen zu Themen der Frauen- und Lesbengesundheit. Thonke, Ines, Dr. med., M. Sc, Ärztin und Master im Bereich Public Health. Sie arbeitet als medizinische Referentin beim Bundesverband pro familia. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt auf den fachlichen und gesundheitspolitischen Aspekten der Frauengesundheit im Kontext reproduktiver Gesundheit.
KörperKulturen Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) Gesundheit 2.0 Das ePatienten-Handbuch Juni 2014, 144 Seiten, kart., 15,99 €, ISBN 978-3-8376-2807-4
Arno Böhler, Christian Herzog, Alice Pechriggl (Hg.) Korporale Performanz Zur bedeutungsgenerierenden Dimension des Leibes 2013, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2477-9
Arno Böhler, Krassimira Kruschkova, Susanne Valerie Granzer (Hg.) Wissen wir, was ein Körper vermag? Rhizomatische Körper in Religion, Kunst, Philosophie Mai 2014, 258 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2687-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
KörperKulturen Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte Juni 2015, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3
Mischa Kläber Moderner Muskelkult Zur Sozialgeschichte des Bodybuildings 2013, 276 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2376-5
Elisabeth Wagner Grenzbewusster Sadomasochismus SM-Sexualität zwischen Normbruch und Normbestätigung September 2014, 354 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2870-8
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KörperKulturen Karl-Heinrich Bette, Felix Kühnle, Ansgar Thiel Dopingprävention Eine soziologische Expertise
Birgit Heimerl Die Ultraschallsprechstunde Eine Ethnografie pränataldiagnostischer Situationen
2012, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2042-9
2013, 364 Seiten, kart., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2551-6
Kathrin Dengler, Heiner Fangerau (Hg.) Zuteilungskriterien im Gesundheitswesen: Grenzen und Alternativen Eine Einführung mit medizinethischen und philosophischen Verortungen
Britta Pelters Doing Health in der Gemeinschaft Brustkrebsgene zwischen gesellschaftlicher, familiärer und individueller Gesundheitsnorm
2013, 258 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2290-4
Tobias Eichinger Jenseits der Therapie Philosophie und Ethik wunscherfüllender Medizin 2013, 308 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2543-1
Nino Ferrin Selbstkultur und mediale Körper Zur Pädagogik und Anthropologie neuer Medienpraxen 2013, 246 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2505-9
Orsolya Friedrich Persönlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften Eine kritische Analyse neurowissenschaftlicher Eingriffe in die Persönlichkeit 2013, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2307-9
Robert Gugutzer Verkörperungen des Sozialen Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen
2012, 392 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-2225-6
Hans-Uwe Rösner Behindert sein – behindert werden Texte zu einer dekonstruktiven Ethik der Anerkennung behinderter Menschen September 2014, 310 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2800-5
Charlotte Ullrich Medikalisierte Hoffnung? Eine ethnographische Studie zur reproduktionsmedizinischen Praxis 2012, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2048-1
Karen Wagels Geschlecht als Artefakt Regulierungsweisen in Erwerbsarbeitskontexten 2013, 276 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2226-3
Andrea zur Nieden Zum Subjekt der Gene werden Subjektivierungsweisen im Zeichen der Genetisierung von Brustkrebs 2013, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2283-6
2012, 256 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1908-9
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