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German Pages 380 Year 2014
Nikolai Roskamm Dichte
Urban Studies
Nikolai Roskamm (Dr. phil.) arbeitet am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Raum- und Stadttheorien, Stadtplanung und urbane Aneignungsprozesse.
Nikolai Roskamm
Dichte Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Diskurse zu Stadt und Raum
Zugleich Dissertation an der Fakultät für Architektur der BauhausUniversität Weimar Die Veröffentlichung wurde gefördert durch eine Publikationsbeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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Inhalt Einleitung
|9 | 19
1 Dichte, Stadt und Gesellschaft
1.1 1.2 1.3
Durkheims Dichte | 19 Ein Stadtbaustein | 36 Renaissance der Dichte
| 47
| 59 Masse und Massenpsychologie Über Distanz | 69 Crowding | 73
2 Dichte und Individuum
2.1 2.2 2.3
| 59
Reflexion (I)
| 87
| 97 Erfindung der Dichte | 97 Der Diskurs ›Volk ohne Raum‹ | 108 Alter Kontext, ohne Kontext | 117
3 Dichte und Raum
3.1 3.2 3.3
| 131 Bewertungssysteme | 131 Der Diskurs ›Raum ohne Volk‹ Obsolete Dichte | 155
4 Dichte und Bevölkerung
4.1 4.2 4.3
| 169 Raumordnung | 169 Blütezeit | 179 Institutionalisierte Dichte
| 147
5 Dichte und Ordnung
5.1 5.2 5.3
| 195 Reflexion (II)
| 213
| 225 Wurzeln der Debatte | 225 Der Diskurs der Architekten | 247 Aufgelockerte Stadt | 262
6 Dichte und Städtebau (Teil 1)
6.1 6.2 6.3
| 279 Das Maß der Nutzung | 279 ›Urbanität durch Dichte‹ | 299 Rettung der Dichte | 315
7 Dichte und Städtebau (Teil 2)
7.1 7.2 7.3
Schluss: ›Dichte‹ Verzeichnisse
| 339
| 349
Reflexion (III)
| 327
»Indeß ist diese Dichtigkeit etwas Relatives.« KARL MARX 1867 »In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude.« ELIAS CANETTI 1960 »Sowohl der Städtebau als auch die Landesplanung haben als vornehmstes Ordnungsziel die Erreichung einer optimalen Nutzung des Raumes, also auch einer optimalen Dichte.« OLAF BOUSTEDT 1975 »Die Reaktionen auf hohe Dichte variieren von Spezies zu Spezies; häufig führt eine hohe Dichte zur Abgrenzung von Territorien und zu einer erhöhten Sterblichkeit, wodurch sich die Dichte verringert.« JÜRGEN FRIEDRICHS 1977 »Man gewinnt den Eindruck, daß Angaben zur Bevölkerungsdichte in die Klasse der Auskünfte von nutzloser Richtigkeit gehören, deren Erwähnung hochgradig ritueller Natur ist: Ihre Kenntnis dient weder der Beantwortung einer drängenden Frage, noch löst sie eine aus.« CLAUS HEIDEMANN 1992 »Dichte steht am Ursprung allen menschlichen Siedelns. (…) Dichte ist also allgemein gleich Stadt und Stadt gleich Dichte.« VITTORIO LAMPUGNANI 2004 »Dichte ist das Hauptmerkmal unserer Weltform.« PETER SLOTERDIJK 2006
Einleitung
Der Begriff ›Dichte‹ ist in vielen gegenwärtigen Debatten präsent. Überall dort, wo die Stadt und das Urbane die Themen sind, ist der Begriff selbstverständlicher Bestandteil von Beschreibungen, Erläuterungen, Thesen und Zielformulierungen. Wenn etwa darüber nachgedacht wird, was Stadt zur Stadt oder was Gesellschaft zur Gesellschaft macht, wenn räumliche, soziale oder ökonomische Strukturen von Ländern, Regionen, Städten oder Quartieren erforscht, wenn die Auswirkungen von räumlichen Gegebenheiten auf das Empfinden von einzelnen Personen oder Personengruppen untersucht werden, wenn über die Ausgestaltung von städtebaulichen Projekten und ihre sozialen oder ökologischen Folgen verhandelt und nicht zuletzt wenn über planerische Ziele und Leitbilder diskutiert wird, immer dann ist die Rede von ›Dichte‹. Aber nicht nur in gegenwärtigen, auch in vergangenen Debatten findet sich der Begriff mit großer Regelmäßigkeit und an zentraler Stelle: Vor allem im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert wurde ›Dichte‹ als Schlüsselbegriff in sehr unterschiedlichen Diskursen der Soziologie, der Geographie, der Nationalökonomie und des Städtebaus verwendet, insbesondere als Merkmal und Ursache von gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Entwicklung, als Inbegriff für soziale, gesundheitliche und sittliche Missstände in den Großstädten, als Leitterminus für die räumliche Planung im regionalen und nationalstaatlichen Maßstab oder als instrumenteller Bestandteil von städtebaulichen Regeln und Gesetzen. Ursprünglich ist ›Dichte‹ ein Begriff der Grundwissenschaften Philosophie und Physik, die bis zu Beginn der Neuzeit als Einheit betrieben wurden. Seine naturwissenschaftliche Definition wurde dem Ausdruck ›Dichte‹ – im Zuge der Verselbstständigung der Physik als eigene abgegrenzte Wissenschaftsdisziplin – in der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica von Isaac Newton gegeben. Newtons ›physikalische Dichte‹ hat seitdem einen festen Platz als analytische Kenngröße für empirisch messbare stoffliche Eigenschaften und wird bestimmt als Quotient aus Masse und Volumen (bezogen auf einen materiellen Stoff). In dieser Arbeit geht es jedoch um eine andere ›Dichte‹. Gegenstand meiner Untersuchung ist ein Dichtebegriff,
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der von seiner naturwissenschaftlichen Bestimmung in zweifacher Weise abgegrenzt ist: definitorisch und kontextuell. Einerseits wird der hier behandelte Dichtebegriff definiert als das Verhältnis von einer Anzahl von Menschen zu einer Flächeneinheit (bezogen auf einen konkreten Ort). Die so bestimmte ›Dichte‹ beinhaltet eine soziale Komponente (die Anzahl von Menschen) und einen räumlichen Bezug (den Ort), womit gleich zu Beginn zwei im Vordergrund dieser Arbeit stehende Themen genannt sind. Andererseits wird die Unterscheidung zur ›physikalischen Dichte‹ über den Kontext bestimmt, in dem der Begriff verwendet wird: Thema meiner Untersuchung ist der Dichtebegriff der Sozial-, Planungs- und Bevölkerungswissenschaften. Mit dieser zweiten Abgrenzung wird der Untersuchungsbereich erweitert. Neben die Bevölkerungsdichte (die durch die angegebene Grundformel definiert worden ist) rücken damit weitere Dichtebegriffe in das Erkenntnisinteresse, etwa die ›bauliche Dichte‹ des Städtebaus oder die ›soziale Dichte‹ der Soziologie (die ohne eine solche Erweiterung aus dem von der Bevölkerungsdichtedefinition vorgegebenen Raster herausgefallen wären).1 Der physikalische und der hier verwendete räumliche/sozialwissenschaftliche Dichtebegriff unterscheiden sich auch dadurch voneinander, dass ersterer »kontextfrei definierbar« ist, während letzterer ohne Angaben der »situativen Bezugsgrößen« ohne Aussage bleibt (Heidemann 1975, 23). Isoliert betrachtet ist der sozialwissenschaftliche Dichtebegriff »inhaltsleer« (Spiegel 2000, 39), für sich alleine genommen bleibt ›Dichte‹ eine Kategorie ohne selbstständigen Bedeutungsgehalt, eine Ausführung ohne Folge, ein Behälter ohne Inhalt. Das ändert sich allerdings, wenn ›Dichte‹ in den Kontext ihrer Verwendung gestellt wird. Da ›Dichte‹ nicht »aus sich selbst heraus existiert«, wird sie aus dem »aufeinander Bezogensein bestimmter Einheiten« konstituiert, und dabei zur Metapher, beladen mit Bedeutungen und transparent für »dahinter stehende Wertvorstellungen« (Gerberding-Wiese 1968, 1f.). Beim Gebrauch von ›Dichte‹ – als Bestandteil von Analysen, Theorien, Programmen – wird also der inhaltsleere Behälter aufgefüllt: mit Haltungen, Erzählungen, Erklärungen, Interpretationen. Die Betrachtung dieser Gebrauchspraxis macht ›Dichte‹ als ein Konstrukt lesbar, mit dem Inhalte transportiert werden (und genau dafür sind Behälter ja bekanntlich auch da). Die Gebrauchspraxis der ›Dichte‹ besteht aus einem komplexen Inund Nebeneinander der quantifizierenden und qualifizierenden Anwendungen des Begriffs. Erstens gibt es die (quantitative) Zahlenangabe von ›Dichte‹. Eine solche Angabe stellt einen fiktiven Wert dar, der in der Realität nicht vorkommt: Die gleichmäßige Verteilung der Menschen im Sinne er1
Im Folgenden wird der auf diese Art abgegrenzte Dichtebegriff als ›Dichte‹ gekennzeichnet.
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rechneter Bevölkerungsdichte ist nirgends wirklich vorhanden (Wilhelmy 1966, III 114). Um exakte Vergleichsmöglichkeiten der Dichtewerte zu erhalten, erfolgt bei der Angabe von Dichtewerten zudem eine Reduzierung auf die Ziffer ›Eins‹ – auf einen Hektar, auf einen Quadratkilometer et cetera (Gerberding-Wiese 1968, 15). Die quantitative ›Dichte‹ ist also eine Fiktion und eine Reduktion, und sie ist auch eine Abstraktion: Wer die Bevölkerungszahl in ein Verhältnis mit der Flächengröße setzt (oder auch die Geschossfläche mit der Grundstücksfläche) abstrahiert dabei auf eine vermittelnde Darstellungsebene. Schon die quantitative Dichteverwendung ist damit eine auf verschiedene Arten konstruierte Gebrauchsform. Zweitens lässt sich eine qualitative Anwendungsebene unterscheiden. Zur (qualitativen) Metapher wird ›Dichte‹, wenn sie nicht als konkreter Zahlenwert angegeben wird, sondern die Rede von der ›Dichte‹ ist. Die ›Dichte der europäischen Stadt‹, die ›zu hohe Dichte‹ in den Arbeitervierteln der industrialisierten Stadt des 19. Jahrhunderts, die ›geringe Dichte‹ der Vorstadt – all das sind Beispiele für Dichteverwendungen, hinter denen sich komplexe und normative Begründungskonstruktionen verbergen, die mit dem Begriff metaphorisch zum Ausdruck gebracht werden sollen. Wenn die Rede nicht von ›Dichte‹, sondern von der ›Dichte‹ ist (respektive nicht über ›Dichte‹, sondern über die ›Dichte‹ geredet wird), drücken sich damit regelmäßig eine Personifizierung des Begriffs und/oder die Behauptung einer eigenen Materialität von ›Dichte‹ aus. Der Ausdruck ›dichte Stadt des 20. Jahrhundert‹ etwa verbindet die beiden Begriffe der ›Einwohnerdichte‹ und der ›baulichen Dichte‹ zu einem Gesamtpaket, dem ein eigenständiger Bedeutungsgehalt zugeschrieben wird. Solche metaphorischen Konstruktionen von ›Dichte‹ und die sich jeweils dahinter verbergenden (oder auch deutlich postulierten) Absichten stehen im Mittelpunkt meines Interesses.2 Die qualitative Gebrauchsform und die quantitative Verwendung stehen dabei insgesamt in einem engen Wechselverhältnis. Die quantitative Dichteangabe wird durch den metaphorischen Bedeutungszusammenhang inhaltlich aufgewertet, die metaphorische Dichtenennung erlangt durch die Berechenbarkeit ihres quantitativen Gegenstücks an (natur)wissenschaftlichem Gehalt. ›Dichte‹ ist 2
Wenn im Folgenden auch in dieser Arbeit ausführlich von ›der Dichte‹ berichtet werden wird, dann soll damit keine neue Form der Personifizierung und Materialisierung betrieben, sondern auf eine jeweilig bestehende Gebrauchspraxis und deren diskursiver Konstruktionsform Bezug genommen werden (also etwa auf die ›Erfindung der Dichte‹ im geographischen Dichtediskurs des 19. Jahrhunderts oder auf eine ›Renaissance der Dichte‹ im aktuellen stadtsoziologischen Kontext). Allerdings ist zu vermerken, dass natürlich auch meine Rede von ›der Dichte‹ eine Konstruktion ist und an der »kulturellen Praxis der Bedeutungsproduktion« (Lippuner 2005, 207) teilnimmt.
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– so könnte man es vielleicht formulieren – eine potentiell berechenbare Metapher. Die Rede von der ›Dichte‹ ist immer ein Konstrukt. Die meiner Untersuchung zugrunde liegende These lautet, dass dieses Konstrukt auf zwei verschiedene Weisen konstruiert wird: zum einen durch die jeweilige Definition des Begriffs, zum anderen durch die jeweilige Gebrauchspraxis. Aus dieser Annahme ist der Ansatz für meine Vorgehensweise abgeleitet. In einer historisch-kritischen Analyse sollen anhand von exemplarischen Texten vergangene und gegenwärtige Theorien und Debatten betrachtet und das dortige Verständnis und die dortige Gebrauchspraxis der ›Dichte‹ dargestellt, interpretiert und diskutiert werden, um dabei gemeinsame und gegenläufige Argumentations- und Erklärungsmuster und deren Schärfen, Unschärfen und Widersprüche herauszuarbeiten. Ziel ist es, die Konstruktion von ›Dichte‹ zu zeigen, die Hintergründe und Motive dieser Konstruktionspraktiken zu erkennen. Dieser Ansatz soll einerseits zu einem besseren Verständnis des komplexen Begriffs ›Dichte‹ beitragen, andererseits soll dadurch aber auch der jeweilige Kontext selbst (in dem das Konstrukt verwendet wird) besser verstanden werden. Der Begriff ›Dichte‹ ist dabei ständiger Bezugspunkt des Erkenntnisinteresses, und er bildet den roten Faden, der durch die verschiedenen Diskurse leitet. ›Dichte‹ ist damit zum einen der Forschungsgegenstand, zum anderen übernimmt der Begriff auch eine methodische Funktion: Das Konstrukt bildet den Zugang zu den diskursiven Problemlagen, den Mittler, Fokus und Filter für die unterschiedlichen Debatten und Theorien. Im Untertitel meines Textes wird eine Dekonstruktion angekündigt. Der Begriff Dekonstruktion geht zurück auf Jaques Derrida (1930-2004) und auch die Versuche, den Begriff in anderen Disziplinen in Gebrauch zu nehmen (etwa in der Architektur, vgl. Eisenman 1989), beziehen sich sämtlich auf den französischen Denker. Dekonstruktion ist im engeren Sinne weder eine Theorie noch eine Methode, sondern eher als eine philosophische Haltung zu bezeichnen. Dabei entzieht sich der Begriff konsequent einer exakten eigenen Definition, Derrida selbst hat eine explizite Begriffsbestimmung stets vermieden. Für meine Arbeit steht die Wahl des Begriffs Dekonstruktion für einen kontingenten Denkansatz, der wie folgt beschrieben werden kann: »Alle was man von einem dekonstruktivistischen Standpunkt versucht zu zeigen, ist, daß Konventionen, Institutionen und der Konsens Stabilisierungen sind [...], das heißt, daß sie Stabilisierungen von etwas grundsätzlich Instabilem und Chaotischem sind« (Derrida 1999, 185). Zudem lassen sich aus der Verwendung des Dekonstruktionsbegriffs einige Prämissen ableiten, die die Vorgehensweise in meiner Untersuchung konk-
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retisieren.3 Erstens ist der Startpunkt von Dekonstruktion die »Frage nach dem Bedeutungsgeschehen« (Bertram 2002, 81). Bedeutungsgeschehen liegt dort vor, wo etwas Bedeutung gewinnt. Antworten sind aus dem gegebenen Bedeutungsgeschehen heraus zu geben, in das die Frage selbst involviert ist. Dekonstruktion beginnt nach Bertram damit, dass ein »Begriff des Zeichens« expliziert wird, der von der »Praxis von Zeichen in gegebenen Texten und Diskursen« ausgeht« (ebd. 85). Dekonstruktion bedeutet also, »in den Texten selbst« zu beginnen und auch, dass Texte überhaupt »in hohem Maße ernst genommen« werden (ebd. 18). Zweitens folgt als Arbeitsansatz eine Rekonstruktion von Strukturen, wie sie sich von den Zeichen her ausbilden. Dabei gewinnt insbesondere der Begriff Kontext an Relevanz. Drittens, so führt Bertram weiter aus, ist das Ergebnis von Dekonstruktion eine Vereinfachung. Dekonstruktion wird letztlich für das »Geltendmachen eines großen Zusammenhangs« verwendet (ebd. 136). Auf diesen drei Grundlegungen von Dekonstruktion baut meine Arbeit auf. Erstens steht am Beginn meiner Untersuchung der Ansatz, ›Dichte‹ als Text zu betrachten, als gedankliche Konstruktion, als begriffliches Konzept. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung steht damit das generierte Bedeutungsgeschehen, also die Zuweisung von Bedeutungen in den verschiedenen Dichtetexten und Dichtediskursen. Zweitens sind sowohl die Rekonstruktion von Strukturen als 3
Ich folge hier der Argumentation von Georg W. Bertram, der den Fragen nach den »Axiomen der Dekonstruktion« nachgeht, wohlwissend, dass ein solches Vorhaben den SympathisantInnen dekonstruktiver Theoriebildung wie Unverstand klingen muss und dass Derrida in seinen Texten kein Interesse gezeigt hat, die »Verbindung in den eigenen Denkbewegungen systematisch aufzuarbeiten« (Bertram 2002, 17f.). Bertram postuliert jedoch, dass es in jedem Fall legitim sei, die Fragen nach den Grundlagen dekonstruktiver Philosophie zu stellen: Dekonstruktion sei keine Philosophie, die »dem Verstehen widerspricht« (ebd. 22). Bertrams Versuch wird innerhalb der Debatte um Derrida und Dekonstruktion zwar einerseits kritisiert, da er die Dekonstruktion »bis zur Lehrbarkeit« systematisiere, was ein Unterfangen darstelle, dem sich Derrida immer verweigert habe (Baum 2008, 27f.). Andererseits wird Bertrams Text jedoch (von gleicher Seite) als der »bisher womöglich überzeugendste Versuch der Systematisierung und Vermittlung dekonstruktiver Theorie« gewürdigt (ebd.). Zudem lässt sich – sowohl hinsichtlich Bertrams Systematisierung als auch bezüglich meines Gebrauchs des Dekonstruktionsbegriffs – mit Derrida selbst argumentieren, der die Hoffnung formuliert, dass die »politische Linke an den Universitäten« mit der Dekonstruktion arbeite und dass sie dabei »in erhöhtem Maße« politisch werde (Derrida 1999, 190). Schließlich schreibt Derrida: »Und ich bestehe darauf, daß jeder dieses Motiv [der Dekonstruktion] benutzen kann, wie es ihm gefällt [...]« (ebd. 189).
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auch ein starker Kontextbezug zentrale und aus dem Dekonstruktionsbegriff ableitbare Motive meiner Arbeit. Ansatz der Analyse ist es, den Dichtebegriff vor dem Hintergrund von sechs unterschiedlichen disziplinären Kontexten (s.u.) zu untersuchen und zu rekonstruieren. Schließlich ist drittens auch das Moment der Vereinfachung ein Fundament meines Textes: Die Vorgehensweise, mit dem Fokus auf einen Begriff ein übergreifendes und neues Verständnis (der ›Dichte‹ und der Dichtekontexte) zu gewinnen, ist nichts anderes als der Versuch, einen großen Zusammenhang geltend zu machen. Darüber hinaus wird mit der Verwendung des Begriffs Dekonstruktion ein diskursanalytischer Zugang gewählt. Auch aus dieser Wahl lassen sich einige Prämissen für mein Vorgehen ableiten. Diskursanalytische Studien bilden eine noch relativ junge Tradition konstruktivistischer Forschungsansätze in den Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Ziel solcher Analysen ist es zu untersuchen, mit welchen sprachlichen Codes, Assoziationen und Bewertungen innerhalb der Diskurse gearbeitet wird und »welche normativen Setzungen« dabei erfolgen, mithin welche impliziten, unthematischen oder verschwiegenen, sprachlichen oder institutionellen Voraussetzungen zum Gegenstand werden, die »aus Äußerungen einen ›Diskurs‹ machen« (Laugstien 1995, 727). Dabei wird ein Verständnis von ›Diskurs‹ als »Sprachspiel von handelnden Akteuren« respektive als »Gesamtheit von Regeln, die einer Praxis immanent sind« zugrunde gelegt (Foucault nach Hesse 2008, 416). Die Akteure von ›Diskursen‹ geben sich allgemein akzeptierte Regeln, die bestimmen, was wie gesagt werden darf und was nicht. Über das Spiel mit diesen Regeln wird Deutungsmacht ausgeübt und es werden materielle Prozesse beeinflusst: Praxis geht immer ein Diskurs voraus (Hesse 2008, 416f.). Eine diskursive Analyse hat folglich die Absicht, »strukturelle, handlungsleitende Muster gesellschaftlicher Praxis« zu identifizieren, wobei das Ziel »zumindest nicht primär« die Suche »nach der ›richtigen‹ Orientierung für die Zukunft« ist, sondern zunächst das Herausarbeiten von »konkurrierenden Auffassungen und Bewertungen« in Gegenwart und Vergangenheit (ebd.). Bei einer diskursanalytischen Studie sind die Objekte der Erkenntnis nicht passiv zu registrieren, sondern sie müssen erst selbst rekonstruiert werden. Der diskursanalytische Zugang verlangt dabei eine »stete Bemühung um Reflexivität«, die wiederum selbst die permanente Auseinandersetzung mit den eigenen Begriffen und Klassifizierungen sowie eine »epistemologische Wachsamkeit« erfordert, die sowohl die eigenen Konstruktionsprinzipien im Auge behält als auch fortlaufend die strukturierende Praxis mit analysiert (Lippuner 2005, 190). Die reflexive Praxis produziert somit kein »solides theoretisches Fundament, kein zeitüberschreitendes theoretisches Vokabular«, sondern einen »theoretischen Ort der Pro-
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duktion, Erprobung und bedingungslosen Infragestellung von Wissen« (ebd. 215). Aus den beiden Ausgangspunkten Dekonstruktion und Diskursanalyse lässt sich ein weiteres Merkmal ableiten, das eine zentrale Rolle in meiner Untersuchung spielen wird: das Anliegen, die politische Essenz des Begriffs ›Dichte‹ zu reaktivieren, also die Einbindung der Dichtediskurse in reale Machtkonfigurationen herauszuarbeiten. Das »zentrale Thema der Dekonstruktion« besteht in der »politisch-diskursiven Produktion der Gesellschaft« (Laclau 1999, 135), bei der Dekonstruktion wird »der Essentialismus klassischer politischer Theorie in Frage gestellt« (ebd. 152). Michel Foucault, auf den sich in diskursanalytischen Ansätzen regelmäßig berufen wird, begreift Diskurse nicht »lediglich als institutionalisierte Wissenschaft«, sondern grundlegender als ›diskursive Formationen‹, als politische Funktionsweise, in der sich die abstrakten Ziele mit gesellschaftlichen Machtpraktiken (institutionellen Zwängen, Formen der Kontrolle, hierarchischen Verteilungen) wechselseitig durchdringen (Friedrich 1999, 11). Nach Foucault ist eine diskursive Formation dann gegeben, wenn in einer »bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung« und eine Regelmäßigkeit »bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen« festgestellt werden kann (Foucault 1981, 58). Bei Foucault liegt der Akzent dabei auf der formierenden, konstituierenden Kraft der Diskurse (Link 1995, 743) sowie auf dem Beharrungsvermögen der Begriffe als konstantes Grundproblem, das es in seinen unterschiedlichen historischen Ausfaltungen zu untersuchen gilt (vgl. Gamper 2007, 19). Diskurse (wie der mit dem Begriff ›Dichte‹ geführte) sind nicht nur als eine erkenntnisorientierte Wissensvermittlung zu verstehen, sondern auch als ein Machtinstrument, mit dem Ausschließungsmechanismen generiert und Kontrollprozeduren installiert werden. Diskursmacht ist dabei immer eingebunden in ein Netz von Machtpraktiken, an denen alle sozialen Akteure mit unterschiedlichen Konsequenzen (als Subjekte und als Objekte) beteiligt sind. Mein Forschungsinteresse ist daher nicht nur auf die Theorie, auf die Resultate von Wissenschaft und den Transfer in und zwischen den Disziplinen gerichtet, sondern auch »auf die Bedingungen und die performativen Akte der Hervorbringung von Wissen« (ebd. 30). Zudem sind die Dichtedebatten Diskurse, in denen Leitbilder »in Form von Sprache, Zeichen und kartographischen Repräsentationen« (Reuber 2005, 379) aufgebaut werden. Speziell bei der ›Dichte‹ ist auf die Einbindung des Konstrukts in institutionelle Repräsentationen hinzuweisen. Die Regelung der ›Dichte‹ ist ein zentrales Anliegen der Raumplanung und des Städtebaus. Daher wird eine Leitfrage in dieser Studie stets sein, wie die Diskurse um ›Dichte‹ zum Aufbau von Institutionen und Regeln (Gesetzen, Verordnungen) beigesteuert haben und beisteuern.
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Weiterhin wird im Titel meiner Untersuchung eine ›transdisziplinäre‹ Herangehensweise angekündigt. Der Terminus ›transdisziplinär‹ wird vielfach synonym mit dem Begriff ›interdisziplinär‹ verwendet (Broschart 2007, 23f.). Transdisziplinarität kann damit zum einen verstanden werden als »pure additive Sammlung von Vertretern unterschiedlicher Disziplinen«, die aus ihrer eignen Perspektive einen Beitrag zu einem gemeinsamen Gegenstand leisten, und deren kommunikative Verständigung »nicht über ein gegenseitiges Wohlwollen und die Einigung über die Zitierrichtlinien im gemeinsamen Werk hinausgeht« (Haas 2003, 27). Der Anspruch der ›Transdisziplinarität‹ – und dieses Verständnis liegt meinem Vorgehen zugrunde – kann jedoch zum anderen auch als ein Ansatz interpretiert werden, mit dem die »gewohnte Orientierung und Identität« hinterfragt wird (ebd.) und das disziplinäre Verständnis nicht so belassen werden soll, wie es sich als etabliertes darstellt (Amann 2007, 51f.). Als Besonderheit der Transdisziplinarität wird in der Literatur herausgestellt, dass unter dieser Prämisse notwendigerweise das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft einzubeziehen sei (ebd.). Anders als in der landläufigen interdisziplinären Forschung könnten »transdisziplinäre, fachübergreifende Erkenntnisse auch gewonnen werden, ohne dass sie Ergebnis einer explizit multidisziplinären Zusammenarbeit sind« (ebd.). Dass sich die Grundsätze transdisziplinären Arbeitens nicht zu einer Methode kondensieren lassen, kann dabei zum Vorteil werden: »Transdisziplinarität ist auch in methodischer Hinsicht stets offen« (Gutschmidt 2003, 71). Meine transdisziplinäre Untersuchung der Konstruktion ›Dichte‹ ist in sieben Kapitel unterteilt, in denen – vor den jeweiligen disziplinären Hintergründen und in chronologischer Abfolge – Dichtethematisierungen in (bekannten und weniger bekannten) theoretischen Beiträgen dargestellt und diskutiert werden. Im ersten Kapitel ›Dichte, Stadt und Gesellschaft‹ bildet die Stadtsoziologie den kontextuellen Rahmen, im zweiten Kapitel ›Dichte und Individuum‹ die Sozialpsychologie, im dritten Kapitel ›Dichte und Raum‹ die Geographie, im vierten Kapitel ›Dichte und Bevölkerung‹ die Bevölkerungswissenschaft (beziehungsweise die Nationalökonomie), im fünften Kapitel ›Dichte und Ordnung‹ die Raumplanung. Im sechsten Kapitel und siebten Kapitel ›Dichte und Städtebau‹ ist der disziplinäre Kontext bereits in der Überschrift angegeben.4 Die sieben Kapitel werden nochmals durch drei ›Reflexionen‹ untergliedert, in denen Raum für weiterführende vergleichende Beobachtungen, für Betrachtungen der Zusammenhänge der Konstruktionsformen in den zuvor behandelten Kontexten und für Seitenbli4
Aufgrund der besonders umfangreichen Debatte und wegen der institutionellen Einbindung des Konstrukts in die städtebaulichen Regelwerke wird die Dichtekonstruktion im Kontext des Städtebaus in zwei Kapiteln behandelt.
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cke auf weitere Einflüsse aus benachbarten Wissensbereichen gegeben wird. Die sich aus diesem Aufbau ergebende Begriffs- und Gebrauchsgeschichte der ›Dichte‹ kann nicht als kontinuierliche Fortschrittshistorie unabhängig von den und über die Grenzen der Wissensordnungen hinweg konstruiert werden, sondern richtet sich an deren diskursiver Gesetzlichkeit und Regelhaftigkeit aus (vgl. dazu Gamper 2007, 19). Zudem ist der Bezug auf die Disziplinen nicht als starrer Rahmen angelegt, sondern flexibel ausgestaltet, damit Querschnittsdiskurse (etwa die Dichteverwendung in der Sozialstatistik oder in der ökologischen Debatte) berücksichtigt und damit gegebenenfalls (dort, wo es für den Argumentationsbogen erforderlich scheint) auch außerhalb der jeweiligen Disziplin stehende Positionen berücksichtigt werden können. Zeitlicher Ausgangspunkt der Betrachtungen ist (meist) das Aufkommen des expliziten Gebrauchs des Begriffs ›Dichte‹ im jeweiligen Kontext, wobei auch von dieser Regel einige (begründete) Ausnahmen gemacht werden. Die disziplinären Begriffsgeschichten werden dabei, je zentraler und durchgängiger sich der Stellenwert des Begriffs im jeweiligen Zusammenhang darstellt, phasenweise auch zu Disziplingeschichten (vor allem in den Kapiteln zum Städtebau). Der mit meiner Studie verfolgte Anspruch ist es, die für die disziplinären Diskurse maßgebenden Dichteverwendungen aufzuspüren und in eine historische und inhaltliche Abfolge zu stellen. Dabei kann und soll jedoch keine Vollständigkeit angestrebt werden. Es ist nicht beabsichtigt, sämtliche Dichteverwendungen der jeweiligen disziplinären Diskurse darzustellen und zu besprechen – ein solches Vorhaben würde den Rahmen der Untersuchung bei Weitem sprengen. Aus diesem Grund wird die (notwendige) Auswahl zu einem eigenständigen Teil der Forschungsarbeit. Die Auswahl der betrachteten Dichtebeiträge ist dabei insbesondere an zwei Kriterien orientiert: erstens an der Relevanz für die Gebrauchspraxis der ›Dichte‹ (etwa Ursprünge von neuen Ansätzen und Denkrichtungen beim Dichtegebrauch, Bedeutung der Dichtethematisierung im disziplinären Diskurs, neuartige Herangehensweisen beim Umgang mit dem Konstrukt), zweitens an der Relevanz für den epistemologischen Fortgang (etwa Prägung von neuen Forschungsansätzen und -bereichen, Bedeutung für nachfolgende Entwicklungsrichtungen). Der Rahmen des Projektes ist historisch und thematisch bewusst breit angelegt, da die angestrebte Gesamtbetrachtung eine solche Auffächerung erfordert. Neben der (eingangs vorgenommenen) Abgrenzung vom naturwissenschaftlichen Dichtebegriff gibt es jedoch noch zwei weitere Beschränkungen. Erstens beziehe ich meine Betrachtung auf die Dichtediskurse im deutschsprachigen Kontext. Wenn von einem relevanten Einfluss auf die deutschsprachige Debatte ausgegangen werden kann, werden allerdings auch Beiträge aus dem nicht deutschsprachigen Zusammenhang berücksichtigt. Zweitens
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ist mein Ansatz auf den expliziten Gebrauch von ›Dichte‹ ausgerichtet.5 Eine Ausweitung der Betrachtung auf verwandte Begriffe, also auf Ausdrücke wie ›Nähe‹, ›Enge‹ oder ›Urbanität‹ und ›Stadt‹, als deren Synonym ›Dichte‹ teilweise ausdrücklich bezeichnet wird (vgl. etwa Lampugnani 2004, 134; Siebel 2003, 4), würde einerseits zu einem nicht mehr bearbeitbaren Feld führen. Andererseits und vor allem wird der Fokus auf den Dichtegebrauch in seiner expliziten Form aber deshalb gewählt, weil der Begriff selbst eine sprachliche Repräsentation darstellt. Und genau diese Repräsentation ist das Thema meiner Untersuchung.
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Nur im zweiten Kapitel (beim sozialpsychologischen Kontext) werden mit dem Fokus auf die Begriffe ›Masse‹ und ›Distanz‹ zwei (dort) begründete Ausnahmen gemacht.
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Dichte, Stadt und Gesellschaft
1.1 D URKHEIMS D ICHTE Der erste kontextuelle Rahmen für meine Dichtebetrachtung wird von der Soziologie gebildet. Der Ursprung des Dichtegebrauchs in der Soziologie ist die Gesellschaftstheorie von Emile Durkheim (1858-1917), und die Einführung des Begriffs ist damit eng gekoppelt an die Entstehung der Soziologie als eigene wissenschaftliche Disziplin. Durkheim ist der erste Soziologe, der den Begriff ›Dichte‹ in eine umfassende Theorie einbindet (Spiegel 2004), und er hat den Begriff in seiner soziologischen Ausprägung dadurch nachhaltig bestimmt. In fast jeder soziologischen Abhandlung über ›Dichte‹ wird sich (mehr oder weniger direkt) auf das von Durkheim geprägte Dichteverständnis bezogen. Der Kontext von Durkheims Dichteverwendung, die Einbettung der Thesen zur ›Dichte‹ in seinem theoretischen Gesamtgebäude (aber auch die Rezeptionen der Durkheimschen Theorie und die daraus folgenden Ableitungen) sind zentrale Bestimmungsfaktoren des heute in der Soziologie gängigen Dichteverständnisses. Das Werk, in dem Durkheim1 den Begriff ›Dichte‹ einführt und in seine Theorie einbindet, ist seine Schrift Über soziale Arbeitsteilung (Durkheim 1992 [1893]).2 Durkheims Text ist zu einem Zeitpunkt geschrieben, zu
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Durkheim studierte in Paris Sozial- und Moralphilosophie, Psychologie und Jurisprudenz und war danach als Lehrer für Philosophie an verschiedenen Gymnasien in Frankreich tätig. Nach einem Studienaufenthalt (1885-86) in Berlin und Leipzig erhielt Durkheim in Bordeaux die erste Soziologiestelle einer französischen Universität überhaupt. Durkheims Schriften haben maßgeblich zur universitären Institutionalisierung der Soziologie in Frankreich beigetragen. 1902 ging Durkheim nach Paris an die Sorbonne, wo er 1906 einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft erhielt, der 1913 in ›Erziehungswissenschaft und Soziologie‹ umbenannt wurde. (Müller/Schmid 1992, 482f.)
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Die erste deutschsprachige Übersetzung erschien im Jahre 1977.
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dem sich die Industrialisierung in Europa auf dem Höhepunkt befindet, insbesondere in den mit großer Dynamik wachsenden Städten. Durkheim war Zeuge einer enormen Umwälzung der städtischen Strukturen in bis dorthin nicht gekanntem Ausmaße. Die enorme Zuwanderung in die Städte führte zu sozialen Verhältnissen, die von großer Not und Elend gekennzeichnet waren. Durkheim war allerdings kein Chronist des sozialen Elends, auch wenn ihm die Umwälzungen des 19. Jahrhunderts nicht verborgen geblieben sind. Durkheim registriert die enorme Wucht und die neue Qualität dieser Veränderungen, die »sich innerhalb sehr kurzer Zeit in der Struktur unserer Gesellschaften vollzogen [...] mit einer Geschwindigkeit und in einem Ausmaß [...] für welche die Geschichte kein anderes Beispiel bietet« (ebd. 479), hält sich jedoch nicht lange bei der Beschreibung der Lebensbedingungen in den Städten auf. Für ihn sind die Veränderungen lediglich Anzeichen einer evolutionären Entwicklung der Gesellschaft. Und genau das ist seine Grundannahme: Die Gesellschaft entwickelt sich, und zwar zum Guten. Durkheims Ausgangshaltung ist den Verhältnissen gegenüber grundsätzlich positiv, Durkheim war überzeugt davon, dass die Gesellschaft historisch voranschreitet. Sein Anliegen ist es zu ergründen, durch was dieser permanente Fortschritt ausgelöst wird, welche Faktoren dazu beitragen, und welches das ›soziale Band‹ ist, das die Gesellschaft zusammenhält. Durkheims zentrale These ist, dass ›Moral‹ und ›Solidarität‹ die für eine Gesellschaft lebensnotwendige Grundessenz sind und durch Arbeitsteilung hervorgerufen werden (beziehungsweise diese hervorrufen). Arbeitsteilung, so formuliert Durkheim, sei die Bedingung der Existenz unserer Gesellschaft. Seine Theorie ist, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung zum einen Voraussetzung für den Zusammenhalt von Gesellschaft und hauptsächliche Quelle der ›sozialen Solidarität‹ (ebd. 109), zum anderen aber auch deren Ergebnis ist. Die zentralen Bausteine in Durkheims Theorie sind die Begriffe ›Moral‹, ›Solidarität‹, ›Gesellschaft‹, ›Kollektivität‹, ›Individualismus‹ und ›Dichte‹. Durkheim bezieht sich mit seiner These von der ›sozialen Arbeitsteilung‹ vor allem auf den Diskurs in der Ökonomie, und hier insbesondere auf das Werk von Adam Smith (1723-1790) und dessen Lehre von den ökonomischen Vorteilen der Arbeitsteilung. Er kritisiert diese Theorie wegen ihrer rein ökonomischen und individualistischen Ausrichtung. Durkheims Ansatz ist es, eine allgemeine Gesellschaftstheorie aus der Kritik der bestehenden ökonomischen Theorie abzuleiten. Durkheim weitet den Begriff der Arbeitsteilung auf nicht-ökonomische Bereiche aus, verwendet ihn für die Erklärung der in den Mittelpunkt rückenden sozialen Tatsachen und erhält im Ergebnis seinen soziologischen Theorieansatz. Er übernimmt die Theorie der Ökonomie, kritisiert sie und erweitert sie auf die gesamte Gesellschaft (Luhmann 1992, 22).
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Am Anfang von Durkheims Theorieaufbau steht die ›Moral‹. Moral konstruiert Durkheim als gegebenes Phänomen, das sich aus »empirischen Gründen« bildet und verändert. Prämisse in diesem Ansatz ist die Existenz eines gesellschaftlichen Zustandes »moralischer Gesundheit«, auch wenn dieser »Zustand nirgends vollkommen realisiert« sei (Durkheim 1992, 78). Durkheims Ziel ist es dabei nicht nur, die Bedingungen und Funktionsweise des moralischen Lebens zu erklären, sondern auch, die weitere Entwicklung der Gesellschaft vorherzusagen und Verbesserungsvorschläge aus seiner gesellschaftlichen Analyse abzuleiten. Durkheim hat ein »positives Verhältnis zur Gesellschaft und eine optimistische Grundstimmung in bezug auf ihre Zukunft«, und daher gibt es bei Durkheim auch keine Unmoral, höchstens Unvollkommenheit (Luhmann 1992, 27). Eng verbunden mit dem Begriff ›Moral‹ ist der Begriff ›Solidarität‹, teilweise werden von Durkheim beide Begriffe kongruent gebraucht. ›Solidarität‹, genauer ›soziale Solidarität‹, ist das, was die Gesellschaft zusammen hält. Durkheim schreibt, ›soziale Solidarität‹ sei eine moralische, aber nicht direkt beobachtbare Tatsache. Dennoch erzeuge sie (dort wo sie existiert) durch ihre Gegenwart fühlbare Wirkung: Wo sie stark sei, so formuliert Durkheim und bereitet damit die Einbindung des Begriffs ›Dichte‹ in seine Theorie vor, dränge die ›Solidarität‹ »Menschen stark zueinander«, bringe sie »oft in Berührung« und vervielfache die Gelegenheiten »miteinander in Beziehung zu treten« (Durkheim 1992, 111). Die ›soziale Solidarität‹ gliedert Durkheim in die Begriffe ›mechanische Solidarität‹ und ›organische Solidarität‹. Die ›mechanische Solidarität‹ wird von Durkheim als Merkmal konstruiert, das »einer gewissen Anzahl von Bewußtseinszuständen allen Mitgliedern einer und derselben Gesellschaft gemeinsam ist« (ebd. 160). Für Durkheim ist die ›mechanische Solidarität‹ die Solidarität, die in einfach strukturierten Gesellschaften am stärksten ausgeprägt ist. Sie ist dort das ›soziale Band‹, welches die einfache Stammesgesellschaft (ausgestattet mit dem gleichen Ziel all ihrer Mitglieder und mit »kollektivem Bewusstsein«) zusammenhält. Die ›mechanische Solidarität‹, so baut Durkheim seine Theorie weiter aus, wird im Laufe der historischen gesellschaftlichen Entwicklung immer schwächer, daher müsse sich »entweder das eigentliche soziale Leben vermindern, oder eine andere Solidarität« nach und nach »an die Stelle derer treten, die im Begriff ist, sich aufzulösen«. Der soziale Fortschritt bestehe jedoch nicht aus einer stetigen Auflösung, »im Gegenteil, je mehr man fortschreite, desto mehr gewännen die Gesellschaften ein tiefes Gefühl ihrer selbst und ihrer Einheit«. Es müsse daher ein anderes ›soziales Band‹ geben, das dieses Ergebnis nach sich zieht. Als dieses andere Band bezeichnet Durkheim die ›organische Solidarität‹. Merkmal der ›organischen Solidarität‹ sei, dass »jedes Organ« seine eigene Physiognomie und seine Autonomie habe. Trotzdem sei die Einheit des Organismus umso größer, »je stärker die Individualisierung der Teile
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ausgeprägt ist« (ebd. 183). Durkheims These ist es, dass ›organische Solidarität‹ einem ›individuellen Bewußtsein‹ entspricht, ›mechanische Solidarität‹ dagegen dem ›Kollektivbewusstsein‹. Das ›Kollektivbewusstsein‹ nehme, so Durkheim, beim evolutionären Voranschreiten der gesellschaftlichen Entwicklung ab, und verändere sich in ein gemeinsames Bewusstsein »aus sehr allgemeinen und sehr unbestimmten Denk- und Empfindungsweisen, die Platz schaffen für eine ständig wachsende Vielfalt von individuellen Meinungsverschiedenheiten« (ebd. 227). Die ›organische Solidarität‹ ist somit als ›soziales Band‹ der Individualität konstruiert und steht für eine höhere Entwicklungsstufe von Individuum respektive Gesellschaft. Die ›organische Solidarität‹ ergibt den arbeitsteiligen, modernen Gesellschaftstypen und ist selbst Ergebnis der Arbeitsteilung, also Frucht der gesellschaftlichen Entwicklung. Den Begriff ›Dichte‹ verwendet Durkheim im Rahmen seiner umfangreichen Auseinandersetzung mit den Ursachen des Entstehens der ›organischen Solidarität‹ (respektive der ›sozialen Arbeitsteilung‹ respektive des ›gesellschaftlichen Fortschritts‹). Die »entscheidenden Ursachen der sozialen Evolution«, so führt Durkheim aus, fänden sich nicht im Individuum, »sondern in dem es umgebenden Milieu«, die Variationen, die dort entständen, erzeugten die »Veränderungen, durch die die Gesellschaften und die Individuen gehen« (ebd. 308). Die sozialen Segmente der ursprünglichen Gesellschaft verlören an Individualität, die Wände, die sie trennten, würden durchlässiger, es erscheine »ein enger Kontakt, als dessen Folge es der sozialen Materie freisteht, in neue Verbindungen einzutreten«. Folglich entstehe eine Annäherung zwischen den zuvor getrennten Individuen, ein Bewegungsaustausch zwischen den Teilen der ›sozialen Masse‹, die sich bis dahin nicht gegenseitig beeinflusst hatten. Die Folge seien »moralische Leerräume« zwischen den verschiedenen Segmenten, die sich durch Kontakte zwischen den Individuen auffüllten, wodurch die sozialen Beziehungen zahlreicher würden und die Arbeitsteilung voran schreite (ebd. 314). In diesem Kontext führt Durkheim die Begriffe ›moralische‹ und ›materielle Dichte‹ ein: »Die Arbeitsteilung schreitet also um so mehr fort, je mehr Individuen es gibt, die in genügend nahem Kontakt zueinander stehen, um wechselseitig aufeinander wirken zu können. Wenn wir übereinkommen, diese Annäherung und den daraus resultierenden aktiven Verkehr dynamische oder moralische Dichte zu nennen, dann können wir sagen, daß der Fortschritt der Arbeitsteilung in direkter Beziehung zur ›moralischen‹ oder ›dynamischen Dichte‹ der Gesellschaft steht« (ebd. 315). Mit dem Begriff ›moralische (bzw. dynamische) Dichte‹ bezeichnet Durkheim die wechselseitige Wirkung der Individuen, den aktiven Kontakt zwischen ihnen. Es geht dabei nicht nur um die räumliche Annäherung, und auch nicht nur um Kontakt und Kommunikation, sondern wörtlich um die moralische
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Annäherung der Menschen. Die ›moralische Dichte‹ ist die ›Dichte der Gesellschaft‹ und ein Gradmesser ihres Entwicklungsstandes auf ihrem Weg zur Gesellschaft der Arbeitsteilung. Durkheims Formel lautet: je höher die ›moralische Dichte‹, desto höher der Grad der Arbeitsteilung, desto höher der Entwicklungsstand der Gesellschaft. Neben die ›moralische Dichte‹ stellt Durkheim mit der ›materiellen Dichte‹ einen zweiten Dichtebegriff. Mit ›materieller Dichte‹ bezeichnet Durkheim sowohl die ›bauliche Dichte‹ der Städte als auch ihre Einwohnerdichte. Die ›materielle Dichte‹ ist das, was geschieht, sie ist Inbegriff der beobachtbaren Urbanisierung.3 Durkheim implementiert die ›materielle Dichte‹, da die ›moralische Dichte‹ als Gradmesser des gesellschaftlichen Entwicklungsstandes kaum messbar ist. »Da dieses sichtbare und meßbare Symbol die Variationen widerspiegelt, die wir die ›moralische Dichte‹ genannt haben, können wir es in der von uns vorgeschlagenen Formel an deren Stelle setzen« (ebd. 318). ›Moralische‹ und ›materielle Dichte‹ sind nach Durkheim also zwar zwei unterschiedliche Dinge, verhalten sich jedoch gleichförmig in ihrer Ausformung. Dadurch gelingt Durkheim der entscheidende Gedankenschritt, nämlich das Soziale durch etwas Materielles sichtbar zu machen. Dem abstrakten, schwer fassbaren Begriff der ›moralischen Dichte‹ wird mit der ›materiellen Dichte‹ ein der empirischen Betrachtung zugänglicher konkreter Dichtebegriff zur Seite gestellt, der es erlaubt, Moral und Solidarität zu quantifizieren. Damit kann Durkheim seine Formel von der gesellschaftlichen Entwicklung erweitern: je höher die ›materielle Dichte‹, desto höher ist die ›moralische Dichte‹ und desto weiter entwickelt ist die Gesellschaft.4 3
Als Quelle seiner Dichtetheorie nennt Durkheim den französischen Philosophen Auguste Comte (1798-1857). Schon Comte formulierte, dass eine Verdichtung »unmittelbar und sehr machtvoll zur schnelleren Entwicklung der sozialen Evolution« ansporne, und zwar entweder, »indem sie die einzelnen antreibt, neue Anstrengungen zu wagen, um sich durch raffiniertere Mittel eine Existenz zu sichern, die sonst auf diese Weise schwieriger werden würde«, oder auch »indem sie die Gesellschaft nötigt, mit einer hartnäckigeren und einheitlicheren Energie zu reagieren, um gegen die mächtigere Entfaltung der Sonderbestrebungen genügend anzukämpfen«. In beiden Fällen sehe man, dass es sich »nicht um die absolute Erhöhung der Zahl der Individuen« handele, sondern »um die ihres intensiveren Zusammenströmens auf einem gegebenen Raum« (Comte, zitiert nach Durkheim 1992, 321).
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Durkheim vermerkt, dass es Sonderfälle gäbe, in denen die ›materielle‹ und die ›moralische Dichte‹ »ausnahmsweise vielleicht nicht ganz parallel laufen« (ebd. 318). Solch ein Sonderfall sei das zeitgenössische England, wo sich im 19. Jahrhundert die ökonomische Arbeitsteilung zwar durchaus entwickelt habe, der
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Durkheim verbleibt bei seinen Thesen zum Zusammenhang zwischen ›moralischer‹ und ›materieller Dichte‹ jedoch nicht auf der deskriptiven Ebene. Mit der ›materiellen Dichte‹, so Durkheim, könne die ›moralische Dichte‹ nicht nur gemessen werden, die ›moralische Dichte‹ wäre auch Bedingung für ein Anwachsen der materiellen Dichte. Der Zusammenhang von ›moralischer Dichte‹ zu ›materieller Dichte‹ besteht hier also nicht nur darin, dass die ›materielle‹ die ›moralische Dichte‹ messbar macht, Durkheim konstruiert vielmehr auch eine eindeutige Kausalität zwischen den beiden Dichten. Die ›moralische Dichte‹ nämlich, so formuliert Durkheim, könne nicht stärker werden, ohne dass gleichzeitig die ›materielle Dichte‹ zunähme, ›materielle Dichte‹ sei also Voraussetzung der ›moralischen Dichte‹. Die ›moralische Dichte‹ könne ihre Wirkung nur entfalten, wenn der »wirkliche Abstand zwischen den Individuen immer geringer geworden« sei, »auf welche Weise das auch geschehen mag« (ebd. 315). ›Materielle Dichte‹ steht damit am Beginn von Durkheims Kausalkette. Seine These ist die von einem im Grunde recht einfachen Wirkungszusammenhang: Die Gesellschaft wird materiell dichter (mehr Bauten, mehr Menschen), deshalb wird sie moralisch dichter (es entsteht die ›organische Solidarität‹), und deshalb nimmt die soziale Arbeitsteilung zu: »Wir können also die folgende Aussage formulieren: Die Arbeitsteilung ändert sich im direkten Verhältnis zum Volumen und zur Dichte der Gesellschaften; wenn sie also im Lauf der sozialen Entwicklung ständig fortschreitet, so deshalb, weil die Gesellschaften regelmäßig dichter und ganz allgemein umfangreicher geworden sind« (ebd. 321, Hervorhebung im Original). Als einen zweiten Faktor für die Entwicklung der Arbeitsteilung konstruiert Durkheim damit die Größe (das Volumen). Die sozialen Beziehungen würden noch zahlreicher, wenn »außerdem die Gesamtzahl der Mitglieder der Gesellschaft beträchtlicher« werde. Wenn die Gesellschaft mehr Individuen umfasse, die »zu gleicher Zeit in engerem Kontakt zueinander stehen«, verstärke sich der Effekt notwendigerweise. Das soziale Volumen ha»Rang, der einer Gesellschaft auf der sozialen Leiter nach Maßgabe ihres Zivilisationsstandes zukommt« (ebd. 343) dagegen (noch) ein geringer sei. Durkheim erklärt dieses Phänomen mit der Fähigkeit des Verstandes (analog der Ökonomie), die Errungenschaften der Zivilisation zu kopieren, ohne deren Tiefgang selbst zu erreichen. Durkheim betont damit die seinem Werk zugrunde liegende Grundannahme, dass das Soziale dem Ökonomischen moralisch weit überlegen sei. Und er nutzt die Darstellung dieses Sonderfalls, um nochmals das ansonsten gültige Verhältnis der beiden Dichten zu unterstreichen: »Der Fall ist zwar eine Ausnahme, aber er kommt vor. Nur unter diesen Umständen drückt die materielle Dichte der Gesellschaft den Stand der moralischen Dichte nicht genau aus« (ebd.).
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be also auf die Arbeitsteilung »denselben Einfluß wie die Dichte« (ebd. 319). Durkheim unterstreicht, dass erst das Zusammenspiel beider Faktoren Größe und ›Dichte‹ die Gesellschaft voranschreiten lasse. Größe allein, sagt Durkheim mit Hinweis auf Russland und China, führe nicht zum gesellschaftlichen Fortschritt. »Die Zunahme des Volumens ist in der Tat nicht notwendigerweise ein Zeichen von Höherwertigkeit, wenn sich die Dichte nicht zu gleicher Zeit und im gleichen Verhältnis verstärkt« (ebd. 320). Durkheim konstruiert den Zusammenhang von ›Dichte‹ und Größe als Beobachtung, erklären kann er den Zusammenhang nicht und meldet weiteren Forschungsbedarf an. »Man müßte nur noch wissen, warum die Dichte im Allgemeinen gleichzeitig mit dem Volumen wächst. Das ist eine Frage, die wir stellen« (ebd. 364). Explizit diskutiert Durkheim auch den Unterschied der beiden Begriffe ›Bedingung‹ und ›Ursache‹: »Wir sagen nicht, daß das Wachstum und die Verdichtung der Gesellschaft eine größere Arbeitsteilung erlauben, wir sagen, daß sie sie zwangsläufig hervorrufen. Jene Faktoren sind kein Instrument, mit dem sich die Arbeitsteilung verwirklicht; sie sind deren bestimmende Ursache« (ebd.).5 Das kausale Verhältnis, ›moralische‹ und ›materielle Dichte‹ bewirkt Arbeitsteilung, gilt nach Durkheim auch umgekehrt. »Wenn sich die Gesellschaft verdichtet und damit die Entwicklung der Arbeitsteilung bestimmt, so erhöht diese ihrerseits die Verdichtung der Gesellschaft. Das sei aber »nicht wichtig«, da die Arbeitsteilung die »abgeleitete 5
Durkheim vertieft diese These mit dem Argument, dass durch die Verdichtung der Konkurrenzkampf in der Gesellschaft erhöht werde. Wenn sich die Arbeit in dem Maß immer wieder teile, »in dem die Gesellschaften umfangreicher und dichter werden«, so geschähe dies nicht, weil die »äußeren Umstände mannigfaltiger« seien, sondern weil »der Überlebenskampf hitziger« werde (ebd. 325). Wenn die Konkurrenz isolierte und fremde Individuen miteinander konfrontiere, so führt Durkheim weiter aus, trenne sie sie zwangsläufig noch mehr. Wenn die Individuen frei über den Raum verfügen könnten, dann »fliehen sie sich«. Könnten sie bestimmte Grenzen nicht überschreiten, so würden sie sich differenzieren, aber derart, dass »sie noch unabhängiger voneinander« würden (ebd. 335). ›Dichte‹ führt nach Durkheim also zu Konkurrenz und Heterogenität und damit zu vermehrter Arbeitsteilung. So sei es nicht nur »im Inneren jeder Stadt, sondern in der ganzen Gesellschaft«. Verschieden lokalisierte, aber ähnliche Berufe machten sich umso heftiger Konkurrenz, je ähnlicher sie einander seien, sofern die Kommunikations- und Transportschwierigkeiten ihren Handlungsspielraum nicht einengten. Dies vorausgesetzt, sei es leicht zu verstehen, dass »jede Verdichtung der sozialen Masse, besonders wenn sie von einer Zunahme der Bevölkerung begleitet ist, notwendigerweise die Fortschritte der Arbeitsteilung bestimmt« (ebd. 327).
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Tatsache« bliebe, und sie folglich ihre Fortschritte »den parallelen Fortschritten der sozialen Dichte« verdanke, welches auch immer »die Ursachen für diese letzteren sein mögen« (ebd. 318). Die Konstruktion von gegenseitig wirksamen Wechselbeziehungen ist für Durkheims Ansatz symptomatisch. Das eine verursacht das andere, dieses hat wiederum ersteres zur Folge. Ob Moral, Solidarität, Arbeitsteilung, Individualität, Kollektivität, ›moralische Dichte‹ oder ›materielle Dichte‹ – alles ist Ursache, alles ist Wirkung, und alles trägt zum evolutionären Voranschreiten der Gesellschaft bei. Durkheims Spezialdisziplin ist der selbstreferentielle Theorieaufbau (vgl. Luhmann 1992). Mit der ›sozialen Dichte‹ gibt es in Durkheims Theorie – neben der ›moralischen‹ und der ›materiellen Dichte‹ – einen dritten Dichtebegriff, auf den besonderes Augenmerk zu legen ist, da er in der heutigen Diskussion (im Vergleich zu den beiden anderen Ausdrücken) eine weitaus größere Rolle spielt. Von Durkheim wird ›soziale Dichte‹ analog dem Begriff »Verdichtung der Gesellschaft« (la condensation de la société) wörtlich als gesellschaftliche Dichte verwendet. Aufgrund des skizzierten engen Zusammenhangs von Moral und Gesellschaft in Durkheims Theoriegebäude ist ›soziale Dichte‹ ein Synonym von ›moralischer‹ und ›dynamischer Dichte‹, wohingegen die ›materielle Dichte‹ zwar die ›moralische Dichte‹ bedingt und auch gleiche Auswirkungen zeitigt, aber im Kern doch etwas anderes ist. Durkheim setzt dabei nicht (wie in der zeitgenössischen Stadtsoziologie) ›soziale Dichte‹ mit Kommunikationsdichte gleich, sondern erklärt die Zunahme der letzteren nur als eine Bedingung der ersteren: Die Bevölkerungsbewegungen würden zahlreicher und rascher, und es entständen Kommunikationswege als »sich überkreuzende Durchlässe«, denen diese Bewegungen folgten. Solche Durchlässe seien dort am aktivsten, wo sich mehrere Wege kreuzten (in den Städten), und so wachse die ›soziale Dichte‹ (Durkheim 1992, 404). Auch bei einer Reflexion über den Unterschied zwischen Tier und Mensch verwendet Durkheim den Begriff ›soziale Dichte‹. Die Menschen, so Durkheim, entledigten sich im Gegensatz zu den Tieren immer mehr dem »Joch des Organismus«. Das Tier sei und bleibe Organismus, während der Mensch von »sozialen Ursachen« abhänge (ebd. 410). Menschliche Gesellschaften unterschieden sich von den tierischen Gesellschaften insbesondere durch die Existenz von »nicht in ihrem Gewebe eingeschriebenen« Glaubensüberzeugungen und Praktiken. Diese Eigenschaft würden in dem Maß immer deutlicher, in dem »die soziale Materie und Dichte größer« würden. Je mehr Menschen sich assoziierten, und je mehr sie aufeinander reagierten, umso mehr überschreite das Ergebnis dieser Reaktionen den Organismus (ebd. 411). Hier wird zum einen die These, dass zunehmende ›Dichte‹ die Ursache für fortschreitende Gesellschaft sei, wiederholt und ausgeführt, zum anderen lässt sich gut erkennen, was Durk-
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heim unter ›sozialer Dichte‹ versteht: Menschen kommunizieren nicht nur, sie assoziieren sich und reagieren aufeinander. Die Prämisse Durkheims lautet, dass Kontakte ›Moral‹ generieren. ›Soziale Dichte‹ und ›moralische Dichte‹ sind bei Durkheim im Grunde ein und dasselbe. Auch der Zusammenhang zwischen ›Dichte‹ und ›Zivilisation‹ wird von Durkheim thematisiert. Die Zivilisation sei »nicht der Pol, auf den hin sich die historische Entwicklung« ausrichte und dem sich die Menschen zu nähern versuchten, um »glücklicher oder besser zu sein«. Die Menschen würden vielmehr deshalb voranschreiten, »weil sie es müssen«, und was die Geschwindigkeit dieses Voranschreitens bestimme, sei der mehr oder weniger starke Druck, den die Individuen aufeinander ausüben, »je nachdem ob sie zahlreicher oder weniger zahlreich sind« (ebd. 402f.). Die Gesellschaft, so Durkheim weiter, sei also eine getriebene, sie schreite zwar unaufhörlich voran, aber nicht, weil die Menschen sich dieses Ziel setzten, sondern weil sie nicht anders könnten. Derartig gedrängt werde die Gesellschaft durch ›Dichte‹ und Größe. Mit der Bestimmung der »Hauptursache der Fortschritte der Arbeitsteilung« sei zugleich der »Hauptfaktor dessen bestimmt, was man Zivilisation nennt«. Die Zivilisation selbst sei eine notwendige Folge der Veränderungen, die im Volumen und in der ›Dichte der Gesellschaft‹ entstünden. Wenn die Wissenschaft, die Kunst und die Wirtschaftstätigkeit sich entwickelten, so aufgrund einer den Menschen auferlegten Notwendigkeit, weil es für sie keine andere Möglichkeit gäbe, unter den neuen Bedingungen zu leben, denen sie ausgeliefert sind. Von dem Augenblick an, da die Zahl der Individuen, zwischen denen sich soziale Beziehungen ausgebildet haben, bedeutender sei, könnten sie sich nur erhalten, wenn sie sich weiter spezialisierten, mehr arbeiteten und ihre Fähigkeiten intensivierten. Die Schubkraft dieser Entwicklung entstehe dabei nicht durch die Individuen selbst. Wenn man von jedem Individuum all das abziehe, was es der Wirkung der Gesellschaft verdanke, so sei der Rest nicht nur recht gering, sondern könne »auch keine große Verschiedenartigkeit« aufweisen. Man dürfe, so folgert Durkheim, also nicht in den unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen die Ursache für die ungleiche Entwicklung der Gesellschaften suchen, sondern es bleibe kein anderer veränderlicher Faktor übrig, »als die Zahl der untereinander in Beziehung stehenden Individuen und ihre materielle und moralische Nähe, d.h. das Volumen und die Dichte der Gesellschaft«. Je zahlreicher die Menschen seien und je mehr sie aus der Nähe aufeinander einwirkten, desto kräftiger und rascher würden sie aufeinander reagieren, und desto intensiver werde folglich das soziale Leben. Genau aus dieser Intensivierung aber bestehe die Zivilisation (ebd. 404). Durkheim verwendet ›Dichte‹ hier weiterhin als kausalen Faktor, und seine Metaerzählung ist an dieser Stelle stark sozialdarwinistisch gefärbt: Nicht der freie Wille drängt den Menschen zum Fortschritt, sondern die Natur selbst. In-
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strument, Ursache, Erscheinungsform dieses unvermeidlichen Fortschrittes ist dabei die Dichte. Die Themen ›Stadt‹ und ›Verstädterung‹ bilden einen weiteren Schwerpunkt in Durkheims Theorie, und auch hier spielen die ›materielle‹ und ›moralische Dichte‹ eine wesentliche Rolle. Durkheim identifiziert dabei drei prinzipielle Weisen der »zunehmenden Verdichtung der Gesellschaften«, mithin die drei Bausteine, aus denen Durkheim die ›materielle Dichte‹ konstruiert. Zum einen sei das die »Konzentration der Bevölkerung«, mithin ein Prozess, der von der Nomaden- und Hirtengesellschaft (verstreut über die größtmögliche Fläche), über die frühe Stadtbildung bis hin zur enormen Verdichtung in den Städten beobachtbar sei (ebd. 316). Zweitens nennt Durkheim die »Bildung der Städte« selbst, die »immer das Ergebnis des Bedürfnisses der Individuen« sei, untereinander »in so engen Kontakt zu bleiben, wie dies möglich« wäre. Die Städte seien die Orte, wo sich die soziale Masse stärker zusammenziehe als anderswo (ebd.). Das dritte Verdichtungsprinzip, so Durkheim weiter, sei der »Ausbau der Kommunikations- und Verkehrswege«. Indem die Leerräume, die die sozialen Segmente trennten, überbrückt und verringert würden, vergrößere sich »die Dichte der Gesellschaft« (ebd. 318). Nur wenn auch die ›moralische Dichte‹ zunimmt, so entwickelt Durkheim seine Stadttheorie weiter, könnten Städte sich ausdehnen. Solange die soziale Organisation »wesentlich segmentär« sei, existiere noch keine Stadt. Die »Abschwächung des Kollektivbewußtseins« sei dabei der entscheidende Auslöser. Die ursprüngliche Gesellschaft, die Gesellschaft der Stämme und Familienklans, beruhe auf der Autorität der Tradition, die sich wiederum nur aufgrund der segmentären, voneinander weitgehend abgeschlossenen Gesellschaften erhalten könne. Die »Seltenheit der Verbindungs- und Kommunikationswege« könne als ein Beweis für die wechselseitige Isolierung aller Segmente gelten (ebd. 353). Dieser Zustand, so argumentiert Durkheim, ändere sich bei der Fortentwicklung der Gesellschaft, und zwar durch die Verstädterung. Die Kinder blieben nicht mehr unbeweglich an das Land ihrer Eltern gebunden, sondern suchten ihr Glück in allen Richtungen. Die Bevölkerung vermische sich, und damit verlören die Menschen schließlich ihre ursprünglichen Verschiedenheiten. Folge sei die Entstehung und Entwicklung der Städte (ebd. 354). Durkheims – an dieser Stelle durchaus aktuell anmutende – Stadttheorie beruht auf drei soziologischen Argumenten. Erstens verlören die traditionellen Werte und Zusammenhalte mit der Zuwanderung an Bedeutung und führten dadurch zu erhöhter Mobilität. Genau die »größere Beweglichkeit der sozialen Einheiten, die diese Wanderungsphänomene voraussetzen«, habe aber eine Schwächung aller Traditionen zur Folge (ebd. 355). Durkheim leitet aus der registrierten Verstädterung die Ursache für die Schwächung des ›Kollektivbewusstseins‹ und die Auflösung der segmentä-
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ren Gesellschaftsstrukturen ab. Zweitens würden die Träger der traditionellen Werte durch die Abwanderung der Jungen vom Land in die Städte an Einfluss verlieren. Die Jungen verließen ihre ländliche Heimat, wanderten in die Städte und entzögen sich dadurch der »Wirkung der Alten« (ebd. 357). In den großen Städten sei also der »mäßigende Einfluß des Alters« am geringsten. Zu gleicher Zeit könne man feststellen, dass die Überlieferungen nirgendwo eine geringere Macht über die Geister hätten, weswegen die großen Städte die »Zentren des Fortschritts« darstellten (ebd. 358). Drittens sei ein Kontrollverlust der Gesellschaft bezogen auf den Einzeln festzustellen. Im Gegensatz zu den traditionellen Gesellschaften, in denen eine klar definierte Macht die überschaubare Zahl der Gesellschaftsteile direkt kontrollierte, sei der entsprechende Mechanismus in der weiterentwickelten Gesellschaft (in den großen Städten) komplexer und komplizierter. In dem Maß, in dem sich die Gesellschaft ausweite und konzentriere, umschließe sie das Individuum »weniger eng« und könne folglich »die auseinanderstrebenden Tendenzen, die nun auftauchen, weniger gut bändigen« (ebd. 360f.). Die Überwachung (Kontrolle erfordert Überwachung) nämlich sei schon aufgrund der großen Anzahl nicht mehr so punktgenau möglich. Zum anderen fehle die »Triebfeder der Aufmerksamkeit, nämlich das Interesse, mehr oder weniger ganz«. Und zwar einfach aus dem Grunde, dass die Anzahl derjenigen, die einem täglich begegnen, zu groß und unübersichtlich geworden sei. Die »kollektive Neugier« sei also umso lebhafter, je beständiger und häufiger die persönlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Individuen seien. Andrerseits sei klar, dass sie umso seltener und umso kürzer seien, je größer die Anzahl jener werde, mit denen ein jedes Individuum in Beziehung trete. Überall, wo »die Dichte der Agglomeration in Beziehung zu deren Volumen« stehe, seien die persönlichen Bindungen selten und schwach. Man verliere die anderen leichter aus den Augen, selbst die, »die uns ganz eng umgeben«. Da die gegenseitige Gleichgültigkeit die Wirkung habe, die kollektive Überwachung zu lockern, weite sich die Sphäre freien Handelns eines jeden Individuums faktisch aus (ebd.). Durkheim argumentiert also, dass die dichte Großstadt zur Gleichgültigkeit des Einzelnen führe und diese wiederum der Stärkung der Individualität förderlich sei. In seinem Werk ›über soziale Arbeitsteilung‹ bindet Durkheim das Konstrukt ›Dichte‹ also nicht nur in seine Gesellschaftstheorie ein, er nimmt auch eine ausführliche Theoriebildung zum Begriff selbst vor. Durkheim gilt heute als einer der Gründerväter der Soziologie, seine Themen – das Fortschreiten der Gesellschaft, die Entstehung der Zivilisation – haben ihn zu einem Klassiker der allgemeinen Soziologie gemacht. Der Begriff ›Dichte‹ hat in Durkheims Theorie der sozialen Arbeitsteilung einen zentralen Stellenwert, ›Dichte‹ wurde somit – schon durch die nachfolgende Rezeption und Auseinandersetzung mit Durkheim – allgemein zu einem wichtigen
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Begriff der Soziologie. Zentrale Aspekte in Durkheims Dichtetheorie sind dabei erstens die Unterscheidung in ›moralische‹ (›dynamische‹, ›soziale‹) ›Dichte‹ auf der einen, in ›materielle Dichte‹ auf der anderen Seite, zweitens die Konstruktion der ›materiellen Dichte‹ als empirisch zugängliche Entsprechung der ›moralischen Dichte‹ und drittens die These von einer wechselseitigen Kausalität beider Ausformungen. In der heutigen Rezeption von Durkheims Werk ›über soziale Arbeitsteilung‹ wird festgestellt, dass Durkheim sich von der ökonomischen Theorie eines Adam Smith und von der marxistischen Theorie der Entfremdung durch Arbeitsteilung nicht nur abgrenzt, sondern sie (insbesondere die Theorie über die strukturellen Auswirkungen des Geldwesens von Karl Marx) komplett ausblendet (Müller/Schmid 1992, 481ff.). Auch wenn man die »Überspitzung der Marxschen Theorie« nicht teile und nicht von einer »zentralen Asymmetrie der ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen« ausgehe, so Niklas Luhmann, bleibe das andere Extrem ebenso bedenklich, nämlich ganz außer Acht zu lassen, dass »die Vermittlung praktisch aller relevanten Arbeit durch Geld und die weitgehende Ersetzung moralgebundener Interaktion durch organisations- und / oder preisgebundene Interaktion« die gesellschaftliche Realität auch schon zu Durkheims Zeiten darstellten (Luhmann 1992, 35). Besonders auffallend sei diese Auslassung in einer Theorie, »die das Verhältnis von Arbeitsteilung und Moral zum Thema hat« (ebd.). Aus diesem Grunde bestehen für Durkheim auch keine grundlegenden Antagonismen innerhalb der Gesellschaft (Hauck 1993, 106). Weiter wird in der Rezeption von Durkheims erstem Hauptwerk betont, dass besonders dessen »kausaler Teil« erhebliche Probleme aufweise. Hier werde deutlich, wie der »Drang und das Bedürfnis nach Originalität und Überwindung der traditionellen Diskussionslage« ins theoretische Abseits führten (Müller/Schmid 1992, 485). Kritisiert wird dabei die kausale Variablenreihe »Bevölkerungswachstum und Dichte – Lebenskampf – Arbeitsteilung«, da der Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Arbeitsteilung komplexer sei als von Durkheim vermutet.6 Luhmann erklärt Durkheims Gebrauch von ›Dichte‹ als notwendigen Versuch, eine Lösung für das Problem des Startmechanismus von gesellschaftlicher Entwicklung (beziehungsweise Arbeitsteilung) zu finden. Luhmann erläutert, dass die notwendigen Startmechanismen von Durkheims Theorie Größenverände6
Bevölkerungsbewegungen nämlich, so Müller und Schmid, seien keineswegs der einzige Bestimmungsfaktor für die Erweiterung der Arbeitsteilung, eine mindestens ebenso große Rolle spielten ökonomische Strukturen und die technologische Entwicklung (vgl. auch Kapitel 4). Generell gesehen müsse Durkheims Versuch als »recht naiv« gelten, immer nur genau eine Ursache für jede Wirkung zu identifizieren (Müller/Schmid 1992, 519).
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rungen von außen seien, also »demographische Veränderungen, Kommunikationsverdichtungen und Stadtbildung« (das, was Durkheim als ›materielle Dichte‹ bezeichnet). Damit versuche Durkheim zu verhindern, dass eine Evolutionstheorie entsteht, die Evolution als einen »selbstreferentiellen« Prozess beschreibt, der sich die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit selbst aufbaut (Luhmann 1992, 33). Luhmann bemerkt, dass Durkheim damit ein »komplextheoretisches Argument« gelänge: Größenzunahme verhindere den Kontakt von jedem mit jedem, was wiederum zur Rezession derjenigen Form von Solidarität führe, die auf Gleichheit basiert, und das wiederum schaffe einen Freiraum für die Ausnutzung der Vorteile der Arbeitsteilung (ebd.). Mit dem Rückgriff auf ›Dichte‹ würde Durkheim die Form eines sich selbst erklärenden Konzepts (Arbeitsteilung erklärt Arbeitsteilung oder: Entwicklung ist zunehmende Differenzierung) zu vermeiden suchen. Aus der systemtheoretischen Perspektive ist Durkheims ›Dichte‹ also ein aus einem Erklärungsnotstand geborenes Ersatzmittel. ›Dichte‹ ist bei Durkheim damit als kausaler Nexus zwischen BaulichRäumlichem und Sozialem angelegt. Das Entstehen der ›materiellen Dichte‹ ist als »natürlicher« Prozess konstruiert und damit Bestandteil von Durkheims in seinem Frühwerk eingenommenen sozialdarwinistischen Perspektive.7 Nach Durkheim gibt es natürliche, nicht menschlich beeinflussbare Abläufe, die »automatisch« die gesellschaftliche Fortentwicklung begründen. Die »explizite Anwendung der Darwinistischen Prinzipien auf die Analyse funktionaler Differenzierung in menschlichen Gesellschaften« ist das Hauptmerkmal, das spätere Stadtsoziologen aus Durkheims Werk übernommen haben (Saunders 1986, 51). Auf der anderen Seite – und nicht widerspruchsfrei zu diesem sozialdarwinistischen Weltbild – leitet Durkheim aus der grundlegenden Prämisse, dass das Soziale über das Ökonomische dominiere, eine Art moderate Kapitalismuskritik ab, die staatliches Handeln legitimiert und einfordert. Durkheim spricht vom »traurigen Schauspiel«, welches die ökonomische Welt biete (Durkheim 1992, 43) und plädiert lei7
Durkheim kommt bei dem Versuch, die Arbeitsteilung aus dem rein ökonomischen Bereich heraus zu lösen, zu teilweise grotesken Thesen. So philosophiert er etwa seitenlang über die Arbeitsteilung in der Ehe und behauptet, dass das Gehirnvolumen von Frauen bei fortschreitender Zivilisation kontinuierlich abnehmen würde. Deshalb, so folgert Durkheim, sei Politik und Wissenschaft dem männlichen Geschlecht vorbehalten, für Frauen könne in der Gesellschaft bestenfalls in der Kunst ein Platz gefunden werden (Durkheim 1992, 103ff). Auch wenn man den Zeitpunkt einbezieht, zu dem Durkheims Werk entstanden ist, bleibt festzuhalten, dass er deutlich diskriminierend (in einigen Teilen auch mit rassistischen Anklängen) argumentiert und es ist etwas verwunderlich, dass dieser Punkt in der soziologischen Rezeption kaum Erwähnung findet.
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denschaftlich für staatliche Lenkung und Regulation. Nichts sei falscher, als zwischen der Autorität der Regel und der Freiheit des Individuums einen Widerspruch herstellen zu wollen, im Gegenteil sei die Freiheit »nachgerade das Ergebnis von Regulationen« (ebd.). Vor allem weil Durkheim staatliches Handeln so beredt legitimiert, ist die Einbeziehung des Begriffs ›Dichte‹ in seine Theorie der Arbeitsteilung nicht nur für die Stadtsoziologie, sondern auch für die Stadtplanung von besonderer Bedeutung. Der Versuch, ›materielle Dichte‹ als Instrument der Stadtplanung und zur Durchsetzung von stadt- bzw. sozialpolitischen Zielen zu verwenden, benötigt eine Theorie über die gesellschaftliche Folgewirkung von Dichte. Und Durkheim liefert solch eine Theorie. Es ist zwar nicht seine Absicht, das Konstrukt ›Dichte‹ als Instrument einzusetzen; die Analyse über die Funktion von ›Dichte‹ als Ursache gesellschaftlicher Evolution ließ sich jedoch problemlos in die Zukunft verlängern und als praktische Anwendung instrumentalisieren. Durkheim ist mit seiner Einbindung von ›Dichte‹ in die Theorie der Arbeitsteilung und der gesellschaftlichen Entwicklung der Wegbereiter einer mechanistischen Transformierung. ›Dichte‹ wird von Durkheim als singuläre Ursache konstruiert und ihre Bedeutung von formaler Bedingung zur produktiven Ursache modifiziert. Diese Verwandlung wiederum ermöglicht es (aus soziologischer Perspektive) erst, ›Dichte‹ als Ziel respektive Instrument der Stadtplanung einzusetzen (vgl. Kapitel 6 und 7). Sowohl der Begriff ›Stadt‹ als auch der Begriff ›Dichte‹ – das ist gerade in Bezug auf das (teilweise differierende) Dichteverständnis in anderen disziplinären Zusammenhängen festzuhalten –, sind bei Durkheim nicht negativ konnotiert. ›Stadt‹ und ›Dichte‹ sind bei Durkheim keine pathologischen Erscheinungen, keine Anzeichen des ›gesellschaftlichen Alterns‹ oder des ›zivilisatorischen Untergangs‹ (vgl. Kapitel 2.1, 3.1 und 4.1). Er richtet sich ausdrücklich gegen eine solche Interpretation und sieht ›Stadt‹ respektive ›Verstädterung‹ als Anzeichen des evolutionären Voranschreitens der Gesellschaft. Gleichwohl ist ›Dichte‹ für Durkheim der hauptsächliche Effekt und die Ursache von Verstädterung. Über das zentrale Element ›Dichte‹ wird Durkheims Gesellschaftstheorie zur Stadtsoziologie. Mit der Vereinigung und Gleichsetzung der materiellen Voraussetzung mit der gesellschaftlichen Wirkung im Begriff ›Dichte‹ vollzieht Durkheim diese Transformation. Mit der Einbindung von ›Dichte‹ in seine Gesellschaftstheorie und die Konstruktion des Gleichklangs von ›moralischer‹ (gesellschaftlicher) und ›materieller Dichte‹ legt Durkheim den Grundstein für die Konstituierung einer Stadtsoziologie als eigenen disziplinären Bereich, in der der Begriff ›Dichte‹ wiederum eine zentrale Rolle einnimmt. Durkheim ist ein Wegbereiter der Stadtsoziologie und er bereitet diesen Weg mit dem Begriff ›Dichte‹.
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Es gibt allerdings noch eine zweite Seite von Durkheims Dichtetheorie. Nur zwei Jahre nach Veröffentlichung seines Werkes ›Über soziale Arbeitsteilung‹ veröffentlicht Durkheim die Regeln der soziologischen Methode (Durkheim 1984 [1895]) und in dieser Schrift revidiert Durkheim seine eigene Dichtetheorie auf ganzer Linie: »Wir hatten unrecht, in unserer ›Division du travail‹ die materielle Dichte als den genauen Ausdruck der dynamischen Dichte hinzustellen« (ebd. 195f.). Man würde sich, so unterstreicht Durkheim diesen – im wissenschaftlichen Diskurs in seiner Deutlichkeit ungewöhnlichen – Widerruf, »ernstlichen Irrtümern aussetzen«, wenn man die »moralische Konzentration einer Gesellschaft nach dem Grade ihrer materiellen Konzentration« beurteilen würde (ebd.). Durkheim verzichtet nun ganz auf die Begriffe ›moralische Dichte‹ und ›soziale Dichte‹, und er stellt die Zweiteilung von ›dynamischer Dichte‹ und ›materieller Dichte‹ in ein deutlich relativierendes Licht. Die ›dynamische Dichte‹ definiert Durkheim als durch »moralisches Zusammenrücken« entstehenden »Konzentrationsgrad der Masse«, die ›materielle Dichte‹ als »Zahl der auf eine Oberflächeneinheit entfallenden Bewohner« und den Zustand der Verkehrs- und Kommunikationswege. Die ›materielle Dichte‹ halte, so formuliert er nun, »gewöhnlich mit der dynamischen Dichte gleichen Schritt« und könne »im allgemeinen als Maß für sie dienen« (ebd.; Hervorhebungen im Original). Der entscheidende Punkt in Durkheims Revision seiner eigenen Dichtetheorie ist allerdings, dass er die ›Ursache‹ (respektive die »bewegende Kraft« und den »aktiven Faktor«) nicht mehr in einem materiellen Phänomen, sondern ausschließlich im ›sozialen Milieu‹ zu finden sucht. Mit dem Austausch von ›Dichte‹ durch ›soziales Milieu‹ gibt es bei Durkheim einen Deutungswechsel, der für die Disziplin Soziologie eine weitreichende Wirkung erzielen sollte. Dabei wird nun nicht nur der Kausalitätsbezug zwischen ›materieller Dichte‹ und ›dynamischer Dichte‹ relativiert, auch die Funktion der ›dynamischen Dichte‹ wird neu verhandelt: »Wir glaubten aber keinesfalls, alle Besonderheiten der sozialen Milieus, die bei der Erklärung der soziologischen Tatbestände eine Rolle spielen mögen, gefunden zu haben. Wir können nur sagen, daß jene die einzigen sind, die wir bemerkt haben, und daß wir keine Veranlassung hatten, andere zu suchen« (ebd. 197). ›Dichte‹ wird von Durkheim damit nicht mehr als Ursache für die gesellschaftliche Entwicklung konstruiert, und auch nicht mehr als direktes Abbild des gesellschaftlichen Aggregatzustandes. ›Dichte‹ ist in dieser neuen Lesart nur noch eine ›Besonderheit‹ des ›soziologischen Tatbestandes‹ des ›sozialen Milieus‹, also eine potenziell unterstützende, aber keinesfalls eindeutig kausale Begleiterscheinung. Interessant ist dabei nicht nur, dass Durkheim seine eigens eingeführte Dichteverwendung explizit widerruft, sondern vor allem auch die theoretische Begründung, auf der dieser Widerruf beruht. Hintergrund für die Neu-
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interpretation des Begriffs ›Dichte‹ ist Durkheims Credo ›Soziales nur durch Soziales‹ zu erklären (vgl. auch Gutberger 2007, 104). Ausgangspunkt dieser Position, die den »Beginn aller Soziologie als selbstständiger Wissenschaft« markiert (König 1984, 21), ist der Fokus auf den Begriff des ›soziologischen Tatbestandes‹ (›fait social‹), mit dem Durkheim zu einem Begründer der konstruktivistischen Entwicklungslinie der Soziologie avanciert. Als ›soziologischer Tatbestand‹ wird von Durkheim nicht mehr ein beobachtbares Phänomen bezeichnet, sondern die Aussage über das Phänomen selbst (ebd. 38). Um solche Aussagen in einen theoretischen Zusammenhang einordnen, um einen solchen ›soziologischen Tatbestand‹ fixieren zu können, ist es nach Durkheim vor allem erforderlich, ein ›Begriffssystem‹ zu entwickeln und zwischen den ›eigentlich wissenschaftlichen Begriffen‹ und den ›Vulgärbegriffen‹ des Alltags zu unterscheiden.8 Allerdings würden auch die »Vorurteile der Vulgärerfahrung« – und hier zeigt sich Durkheims konstruktivistischer Ansatz besonders deutlich – durch ihre Wiederholung und durch den sozialen Kurswert, den sie somit erhalten, zu Wirklichkeiten. Sie seien allerdings doch nur ›soziale Wirklichkeiten‹ und keine ›soziologischen Wahrheiten‹ (ebd. 48).9 Durkheim ist damit nicht nur der Begründer des klassischen stadtsoziologischen Dichtebegriffs (in seinem Werk ›über soziale Arbeitsteilung‹), er liefert (in den ›Regeln der soziologischen Methode‹) auch den Theorieansatz, ›Dichte‹ als Konstrukt zu betrachten, und damit die Vorlage sowohl für die spätere Kritik von vereinfachenden Kausalisierungen der klassischen Stadtsoziologie (vgl. Kapitel 1.2 und 1.3) als auch für die Kritik an den natur- und geodeterministischen Konzepten der Geographie und der Nationalökonomie (vgl. Kapitel 3 und 4). Und mehr noch als das, Durkheim entwickelt – im Kontext der Überwindung seines eigenen Frühwerks – den soziologischen Forschungsbereich der ›sozialen Morphologie‹, mit dem ein Weg aufgezeichnet wird, wie die Implementierung des Begriffs ›Dichte‹ in eine soziologische Theorie möglich sein könnte, ohne dabei zwangsläufig in reduktionistisches Fahrwasser zu geraten. Die ›soziale Morphologie‹ wird von Durkheim in seinen ›Regeln der soziologischen Methode‹ als besondere soziologische Grunddisziplin skizziert. Als Gegenstand des neuen Forschungsbereichs werden die »materiellen Gegebenheiten der Bevölkerung« vorgeschlagen (Durkheim 1984, 113), 8
Diese »Produkte der Vulgärerfahrung« würden sich »wie ein Schleier« zwischen die »Dinge und uns« legen und sie desto mehr verhüllen, je durchsichtiger man ihn glaube (ebd. 116).
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Eine solche Differenzierung wiederum verdeutliche, so formuliert der Durkheimspezialist René König, den Unterschied zwischen »bloßen empirischen Regelmäßigkeiten und theoretischen Gesetzmäßigkeiten«, der »speziell in Deutschland« meist nicht verstanden werde (ebd. 39).
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also insbesondere deren ›Volumen‹ und ›Dichte‹. Die ›soziale Morphologie‹ sei, so führt Durkheim seinen Ansatz aus, ein Weg zum »eigentlich erklärenden Teil der Wissenschaft« (ebd. 176). Es gäbe sehr wohl »soziologische Tatbestände anatomischer oder morphologischer Ordnung«, die allerdings nicht durch eine »rein materielle Untersuchung und durch geographische Beobachtung« zu erfassen seien (ebd. 113). Nach Durkheim ist die erste und grundlegendste Regel der soziologischen Methode (und damit auch der ›sozialen Morphologie‹), solche »soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten« (ebd. 115). Die Forderung nach Gleichbehandlung von soziologischen Tatbeständen und Dingen, so wird in der Durkheimrezeption inzwischen betont, sei jedoch kein Hinweis auf die Propagierung irgendeines Determinismus, sondern habe im Grunde eine gegenteilige Bedeutung: Die »dinglich-sächlichen Erscheinungen« wirkten nämlich genauso normativ auf das Verhalten des Handelnden wie die Erscheinungen der moralischen Wirklichkeit (vgl. König 1984, 46f.), und deshalb wären beide auf gleiche Weise zu betrachten. Durkheims Ansatz laufe daher darauf hinaus, eine »moralische Wirklichkeit« mit den Mitteln der »positiven Wissenschaft« zu erfassen, also mit der Einbindung in eine Theorie.10 Als methodologische Vorbedingung konstruiert Durkheim dabei die Analyse des strukturellen Rahmens, innerhalb dessen sich das betreffende Phänomen aufbaut. Erst danach könne versucht werden, die wirkende Ursache zu erfassen. Damit wird der bisherige Ansatz, bei dem als Ursache genommen wurde, was eigentlich Ergebnis ist, auf den Kopf gestellt. Die »Widerlegung der Ergebnisse Durkheims« durch die Anwendung von »Durkheims eigenen Prinzipien« (durch Durkheim) lässt den Nachweis einer »soziologischen Determination der physischen Konstitution« zum möglichen Ziel der sozialmorphologischen Forschung werden (ebd. 68f.). Bezüglich des Begriffs ›Dichte‹ lässt sich der neue Theorieaufbau so interpretieren, dass das Konstrukt nicht mehr als naturabbildend und/oder gesellschaftsdeterminierend, sondern selbst als gesellschaftlich und diskursiv determiniert betrachtet werden kann. Durkheims Dichtebegriff hat also zwei gegensätzliche und voneinander zu trennende Seiten: Zum einen das kausale, sozialdarwinistische und deterministische Dichtekonzept in der Theorie der sozialen Arbeitsteilung, zum anderen die Revidierung dieses Ansatzes in den ›Regeln der soziologischen Methode‹ und die Entwicklung eines konstruktivistischen Ansatzes in der ›sozialen Morphologie‹. Allerdings hat Durkheim seine ›soziale Morphologie‹ nur vorläufig und in Ansätzen ausgearbeitet, und bezüglich des 10 Und das wäre mitnichten eine profane Feststellung: Speziell in der deutschen Tradition gäbe es eine entgegengesetzte Auffassung, nach der die Beschäftigung mit einer moralischen Wirklichkeit den Beobachter zur moralischen Bewertung dieser Wirklichkeit verpflichte (König 1984, 62).
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Begriffs ›Dichte‹ bleibt Durkheim bei der Revidierung der Dichtetheorie aus seinem Werk ›über soziale Arbeitsteilung‹ stehen, ohne den alternativen Ansatz auszuarbeiten. Die Weichen für den Umgang mit dem Konstrukt ›Dichte‹ werden von Durkheim mit den ›Regeln der soziologischen Methode‹ zwar neu gestellt, der Begriff selbst wird in seinen Texten jedoch in Folge nicht mehr explizit behandelt. Daher wird sich in der Stadtsoziologie bei der weiteren Dichteverwendung im disziplinären Kontext auch hauptsächlich nicht auf den Ansatz der ›sozialen Morphologie‹, sondern auf Durkheims Dichtegebrauch der Arbeitsteilungstheorie bezogen (vgl. Kapitel 1.2 und 1.3).11
1.2 E IN S TADTBAUSTEIN Weite Teile der deutschsprachigen Stadtsoziologie berufen sich heute auf das Werk von Georg Simmel, und auch in der aktuellen stadtsoziologischen Auseinandersetzung mit dem Begriff ›Dichte‹ ist der Bezug auf Simmel überaus präsent. Daher wird in diesem Kapitel ein Blick auf den Kontext geworfen, in dem Simmel den Begriff thematisiert und untersucht, welchen Stellenwert dem Konstrukt in diesem Zusammenhang beigemessen wird. Darauf folgend wird der Gebrauch des Begriffs in der Chicago School dargestellt, die bei der Etablierung und Institutionalisierung der Stadtsoziologie als eigenständige Disziplin eine entscheidende Rolle einnimmt. Weder bei Simmel noch in den Arbeiten der Chicago School – das ist bereits ein Ergebnis der folgend dargelegten Betrachtung – finden sich jedoch eigene Dichtetheorien oder eingehende Auseinandersetzungen mit dem Begriff. Dennoch gehören beide Bereiche zum Kernbereich des stadtsoziologischen Dichtediskurses. Um die heutige Annäherungen an das Konstrukt ›Dichte‹ in der stadtsoziologischen Debatte einordnen zu können (dieser Ansatz wird im Kapitel 1.3 verfolgt), ist es erforderlich, das betrachtet zu haben, worauf sich dort bezogen wird. Nach dem Blick auf Simmel und die Chicago School wird der Ansatz von Louis Wirth vorgestellt, der den Begriff ›Dichte‹ als Baustein einer Stadttheorie verwendet und ihn damit erneut im Zentrum der Stadtsoziologie installiert. Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Kritik an dieser Wirth’schen Konstruktion, die exemplarisch anhand eines Beitrages des britischen Soziologen Peter Saunders nachvollzogen wird.
11 Zur Weiterentwicklung des Ansatzes der ›sozialen Morphologie‹ von Maurice Halbwachs vgl. auch S. 93.
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Georg Simmel (1858-1918)1 gilt als einer der Begründer der Soziologie in Deutschland, und sein berühmtes Essay Die Großstädte und das Geistesleben wird heute häufig als Gründungstext der Stadtsoziologie gelesen. Simmels Aufsatz ist eine pointierte Analyse der Großstadt und der Großstadtbewohner zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem die explosionsartige Verstädterung der Industrialisierung und deren Auswirkungen auf die Individuen betrachtet werden. Die »psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten« sich erhebe, so schreibt Simmel, sei »die Steigerung des Nervenlebens«, die aus dem »raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke« hervorgehe (Simmel 1903a, 186). Daraus ließen sich Verhalten und Charakter des Großstädters erklären. Simmel arbeitet ›Blasiertheit‹ und ›Reserviertheit‹ als die beiden das Leben des Großstädters prägenden Verhaltensweisen heraus und erklärt diese Eigenschaften als psychologisches Produkt der Geldwirtschaft, welches sich in der Großstadt manifestiere. Simmel konstruiert ein dreiseitiges Verhältnis zwischen Blasiertheit, Geldwirtschaft und Großstadt. Blasiertheit und Reserviertheit seien die vom Großstädter angenommenen Verhaltensweisen, hervorgerufen von den Auswirkungen der Geldwirtschaft und vermittelt durch die Großstadt, die ihrerseits selbst ein Produkt der Geldwirtschaft sei. Eigenschaft der Großstadt (und ein Grund für das Entstehen der Blasiertheit) sei die »Zusammendrängung von Menschen und Dingen«. Je zahlreicher eine Gruppe sei, so formuliert Simmel, desto mehr gewänne das Individuum an Freiheit (wobei Simmel letzteres nicht unbedingt als ein positives Ergebnis darstellt). Die Großstadt wird bei Simmel – ähnlich wie bei Durkheim – zur Quelle der ›Individualität‹. In diesem Zusammenhang gebraucht Simmel in seinem Aufsatz auch zum ersten (und einzigen) Mal das Adjektiv ›dicht‹: Die »gegenseitige Reserve und Indifferenz« werde in »ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums« nie stärker gefühlt, als »in dem dichtesten Gewühl der Groß1
Simmel studierte an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin Geschichte, Völkerpsychologie und Philosophie, im Jahre 1881 wurde er in Berlin promoviert (sein erster Promotionsversuch wurde mit der Begründung abgelehnt, Simmel sei Israelit), 1885 habilitierte er sich. Ab 1885 war Simmel Privatdozent für Philosophie an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin, 1900 erhielt er eine Berufung für eine außerordentliche Professur für Philosophie. Zusammen mit Ferdinand Tönnies, Max Weber und Werner Sombart begründete er 1909 die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS). 1911 wurde Simmel das Ehrendoktorat der Staatswissenschaften der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg für seine Verdienste als einer der Begründer der Soziologie verliehen. Erst 1914 erhielt er einen ordentlichen Lehrstuhl für Philosophie an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg. (vgl. Nedelmann 2006).
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stadt«, weil die »körperliche Nähe und Enge« die geistige Distanz erst anschaulich mache. Man fühle sich unter Umständen »nirgends so einsam und verlassen« wie im »großstädtischen Gewühl«, da die städtische Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben keineswegs »als Wohlbefinden spiegele« (ebd. 198). Das »dichteste Gewühl« der Großstadt wird von Simmel damit als ein Merkmal der Großstadt eingeführt, welches die von ihm herausgearbeitete Dialektik zwischen körperlicher Nähe und geistiger Verlassenheit widerspiegelt. Mit wachsender Individualität entständen, so führt Simmel weiter aus, für das Individuum die Notwendigkeit von Differenzierung und »die Schwierigkeit, in den Dimensionen des großstädtischen Lebens die eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen« (ebd. 201). Der einzelne Großstadtbewohner müsse sich etwas einfallen lassen, um aus der großen Masse herauszuragen, was wiederum zu wirtschaftlicher sowie kultureller Arbeitsteilung und Spezialisierung führe. Dieser Effekt werde wechselseitig verstärkt: »Der Anbietende muss in dem Umworbenen immer neue und eigenartigere Bedürfnisse hervorzurufen suchen« (ebd. 200). Simmel unterstreicht die Bedeutung der Großstadt für das seelische Dasein ihrer Bewohner als Ort für die widersprüchlichen Triebkräfte der Individuen und der Gesellschaft. Der Großstadt käme »ein ganz neuer Wert in der Weltgeschichte des Geistes« zu, da »die individuelle Unabhängigkeit und die Ausbildung persönlicher Sonderart« von den »quantitativen Verhältnissen der Großstadt« genährt würden. Funktion der Großstädte sei es, den »Platz für den Streit und für die Einungsversuche« zu geben, in dem ihre »eigentümlichen Bedingungen sich uns als Gelegenheiten und Reize für die Entwicklung beider« offenbarten. Die Großstädte träten, »mögen ihre einzelnen Erscheinungen uns sympathisch oder antipathisch berühren«, ganz »aus der Sphäre heraus, der gegenüber uns die Attitüde des Richters ziemte« (ebd. 204). Simmel hebt sich in seinem Aufsatz damit deutlich von der in seiner Zeit vor allem im städtebaulichen Kontext geführten städtebaulichen und literarischen Debatten über das Für und Wider der Großstadt ab (vgl. Kapitel 6.1 und 6.2). Simmel identifiziert die Großstadt als gegebenes historisches Gebilde, das zwar analysierbar sei, sich jedoch außerhalb einer normativen oder moralischen Bewertung befinde. Simmels Thema sind die permanenten Widersprüche, die in und von der modernen Großstadt produziert werden und ihrerseits die Entwicklung der gesamten Gesellschaft bestimmen. Es geht ihm jedoch nicht um die Auflösung dieser Widersprüche. In seinem Aufsatz Soziologie des Raumes (Simmel 1903b) wendet sich Simmel entschieden gegen eine kausale Verknüpfung von äußeren Umständen mit innerer Wirkung. Simmel bezieht sich darin zwar nicht explizit auf die ›Dichte‹, diskutiert aber deutlich verwandte Begriffe wie die ›Zusammendrängung der Bevölkerungen‹ und die ›räumliche Nähe‹. Von Interesse, so formuliert Simmel, seien die »besonderen Gestaltungen der Dinge«, nicht
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aber deren ›Räumlichkeit‹. Raum sei nur die »conditio sine qua non« und nicht selbst das »spezielle Wesen« oder der »erzeugende Faktor« der Dinge. Wenn die »Größe oder Kleinheit der Reiche«, die »Zusammendrängung oder Zerstreutheit der Bevölkerungen« oder die »Beweglichkeit oder Stabilität der Massen« als die »gleichsam vom Raum ausstrahlenden Kräfte« gedeutet werden würden, dann bestehe die Gefahr, die »notwendige räumliche Befaßtheit« mit den »positiv wirksamen Ursachen« zu verwechseln. Die formalen Inhalte dieser Eigenschaften würden »doch nur durch andere Inhalte die Besonderheit ihrer Schicksale« erfahren, der Raum bleibe dagegen immer die »an sich wirkungslose Form, in deren Modifikationen die realen Energien sich zwar offenbaren, aber nur, wie die Sprache Gedankenprozesse ausdrückt, die allerdings in Worten, aber nicht durch Worte verlaufen«. Bedeutung entstehe nicht durch den Raum, sondern durch »die psychologischen Kräfte, die die Bewohner eines solchen Gebietes von einem herrschenden Mittelpunkt her« politisch zusammenhielten. Nicht die Form ›räumlicher Nähe‹ oder ›Distanz‹ schaffe die besonderen Erscheinungen der Nachbarschaft oder Fremdheit, so unabweislich dies auch scheinen möge (Simmel 1903b, 28f.). Simmel bemerkt, dass es einen »allgemeinen Hang zu dieser Form der Vereinfachung« gäbe. Es gehöre »zu den häufigsten Ausartungen des menschlichen Kausaltriebes, formale Bedingungen, ohne die bestimmte Ereignisse nicht stattfinden können, für positive, produktive Ursachen derselben zu halten« (ebd. 1). Damit vertritt Simmel die These von der gesellschaftlichen Irrelevanz des Raums.2 Übertragen auf das hier untersuchte Thema folgt daraus, dass in Simmels Auslegung ›Dichte‹ als ›räumliche Befaßtheit‹ respektive als ›formale Bedingung‹ interpretiert wird, die keinesfalls als ›produktive Ursache‹ oder ›inhaltliche Voraussetzung‹ bezeichnet werden kann. Ohne dass der Begriff dabei verwendet wird, ist Simmels Ausführung über den ›Raum‹ als Widerspruch gegen die Kausalkonstruktion von ›Dichte‹ bei Durkheim (in seinem Frühwerk) zu verstehen. Verfolgt man den stadtsoziologischen Dichtediskurs weiter, gelangt man bald zu den Arbeiten der Chicago School of Sociology.3 In der aktuellen stadtsoziologischen Rezeption wird sogar die These aufgestellt, dass ›Dichte‹ hier erst zum »eigentlichen stadtsoziologischen Thema« geworden sei (Spiegel 2000, 43; vgl. auch Häußermann 2007, 24). Bei der Sichtung des Dichtegebrauchs entsteht jedoch der Eindruck, dass dem Begriff in den Anfangsjahren der Chicago School gar keine besonders exponierte Rolle zugeschrieben wurde. Die erste Generation innerhalb der Chicago School bezog sich zwar noch explizit auf Durkheims Sozialmorphologie (Gutberger 2007, 104), der Begriff ›Dichte‹ wird allerdings weder ausführlich definiert 2
Zur Ambivalenz von Simmels Raumbegriff vgl. Löw 2001 und Soehrs 2005.
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Zur Chicago School vgl. auch ausführlich Kapitel 2.2.
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noch zu einem wichtigen Theoriebestandteil erhoben und überhaupt eher selten verwendet. Wenn der Begriff ›Dichte‹ im Kontext der Chicago School explizit Erwähnung findet, fällt ihr Gebrauch relativ nüchtern aus: »There is a density of population above which a purely farming community does not rise. When that density is passed it indicates that other means of livelihood are supplementing agriculture« (Willcox 1926, 116f.). ›Dichte‹ wird hier nicht als kausaler Faktor, sondern als weitgehend neutraler Indikator eingesetzt, der den Wendepunkt der gesellschaftlichen Entwicklung (vom Land zur Stadt) markiert, aber nicht bedingt. Die Unterscheidungslinie zwischen ›Stadt und Land‹ wird von Willcox zwar durch die Bevölkerungsdichte bestimmt, ›Dichte‹ selbst jedoch lediglich als – statistisch relativ einfach zu erhebendes – empirisches Unterscheidungsmerkmal konzipiert: »If the fundamental difference between country and city is, as I believe, the difference between agriculture and the group of other occupations, then the best line between city and country is a density of population below which agriculture must be almost the only occupation and above which it is unimportant or absent« (ebd. 118). Auch in anderen Beiträgen der Chicago School spielt der Begriff ›Dichte‹ eine ähnliche Rolle. Diskutiert werden die Vor- und Nachteile des Indikators vor allem aus einer Perspektive, die die statistischen Merkmale in den Vordergrund stellt: »The density of population cannot be computed for the small districts this definition requires. None the less, I think it advantageous to look forward to this definition as an attainable and desirable goal, perhaps not to displace, but at least to supplement and interpret, our present crude distinction between city and country« (Burgess 1926, 118). Ergebnis dieser Überlegungen ist auch hier eine statistische, auf dem Indikator ›Dichte‹ beruhende Stadtdefinition: »The cities include all districts in which the density of population per square mile is more than 1,000 and in which there is practically no agriculture« (Burgess 1926, 119). Damit verwendet auch Burgess das Konstrukt ›Dichte‹ nicht als verursachende (und auch nicht als erklärende) Variable. Einen wesentlich zentraleren Stellenwert nimmt der Begriff ›Dichte‹ erst wieder bei Louis Wirth (1897-1952)4 ein. Wirths Essay Urbanism as a
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Wirth wurde in Deutschland geboren und lebte seit 1911 in den USA. Wirth studierte an der Chicago School unter anderem bei Robert E. Park und Ernest W. Burgess. Nach seinem Abschluss arbeitete Wirth zur Lebensweise von polnischen jüdischen Einwanderern in Amerika und den Konflikten zwischen ethnisch-religiösen Traditionen und moderner Gesellschaft. Ab 1925 unterrichtete Wirth am Soziologie-Department der Universität von Chicago, 1928 wurde er an die Tulane Universität in New Orleans berufen. 1930 erhielt Wirth ein Stipendium für einen Aufenthalt in Deutschland, von dem er im Januar 1931 zurück
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Way of Life aus dem Jahre 1938 ist ein Schlüsseltext der Stadtsoziologie. Wirth versucht hier, eine soziologische Definition von Stadt und eine Theorie der Urbanität zu formulieren. Wirth stellt die »für unsere Zivilisation überlegene Bedeutung der Stadt« dem mageren Wissen »über das Wesen der Urbanität und den Prozess der Urbanisierung« gegenüber und leitet daraus die Notwendigkeit und Relevanz einer stadtsoziologischen Stadtdefinition ab. Eine solche Begriffsbestimmung solle nicht die mannigfaltigen Definitionsansätze aus anderen Disziplinen (Geographie, Politik- und Wirtschaftswissenschaften) ersetzen, jedoch bemüht sein, »diejenigen Elemente der Urbanität heraus zugreifen, die sie als eine besondere Art des menschlichen Zusammenlebens in Gruppen ausweisen« (Wirth 1997 [1938], 44). Wirths zentrale These ist die Loslösung von Urbanität und Urbanisierung aus ihrem rein »physisch-realen Zusammenhang«. Urbanität definiert er als die Lebensform der Menschen in der Stadt, also als Gefühl, Zustand, Attitüde. Wirths Ansatz ist es, heraus zu finden, was dieses Gefühl ausmacht und vor allem, wodurch es hervorgerufen wird. Wirth ist auf der Suche nach Kriterien, nach »wesentlichen Merkmalen« (ebd. 47) der Stadt und möchte die lokalen und historisch bedingten Einflüsse von den allgemeinen und für alle geltenden Determinanten unterscheiden. Diese Vorüberlegungen führen zu Wirths viel zitierten Stadtdefinition: »For sociological purposes a city may be defined as a relatively large, dense, and permanent settlement of socially heterogeneous individuals« (Wirth 1938, 8). Eines der drei Elemente von Wirths Stadtdefinition ist also die ›Dichte‹. Wirth definiert ›Dichte‹ als »wachsende Einwohnerzahl bei konstant bleibender Fläche« und diskutiert damit explizit Bevölkerungsdichte (Wirth 1997, 50). ›Einwohnerzahl‹ und ›Dichte‹ seien als getrennte Faktoren zu unterscheiden, weil sie sich jeweils »mit gesellschaftlichen Folgeerscheinungen in Verbindung bringen« ließen, »deren Verschiedenheit bezeichnend« sei (welche Verschiedenheiten dies sein sollen, wird von Wirth allerdings nicht weiter diskutiert). Wirth arbeitet bezüglich der ›Dichte‹ drei Aspekte heraus, die den exponierten Platz des Begriffs in seiner Stadtdefinition begründen sollen. Der erste Aspekt ist die gesellschaftliche Wirkung der Bevölkerungsdichte. Mit Bezug auf Durkheim und Darwin argumentiert Wirth, dass hohe Bevölkerungsdichte eine Differenzierung und Spezialisierung der Gesellschaft produziere, da nur auf diese Weise die durch die Verdichtung gestiegene Belastung aufgefangen werden könne. Die Bevölkerungsdichte sei demnach verantwortlich für die zunehmende Komplexität der Gesellschaft, aber auch für deren Fortentwicklung. »As Darwin pointed out for flora and fauna and as Durkheim noted in the case of human societies, an increase in numbers kehrte und als Assistent Professor wieder an der Universität von Chicago lehrte. 1940 wurde er dort zum Professor berufen (vgl. Vortkamp, 2002).
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when area is held constant (i.e., an increase in density) tends to produce differentiation and specialization, since only in this way can the area support increased numbers. Density thus reinforces the effect of numbers in diversifying men and their activities and increasing the complexity of the social structure« (Wirth 1938, 14). Beim zweiten Aspekt nimmt Wirth Bezug auf Simmel. Er thematisiert dabei den »subjektiven Standpunkt«, also das ›Geistesleben der Großstadtbewohner‹. Der »enge physische Kontakt zahlreicher Menschen« führe zwangsläufig zu einem »Wandel in den Mitteln, mit deren Hilfe wir uns besonders im Hinblick auf unsere Mitmenschen im urbanen Milieu zurecht finden« (Wirth 1997, 54). Wirth berichtet (wie Simmel) von der Beobachtung, dass in der Großstadt die physischen Kontakte eng, die sozialen jedoch lose wären. Wirths Konstruktion von ›Dichte‹ ist hier zunächst durchaus differenziert und stellt die Ambivalenz und den Widerspruch der Verhältnisse in der Großstadt heraus. Neu dabei ist vor allem, dass Wirth (im Gegensatz zu Simmel) den Begriff ›Dichte‹ explizit gebraucht. Wirths Interpretation weicht von Simmels Beobachtung dann aber doch nicht unwesentlich ab, wenn er schreibt, der Großstadtbewohner neige dazu »ein gewisses Feingefühl einer Welt künstlicher Erzeugnisse gegenüber zu erlangen und zu kultivieren« und sich dabei »gleichzeitig mehr und mehr von der Welt der Natur« zu entfernen (Wirth 1997, 54). Auch Simmel behandelte zwar die Auswirkungen, die das Leben der Großstadt auf den seelischen Zustand ihrer Bewohner zeitigt, die »Entfremdung von der Natur« (und auch das »sich entwickelnde Feingefühl«) sind jedoch Zugaben, die von Wirth neu in die Diskussion eingebracht werden. Der dritte Aspekt, der von Wirth in die Diskussion des Begriffs ›Dichte‹ eingebracht wird, ist der Überraschendste. Die »Konfrontation divergierender Persönlichkeiten und Lebensformen«, so formuliert Wirth, schaffe im Allgemeinen eine »relativistische Betrachtungsweise« und ein »Gefühl der Toleranz Unterschieden gegenüber«, was wiederum eine »Voraussetzung der Rationalität und der Säkularisierung des Lebens« sei.5 ›Dichte‹ erhält damit eine ganz neue Konnotation. Nach den Konstruktionen ›Dichte als Motor der Spezialisierung der Gesellschaft‹, ›Dichte als Ursache für das ambivalente Geistesleben des Großstädters‹ folgt die These ›Dichte schafft Toleranz‹.6 Diese Be5
Wirth führt weiter aus, dass es schwer zu sagen wäre, ob die extrahierten Geisteshaltungen nun Folge von ›Dichte‹ oder von Heterogenität wären, vermutlich seien sie Produkt des Zusammenwirkens beider Faktoren (ebd.).
6
Bei der Hinleitung zu seinem dritten Dichteargument streift Wirth einen weiteren Bereich, nämlich die funktionale Aufgliederung der Stadt in Wohn- und Arbeitsbereiche, die Wirth als Marktmechanismus darstellt: Der »Wettlauf um nutzbaren Raum« sei ungeheuer und habe zur Folge, dass jede Fläche dem Zweck zugeführt werde, der den größten finanziellen Gewinn verspräche (ebd.). Neben diese
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hauptung ist Ausgangspunkt für die unter dem Begriff ›Kontakthypothese‹ zusammengefasste Diskussion in der Soziologie, die in den 1950er und 1960er Jahren vor allem in den USA bezüglich der sozialen und sozialräumlichen Distanzierung zwischen Weißen und Afroamerikanern geführt wurde (vgl. Dangschat 1998, 45f.). Kern der Kontakthypothese ist die Annahme, dass ein häufiger Kontakt mit »Fremden« dazu führe, sich besser zu verstehen, und dass Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund die gegenseitigen Vorurteile dann am schnellsten abbauten, wenn sie einen intensiven (positiven) sozialen Kontakt miteinander hätten (Dangschat/Hamedinger 2007, 227). In Abhängigkeit zu unterschiedlichen Kontexten (Statusunterschiede, Art und Intensität der Kontakte, unterschiedliche Anlässe der Kontakte, individuelle und institutionelle Kontakte etc.) wurden zahlreiche Studien durchgeführt, mit denen bewiesen werden sollte, dass wenn man »die Fremden« kennenlerne, sich die Verhaltensunsicherheiten verringern und sich Vertrauen entwickeln würde (Dangschat 1998, 81).7 ökonomisch bedingte funktionale Aufteilung stellt Wirth die Aufteilung der Stadt nach sozialen Gesichtspunkten, also die ›Segregation‹. Hier identifiziert er ›Dichte‹ als Negativkriterium bei der Standortwahl der Stadtbewohner. Wer es sich leisten könne, meide dicht besiedelte Gegenden. Die unterschiedlichen Bevölkerungselemente würden so in dem Maße voneinander abgesondert, in dem ihre Lebensweisen miteinander unvereinbar und ihr Verhalten einander gegenüber feindlich sei (ebd. 55). Wirth bringt mit dem Ansatz, funktionale Aufteilung und sozialer Segregation gemeinsam zu betrachten, zweie Phänomene zueinander, die sonst kaum zusammen diskutiert werden. Leider wird auch dieser Ansatz von Wirth jedoch nicht weiter ausgeführt. 7
Die Studien über die Gültigkeit der Kontakthypothese kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Jens Dangschat resümiert, dass die Untersuchungen stark abhängig von den normativen Wertungen der WissenschaftlerInnen seien, die häufig etwas Positives aus den tatsächlichen Integrationsbedingungen herauslesen wollen würden. Der Kontakt zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen führe zwar wirklich zu veränderten Einstellungen und Verhaltensweisen, Ausmaß und Richtung der Änderungen blieben aber weitgehend unklar (Dangschat 1998, 45). Die Kontakthypothese ließe sich nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen verifizieren, bei »günstigen« Kontexten, etwa bei ähnlichem sozialem Status, bei normativer Unterstützung von außen und oder bei einem relativ hohen Status der Minderheitengruppe. Allgemein funktioniere die Hypothese bei der bildungsbürgerlichen Mittelschicht besser als bei sozial benachteiligten Gruppen. Bei schwer zu ertragender Nähe zu »Anderen« schlage die soziale Beziehung leicht in einen Konflikt um (Dangschat/Hamedinger 2007, 227). Dieses Fazit gelte, so führt Dangschat weiter aus, nicht nur für die USA, auch für die hiesige Situation seien ähnliche Schlussfolgerungen ableitbar. Auch in Europa sei die
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Die Bedeutung von Wirths Essay für die Stadtsoziologie ist eminent. Entlang von Wirths kurzem Text wurden (und werden bis heute) Debatten geführt, in denen grundlegende stadtsoziologische Positionen bezogen werden. Die Konstruktion von ›Stadt‹ ist ein entscheidender Diskurs der Stadtsoziologie und die Formel von Wirth ist der Kristallisationspunkt dieses Diskurses. Die Frage, ob Stadt mit ›Größe‹, ›Dichte‹ und ›Heterogenität‹ definierbar ist, bewegt die Stadtsoziologie seit Wirth kontinuierlich. Die Bedeutung des Begriffs ›Dichte‹ in dieser Diskussion liegt auf der Hand: ›Dichte‹ ist einer der drei Bausteine, aus denen Wirth seine Stadtdefinition erstellt. Wirths Text ist für die Untersuchung des Begriffs ›Dichte‹ im stadtsoziologischen Kontext vor allem deshalb fruchtbar, weil der Begriff in der Stadtdefinition enthalten ist. Der »magische Begriff« (Hartmut Häußermann) erhält viel von seinem Glanz durch diese Funktion als Stadtbaustein. Wirths Aufsatz wird damit zu einem Meilenstein für das stadtsoziologische Verständnis von ›Dichte‹. Und zwar weniger durch die dort vorgenommene Konstruktion von ›Dichte‹ (die eher ungenau ausfällt und wenig Neues hervorbringt), sondern durch die Verwendung des Begriffs für die Konstruktion von ›Stadt‹. Ein Beispiel für die Grundsatzdebatte, die im stadtsoziologischen Kontext anhand der Stadtdefinition von Louis Wirth geführt wurde, ist die Position des britischen Soziologen Peter Saunders (*1950).8 Saunders unterzieht den Wirth’schen Ansatz einer grundsätzlichen Kritik und führt dabei aus, dass dessen Hauptprobleme nicht in der Art und Weise seiner Begriffsbildung, sondern in der »Adäquanz seiner theoretischen Erklärung« liegen würden (Saunders 1987 [1981], 105). Wirth könne nicht zeigen, dass ›Größe, Dichte und Heterogenität‹ die Hauptdeterminanten der von ihm beschriebenen Lebensweisen seien. Die Reichweite der Auswirkungen von »Diskussion normativ überformt« und davon bestimmt, für die Bestätigung der Kontakthypothese Anhaltspunkte zu finden. Die Kontakthypothese sei daher nur teilweise aufrecht zu halten: Häufigere Kontakte änderten Einstellungen und Verhalten, allerdings nicht immer in die intendierte Richtung, je ungünstiger die Rahmenbedingungen seien, desto eher wirkten sich die Kontakthypothese kontraproduktiv aus (Dangschat 1998, 82). Unsicherheiten über die eigene soziale Position, Abstiegsängste und –erfahrungen, Konkurrenzen um knappe Güter und häufige, eher unfreiwillige Kontakte führten zu negativeren Vorurteilen, stärkerer Ablehnung und häufigerer Aggressivität gegenüber Fremden (ebd.). 8
Saunders lehrte Soziologie unter anderem in Melbourne, Canterbury und Bremen und war von 1988-1999 Professor für Soziologie an der Universität von Sussex. 2001-2008 war Saunders Direktor des Centre for Independent Studies in Sydney und lebt nun als freier Autor in England. (www.petersaunders.org. Zugriff am 22.2.2010)
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»Größe und Dichte«, so argumentiert Saunders, sei überaus begrenzt: Kein Beleg deute darauf hin, dass jene Begriffe mehr als nur eine nebensächliche Bedeutung für das Verständnis der Komplexität menschlicher Beziehungen in Städten oder Dörfern haben könnten (ebd. 111). Saunders unterstreicht bei seiner Kritik besonders den ›räumlichen Ortsbezug‹ der Stadtsoziologie und leitet daraus die »stadtsoziologische Irrelevanz« von Stadt und deren von Wirth behaupteten Bestimmungsfaktoren ab. Er fordert, dass das »Problem des Raumes«, auf welches die Stadtsoziologie traditionell orientiert sei, von der Analyse spezifisch gesellschaftlicher Prozesse getrennt werden müsse. Aus Durkheims Dichtebegriff ergäbe sich zwar auch ein »soziologisches Problem«, das mit der Frage »räumlicher Formen« zusammenhänge. Die Reichweite einer solchen »räumlichen Soziologie« sei allerdings höchst begrenzt (ebd. 261). Stadtsoziologie mit einem »räumlichen Bezug« (also mit einer räumlich basierten Definition von Stadt) zu begründen, erklärt Saunders generell als zum Scheitern verurteilt. Die Stadtsoziologie müsse zwar den Raum berücksichtigen, könne jedoch nicht länger im Sinne einer eigenständigen Thematisierung der »räumlichen Formen« definiert werden (ebd. 17). Die moderne Stadt sei von Gesellschaft nicht zu unterscheiden, die »räumliche Form der Stadt« keine brauchbare Konstruktion für die Konstitution von Stadtsoziologie. Saunders führt aus, dass man dennoch prüfen müsse, ob die Faktoren »Größe und Dichte« wirklich irrelevant für das adäquate Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse seien, da die Gefahr bestehe, dass man »das Kind (weil es so klein ist) mit dem Bade ausschüttet« (ebd. 109). Saunders billigt »Größe und Dichte« lediglich eine »gewisse« Bedeutung zu. Es sei eine Sache zu behaupten, dass Unterschiede in der »Größe und Dichte« menschlicher Siedlungen die Vielfalt der Lebensweisen nicht adäquat erklären könnten, aber eine ganz andere Sache, daraus zu schließen, dass die beiden Faktoren deshalb irrelevant seien. »Größe und Dichte einer Ansiedlung« hätten, so argumentiert Saunders, einige Auswirkungen auf die Muster gesellschaftlicher Verhältnisse und auf die Verteilung von Lebenschancen. Damit Gesellschaft erklären oder die Stadtsoziologie begründen zu wollen, ginge jedoch weit über das Ziel hinaus (ebd. 110). Grundsätzlich falsch an den Theorien von Simmel, Wirth und Durkheim sei nicht, dass sie ihre Aufmerksamkeit der Frage zuwenden, wie die genannten räumlichen Faktoren die Muster sozialer Beziehungen beeinflussen, sondern dass sie den sehr begrenzten Geltungsanspruch eines solchen Ansatzes nicht erkannt und folglich versucht hätten, eine große Anzahl »kulturell variabler Phänomene mit Hilfe illegitimer, physischer Reduktion« zu erklären. Saunders lenkt den Blick auch auf die Frage nach dem Unterschied von ›Stadt und Land‹ (was im Grunde eine Variation der Debatte über die Definition von ›Stadt‹ ist). Auch dieses stadtsoziologische Grundthema wird in
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der Disziplin häufig anhand der Wirth’schen Stadtparameter geführt. Auf der einen Seite wird dabei – wie von Saunders – die Position vertreten, dass es keine ausreichenden Beweise gäbe, um nachzuweisen oder zu widerlegen, dass ›Größe, Dichte und Heterogenität‹ die sozialen Folgen haben, die Wirth voraussagte (Gans 1968, 98; zitiert nach Saunders 1987, 106). Daher sei es auch unmöglich, eine soziologische Definition von ›Stadt‹ zu formulieren, ›Stadt und Land‹ seien »Begriffe ohne analytische Signifikanz« (Saunders 1987, 108). Zwar gäbe es eine Stadt-Land-Unterscheidung, diese sei jedoch nicht besonders relevant, sie sei »real but relatively unimportant« (Dewey 1960). Auch die Gegenposition wird in der stadtsoziologischen Debatte bezogen und dabei formuliert, dass es sehr wohl eine relevante fortdauernde universelle Stadt-Land-Differenz gäbe und dass ›Dichte, Heterogenität und Größe‹ weiterhin Determinanten des sozialen Lebens seien. Erst die hohe Bevölkerungskonzentration schaffe eine »kritische Masse« Gleichgesinnter für spezialisierte Bedürfnisse und erleichtere so die Formierung kohäsiver Netzwerke und subkultureller Institutionen (Fischer 1975, 1337). Saunders stellt die Frage, warum die Stadt-Land-Trennung einen so zentralen Stellenwert in der westlichen Kultur einnimmt (ebd. 109f.). Der Gegensatz von Stadt und Land, so lautet Saunders Erklärungsvorschlag, sei eines der wesentlichen Muster, durch welche dem Menschen die von den sozialen Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft geprägten Erfahrungen und Krisen bewusst werden würden. Der Kapitalismus trenne einen »notwendigen Materialismus« von einer »ebenso notwendigen Humanität«, und der Ausdruck dieser Trennung sei nicht nur die Dichotomie von Arbeit und Freizeit, von Woche und Wochenende, von Gesellschaft und Individuum, sondern eben auch die von Stadt und Land, von Modernität und Natürlichkeit. Wegen der »gesellschaftlich aufgenötigten Entfremdung« würde sich der Mensch in der kapitalistischen Gesellschaft nach »Menschlichkeit und miteinander geteilten Lebensschicksal« sehnen, und diese Sehnsucht ließe ihn Stadt und Land unterschiedlich wahrnehmen. Der Stadt-Land-Gegensatz sei »die Ideologie, mit der wir leben und unsere entfremdete Existenz im Kapitalismus interpretieren« (ebd.). Saunders entwickelt seine Kritik der Stadtsoziologie also aus einer postmarxistischen Perspektive heraus, aus welcher der Wirth’sche Ansatz und seine Stadtbausteine als Reduktion von sozialen Verhältnissen (und Prozessen) auf ›räumliche Faktoren‹ abgelehnt wird. Auf das Konstrukt ›Dichte‹ rückbezogen bedeutet dies, dass Saunders Kritik auf der Bestimmung von ›Dichte‹ als einen ›räumlichen Faktor‹ basiert, der für soziale Prozesse grundsätzlich keine besondere Relevanz haben könne. Dabei ist jedoch erst einmal zu diskutieren, ob diese Bestimmung (›Dichte‹ als ein ›räumlicher Faktor‹) wirklich zutreffend ist. Immerhin ist es ja (wie skizziert) die zentrale These von Wirth gewesen, ›Dichte‹ führe zur Toleranz,
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was einer dezidiert sozialen Argumentation entspricht. Dieses Wirth’sche Argument ist aber eben nur in die eine Richtung als sozialer Faktor konstruiert. Die Auswirkung von ›Dichte‹, so behauptet Wirth, hätte eine Auswirkung auf das Soziale. Was Wirth jedoch gar nicht diskutiert, ist, ob (und in welcher Weise) ›Dichte‹ selbst als sozial konstituiert betrachtet werden kann. Saunders argumentiert in genau die andere Richtung. Er kritisiert die behauptete soziale Wirkung mit dem Argument, ›Dichte‹ sei ein räumlicher Faktor (und er meint damit ein ›räumlich konstituierter‹ Faktor), und solch ein räumlicher Faktor könnte per se keine soziale Auswirkung zeitigen. Aber auch Saunders diskutiert und hinterfragt diese Grundannahme nicht. Unstrittig ist bei beiden Positionen lediglich, dass ›Dichte‹ immer einen Ortsbezug hat. Ob dieser Ortsbezug aber wirklich bedeutet, dass ›Dichte‹ als ein ›räumlicher Faktor‹ (im Sinne von ›nicht sozialem Faktor‹) zu bestimmen ist oder ob ›Dichte‹ nicht vielleicht doch (trotz des Ortsbezuges) auch als sozial konstruiert angesehen werden kann und schließlich ob – wenn dem so ist – einem ›sozial konstituierten Faktor‹ auch eine ›soziale Wirkung‹ zugeschrieben werden kann, all das sind Fragen, die weder von Wirth noch von Saunders gestellt werden.
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Auch im deutschsprachigen Kontext findet sich Ende der 1970er Jahre eine grundsätzliche Debatte über die Stadtsoziologie und für diese Auseinandersetzung ist das Essay von Wirth ebenfalls ein zentraler Anhaltspunkt. Zudem wurden die stadtsoziologischen Grundsatzdebatten in den hiesigen Diskussionen gleichsam mit Bezug auf postmarxistische Positionen geführt. Dagegen wird dreißig Jahre später bei den Thematisierungen des Dichtebegriffs im stadtsoziologischen Kontext kaum mehr auf diese Debatten rekurriert. Warum das eine dennoch mit dem anderen zu tun hat, und wie es dazu kommt, dass dem Begriff ›Dichte‹ in wichtigen aktuellen Beiträgen der Stadtsoziologie wieder hohe Relevanz beigemessen wird, soll in diesem Kapitel dargestellt und diskutiert werden. Hartmut Häußermann (*1943) und Walter Siebel (*1938)1 kritisieren in ihren Thesen zur Soziologie der Stadt die »Theorielosigkeit« der her-
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Häußermann studierte Soziologie in Berlin, promovierte 1975 und war Professor für Stadt- und Regionalsoziologie an der Universität in Kassel (1976-1978), der Universität Bremen (1978-1993) und an der Humboldt-Universität zu Berlin (1993-2008). Siebel studierte Maschinenbau, Volkswirtschaftslehre und Soziolo-
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kömmlichen Stadtsoziologie mit einer ähnlichen Begründung wie Peter Saunders. Der durch die Definition von Louis Wirth klassisch gewordene Stadtbegriff der ›Chicago School‹, so führt das Autorenduo dabei aus, sei für die »disziplinäre Belanglosigkeit« der Stadtsoziologie verantwortlich, die über »Banalitäten hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen gebauter Umwelt und sozialem Verhalten« nicht hinaus käme (Häußermann/Siebel 1978, 486). Zumindest ›Dichte und Größe‹ seien keine »gesellschaftlichen Kategorien«, und der Versuch, gesellschaftliche Phänomene mit nicht gesellschaftlichen Kategorien zu erklären, müsse zu »ideologischen Konstruktionen« führen, in denen die Großstadt für die politischen und sozialen Konsequenzen einer kapitalistisch organisierten Industrialisierung verantwortlich gemacht, statt dass die vorgefundenen städtischen Strukturen selber zu diesen Konsequenzen gezählt werden würden. Die Verwechslung von Ursache und Wirkung sowie die Konstruktion einer Kausalität von räumlichen Faktoren für Konflikte und Krisenerscheinungen seien die ›Geburtsfehler‹ jeder Soziologie der Stadt. Die Konzentration in der stadtsoziologischen Forschung auf die kausale Bedeutung räumlicher Faktoren führe zur unpolitischen Definition von Stadt und Stadtplanung. ›Stadt und Land‹ seien »keine Kategorien mehr, die unterschiedliche Produktions-, Reproduktions- und Herrschaftsformen« bezeichneten, ›Stadt‹ existiere nicht als eigenständiges gesellschaftliches Phänomen (ebd.). Häußermann und Siebel erteilen in ihrer grundsätzlichen Stadtsoziologiekritik der Verwendung von ›Raum‹ als Erklärungsvariable eine deutliche Absage. Sie wenden sich gegen die Annahmen, dass sich menschliches Verhalten an die räumliche Umwelt anpasse und dass der ›geografische Raum‹ die erklärende Variable für die ›soziale Welt‹ sei. Stadt als »räumlich abgrenzbare« soziologische Kategorie zu definieren, sei nicht möglich (ebd.).2 Die Kritik von Häußermann und Siebel ist dabei genauso aus einem postmarxistischen Denkansatz abgeleitet wie die Kritik von Peter Saunders. In der Theorie von Marx ist das Primat des Denkens eindeutig auf das Sogie an verschiedenen Universitäten und promovierte sich 1974 an der TU Darmstadt. Seit 1975 ist Siebel Professor für Soziologie in Oldenburg. 2
Eingebettet ist diese Analyse in eine Abgrenzung gegenüber dem theoretischen Unterbau der Nachbardisziplin Stadtplanung (zur Stadtplanung und zum Städtebau vgl. Kapitel 6 und 7). ›Stadt‹ als eigenständiger Gegenstand der Sozialwissenschaften sei heute nur noch, so schreiben Häußermann und Siebel, als Grundlage einer »Stadtplanungssoziologie, also jenem Bereich der Stadt- und Regionalsoziologie, der direkt auf die Verwertbarkeit sozialwissenschaftlicher Ergebnisse in der Verwaltung zielt, plausibel«. Grundsätzlich definiere die Soziologie »ihre Gegenstände nach sozialen Merkmalen, die Stadtplanung nach räumlichphysischen« (Häußermann/Siebel 1978, 493).
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ziale, die Zeit und die Handlung ausgerichtet (vgl. dazu auch Soja 2008). Das Räumliche wird dagegen als potenzielle eigene Bedeutungskategorie rigoros abgelehnt – eine Haltung, die sich auch als Opposition gegen den im 19. Jahrhundert (und weit in das 20. Jahrhundert hinein) vorherrschende konservative Weltbild heraus gebildet hatte, in dem ›natürliche‹ und klassisch ›räumliche‹ Faktoren als die eigentlichen Determinanten des Weltgeschehens betrachtet worden waren (vgl. dazu auch Kapitel 3 und 4). Das Konstrukt ›Dichte‹ wird in der stadtsoziologischen postmarxistischen Kritik der Stadtsoziologie als ›räumlicher‹ und deshalb bedeutungsloser Faktor abgelehnt. Auch noch bei seiner Antrittsvorlesung an der Berliner Humboldtuniversität im Jahre 1993 nimmt Häußermann die Wirth’sche Toleranzthese zum Anlass für eine grundsätzliche Kritik am Gründungstext der klassischen Stadtsoziologie. Wirth behaupte, so formuliert Häußermann, Großstädte seien »Brutstätten von Toleranz und Zivilisation« und Wirths Ansicht sei, dass die Integration von heterogenen Kulturen und Lebensstilen am besten in den Städten gelingen könne. Wirth vertrete die Auffassung »›der Stadtmensch‹ zeichne sich – weil er in der Großstadt lebt! – durch eine ›kosmopolitische Haltung‹ aus«, und für diese These seien ihm »Generationen von Stadtplanern und Stadtliebhabern« dankbar gewesen, weil sich damit ein direkter Zusammenhang zwischen des »zweifellos ungemütlichen Wohn- und Lebensbedingungen« der Großstädte am Anfang des 20. Jahrhunderts und einer »superioren, zivilisierten Geisteshaltung« herstellen ließ (Häußermann 1994, 3).3 Der Stadtbaustein ›Dichte‹ habe bei Wirth die Funktion einer unabhängigen (natürlichen) und Stadt konstituierenden Variable. Und – dieser Kritikpunkt wird von Häußermann hinzugefügt – zu seiner Stadtkonstruktion sei Wirth nur deshalb gekommen, weil er falsch bei Simmel abgeschrieben habe. Häußermanns Kritik an Wirth ist jedoch ebenso zu hinterfragen. Louis Wirth bezieht sich bei seiner Stadtdefinition, das wurde in der bisherigen Analyse deutlich, ja nicht ausschließlich auf Georg Simmel, sondern auch auf Emile Durkheim. Von der anderen Seite aus betrachtet könnte man daher auch formulieren, dass das berühmte Essay von Louis Wirth nicht so sehr auf der falschen Adaption von Simmel (so die Kritik Häußermanns), als vielmehr auf der richtigen Adaption von Durkheim beruht. Und bei Durkheim (zumindest in seinem Frühwerk) ist ›Dichte‹ die entscheidende Kategorie, deren Wirkung eindeutig bestimmt ist. ›Materielle Dichte‹ ist für Durkheim die Ursache von ›moralischer Dichte‹, die wiederum nicht nur die 3
Mit seiner Kritik an Wirth arbeitet Häußermann damit den Kern dessen heraus, was lange Zeit (und teilweise noch heute) den stadtplanerischen Zugang hinsichtlich der ›Dichte‹ ausmacht, nämlich die Begründung des instrumentellen Einsatzes von ›Dichte‹.
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›Solidarität‹ von entwickelten Gesellschaften evoziert, sondern mit jener identisch ist. In diesem Sinne ist Durkheims Dichtetheorie weit aktueller als lediglich in der Funktion des soziologischen Klassikers und beeinflusst bis heute den stadtsoziologischen Diskurs. ›Materielle Dichte‹ (nicht ›soziale Dichte‹, die ist Solidarität) bewirkt bei Durkheim nicht Toleranz, aber Solidarität. Das macht ›Dichte‹ fast noch bedeutender als in der These von Wirth, in der ›Dichte‹ Toleranz erzeugt. Auch aktuell beschäftigt sich Häußermann mit dem Thema ›Dichte‹. Überraschenderweise bezieht sich Häußermann dabei jedoch weder auf Durkheim noch auf Wirth, sondern unternimmt die historische Herleitung des Begriffs hauptsächlich mit Simmel. Die Kurzform von Häußermanns historischer Dichtebetrachtung lautet: »Georg Simmel: Stadt = Dichte und Heterogenität« (Häußermann 2004, 15). Die Relevanz von Simmels Essay für den Begriff ›Dichte‹ ist jedoch nicht unbedingt naheliegend (vgl. Kapitel 1.2). ›Dichte‹ kommt hier nur implizit vor, und von einer einfach gestrickten Stadtdefinition ist Simmel weit entfernt. Die Großstadt wird von Simmel in erster Linie als Ort benannt, an dem bestimmte Auswirkungen statt finden, eine Definition von ›Stadt‹ oder Theorien über deren Entstehung sind dagegen nicht Gegenstand von Simmels Essay. Simmels Anliegen ist es nicht, die Großstadt selbst zu analysieren, sondern vielmehr, die psychologischen Auswirkungen des Großstadtlebens auf die darin lebenden Menschen zu beschreiben. Simmels Text wird in seiner aktuellen Rezeption gerade nicht als »Strukturanalyse des städtischen Raums« ausgelegt (Lindner 2004, 176),4 und deshalb findet sich bei Simmel auch keine explizite Auseinandersetzung mit dem Begriff ›Dichte‹. Häußermann verzichtet bei seiner aktuellen Dichterezeption auf die Darstellung der soziologischen Wurzeln des Konstrukts bei Durkheim (und auf die Darstellung der Verbreitung dieser Wurzeln bei Wirth), und dieser Verzicht führt zu einer Analyseebene, auf der nicht mehr (wie etwa noch bei den ›Stadtsoziologiethesen‹ aus den späten 1970ern) die Konstruktion der ›Dichte‹ im Vordergrund steht, sondern deren Betrachtung als gegebenes Phänomen. Während bei Häußermanns Stadtsoziologiethesen die Ablehnung der räumlichen Kausalkonstruktionen der Chicagoer Schule (respektive von Louis Wirth) den Kern einer grundsätzlichen Kritik an der klassischen Stadtsoziologie bildete, wird der Stadtbaustein ›Dichte‹ 25 Jahre später recht unhinterfragt in Szene gesetzt und einem Simmelianischen Stadtbild zugeschrieben. Häußermann führt zwar aus, dass Dichtewerte alleine »wenig bis nichts über die soziale und ökonomische Realität in einem städ4
Lindner bezeichnet die Interpretation des Essays als »einen stadtsoziologischen Text im engeren Sinne« als eines der »hartnäckigen Missverständnisse« des berühmten Aufsatzes von Simmel (Lindner 2004, 169).
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tischen Raum« aussagen würden (Häußermann 2004, 15), widmet sich danach aber ausführlich der Reflexion über Entwicklungen genau solcher Dichtewerte in unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten (ohne die Konstruktion selbst weiter zu hinterfragen). Die Rolle, die dem Begriff ›Dichte‹ in der heutigen Stadtsoziologie (bei Häußermann) zugeschrieben wird, lässt sich vielleicht besser verstehen, wenn eine weitere Theorie in das Blickfeld genommen wird. In den 1970er Jahren entwickelte sich – im postmarxistischen Umfeld – die sogenannte ›Urban Theory‹, deren Vertreter sich einerseits gegen die klassischen räumlichen Kausalisierungen (wie in der Durkheimschen Dichtetheorie) wenden, auf der anderen Seite jedoch das gerade ›Räumliche‹ – basierend auf einer Neudefinition des Raumbegriffs – als relevante Kategorie in der Theorie verankern wollen. ›Stadt‹ wird in der ›Urban Theory‹ daher nicht nur als ein Ort betrachtet, sondern selbst zum ›Produktionsfaktor‹ erhoben, zum ›revolutionären Raum‹, in dem sich die sozialen Kämpfe und gesellschaftlichen Umbrüche vollziehen. Dadurch hat die ›Urban Theory‹ – und zwar vermittelt über die Kritik des klassischen sozialwissenschaftlichen Raumverständnisses – maßgeblich zu einer neuen Debatte über den ›Raum‹ und zu einem disziplinübergreifenden ›Spatial Turn‹ beigetragen, durch den die Thematisierung räumlicher Verhältnisse in vielen Bereichen wieder verstärkt Einzug in den theoretischen Diskurs gehalten hat (vgl. dazu Kapitel 3.3). Das Konstrukt ›Dichte‹ selbst spielt in der ›Urban Theory‹ bisher kaum eine explizite Rolle. Die Stadtbausteine der klassischen Stadtsoziologie und Stadtplanung (und damit auch die klassische ›Dichte‹) werden jedoch bei diesem – sowohl prozess- und handlungsorientierten als auch räumlichen – Ansatz als nicht relevante und reduktionistische Kausalkonstruktionen abgelehnt (vgl. auch Läpple 1991, Soehrs 2006, Belina/Michel 2007). Häußermann setzt sich explizit mit dem »aktuellen Umbruch im Verständnis von Stadt in der Produktion stadtsoziologischen Wissens« (Häußermann/Kemper 2005, 41f.) auseinander. Die ›Urban Theory‹,5 so die Analyse von Häußermann und Kemper, habe seit den 1980er Jahren stark an Gestaltungsmacht eingebüßt, die Emphase auf das Städtische als eigenständige Produktivkraft für eine bessere Gesellschaft sei angesichts des »Verschwindens der Stadt durch ihr Zerfließen ins Umland und der Dominanz aräumlicher Kommunikations- und Versorgungssysteme« obsolet geworden. Die neomarxistischen theoretischen Bemühungen zu einer Neufassung der Stadt seien inzwischen aufgelöst zugunsten »pluralisierter Perspektiven« auf die Zusammenhänge von politischer Orientierung, sozialer Identität und sozialräumlicher (Macht-.)Struktur. Häußermann und Kemper bezeichnen die 5
Häußermann und Kemper verwenden die Bezeichnung ›New Urban Sociology‹, die als die soziologische Variante der ›Urban Theory‹ bezeichnet werden kann.
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›Urban Theory‹ als ein »Vehikel in der Transformation der ›modernen‹ zur ›postmodernen‹ Perspektive auf das Themenfeld ›Stadt‹«, einer Perspektive, die jedoch ihrerseits »in einer Erstarrung von der oft beliebig erscheinenden Vielfalt der sichtbaren Welt« unterzugehen drohe. In einer »merkwürdigen Mischung aus Kapitulation vor übermäßiger Komplexität und gesteigerter Selbstreflexivität« sei an die Stelle der Suche nach einem »stabilen, geschlossenen Gegenstand Stadt nun die Untersuchung von Stadt-Verständnissen selbst« getreten. Durch die gesteigerte Komplexität der Verhältnisse (hervor gerufen durch Internationalisierung, Globalisierung und Differenzierung) sei die Fähigkeit zur soziologischen Analyse nicht nur geschwächt, sondern diese Schwäche werde in der linken Stadtforschung durch den Verzicht auf jeglichen fachwissenschaftlichen Zugang auch noch zum Programm erhoben (ebd.). Mit dieser Analyse begründen Häußermann und Kemper das Konzept der ›europäischen Stadt‹, das in der deutschsprachigen Stadtsoziologie – unter Häußermanns Federführung – zu einem exponierten Forschungsfeld ausgebaut wurde (vgl. auch Siebel 2004). Das Konzept der ›europäischen Stadt‹, so schreiben Häußermann und Kemper, sei die »regenerative Schleife auf dem Weg zu neuen Versuchen, die Stadt in ihrer Überdeterminiertheit und Komplexität als einheitliches Objekt zu verstehen und zu analysieren«, der Ansatz stelle sich gegen »universalistische Verallgemeinerungen« und wende sich gegen »theoretischen Pauschalisierungen« der ›Urban Theory‹ (Häußermann/Kemper 2005, 49). Im Rahmen der Kritik dieses stadtsoziologischen Konzeptes wird nun wiederum formuliert, dass ein solches Idealbild der ›europäischen Stadt‹ zu einem »normativen Überschuss« des stadtsoziologischen Diskurses führe, es seien deren »Bilder des 19. Jahrhunderts«, welche die Stadtsoziologie »bis in die jüngste Gegenwart mit einem normativen Orientierungssinn« versorgten (Berking/Löw 2005, 13). Dabei würden die spezifischen Leitbilder und Ideale der Stadt und des Städtischen »in die Betrachtungen der gegenwärtigen städtischen Wirklichkeit und ihre empirische Erforschung nicht nur einwandern, sondern diese überhaupt erst erzeugen« (Schroer 2005, 328). Die Diagnosen über den gegenwärtigen Zustand der Stadt seien nicht so sehr auf die empirische Erforschung des Gegenstandes zurück zu führen, sondern »zu einem erheblichen Teil auf einen kleinen, aber äußerst wirkungsmächtigen Kanon klassischer Texte über die Stadt« zurück zu führen. Durch die Dominanz des Leitbildes der ›alten Stadt‹ komme es zur normativen Aufladung der verwendeten Begriffen, die vertretenen Ideen und Ideale dienten »als Maßstab zur Bewertung der gegenwärtigen Stadt«, wobei es vor allem die »alte, europäische Stadt und die ihr zugeschriebenen Qualitäten« sei, die das Leitbild liefere (ebd.). Geraten wird der Stadtsoziologie, ihre Analysen »weniger nostalgisch« zu betreiben (ebd. 340). Der Blick auf die europäische Stadt entpuppe sich »bei genauerem
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Hinsehen als der Blick einer alteuropäischen, normativen Soziologie«, die Stadtsoziologie gebe mit dem Konzept der ›europäischen Stadt‹ ihre »analytischen Fähigkeiten« ab (Krämer-Badoni 2004, 443f.). Mit dem Konzept der ›europäischen Stadt‹ schließt sich der Kreis zum aktuellen Dichtegebrauch in der (Häußermannschen) Stadtsoziologie. Denn ›Dichte‹ ist weiterhin ein wichtiger Baustein dieses Konstrukts. Wenn von der ›europäischen Stadt‹ gesprochen wird, darf der Hinweis auf ihre ›Dichte‹ nicht fehlen, und Häußermanns Dichterezeption ist die Detaillierung des europäischen Stadtbausteins ›Dichte‹. Im Gegenentwurf zu den ›universalistischen Grundsatzdebatten‹ ist die (auch die ehemals selbst geäußerte) Kritik am Wirth’schen (beziehungsweise Durkheimschen) Dichteverständnis nicht mehr hilfreich, und in diesem Kontext wird der Ansatz einer ›empirischen Phänomenologie‹ der ›Dichte‹ nachvollziehbar. Allerdings bleibt beim Wandel von der Grundlagenkritik zur empirisch-phänomenologischen Betrachtung ein Hinterfragen des Konstrukts ›Dichte‹ auf der Strecke. Und zwar mit weitreichenden Konsequenzen. Dass Häußermann den Ursprung des Konstrukts ›Dichte‹ nun Simmel zuschreibt, löst ja noch lange nicht die Widersprüche, die in der langen Geschichte der stadtsoziologischen Verwendung des Begriffs angesammelt wurden. Durch dieses Vorgehen bleibt die begriffliche Aufbereitung aber wirklich bei Wirth stehen und verstetigt die gemeinläufige Kurzform ›(Europäische) Stadt ist gleich Größe, Dichte und Heterogenität‹. Die Nichthinterfragung (in einem Grundsatzartikel über den Begriff!) reproduziert die einfache Stadtkonstruktion von Wirth und trägt ihrerseits dazu bei, sie in eine Endlosschleife zu überführen. Häußermanns Dichteverwendung baut somit insgesamt auf einem recht komplexen und widersprüchlichen Beziehungsgeflecht auf. Wurde die (Durkheimsche und Wirth’sche) ›Dichte‹ von Häußermann selbst vor 25 Jahren mit marxistischer Argumentation (Irrelevanz von räumlichen Faktoren) vehement abgelehnt, wird sie nun rehabilitiert, und zwar eingebettet in dem Konzept der ›europäischen Stadt‹. ›Dichte‹ wird dabei zum europäischen Stadtbaustein, der – unter Auslassung der eigentlichen Wurzeln dieser Theorie – einem Simmelianischen Stadtkonzept zugeschrieben wird. Und das, obwohl Simmels Texte weit entfernt von einer solchen Konstruktion sind und das dort vertretene Raumverständnis eher der Marxschen Position (Ablehnung von räumlichen Kausalisierungen) ähnelt.6 Neben der Diskussion zur ›europäischen Stadt‹ gibt es mit dem Projekt ›Eigenlogik der Städte‹ einen weiterer stadtsoziologischer Bereich, in dem derzeit viel über ›Dichte‹ geredet wird (vgl. Berking/Löw 2008; 2005; Steets 2008). In diesem Rahmen wird – ebenfalls mit einem Seitenhieb auf 6
Zur Einbindung des Dichtebegriffs in das Konzept der ›europäischen Stadt‹ vgl. auch Roskamm 2010.
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die ›Urban Theory‹ – ausgeführt, dass nachdem die teilweise »überpointierten Kulturalisierungen« oder »verwirrenden Verweigerungen von Positionierungen« postmoderner oder poststrukturalistischer Ansätze ebenso wie zuvor die »einseitigen Fokussierungen« auf die politische Ökonomie in den Hintergrund getreten wären, nun die Möglichkeit entstanden sei, den kritischen Blick auf die »Wirklichkeit der Städte« zu werfen (Berking/Löw 2005, 19). Martina Löw (*1965) und Helmuth Berking (*1950)7 plädieren für einen »doppelten Fokus« zeitgemäßer ›Community Studies‹, mit dem sowohl die Verknüpfung von Handeln und Strukturen als auch die »spezifische Raum-Ort-Konstellation« sozialer Milieus in den Blick genommen werden solle. Wenn man den »distinkten Charakter eines Ortes« darüber beschreibe, wie sich »die ganze Welt in ihm Ausdruck und Anwesenheit« verschaffe, könne man auf die »kumulative Struktur lokaler Kulturen« und auf die »Sedimentbildungen einer bestimmten Stadt« als das entscheidende Material stoßen. Die Städte seien die »kognitive Rahmung« für Handlungs- und Zukunftsentwürfe sowie für die »Adaption und lokale Umschreibung global zirkulierender Wissensbestände und kultureller Artefakte«. Kennzeichen dieses »Perspektivwechsels« sei eine Fokussierung weg vom Allgemeinen hin zum Speziellen, vom Globalen zum Lokalen. Das Erkenntnisinteresse wechsele damit von der »Produktion von Raum« (so ein zentraler Terminus der ›Urban Theory‹) zur »Produktion von Lokalität«, vom »Wissensobjekt Stadt zu dem der Städte« (ebd. 20). Der Begriff ›Dichte‹ wird im Projekt ›Eigenlogik der Städte‹ ins disziplinäre Rampenlicht gestellt und als zentrales Element des Theorieaufbaus installiert. Dieser Versuch rekurriert wiederum in erster Linie auf die Untersuchung ›Territorium und Großstadt‹ von Gerd Held (*1951).8 In dieser Schrift schlägt Held vor, ›Raum‹ als »Strukturbildung« zu verstehen, die auf »bestimmte Mechanismen« zurückgehe und mit diesen Mechanismen »auf andere Sachverhalte« wirke. Held vertritt die Auffassung, dass »die raumstrukturelle Form« Inhalte präge, ermögliche und den »Umkreis der Möglichkeiten« erweitere (Held 2005, 9). Helds Raumtheorie basiert im Kern auf eine Trennung in ›Großstadt‹ und ›Staat‹. Der »Mechanismus des Ausschlusses« lasse territoriale (nationalstaatliche) Einheiten entstehen, der »Mechanismus des Einschlusses« konstituiere dagegen »agglomerative (großstädtische) Einheiten«. Der Staat beruhe, so formuliert Held, auf dem »territorialen Ausschlussprinzip«, die Stadt dagegen kenne »im Prinzip kei7 8
Löw und Berking sind ProfessorInnen für Soziologie an der TU Darmstadt. Held studierte Sozialwissenschaften und Sozialphilosophie in Hannover und Paris. Held promovierte und habilitierte sich an der Universität Dortmund und arbeitet derzeit als freier Publizist und Privatdozent. (www.gerdheld.de. Zugriff 2.3.2010)
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ne Grenze als Trennungsmechanismus« und sei in ihrem Wesen offen (ebd.). Die Großstadt beziehe ihre Stabilität »aus dem Mechanismus der relativen Dichte, die die Elemente in einen besonderen Zustand gegenseitiger Haftung und Übertragung« versetze. Die Raumstruktur werde »sozusagen als Häufung von Kontaktflächen gebildet« (ebd. 230). Die moderne Großstadt, so führt Held weiter aus, basiere auf einem »Schub in den Zivilisationstechniken der Verdichtung«, mit denen weitgespannte soziale und physische Beziehungen an einem Punkt gebündelt werden könnten. In der Moderne fände nun nicht einfach eine vermehrte Ansiedlung in Städten statt, sondern »eine Verselbstständigung des strukturellen Elements der Verdichtung« (ebd. 231). ›Dichte‹ bedeute eine hohe Intensität des Kontakts, die eine »Leichtigkeit des Zugangs und der Einflußnahme«, aber auch eine »Wehrlosigkeit und ein Ausgesetzt-Sein gegenüber fremden Zugang und fremder Einflußnahme« impliziere. In der »großstädtischen Dichtesituation« gäbe es keinen Ausschluss von Heterogenem, was einen »besonderen Reichtum« und eine »besondere Fülle der Dichtesituation« zum Ergebnis hätte, aber auch »eine besondere Härte, ja Grausamkeit«. Man sei den anderen Menschen oder den Dingen ausgesetzt, und man sei ihnen wahllos »in ihrer ganzen Heterogenität« ausgesetzt. Die Fremdheit der Herkunft, der Wirkungen und der Absichten von Menschen und Dingen werde »schockartig« erfahren, weil der Reduktionsmechanismus einer ausschließenden Grenze (im Gegensatz zur Territorialgrenze des Staates) fehle (ebd. 247). Helmuth Berking übernimmt diesen komplexen Begründungszusammenhang aus Helds Schrift und entwickelt ihn weiter zu einem Theoriekern des Projektes ›Eigenlogik der Städte‹. Auch Berking zielt auf die Unterscheidung von ›Territorium‹ und ›Großstadt‹, mit der ein Bezugsrahmen für eine »raumstrukturelle Differenzierungsleistung« entstehen würde, die eine »Separierung von räumlichen Einschluss- und Ausschlusslogiken« zur Folge habe (Berking 2008, 19f.). Berking formuliert (weiterhin mit deutlichem Bezug auf Held), dass der Großstadt (als Kontrapunkt zur Ausschlussfunktion des ›Territoriums‹) die Aufgabe zu käme, »Verdichtungsphänomene« zu organisieren und zu reglementieren. Lokale Lebensstile, Milieus oder Armut etwa ließen sich mit dieser Theorie nicht mehr als »städtische Phänomene« beschreiben, sondern als Produkte der jeweiligen lokalspezifischen »Verdichtungs- und Differenzierungsleistung«. Größe, Dichte und Heterogenität, so Berking weiter, seien als Folge dieser Herangehensweise nicht mehr als »Quantitäten« sondern in »ihren qualitativen Effekten« von Interesse. »Städtische Verdichtungsleistung« wird von Berking als »systematische Erhöhung der Kontaktintensität bei niedrigem Verpflichtungscharakter« definiert. Stadt organisiere ›Dichte‹ durch die extreme »Steigerung von Kontaktflächen«, Elemente verschiedenster Art würden nicht nur zusammengebracht, sondern in einen Aggregatzustand versetzt werden, der sie »reakti-
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onsfähig« mache und ihre gegenseitige Einflussnahme transformiere. ›Dichte‹ sei zugleich »härteste Zumutung« als auch »Ermöglichungsraum« (»eine Temperatur, ein Hitzegrad«), der die »Reaktionsfähigkeit zwischen heterogensten Elementen« bereitstelle und die »unmöglichsten Verbindungen Wirklichkeit werden ließe« (ebd.). Der Vorschlag von Berking ist es nun, ›Stadt‹ nach ihrer »Verdichtungsleistung« zu gliedern. Der Vorteil dabei sei, dass man dadurch »zunächst einmal« von einer inhaltlichen Begriffsbestimmung von Stadt absehen könne. Die relevanten empirischen Fragen seien fortan, was, wie, wo und mit welchen Effekten »verdichtet werde«. Für die künftige empirische Forschung des Stadt-Eigenlogik-Bereiches, so Berking, eröffne sich mit der ›Dichte‹ eine vielversprechende Perspektive: Das traditionelle Konzept, in dem die ›Stadt‹ als Arena für gesellschaftliche Probleme konzipiert sei, könne durch eine starke »Hintergrundorientierung« ersetzt werden, mit der – ohne übereilt in Funktionszuschreibungen für das gesellschaftliche Ganze Zuflucht suchen zu müssen – die »Stadt als Ganzes« zu erforschen sei. Die neue Form der komparativen Stadtforschung, so fasst Berking zusammen, solle um den »Konzeptbegriff Stadt als raumstrukturelle Form der Verdichtung« organisiert werden (ebd.).9 Offen bleibt meines Erachtens bei Berkings Ansatz, was das komplexe und widersprüchliche Konstrukt ›Dichte‹ dafür prädestiniert, eine stabile Grundlage für die künftige empirische Stadtforschung zu generieren. Möglicherweise sind es jedoch gerade die Komplexität und die Unbestimmtheit des Dichtebegriffs, die das Konstrukt als Grundlage bei der Suche nach dem größten gemeinsamen Nenner für den interdisziplinären Forschungsansatz geeignet erscheinen lassen. Allerdings gewinnt der Begriff dabei (zumindest vorläufig) nicht unbedingt an theoretischer Schärfe. Implizites Ziel von Berkings und Löws Ansatz ist es, die ›Stadt‹ – vermittelt über den Begriff ›Dichte‹ – als stadtsoziologischen Untersuchungsgegenstand zu rehabilitieren. Zum anderen sollen – so scheint es – damit nicht nur verschiedene Disziplinen (Stadtsoziologie, Stadtgeographie, Stadtplanung) verbunden, sondern auch die unterschiedlichen Ansätze – etwa der räumliche Ansatz des ›Spatial Turns‹ (vgl. Kapitel 3.3) und der klassisch stadtsoziologische Ansatz (etwa der ›europäischen Stadt‹) – miteinander versöhnt werden. Im Grunde, so lässt sich Berkings Konzept aus der hier eingenommenen Perspektive zuspitzen, wird dabei der Begriff ›Dichte‹ als eine Art dem Begriff 9
Auch Martina Löw bezeichnet den Dichtebegriff explizit als den momentan relevantesten Ansatzpunkt für den angestrebten neuen Blick auf die Stadt. ›Dichte‹, so argumentiert Löw, sei der Fluchtpunkt für die interdisziplinäre Zusammenarbeit, weil der Begriff über die Disziplinen nicht eindeutig definiert sei (auf einem Vortrag am 8.2.2010 in der Berliner Humboldtuniversität).
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›Stadt‹ vorgeschalteter Keuschheitsgürtel verwendet, der vor dem Erfordernis bewahren soll, ›Stadt‹ als gesellschaftlichen (also als stadtsoziologischen im Wirth’schen Sinne) – oder auch als revolutionären (also als postmarxistischen im Sinne der ›Urban Theory‹) – Gegenstand zu definieren. Ob diese Strategie erfolgreich sein wird, ob die Implementierung des Begriffs ›Dichte‹ als vermeintlich neutraler (aber dann doch Inhalt erzeugender) Perspektivgeber zu einem neuen Ansatz in der Stadtforschung beitragen kann, bleibt jedenfalls abzuwarten.10 Jetzt schon deutlich geworden ist allerdings, dass dem Konstrukt ›Dichte‹ in der stadtsoziologischen Debatte weiterhin höchste Relevanz zugemessen wird.
10 Vgl. auch das Kapitel ›Dichte‹ (ab S. 339) und Roskamm 2011.
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In diesem Kapitel bildet die Sozialpsychologie den Kontext meiner Dichtebetrachtung. In der Sozialpsychologie wird ›Dichte‹ vor allem als ein Phänomen behandelt, dessen Wirkung auf das Verhalten des Individuums untersucht wird. Die Geschichte des expliziten Dichtegebrauchs in der Sozialpsychologie beginnt eigentlich erst in den 1960er Jahren mit dem Forschungsfeld ›Crowding‹. Es bestehen jedoch diskursive Wurzeln bei den Vorläufern der Sozialpsychologie, die in meine Betrachtung des Dichtebegriffs mit einbezogen werden sollen. Als eigenständige Disziplin ist die Crowdingforschung aus den Diskursen der ›Massenpsychologie‹ des späten 19. Jahrhunderts und der Sozialökologie der Chicago School hervor gegangen. In diesen beiden (zeitlich begrenzten) Wissensfeldern stehen mit der ›Masse‹ und der ›sozialen Distanz‹ zwei Begriffe im Vordergrund, die eng mit der ›Dichte‹ verbunden sind und mit denen die Weichen für den (späteren) intensiven Gebrauch von ›Dichte‹ in der sozialpsychologischen Forschung gestellt wurden. Zwischen der ›Dichte‹ und der ›Masse‹ lassen sich dabei etliche Gemeinsamkeiten feststellen. Der Begriff ›Masse‹ hat – genauso wie der Begriff ›Dichte‹ – seine Wurzeln in der Physik und eine Bedeutungsdimension auf der sozialen (nicht physikalischen) Ebene. Die ›Masse‹ bezieht sich (wie die ›Dichte‹) auf eine Anzahl von Menschen und wird (ebenso) als ein bedeutsamer Begriff in politischen, philosophischen, sozialwissenschaftlichen und literarischen Diskursen verwendet. Der Begriff ›Masse‹ hat allerdings nicht den Schwerpunkt auf den (dem Begriff ›Dichte‹ immanenten) räumlichen Bezug und lässt sich auch weniger als das Konstrukt ›Dichte‹ auf die Angabe einer Zahl reduzieren. Der sozialpsychologische Kontext der ›Masse‹ (auch dieses Konstrukt hat unterschiedliche disziplinäre Heimaten) ist die ›Massenpsychologie‹, als deren erster Bezugspunkt regelmäßig die Schrift Les lois de l’imitation von
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Gabriel Tarde (1841-1902)1 genannt wird.2 Allerdings ist Tardes Schrift von den ›Gesetzen der Nachahmung‹ keine psychopathologische oder gar kriminologische Studie, sondern die Ausführung einer dezidiert soziologischen Theorie und eine Positionsbestimmung im Kontext der sich zu dieser Zeit als eigenständige Disziplin bildenden Soziologie. Tarde entwirft eine »reine Soziologie«, die die »rein soziale Seite der menschlichen Tatsachen« zum Thema hat (Tarde 2009, 21). Tarde stellt heraus, dass der »außergewöhnliche Vorteil« der Soziologie gegenüber allen anderen Bereichen sei, dass ihr Forschungsgegenstand aus den »wirklichen Ursachen, die überall sonst den Blicken entzogen sind« bestehen würden, nämlich aus den »Handlungen der einzelnen, aus den die Tatsachen gemacht sind« (ebd. 25). Damit ist Tardes Theorie dezidiert gegen einen naturalistischen (sozialdarwinistischen) Ansatz gerichtet, respektive »gegen den biologischen oder mechanischen Anstrich, den man der Soziologie bisher immer geben wollte« (ebd.). Tarde deduziert seinen Ansatz aus der These, dass der Fortgang der Geschichte im Wesentlichen auf »Ähnlichkeiten und Wiederholungen« beruhe, wobei er in drei »Hauptformen der universellen Wiederholung« unterscheidet: erstens die Ähnlichkeiten, die in der Chemie, Physik und Astronomie beobachtet werden können (also die stofflichen Eigenschaften), zweitens die Ähnlichkeiten lebendigen Ursprungs beziehungsweise der ›Welt des Lebendigen‹ (die biologischen Eigenschaften) und drittens die Ähnlichkeiten sozialen Ursprungs (die sozialen Eigenschaften). Tardes entwickelt damit ein Erklärungsmodell für das gesamte Weltgeschehen und weist der eigenen Disziplin (der Soziologie) einen exponierten Platz dabei zu. Zudem leitet Tarde mit der Bestimmung der drei ›Formen der universellen Wiederholung‹ zum eigentlichen Thema seiner Theorie über: Die »Ähnlichkeiten sozialen Ursprungs«, so führt Tarde aus, seien die »Früchte jedweder Nachahmung« (ebd. 37f.). Ausgangs- und Zielpunkt von Tardes soziologischen Thesen ist die Gesellschaft. Tarde wendet sich zum einen gegen die ökonomische Bestimmung von dem, was mit ›Gesellschaft‹ bezeichnet wird, also gegen die An1
Tarde studierte Philosophie und Rechtswissenschaften, arbeitete anschließend als Richter und wurde 1894 zum Leiter der kriminalistischen Abteilung des Justizministeriums ernannt. Im gleichen Jahr wird Tarde auch zum Präsidenten der Internationalen Gesellschaft für Soziologie und Rechtswissenschaften. 1900 wird Tarde zum Professor für neuzeitliche Philosophie am ›Collège de France‹ in Paris berufen. (Jordan 2004).
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Tardes Theorie wird in der aktuellen deutschsprachigen Debatte neuerdings verstärkt wahrgenommen, wovon etwa die Veröffentlichung der Übersetzung der ›lois de l’imitation‹ ins Deutsche (Tarde 2009 [1890]) und der Sammelband ›Soziologie der Nachahmung und des Begehrens‹ (Borch/Stäheli 2009) zeugen.
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nahme, dass sich Gesellschaft alleine durch Austauschbeziehungen bilde und durch diese zusammengehalten werde. Zum anderen sei jedoch auch der ›Vertrag‹ nicht das »erste Band« zwischen den »menschlichen Willen« – schon seit langem glaube man nicht mehr an »Rousseaus Äußerungen ›über den Gesellschaftsvertrag‹« (ebd. 379). Jenseits der ökonomischen und jenseits der juristischen Erklärung von Gesellschaft gäbe es, das ist Tardes Ansatz, ein »soziales Band«, welches zum gesellschaftlichen Zusammenhalt führe. Und dieses Band werde gebildet durch die ›Nachahmung‹. Man müsse, so lautet Tardes oft wiederholtes Credo, »immer wieder auf Nachahmung zurückkommen« (ebd. 82). Selbst die Geschichte sei auf diese Art zu erklären, sie wäre einzig am »Schicksal der Nachahmungen interessiert« und die »Sammlung der erfolgreichsten Dinge«, also der »am meisten nachgeahmten Initiativen« (ebd. 157). Tardes Kernthese ist somit die von der zentralen Bedeutung der ›Nachahmung‹ für sämtliche gesellschaftlichen Prozesse. Tarde bezeichnet die ›Nachahmung‹ als den »Grund für alle sozialen Tätigkeiten« (ebd.). ›Nachahmung‹ definiert Tarde dabei als »Fernwirkung eines Geistes auf den anderen«, als den »Abdruck zwischengeistiger Fotografie« (ebd. 10), als »aktive oder passive Spiegelung eines Gehirns« (ebd. 215). Nachahmungen können, so führt Tarde seinen Ansatz weiter aus, in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten, sie seien »bewußt oder unbewußt«, »überlegt oder spontan«, »freiwillig oder unfreiwillig« (ebd. 210). Beispiele solcher ›Nachahmungen‹ seien etwa »Worte einer Sprache, Mythen einer Religion, Geheimnisse einer Kriegskunst, literarische Formen« (ebd. 60). Das, was nachgeahmt werde, sei eine Idee, ein Wille, ein Urteil oder eine Absicht, in denen sich eine gewisse Dosis »Überzeugung und Begehren« ausdrücke. ›Überzeugung und Begehren‹ sind nach Tarde die beiden »psychologischen Quantitäten«, die auf dem »Grund aller Empfindungsqualitäten« zu finden sind und die »Seele der Wörter einer Sprache, der Gebete einer Religion, der Behörden eines Staates, der Artikel eines Gesetzbuches« bilden (ebd. 163f.). Neben die ›Nachahmung‹ stellt Tarde die ›Erfindungen‹, die als »jede beliebige Neuerung oder Verbesserung in jeglicher Art von sozialen Phänomenen« definiert werden. Die Geschichte wird bei Tarde damit über die »Ideen ihrer Subjekte« erklärt (ebd. 27). Die ›Erfindung‹ sei Quelle der aristokratischen Privilegien, Monopole und Ungleichheiten, die ›Nachahmung‹ hingegen die »nivellierende und demokratische« Kraft (ebd. 394). Die wirklichen Ursachen für soziale Veränderungen bestünden aus einer Kette von sehr zahlreichen Erfindungen, die durch noch »viel zahlreichere Nachahmungshandlungen, deren Vorbild sie darstellen, miteinander verbunden« seien (ebd. 26). Beide zusammen – die ›Erfindung‹ und die ›Nachahmung‹ – erklärt Tarde zu den »elementaren sozialen Handlungen« (ebd. 163), zu den beiden Hauptkräften, aus denen sich die gesamte Geschichte der Menschheit erklären lasse (ebd. 394). Im Sozialen geschehe
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»alles als Erfindung und Nachahmung«, wobei die »Nachahmungen die Flüsse« und die »Erfindungen die Berge« seien (ebd. 27). Bei der Frage nach dem Kern der ›Nachahmung‹, so bemerkt Tarde, müsse jedoch der Soziologe dem »Psychologen das Wort überlassen« (ebd. 95). Tarde vermutet den Auslöser der ›Nachahmung‹ in einer Gehirnfunktion, die auf eine psychologische (»subsoziale«) Nachahmungstätigkeit zurückzuführen sei, aus der dann die »soziale Nachahmung« folge. Die Wirkung von einem Gehirn zum nächsten sei mit einer »hypnoptischen Suggestion« vergleichbar (ebd. 216), und diese unbewusste Übertragung sei Ursprung und Ursache der ›Nachahmung‹. Tarde bezeichnet ›Nachahmung‹ als eine Art ›Somnambulismus‹, als (in Teilen) rational nicht erfassbare Interaktion zwischen den Menschen. Damit sei auch die »scheinbar klarste und oberflächlichste Soziologie« innerhalb der Psychologie verwurzelt, und zwar in deren »intimsten und dunkelsten Seite« (ebd. 108f). An diesem Punkt seiner Nachahmungstheorie angekommen, beschäftigt sich Tarde auch mit der ›Stadt‹ und deren Auswirkungen auf das Individuum. Jegliche »intellektuelle Anstrengung«, so schickt Tarde voraus, setze bei einem Menschen immer dann aus, wenn er sich in einer »belebten Umgebung« aufhalte, in einer »dichten und abwechslungsreichen« Gesellschaft (ebd. 105f.). Das städtische Leben sei das »konzentrierteste und zum äußersten getriebene soziale Leben«, in dem der Geist immer überreizter werde, immer weniger rational kontrolliert und daher umso aufnahmefähiger für die ungesteuerte Nachahmung. Die großen »modernen Städte« zeichneten sich durch die »Intensität der inneren Nachahmung« aus, die sich wiederum nach der »Dichte der Bevölkerung und der vielfältigen Mannigfaltigkeit der Bezüge ihrer Bewohner untereinander« richte (ebd. 255). Der geistige Zustand des Städters, so formuliert Tarde, sei der des »Somnambulen«. Mit dieser speziellen Ausformung einer psychologisch basierten Stadtsoziologie erklärt Tarde auch die zu seiner Zeit viel diskutierte ›dunkle Seite‹ der Stadt. Die Statistiken der Verbrechen, Selbstmorde und geistigen Störungen würden zeigen, dass es sich hier um »negative Auswüchse des Stadtlebens handele« (ebd. 131). Und diese These führt Tarde dann auch zum Begriff der ›Masse‹. Das »erste Laster«, das sich »in großen Menschenansammlungen, in denen Männer und Frauen vertreten sind, oder in neu besiedelten Städten« entwickele, sei die »Unzucht« (ebd. 212f.). Aber auch die »Neugierde« sei ein solches mit der Stadt und der ›Masse‹ verbundenes Phänomen, ihr käme geradezu ein »Ehrenplatz bei den nachgeahmten Dingen« zu. Alle Menschenaufläufe, die hinterher zu religiösen, politischen, künstlerischen oder industriellen Revolutionen geführt hätten, seien mit diesem »beherrschenden Gefühl« begonnen worden. Durch die »Wirkung der gegenseitigen Spiegelung« würde in der ›Masse‹ durch die Ausbreitung des Nachahmungsimpul-
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ses in jedem einzelnen die »Intensität dieses Begehrens« wachsen (ebd. 214). Tardes Nachahmungsthese steht damit am epistemologischen Scheidepunkt von Soziologie und Sozialpsychologie. Seine Theorie ist zwar dezidiert als eine soziologische konzipiert, aber die große psychologische Bedeutung ist der zentralen Begrifflichkeit ›Nachahmung‹ deutlich immanent. Und auch für die Begriffe ›Masse‹ und ›Dichte‹ sind Tardes ›Gesetze der Nachahmung‹ richtungsweisend. Tarde selbst räumt den Begriffen ›Masse‹ und ›Dichte‹ zwar keinen besonderes exponierten Stellenwert in seinen Ausführungen ein, für die weitere Verwendung der beiden Begriffe im soziologischen und sozialpsychologischen Diskurs enthält seine Theorie allerdings entscheidende Ansatzpunkte. Tardes ›Gesetze der Nachahmung‹ können aus dieser Perspektive als Basis sowohl für den Diskurs der ›Massenpsychologie‹ als auch für die Verwendung des Begriffs ›Dichte‹ (und die dabei vorgenommene negative wie positive Moralisierung) im soziologischen und sozialpsychologischen Kontext gesehen werden. Tarde differenziert ›Nachahmung‹ in eine pathologische und in eine gesellschaftliche Ausformung. In der pathologischen Ausformung führt die ›Nachahmung‹ (in der ›Masse‹) zu einer fieberhaften Ansteckung der Menschen untereinander, und diese These ist nicht nur Grundannahme der ›Massenpsychologie‹, sondern wird – übertragen auf den Begriff ›Dichte‹ – auch zum Ausgangspunkt des Forschungsfeldes ›Crowding‹ (Kapitel 2.3). Auf der anderen Seite stellt Tarde an den Beginn der Soziologie die These von der gesellschaftsbildenden Wirkung der Menschenmenge, und diese Annahme wird von Emile Durkheim kurz darauf ausgebaut und in Folge der ›Dichte‹ die Funktion als (hauptsächliche) Ursache für gesellschaftliche Fortentwicklung zugewiesen (vgl. Kapitel 1.1).3 Als Protagonist im nachfolgenden Diskurs über die ›Masse‹ ist mit dem italienischen Juristen Scipio Sighele (1868-1913)4 ein weiterer Rechtswissenschaftler zu nennen, der im Jahre 18915 (nur ein Jahr nach Tardes ›Gesetzen der Nachahmung‹) mit seiner Schrift La Folla Delinquente den 3
Durkheim und Tarde gelten als die großen Gegenspieler in der Gründungsepoche der französischen Soziologie. Durkheim warf Tarde eine Überforderung seines Nachahmungsbegriffes vor, und er schreibt ihm auch die Tendenz zu einer großstadtfeindlichen Perspektive zu (vgl. Durkheim 1992, 317).
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Sighele studierte Rechtswissenschaften in Rom und war danach als Journalist und Autor tätig. Am ›Institut des Hautes Etudes‹ der Universität Brüssel gab Sighele Kurse zur ›Massenpsychologie‹ und ›Sozialkriminologie‹. (vgl. http://www.imss.fi.it/milleanni/cronolgia/biografie/sighele.html. 2010)
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Sigheles Schrift wurde 1897 auch ins Deutsche übersetzt.
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eigentlichen Gründungstext der ›Massenpsychologie‹ lieferte (vgl. Gamper 2007). Sigheles Text ist als Diskussionsbeitrag über eine Justizreform in Italien angelegt, in der die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Individuums (ob der Straftäter in der ›Masse‹ als voll zurechnungsfähiges Individuum zu betrachten ist) verhandelt wurde. Sighele sammelt in seinem Buch Beobachtungen zum Kollektivverhalten aus verschiedenen Fächern (etwa der Kriminalanthropologie, der Ethologie und der Historiographie) und entwickelt daraus (in deutlicher Anlehnung an Tarde) die These, dass in der ›Masse‹ emotional verstärkte und beschleunigte Nachahmungsakte auftreten würden, und zwar aufgrund der körperlichen Nähe der Menschen zueinander. Alle Menschen, so formuliert Sighele, würden dem Triebe unterliegen nachzuahmen, was sie sehen, was sie beobachten und was sie erfahren (Sighele 1897 [1891], 48). Wie »die Wespen, wie die Vögel«, die manchmal »durch einen leisen Flügelschlag in eine unwiderstehliche Panik gejagt werden«, würden auch die Menschen reagieren, wenn sie in einer »Masse zusammengedrängt« sind. Unter ihnen verbreite sich eine Erregung »durch blosses Sehen und Hören ihrer Äußerung«, noch ehe ihre Ursache bekannt geworden sei (ebd. 73). Die »Massenbildung« schwäche die »geistige Kraft ebenso wie die sympathischen Gefühle«. Sighele führt zum Beweis seiner Thesen Analogien zu Verhaltensexperimenten mit Tieren (auch das eine Methode, an die später in der Crowdingforschung angeknüpft wird). Sighele verweist etwa auf das Experiment eines Ameisenforschers, der aus zweier sich erbitterst bekämpfenden Ameisenheere einige »Individuen« isolierte und in ein Gefäß setzte, wo die eben noch kriegerischen Tiere plötzlich »ganz freundschaftlich« miteinander umgingen: Für Sighele ist dieses Experiment der Beweis, dass die »Ursache, aus welcher sich in der Menge die Regungen der Grausamkeit und Aggression ergeben, die große Zahl ist« (ebd. 106). Bei Sighele steht die These von der pathologischen Wirkung der ›Masse‹ auf den Einzelnen damit deutlich im Vordergrund, die (von Tarde ebenfalls behauptete) gesellschaftskonstituierende Wirkung der ›Masse‹ wird bei Sighele dagegen nicht weiter verfolgt. Aus seinen »sich eher assoziativ als kausallogisch ergänzenden Argumenten« resümiert Sighele seine Charakterisierung der ›Masse‹ als impulsives, wahnsinniges, instinktgeleitetes Tier (Gamper 2007, 418f.). Mit Sighele vollzieht sich damit die Trennung von einer gemeinsamen (soziologischen und sozialpsychologischen) Perspektive zu einer auf das Individualverhalten ausgerichteten Sichtweise und in Folge dessen auch eine Festigung der Bewertung der Menschenmenge als ein Phänomen mit negativer Auswirkung.
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Nach Sighele haben vor allem Gustave Le Bon (1841-1931)6 und seine Psychologie des Foules zur Bekanntheit und Verbreitung des Projektes ›Massenpsychologie‹ beigetragen. Le Bons Schrift zeichnet sich besonders dadurch aus, dass die Formulierungen drastischer und populärer ausfallen als die von Sighele und Tarde, auf deren theoretisches Grundgerüst sich Le Bons Ausführungen stützen. Auch Le Bons Interesse gilt insbesondere der ›psychologischen Masse‹, der flüchtigen, vorübergehenden Erscheinung, die »aus Teilen jener dauerhaften soziologischen Massen« besteht und sich bei Aufläufen und spontanen Demonstrationen bildet (Le Bon 1950 [1895], XVI). Le Bon konzipiert die Analyse der ›Masse‹ in Kontinuität seiner Forschungen über die »Rassenseele« (ebd. XXVIII) und stellt die ›Massenpsychologie‹ damit in eine Linie mit den anthropologischen Rassediskursen seiner Zeit. Le Bons »Grundgesetz« lautet, dass die »niederen Eigenschaften der Masse« umso weniger betont wären, je stärker die »Rassenseele« ausgestaltet sei (ebd. 136). Mit der ›Masse‹ verbindet Le Bon allgemein Attribute wie Triebhaftigkeit, Beweglichkeit, Erregbarkeit, Beeinflussbarkeit, Leichtgläubigkeit, Unduldsamkeit und Herrschsucht. Nach Le Bon führt die ›Masse‹ dabei nicht nur zu einem »Individualitätsverlust«, sondern auf Dauer auch zum Absinken des »Kulturniveaus der zivilisierten Menschheit«. In der ›Masse‹, damit bringt Le Bon seine Ansichten auf den Punkt, werde das Individuum »zum Barbar« (ebd. 19). Durch Le Bon erhielt das Thema ›Masse‹ große Aufmerksamkeit in den politischen und gesellschaftlichen Diskursen der Jahrhundertwende. Das Phänomen der ›Masse‹ wurde in Le Bons ›Massenpsychologie‹ zur Matrix einer wissenschaftlichen Disziplin, deren epistemologischer Status jedoch stets umstritten blieb. Le Bon gelang es, fast alle relevanten sozialen Phänomene seiner Zeit unter dem Aspekt der ›Masse‹ zu diskutieren, wobei dieser Diskussion eine »recht unterkomplexe Auffassung des Sozialen« zugrunde gelegen hat (Gamper 2007, 432). Die klare und einfache Terminologie trug zur leichten Popularisierung der Theorie bei und katapultierte die ›Masse‹ als Begriff und Konzept ins Zentrum der »pessimistischen Gegenwartsdiagnostik« (ebd.). Die Erkenntnisse der massenpsychologischen »Knet- und Brotteigmetaphorik« (Friedrich 1999, 309) wurden von Le Bon in seiner ideologisch voraussetzungsreichen, von Ressentiments getragenen empirischen Studie (Gamper 2007, 431f.) zusammengefasst, rhetorisch prägnant aufbereitet und so zum schlagkräftigen Diskurs formiert. Die ›Massenpsychologie‹ wurde dabei vor allem als ›Massenverachtung‹ profi-
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Le Bon arbeitete nach seinem Medizinstudium in Paris ab 1866 als praktischer Arzt und als Autor.
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liert.7 Die ›Masse‹ der ›Massenpsychologie‹ bezeichnet ein »entschieden verwerfliches Phänomen«, eine »instabile und launische soziale Totalität«, die »von Trieben geleitet wird und sich den Einzelnen restlos unterwirft« und dabei »Enthemmung bewirkt« (Bernauer 1990, 61). Die ›industrialisierten Massen‹, so das entworfene Schreckensbild, würden die bürgerliche Öffentlichkeit erobern, sich zusammen rotten und demonstrierend oder revoltierend durch die Straßen ziehen (Günzel 2002, 125). Ein weiterer wichtiger Aspekt in Le Bons Schrift ist die Steuerbarkeit der ›Masse‹ durch einen ›Führer‹. Sobald eine gewisse Anzahl lebender Wesen (»einerlei ob eine Herde Tiere oder eine Menschenmenge«) vereinigt sei, so formuliert Le Bon, unterstelle sie sich »unwillkürlich einem Oberhaupt, d.h. einem Führer« (ebd. 97). Die ›Masse‹ befände sich – so der Ansatz von Le Bon – in permanenter Disposition zur Hypnose und würde daher durch einen ›Hypnotiseur‹ (den ›Führer‹) steuerbar (vgl. auch Bernauer 1990, 61). Das Wissen über die Funktion der Hypnose wird von Le Bon als Hilfsmittel für den Staatsmann konstruiert, wobei über den Hypnotiseur selbst allerdings kein Wort verloren wird (vgl. Günzel 2002).8 Le Bons Bezug auf die Hypnose und auf die Rolle eines ›Führers‹ entspringt dabei ebenfalls der Theorie von Tarde, der bereits ausführte, dass ein »energischer und autoritärer Mensch« über »schwächere Naturen eine unwiderstehliche Kraft« besäße (Tarde 2009, 216f.).9 Eine Kritik an Le Bons ›Massenpsychologie‹ und ganz anders geartete Betrachtung des Themas ›Masse‹ findet sich in Sigmund Freuds (1856-
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In seiner ebenso umfangreichen wie anregenden ›Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Masse‹ arbeitet Michael Gamper neben der Angst des Bürgertums vor dem Aufruhr noch einen weiteren Aspekt heraus: Mit Bezug auf Nietzsche identifiziert Gamper die These der »vermittelmäßigende ›Vermassung‹ der Gesellschaft«. Nietzsche habe in seiner »spezifischen Elitetheorie« mithilfe eines »radikalen Antinormalismus« die (von ihm so wahrgenommenen) Effekte der Industrialisierung mit »tradierten Unterschichtsstereotypen« gekoppelt. Neben der Angst vor dem revolutionären Aufruhr stand die ›Masse‹ demnach auch für die Furcht, dass die ›Vermassung‹ die Mittelmäßigkeit der gesamten Gesellschaft verursache (vgl. Gamper 2007, 398f.).
8
Auch Sigmund Freud formuliert in seiner Auseinandersetzung mit der ›Massenpsychologie‹ (siehe weiter unten), es berühre »als eine empfindliche Unvollständigkeit«, dass eines der Hauptstücke dieser Angleichung, nämlich die Person, welche für die Masse den Hypnotiseur ersetzt, in der Darstellung Le Bons nicht erwähnt wird (Freud 1967 [1921], 15).
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Gleichzeitig führt Tarde den ›Gehorsam‹ als eine wichtige Form der ›Nachahmung‹ ein (Tarde 2009, 216).
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1939)10 Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse aus dem Jahre 1921. Freud nähert sich der ›Masse‹ nicht von der soziologischen, sondern von der individualpsychologischen Richtung her. Jedoch könne man in der Individualpsychologie, so entwickelt Freud seinen Ansatz, regelmäßig nicht von den Beziehungen des Einzelnen zu anderen Individuen absehen und daher sei Individualpsychologie von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie gewesen (Freud 1967 [1921], 9f.). Auf der anderen Seite müsse die Arbeit der ›Massenpsychologie‹ ergebnislos verlaufen, wenn sie sich nicht mit dem Individuum selbst beschäftige. Für Freud entsteht ›Masse‹ deshalb, weil sich die Einzelnen miteinander identifizieren, weil sie ein »identisches Ich-Ideal, den Führer, internalisiert haben«. Freud interpretiert die Ergebnisse der ›Massenpsychologie‹ aus Sicht einer solchen Perspektive auf das Individuum. Das Individuum gerate in der ›Masse‹ unter Bedingungen, die ihm gestatten würden, »die Verdrängungen seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen«. Die anscheinend neuen Eigenschaften, die es dann zeige, wären Äußerungen dieses Unbewussten, in dem »alles Böse der Menschenseele in der Anlage« bereits enthalten sei. Das »Schwinden des Gewissens oder Verantwortungsgefühls« sei unter diesen Umständen leicht zu verstehen, der Kern des »sogenannten Gewissens« wäre nämlich die »soziale Angst« (ebd. 13). Freud führt weiter aus, dass auch gegenteilige »Äußerungen der Massenbildung« zu erkennen seien. So würde unter Umständen die »Sittlichkeit der Masse« höher liegen, als die der sie »zusammensetzenden Einzelnen«. Möglicherweise, so formuliert Freud, wäre es erst die Gesellschaft, die dem Einzelnen die »Normen der Sittlichkeit« vorschreibe, während der Einzelne »in der Regel irgendwie hinter diesen hohen Ansprüchen« zurückbleibe (ebd. 21). Eine solche positive Wertung ergäbe zusammen mit der herkömmlichen negativen Konnotation auf den ersten Blick »vollkommene Widersprüche«. Auf den zweiten Blick ließe sich jedoch erkennen, dass die von Tarde, Sighele und Le Bon beschriebenen (negativen) Masseauswirkungen sich auf »Massen kurzlebiger Art« beziehen würden, während die gegensätzlichen Behauptungen aus »der Würdigung jener stabilen Massen oder Vergesellschaftungen« stammten, in denen die »Menschen ihr Leben zubringen« (ebd. 22). Freud nimmt damit die bereits in Tardes Nach10 Freud studierte Medizin an der Universität in Wien, promovierte sich dort 1881, habilitierte sich 1885 und wurde 1902 zum Professor für Neuropathologie berufen. Freud veröffentlichte neben seiner Tätigkeit als Arzt zahlreiche Schriften über neurologische und psychologische Themen (etwa zur Sexualtheorie und zur Traumdeutung) und avancierte zum Begründer der ›Psychoanalyse‹. Nach 1933 war Freud zahlreichen Repressionen durch die Nationalsozialisten ausgesetzt und emigrierte 1938 nach London. http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/Freud Sigmund/, Zugriff 25.02.2010)
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ahmungstheorie vorgenommene Unterscheidung wieder auf und trennt zwischen den Folgen der spontanen Massenbildung und den Folgen der stabilen dauerhaften ›Masse‹. Freuds Blick auf die ›stabile Masse‹ führt weg von dem Fokus auf das temporäre Massenereignis und hin zur Betrachtung der Auswirkungen der dauerhaften (strukturellen) Konzentrationen von Menschen. Die von Freud als Gegenspieler zum spontanen Massenauflauf konstruierte dauerhafte respektive strukturelle Massenbildung ist dabei sehr nah an der ›hohen Dichte‹ der Großstadt angelegt und ihr wird (wie in der Stadtsoziologie) ebenfalls eine gesellschaftsbildende Wirkung zugeschrieben. So kann auch Freud als ein Wegbereiter für die Unterteilung in die unterschiedlichen Gebrauchspraxen der ›Dichte‹ – in die Sozialpsychologie (der Untersuchung der Auswirkungen der Menschenmenge auf das Individuum) und in die Soziologie (der Untersuchung der vergesellschaftenden Wirkung der Menschenmenge) – bezeichnet werden. Im wissenschaftlichen Diskurs, so lässt sich dieser Blick auf die ›Massenpsychologie‹ zusammenfassen, wurde die Funktionsweise des Massenverhaltens zu einem sozialpsychologischen Forschungsgegenstand mit großer Popularität. Die Menschenmengen (Bauernaufstände, Streiks und Demonstrationen) und die Gefahr, die von ihnen ausging, wirkten als »Diskursmotoren, welche die Wissenselemente zusammen- und die Erkenntnislage vorantrieben« (Gamper 2007, 408f.). Und mit dem Diskurs über den Begriff ›Masse‹ wurde auch die Debatte über den Begriff ›Dichte‹ beeinflusst. Gabriel Tarde liefert mit seiner Nachahmungstheorie einen Erklärungsansatz für die Ursache und Wirkung von sozialen Interaktionen und trägt damit zur Grundlagenforschung über Ursache und Wirkung der ›Dichte‹ bei (ohne den Begriff selbst explizit zu verwenden). Zum einen kann Tardes ›Gesetze der Nachahmung‹ damit als Vorläufer von Durkheims Dichtetheorie und der Einbindung der ›Dichte‹ als Ursache für gesellschaftliche Entwicklung gelesen werden, zum anderen wird von Tarde der Blick auf die psychologischen (und pathologischen) Wirkungszusammenhänge gelenkt. Daraus wird bei Scipio Sighele und Gustave Le Bon die ›Massenpsychologie‹ als eigenständiger Wissensbereich abgeleitet, mit dem auf der soziologischen und sozialpsychologischen Diskursbühne der Weg für eine (der positivistischen Gesellschaftstheorie eines Emile Durkheim gänzlich entgegengesetzten) negative Bewertung von Menschenmengen geebnet wurde. Es waren jedoch nicht nur die spontanen Massenaufläufe, sondern auch die permanenten Menschenmengen der Proletarier- und Unterschichtsviertel, welche die Umsturz- und Revolutionsängste des Bürgertums schürten. Die vor allem in den Großstädten in Erscheinung tretenden Menschenmengen, die als nach eigenen Regeln agierende ›Massen‹ wahrgenommen wurden, führten in der konservativen Politik und Wissenschaft zu Angst und Verunsicherung. Und während die Bekämpfung der ›temporären Masse‹ vornehmlich als polizei-
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liche Aufgabe gesehen wurde, wurde die Bekämpfung der ›strukturellen Masse‹ (der ›hohen Dichte‹) Bestandteil von anderen administrativen und politischen Betätigungsfeldern. Der Massediskurs wurde derweil zunehmend von den Vertretern einer konservativen völkisch-nationalen Haltung geführt und auch für den Nationalsozialismus spielte der Begriff eine wichtige Rolle.11 Zudem ist die ›Massenpsychologie‹ als Beitrag zur (besonders in Deutschland) traditionsreichen und in literarischen, politischen und wissenschaftlichen Debatten gepflegten Großstadtfeindschaft zu sehen, der Massediskurs diente zur wissenschaftlichen Fundierung dieses – über viele politische und disziplinäre Grenzen hinweggehenden – Konsensus. Die Kontinuitäten (und Diskontinuitäten) der völkisch-nationalen Debatten sowie die Entwicklung der Großstadtfeindschaft werden bei meiner weiteren Betrachtung des Dichtegebrauchs im geographischen, bevölkerungswissenschaftlichen, raumplanerischen und städtebaulichen Kontext noch ausführlich diskutiert.
2.2 Ü BER D ISTANZ Als Bindeglied zwischen der Durkheimschen Soziologie und dem Forschungsfeld ›Crowding‹ fungiert die Chicago School of Sociology. In der aktuellen Dichterezeption wird vor allem auf eine große Bedeutung der Chicago School für den Gebrauch der ›Dichte‹ im stadtsoziologischen Kontext hingewiesen (vgl. Kapitel 1.2). Hier soll jedoch ein anderer Zusammenhang untersucht werden (und damit im Vordergrund stehen), nämlich den Einfluss der Chicago School auf den Dichtegebrauch in der Sozialpsychologie. Daher wird in diesem Kapitel die Chicago School und deren zentrale Theorie der ›Stadtökologie‹ kurz beleuchtet, bevor über den Umweg der ›sozialen Distanz‹ (einem zentralen Begriff der Chicago School) der konstatierte Einfluss auf die Sozialpsychologie (beziehungsweise die Crowdingforschung) genauer in Augenschein genommen wird. Der Begriff ›soziale Distanz‹ ist dabei konstruiert als ein Kehrwert des Konstrukts ›Dichte‹ und mit dem damit einhergehenden Austausch von Zähler und Nenner – so lautet meine These – wird auch ein Wechsel von der (im stadtsoziologischen Diskurs etablierten) positiven zu einer (den nachfolgenden sozialpsychologischen Diskurs bestimmenden) negativen Bewertung der ›Dichte‹ vorgenommen. 11 Zum weiteren Gebrauch des Begriffs ›Masse‹ im völkisch-nationalen respektive nationalsozialistischen Diskurs (etwa in den Schriften Oswald Spenglers und des Rassenbiologen H.F.K. Günther) vgl. Bergmann 1970, 340f.
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Robert Ezra Park (1864-1944)1 ist einer der Gründungsväter der im Jahre 1892 gegründeten Chicago School. Deren theoretischer Rahmen entwickelte sich aus einer Auseinandersetzung mit dem Darwinismus und der Säkularisierung innerhalb der Philosophie, die Abkehr vom Schöpfungsgedanken erzeugte einen Bedarf nach »sozialer Wissenschaft« (Vortkamp 2003, 56f.). Park war bemüht, der »wenig reputierlichen« Soziologie das Ansehen einer exakten Wissenschaft zu verleihen und sie damit den bereits bestehenden Wissenschaften gleich zu stellen. Die Soziologie, so meinte Park, würde bei der Analyse der historischen Prozesse einen übergreifenden Sinn oder Zusammenhang zur Erscheinung bringen können, um daraus allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten und zu formulieren. Park wollte die Gesetzmäßigkeiten sozialer Prozesse entdecken und suchte einen Rahmen, der in Zeiten sozialer Unruhe und gesellschaftlicher Veränderung eine von den willkürlichen Handlungen der Menschen unabhängige Ordnung gewährleisten könnte (ebd.). Park war durch seinen mehrjährigen Deutschlandaufenthalt mit den dortigen Debatten in der Soziologie, der Geographie und der Sozialpsychologie gut vertraut und hatte in Berlin Vorlesungen von Georg Simmel (vgl. Kapitel 1.2) und Alfred Hettner (vgl. Kapitel 3.1) besucht. Im Jahre 1904 veröffentlichte Park seine Dissertation mit dem Titel Masse und Publikum (Park 1904). In dieser Arbeit setzt sich Park mit den Schriften von Gabriel Tarde, Scipio Sighele und Gustave Le Bon auseinander, insbesondere mit den soziologischen und sozialpsychologischen Anteilen der dortigen theoretischen Ansätze. Auch von Park wird dabei die ›große Zahl‹ als eine auf das Individuum tendenziell negativ wirkende Kraft in Szene gesetzt, allerdings führt er diese These deutlich nüchterner und sachlicher aus als etwa Le Bon (vgl. Kapitel 2.1). Im Fazit seiner Dissertation nimmt Park eine dichotome Unterscheidung von ›Masse‹ und ›Publikum‹ vor: In der ›Masse‹, so schreibt Park, herrschten die Instinkte, beim Publikum regiere die Vernunft (ebd. 108). Der theoretische Hintergrund von Park ist damit im Kontext der ›Massenpsychologie‹ zu verorten und auch die Debatte über den Begriff ›Dichte‹ ist Park vermutlich nicht verborgen geblieben. Nach seiner Rückkehr nach Chicago entwickelte Park (zusammen mit Burgess und anderen) die Theorie der ›Stadtökologie‹. Der – bei deutschen Historikern und Naturwissenschaftlern entliehene – Begriff der ›Ökologie‹ 1
Park arbeitete als Journalist, bevor er Psychologie und Philosophie in Harvard studierte. Nach dem Abschluss dieses Studiums ging Park 1899 nach Deutschland und promovierte sich 1903 in Heidelberg. Park kehrte 1904 wieder in die USA zurück und lehrte von 1914 bis 1936 am ›Department of Sociology‹ an der University of Chicago (http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/park/38 bio.htm), Zugriff 17.5.2009).
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steht für ein Erklärungsmuster, mit dem die Lage städtischer Siedlungen und die Zusammensetzung der einzelnen ›Nachbarschaften‹ verstanden werden sollte. Die Verstädterung – so die Grundthese der ›Stadtökologie‹ – laufe nicht nach dem Zufallsprinzip ab, sondern sei eine Reaktion auf günstige Umweltbedingungen: Städte würden sich durch Prozesse der Konkurrenz, der Invasion und der Sukzession bilden und verändern, in der Stadtentwicklung gelte allgemein das Prinzip der ›ökologischen Biologie‹ (vgl. Giddens 1999; McKenzie 1925; Park 1925; Burgess 1925).2 Mit dem Modell der ›Stadtökologie‹ wurde durch die Chicago School eine neue Sichtweise auf die Stadt geprägt. Kernpunkt dieses Ansatzes war die biologistische Analogie, die Betrachtung der Stadt als ›lebendigen Körper‹. »The tendency at present is to think of the city as living, growing; as an organism, in short« (Burgess 1926, viii). Richtungsweisend war zudem der Forschungsansatz, die Stadt als ›Laboratorium‹ (als Feld für empirische Forschung) zu betrachten. Park formuliert diese Haltung wie folgt: »The city, in short, shows the good and evil in human nature in excess. It is this fact, perhaps, more than any other, which justifies the view that would make of the city a laboratory or clinic in which human nature and social processes may be conveniently and profitably studied« (Park 1925, 46). Die explizite Verwendung des Begriffs ›Dichte‹ findet sich in den Arbeiten der Chicago School (zumindest was die erste Generation betrifft) eher vereinzelt, nach einer eigenen Dichtetheorie sucht man in den dortigen Texten vergebens (vgl. Kapitel 1.2). Mit der ›sozialen Distanz‹ wird hier allerdings ein Begriff eingeführt, an dem sich etliche Querbezüge zur ›Dichte‹ festmachen lassen. Die ›soziale Distanz‹ ist einer der zentralen Begriffe der Chicago School und explizit als Ergänzung zum empirischen Tatbestand der ›räumlichen Nähe‹ angelegt. »Despite the physical proximity of city people, social distance prevails. The lack of fellow-feeling and understanding which characterizes social distance is everywhere evident in cities« (Bogardus 1926, 48). Die ›soziale Distanz‹ wird als bedeutendes gesellschaftliches und städtisches Merkmal konstruiert, als Kennzeichen für sämtliche Widersprü2
Der Wettbewerb zwischen den einzelnen Arten bewirke im Normalfall eine stabile Gleichverteilung. Wenn dieses Gleichgewicht aber zerstört werde, könnten neue Arten in den ›Lebensraum‹ eindringen und ein neuer Verteilungsmodus entstehen. Mit diesem Grundmodell wurden von den Protagonisten der Chicago School die Siedlungs-, Bewegungs- und Neuansiedlungsmuster in Städten aus ökologischer Perspektive gedeutet. Im Zentrum der ›Stadtökologie‹ steht dabei die ›Concentric Zone Theory‹, nach der eine Stadt aus fünf verschiedenen, konzentrisch um das Stadtinnere (den ›Central Business District‹) herum gelagerten Zonen besteht, in denen sich die Menschen jeweils eine gemeinsame ›ökologische Nische‹ teilen (vgl. Giddens 1999; Burgess 1926).
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che im Dickicht der Städte: »The capitalist and labor-unionist mutually denouncing each other are displaying social-distance traits. (…) Race riots are chiefly urban phenomena revealing social distance. Descriptions of the large city as the ›lonesome’s spot anywhere‹, or as ›the most unsocial place in the world‹ are expressions of social distance« (ebd.). Auch Park gebraucht den Begriff der ›sozialen Distanz‹ für seine Thesen über die Stellung des Individuums in der Gesellschaft, über dessen Status und seine Möglichkeiten zur Selbstdefinierung: »In such a society the individual becomes a person. A person is simply an individual who has somewhere, in some society, social status; but status turns out finally to be a matter of distance – social distance« (Park 1926, 17). Die Ähnlichkeiten zwischen den Begriffen ›Distanz‹ und ›Dichte‹ sind deutlich zu erkennen. Ebenso wie ›Dichte‹ wird ›Distanz‹ in eine ›soziale Distanz‹ und in eine ›räumliche Distanz‹ untergliedert. Und genauso wie bei der ›Dichte‹ ist das konstruierte Verhältnis zwischen der ›räumlichen‹ und der ›sozialen‹ Ausprägung (ob Bedingung, Entsprechung, Kausalität) der entscheidende Punkt für die Diskussion der Bedeutung des jeweiligen Begriffs. Robert E. Park konstruiert folgenden Zusammenhang zwischen ›räumlicher Distanz‹ und ›sozialer Distanz‹: »It is because social relations are so frequently and so inevitably correlated with special relations; because physical distances, so frequently are, or seem to be, the indexes of social distances, that statistics have any significance whatever for sociology. And this is true, finally, because it is only as social and physical facts can be reduced to, or correlated with, special facts that they can be measured at all« (Park 1926, 18). Auch in diesem Punkt ist Parks Verwendung der ›Distanz‹ ähnlich dem (frühen) Durkheimschen Dichtegebrauch: Die ›soziale Distanz‹ entspricht in ihrer Ausprägung der ›physischen Distanz‹, erstere kann mit letzterer gemessen werden (Durkheim hatte den gleichen Zusammenhang zwischen der ›moralischen Dichte‹ und der ›materiellen Dichte‹ konstruiert). Die ›soziale Distanz‹ wird in der Chicago School bestimmt als der gesellschaftliche Abstand zwischen zwei Individuen und kann damit als Kehrwert der ›sozialen Dichte‹ (in der Durkheimschen Definition) interpretiert werden. Mit der ›sozialen Distanz‹ soll der Abstand zwischen den Individuen bezeichnet werden, mit der ›sozialen Dichte‹ deren Zusammenhalt. Als explizite Ursache der ›sozialen Distanz‹ – und damit gibt es doch einen gravierenden Unterschied zu Durkheims Dichtetheorie – bezeichnet Park die räumlich-physische Distanz jedoch nicht. Und es gibt einen weiteren Unterschied. Die Angabe der ›Distanz‹ ist ein Einzelwert, die Angabe der ›Dichte‹ ist ein Durchschnittswert. Mit der Einführung des Einzelwertes ›Distanz‹ wird in der Chicago School auf die Betrachtung des ›Individuums‹ fokussiert, in Durkheims Gesellschaftstheorie stand dagegen der Durchschnittswert ›Dichte‹ im Vordergrund, mit dem ›Stadt‹ und ›Gesellschaft‹ erklärt
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werden sollten. Bezogen auf den Bereich der jeweiligen Betrachtung der räumlichen und sozialen Verhältnisse lässt sich daher bei Durkheim eine genuin soziologische, in der Chicago School zusätzlich auch eine sozialpsychologische Ausrichtung feststellen. Mit der Verschiebung des Augenmerks vom Begriff ›Dichte‹ zum Begriff ›Distanz‹ wird in der Chicago School das Zielobjekt ausgetauscht, auf das sich die Forschung in erster Linie richtet. Damit wird der soziologische Forschungsgegenstand ›räumliche Einflussfaktoren auf den Menschen‹ erweitert durch eine sozialpsychologische Perspektive, diese Ergänzung ebnet den Weg für die Etablierung des Forschungsfeldes ›Crowding‹ in der Sozialpsychologie. Neben dieser Einbeziehung des sozialpsychologischen Ansatzes wird bei der Einführung der ›sozialen Distanz‹ auch ein Vorzeichenwechsel bei der Bewertung der Phänomene (›Dichte‹ respektive ›Distanz‹) vorgenommen. Bei Durkheim ist ›soziale Dichte‹ gleich der Solidarität der Gesellschaft, in der Chicago School ist ›soziale Distanz‹ dagegen der Gradmesser für soziale Ungleichheit. Mit beiden Ausdrücken werden ähnliche Dinge bezeichnet – in der räumlichen Ausprägung die mehr oder weniger große Anzahl von Menschen auf einem begrenzten Raum, in der sozialen Ausprägung der ›soziale Zusammenhalt‹ beziehungsweise der ›soziale Abstand‹. Mit der Verschiebung von ›Dichte‹ zur ›Distanz‹ verändern sich jedoch die Vorzeichen bei der Herangehensweise. Aus Durkheims positiver räumlicher Gesellschaftsursache wird in der Chicago School ein Ausdruck für fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Implizit gibt es damit einen wichtigen Einfluss auf das Thema ›Dichte‹: durch die Umkehrung der Bewertung von räumlicher respektive sozialer ›Dichte‹ (›Distanz‹) in etwas tendenziell Negatives, die Fokussierung auf das Individuum und eine Schwerpunktverschiebung in Richtung Empirie. Alle drei Tendenzen wurden jedoch – und davon wird im folgenden Kapitel berichtet – erst zu einem späteren Zeitpunkt konsequent auf das Konstrukt ›Dichte‹ abgewendet. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass der Weg des Begriffs ›Dichte‹ (vom stadtsoziologischen Forschungsobjekt zum Gegenstand der Sozialpsychologie) über Chicago führt.
2.3 C ROWDING ›Crowding‹ ist die Bezeichnung für ein umfangreiches, seit den 1960er Jahren bestehendes Forschungsfeld der Sozialpsychologie. Bis Ende der 1970er Jahre wurden in diesem Rahmen weit mehr als 200 Studien publiziert (Epstein 1981, 126), es gibt aus dieser Zeit zahlreiche Monographien und Sammelbände zum Thema (vgl. Baum/Epstein 1978, Gürkaynak/LeCompte 1979, Epstein 1981, Freedman 1979, Stokols 1987, Schultz-Gambard/Hom-
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mel 1987, Wohlwill/van Vliet 1985). Wissenschaftsgeschichtlich ist der Forschungsbereich ›Crowding‹ in der Tradition der ›Massenpsychologie‹ und der Chicago School einzuordnen (vgl. Kapitel 2.1 und 2.2). Die ›spontanen Massen‹ der ›Massenpsychologie‹ treten in der Crowdingforschung allerdings in den Hintergrund, die ›vergesellschaftete Masse‹ rückt in den Mittelpunkt des Interesses. Damit wird ›Dichte‹ zu einem zentralen Thema in der Crowdingforschung, in deren Frühphase die Begriffe ›Dichte‹ und ›Crowding‹ sogar kongruent verwendet wurden. Untersuchungsgegenstand des Forschungsfeldes sind vor allem dauerhafte, strukturelle Dichtebedingungen und deren Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen. Die Grundfragen der Crowdingforschung lauten, wie ›Dichte‹ vom einzelnen Individuum wahrgenommen wird und ob pathologische Reaktionen auf spezielle Dichtebedingungen folgen. Als primäres Thema der Forschung wird zudem die Klärung der konzeptionellen Relation zwischen ›Dichte‹, Crowding und Verhalten genannt. Erklärtes Ziel ist es dabei, generalisierende Aussagen über die Auswirkungen von ›Dichte‹ und ›Crowding‹ zu treffen (Duncan 1978, 306). In diesem Kapitel wird die Entwicklung des Forschungsbereichs dargestellt, exemplarisch ein Einblick in unterschiedliche Experimente und Versuchsanordnungen gegeben sowie (insbesondere) auf die Einbindung der ›Dichte‹ und das dabei vermittelte Verständnis des Begriffs im sozialpsychologischen Kontext abgestellt. Als Startpunkt der eigentlichen Crowdingforschung gelten die Tierexperimente über die Auswirkungen von extremen Dichtebedingungen. Berühmt geworden sind die Rattenversuche von John Calhoun, der in den 1960er Jahren nachzuweisen suchte, dass ›hohe Dichte‹ zu schwerwiegenden Verhaltensänderungen führt. In einem ersten Experiment im Jahre 1962 hielt Calhoun zwanzig männliche und zwanzig weibliche wilde Ratten in einem 1.000 Quadratmeter großen Gehege und untersuchte das Verhalten der Tiere. Die Ratten hatten genügend Nahrung und Nestbaumittel und waren gegen Angriffe von Feinden geschützt. Theoretisch hätten sich die Tiere binnen 27 Monaten auf rund 5.000 vermehren müssen. Das taten sie aber nicht, die Population stabilisierte sich bei 150 Tieren. Der durch die erzeugte ›räumliche Dichte‹ hervorgerufene Stress der sozialen Beziehungen führte zu einer solchen Zersetzung des Verhaltens der weiblichen Ratten, dass nur wenige Jungtiere überlebten. Im Jahre 1966 führte Calhoun ein zweites Experiment mit verschärften Bedingungen durch,1 bei dem das soziale Verhal1
Diesmal bestand die Versuchsanordnung aus vier aneinander gereihten Gehegen, also zwei in der Mitte und zwei am Rande. In den beiden am Rande gelegenen Gehegen verhielten sich die Ratten weitgehend normal. In den mittleren Gehegen kam es dagegen zu einer stark abnehmenden Populationsdichte durch das Umherstreifen der bei den Kämpfen um die Außengehege unterlegenen Männchen.
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ten total zusammenbrach. Nestbau und Aufzucht der Jungtiere wurden von den Ratten vernachlässigt, das Fressverhalten änderte sich stark. Am Ende wurden sogar die jungen Ratten von den Männchen gefressen. Den Zerfall des Verhaltens infolge experimentell erzeugter ›Übervölkerung‹ bezeichnete Calhoun mit dem Begriff ›behavioral sink‹ (Kälin 1972, 48f.; Witte 2008, II 101f.). Die Lehre von Calhouns Rattenversuchen war deutlich und leicht zu verstehen: ›Hohe Dichte‹ führt zu ›Überbevölkerung‹,2 und diese bewirkt (ins Extreme gesteigert) die Zerstörung des Sozialverhaltens, verursacht also Krankheit und Tod. »Die Reaktionen auf hohe Dichte«, so stellt der Stadtsoziologe Joachim Friedrichs später lapidar fest, »variieren von Spezies zu Spezies; häufig führt eine hohe Dichte zur Abgrenzung von Territorien und zu einer erhöhten Sterblichkeit, wodurch sich die Dichte verringert«. Die Grundannahme, dass ›hohe Dichte‹ etwas Negatives ist, manifestierte sich mit Calhouns Rattenversuchen. Ziel war es fortan, die Auswirkungen von – manipulierten oder tatsächlichen Dichtebedingungen – auf das Verhalten des Menschen zu untersuchen. In den 1970er Jahren wurden zahlreiche Laborexperimente (und einige Feldversuche) über die menschliche Wahrnehmung von ›Dichte‹ und über die Reaktion auf ›Dichte‹ durchgeführt. Ein frühes Beispiel ist die Studie von Karl Kälin aus dem Jahre 1972 über das Verhalten zweier Kindergartengruppen. Die Fragestellung des Experimentes (das sich in seiner theoretischen Herleitung explizit auf die Studien Calhouns bezieht) ist, ob die zunehmende Populationsdichte innerhalb eines begrenzten Raumes bei Kindern zu einer Zunahme von ›aggressiven Manifestationen‹ führt. Eingebunden ist der Versuch in eine allgemeine negative Dichte-Diktion. Kälin begründet sein Experiment mit der These, dass die »tragbaren Grenzen der menschlichen Dichtetoleranz längst überschritten« seien (Kälin 1972, 51) und übt Kritik an den zu dichten Wohnverhältnissen der Großstädte. Er konstatiert eine »Missachtung des menschlichen Raumanspruchs« und argumentiert auf der Metaebene mit dem »Problem der Überbevölkerung« (ebd.).3 Kälin stellt in seiner Studie die Zunahme ›aggressiver ManifestatioDie Sterblichkeitsrate der Jungtiere in den beiden mittleren Gehegen lag bei 96 Prozent, bei den Weibchen bei 50 Prozent (ebd.). 2
Zum Konstrukt ›Überbevölkerung‹ siehe ausführlich Kapitel 4.
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Kälin untersuchte das Verhalten zweier Kindergartenklassen mit insgesamt 35 Mädchen und Jungen im Alter von 4 bis 6 Jahren. Die Familien der Kinder gehörten alle der bürgerlichen Mittelschicht an und lebten in städtischen Wohnverhältnissen, die Mütter der Versuchspersonen »waren mit einer Ausnahme nicht berufstätig« (ein schönes Beispiel für die Konstruktion von Normalität in den 1970er Jahren), das Alter der Mütter schwankte zwischen 28 und 44 Jahren. Ausgangssituation des Versuchs war die Belegung des Raumes mit fünf Kindern.
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nen‹ in räumlich dichteren Situationen fest, vermerkt bei der Interpretation der Ergebnisse seines Versuchs jedoch, dass es nicht eindeutig zu beantworten sei, ob die zunehmende ›Dichte‹ wirklich der Verursacher sei. Kälin vermutet, dass aggressives Verhalten in »Overcrowding-Situationen« das Ergebnis »verschiedener sozialer, psychologischer und physiologischer Regulationssysteme« ist (ebd. 92). Er weist auf die besondere Situation der Kinder hin, die keine Wahlfreiheit haben und deshalb dem Crowding besonders stark ausgesetzt seien.4 Kälin mutmaßt in seinem Fazit, dass (zu) ›hohe Dichte‹ auf lange Sicht eine »zunehmende Überangepasstheit« und eine »gehemmte Entwicklung der betroffenen Personen« verursache.5
Nach 15 Minuten kamen sechs Kinder dazu, nach weiteren 15 Minuten nochmal sechs. Im Experiment wurde also die (psychologisch definierte) ›soziale Dichte‹ erhöht (siehe Fußnote 7). Das Verhalten der Kinder wurde mit einer versteckten Kamera beobachtet und aufgezeichnet (Kälin 1972, 65). 4
Dieser Aspekt der Dichtewahrnehmung wird in der Sozialpsychologie auch unter Verwendung der Begriffe ›Territorium‹ und ›Distanz‹ (vgl. Kapitel 2.2) diskutiert. Dafür werden die ›Territorien‹ in verschiedene Gruppen unterschieden (Stokols 1978, 249): Erstens in ›primäre Territorien‹, die exklusiv an eine Person oder Gruppe gebunden sind, von dieser permanent kontrolliert werden und zentral für das tägliche Leben sind (das eigene Zimmer, die eigene Wohnung, das Bett im Krankenhaus, das Klassenzimmer), zweitens in ›sekundäre Territorien‹, die einen halböffentlichen Charakter haben (das Clubhaus oder der Vorlesungsund Seminarraum) sowie drittens in ›tertiäre Territorien‹, die für jedermann frei zugänglich sind (Parks, Straßen und öffentliche Plätze). Besonders empfindlich reagiert das Individuum natürlich auf Behinderung durch andere Personen im ›primären Territorium‹. Unfreiwillig zu leistende Anpassungen durch die Anwesenheit anderer Personen im primären Territorium stellen eine Bedrohung dar, auf die mit Stress reagiert wird. Aber auch bei sekundären oder tertiären Territorien kann ›hohe Dichte‹ eine negative Wirkung haben (Witte 2008, II 92). Neben den Begriff ›Territorium‹ tritt dabei das Konzept des ›Personal Space‹. Dieser, so die Definition des Begriffs, steuert die »interpersonalen Raumdistanzen« im Sozialkontakt. Abhängig von der gewünschten Interaktion werden unterschiedlich große Distanzen für erforderlich empfunden. Wenn diese Distanzen unterschritten werden (überfüllte U-Bahn, Hörsaal), entständen Stress und Abwehrreaktionen (Friedrichs 1977, 134). Mitscherlich spricht von einem »Minimalterritorium«, das zu den biologischen Voraussetzungen des emotionellen Gleichgewichts des Menschen gehöre (Mitscherlich 1965, 416).
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Zudem gibt Kälin den Hinweis, dass der »Overcrowding-Effekt« möglicherweise mit dem Phänomen der »Vereinsamung in der Masse« zusammenhänge (ebd. 95).
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Explizit an die Arbeiten der Chicago School knüpft die Studie von J.A. Desor über Art, Ursache und Auswirkung von unterschiedlichen individuellen Dichtebewertungen an (Desor 1972). In einem Laborversuch wurden kleine Modellräume mit unterschiedlichen Funktionen (etwa Wartehalle, Lesesaal, Partyraum) und Modellfiguren im gleichen Maßstab bereit gestellt und den Versuchspersonen die Aufgabe gegeben, die Räume mit der als passend empfundenen Anzahl von Figuren zu füllen (ebd. 82). Das Beengungserleben (Crowding) wurde über die Anzahl der eingesetzten Modellfiguren definiert. In der Studie wird nicht direkt die Auswirkung von ›Dichte‹ auf das Verhalten untersucht, sondern die (subtile) Zuschreibung von Dichteerwartungen hinsichtlich spezieller Funktionen und Situationen. Im Ergebnis des Experiments wird die Hypothese bestätigt, dass für unterschiedliche Funktionen eines Raumes differierende Erwartungen über die ›adäquate Dichte‹ bestehen. Die Ergebnisse der Studie, so Desor, würden die Theorie unterstützen, dass das Gefühl »being crowded« eher die Folge einer sozialen Stimulation denn das Resultat eines »lack of space« sei (ebd. 79). Aus Desors Studie leitet sich das Modell über die »Verletzung normativer Erfahrungen« ab, dessen Annahme es ist, dass durch einen »internen IST-SOLLVergleich des Individuums« die jeweilige Situation bewertet wird und dass als Resultat dieser Bewertung ein Beengungsgefühl entstehen kann (oder eben nicht). Entscheidend sei stets, wie die soziale Situation vom Einzelnen bewertet werde (Schönborn/Schumann 2004, 224f.). Aus dieser Bewertung leite sich wiederum eine jeweils spezielle »Interaktionsdistanz« ab, es gebe offenbar ganz bestimmte Erwartungen, welche Distanz als ›normal‹ angesehen wird. Werde von der normativen Erwartung abgewichen, würde auf die Abweichung irritiert, beunruhigt, verärgert oder verängstigt reagiert. ›Crowding‹ könne daher als eine »Reaktion auf eine Erwartungsverletzung« definiert werden (ebd.). In der Tradition der ›Massenpsychologie‹ steht die Untersuchung von Jonathan Freedman aus dem Jahre 1975, in der Crowdingphänomene simuliert werden, in dem einander unbekannte Personen in einem geschlossenen Raum miteinander bekannt gemacht und aufgefordert werden, alleine oder in Gruppen bestimmte Probleme zu lösen. Im Experiment werden durch die Erhöhung der Personenzahl im gleichen Raum enge bis sehr enge Rahmenbedingungen variiert. Hypothese des Experiments war es, dass ein direkter Einfluss von ›Dichte‹ auf das Verhalten bestehe und dass ›hohe Dichte‹ sich negativ auf die Leistungs- und Kommunikationsfähigkeit auswirke. Die Hypothese wurde durch das Experiment jedoch nicht bestätigt, die simulierte ›hohe Dichte‹ hatte keine signifikanten Auswirkungen auf die Problemlösungsfähigkeiten der Versuchspersonen. Hieraus leitet Freedman ab, dass ›Dichte‹ als psychologische Variable alleine nicht relevant sei, sondern le-
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diglich ein Mechanismus, der zur Intensivierung von bereits vorhandenen Stimmungen und Beziehungen beitrage (ebd. 222). Einen ähnlichen Untersuchungsansatz hat die Studie von Sheldon Cohen aus dem Jahre 1978, für die in einem Einkaufszentrum von den Versuchspersonen bestimmte Produkte gesucht und deren Preise verglichen wurden. Im Anschluss wurden sie mit einer Person konfrontiert, die behauptete, ihre Kontaktlinsen seien zu Boden gefallen. In einer zweiten Versuchsreihe wurde die gleiche Situation hergestellt, allerdings eine höhere ›Dichte‹ durch eine größere Anzahl von Kunden im Einkaufszentrum hergestellt. In der zweiten Versuchsreihe gab es für die Person mit den vermeintlich verlorenen Kontaktlinsen eine signifikant geringere Anzahl an Hilfsangeboten (ebd. 219). Die dem Versuch zugrunde liegende Frage lautete, wie Individuen auf Stimuli-Überlastung reagieren. Cohens These dabei ist es, dass die Ressourcen, die ein Individuum für Aufmerksamkeitsleistungen aufbringen kann, nur beschränkt vorhanden seien. Aufgrund der Vielzahl von Reizen käme es zur Störung in der Informationsverarbeitung, das Gehirn habe nur noch eine Restkapazität für die wichtigsten Reize. Bei Überlastung würden nur noch die Stimuli aus der Restkapazität gespeist, die für eine bestimmte Zielerreichung erforderlich sind, die anderen würden ausgeblendet. Wenn sich eine Person in einer Situation mit ›hoher Dichte‹ befände, würde deren Aufmerksamkeitskapazität daher reduziert. Die Folge davon könnten Abweichungen im sozialen Verhalten sein, die im Vergleich zu einer normalen Situation weniger Hilfeverhalten erwarten lassen (ebd. 220). In einem weiteren Versuch von Cohen stand das Zusammenwirken verschiedener Faktoren im Vordergrund (Schopler/Stockdale 1977). In einem Studentenwohnheim wurden Wohndichte und Verfügbarkeit gemeinsamer Einrichtungen variiert und verschiedene Störquellen installiert. Anschließend fragte man die Wahrnehmung der Studierenden ab. Ergebnis der Studie war, dass ›Dichte‹, Ressourcenverfügbarkeit und Störungen nur gemeinsam Einfluss auf das Beengungserleben hatten. Beengung wurde dann empfunden, wenn bei einer ›hohen Dichte‹ das Erreichen eigener Ziele oder wichtiger Handlungen durch die bloße Anwesenheit oder durch das Verhalten anderer Personen gestört war. Heraus gearbeitet wurde damit zum einen, dass das Gefühl der Beengung etwas Subjektives darstellt und dass die Intensität des Beengungsgefühls sowie die Stärke der Störung von Wichtigkeit (Stärke), Häufigkeit, Dauer und Art der gestörten Tätigkeit abhängen. Zum anderen wurde auch nach der Konsequenz des ›Crowding‹ geforscht: Die Studierenden versuchten mit unterschiedlichen Strategien die Störungsursa-
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che zu beenden.6 Die Autoren der Studie kommen zu dem Ergebnis, dass »interference contributes to the subjective feelings of being crowded and poses the central threat in crowding settings« (ebd. 86). Mit dem komplexen ›Kontrollverlustmodell‹ fokussieren schließlich Baron und Rodin auf die Verarbeitung von Crowding und erweitern damit die Perspektive der Crowdingforschung um einen entscheidenden Aspekt. Ihre Annahme ist, dass es zum Crowdingstreß kommt, wenn ›hohe Dichte‹ zum Kontrollverlust eines Individuums führt. Kontrolle wird dabei definiert als Fähigkeit, zwischen den eigenen Intentionen und den umweltbezogenen beziehungsweise beeinflussten Konsequenzen einen Zusammenhang herzustellen. Der Kontrollverlust findet dabei, so die mit dem Modell entwickelte These, in verschiedenen Phasen statt, nämlich in einer Entstehungsphase (der Phase der ›Dichteveränderung‹) und in zwei Bewältigungsphasen. In der ersten Phase unterscheide das Individuum, ob ›Dichte‹ als adäquat oder inadäquat wahrgenommen und bewertet wird. Wird sie als inadäquat bewertet, folgt ein Stress- oder Erregungszustand und darauf die zweite Phase mit dem Versuch, den Stress zu bewältigen. Baron und Rodin beziehen sich also explizit auf den (erfolgreichen oder auch nicht erfolgreichen) Versuch der Bewältigung des ›Crowding‹. Diese Bewältigung (die zweite Phase) wird in der Crowdingforschung seitdem mit dem Ausdruck ›Coping‹ bezeichnet. Ist das ›Coping‹ erfolgreich, könne dies »zu Adaption, Habituation oder Änderung der Privatheit« führen (Schönborn/Schumann 2004, 22). Diese Anpassungsprozesse könnten jedoch gleichzeitig Rückzug oder Ermüdung bewirken und vor allem auch eine Rückkoppelung der Prozesse ergeben: die Situation wird neu bewertet. Bei erfolglosen ›Coping‹ blieben dagegen Stress und Erregung bestehen und würden weiter intensiviert. Potenzielle Folgen wären dann kumulative Effekte wie Leistungsdefizite, Gewalt oder Rückzug sein. Baron und Rodin untersuchen insbesondere die Unterschiede, die bei Zunahme der (psychologisch definierten) ›räumlichen‹ und ›sozialen Dichte‹7 auftreten. Bei zunehmender ›räumlicher Dichte‹ (Verkleinerung des 6
Durch Ausblendung der Störung (Filterfunktion), durch Distanzierung, mit der Suche nach einem Kompromiss (Koordination) oder durch den Versuch, mit aggressivem Verhalten die Störung zu beseitigen.
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In der Sozialpsychologie wird in ›räumliche Dichte‹ und ›soziale Dichte‹ gegliedert. Diese Unterteilung ist bezogen auf unterschiedliche Anordnungen (unterschiedliche Settings) bei Versuchen zum Verhalten von Menschen unter Dichtebedingungen. ›Räumliche Dichte‹ wird dabei als Ausmaß an verfügbarem Raum bei konstanter Personenzahl definiert, ›soziale Dichte‹ als Anzahl von Personen bei konstantem Raumangebot. Bei Versuchen zur ›räumlichen Dichte‹ wird das Raumangebot geändert (manipuliert), bei Versuchen zur ›sozialen Dichte‹ die Anzahl der Personen (Schultz-Gambard/Hommel 1987, 254).
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Raumes) entstehe demnach weniger Kontrollverlust, aber es gebe auch geringere Möglichkeiten für das ›Coping‹. Bei zunehmender ›sozialer Dichte‹ (Erhöhung der Personenanzahl) entstehe mehr Stress als im ersten Fall, diese Variante berge für die Bewältigung jedoch bessere Chancen (ebd.). Die skizzierten Modelle und Versuche sind nur einige Beispiele aus der großen Bandbreite der Crowdingforschung, es gibt eine Vielzahl weiterer Experimente und Erkenntnisse,8 und die Ansätze und Modelle ergeben ein facettenreiches Bild des Forschungsfeldes. Bei der Bilanzierung der bisherigen Studien und Arbeiten zum Thema Crowding Ende der 1970er Jahre wurde heraus gearbeitet, dass die Effekte von ›hoher Dichte‹ und ›Crowding‹ von einer Vielzahl von Faktoren abhängen (vgl. Friedrichs 1977, Schultz-Gambard/Hommel 1987): Erstens sei die zeitliche Dauer der Dichtesituation von Bedeutung für die Dichtewahrnehmung. Unterschieden werden etwa die Auswirkungen permanenter Stresssituationen (zum Beispiel in Großstädten) und die Auswirkungen spezifischer kurzfristiger Situationen, in denen hohe Populationsdichten wirksam sind (zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln zu Stoßzeiten). Je länger eine ›hohe Dichte‹ bestehe, desto eher würden pathologische Reaktionen auftreten. Zweitens sei es für die Wahrnehmung von ›Dichte‹ entscheidend, ob die Dichtesituation freiwillig gewählt wurde oder ob man sich dort erzwungenermaßen hinein begeben hat. Besonders beeinträchtigt seien Personengruppen mit eingeschränkten Handlungsalternativen wie etwa Kinder, alte Leute oder Strafgefangene. Eng verbunden damit ist die Frage, wie die Alternativen zur Dichtesituation aussehen: Die ›bauliche Dichte‹ eines innerstädtischen Quartiers werde verschieden beurteilt, je nach dem, ob eine bewusste Lebensstilentscheidung zu dieser Wohnortwahl geführt habe oder ob finanzielle oder soziale Ressourcen fehlten, den Wohnort zu wechseln. Zudem habe es einen Einfluss, wie stark der Wohnraum den Lebensmittelpunkt darstellt, also in welchem Maße beim Arbeits- oder Freizeitverhalten alternative Orte aufgesucht werden können. Drittens habe die Frage der Herkunft Einfluss auf die Wirkung von ›Dichte‹ (respektive die Dichtewahrnehmung). In den Experimenten der Sozialpsychologie wird immer wieder darauf abgestellt, dass je 8
Weiter wurde etwa erforscht, dass bei geringerer Deckenhöhe ein verstärktes Bedürfnis nach mehr Raum entstehe (allerdings nur bei männlichen Versuchspersonen), quadratischen Räumen ein höheres Maß an Beengung zugeordnet und Beengung unter freiem Himmel geringer empfunden werde (Kompensation der räumlichen Distanzbedürfnisse durch optische Weite), partielle Ausschnitte in Räumen (Fenster) und Ausgänge (Türen) ›Crowding‹ verringere, die Einschätzung der Wohnungsgröße von der Stockwerkslage der Wohnung abhänge und dass die Verwendung heller Farben und guter Lichtverhältnisse das Beengungsgefühl reduziere (vgl. Schultz-Gambard/ Hommel 1987, 254f.).
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nach Kulturkreis das Verhalten unter verschiedenen Dichtebedingungen unterschiedlich sei. Ein Japaner etwa habe eine andere Dichtewahrnehmung als ein Franzose. Viertens wird auf die Reaktion nach dem Crowdingerlebnis abgestellt, also wie das Dichteerlebnis vom Individuum bewältigt wird, welche Handlungen auf das ›Crowding‹ folgen. Die individuelle Verarbeitung des ›Crowding‹ (das ›Coping‹), so lautet eine zentrale Erkenntnis der späten Crowdingforschung, sei ein von der gesamten Dichtewahrnehmung nicht zu trennender Bestandteil. Ein weiteres Ergebnis der Crowdingforschung ist die Neubewertung der zu Beginn des Forschungsfeldes stehenden negativen a-Priori-Sicht auf ›Crowding‹ respektive auf ›Dichte‹. Zu Beginn der Forschung – bis etwa Anfang der 1970er Jahre – wurde ›Dichte‹ hauptsächlich als ein tendenziell negativ wirkendes räumliches Phänomen interpretiert, als Metapher für ›zu viele Menschen‹ und ›zu wenig Raum‹. Ansatz der Crowdingforschung war es, die Auswirkungen dieses Phänomens auf das individuelle Verhalten zu untersuchen. Dieser Ansatz wurde in den Forschungsbeiträgen jedoch immer wieder hinterfragt, sowohl der Crowding- als auch der Dichtebegriff wurden fortlaufend differenziert. Bei der Zwischenbilanz Ende der 1970er Jahre stand zum einen die Trennung beider Begriffe: ›Dichte‹ wurde einerseits als eine mögliche Voraussetzung für das überaus komplexe Ursachengeflecht von ›Crowding‹ identifiziert. Zum anderen wurde herausgearbeitet, dass ›Dichte‹ und ›Crowding‹ keineswegs etwas nur Negatives darstellen müssen. Freedman formuliert, dass »everyone who is at all familiar with the literature agrees that crowding is not simply bad – like pneumonia or higher taxes« (Freedman 1979, 9). Damit sei, so Freedman weiter, in der Crowdingforschung der Ansatz der Chicago School überwunden, die ›Crowding‹ als »evil and harmful« gebrandmarkt habe. Inzwischen sei deutlich geworden, dass dieses Denken zu einfach sei, ›Crowding‹ habe manchmal negative, manchmal positive, manchmal sowohl negative als auch positive und manchmal weder negative noch positive Auswirkungen zugeschrieben werden können (ebd.). Ein zentrales Ergebnis der Crowdingforschung ist damit, dass die Wirkung von ›Crowding / Dichte‹ nicht einheitlich ist. Derselbe Tatbestand ›situativer Dichte‹ könne – je nach Handlungsintention oder Kontext – für die betroffene Person Stimulation, Störung, Normverletzung, Ressourcenverknappung oder eine Kombination dieser Bedingungen bedeuten (Schultz-Gambard/Hommel 1987, 255). Auf der anderen Seite wird als Ergebnis der Crowdingforschung jedoch auch festgehalten, dass ›hohe Dichte‹ zu einem Beengungsgefühl führen und dieses verstärken kann: »A sufficient amount of research has accumulated in recent years to make clear that high-density experiences and living conditions can provoke stress and anti-social behaviors and attitudes« (Saegert 1978, 257). Zu einem ähnlichen Schluss kommt man auch in der
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deutschsprachigen Crowdingforschung: Gemeinsames Ergebnis der Forschungsarbeiten sei, dass durch ›hohe Dichte‹ gekennzeichnete Lebensbedingungen im allgemeinen schädigende Auswirkungen auf physiologische Prozesse (erhöhte Daueraktivierung bis hin zu funktionalen Störungen) sowie auf affektive (negative subjektive Befindlichkeit), kognitive (Leistungsdefizite) und soziale (sozialer Rückzug) Prozesse hätten (Schultz-Gambard 1990, 344, zitiert nach Schönborn/Schumann 2004, 230). Bemerkenswert sind die Ergebnisse der Crowdingforschung auch bezüglich der begrifflichen Grundlagendiskussion zu den Begriffen ›Crowding‹ und ›Dichte‹. Für die Definition von ›Dichte‹ ist dabei die vorgenommene Gliederung entscheidend: auf der einen Seite in eine objektive, messbare, ›tatsächliche‹ beziehungsweise ›physikalische Dichte‹, auf der anderen Seite in eine subjektive, lediglich erfragbare, gefühlte oder ›symbolische Dichte‹. Die ›objektive Dichte‹ ist dabei der Zählwert, die Angabe der Anzahl von Personen auf einer bestimmten Fläche oder die ›bauliche Dichte‹ im planerischen Sinn (also etwa die Geschossfläche bezogen auf die Grundstücksfläche). Die ›subjektive Dichte‹ basiert dagegen auf den Wahrnehmungsprozessen von Individuen selbst (vgl. etwa Dunstan 1979, 299). Das Verhältnis von ›objektiver‹ zu ›subjektiver Dichte‹ wird nicht als einfache Ursache-Wirkung-Relation dargestellt, sondern in einen weiten Kontext aus gesellschaftlichen und individuellen Bestimmungsfaktoren eingebunden. Dabei wird vor allem die Komplexität des Begriffs unterstrichen: »Density is a complex variable both in its definition and in its effects« (Saegert 1978, 259). Durch die Fokussierung der Crowdingforschung auf die Komplexität und Subjektivität der Dichtewahrnehmung erfährt das Konzept der ›objektiven Dichte‹ eine Relativierung. Man kann – so kann das Forschungsergebnis interpretiert werden – ›Dichte‹ zwar objektiv angeben, über die Wirkung dieser ›Dichte‹ auf das Individuum und über die Dichtewahrnehmung des Individuums gibt die ›objektive Dichte‹ jedoch noch relativ wenig Auskunft. Eine Kernfrage des gesamten Forschungsfeldes ist, wie sich das Verhältnis von ›Dichte‹ und ›Crowding‹ selbst gestaltet. Stokols gliedert die Crowdingforschung anhand des jeweiligen Verständnisses des Zusammenhangs von ›Dichte‹ zu ›Crowding‹ (vgl. Stokols 1978, 219f.). In der ersten Phase (1960-1969) wurde, so erläutert Stokols, ›Dichte‹ mit ›Crowding‹ gleichgesetzt. Die Wirkung von ›Dichte‹ und ›Crowding‹, so die dortige Grundannahme, sei Stress. In der zweiten Phase (1970-1971) wurden ›Dichte‹ und ›Crowding‹ weiterhin kongruent verwendet, allerdings Stress nicht mehr als zwangsläufiges Ergebnis vermutet. In der dritten Phase (19721973) wurden die Begriffe ›Dichte‹ und ›Crowding‹ erstmals entkoppelt: ›Dichte‹ wurde lediglich als eine von mehreren anderen Ursachen von ›Crowding‹ konstruiert. Dieser Ansatz wurde in der vierten Phase (ab 1974) weiter modifiziert und um neue Modelle zum Zusammenhang von ›Crow-
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ding‹ und sozialen und räumlichen Verhalten erweitert. »High density alone«, das ist die Erkenntnis der späten Crowdingforschung, »does not to stress relations« (Epstein 1981, 128). Die Ausdifferenzierung des Crowdingund des Dichteverständnisses kann aus dieser Perspektive als der zentrale theoretische Erkenntnisgewinn der Crowdingforschung interpretiert werden, der Durchbruch der Crowdingforschung scheint gerade die Erkenntnis gewesen zu sein scheint, dass ›Crowding‹ und ›Dichte‹ keine identischen Begriffe sind. War die These der frühen Crowdingforschung, dass ›Crowding‹ ab einem gewissen Ausmaß von ›Dichte‹ automatisch hervor gerufen werden würde, ist die These der späteren Forschung, dass ›Dichte‹ lediglich eine Ursache von ›Crowding‹ ist. ›Crowding‹ ist subjektives Erleben und eng verbunden mit ›Aktion‹ und ›Reaktion‹. ›Crowding‹ stellt das »Produkt eines Bewertungsprozesses der Umwelt, der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Dichte und der Persönlichkeitseigenschaften dar« (Schönborn/Schumann 2004, 216). »Crowding is not density alone, stress alone, costs alone, or coping behaviors alone. It is a network of these and other factors that are associated with the failure of an interpersonal boundary system or with an expensively maintained system« (Altman 1975, 158; zitiert nach Witte 2008, II 96). Auch die Auswirkung dieser Erkenntnisse auf das Forschungsfeld selbst ist bemerkenswert: Als Ergebnis ihrer Analysen wurde die Crowdingforschung weitgehend eingestellt. Nach 1980 ebbte die Anzahl der Arbeiten zum Phänomen ›Crowding‹ deutlich ab, es wurden nur noch vereinzelte Forschungen auf diesem Gebiet durchgeführt. Die Erkenntnis der komplexen und vielschichtigen Einbettung der ›Dichte‹ in menschliches Verhalten führte zur disziplinären Kapitulation vor dieser Vielfalt, in den 1980er Jahren lag das Forschungsfeld weitgehend brach (Schultz-Gambard/Hommel 1987). Seitdem wird ›Crowding‹ – in deutlich geringerem Maße als in den 1970er Jahren – vor allem unter dem Etikett ›Umweltpsychologie‹ thematisiert, die sich fortan neben der Sozialpsychologie (beziehungsweise anstatt dieser) etablierte. Wie in vielen anderen Disziplinen rückte auch in der Psychologie der Interessensschwerpunkt vom ›Sozialen‹ zur ›Umwelt‹ (vgl. Kapitel 3.3, 4.3 und 5.3). In diesem Kontext finden sich auch weiterhin Untersuchungen zu den Themen ›Crowding‹ und ›Dichte‹. Ein aktuelles Beispiel ist eine USamerikanische Studie über die negativen Folgen von hoher Wohndichte auf die Entwicklung von Kindern (Evans et al, 2002). Untersucht wurde das Thema hier mithilfe einer Befragung zur Selbsteinschätzung der Kinder in Kombination mit Interviews mit ihren Lehrern über das Verhalten der Kinder in der Schule. In der Studie wird heraus gearbeitet, dass die Beziehung zwischen hoher Wohndichte und psychischem Wohlbefinden vom Wohnungstyp abhänge. Wohnen in einer hoch verdichteten Umgebung werde eher toleriert, wenn Kinder in kleinen Siedlungsformen (Einfamilienhäuser,
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Reihenhäuser) wohnen und wenn sie ein eigenes Zimmer haben. Das Wohnen in Mehrfamilienhäusern würde es schwieriger machen, die sozialen Interaktionen zu regulieren. »This variable in combination with higher internal density leads to social withdrawal which, in turn, causes poor mental health« (ebd. 228). Je größer die Wohnsiedlungen seien, so die Autoren der Studie, desto ungünstiger sei das Crowdingempfinden der Bewohnerinnen und Bewohner. Eine weitere aktuelle Studie aus Spanien beschäftigt sich mit multiplen Effekten von Haushalts- und Quartiersdichte (GomezJacinto/Hombrados-Mendieta, 2002). ›Household Density‹ wird hier definiert als Anzahl der Personen pro verfügbare Quadratmeter (bezogen auf einen Haushalt), ›Community Density‹ als Anzahl der Personen bezogen auf ein Wohnquartier. Hervorgehoben wird von den Autoren, dass es ihnen um die Erforschung von »crowding in ordinary life« gehe und nicht so sehr um die Erforschung pathologischer Zustände. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Wechselbeziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten der unterschiedlichen Dichten gelegt. Ein Ergebnis der Studie ist, dass eine hohe ›Community Density‹ nur dann zu hohem psychologischen Stress führe, wenn auch die ›Household Density‹ eine hohe ist: »The effect of high density outside can be reduced by having enough space within the home« (ebd. 241). Auch in der deutschsprachigen Literatur finden sich neuerdings wieder sozialpsychologische (respektive umweltpsychologische) Arbeiten zu den Themen ›Crowding‹ und ›Dichte‹. Die zentrale Fragestellung der Dissertation Die Wahrnehmung und Bewertung von verdichteten Stadtquartieren (Husemann 2005) lautet etwa, wie Städte verdichtet werden können, ohne dass diese Verdichtung von Bewohnern als negativ bewertet wird. Husemann untersucht, auf welche Weise ›Dichte‹ im Außenraum wahrgenommen wird, ob bei der Wahrnehmung von ›Dichte‹ eher Gebäude oder eher Personen die entscheidende Rolle spielen und ob Personen, die an unterschiedliche Umwelten gewöhnt sind, ›Dichte‹ unterschiedlich aufnehmen. Eine weitere Fragestellung der Studie ist, ob sich die Dichtetoleranz in Abhängigkeit von der Funktionalität eines Gebietes (Wohngebiet, Bürogebiet, Mischgebiet) verändert und ob es Faktoren gibt, die ›Crowding‹ reduzieren können. Auch der Einfluss von physikalischen Merkmalen (Höhe der Gebäude, Anzahl der Stockwerke, Lichteinfall) auf die Wahrnehmung von ›Crowding‹ und ›Dichte‹ wird von Husemann untersucht. Husemann kommt zu dem Ergebnis, dass die allgemeine Dichtebewertung vor allem von der Toleranz gegenüber dem Verkehr, der Lärmempfindlichkeit und der subjektiven Wichtigkeit von Grün abhänge. Lärm sei grundsätzlich wichtiger als ›bauliche Dichte‹, deshalb sei der Verkehr für die Wahrnehmung verdichteter Stadtquartiere entscheidend. Insgesamt kommt Husemann zu dem Schluss, dass ›objektive Dichte‹ bei der subjektiven Dichtebewertung eine
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»eher geringe Rolle« spiele (ebd. 216). Dennoch leitet Husemann etliche Handlungsempfehlungen für Stadtplanung und Städtebau ab. Husemann resümiert, dass der Einfluss von physikalischen Merkmalen auf die Wahrnehmung von ›Dichte‹ in ihrer Studie nachgewiesen werden konnte und dass »derartige Ergebnisse« stärker in die Planung hoch verdichteter Gebiete miteinbezogen werden sollten (ebd. 230). Die die Dichtewahrnehmung beeinflussenden physikalischen Merkmale seien jedoch nicht nur mit den klassischen stadtplanerischen Dichteziffern Grundflächenzahl und Geschossflächenzahl (vgl. Kapitel 7.1) steuerbar. Ihre Arbeit zeige, so fährt Husemann fort, dass die bisherigen quantitativen Dichtekennziffern der Stadtplanung die Wahrnehmung und Bewertung von ›Dichte‹ durch Bewohner nicht ausreichend abbildeten, diese Bewertung aber »letztendlich über den Erfolg verdichteter Stadtquartiere« entscheidend sei. Daher könne hier ein neues Forschungsfeld mit »wichtigen Implikationen für Architekten und Stadtplaner« entstehen (ebd. 233).9 Eine ganz ähnliche Perspektive wird in der Dissertation Wohnen in der Dichte (Cording 2007) eingenommen, mit der von einer »umweltpsychologischen Position« aus die städtebauliche und stadtplanerische Diskussion über die »richtige Bau- und Wohndichte« befruchtet werden soll (ebd. 10). Elke Cordings aus der Diskussion des stadtsoziologischen und stadtplanerischen Dichteverständnisses generierte Fragestellung ist, wie »in der Verdichtung« der »geeignete Wohnraum« aussehen könne. Anhand der Analyse zweier städtebaulicher Beispiele (Tübinger Südstadt und Freiburg Vauban) fokussiert Cording auf die Planung von öffentlichen und nichtöffentlichen Bereichen und kommt zu dem Ergebnis, dass »innerhalb der gültigen Gesetzgebung« die ›Dichte‹ einer »großen räumlichen Vielfalt zwischen Privatheit und Öffentlichkeit« nicht im Wege stehe (ebd. 278). Interessant bei den Arbeiten von Husemann und Cording ist aus meiner Sicht vor allem der Versuch, über den Begriff ›Dichte‹ die sozialpsychologische und die stadtplanerische Perspektive zu verbinden, also mit den Ergebnissen der Crowdingforschung zu konkreten Hilfestellungen respektive Vorgaben für die Stadtplanung und den Städtebau zu gelan9
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommen Schultz-Gambard und Hommel: »Die Crowdingforschung beschäftigt sich mit einem Problembereich, der für die Planungswissenschaften wie Architektur, Stadt- und Entwicklungsplanung, Ingenieurwesen usw. von großem Interesse sein sollte und von dessen Erforschung sie sich eigentlich Hilfen bei der Lösung dichtebezogener Planungs- und Designprobleme erhoffen könnten. Weniger im Interventions- und Evaluationsbereich könnte demnach der Beitrag der Crowdingforschung zur Planungspraxis zu sehen sein, sondern eher in der beratenden Durchleuchtung von Planungsproblemen hinsichtlich relevanter Erlebens- und Verhaltensaspekte« (Schultz-Gambard/Hommel 1987, 260).
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gen. In beiden Arbeiten wird als stadtplanerische Dichteposition (mit Bezug auf den Diskurs zur ›kompakten Stadt‹, vgl. Kapitel 7.3) vorausgesetzt, dass eine hohe ›bauliche Dichte‹ ein erstrebenwertes Ziel darstellt. Dem gegenüber wird die sozialpsychologische (beziehungsweise umweltpsychologische) Position gestellt, die eine zu ›hohe Dichte‹ als schädlich für das Individuum erachtet. Ziel der beiden Dissertationen von Husemann und Cording ist es, eine Annäherung (einen Annäherungswert) zwischen der positiven stadtplanerischen und der negativen sozialpsychologischen ›Dichte‹ zu finden, beziehungsweise bauliche Maßnahmen zu diskutieren, die eine ›hohe Dichte‹ für das Individuum erträglich machen. Bei der Gesamtbetrachtung der Crowdingforschung bleibt festzuhalten, dass in diesem sozialpsychologischen Kontext etliche interessante Beobachtungen und Erklärungsmodelle hinsichtlich der Wirkung von räumlich dichten Gegebenheiten auf das Individuum erarbeitet worden sind. Insbesondere die Einbeziehung der Reaktion auf die Dichtewahrnehmung und der Fokus auf die Handlungsmöglichkeit des Dichte-Wahrnehmenden sind dabei entscheidende Erkenntnisse, die auch für die Einordnung des Konstrukts ›Dichte‹ in anderen Disziplinen weiteführend sei können. Ebenfalls bemerkenswert ist es jedoch, dass die Aktivitäten auf dem Forschungsfeld in den 1980er Jahren weitgehend ausgelaufen sind und dass dieser Rückzug mit der Erkenntnis (dem Ergebnis) der Crowdingforschung in Verbindung gebracht werden kann, die Komplexität der ›Dichte‹ (und des ›Crowdings‹) sei mit theoretischen Modellen nicht in den Griff zu bekommen. Vor diesem ›epistemologischen Schlussstrich‹ steht jedoch eine weitere Abkehr, nämlich die von einer eindeutigen Zuweisung einer negativen oder positiven Bewertung. Damit wurde im Verlauf der Crowdingforschung die – von den disziplinären Vorläufern übernommene – Festlegung von ›Dichte‹ als ein tendenziell negative Auswirkungen hervorbringendes Phänomen weitgehend überwunden. Aktuell scheint – bezogen auf den Gebrauch des Konstrukts ›Dichte‹ – besonders die Verbindung zwischen Sozialpsychologie und Stadtplanung einen ertragreichen Forschungsbereich hervor zu bringen.
Reflexion (I)
I Makroebene und Mikroebene In den bisherigen Kapiteln dieser Arbeit wurden die Stadtsoziologie und die Sozialpsychologie als kontextueller Bezugsrahmen für eine erste Annäherung an den Begriff ›Dichte‹ gewählt. In ihrer Entstehungszeit sind die Übergänge zwischen den beiden Disziplinen fließend. Scipio Sigheles und Gabriel Tardes Schriften haben nicht nur Relevanz für die Sozialpsychologie, sondern sie sind auch soziologische Theorien, Emile Durkheim kommt nicht ohne Reflexionen über das Verhalten des Individuums aus, und Georg Simmels Großstadtessay kann mit einigem Recht auch als vorrangig sozialpsychologischer Text gelesen werden. Die Soziologie ist das »Sonnenmikroskop der Psychologie« (Sighele 1897, 11), die Sozialpsychologie ist für die Soziologie das Brennglas. Beide Disziplinen beschäftigen sich explizit mit dem ›Sozialen‹, und in beiden Disziplinen spielt der Begriff ›Dichte‹ eine gewichtige Rolle. Der disziplinäre Austausch gestaltet sich – was den expliziten Dichtediskurs betrifft – jedoch nicht besonders intensiv. So wird sich in der stadtsoziologischen Dichtedebatte nur vereinzelt mit dem beschäftigt, was dort unter dem Namen ›Crowding‹ zum Thema ›Dichte‹ erforscht wurde und wird.1 Gerade bei der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Begriff ›Dichte‹ wird das Forschungsfeld ›Crowding‹ in der stadtsoziologischen Debatte nur in Ansätzen thematisiert. Und aus der anderen Richtung kann ebenso ein nur geringer Hang zur Interdisziplinarität festgestellt werden, auch in der Sozialpsychologie wird im Forschungsfeld ›Crowding‹ kaum auf die stadtsoziologische Dichterezeption rekurriert. Auffallend ist bei einer vergleichenden Betrachtung der Dichteverwendungen in den beiden Disziplinen, dass die jeweilige Ausgangsposition hinsichtlich des Dichtegebrauchs grundverschieden ist: In der Stadtsoziologie 1
Eine Ausnahme ist dabei Jürgen Friedrichs Lehrbuch Stadtanalyse, in dem der Stadtsoziologe ausführlich die Ergebnisse der Crowdingforschung referiert. Es sei unzweifelhaft, so schreibt Friedrichs, dass sich die Hypothesen der Sozialpsychologie auch zur Erklärung »makrosoziologischer Sachverhalte in der Stadtanalyse« anwenden ließen (Friedrichs 1977, 86).
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TRANSDISZIPLINÄRE
D EKONSTRUKTION
ist das Konstrukt ›Dichte‹ durch die positivistische fortschrittsgenerierende Kausalkonstruktion aus Durkheims Frühwerk geprägt, die von Wirth reproduziert wurde und seitdem beharrlich im Zentrum der stadtsoziologischen Grundsatzdebatten steht. In der klassischen Stadtsoziologie blieb diese positive Konnotation von ›Dichte‹ bis heute weitgehend erhalten, auch wenn das Konstrukt im kritischen Diskurs immer wieder als Beispiel für eine unzulässige Kausalisierung sozialer Verhältnisse durch räumliche Faktoren kritisiert worden ist. In der Sozialpsychologie wird ›Dichte‹ dagegen als ein Phänomen behandelt, das (besonders zu Beginn der sozialpsychologischen Crowdingforschung) mit der Grundannahme versehen ist, negative Auswirkungen auszulösen. Allerdings gibt es bei der Dichtebewertung zwischen den beiden Disziplinen insofern wieder eine Annäherung, als dass am (vorläufigen) Ende der Crowdingforschung die Erkenntnis steht, dass mit dem Begriff keine einfach strukturierte Kausalhypothese begründbar ist, was der im stadtsoziologischen Diskurs entwickelten Kritik am klassischen Dichtebegriff (also die Ablehnung des Gesellschafts- oder Stadtbausteins ›Dichte‹ als nicht vertretbare Reduktion der komplexen sozialen Wirklichkeit) annäherungsweise entspricht. II Konstruktionen von und mit Dichte Im stadtsoziologischen Kontext lassen sich beim Gebrauch des Begriffs ›Dichte‹ zwei Bereiche unterscheiden: Zum einen beschäftigen sich StadtsoziologInnen mit der Konstruktion von ›Dichte‹ (also der Definition des Begriffs), zum anderen geht es um die Konstruktion mit ›Dichte‹. Mit ›Dichte‹ wird in der Stadtsoziologie vor allem ›Stadt‹ konstruiert. Die Konstruktion von ›Stadt‹ ist dabei eine existentielle Aufgabe der Stadtsoziologie, sie ist erforderlich, um einen theoretischen Rahmen für die Bestimmung und Abgrenzung des eigenen Forschungsgebietes zu entwerfen. Über diesen Zusammenhang gerät der Begriff ›Dichte‹ in den zentralen Bereich der Stadtsoziologie. Die Verwendung des Konstrukts ›Dichte‹ als Stadtbaustein geht zurück auf die Gesellschaftstheorie von Emile Durkheim, der in seinem Frühwerk die These aufstellt, dass ›Dichte‹ gesellschaftliche Fortentwicklung bewirkt, die sich in der Stadt wiederum als ›Dichte‹ materialisiert. Popularisiert wurde diese Konstruktionsweise in erster Linie durch Louis Wirth, und Wirths Stadtdefinition ist der Bezugspunkt für nahezu jede Grundsatzdebatte über Wesen und Aufgaben der Stadtsoziologie. Über die bis heute anhaltende Kontroverse zu Wirths Essay erhält die stadtsoziologische Thematisierung der ›Dichte‹ fortwährende Relevanz und Aktualität. Im Kontext dieser Debatte wird das stadtsoziologische Konstrukt ›Dichte‹ jedoch auch immer wieder und grundlegend kritisiert, und die bei der Diskussion um Stadtsoziologie und Stadt aufgezeigten Widersprüche betreffen
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auch den Begriff ›Dichte‹. Der Zusammenhang zwischen ›Dichte‹ und ›Stadt‹ ist ein wechselseitiger. ›Dichte‹ wird verwendet, um Stadt zu definieren, und ›Dichte‹ gliedert sich durch Kategorien, die ›Stadt‹ konstituieren. Aus der postmarxistischen Perspektive, von welcher die Disziplin am hartnäckigsten und grundlegendsten hinterfragt wird, ist die Konstruktion von ›Stadt‹ mit baulich-räumlichen Elementen nicht möglich, daher wird dort das Konstrukt ›Dichte‹ auch zu einer vernachlässigbaren Komponente. Auch die stadtsoziologische Konstruktion von ›Dichte‹ geht auf Durkheim zurück. Durkheim unterscheidet in die beiden Bereiche ›moralische Dichte‹ und ›materielle Dichte‹, wobei in der ›materiellen Dichte‹ bereits alle drei heute üblichen Dichteebenen (Einwohnerdichte, ›bauliche Dichte‹ und Kommunikationsdichte) enthalten sind. Neben die ›materielle Dichte‹ stellt Durkheim mit der ›moralischen Dichte‹ (respektive der ›sozialen Dichte‹) eine zweite Dichteebene, die für den abstrakten Zusammenhalt einer Gesellschaft steht. In der zeitgenössischen Stadtsoziologie scheint es auf den ersten Blick eine ähnliche Gliederung und Begriffsbestimmung von ›Dichte‹ zu geben. Hartmut Häußermann unterscheidet (analog zu Durkheims ›materieller‹ und ›moralischer Dichte‹) in ›bauliche Dichte‹ und ›soziale Dichte‹ (Häußermann 2004, 10), teilweise erweitert er diese beiden Kategorien um die Einwohnerdichte. ›Bauliche Dichte‹ ist dabei als Überbauungsgrad, ›soziale Dichte‹ als ›Interaktionsdichte‹ definiert. Diese Dichteeinteilung und – definition wird in den meisten stadtsoziologischen Ansätzen (mehr oder minder abgewandelt) übernommen (vgl. Siebel 2003, Spiegel 2000, Giddens 1999). Damit lässt sich ein nicht unerheblicher Wandel bei der Definition von ›Dichte‹ im historischen Verlauf der Stadtsoziologie vermerken: Das, was in der Stadtsoziologie heute allgemein als ›Dichte‹ konstruiert wird, war für Durkheim lediglich die eine Seite der Medaille (nämlich die ›materielle Dichte‹). Deutlicher wird dieser Bedeutungswandel, wenn man die Definitionen der ›sozialen Dichte‹ noch einmal genauer betrachtet. Für Durkheim ist die ›soziale (moralische) Dichte‹ zentrale Ursache und wichtiger Gradmesser der gesellschaftlichen Weiterentwicklung, sie ist ein qualitatives Merkmal und gleich dem Ausmaß von ›Solidarität‹, bezogen auf die Gesellschaft. In der zeitgenössischen Stadtsoziologie wird ›soziale Dichte‹ dagegen zumeist als ›Kommunikationsdichte‹ definiert. Häußermann definiert ›soziale Dichte‹ als »Zahl der Interaktionen innerhalb einer bestimmten Bevölkerungsgruppe« (Häußermann 2004, 4), Siebel bestimmt den Ausdruck als »die Häufigkeit, mit der Kontakte zustande kommen« (Siebel 2003, 4). In der heutigen Stadtsoziologie wird ›soziale Dichte‹ also meist als quantitatives Merkmal konstruiert. Dadurch entsteht für den Begriff ›soziale Dichte‹ ein erheblicher Substanzverlust: Durkheims Begriffsdefinition ›Ausmaß der Solidarität bezogen auf Gesellschaft‹ steht der zeitgenössischen Lesart ›An-
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zahl der Interaktion bezogen auf eine Bevölkerungsgruppe‹ gegenüber. Damit verliert der Begriff ›soziale Dichte‹ viel von Durkheims moralischen Ansatz, und er verliert auch viel von seinem gesellschaftlichen Bedeutungsgehalt. ›Soziale Dichte‹ als ›Interaktionsdichte‹ ist ein nüchterner, vielleicht sogar messbarer Indikator, er ist jedoch kaum mehr der Behälter für die Diskussion über Ursache und Wirkung ›gesellschaftlicher Solidarität‹. Neben diesem Bedeutungswandel lässt sich beim Gebrauch der ›sozialen Dichte‹ auch eine große Bedeutungsvielfalt feststellen: Zusätzlich zu den verschiedenen Bedeutungsgehalten von ›sozialer Dichte‹ bei Durkheim und Häußermann werden in der stadtsoziologischen Debatte mit ›sozialer Dichte‹ noch weitere Dinge bezeichnet. In einem aktuellen soziologischen Wörterbuch wird ›soziale Dichte‹ etwa als »Verhältnis zwischen der Bevölkerung und der von ihr bewohnten Fläche« definiert (Fuchs-Heinritz et al. 2007, 135),2 was mit der Durkheimschen oder Häußermannschen Definition kaum mehr etwas zu tun hat. In der Sozialpsychologie wird ›soziale Dichte‹ noch einmal ganz anders definiert: Dort wird – bezogen auf unterschiedliche Versuchsanordnungen – stringent in ›räumliche Dichte‹ und ›soziale Dichte‹ gegliedert, wobei die Veränderung der ›sozialen Dichte‹ in einem psychologischen Versuch bedeutet, dass bei konstantem Raumangebot die Anzahl der anwesenden Personen manipuliert wird, die Veränderung der ›räumlichen Dichte‹ dagegen für die Modifikation des Raumangebotes bei konstanter Personenzahl steht (vgl. auch Fußnote 7 auf, S. 79). Deutlich wird bei der vielfältigen und inkohärenten Verwendung des Ausdrucks ›soziale Dichte‹ die Komplexität des Begriffs, aus der eigentlich die Erforderlichkeit eines differenzierten Umgangs abzuleiten wäre, um einen greifbaren Aussagegehalt zu generieren. Bei der (auch in der Stadtsoziologie) weit verbreiteten Verwendung der ›Dichte‹ als eher allgemeine Metapher ist aber genau das nicht die Regel. III Simmel, Nähe (ohne Dichte) Der Blick auf das Werk von Georg Simmel erbrachte die überraschende Erkenntnis, dass Simmel sich gar nicht explizit mit ›Dichte‹ beschäftigt. Simmels Großstadtessay ist weniger eine stadtsoziologische Schrift, mit der die Struktur der Stadt erklärt werden soll, sondern hat (schon im Titel) einen deutlich sozialpsychologischen Ansatz. Simmels Essay kann (wenn man da-
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Das Dichteverhältnis zwischen der Bevölkerung und der von ihr bewohnten Fläche wird heute eigentlich für den (vor allem im Kontext der Geographie und der Raumplanung verwendeten) Ausdruck ›Siedlungsdichte‹ verwendet, wobei auch bezüglich der Siedlungsdichte sehr unterschiedliche Begriffsbestimmungen vorgenommen werden (vgl. Fußnote 1 auf S. 316).
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von absieht, dass ›Dichte‹ gar nicht darin vorkommt) vor allem als sozialpsychologischer Dichtetext gelesen werden. Simmel konstruiert weder ›Dichte‹ selbst, noch konstruiert er etwas mit ›Dichte‹. Simmel reflektiert die Auswirkungen der Großstadt auf das Individuum. Simmels Begriffe der ›Blasiertheit‹ und ›Reserviertheit‹ sind eng verwandt mit der späteren Fokussierung der Sozialpsychologie auf Bewältigungsstrategien (›Coping‹) von ›Crowding‹ (etwa durch Vermeidung und Rückzug des Individuums als mögliche Verhaltensweisen). Simmels Essay ist sicherlich keine ›Theorie der Dichte‹, aber ein früher (und die Ambivalenz des Themas in den Vordergrund rückender) Beitrag zur Beschäftigung mit der Psychologie des Individuums in der Großstadt. Simmels ›Blasiertheit‹ und ›Reserviertheit‹ können dabei zum einen als eine vorweggenommene Widerlegung von Wirths Toleranzthese, zum anderen auch als Beiträge zur Copingtheorie der Crowdingforschung gelesen werden (und somit lässt sich implizit auch die Relevanz von Simmels Essay für den Dichtediskurs wieder herstellen). Dabei stellt sich jedoch die Frage, warum Simmel eigentlich nicht von ›Dichte‹ spricht? ›Dichte‹ war zur Entstehungszeit von Simmels Großstadtessay ein viel gebrauchter Begriff, die Dichtediskurse der Nationalökonomie, der Geographie, des Städtebaus und der Soziologie hätten vielfältige Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung mit dem Begriff und den dahinter stehenden Positionen geliefert (vgl. die nachfolgenden Kapitel). Vermutlich schreibt Simmel nicht zufällig nicht über ›Dichte‹, sondern weil es ihm um etwas anderes geht, nämlich um ›Nähe‹. ›Nähe‹ ist formal betrachtet ähnlich der ›Distanz‹ (und daher ebenso ein Kehrwert der ›Dichte‹), aber deutlich positiver konnotiert. ›Nähe‹ hat (wie die ›Dichte‹) ein zweifaches Verhältnis zum Raum: Zum einen gibt es die ›räumliche Nähe‹ als räumliche Positionsangabe, zum anderen wird der Begriff als Ausdruck für ein zwischenmenschliches Verhältnis verwendet, für etwas (unabhängig von der räumlichen Entfernung) Verbindendes. Simmel stellt mit dem ›Antlitz‹ des anderen die Grundbedingung der ›Nähe‹ in den Mittelpunkt seiner Analyse: »In dem Blick, der den andern in sich aufnimmt, offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekte preis. Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem Andern die Seele, die ihn zu entschleiern sucht. Indem dies ersichtlich nur bei unmittelbarem Blick von Auge in Auge stattfindet, ist hier die vollkommenste Gegenseitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen hergestellt« (Simmel 1908, 484). Während Simmel hier (in sozialpsychologischer Weise) das Verhalten des Individuums betrachtet, gelangt man über die im Kontext des Begriffes ›Nähe‹ geführte Debatte auf das Terrain der Moralphilosophie. Der polnisch-britische Philosoph Zygmunt Baumann (*1925) bezeichnet die ›Nähe‹
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als »moralischen Grundeffekt«, der eine »moralische Herausforderung des Menschen durch die bloße Gegenwart anderer, den stummen Appell des Antlitzes« bewirke (Baumann 2007, 26). Die unmittelbare Daseinsäußerung werde »durch die Nähe bzw. unmittelbare Gegenwart des schwachen, verletzlichen, leidenden und hilfsbedürftigen Anderen ausgelöst«. Was wir sehen, fordere uns auf »zu handeln – zu helfen, zu schützen, Trost zu spenden, zu heilen oder zu retten« (ebd. 47). Damit entspränge die »Verantwortung, das Grundelement moralischen Verhaltens«, aus der »Nähe des Anderen«. Allgemein gelte: »Nähe bedeutet Verantwortung und Verantwortung ist Nähe« (ebd. 198). Es sei müßig entscheiden zu wollen, welcher von beiden Begriffen Vorrang habe, da sie sich gegenseitig bedingten. Die Aufhebung dieser Verantwortung und die Neutralisierung ihres moralischen Impulses sei nur möglich, wenn Nähe durch physische oder geistige Trennung ersetzt werde. Der »Gegensatz zu Nähe«, so Baumann, sei »soziale Distanz« (Baumann 1994, 198). Baumanns Thesen sind damit nicht weit vom stadtsoziologischen und sozialpsychologischen Dichtediskurs entfernt. Die ›Nähe‹ ist auf der individuellen Ebene die Entsprechung von dem, was Durkheim im gesellschaftlichen Maßstab als ›soziale Dichte‹ bezeichnet. Bei Baumann erzeugt ›Nähe‹ Verantwortung, bei Durkheim erzeugt ›Dichte‹ gesellschaftliche Solidarität. Beim Gebrauch des Begriffs ›Nähe‹ geht es um die These, dass beim Prozess, der durch das (räumliche) Aufeinandertreffen von zwei Menschen ausgelöst wird, individuelle Moral entsteht (Baumann), beim Gebrauch des Begriffs ›Dichte‹ wird behauptet, dass durch räumliche Verhältnisse Moral respektive Solidarität verursacht wird (Durkheim und Wirth). Mit dem Begriff ›Nähe‹ wird somit der moralische Blinddarm der Dichtetheorie (die ›soziale Dichte‹ im Durkheimschen Sinne) weiter verfolgt, – allerdings weder im soziologischen noch im sozialpsychologischen Kontext, sondern auf der Ebene der Philosophie. IV Possibilismus Verfolgt man zwei der Theoriepfade des stadtsoziologischen Dichtediskurses weiter, die (unter anderem) mit dem Ziel eingeschlagen wurden, das klassische Dichteverständnis positiv fort zu entwickeln, kann man dabei gemeinsame Bezugspunkte entdecken. Zum einen ist dabei der Soziologe Maurice Halbwachs zu nennen, der die von Emile Durkheim nur in Ansätzen formulierte ›Soziale Morphologie‹ weiter ausgearbeitet hat. Zum anderen ist es der Historiker Fernand Braudel, auf den sich Gerd Held in seinen Ausführungen (die wiederum den theoretischen Kern der Dichteeinbindung beim Projekt ›Eigenlogik der Städte‹ ausmachen) bezieht. Halbwachs und Braudel zählen beide zum Kreis einer einflussreichen Strömung in der fran-
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zösischen Geschichtswissenschaft, die als ›Annales-Schule‹ bezeichnet wird. Maurice Halbwachs (1877-1945)3 gilt als einer der wenigen echten Erben von Emile Durkheim. Halbwachs untersucht bei seiner Ausformulierung von Durkheims ›Sozialer Morphologie‹ die materielle Ausformung historischer Gesellschaften und die Herausbildung eines ›Lebensgefühls‹ in der modernen Großstadt. Ursprung von Halbwachs’ Theorie sind dabei ›soziale Gruppen‹, die dem ›materiellen Gepräge‹ seine Eigenschaften verleihen. Die Beschaffenheit und Gestaltung der materiellen Dinge wird bei Halbwachs zur unmittelbaren Gegebenheit des sozialen Bewusstseins. Dabei wird (weit mehr als bei Durkheim) der Ausgangspunkt des sozialen Handelns betont und der »letzte Anklang an wie immer gearteten ›substantialistischen‹ Vorstellungen bis an die Wurzel ausgetilgt« (Egger 2002, 92f.). Halbwachs geht von ›materiellen Repräsentationen‹ des kollektiven Charakters aus, die untrennbar verwoben seien mit den materiellen Formen des sozialen Lebens. In den Schichten der ›kollektiven Psychologie‹, so lautet der Ansatz von Halbwachs, lagerten sich die Repräsentationen des ›gesellschaftlichen Körpers‹ ab und gingen über auf die unmittelbare Wahrnehmung der materiellen Formen, in denen menschliche Gruppen ihr Selbstbild und ihre Stütze finden (ebd.). Fernand Braudel (1902-1985)4 formuliert es als sein Ziel, das Verhältnis von Geschichte und Geographie neu zu bestimmen. Schwerpunkt von Braudels vor-strukturalistischem Ansatz ist die These, dass die unpersönlichen Kräfte, die zu einem Ereignis führen, bedeutender seien, als das Ereignis selbst (vgl. Braudel (2006) [1949]). Braudel nimmt einen geographischen Raum als Ausgangspunkt, vermeidet jedoch »die deterministische Artikulation naturräumlicher Gegebenheiten mit staatlichem Handeln sowie die Suggestion von Naturgesetzlichkeiten« (Dünne 2006, 375). Daraus entsteht mit dem ›Possibilismus‹ ein Gegenentwurf zu Ratzels Geodeterminismus (vgl. die folgenden Kapitel 3.1 und 3.2). Die possibilistische Phase wird heute als eine Entwicklungsphase der Anthropogeographie (mit dezidiert soziologischen Einflüssen) gesehen und als Vorreiter der zeitgenössischen Sozial- respektive Humangeographie bezeichnet. Der Possibilismus nimmt somit eine epistemologische Zwischenstation zwischen dem Geode3
Halbwachs hatte seit 1919 die erste Professur für Soziologie in Straßburg. Halbwachs wechselte ab 1935 an die Sorbonne und wurde 1944 Lehrstuhlinhaber für Sozialpsychologie am ›Collège de France‹. Halbwachs starb im März 1945 im Konzentrationslager Buchenwald.
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Braudel studierte Geschichte an der Sorbonne in Paris. 1949 wurde Braudel Professor am ›College de France‹ und war von 1956-1968 Mitherausgeber der Zeitschrift ›Annales d’histoire économique et sociale‹.
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terminismus der klassischen Geographie und dem Konstruktivismus der zeitgenössischen (kritischen) Humangeographie (vgl. Kapitel 3.3) ein. Sowohl Halbwachs als auch Braudel wenden sich damit einerseits gegen einen reduktionistischen räumlichen Kausalismus, bei dem natürliche oder geographische Faktoren zu (alleine) determinierenden Ursachen des Sozialen bestimmt werden. Andererseits konstruieren jedoch beide französischen Wissenschaftler natürliche Gegebenheiten (und ihre Repräsentationen) als ermöglichende (possibilistische) Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung. Zum einen sind damit Halbwachs’ und Braudels Überlegungen Vorläufer der späteren Raumkonzepte etwa von Henri Lefebvre, die aktuell im Kontext des ›Spatial Turn‹ (vgl. Kapitel 3.3) viel diskutiert werden und in denen ebenfalls dem ›Räumlichen‹ nicht nur vermehrte Aufmerksamkeit, sondern (teilweise) auch wieder ein aktiver Part bei der Produktion des Sozialen zugesprochen wird. Zum anderen ist der von Halbwachs und Braudel vertretene possibilistische Ansatz (also die Idee, dass die materiellen Formen sozial bedingt sind und deshalb auch wieder Rückwirkungen auf das Soziale haben können) vermutlich Voraussetzung für eine positive Reformierung des klassischen Dichtekonstrukts auf der stadtsoziologischen Ebene (vgl. auch das abschließende Kapitel ›Dichte‹ ab S. 339). Möglicherweise kann die Beschäftigung mit Halbwachs’ und Braudels Schriften – ohne dass in diesem Rahmen auf deren Werk ausführlicher eingegangen werden kann – Hinweise für nachfolgende Versuche ergeben, einen aktuellen Ansatz für eine erneuerte (halbkausale) Theorie der ›Dichte‹ zu entwerfen. V Canettis Dichte Ein weiterer Seitenblick über die Grenzen des gewählten disziplinären Rahmens hinaus führt zur Studie Masse und Macht von Elias Canetti (19051994),5 einem aufgrund seiner »synkretistischen Form« nur schwer einer ›theoretischen Praxis‹ (Wissenschaft, Philosophie oder Literatur) zuordnungsbaren Werk (Friedrich 1999, 9f.).6 ›Dichte‹ ist in der mit soziologischen, philosophischen und psychologischen Elementen angereicherten Stu-
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Canetti war ein Schriftsteller (deutscher Sprache) und hat vor allem in Wien,
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Canettis Schrift wird als ein »in vielfacher Hinsicht ›irreguläres‹ und daher irri-
London und Zürich gelebt. 1981 erhielt Canetti den Literatur-Nobelpreis. tierendes Buch« besprochen, mit dem der Autor den Unterschied zwischen Literatur und Wissenschaft aufgehoben habe. Canetti treffe Aussagen, die sich auf wissenschaftliche Methoden beziehen und oder deren Resultate bestreiten, allerdings ohne den theoretischen Ort zu bezeichnen, von dem aus gesprochen wird (ebd.).
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die ein zentraler Begriff und wird in der Sekundärliteratur als »ein bedeutendes, »vielleicht sogar als das wichtigste Theorem der Massenanalyse« bezeichnet (ebd. 85). Canettis Ausgangspunkt ist die Furcht des Menschen vor Berührung: Nichts würde der Mensch mehr fürchten als die »Berührung durch Unbekanntes« (Canetti 1960, 9f.). Der Mensch weiche der Berührung durch Fremdes aus, er wolle sehen, »was nach einem greift«, die Berührung erkennen oder zumindest einreihen können. Alle Abstände, die die Menschen um sich geschaffen hätten, seien von dieser Berührungsfurcht diktiert. Als Gegenpol dieser Urangst konstruiert Canetti den Begriff ›Masse‹: »Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, daß man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen ›bedrängt‹«. Sobald man sich der ›Masse‹ einmal überlassen habe, so führt Canetti weiter aus, fürchte man ihre Berührung nicht mehr. Wer immer einen bedränge, sei das gleiche wie man selbst, »man spürt ihn, wie man sich selber spürt«. Es gehe dann plötzlich alles »innerhalb eines Körpers« vor sich, und das sei der Grund, warum »die Masse sich so dicht zusammenzuziehen« suchte: »Sie will die Berührungsfurcht der einzelnen so vollkommen wie nur möglich loswerden«. Je heftiger die Menschen sich aneinander pressten, umso sicherer fühlten sie, dass sie keine Angst voreinander haben. Dieses Umschlagen der Berührungsfurcht gehöre zur ›Masse‹. Die Erleichterung, die sich in ihr verbreite, erreiche ein »auffallend hohes Maß in ihrer größten Dichte« (ebd.). Canetti konstruiert damit eine enge Symbiose zwischen den Begriffen ›Masse‹ und ›Dichte‹, und er unterstreicht diesen Zusammenhang noch: »Die Masse liebt Dichte. Sie kann nie zu dicht sein. Es soll nichts dazwischenstehen, es soll nichts zwischen sie fallen, es soll möglichst alles sie selbst sein. Das Gefühl größter Dichte hat sie in Augenblick der Entladung« (ebd. 26). In der umfangreichen Rezeption von Canettis Werk wird auf die »signifikante Häufigkeit« hingewiesen, mit der Canetti den Begriff auch in seinen literarischen Texten verwendet (Friedrich 1999, 85). Daher finden sich Hinweise darauf auch in vielen Analysen von Canettis literarischem Werk. So wird formuliert, dass der Begriff ›Dichte‹ von Canetti als Metapher für eine »gewisse Zuständlichkeit«, für die »Intensität des Lebens« verwendet werde, ja sogar als Synonym für die »Liebe zu den Menschen, zum Leben« (Hartung 1977, 302).7 ›Dichte‹ sei bei Canetti ein »simultaner Zustand so-
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Diese Auslegung bezieht sich auf eine Passage aus den Stimmen von Marrakesch: »Ich mochte nicht mehr weg von hier, vor Hunderten von Jahren war ich hier gewesen, aber ich hatte es vergessen, und nun kam mir alles wieder, ich fand
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zialer, psychischer und physischer Diffusität«, mit ihr würden »koexistierende Ambivalenzen bzw. das einheitliche Erlebnis eines heterogenen Milieus« beschrieben, wobei sie nicht nur der sprachlichen Wiederholung vorbehalten bliebe, sondern allen »depersonalisierten Erfahrungen der Mannigfaltigkeit«, die sich mit der Erfahrung der Person austauschen (Friedrich 1999, 87f.). Der Begriff ›Dichte‹ fungiere bei Canetti als »Synonym für alles Nichtoffiziöse, Gemischte« und für eine »Form der ›Ablagerung‹ von Geschehen«, die sich »nur in der Wiederholung des Ereignisses selbst reproduziert und sich so der Repräsentation entzieht«. Canettis ›Dichte‹ wird als Metapher gesehen für eine »heterotopische Umkehrung« jener »trennenden Platzierungen, gegliederten Verteilungen und der Funktionsräume der Stadt« (ebd.). Canettis Ausführungen zur ›Dichte‹ können damit – aus der von mir eingenommenen Perspektive – zumindest als zweischichtig bezeichnet werden. Canetti schreibt zum einen über den herkömmlichen Dichtebegriff als Ausdruck für viele Menschen an einem Ort und liefert dabei eingängige (wenn auch nicht gänzlich neue) psychologische Einsichten in das Massenverhalten, die auf einer kritischen (wenn auch nicht analytischen) Reflexion der Verlautbarungen der ›Massenpsychologie‹ beruhen. Zum anderen verwendet Canetti den Begriff ›Dichte‹ (sowohl bei seiner Schrift ›Masse und Macht‹ als auch in seinem literarischen Werk) als eher atmosphärisches Attribut, als literarische Metapher für spezielle intensive Situationen, Gefühlslagen und Augenblicke. ›Dichte‹ steht bei Canetti für Intensität, Atmosphäre und Zusammenhalt.
jene Dichte und Wärme des Lebens ausgestellt, die ich in mir selber fühle« (Canetti 1985 [1967], 51).
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Dichte und Raum
3.1 E RFINDUNG
DER
D ICHTE
Der in diesem Kapitel betrachtete Kontext ist die Geographie, und die Dichtekonstruktion der Geographie ist die Bevölkerungsdichte. Auf den ersten Blick bildet die Bevölkerungsdichte ein einfaches, klar definiertes Verhältnis: die Personenanzahl geteilt durch die Fläche eines definierten Bereiches, bezogen auf einen konkreten Ort. Vermutlich ist diese vermeintliche Einfachheit auch verantwortlich für die Popularität des Begriffs: Bevölkerungsdichte anzugeben ist nicht schwer. Daher sind Bevölkerungsdichte und Einwohnerdichte die – jenseits des naturwissenschaftlichen Bedeutungszusammenhangs – am häufigsten verwendeten Kategorien von ›Dichte‹. Bevölkerungsdichtekarten sind selbstverständlicher Bestandteil sämtlicher Arten von Atlanten (National-, Regional-, Welt-, Weltwirtschafts- und Schulatlanten), dadurch begegnet jedem Schüler der Begriff Bevölkerungsdichte schon früh im Rahmen des Erdkunde- bzw. Geographieunterrichts. Darstellungen der Bevölkerungsdichte finden sich in wissenschaftlichen und populären Büchern über die Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur und in praktisch jedem länderkundlichen Werk (Witt 1971, 46). Die ersten expliziten Nennungen und Darstellungen von Bevölkerungsdichte sind dabei zeitlich und inhaltlich mit der Entstehung der wissenschaftlichen Geographie verbunden. Ende des 19. Jahrhunderts setzte eine breite methodische Debatte über die Bevölkerungsdichte ein, in der ausführlich verschiedene Definitionsansätze diskutiert und umfangreich Regeln für ihre Verwendung aufgestellt wurden. Der Begriff Bevölkerungsdichte rückte in den fachlichen Fokus, die Frage nach der ›richtigen‹ Verwendung des Bevölkerungs-Fläche-Quotienten zählte fortan zu den »zentralen Themen« in der Geographie (Wilhelmy 1966, III 120). Auf »keinem Gebiet der Kartenkunde und Kartendarstellung«, so bemerkt der Kartograph Max Eckert im Rückblick, sei bereits soviel gearbeitet worden, auf keinem anderen kartenwissenschaftlichen Gebiet hätten die Geographen aber auch »jahrelang mehr theoretisiert und kritisiert als prak-
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tisch gestaltet« (Eckert 1925, 153). In diesem Dichtediskurs der Geographie wird die erste Konstruktion der Bevölkerungsdichte geleistet. Im deutschen Sprachgebrauch war Immanuel Kant (1724-1804) einer der ersten Wissenschaftler, der den Begriff ›Dichtigkeit‹ verwendete (jedoch als Kategorie der Physik und nicht im Sinne von Bevölkerungsdichte). Auch für die Betrachtung der epistemologischen Entwicklung der Geographie ist der Blick auf Kant weiterführend: Seine posthum veröffentlichte Physische Geographie gilt als wichtiger Schritt zur Etablierung des Fachs als eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Kant formuliert, dass Geographie »zu allen Zeiten« gewesen sei und gliedert in eine ›alte‹ und eine ›neue‹ Geographie (Kant AA IX, 161f.). Kant bezeichnet die Geschichte als Grundlage der Geographie, aber auch die Geographie als ein sich »unablässig änderndes« Substrat. Geschichte, so arbeitet Kant die Unterscheidung heraus, sei eine Erzählung, wohin gegen Geographie eine Beschreibung darstelle. Kant definiert die Geographie als ›Erdbeschreibung‹ (als ›Chorographie‹), als »Beschreibung einer Gegend und ihrer Eigenthümlichkeiten« (ebd.). Als ein Begründer der – sich im Kontext der Aufklärung und der Durchsetzung eines rationalen Weltbildes entwickelnden – neuen wissenschaftlichen Geographie gilt Carl Ritter (1779-1859),1 der Anfang des 19. Jahrhunderts seine ersten Arbeiten zur »allgemeinen vergleichenden Erdbeschreibung« veröffentlichte. Erklärtes Ziel dieses Forschungsansatzes war es, die geographisch-physikalischen Verhältnisse der Erdoberfläche (im kantianischen Sinne) möglichst exakt zu beschreiben und ihre Beschaffenheit, ihre Form und ihr Aussehen zu untersuchen. Ritter glaubte zwar fest an einen objektiven und göttlichen Zweck hinter der sichtbaren Welt (Schultz 2005, 207), betonte dabei jedoch bereits »den menschlichen Gesichtspunkt« der Geographie, um »dessentwillen überhaupt sie nur als wünschenswert« erscheine (Ritter 1817, 3). Die Beziehung zwischen Menschen und Erdoberfläche selbst gehört bei Ritter noch nicht zum engeren Untersuchungsbereich, im Vordergrund steht die Beschäftigung mit den nicht menschengemachten Formen der Erde. Als Metaebene ist das Verhältnis von »Volke zur Erde« jedoch bereits angelegt. Es zeige sich der Einfluss, den die Natur auf die Völker ausübe, weil »gleichsam hier Massen auf Massen« wirkten (ebd.). Damit ist die Perspektive der neuzeitlichen Geographie bereits bestimmt: Der Einfluss der Natur auf die Völker (und nicht etwa umgekehrt) steht an ihrem Ausgangspunkt. Die ersten deutschsprachigen Fundstellen des Ausdrucks2 belegen diese Blickrichtung. Eine sehr frühe und explizite Thematisierung der ›Dich1
Vgl. Schultz 2003, IX.
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Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war in der Geographie statt dem Begriff ›Bevölkerungsdichte‹ der Ausdruck ›Dichtigkeit der Bevölkerung‹ gebräuchlich.
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tigkeit der Bevölkerung‹ findet sich in der Schrift Frankreich und die Freistaaten von Nordamerika (Zimmermann 1795). In dieser – in der Geographie jener Zeit nicht unüblichen (Wardenga 2005, 129) – Mischung aus Reisebericht und vergleichender Länderkunde wird ausführlich auf die »Dichtigkeit der Bevölkerung« rekurriert. So werden die Ursachen des Widerstandes der nordamerikanischen Ursprungsbevölkerung gegen die weiße Kolonialmacht auf die ›Dichtigkeit‹ zurückgeführt. Die hohe ›Dichtigkeit‹ der Bevölkerung führe zum kollektiven Bedürfnis nach »Raumerweiterung« und dazu, dass die Indianer »von Zeit zu Zeit Einbrüche und blutige Streitkriege« wagten (Zimmermann 1795, 20). Aber auch die Verhältnisse in Frankreich werden mit dem Begriff beschrieben: Wer wüsste, »wie hoch die Dichtigkeit kultivirter Menschen die Macht eines Staates erhebt«, könne deutlich »die Allgewalt von Paris über die jetzt zerstückelten Departements beurtheilen« (ebd. 200). Abhängig sei die ›Dichtigkeit der Einwohner‹ von der Natur. Je milder das Klima und je reichlicher und einträglicher die Naturprodukte eines Landes seien, desto größer wäre dessen ›Dichtigkeit‹ (ebd. 151). Der Gebrauch der ›Dichtigkeit‹ lässt sich damit bereits in drei – die weitere Entwicklung der Thematik prägende – Argumentationslinien unterscheiden. Erstens wird die in der Antike konstruierte Notwendigkeit von ›räumlicher Expansion aufgrund räumlicher Enge‹ (vgl. Kapitel 4.1) reproduziert und auf eine zu ›hohe Dichtigkeit‹ bezogen. Zweitens wird die ›Dichtigkeit‹ (hier von Paris) als politischer Dominanz- und Machtfaktor entworfen. Drittens wird (umgekehrt) eine kausaler Einfluss der natürlichen Gegebenheiten auf die ›Dichtigkeit‹ behauptet und die Bevölkerungsdichte damit in den – die neuzeitliche Geographie konstituierenden – naturdeterministischen Kontext eingebunden. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wird die ›Dichtigkeit der Bevölkerung‹ im Kontext der Geographie und der ›Länderkunde‹ zum viel besprochenen Thema. Die Etablierung der Bevölkerungsdichte als zentrale Begrifflichkeit der Geographie beruht dabei auf zwei Voraussetzungen: Zum einen beförderten die verbesserten und verfeinerten Messmethoden – sowohl hinsichtlich der Flächengrößen als auch der Bevölkerungszahlen – die Bedeutung, die der ›Dichtigkeit‹ beigemessen wurde. Die Angabe von Bevölkerungsdichten wurde durch die Verfügbarkeit von Karten und Bevölkerungszahlen zusehend vereinfacht. Zum anderen wurde die Beziehung von Erdoberfläche zu menschlichem Dasein in den Vordergrund gerückt. In der Geographie wurden verstärkt nicht mehr nur geologische und topographische Phänomene betrachtet, sondern es wurde versucht, den angenommenen kausalen Zusammenhang zwischen den ›natürlichen‹ (räumlichen) und den sozialen Gegebenheiten heraus zu arbeiten und darstellbar zu machen, für diesen Zweck erschien die Bevölkerungsdichte als ein ideales Instrument. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die ›Dichte‹ durch eine einzige Zahl
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ausgedrückt werden kann und weil sie eine ›relative Zahl‹ ist, die man umstandslos mit anderen relativen Zahlen vergleichen kann und die – als Zahlenwert – ›objektiv‹ überprüfbar ist. Die rationale Herleitung, die einfache mathematische Formel und die Überprüfbar- und Vergleichbarkeit sind wichtige Faktoren für die Erfolgsgeschichte der Bevölkerungsdichte in so vielen und unterschiedlichen Disziplinen und Zusammenhängen. Die Bevölkerungsdichte ist damit auch ein Produkt der Statistik. In der Sozialstatistik wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts versucht, das »Problem der großen Zahlen und der vielen Menschen« erkenntnistheoretisch zu lösen und daraus auch politisch-praktische Lösungen abzuleiten. Bald entstand im wissenschaftlichen Diskurs ein »statistischer Enthusiasmus« (Gamper 2007, 18). Die Statistik bildete in dieser Zeit ein ›Dispositiv‹, das die »Erscheinung kollektiver Gegenstände orchestrierte« und auf neue Weise Ordnung in die Dinge brachte. Die angewendeten quantitativen Techniken erzeugten jedoch stets auch qualitative Werte (ebd.). Mit dem »statistischen Tatsachenblick« wurde die soziale Wirklichkeit quantitativ transformiert und abstrahiert. Dabei wurde jedoch auch regelmäßig die »Individualität menschlichen Verhaltens und der Handlungen« ausgespart respektive vorrangig auf das »Konstante und Determinierte« abgestellt (Fleischhacker 2002, 245). Der Blick des Statistikers »aus der Zentralperspektive« bildete nicht nur ab, sondern legte sich die Wirklichkeit auf eine bestimmte Weise und aus einer spezifischen Weltsicht zurecht (Leendertz 2008, 134). Es wurde eine Ordnungsstrategie eingeführt, die gesellschaftliche Intervention als Zerlegung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Daten praktizierte, indem Einheiten klassifiziert und die Kategorien abgrenzt wurden, die dann gemessen, gezählt sowie auf Papier gebracht wurden und dann von dort – als soziale Orientierungshilfe, als Anleitung zu politischen Maßnahmen oder als subjektive Applikationsvorlage – auf die Realität zurückwirkten (Gamper 2007, 307). In der Statistik wurde häufig ›statistische Regelmäßigkeit‹ als ›Prinzip der Kausalität‹ ausgelegt. Solche Regelmäßigkeiten wurden dann »als wirkende Gesetze« betrachtetet, bei denen – analog den in den Naturwissenschaften und Physik vorherrschenden Gesetzen – Ursache und Wirkung zusammenfielen (Fleischhacker 2002, 236). Inhaltlich wurde in dieser ersten Hauptphase der geographischen Dichtedebatte das Verhältnis zwischen ›Natur‹ und Bevölkerungsdichte zum bestimmenden Thema. Insbesondere die Zusammensetzung des Bodens, so lautete die zentrale These, habe einen wesentlichen Einfluss auf die ›Dichtigkeit‹ sowohl der ackerbauenden als auch der industriellen Bevölkerung (Dieterici 1853, 9). In einer Studie aus dem Jahre 1852 über den »Kulturzustand des Regierungsbezirks Merseburg« wird formuliert, dass es eine Pflicht sei zu untersuchen, wie sich die Menge der Bewohner eines Landes oder eines Bezirks zu dem »von ihr eingenommenen Raume« verhalte
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(Schadeberg 1852, 8). Als Ursachen der »Volksdichtigkeit« werden dabei nicht nur das Klima, die Fruchtbarkeit des Bodens, die »Lage des Landes in gesundheitlicher Rücksicht« genannt, sondern auch »Einsichtigkeit«, »Fleiß« und »Sparsamkeit des Volks« sowie die herrschenden »sittlichen und rechtlichen Zustände« (ebd.). Damit wird der reine Naturdeterminismus der Bevölkerungsdichte um verschiedene soziale Aspekte erweitert, die als ›Volkseigenschaften‹ bezeichnet werden. Bereits in der Merseburger Studie lässt sich Bevölkerungsdichte also im Spannungsfeld zwischen Naturdeterminismus und völkischem Ansatz verorten, welches in Folge zum zentralen Schauplatz des Dichtegebrauchs werden sollte. Der Begriff wurde in dieser Zeit eine Kategorie zum einen der (naturdeterministischen) Geographie, zum anderen der konservativen völkischen Bewegung, die sich im 19. Jahrhundert als starke gesellschaftliche Kraft im deutschen Kaiserreich bildete. Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897)3 untersucht in seiner Schrift Land und Leute4 die »Verteilung der Volksmassen« und identifiziert »Landstriche, die zur Zeit nur eine dünne Volksmasse ernähren, früher dagegen teilweise schon weit dichter bevölkert waren« und überhaupt »zu einer dichteren Bevölkerung durchaus nicht schlechtweg ungeeignet« seien. Mitteldeutschland etwa wäre im Gegensatz zu Nord- und Süddeutschland »überall einer dichten und dichteren Bevölkerung fähig« (Riehl 1910 [1851], 91).5 Riehl verwendet für seine Argumentation die behauptete (als statistisch belegbar konstruierte) Abhängigkeit der Bevölkerungszahl vom Boden (vom Raum) und bedient dabei die (naturdeterministische) geographische Grundperspektive.6 Zudem steht Riehl auch für den im konservativen Milieu dieser Zeit schnell an Bedeutung zunehmenden Diskurs der Großstadtfeindschaft (vgl. ausführlich Kapitel 6.2). In diesem Kontext wird etwa konsta3
Riehl studierte Theologie und arbeitete danach als Journalist. 1854 wurde Riehl zum »Oberredakteur der Presseangelegenheiten« von Bayern berufen, 1856 erhielt er eine Ehrenprofessur an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Münchner Universität. Ab 1857 betreute Riehl die statistisch-topographische Gesamtdarstellung des Königreichs Bayern und wurde 1859 Ordinarius für Kulturgeschichte und Statistik.
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Riehls Schrift wurde auch als Schulbuch im Fach ›Volkskunde‹ (aus dem später
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Mit der Formulierung »einer dichten Bevölkerung fähig sein« konstruiert Riehl
die Fächer ›Völkerkunde‹ und ›Erdkunde‹ entstanden sind) eingesetzt. bereits den Kern des Diskurses über die ›Tragfähigkeit‹ des Raumes, von der später noch ausführlich berichtet werden wird (vgl. S. 110f. und 120f.). 6
Zugleich erweitert Riehl – und auch das kann als richtungsweisend interpretiert werden – die naturdeterministische Debatte um einen antisemitischen Ansatz: »Wo die Juden massenhaft sitzen, da sitzt fast allemal das Gesamtvolk staatlich und wirtschaftlich zersplittert« (Riehl 1910, 92).
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tiert, dass die ›Dichtigkeit der Bevölkerung‹ sehr viel zur allgemeinen »Demoralisierung« beitrage. So wachse »mit zunehmender Dichtigkeit« die »Zahl der Kindermorde im potenzirten Verhältnis«, und auch »die fleischlichen Verbrechen« ständen »mit der Dichtigkeit der städtischen Bevölkerungen in geradem Verhältniß« (Lehmann 1846, 401). Der Zusammenhang zwischen ›hoher Dichtigkeit‹ und den sozialen Verhältnissen in den sich bildenden Großstädten wird an vielen Stellen hergestellt, das »dichte Beisammenwohnen der städtischen Bevölkerung« wird regelmäßig als »nachteilig für die Gesundheitsverhältnisse der Einwohner« hervorgehoben (Dieterici 1853, 197). Ein wichtiger Exponent der Entwicklung der deutschen Geographie im Allgemeinen und der dortigen Einbindung des Konstrukts ›Dichte‹ im Speziellen ist Friedrich Ratzel (1844-1904).7 Ratzel kritisierte die zeitgenössische Geographie wegen ihrer einseitigen Ausrichtung auf die Geologie und plädiert für einen stärkeren Bezug auf den Menschen. Ratzel unterscheidet zwischen der Untersuchung der »naturräumliche Beschaffenheit«, die eine »Verbindung mit Räumen und Orten« anstrebe und der »psychologische Methode«, mit der »die Verbindung mit der Seele der Menschen« gesucht werde (Ratzel 1891, VIII). Als Versöhnungsprojekt zwischen diesen beiden Ansätzen konzipiert Ratzel seine ›Anthropogeographie‹, die er als Wissenschaft von der Naturbedingtheit des Menschen definiert und mit der die Menschen primär in ihrer Abhängigkeit von den natürlichen Gegebenheiten gesehen werden (Weber 1999, 850). ›Bevölkerungsdichtigkeit‹ ist für Ratzel ein zentraler Begriff, der als das »Verhältnis der Zahl der Menschen zur Größe des von ihnen bewohnten Raumes« definiert wird. Ausführlich vergleicht Ratzel die ›Bevölkerungsdichtigkeit‹ verschiedener Länder und Regionen und untersucht die Auswirkungen klimatischer und geographischer Bedingungen auf das »statistische Bild der Menschheit« und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass »die Menschen sehr ungleichmäßig über die Erde verteilt« seien (Ratzel 1891, 228). Ratzel stellt in seinen Betrachtungen über die ›Volksdichte‹ jedoch nicht nur auf deskriptive Phänomene ab, sondern 7
Nach einer Ausbildung zum Apotheker studierte Ratzel Zoologie und promovierte sich 1868 an der Universität Heidelberg. Ratzel arbeitete im Anschluss als Reisejournalist für die Kölnische Zeitung und wandte sich dabei der Geographie zu. 1875 wurde Ratzel Privatdozent für Geographie an der »Königlich Polytechnischen Schule« (heute: Technischen Hochschule) in München und habilitierte sich dort. 1876 wurde er in München zum außerordentlichen Professor berufen, im Jahre 1886 folgte Ratzel einem Ruf an die Universität Leipzig. Ratzels Hauptwerk sind seine zweibändige Anthropogeographie (1882/1891) sowie die Schrift Politische Geographie aus dem Jahre 1897 (Buttmann 1973, Müller 1996, Peters 1999).
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bezieht von Anfang an auch dezidiert politische Ableitungen in seine Analyse mit ein. Ratzel konstatiert, dass »Ausdehnung und Lage der ungleich bevölkerten Gebiete« zu den »hervorragendsten Merkmalen« der Länder gehören, in denen die wichtigsten »natürlichen und geschichtlichen Thatsachen eines Bodens und eines Volkes« sich spiegeln. Daher gelte es, diesen Ausprägungen »besonders im politisch-geographischen Sinne ihre Beachtung zu heischen« (ebd. 229). Ratzel konstruiert eine enge Wechselbeziehung zwischen »Dichtigkeit der Bevölkerung und Kulturhöhe«. Je näher sich die Menschen berührten, desto mehr seien sie aufgefordert, ihre »humanen Eigenschaften zu entfalten« (ebd. 157). Aus »niedersten Stufen der Kultur«, denen eine »dünne Bevölkerung« entspräche, entspränge dagegen bald eine »minderwertige Kultur« (ebd. 255). Ratzel schreibt, dass jede Vermehrung der Bevölkerung auf einer gegeben Fläche dem Menschen den Zwang auferlege, »seine gesellschaftlichen Instinkte weiter auszubilden« und dass daher schon in den großen Bevölkerungsziffern an sich die »Gewähr gesellschaftlicher Verfeinerungen« liege (ebd. 270). Eine hohe »Volksdichte« respektive »enge Räume« führten, so fährt Ratzel fort, zur Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung, zur Intensivierung des Handels und der Außenkontakte, zur Auswanderung, zur Gründung von Kolonien.8 Und auch der Umkehrschluss wird gezogen: Nicht nur die ›Dichte‹ wirke auf das ›Volk‹, auch das ›Volk‹ wirke auf die ›Dichte‹: »Mit den Werkzeugen einer höheren Kultur ausgerüstet, vermögen 1000mal mehr Menschen auf einem Boden zu wohnen, der in einem früheren Jahrhundert nur einige Familien von Jägern oder Fischern ernährte. Es muß also bei jener Betrachtung ein bestimmter Kulturzustand vorausgesetzt werden« (ebd. 246). ›Dichte‹ führt nach Ratzel zur kulturellen Entwicklung, und ebenso sei ein hoher kultureller Entwicklungsstand Voraussetzung für ein Leben in »dichten Verhältnissen«.9 Dort wo »die Bevölkerungselemente immer dichter zusammengebracht« und durch eine »beständige innere Bewegung aneinander und ineinander verschoben« würden, entstehe »mehr als ein Volk«, nämlich eine »politische Rasse«. Die zunehmende »Volksdichtigkeit« bewirke ohne Zweifel eine »innigere Berührung des betreffenden Volkes mit seiner Unter8
Auf der anderen Seite führe Verdichtung zu einer Art »statistischen Frühreife« und »dichtes Wohnen« befördere »die Vereinheitlichung der körperlichen und geistigen Merkmale eines Volkes«, was das Volk »älter werden« ließe (Ratzel 1891, 277).
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An anderer Stelle konstruiert Ratzel noch eine weitere (statistisches) Wechselwirkung von »Kulturhöhe« auf Bevölkerungsdichte: »Fortschreitende Kultur« verteile die Bevölkerung »über ein Land hin gleichmäßiger« (Ratzel 1923, 310). Ratzel liefert damit auch einen Denkansatz für spätere raumplanerische Theorien (vgl. Kapitel 5).
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lage, dem Lande, das es bewohnt« (ebd. 277). Somit konstruiert Ratzel in seiner ›Anthropogeographie‹ die Bevölkerungsdichte als Voraussetzung der gesellschaftlichen und kulturellen Fortentwicklung und legt die Grundlagen für sein geodeterministisches Konzept (vgl. Kapitel 3.2). Mit seiner Begriffswahl verlässt Ratzel dabei (bewusst) den ›neutralen‹ und ›wissenschaftlichen‹ Standpunkt der anfänglich rein ›naturräumlichen‹ Betrachtung der Bevölkerungsdichte. Ratzel vereint in seinem Konzept der ›Volksdichtigkeit‹ die (mit der Angabe des Zahlenwerts Bevölkerungsdichte angestrebte) rationale quantitative Seite mit einem emotional aufgeladenen qualitativen Volksbegriff. Ratzels ›Volksdichte‹ wird – zunächst mit positiver Moralisierung – zu einem politischen Begriff der sich in Deutschland des späten 19. Jahrhunderts massiv ausbreitenden völkischen Bewegung.10 Neben Friedrich Ratzel ist Alfred Hettner (1859-1941)11 ein weiterer wichtiger Protagonist der wissenschaftlichen Geographie in Deutschland, Hettner gilt als einer der bedeutendsten Methodologen der Disziplin (Wardenga 1995, 13). Auch Hettner setzt sich ausführlich mit Gebrauch und Darstellung von Bevölkerungsdichte auseinander, die geographische Dichtedebatte wird von seinen Beiträgen geradezu dominiert. Bevölkerungsdichte hat bei Hettner größte Relevanz: es sei allgemein anerkannt, dass »die Verteilung der Bevölkerung nach ihren Zahlenverhältnissen« einen der »wichtigsten Gegenstände der geographischen Betrachtung des Menschen« bilde (Hettner 1901a, 498f.). Die Aufgabe bei der Verwendung der Bevölkerungsdichte bestehe darin, die »Ausstattung der verschiedenen Stücke der Erdoberfläche mit Menschen kennen zu lernen, zu erklären und auf der Karte darzustellen«, um damit ein möglichst »getreues Abbild der Natur« geben zu können (ebd. 499). Hettner prophezeit dem Thema eine große Zukunft: Die Untersuchungen sollten sich »der Reihe nach auf alle geographischen Faktoren erstrecken«, denn es dürfte kaum ein Thema geben, das nicht »in ursächlichem Zusammenhange mit der Bevölkerungsdichte« stehe (ebd. 507). Hettner regt an, die Bevölkerungsdichte in Bezug zu (in Abhängigkeit von) der Verteilung der Temperatur und der Niederschläge, dem Einfluss des Klimas auf die »geistige Spannkraft des Menschen«, der natürlichen Pflanzendecke, der Küstennähe, der Höhenlage oder dem geologischen Un10 Vgl. auch Kapitel 3.2. 11 Hettner studierte in Halle, Bonn und Straßburg und promovierte sich 1881 an der Universität Straßburg und wurde 1887 in Leipzig habilitiert. 1894 wurde Hettner Professor in Leipzig und erhielt 1897 an der Universität Tübingen eine Professur für Geographie. 1899 wurde er an die Universität Heidelberg berufen, wo er 1906 den (in Heidelberg) ersten Lehrstuhl für Geographie erhielt, den er bis zu seiner Emeritierung 1928 inne hatte. Hettner war auch Herausgeber der einflussreichen ›Geographischen Zeitschrift‹. (Wardenga 1995, 25f.)
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tergrund zu untersuchen. Ähnlich wie der Physiker solle der Geograph dabei ruhig aufs »geratewohl« vorgehen und »gelegentlich zu interessanten Ergebnissen kommen« (ebd.), auch wenn – und das ist eine Spitze gegen die bisherige Verwendung der Bevölkerungsdichte in der Geographie – es sich »im Allgemeinen empfiehlt […] erst zu denken und dann zu rechnen«. Gerade beim Thema Bevölkerungsdichte sei es wichtig, zuerst »durch Überlegung« den Zusammenhang qualitativ festzustellen, bevor man ihn quantitativ berechne (ebd.). Man würde dann »namentlich eine sehr wichtige Forschungsregel beachten, die man bei anthropogeographischen Untersuchungen jeder Art bisher vielfach zu sehr vernachlässigt« habe (ebd. 508). Hettner unterscheidet bei der Verwendung von Bevölkerungsdichte in eine ›reine‹ und in eine ›kausale‹ Methode: Die ›reine Methode‹ entspräche der »älteren und eigentlichen Auffassung« von Bevölkerungsdichte, bei der die Bevölkerung »auf die ganze Fläche« bezogen wird (ebd. 504). Diese (›eigentliche‹) Bevölkerungsdichte beruhe auf einer generalisierenden Betrachtung der Bevölkerungsverteilung und sei daher nur in kleinerem Maßstab möglich, da sie die »Unterschiede der Wohnplätze und des dazwischen liegenden unbewohnten Landes« nicht berücksichtige (ebd.). Die Kartierung der »reinen Bevölkerungsdichte« sei eine »objektive Darstellung« und zeige die Beziehung der Bevölkerung zu einer bestimmten Ursache »ohne jede Vorausnahme« (Hettner 1901b, 573). Bei der ›kausalen Methode‹ solle dagegen gefragt werden, wie viele Menschen ihren Erwerb aus einer gegebenen Fläche ziehen können. Grundlage dieser ›Erwerbsdichte‹ sei »eine eindringende Zergliederung sowohl der Bevölkerung nach ihren Berufs- und Erwerbsverhältnissen wie des Bodens nach seiner Kultur«, ihr Ergebnis eine analytische Kartierung des – von der Bodenbeschaffenheit abhängigen – Siedlungspotenzials einzelner Berufsgruppen (Hettner 1901a, 504).12 Hettner möchte damit die (in seinen Augen) rein beschreibende länderkundliche Methode der ›reinen‹ Bevölkerungsdichte von einem – auf die »Erkenntnis der Ursachen der geographischen Erscheinungen« gerichteten – erweiterten kausalen Ansatz trennen. Die Unterscheidung zwischen der ›reinen‹ und der ›kausalen‹ Methode basiert auf einer naturdeterministischen Perspektive, die Hettner mit Entschiedenheit vertritt. Hettner thematisiert ein weiteres (in der klassischen Geographie viel diskutiertes) methodisches Problem: Da die Bevölkerungsdichte ein aus ei12 Ein solches Vorgehen ließe sich in größerem Maßstabe nur »mit großem Aufwand von Mühe und Kosten darstellen«. Man dürfe dabei nicht den Fehler machen, »die ganze Bevölkerung« ausschließlich auf das Kulturland zu beziehen; solch ein Vorgehen wäre »theoretisch irrational« und »durchaus zu verwerfen«, denn »was haben die bergbauliche und die industrielle Bevölkerung mit der Fläche des Kulturlandes zu thun?« (ebd. 505).
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nem Zähler (einer Anzahl von Menschen) und einem Nenner (einem Gebiet) bestehendes Verhältnis ist, stellt sich die Frage, welcher Nennerbezug für das Dichteverhältnis der geeignete ist. Grundsätzlich wird in der methodologischen Debatte dabei (bis heute) zwischen der Verwendung von statistischen und geographischen Gebietsteilen unterschieden.13 Hettner führt aus, das der Nachteil der statistischen Gebietsabgrenzung darin bestehe, dass sie immer politisch bedingt sind (vom Menschen gemacht) und damit losgelöst von den (nach Hettners Auffassung) determinierenden Naturkräften. Eine Einteilung nach geographisch begründeten (natürlichen) Bezugsflächen sei dagegen mit hohem Aufwand verbunden und schwierig herstellbar. Hettner plädiert trotz dieser Problematik vehement (und aus seiner Perspektive konsequent) gegen die Zugrundelegung von statistischen Gebietseinheiten, da diese »ja an sich mit der Bevölkerungsdichte gar nichts zu thun« hätten (Hettner 1901b, 577). Hettner bezweifelt, ob den Angaben der Bevölkerungsdichte von politischen Gebieten (Provinzen, Ländern) »irgend ein Wert beizumessen« sei und vermutet, dass diese Dichteangeben »zu den Zahlenwerten gehören, die gedankenlos immer von neuem berechnet und gar noch für einen Ausdruck wissenschaftlicher Vertiefung gehalten werden« (ebd. 573). Hettner wendet sich damit entschieden gegen einen Gebrauch von Bevölkerungsdichte außerhalb eines klar auf einer naturdeterministischen Grundlage basierenden inhaltlichen Bezuges.14 13 Eine dritte Möglichkeit ist die ›geometrische Methode‹. Hier sind die Bezugsflächen weder statistische Bezugsgrößen noch geographisch (naturräumlich) abgegrenzte Gebiete, sondern geometrisch einheitliche Rasterzellen, etwa Quadrate oder Sechsecke. Diese Methode, die Christallers Zentrale Orte-Konzept (vgl. S. 182f.) beeinflusst hat und die bis heute angewendet wird, wird von Hettner als nur in sehr kleinem Maßstabe durchführbar gehalten (Hettner 1901b, 578). 14 Eine weitere fachliche Debatte wurde anhand der Frage geführt, ob bei der Erstellung von Karten der Bevölkerungsdichte Städte mit dargestellt werden sollen oder nicht. Eckert zitiert den Geographen Lüddecke, der 1888 die Position vertreten habe, dass »die städtische Bevölkerung bei jeder Karte der Volksdichte zur Vermeidung von falschen Vorstellungen auszuschließen« sei (Lüddecke 1888, nach Eckert 1925, 185). Auch Hettner rät, bei bestimmten Maßstäben die Städte bei der Darstellung von Bevölkerungsdichte nicht darzustellen (Hettner 1901b, 574), und Ratzel schreibt von der »unangenehmen Notwendigkeit« bei der Erstellung von Dichtekarten, die »großen Mittelpunkte der Bevölkerung« auszuschalten (Ratzel 1891, 195). Ratzels Schüler Eckert kommt einige Jahre später zum Ergebnis, dass bei einem Ausschluss der Städte »ein größerer, wenn nicht der größte Bruchteil der Bevölkerung« fehle und zwar »gerade derjenige, der hauptsächlich die Verdichtung bewirkt« (Eckert 1925, 185). Ähnlich wie der Ausschluss von Städten wurde auch diskutiert, ob unbewohntes Land oder Wald-
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Die Kernaussage von Hettners Ausführungen zur Bevölkerungsdichte lautet also, dass sich mit der Bevölkerungsdichte der Zusammenhang zwischen Bodenbeschaffenheit und Bevölkerungszahl direkt und absolut ausdrücken lasse. Hettner stellt zwar die handelnden menschlichen Gruppen in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, entscheidend ist aber immer die Annahme, dass die Natur den Menschen bestimmt. Hettner thematisiert die Natur nicht als vom Menschen wahrgenommenes Konstrukt, sondern bleibt beim direkten Naturbezug, da er glaubte, die Motive lägen unmittelbar in der Natur selbst und könnten mit einer darauf gerichteten naturwissenschaftlichen Forschung allmählich immer deutlicher herausgestellt werden (Wardenga 1995, 222). Die Einbindung der Bevölkerungsdichte in diesen Forschungsansatz, der durch das ausdifferenzierte methodische Vorgehen weiter gestärkt wird, konditioniert das Konstrukt ›Dichte‹ auf eine bestimmte Sichtweise der Welt und etabliert sie als wichtigen Bestandteil dieser Perspektive. Insgesamt zeigt der Blick auf die ›Erfindung der Dichte‹ im Kontext der geographischen Debatten des 19. Jahrhunderts, dass die ›Dichtigkeit der Bevölkerung‹ dabei als staatspolitischer Dominanz- und Machtfaktor und (vor allem) als direktes Abbild von Naturgegebenheiten konstruiert worden ist. Die in der Geographie geschaffenen naturdeterministischen Raumkonstrukte (wie das Konstrukt ›Dichte‹) wurden dabei »hypostasiert« und als Teil einer »natürlich erscheinenden Realität« ausgegeben (Wardenga 2005, 142). Zu unterscheiden ist dabei einerseits in die inhaltliche Konstruktion der ›Dichte‹, bei der insbesondere Friedrich Ratzel in seiner ›Anthropogeographie‹ die Grundlagen lieferte, die die weitere Richtung der Dichteverwendung im nachfolgenden geodeterministischen Diskurs entscheidend geprägt haben. Andererseits ist die methodische Debatte über die ›richtige‹ Verwendung der Bevölkerungsdichte zu nennen, die darauf abzielte, bessere (im Sinne von besser vergleichbaren, besser darstellbaren) Methoden für den Gebrauch der Bevölkerungsdichte zu generieren. Der methodische Diskurs zeichnet sich dabei zum einen durch eine Verwissenschaftlichung der Debatte aus (die Aufstellung von Regeln, die Kritik von undifferenzierten Anwendungen), zum anderen trug die Qualifizierung der Methoden des Bevölkerungsdichtegebrauchs dazu bei, das Konstrukt Bevölkerungsdichte und sein naturdeterministisches Grundkonzept zu festigen und zu etablieren. fläche in den Nenner des Dichtewertes einbezogen werden sollen oder nicht. In der »Waldausscheidungstheorie« wird gefragt, ob »der Wald Dichte fördernd« oder »hindernd« sei oder ob er sich »indifferent« verhalte (Tronnier 1908, 7). Auch bei dieser Debatte zeigt es sich, dass es den Geographen und Kartographen jener Zeit immer darauf angekommen ist, einen Kausalzusammenhang von natürlichen Begebenheiten mit dem Zahlenwert Bevölkerungsdichte zu konstruieren.
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Allgemein gab es in der Geographie um die Jahrhundertwende von 19. zum 20. Jahrhundert allerdings kein »verbindliches Erklärungskonzept« und keinen »festen Modus der Darstellung« (Wardenga 2005, 142). Die Bevölkerungsdichte war zwar ein Konstrukt, mit dem versucht wurde, solch eine Verbindlichkeit herzustellen, die kontroverse Debatte über die ›richtige‹ Verwendung der Bevölkerungsdichte zeigt jedoch auch, dass es Anfang des 20. Jahrhundert im geographischen Diskurs keine einheitliche Theorie gegeben hat. Dadurch wurden »diskursive Anschlussmöglichkeiten« geschaffen, und die von der Disziplin selbst konstruierten Raumbilder konnten für die Erwartungen von (politischen) Adressaten unmittelbar angepasst werden (ebd.).
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Neben den Ausdrücken ›Dichtigkeit der Bevölkerung‹ und ›Bevölkerungsdichte‹ findet sich (wie bereits bei der Betrachtung von Ratzels ›Anthropogeographie‹ geschildert) ab Ende des 19. Jahrhunderts mit der ›Volksdichte‹ ein dritter Dichtebegriff im geographischen Kontext. Mit der Einführung und dem Gebrauch der ›Volksdichte‹ verschiebt sich der inhaltliche Schwerpunkt des Dichtediskurses: die ›Volksdichte‹ wird nicht mehr nur als Quotient von ›Bevölkerung zur Fläche‹ definiert, sondern vor allem als das Verhältnis ›Volk zu Raum‹. In diesem Kapitel wird von der Verwendung der ›Volksdichte‹ respektive vom Diskurs ›Volk ohne Raum‹ berichtet, die im Kontext der ›Politischen Geographie‹ und der ›Geopolitik‹ eine bedeutende Rolle eingenommen haben. Aus diesem Grunde wird eine Entwicklung nachgezeichnet, die sich von Friedrich Ratzel über Karl Haushofer bis zu Hitlers ›Mein Kampf‹ verfolgen lässt. Die ›Volksdichte‹ als Quotient des Verhältnisses von ›Volk zu Raum‹, so lautet meine These in diesem Kapitel, ist nicht nur ein zentraler Begriff des geopolitischen Diskurses, sondern auch tief in der nationalistischen Ideologie verankert. ›Volksdichte‹ ist ein Begriff der ›Politischen Geographie‹, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts (neben dem länderkundlichen und dem anthropographischen Ansatz) etablierte. Und wieder ist es Friedrich Ratzel, der die programmatische Ausrichtung der Teildisziplin entscheidend geprägt hat. Ansatz von Ratzels zweitem Hauptwerk ›Politische Geographie‹ ist es, aus den durch die ›Anthropogeographie‹ gewonnenen Erkenntnissen einen politischen Auftrag zu generieren, und zwar einen Auftrag, der nationalen Interessen geschuldet ist. Ratzel wendet mit seinem neuen Ansatz den Naturdeterminismus in einen Geodeterminismus, seine ›Anthropographie‹ zur ›Geopolitik‹. Die ›natürlichen Gegebenheiten‹ manifestieren sich in der ›Po-
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litischen Geographie‹ im Begriff ›Raum‹, der von Ratzel als ›Lebensraum‹ konstruiert ist. Ratzels entscheidende Wende zur Geopolitik vollzieht sich mit der These, dass die ›Raumerfüllung durch Menschen‹ ihre Schranken habe. Er vergleicht den Staat mit einem »biologischen Organismus« und erklärt mit diesem Ansatz Wachstum (und Schrumpfen) von Räumen. Ratzel kombiniert den geodeterministischen Raumdiskurs mit einer völkisch nationalen Ideologie und entwickelt daraus die brisante Mixtur der Theorie der ›wachsenden Räume‹. Jeder Staat mit einer »wachsenden, gesunden Bevölkerung«, schreibt Ratzel, brauche »neuen Lebensraum« (Ratzel 1923 [1897], 157). Ratzel liefert in seiner ›Politischen Geographie‹ mit seinem Rekurs auf die ›geschichtsprägende Raumgrundlage‹ der deutschen Geschichte die wissenschaftliche Basis für das Programm der nationalen geopolitischen Bewegung (Weber 1999, 850). Grundstein von Ratzels These ist, dass zu jedem ›Volk‹ ein ›Lebensraum‹ gehöre. Ratzel konstruiert damit den Staat als ›lebensbedingenden Organismus‹, dessen Wachstum »›natürlicherweise‹ den Bedarf nach räumlicher Expansion mit sich brachte« (Reuber 2005, 378). Der imperialistische Drang eines Staates nach Wachstum (und nach militärischer Expansion) wird als natürliche respektive naturbedingte (geodeterministische) Entwicklung erklärt. Ratzel begründet damit den »dynamischen Verdrängungswettbewerb der Völker und Staaten« und legitimiert Expansionskriege als Naturnotwendigkeit und liefert die naturdeterministische Begründungslogik für eine internationale Geopolitik. Der mit den Eigenschaften eines Lebewesens ausgestattete Staat strahlt nach Ratzels Theorie nur dann ›Gesundheit und Stärke‹ aus, wenn er zu beständigen Wachstum und zur ständigen Territorialexpansion fähig ist (Reuber/Wolkersdorfer 2005, 637). Das Konstrukt der ›Volksdichte‹ ist integraler Bestandteil dieser Denkweise. Ratzel schreibt über die »Kraft und Schwäche dichter Bevölkerungen« und meint damit ›machtpolitische Kraft‹ und ›militärische Schwäche‹. Ratzel formuliert, dass »Grösse und geschichtliche Leistung der Völker von dem Raume« abhängig seien, den ihnen »die Geschichte zumisst« (Ratzel 1882, 157). Die »dichte Besetzung des Bodens« führe zu einer höheren »Beharrungskraft« des Volkes. Ratzel erläutert diese These mit dem Hinweis auf das Elsaß, welches »noch vor zwei Menschenaltern, als es fast nur halb so dicht bevölkert war wie heute«, bedeutend leichter an Deutschland anzuschließen gewesen wäre, als das nun der Fall sei (Ratzel 1923 [1897], 308). ›Volksdichte‹ wird bei Ratzel somit zu einer Form seiner deterministischen Argumentationslinie und zu einem Bestandteil der geopolitischen Konstruktionen und Repräsentationen. Ratzel begründete den mit dem Begriff ›Geopolitik‹ bezeichneten wissenschaftlichen und politischen Diskurs, der Anfang des 20. Jahrhunderts in ganz Europa geführt wurde. Der Staatsdarwinismus von Ratzel wurde von den »Politikstrategen der imperia-
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listischen Großreiche« Anfang des 20. Jahrhunderts »begierig aufgegriffen« (Reuber 2005, 378). Legitimiert wurde mit (in) diesem Diskurs auch der erste Weltkrieg, der als die »gewaltigste Form der praktischen Geographie« begrüßt wurde (Brogiato 2005, 61f.). Das Verhältnis von ›Volk und Raum‹ bildete danach den Kern der geopolitischen Debatte in den 1920er und 1930er Jahren. Die spätere Lebensraumideologie stand auf dem Boden dieser geodeterministischen Traditionslinie und konnte auf Ratzel »als einen ihrer wissenschaftlichen Ahnherren« verweisen (ebd.). Ratzels Werk legte die Grundlage für die Verbindung von wissenschaftlicher Geopolitik und nationalsozialistischer Politik (Reuber/Wolkersdorfer 2005, 639; Grundmann 2004, 323). Auch in den 1920er Jahren sind ›Bevölkerungsdichte‹ und ›Volksdichte‹ sehr präsente Begriffe im geopolitischen Diskurs, wobei die »neuere und kürzere Bezeichnung« der ›Volksdichte‹ in der ›Politischen Geographie‹ gegenüber dem »älteren Ausdruck Bevölkerungsdichtigkeit« immer mehr an Boden gewinnt, wie der Kartograph Max Eckert (1868-1938)1 vermerkt (Eckert 1925, 208). Das neue Forschungsinteresse erstreckte sich dabei vor allem auf die »Erkenntnis der Eigentümlichkeit des Volkskörpers und dessen Abhängigkeit vom Boden« (ebd.). Mit der Einführung des Begriffs ›Tragfähigkeit‹ durch Alois Fischer in der Zeitschrift für Geopolitik2 wurde ein weites Anwendungsfeld für Erhebung und theoretische Einbindung der ›Dichte‹ eröffnet. Mit der ›Tragfähigkeit‹ sollte die »maximal tragfähige Bevölkerungsdichte« eines Raumes bestimmt werden (Fischer 1925, 852), besonders häufig wurde die Frage nach der ›Wachstumsgrenze der Menschheit‹ gestellt. Fischer diskutiert verschiedene ›Tragfähigkeitsmodelle‹ und empfiehlt die Anwendung dieser Methode auch für einzelne Länder oder Regionen. Fischer erklärt, dass Tragfähigkeitsuntersuchungen nur »bei Anwendung vollkommenster technischer Mittel« möglich seien (Fischer 1925, 852). Das ›Tragfähigkeitskonzept‹ wurde zehn Jahre später zu einem wichtigen Instrument der nationalsozialistischen Ostplanung ausgebaut (vgl. ausführlich Kapitel 5.2).
1
Eckert studierte Geographie und Volkswirtschaft in Leipzig, promovierte bei Friedrich Ratzel und war dessen Assistent (Buttmann 1977). 1907-1937 war Eckert Professor für Wirtschaftsgeographie und Kartographie an der RWTH Aachen. Eckert war (obwohl kein NSDAP-Mitglied) überzeugter Nationalsozialist (Kalkmann 2003).
2
Die Zeitschrift für Geopolitik wird in der heutigen Analyse als die »diskursive Plattform einer naturdeterministischen, teilweise unverblümt rassistischen« Diskussion bezeichnet (Reuber 2005, 639).
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Ebenfalls in der ›Zeitschrift für Geopolitik‹ diskutiert Albrecht Haushofer (1903-1945)3 kurz darauf das »Problem der Bevölkerungsdichte auf der Erde« (A. Haushofer 1926). Auch Haushofer bespricht ausführlich Vorund Nachteile verschiedener Berechnungsmethoden und Annahmen über die »natürliche mittlere Dichte« von verschiedenen Ländern und Regionen. Haushofer erklärt, dass es sich bei den Berechnungen der »tatsächlichen und möglichen Dichte« zwar nur um Annäherungs- und Grenzwerte handele und dass es – bezogen auf die gesamte Erdbevölkerung – »Verschiebungen von Hunderten von Millionen Menschen« geben könne, seine These ist allerdings, dass sich die »einzelnen Fehler« am Ende gegenseitig aufheben würden. Haushofer gibt die damalige Bestandsdichte und die seines Erachtens »mögliche natürlich mittlere Dichte« für etliche Länder an.4 Haushofer verwendet zwar nicht den Begriff ›Tragfähigkeit‹, er führt jedoch mit der ›Übervölkerung‹ und der ›Untervölkerung‹ zwei andere wichtige Begriffe in den geopolitischen Dichtediskurs ein (vgl. auch Kapitel 4). Haushofer führt aus, dass sich ›Übervölkerung‹ »streng geographisch«5 auf die »mögliche natürliche Dichte« beziehe, wohingegen ›Unterbevölkerung‹ dort herrsche, wo der Geograph eine »geringere mögliche natürliche mittlere Dichte« (in Relation zu der vorhandenen Dichte) definiere. Haushofer vertritt die These, dass »Untervölkerungs- und Übervölkerungsgebiete« sich einander bedingen würden, da beide der »natürlichen Bevölkerungsvermehrung« hinderlich seien (ebd. 794f.). Der Vater von Albrecht Haushofer, Klaus Haushofer (1869-1946),6 gilt als der eigentliche Protagonist des geopolitischen Diskurses und als Verbin-
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Albrecht Haushofer, Sohn von Karl Haushofer (s.u.), war von 1939-1944 Profes-
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Ein Verfahren, das später auch von Walter Christaller angewendet wird (vgl. Ka-
sor für politische Geographie in Berlin (Wistrich 1983, 114). pitel 5.3). Für Deutschland kommt Haushofer auf eine Bestandsdichte von 135 EW/qkm, die »mögliche natürliche mittlere Dichte« gibt er mit 100 EW/qkm an. Für den »Kongostaat« dagegen sind seine Werte 4 EW/qkm (bestehend) und 150 EW/qkm (möglich). 5
Haushofer grenzt sich damit von der Verwendung des Begriffs ›Übervölkerung‹ im bevölkerungstheoretischen Diskurs ab, wo in jener Zeit bereits eine Erweiterung des Bezugs auf Produktivität und Konsumtion eingeführt worden war (vgl. Kapitel 4.1).
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Karl Haushofer arbeitete als Privatdozent am Geographischen Institut in München und war von 1921-1939 Honorarprofessor an der Universität München. Haushofer wurde 1921 zum Ersten Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei (DVP)-Ortsgruppe München gewählt und pflegte enge Verbindungen zum Alldeutschen Verband. Nach dem Krieg wurde Haushofer auf Weisung der ameri-
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dungsglied zwischen Geopolitik und Nationalsozialismus schlechthin. Haushofers Thesen sind deutlich an Ratzel angelehnt, Ausgangspunkt ist die propagierte »Raumüberwindungskraft der Staaten«. In seinem geopolitischen Grundlagenwerk Macht und Erde schreibt Haushofer, »Stärke oder Schwäche« eines Volkes lägen in dessen Verhalten »zu raumbewältigenden Ideen«. Er stellt dem traditionellen Imperialismus die »deutschen Lebensraumforderung« gegenüber. Hier entspränge das Expansionsstreben nicht nur »Lockung und Machtreiz«, sondern beruhe auf »dem Druck, der Not der Raumenge einer im eigenen Lebensraum nicht mehr zu bewältigenden Überbevölkerung« (Haushofer, zitiert bei Kletzin 2000, 44). Damit legitimiert auch Haushofer die expansive Politik als »›natürliches‹ Charakteristikum von Staaten«, das aus den dynamischen Beziehungen zwischen ›Volk und Raum‹ resultiere (Kletzin 2000, 44). Haushofer schreibt, das deutsche Reich und sein »übervölkerten Lebensraum« hätten nicht die Möglichkeit zur Sicherung der Rohstoffunterlage für die Ernährung seiner »unter dem furchtbaren Volksdruck von 133 Menschen auf dem qkm stehenden Bevölkerung« (Haushofer 1926, 525). Haushofer vergleicht die ›Volksdichten‹ der einzelnen Länder und kommt zum Ergebnis, die ›Volksdichte‹ sei nicht gleichmäßig verteilt, sondern »wehrgeographisch sehr ungünstig angeordnet« (ebd. 530). Haushofer prägt in seinen Schriften die ›wissenschaftliche‹ Konstruktion des Konzeptes ›Volk ohne Raum‹. Ursprünglich basiert der Ausdruck ›Volk ohne Raum‹ auf dem gleichnamigen Titel des im Jahre 1926 erschienenen Buches von Hans Grimm, welches zu den am häufigsten verkauften Büchern in der Weimarer Republik zählt.7 Haushofer nahm Grimms literarische Vorlage auf und leitete aus dem Volk-ohne-RaumKonzept den Anspruch auf mehr ›Lebensraum‹ ab, der sich durch die – behauptete – »Gedrängtheit der Menschen« legitimierte (Wolter 2003, 61f.). Das Volk-ohne-Raum-Ideologem wurde zum gesellschaftspolitischen Leitbild in weiten Teilen der sozialwissenschaftlichen Forschung (Gutberger 1996, 474). Die ›Volksdichte‹ ist in etlichen weiteren Schriften von Haushofer ein zentraler Terminus (vgl. Haushofer 1927, 1934a, 1934b, 1940). Insgesamt gebe es, so Hauhofers Einschätzung, »kaum ein überzeugenderes Mittel, eingepresste Völker von ihrem Recht auf weitere Ausdehnung zu kanischen Militärregierung die Lehrerlaubnis entzogen. Im Jahre 1946 beging Haushofer Selbstmord (Jacobsen 1979 und Wistrich 1983). 7
Die zentrale Stellung in dem seitenstarken Werk von Grimm nimmt die Erkenntnis der Hauptfigur des Romans ein, der deutsche Mensch brauche »mehr Raum zum Leben« und sei andernfalls dem Untergang geweiht. Grimm wendet sich damit gegen die »räumliche Enge und Lohnarbeit«, die er als Resultate der Industriealisierung und Verstädterung bezeichnet. Beides empfand er als Gründe für die »Verelendung des deutschen Volkes« (Wolter 2003, 61f.).
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überzeugen, als einen Vergleich der Volksdichte« (Haushofer 1934, 555). Haushofer führt als Weiterentwicklung der ›Volksdichte‹ – den so genannten ›Druckquotienten‹ ein. Dieser ›Druckquotient‹ wird durch eine Division der Bevölkerungssumme aller Nachbarstaaten durch die Bevölkerungssumme des umgrenzten Staates gewonnen. Haushofer formuliert, der ›Druckquotient‹ sei zwar »nur ein roher, aber immerhin fassbarer Anhalt, der natürlich wesentlich verfeinert und ausgestaltet« werden könne, er hätte aber den großen Vorteil, dass er »völlig objektiv anwendbar« sei (ebd. 536). Mit dem ›Druckquotienten‹ möchte Haushofer »die inadäquate Lage Deutschlands« belegen, die »Großvölker der Erde« hätten in ihren weiten Räumen viel geringere »Volksdruckzahlen auszuhalten«, lediglich das japanische Reich weise »ähnliche Druckstände auf wie das Deutsche« (Haushofer, zitiert nach Wolter 2003, 101). Karl Haushofer steht allerdings auch – sowohl was seinen Lebenslauf betrifft als auch hinsichtlich des von ihm geprägten geopolitischen Diskurses – für eine in Teilen ambivalente Beziehung zum Nationalsozialismus. Basierend auf »die gleichen ideologischen und gesellschaftlichen Wurzeln« waren die Geopolitik Haushoferscher Prägung und der Nationalsozialismus »eine harmonische Beziehung« eingegangen, »ohne dabei völlige Übereinstimmung in den propagierten Zielen zu erreichen« (Kletzin 2000, 44). Das Verhältnis von Haushofer zur NS-Ideologie war zwar nicht ohne Ambivalenzen, sein Ansatz jedoch eindeutig Ideengeber für die NSIdeologie. Die geopolitische Schule der 1930er und 1940er Jahre wurde »zum Apologeten des ›Lebensraum‹-Konzeptes, das den grundlegenden Faktor der ›Neuordnungs‹-Idee ausmachte« und damit die entscheidenden theoretischen Versatzstücke der nationalsozialistischen Neuordnungsideologie lieferte (ebd.). Über Rudolf Heß (1894-1987)8 besteht eine direkte persönliche Verbindung von Haushofer zu Adolf Hitler. Heß war Student von Haushofer und beide verband eine lebenslange enge Freundschaft. Heß beteiligte sich 1923 am Münchener Hitler-Putsch und wurde nach dessen Niederschlagung zu einer Festungshaftstrafe verurteilt, die er sieben Monate (davon vier Monate zusammen mit Hitler) in Landsberg absaß. Während der Festungshaft9
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Heß war Hitlers Privatsekretär und wurde im April 1933 zum »Stellvertreter des Führers« innerhalb der NSDAP. Heß war Reichstagsmitglied, dann Minister ohne Geschäftsbereich. Bei Kriegsbeginn ernannte Hitler ihn zu seinem zweiten Nachfolger (Wistrich 1983, 120).
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Die Festungshaft war bis 1945 eine im Strafgesetzbuch definierte besondere Form der ›Freiheitsstrafe ohne Arbeitszwang‹, die vorwiegend gegen Angehörige höherer Stände, bei politischen Straftaten oder gegen Duellanten verhängt wurde. Den Festungshäftlingen billigte man eine »ehrenhafte Gesinnung« zu. Hitler
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in Landsberg schrieb Hitler Mein Kampf. Teile des ersten Bandes soll er dabei Heß diktiert haben,10 inhaltlich hat sich Hitler ausgiebig auf die Schriften von Ratzel und Haushofer gestützt (Maser 1974, 104). Aus den »Händen von Haushofer« hatte Hess im Gefängnis Landsberg 1924 die ›Politische Geographie‹ von Ratzel empfangen, »eines der, wie Haushofer 1941 bekannte, wirkungsvollsten und ›mit heiliger Glut‹ gelesenen Bücher im Festungsgefängnis Landsberg« (Grundmann 2004, 333). Hitler und Heß schufen in Landsberg mit ihrer Interpretation des von Ratzel eingeführten und von Haushofer weiter entwickelten Konzepts ›Lebensraum‹ und der Konstruktion des ›Führermythos‹ die theoretischen Grundlagen des Nationalsozialismus (Grundmann 2004, 333; Reuber/Wolkersdorfer 2005, 639). Das Verhältnis von ›Volk zu Raum‹, der Kern des geopolitischen Diskurses, wird in Adolf Hitlers Mein Kampf zum zentralen Thema, Hitlers »oberstes Gebot« war die »Regelung des Verhältnisses zwischen Volkszahl und Bodenfläche« (Weinberg, zitiert nach Wolter 2003, 91). Hitler schreibt, »die Außenpolitik des völkischen Staates« habe »die Existenz der durch den Staat zusammengefaßten Rasse auf diesem Planeten sicherzustellen« (Hitler 1943 [1926], 728f.). Dafür müsse sie »zwischen der Zahl und dem Wachstum des Volkes einerseits und der Größe und Güte des Grund und Bodens andererseits ein gesundes, lebensfähiges, natürliches Verhältnis« schaffen. Als »gesundes Verhältnis« dürfe »nur jener Zustand angesehen werden, der die Ernährung eines Volkes auf eigenem Grund und Boden sichert«. Nur ein »genügend großer Raum« gewährleiste »einem Volke die Freiheit des Daseins«. Hitler argumentiert gegen eine Geburtenbeschränkung, weil damit die »natürliche Auslese« verhindert und »minderwertiges Erbgut« zur Fortpflanzung gebracht werde. Auch die Erhöhung des Bodenertrages sei kein Mittel, da damit das Raumproblem nur vorübergehend gelöst werden könne (ebd.). Die »notwendige Größe des Siedlungsgebietes« könne nicht ausschließlich »von der Größe des Bodenertrages, umgerechnet auf die Zahl des Volkes« ermittelt werden. Denn der Grundfläche eines Staates komme »außer ihrer Bedeutung als direkter Nährquelle eines Volkes« eine »militärpolitische« Wichtigkeit hinzu. Wenn »ein Volk in der Größe seines Grund und Bodens seine Ernährung an sich gesichert« habe, sei es »dennoch notwendig, auch noch die Sicherstellung des vorhandenen Bodens selbst zu bedenken«, da hier die allgemeine »machtpolitische Stärke des Staates« liege, welche »nicht wenig durch militärgeographische Gesichtspunkte bestimmt« selbst soll die Festungshaft als »Hochschule auf Staatskosten« bezeichnet haben (Maser 1974, 16). 10 Der zweite Teil von »Mein Kampf« entstand nach seiner Entlassung aus Landsberg. Der Originaltext erlebte in seiner zwanzigjährigen Editionsgeschichte von 1925 bis 1945 zahlreiche Änderungen und Erweiterungen. (Maser 1974)
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sei (ebd.). Die nationalsozialistische Bewegung, so Hitler weiter, müsse versuchen, »das Mißverhältnis zwischen unserer Volkszahl und unserer Bodenfläche – diese als Nährquelle sowohl wie auch als machtpolitischer Stützpunkt angesehen –, zwischen unserer historischen Vergangenheit und der Aussichtslosigkeit unserer Ohnmacht in der Gegenwart zu beseitigen« (ebd. 732). Hitlers Obsession für das Thema zeigt sich vielleicht noch deutlicher in seinem zweiten Buch.11 Hier beschäftigt sich Hitler ausführlich mit der Frage, warum territoriale Expansion der einzige Weg zur Überwindung der »Raumenge« darstelle (die Zitate in diesem Absatz stammen aus: Institut für Zeitgeschichte 1961). Die »Regelung des Verhältnisses zwischen Volkszahl und Bodenfläche [sei] von unerhörtester Bedeutung für die Existenz eines Volkes« (ebd. 54). »Die Vermehrung der Zahl könnte nur wettgemacht werden durch eine Vermehrung, also Vergrößerung des Lebensraumes« (ebd.). Ein »kraftvolles Volk« hätte das natürliche Recht, »seinen Boden seiner Volkszahl anzupassen« (ebd. 55). »Endgültig« erhalte man sein Volk nur, »wenn Volkszahl und Lebensraum in einem bestimmten natürlichen und gesunden Verhältnis zueinander« ständen. Dieses Verhältnis müsse »von Zeit zu Zeit überprüft werden und in eben dem Maße, indem es sich zu Ungunsten des Bodens verschiebt, zu Gunsten der Volkszahl wieder hergestellt werden« (ebd. 62). Die »Überfüllung eines ungenügend großen Lebensraumes mit Menschen« führe »zu schweren sozialen Schäden, indem die Menschen nun in Arbeitszentren zusammengefaßt werden, die dann weniger Kulturstätten gleichen als vielmehr Abszessen am Volkskörper, in denen sich alle üblen Laster, Untugenden und Krankheiten zu vereinigen scheinen«. Die Großstädte seien »vor allem Brutstätten der Blutsvermischung und Bastardierung, damit meistens der Rassensenkung« und ergäben »jene eitrigen Herde, in denen die internationale jüdische Völkermade gedeiht und die weitere Zersetzung endgültig besorgt« (ebd. 61f.). Die »unverwechselbar neurotische Ausdünstung« von Hitlers Mein Kampf, seine »Manieriertheit und fragmentarische Unordnung« dürfe nicht zu einer Unterschätzung des Werkes führen, schreibt der Hitler-Biograph Hans Joachim Fest (Fest 1974, 294). Fest notiert, dass das Verhältnis von ›Volk zu Raum‹ in Hitlers Denken eine äußerst exponierte Stellung einnimmt. Das »eherne Naturgesetz« der Auflehnung des Volkes gegen seine Raumenge sei »Ausgang und Bezugspunkt aller Überlegungen«, es »bestimmte die Vorstellung, daß die Geschichte nichts anderes sei als der Lebenskampf der Völker um Lebensraum« (ebd. 298). Der »Lebensraum«, dessen Erwerb Hitler bekenntnisgleich immer wieder fordert, sei dabei kei11 Im Jahre 1928 schrieb Hitler ein zweites Buch, das zu seinen Lebzeiten jedoch nicht mehr veröffentlicht wurde (vgl. Weinberg 1961).
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neswegs nur gedacht, um die »Ernährung für die ›überlaufende‹ Bevölkerungszahl sicherzustellen«, vielmehr sollte er vor allem »der Strategie der Welteroberung als Ausgangsbasis« dienen (ebd. 306). Hitler mischt in seinem Text den geopolitischen Diskurs mit der nationalökonomischen Bevölkerungstheorie und greift dabei zurück auf all die im konservativ-völkischen und geopolitischen Kontext entwickelten Diskurslinien zum Verhältnis von ›Volk zu Raum‹. Die machtpolitische Einbindung ist genauso vertreten wie die natur- und geodeterministische Perspektive, die malthussianische Argumentation (vgl. Kapitel 4.1) ist besonders deutlich zu erkennen. Ratzels und Haushofers Lebensraumkonzept ist jedoch die direkteste Vorlage für Hitlers Schlussfolgerungen und Handlungsableitungen. Hitler verbindet den ›Volk ohne Raum‹-Diskurs mit Diskursmustern der traditionellen Großstadtfeindschaft, erst hier verlässt er in seiner Formulierung den in den geopolitischen und bevölkerungswissenschaftlichen Fachdebatten üblichen Sprachstil und propagiert hasserfüllten Antisemitismus. Hitler spricht ausführlich über das Verhältnis vom ›Volk zur Bodenfläche‹, den Begriff Bevölkerungsdichte (oder ›Volksdichte‹) gebraucht er allerdings nicht. Zusammengehalten werden die verschiedenen Ansätze durch die stete Bezugnahme auf das Verhältnis von ›Volk zu Raum‹. Allein das Missverhältnis von Volkszahl und Grundfläche stellt für Hitler einen Grund zur Kriegsführung dar (Wolter 2003, 93). Die hier anhand des Diskurses ›Volk ohne Raum‹ nachvollzogene Entwicklung zeigt die »historisch-strukturelle Verbindung« zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus (ebd. 110f.). Hintergrund dieser Verbindung sind die geopolitischen und geodeterministischen Diskurse um ›Raum‹ und ›Volk‹, die Konstruktion ›Volksdichte‹ ist ein Verbindungsglied zwischen diesen Diskursen. Der quasi naturwissenschaftliche Befund der ›untragbaren‹ Höhe der Bevölkerungsdichte wird im Konzept der ›Volksdichte‹ mit dem emotionalisierten Volksgedanken vereint. Mit dem Volks-Begriff wird eine »Tendenz zum Emotionalen und Irrationalen« transportiert (ebd. 46), und in diesem Prozess wandelt sich auch die Rationalität des Raumbegriffs (Reuber 2005, 378). Die ›Volksdichte‹ steht ebenso wie die Konstruktionen ›Wachsende Räume‹, ›Lebensraum‹ und Haushofers ›Volk ohne Raum‹ für diese Transformation. Mitte der 1930er Jahre wurde jedoch die Geopolitik und der Geodeterminismus zugunsten des Primats der ›Rasse‹ und des ›Führerkults‹ zurückgenommen, da eine zu starke Betonung der Naturbedingtheit der Politik dem »Führerkult nur wenig Platz« gelassen hätte (Grundmann 2004, 323). Der »rigorose geographische Determinismus« Ratzelscher Prägung wurde ergänzt (und zum Teil ersetzt) durch einen ebenso rigorosen Determinismus der ›Rasse‹ (ebd.). Damit lässt sich auch eine disziplinäre Verschiebung des ›Volk zu Raum‹-Diskurses feststellen: Zum einen wurde die Debatte in die Bevölkerungslehre und –
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politik verlagert, wo genau das gleiche Thema – wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen – parallel zum geopolitischen Diskurs entwickelt worden ist (vgl. Kapitel 4.2). Zum anderen wurden die Themen ›Volk ohne Raum‹ und ›Volksdichte‹ verstärkt in der Raumforschung und Raumplanung des NSStaates aufgegriffen (vgl. Kapitel 5.2).12
3.3 A LTER K ONTEXT , OHNE K ONTEXT Das Thema dieses Kapitels ist der geographische Dichtegebrauch nach 1945. Das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bedeutete für die Geographie einen erheblichen Einschnitt. Die ›Geopolitik‹ – also der disziplinäre Bereich, in welchem dem Konstrukt ›Dichte‹ eine besonders bedeutende Rolle zugewiesen worden war – spielte nach dem zweiten Weltkrieg in der deutschen Politik und Wissenschaft über Jahrzehnte hinweg kaum mehr eine Rolle (Reuber 2005, 378). Nach 1945 war zwar versucht worden, durch die Unterscheidung in ›Geopolitik‹ (reduziert auf die Person Haushofer) und ›Politische Geographie‹ (als unschuldiges wissenschaftliches Feld) eine Weiterführung der Disziplin zu ermöglichen und die Geographie damit »von ihrer Verstrickung in das faschistische Lebensraumkonzept der Nationalsozialisten weißzuwaschen« (Reuber/Wolkersdorfer 2005, 640), jedoch erwiesen sich auch die ›Politische Geographie‹ und die in diesem Kontext entwickelten Theorien bald als zu kompromittiert, als dass dieser Ansatz hätte einfach weiter verfolgt werden können. Das bedeutete jedoch nicht nur einen Rückschlag für die ›Politische Geographie‹ in Tradition von Friedrich Ratzel, sondern führte ebenfalls dazu, dass überhaupt in Deutschland geographische Themen lange Zeit kaum noch mit einer politischen Analyse verbunden wurden (ebd.). Die Geographie wurde ›entpolitisiert‹, und die Geographen versuchten, sich eine ›neutrale‹ und ›wissenschaftliche‹ Position zueigen zu machen. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Dichtegebrauch in der Geographie dargestellt und diskutiert werden. Insbesondere soll dabei beleuchtet werden, inwiefern weiterhin auf den alten Begründungskontext der Dichteverwendung rekurriert wurde, respektive welche neuen Legitimationszusammenhänge in der Disziplin konstruiert worden sind. Zum Abschluss dieses Kapitels (und damit zum Abschluss des mit dem Untertitel ›Dichte und Raum‹ überschriebenen Teils dieser Arbeit) wird mit der kritischen Humangeographie auf einen neuen Kontext abgestellt und dabei auf die Debatten des ›Spatial Turn‹ Bezug genommen. Auch wenn sich in die12 Zu diesen Zusammenhängen vgl. auch die Reflexion S.211f.
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sem neuen Kontext bisher noch nicht sehr intensiv mit dem Konstrukt ›Dichte‹ beschäftigt worden ist, sind meines Erachtens die dort geführten Debatten von großer Relevanz für das Thema. Der Gebrauch der Bevölkerungsdichte (der Begriff ›Volksdichte‹ wurde nun nur noch vereinzelt verwendet) ist nach 1945 am länderkundlichen und unpolitischen Neubeginn der Geographie orientiert. In den Lehrbüchern wird in dieser Zeit vor allem die methodische Debatte der Jahrhundertwende weitergeführt. So diskutiert etwa Herbert Wilhelmy (1910-2003)1 in seinem Standardwerk Kartographie in Stichworten ausführlich die methodischen Fallstricke der Dichteanwendung, wobei die Definitionen der Bevölkerungsdichte weitgehend identisch zu den Begriffsbestimmungen von Ratzel oder Hettner sind und auch sonst kaum neue Inhalte in die Debatte hinein getragen werden. Die »alte Streitfrage« des Für und Wider eines Ausschlusses von Städten und unbewohnten Gebieten in der Dichtedarstellung wird ebenso besprochen2 wie die Wahl der geeigneten Bezugsfläche der Dichteangabe. Kritisch vermerkt Wilhelmy jedoch, dass die Bevölkerungsdichtekarten viel von ihrer früheren Bedeutung verloren hätten, durch Faktoren wie die zunehmende Mobilisierung der Bevölkerung und die Intensivierung der Verkehrsverflechtung seien die »Bindungen des Menschen an den Boden« aufgelockert worden. Die »übliche Dichtekarte« veranschauliche nur formal einen gleichen Zustand, gebe jedoch keine Auskunft über die Ursache von hohen Dichteziffern. Die »alte Vorstellung der Bevölkerungsdichte«, so resümiert Wilhelmy, habe nur noch dort ihre Berechtigung, wo die Bevölkerung vorwiegend agrarisch lebe (ebd. 120). Ähnlich argumentiert der Kartograph und Landesplaner Werner Witt (1906-1999)3 in seiner Bevölkerungskartographie und stellt dabei die Bedeutung des Ursprungs der Begriffsentstehung in der vorindustriellen Epoche heraus. Zu dieser Zeit seien die Menschen noch stärker ortsgebunden 1
Herbert Wilhelmy war Professor für Geographie in Kiel, Stuttgart und Tübingen und Vorsitzender des Zentralverbandes und des Nationalkomitees Deutschlands in der Internationalen Geographischen Union.
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Wilhelmy kritisiert, dass »derartige Ausscheidungen«, besonders die Beschränkung der »Volksdichteberechnung« auf die »Nutzfläche«, auf der fehlerhaften Annahme beruhe, dass es möglich sei, die tatsächliche Verteilung der Bevölkerung auf der von ihr bewohnten Fläche rechnerisch oder graphisch darzustellen. Dadurch würden, etwa bei der Ausscheidung des Waldes, die »Buntsandsteingebiete des Hinteren Odenwaldes mit ihren kargen Böden [eine] höhere Bevölkerungsdichte erhalten als [das] fruchtbare, dichtbesiedelte Rheinhessen« (Wilhelmy 1966, III 116).
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Witts Dissertation von 1931 hat den Titel »Die Volksdichte in Nord-, Mittel- und Westdeutschland« (Wagemann 1948, 442).
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gewesen und hätten »in oder aus dem Raum, in dem sie wohnten« ihren Lebensunterhalt gewonnen. Bevölkerungsdichte, so führt Witt weiter aus, hätte damals das Verhältnis der Menschenzahl zum Raum und den dort vorhandenen Subsistenzmitteln ausgedrückt, inzwischen wirkten dagegen sehr vielfältige, »in ihrer Verflechtung kaum mehr übersehbare exogene Kräfte auf jeden Raum und seine Bevölkerung ein« (Witt 1971, 45). Witt verweist auf die zunehmende Mobilität der Bevölkerung, auf die wachsenden Pendlerbewegungen und das veränderte Freizeitverhalten. Die Erfassung und Darstellung, wo »die Bevölkerung« wohnt, büße zunehmend an Aussagekraft ein. Witt bemerkt, man sei »vielfach gezwungen, andere Begriffe zu gebrauchen« und fügt hinzu, dass nicht nur der »Begriff der Bevölkerungsdichte im alten Sinne« fragwürdig geworden sei, sondern auch der Inhalt des Begriffs ›Bevölkerung‹ selbst nicht mehr eindeutig wäre. Daraus ergebe sich die Frage, was »unter diesen Umständen der Begriff der Bevölkerungsdichte, der Bezug auf die Fläche« noch für eine Aussage habe. Witt resümiert, der Begriff sei zwar »hoffnungslos veraltet« aber »offensichtlich unausrottbar«, daher werde der Ausdruck auch weiterhin »überall angewendet«. Und auch Witt möchte nicht ganz auf den Ausdruck verzichten, er sei wohl »wenigstens zur ersten Orientierung trotz allem unentbehrlich« (ebd.). Der Begriff Bevölkerungsdichte wird also in der Fortführung der klassischen methodischen Debatte in der Geographie durchaus kritisch hinterfragt. Es wird aber auch deutlich, wie konsistent das Konstrukt sich gegenüber solchen Kritiken zeigt. Der Stellenwert, welcher der Dichtebesprechung in den Lehrbüchern der traditionellen Geographie und Kartographie auch nach 1945 zukommt, und die Tatsache, dass die Darstellung der Bevölkerungsdichte weiter zum Standardrepertoire der Disziplin gehörte, zeugen von der weiterhin großen Bedeutung, die dem Konstrukt im geographischen Kontext beigemessen wurde. Allerdings hatte nicht nur der geopolitische Dichtekontext deutlich an Gestaltungsmacht eingebüßt, auch der naturund geodeterministische Begründungszusammenhang des Dichtegebrauchs, mit dem die Verwendung von Bevölkerungsdichte als zentrale Analysekategorie der Geographie Anfang des Jahrhunderts legitimiert worden war, stand nun nicht mehr uneingeschränkt zu Verfügung. Es wurden aber auch keine neue Theorie bereit gestellt, die die Verwendung der Konstruktion Bevölkerungsdichte hätte inhaltlich neu begründen oder ihrem Gebrauch eine Richtung geben können. Diese Problemstellung zeigt sich nicht nur bei der Konstruktion der Bevölkerungsdichte, sondern ist für die Entwicklung der Disziplin insgesamt symptomatisch. Der traditionellen Geographie dieser Zeit wird allgemein ein fehlendes »szientistisches Selbstverständnis« attestiert, und zwar vor allem aufgrund ihrer Alltagsnähe, die sich auch im Selbstbild als »praktizierte Beziehung von Wissenschaft und Alltag« manifestierte (Lippuner
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2005, 25). In der klassischen Geographie wurde eine »akribische Sammeltätigkeit« betrieben, deren Ergebnis die Ermittlung einer »enzyklopädischen Fülle von Daten und Fakten« war, deren »innerer Zusammenhang selbst gutwilligen Rezipienten bisweilen Rätsel aufgab« (Wardenga 2005, 120). In einer zeitgenössischen Kritik aus dem Jahre 1969 wird formuliert, dass die »Landschafts- und Länderkunde als Inbegriffe der Geographie« über keine eigenen Problemstellungen verfüge und in der Disziplin lediglich auf trivialen Zusammenhängen basierende Schemata konstruiert würden. Die Geographie als Landschafts- und Länderkunde sei eine »reine Pseudowissenschaft«, deren Studien wie »unliebsame Überreste aus einer längst vergangenen Zeit« erschienen (zitiert nach ebd. 120).4 In den 1970er Jahren wurde im geographischen Kontext mit dem Begriff ›Tragfähigkeit‹ ein Konzept mit geopolitischen (vgl. S. 110) und raumplanerischen (vgl. S. 179) Wurzeln aufgegriffen und besonders die ›Tragfähigkeit der Erde‹ wieder zu einem viel diskutierten Thema. Die erneute Tragfähigkeitsdiskussion ist im Kontext der in den 1970er Jahren erstarkenden wachstumskritischen Ökologiebewegung zu verorten, die mit dem Bericht des ›Club of Rome‹ zu den Limits of Growth (Meadows et al. 1972) einen ersten Höhepunkt erreichte. In der berühmten Studie selbst wird der Begriff ›Tragfähigkeit‹ zwar nicht verwendet, in der Adaption der Szenarios in der deutschsprachigen Literatur erlangte der Begriff jedoch wieder einen hohen Stellenwert, das Tragfähigkeitskonzept spielt für die ÖkologieBewegung eine wichtige, prägende Rolle (Tremmel 2005, 78). Die »Tragfähigkeit eines Raumes« wird als diejenige Menschenmenge definiert, die »von diesem Raum unter Berücksichtigung eines dort in naher Zukunft erreichbaren Kultur- und Zivilisationsstandes auf überwiegend agrarischer Grundlage auf die Dauer unterhalten werden kann, ohne dass der Naturhaushalt nachteilig beeinflußt wird« (Borcherdt/Mahnke 1973, zitiert nach Bähr 1992, 138). Bei dieser Begriffsbestimmung zeigen sich sowohl Konstanten als auch Differenzen bezüglich der geopolitischen Tragfähigkeitsdiskussion der 1920er – 1940er Jahre. Die ›Tragfähigkeit‹ eines Raumes ist dabei weiterhin als Ergebnis und Ausdruck der natürlichen Gegebenheiten konstruiert, allerdings geht es bei der Bestimmung der ›Tragfähigkeit‹ nicht mehr um den ›natürlichen Raumbedarf der Völker‹, sondern um die Wahrung des ›ökologischen Gleichgewichts‹. Auch die aus dem Tragfähigkeitskonzept abgeleiteten Forderungen haben sich geändert: Es wird nicht mehr eine expansive Raumerweiterung propagiert, sondern eine wirtschaftliche und demographische Selbstbeschränkung vorgeschlagen. Die Debatte über die ›Tragfähig4
Die Formulierung stammt aus einem universitären Positionspapier der Fachschaften der geographischen Institute.
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keit‹ der Erde und einzelner Länder oder Regionen (vorzugsweise der ›Entwicklungsländer‹) findet sich bis heute als Thema der Geographie. Im Zuge des neuen Tragfähigkeitsdiskurses wurde für die Konstruktion Bevölkerungsdichte ein neuer Kontext geschaffen, der auch in den Debatten der Raumplanung und des Städtebaus (als ökologischer Diskurs) für die dortige Dichteverwendung maßgeblich geworden ist (vgl. Kapitel 5.3 und 7.3). Derweil rückt in den letzten Jahren der geopolitische Gehalt der Ökologiediskurse selbst (etwa in Form von Debatten über ›Tragfähigkeiten‹ oder ›Überbevölkerungen‹) verstärkt in den Fokus der ›kritischen Geographie‹ (siehe auch weiter unten). Im geographischen Umfeld gibt es in der jüngeren Vergangenheit weitere Versuche, mit der Konstruktion der Bevölkerungsdichte zu neuen Ansätzen zu gelangen, etwa bei der ›Verdichtungsraumforschung‹ durch den Geographen Wolf Gaebe.5 Gaebe versucht mit Hilfe des so genannten ›Dichtegradienten‹ ein neues Forschungsfeld zu begründen. Mit diesem aus dem Bereich der Wirtschaftsgeographie stammenden Modell wird die Bevölkerungsdichte vom Zentrum einer Stadt zu ihrem Rande hin dargestellt.6 Der Dichtegradient zeichnet dabei den Verlauf durchschnittlicher Dichtewerte von Ringflächen nach, die konzentrisch um den Mittelpunkt einer Stadt gelegt werden. Die Bevölkerungsdichte wird bei diesem Ansatz in Beziehung zur Entfernung vom Stadtmittelpunkt gesetzt, um die Kompaktheit einer Stadt darstellbar und die Struktur von verschiedenen Städten (auch im historischen Verlauf) vergleichbar zu machen. Gaebe bezeichnet die Dichtegradienten zwar als kaum vergleichbare Verallgemeinerungen empirischer Beobachtungen (Gaebe 1987, 173), versucht jedoch dennoch, daraus ein Urbanisierungsmodell abzuleiten. Gaebe identifiziert verschiedene, in chronologischer Reihenfolge ablaufende Phasen der Urbanisierung: die »Urbanisierung« (starkes Bevölkerungswachstum in der Kernstadt), die »Suburbanisierung« (relativ stärkere Bevölkerungszunahme im Umland), die »Desurbanisierung« (Bevölkerungsabnahme im gesamten Verdichtungsraum) und die »Reurbanisierung« (relative Bevölkerungszunahme in der Kernstadt). Jeder dieser Urbanisierungsphasen, so führt Gaebe aus, lasse sich eine spezifische Bevölkerungsdichte und somit ein unterschiedliche Ausprägung des Dichtegradienten zuordnen. Aus dieser Annahme ergibt sich das Bild einer im Verlauf der Urbanisierungsphasen flächenmäßig stetig wachsenden Stadt mit stetig abnehmender Bevölkerungsdichte. In der Phase der Suburbanisierung beginnt im Zentrum der Stadt die Bevölkerungsdichte (im Vergleich zu 5
Gaebe ist Professor am Institut für Geographie der Universität Stuttgart.
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Das Modell ist verwandt mit den Stadtentwicklungsmodellen der Chicagoer Schule (zur Chicagoer Schule vgl. Kapitel 2.2), sowie mit volkswirtschaftlichen Modellen und Bodenwertanalysen, etwa von Alonso (vgl. Bähr 1992, 111f.).
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den anderen Bereichen) stärker abzunehmen, wodurch der Dichtegradient eine »zentrale Dichteeinbuchtung« erfahre (ebd.). Bevölkerungsdichte ist in Gaebes Urbanisierungsmodell keine Ursache und auch kein Ziel, sondern Folge respektive Anzeichen eines (durch andere Faktoren hervorgerufenen) Urbanisierungsprozesses. Die Darstellung der zeitlichen Entwicklung von Bevölkerungsdichte soll dafür verwendet werden, Entwicklungsphasen in der Stadtentwicklung kenntlich und vergleichbar zu machen, um damit verschiedene städtische Phänomene (etwa Suburbanisierungsstufen) besser diskutieren zu können.7 Aus der Verbindung von Urbanisierungsmodell und Dichtegradienten leitet Gaebe seinen Ansatz für das neue Forschungsfeld »Verdichtungsraumforschung« ab. Verdichtungsräume definiert Gaebe als Bereiche »starker Konzentration von Menschen und Tätigkeiten, Nutzungsvielfalt und Kontaktdichte« (Gaebe 1987, 17). Mit der vorgeschlagenen Systematisierung sollen diese Räume vergleichbar abgegrenzt und gegliedert und darauf aufbauend Aussagen über Urbanisierungs- und Suburbanisierungsprozesse gemacht werden. In der Verdichtungsraumforschung möchte Gaebe ein interdisziplinäres theorieorientiertes und anwendungsbezogenes Wissens- und Arbeitsgebiet etablieren, in das die Fächer Geographie, Geschichte, Bevölkerungs-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Demographie, Stadtsoziologie, Stadtökonomie), Kommunalwissenschaften, Städtebau und Architektur einzubinden sind (ebd. 19). Gaebe reproduziert in seinem Ansatz damit den interdisziplinären Gebrauch des Terminus ›Dichte‹. Gaebe ist sich des reduzierenden Ansatzes seines Modells bewusst und bemerkt, dass es nicht möglich sei, mit wenigen Merkmalen (Indikatoren) die Räume »sehr komplexer« Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung zu erfassen. Bevölkerungsdichte und Einwohner-Arbeitsplatzdichte würden »keine Rückschlüsse auf die Gründe der Entwicklungsprozesse, auf positive oder negative Wirkungen der Flächennutzung und Wirtschaftsstruktur zu lassen« (ebd.). Für Gaebe eröffnet Bevölkerungsdichte (beziehungsweise ihre Darstellungsmethode anhand des Dichtegradienten) jedoch einen Weg, ein weitgehend neutrales, deskriptiv erkennbares Untersuchungsraster zu definieren, um darauf aufbauend die ökonomischen, politischen und gesell7
Bei seinen Untersuchungen kommt Gaebe zum Ergebnis, dass die Bundesrepublik im Vergleich zu Japan, USA und Großbritannien gering suburbanisiert sei. Insgesamt sei in den meisten großen Städten der Schwellen- und Entwicklungsländer die Bevölkerungs- und Arbeitsplatzdichte höher als in den großen Städten der Industrieländer und steige weiter an. Die höchste Bevölkerungsdichte sei daher auch in innerstädtischen Wohngebieten genau solcher Städte (etwa Mexiko Stadt, Bombay, Honkong) festzustellen, in den Städten südlich der Sahara sei die Bevölkerungsdichte allerdings weit geringer (Gaebe 1987, 173).
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schaftlichen Vorgänge zu beschreiben und zu analysieren. Gaebes Ansatz ist ein Versuch, mit dem Merkmal Bevölkerungsdichte nicht einen normativen Diskurs zu generieren, sondern sie als ein Urbanisierungsphänomen zu begreifen, aus dem eine Struktur für ein Untersuchungsraster gebildet werden kann.8 Neben Gaebes Vorschlag für eine solche neu konzipierte Dichteverwendung ist in der klassischen Geographie auch der alte Konstruktionsdiskurs weiter präsent. In Jürgen Bährs9 Bevölkerungsgeographie wird etwa der »Begriff der Bevölkerungsdichte« als das »älteste verwendete Bezugssystem« zwischen einer Wohnbevölkerung und der »Fläche des Lebensraumes« besprochen, wobei Angaben der Bevölkerungsdichte als »Aussagen über die »generelle Raumausnutzung oder die Tragfähigkeit« definiert werden (Bähr 1992, 80f.). Aus der Beschäftigung mit Fragen »des Verhältnisses von Bevölkerung und Raum« entstehe automatisch die Frage, »wie groß der Lebensraum angelegt sein muß«, beziehungsweise »wie die Tragfähigkeit des Lebensraumes« erweitert werden könne und welche Mittel »verantwortungsvoll eingesetzt« werden müssten, um die »Menschenanzahl auf einer bestimmten Fläche zu begrenzen« (ebd. 117). ›Untervölkerung‹ herrsche dann, wenn »eine Bevölkerung zufolge ihrer geringen zahlenmäßigen Größe oder Dichte« nicht in der Lage sei, die »Gegebenheiten des Lebensraums« vollständig zu nutzen (ebd. 124). Bähr verwendet auch den Begriff ›Bevölkerungsdruck‹, der »am Beispiel der Überbevölkerung« darauf hin deute, dass »dieses gleichsam physikalische Phänomen auf einen Ausgleich im Raum oder auf andre Menschengruppen wirken« müsse. Wichtig seien insbesondere »lokale Strategien zum Abbau des Bevölkerungsdrucks« (ebd. 130). »Naturgemäß« komme diesen Begriffen besondere Bedeutung »bei Kapazitätsberechnungen eines Raumes für eine menschliche Bevölkerung« zu (ebd. 26). Bähr rekapituliert damit exakt die Argumentationslinien, in denen sich seit Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff Bevölkerungsdichte etabliert hatte. Mit den Begriffen ›Lebensraum‹, ›Tragfähigkeit‹ und ›Begrenzung der Menschenzahl‹, ›Bevölkerungsdruck‹, ›Überbevölkerung‹ und 8
Das Urbanisierungsmodell von Gaebe wird auch in der aktuellen Debatte diskutiert (vgl. Brake et al. 2001 und Laux 2005). Dabei wird bestätigt, dass die »sozio-ökonomischen Transformation« zu einer »regelhaften Veränderung in den Grundzügen der Bevölkerungsverteilung« geführt habe (Laux 2005).
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Bähr (* 1940) studierte Geographie und Mathematik, promovierte 1967 und habilitierte sich 1973 an der Universität Bonn. 1975 wurde Bähr zum Professor für Wirtschaftsgeographie der Universität Mannheim, 1977 zum Professor für Stadtund Bevölkerungsgeographie in Kiel berufen, wo er seit dem arbeitet und lehrt. In den Jahren 1983 bis 1993 war Bähr Vorsitzender des Arbeitskreises Bevölkerungsgeographie im Zentralverband der deutschen Geographen.
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›Unterbevölkerung‹ nennt Bähr in seiner Dichterezeption alle Schlüsselbegriffe des geodeterministischen und geopolitischen Diskurses, ohne diesen auch nur ansatzweise zu reflektieren. In der zeitgenössischen klassischen Geographie finden sich beim Reden über die ›Dichte‹ jedoch nicht nur Reproduktionen des natur- und geodeterministischen Diskurses, sondern auch weiterhin kritischere Auseinandersetzungen mit dem Konstrukt. So stellt etwa der Geograph Claus Heidemann (*1933)10 fest, dass für den »bedenkenlosen Gebrauch« der Bevölkerungsdichte »die Mehrdeutigkeit ihrer Verwendung« ungünstig sei. Heidemann zieht den Vergleich zwischen Angaben zur Bevölkerungsdichte und der Handschrift eines Menschen, man könne sicher sein, dass Angaben in hohem Maße auskunftshaltig seien, man wüsste nur nicht, worüber. Heidemann bezeichnet Bevölkerungsdichte als »Dornröschenbegriff«, ihre Nennung gehöre »in die Klasse der Auskünfte von nutzloser Richtigkeit«, deren Erwähnung »hochgradig ritueller Natur« sei. Ihre Kenntnis, so Heidemanns ernüchterndes Fazit, diene weder der Beantwortung einer drängenden Frage, noch löse sie eine aus (Heidemann 1992, 2). Allerdings wird häufig – auch von kritischen Betrachtern und teilweise parallel zur einer grundsätzlichen Kritik an der Konstruktion – die Methodendiskussion (über den richtigen Nenner- und Zählerbezug beim Dichtegebrauch) einfach fortgesetzt. Der Widerspruch, Bevölkerungsdichte als veraltet, obsolet oder irrelevant zu bezeichnen und gleichzeitig über die geeignete Methode ihrer Darstellung zu referieren, wird dabei nicht thematisiert. Damit ist im geographischen Dichtediskurs weiterhin eine Leerstelle festzustellen. Der Aussage etwa, dass »die Einwohner-Fläche-Relation« ihren Bezug der Einwohner auf die Ernährungs- und Wirtschaftsmöglichkeit diese Zwecksetzung längst hinter sich gelassen habe (Gorki/Pape 1987, 212), fehlt die Ergänzung, auf was sich diese Relation denn nun berufen kann und welche Aussage ihre Angabe beinhaltet. Ein expliziter Bezug zu den Diskursen der 1930er und 1940er Jahre, mit denen die Verwendung der Bevölkerungsdichte als Analyseinstrument legitimiert worden waren, findet sich in der geographischen Literatur zur Bevölkerungsdichte nur vereinzelt. Ohne einen solchen Bezug und ohne eine neue Begründung wird der Begriff in der Geographie jedoch gewissermaßen heimatlos. Der alte Kontext ist weitestgehend verbrannt und steht daher nicht mehr zu Verfügung. Es gibt aber keine neue Erzählung, keinen brauchbaren Diskurs, in den der Begriff neu integriert werden könnte. Was dem geographischen BevölkerungsdichteDiskurs (und dem nach wie vor üblichen Dichtegebrauch) damit abhanden gekommen ist, ist eine Theorie, die die Konstruktion Bevölkerungsdichte zu 10 Heidemann ist emeritierter Professor der Universität Karlsruhe und war dort langjähriger Leiter des Institutes für Regionalwissenschaft (vgl. auch S. 307f.).
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einer (den Natur- und Geodeterminismus ersetzenden) Erklärungsleistung befähigen könnte. Der klassische Kontext des geographischen Dichtegebrauchs – also der naturdeterministische (respektive triviale) Ansatz der Länderkunde – ist in den letzten Dekaden selbst in den Mittelpunkt einer kritischen Auseinandersetzung geraten, die in der Geographie bei der Aufbereitung der disziplinären Wurzeln intensiv geführt wird. Aus dieser Kritik heraus bildete sich ein neues disziplinäres Feld mit einem dezidiert sozial- oder kulturwissenschaftlichen Selbstverständnis, das nicht mehr die physischen Eigenschaften des Naturraums zum Thema hat, sondern die »unterschiedlichen Dimensionen und Prozessen der gesellschaftlichen Konstruktion von Raum« (Werlen 2005, 25). Neben (und entgegen) der traditionellen Geographie haben sich – mit bewusstem Bezug auf die Ende des 19.Jahrhunderts geprägten Bezeichnungen – in einer neu definierten ›Anthropogeographie‹ (beziehungsweise ›Humangeographie‹ oder ›Sozialgeographie‹) und der ›politischen Geographie‹ (beziehungsweise ›Geopolitik‹) zwei kritische Ansätze herausgebildet, die zu einer vollkommen neuen Positionierung der Disziplin beigetragen haben (Lippuner 2005, 7). Diese neuen Ansätze einer kritischen Humangeographie sind Ergebnis der in den 1980er Jahren vollzogenen ›sozialwissenschaftliche Wende‹ der Geographie, bei der die »unkontrollierte Verräumlichung gesellschaftlicher Gegebenheiten« in den Theoriebeiträgen der Geographie »zuoberst auf der Prioritätenliste der Rekonstruktion des geographischen Tatsachenblicks« stand (Werlen 2005, 15). Kernbestand der zeitgenössischen Humangeographie ist in Folge dessen eine ›kulturtheoretische Sozialgeographie‹ geworden, deren Forschungsgegenstand die kulturellen Praktiken der Konstruktion geographischer Wirklichkeiten ist (Lippuner 2005, 51). Aufgrund dieses neuen Selbstverständnisses wird sich innerhalb der Humangeographie von der traditionellen geographischen Forschungskonzeptionen abgewendet und nicht mehr die Erklärung einer ›natürlich‹ gegebenen Naturordnung oder die Aufdeckung vermeintlich objektiver räumlicher Gesetzmäßigkeiten angestrebt (ebd.). Durch die eingenommene »konstruktivistische Perspektive« wendet sich der humangeographische Ansatz gegen die »essentialistischen Illusion« der klassischen Geographie, die glaubt, ihre Wirklichkeiten seien »Räume an sich« (Schultz 2005, 228). Subjektivität, Standpunktgebundenheit und Zeitgeistabhängigkeit von Raumbildungen, so die Begründung für den neuen Ansatz, dürften nicht durch »ontologische Manöver unterlaufen werden, die aus einer Sinnwelt eine Dingwelt machen und kulturelle Konstrukte nach Art der Plattentektonik behandeln, sodass aus komplexen gesellschaftlichen Konflikten Geokonflikte werden und kulturelle Differenzen zu territorialen Gräben« (ebd.). Einen Schwerpunkt auf solche Geokonflikte und die explizite Auseinandersetzung mit den geopolitischen Konzeptionen
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von politischen Diskursen wird beim Ansatz der ›Critical Geography‹ (oder einfach ›Geopolitik‹) gelegt, bei dem dezidiert auf der Repräsentationsebene angesetzt und der Forschungsschwerpunkt auf die subtile Rolle sprachlicher Konstruktionen und Semantiken als diskursive Grundlage politischen Handelns gelegt wird (Reuber et al. 2005, 16). Damit soll deutlich gemacht werden, wie sehr »vermeintlich ›objektive‹ geo- oder lagedeterministische Argumentationen konzeptionell in eine ›territoriale Falle‹ des Denkens tappen und damit die nachfolgende Produktion von ›politischen Räumen‹ erst möglich machen« (ebd.). Dass das Konstrukt ›Dichte‹ und die entsprechende klassische Methoden- und Anwendungsdebatte in den verschiedenen Zweigen der kritischen Geographie nicht als eigene (positive) Kategorie oder als Theoriebestandteil weiter geführt worden ist, ist nicht weiter verwunderlich. Mit dem Bedeutungsverlust der klassischen ›Politischen Geographie‹ und der naturdeterministisch geprägten ›Länderkunde‹ verflüchtigte sich der diskursive Kontext der Geographie, in dem die Debatte über das Verhältnis von ›Volk zu Raum‹ eingebunden war. Die ›kritische Geographie‹ konstituierte sich ja gerade durch ihre Abwendung von den deterministischen Ansätzen, die für die Verwendung der Bevölkerungsdichte maßgeblich gewesen sind. Überraschend ist dagegen, dass das Konstrukt Bevölkerungsdichte selbst (bisher) wenig Beachtung bei der Analyse der »Räumlichkeit sozialen Handelns« oder der Analyse der diskursiven Grundlagen geopolitischen Handelns gefunden hat. Die zentrale Stellung des Verhältnisses von ›Volk zu Raum‹ und ihres Quotienten ›Dichte‹ ist meines Erachtens eigentlich prädestiniert für solch eine geopolitische Analyse, die nach wie vor wichtige Bedeutung der Bevölkerungsdichte im raum- und stadtplanerischen Zusammenhang (vgl. Kapitel 5, 6 und 7) ist – ebenso wie die Renaissance des Begriffs im ökologischen Diskurs – höchst geeignet für die Untersuchung von gesellschaftlichen Verräumlichungsprozessen. Eine explizite Auseinandersetzung zur Konstruktion ›Bevölkerungsdichte‹, ihrer Geschichte und ihrem Gebrauch findet sich bisher aber nur (zumindest in Ansätzen) im Rahmen der bevölkerungswissenschaftlichen Aufarbeitungsdebatte der NS-Zeit (vgl. Kapitel 4.3 und Reflexion II). Etwa zehn Jahre nach der ›sozialwissenschaftlichen Wende‹ der Geographie folgte in den 1990er Jahren der ›Spatial Turn‹ in den Sozial-, Kultur- und Wirtschaftswissenschaften. Mit Bezug auf die Theorien von Michel Foucault und Henri Lefebvre wurde dabei die räumliche Dimension gesellschaftlichen Handelns und der Begriff ›Raum‹ wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Für die »sozialwissenschaftliche Erschließung sozialer Praxis« wurde es zum Konsens, neben der zeitlichen auch die räumliche Dimension gesellschaftlichen Zusammenlebens zu berücksichtigen. »Räumliche Konstellationen des sozialen Lebens«, so lautet die These der
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mit dem ›Spatial Turn‹ bewegten Debatten, seien von ebenso fundamentaler Bedeutung »wie historische Konstellationen« (Werlen 2005, 15), gesellschaftlicher Wandel sei ohne eine kategoriale Neukonzeption der räumlichen Komponente des sozialen Lebens nicht hinreichend erklärbar (Steets 2008, 394). Die Räumlichkeit sozialen Handelns ist inzwischen ein zentrales Thema vieler sozialwissenschaftlichen Theoriediskurse, räumliche Kontexte und Bezüge sozialen Handelns werden dabei selbst als Elemente sozialer Praxis (und nicht als physisch-materielles Behältnisse) begriffen (Werlen 2005, 29). Der ›Spatial Turn‹ ist damit ein Stück weit auch eine Revision der ›sozialwissenschaftlichen Wende‹ und eine Kritik des in der klassischen marxistischen Theorie vertretenen Primats von Zeit und Handlung (vgl. auch Kapitel 1.3). In den Debatten um den ›Spatial Turn‹ wird permanent um das Verständnis von ›Raum‹ gerungen. Die meisten bisherigen Versuche, soziale und räumliche Dimensionen des menschlichen Handelns theoretischkonzeptionell zu fassen, so erläutert Benno Werlen (*1952)11, hätten bisher jedoch meist zu »reduktionistischen Repräsentationen des Sozialen« geführt (Werlen 2005, 16f.). Das sei zum einen auf die fachhistorische Entwicklung zurückzuführen. Die Fragen nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Raum seien seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit zunehmender Konsequenz aus der sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektive im deutschsprachigen Kontext ausgeblendet worden, weil derart jeder Bezug zu »vulgären Materialismen« (etwa dem geographischen Naturdeterminismus) vermieden werden sollte. Durch diese strikte Trennung von sinnhaft konstruierter sozialer Wirklichkeit und den räumlichen Bedingungen des Handelns sei dabei in Kauf genommen worden, dass »wichtige Aspekte der sozialen Praxis von der argumentativen Zugänglichkeit« abgeschottet wurden. Zum anderen werden von Werlen die Arbeiten der Chicago School (vgl. Kapitel 2.2) und der dabei transportierte Ansatz als Beispiel für einen »Reduktionismus« bei der sozialwissenschaftlichen Thematisierung des Räumlichen bezeichnet, der vor allem auf die Tradition der dort gepflegten naturwissenschaftlichen Bezüge zurückzuführen sei (Werlen 2005, 17f.). Von den Protagonisten der Chicago School seien – mit der Orientierung an biologistischen Analogien – die »normalerweise als sozial« bezeichneten Dinge in den Begriffen von ›Raum und Positionsveränderung‹ gefasst und beschrieben und damit konsequenterweise Räumliches zum Index für Erklärungen des Sozialen gemacht worden. Dies habe zu einer »fatalen argumentativen Verwerfung« geführt, bei der die beobachtete Äußerungsform zum Element der Erklärung 11 Werlen studierte Geographie, Ethnologie, Soziologie und Volkswirtschaft in Fribourg (Schweiz), habilitierte sich 1994 in Zürich und ist seit 1998 Professor für Sozialgeographie an der Universität in Jena.
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erhoben wurden, ohne dass der Zusammenhang zwischen Form und gestalterischer Kraft beziehungsweise gestalterischem Prozess zuvor differenziert geklärt worden wäre. Diese Unterlassung habe dann der Beliebigkeit der Analogie – etwa der biologischen Analogien für soziale Wirklichkeiten – ein »breites Feld problematischer Kreativität« geöffnet. Mindestens implizit, so resümiert Werlen, erlange das Materielle in den Arbeiten der Chicago School damit argumentativ »sinnstiftenden Gehalt«, dementsprechend würden die Versuche der räumlichen Erklärungen des Sozialen eine »argumentative Überstrapazierung des Materiellen« einschließen. Folglich würden die räumlichen Erklärungen des Sozialen (zwingend) »in die Nähe vulgärmaterialistischer Argumentationsmuster« geraten (ebd.). Einer der wenigen explizit aus der Debatte zum ›Spatial Turn‹ abgeleiteten Versuche, den Begriff ›Dichte‹ als positiven Faktor zu implementieren, findet sich in einem Beitrag von Edward Soja (*1940).12 Soja leitet seinen Ansatz (wie Benno Werlen) aus der Diskussion des Raumverständnisses der Chicago School ab, nimmt jedoch deren kausal-räumliche Argumentation nicht zum Anlass für eine Kritik, sondern als Ausgangspunkt für die Rehabilitation der Theorie. Soja verteidigt die Erklärungsangebote der Chicago School als These von einer »urbanen räumlichen Kausalität«, die weiterhin ihre Berechtigung habe (Soja 2008, 247f.). Alles was existiere (beziehungsweise jemals existiert habe), so argumentiert Soja, habe eine wichtige räumliche Dimension, eine kritische und explizit räumliche Perspektive auf alles was »als existent denkbar ist« könne eine wesentliche Hilfe sein die Welt zu verstehen (ebd.). Soja betrachtet daher den kausalräumlichen Ansatz der Chicago School als Vorläufer des (unter anderem) von Henri Lefebvre geprägten neuerlichen Fokus auf den ›Raum‹. Im Kontext von Lefebvres These, die Entwicklung aller menschlichen Gesellschaften vollziehe sich immer nur in Form ›urbaner Gesellschaften‹ (vgl. Lefebvre 1990 [1970]), ordnet Soja das Verstädterungsmodell der Chicago School als relevantes theoretisches Material für eine Annäherung an ein neues Raumverständnis ein. Über diese Argumentationslinie kommt Soja auch zum Thema ›Dichte‹. In der aktuellen Volkswirtschaftslehre, so berichtet Soja, würden – im Rückgriff auf Theorien aus dem 19. Jahrhundert (vgl. dazu ausführlich Kapitel 4.1) neuerdings wieder die in Agglomerationen produzierten »Vorteile und Stimuli« in den Vordergrund gestellt werden, die wiederum aus der »Dichte und heterogenen Nähe urbaner Milieus« erwachsen würden (Soja 2008, 241).13 Die »kreative, generative, innovative« Hauptantriebskraft städtischer 12 Soja promovierte sich an der Syracuse University als Geograph und ist derzeit Professor für ›Urban Planung‹ an der University of California in Los Angeles. 13 In der englischsprachigen Wirtschaftsgeographie finden sich aktuell weitere Beispiele für einen solchen Ansatz. So wird etwa in der Studie ›Productivity and the
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Agglomerationen und urbaner wirtschaftlichen Entwicklung, so folgt Soja dieser volkswirtschaftlichen These, beruhe »auf der Dichte der urbanen Lebensverhältnisse« (ebd. 257). Damit verbindet der Geograph Soja in einer Patchwork-Beweisführung die Renaissance des volkswirtschaftlichen Dichtegesetzes aus dem 19. Jahrhundert mit dem stadtsoziologischen Raumverständnis der Chicago School und stellt dabei den französischen postmarxistischen Konstruktivismus als Paten der Verräumlichungsthese des ›Spatial Turn‹ zur Seite. Ob der Beitrag von Soja (der hier von mir sehr zugespitzt auf die dortige Verwendung des Begriffs dargestellt worden ist) damit wirklich zu einer neuen Sichtweise auf die ›Dichte‹ beitragen kann oder ob damit nur die klassischen Konstruktionen (und die klassischen Problemlagen) reproduziert werden, soll an dieser Stelle nicht vertiefend diskutiert werden. Interessant erscheint mir jedoch zum einen das multidisziplinäre Blickfeld zu sein, welches von Soja mit seinem ›Spatial Turn‹-Ansatz aufgespannt wird. Zum anderen könnte (in meinen Augen) der Versuch, die ›urbane Dichte‹ als Ursache für ökonomische Entwicklung zu rehabilitieren, ein Denkansatz mit weiterem Forschungspotenzial sein, zumindest dann, wenn dabei (wie bei Soja) gerade die soziale Veränderbarkeit von räumlichen Faktoren in den Vordergrund gerückt werden würde. Insgesamt betrachtet fällt die Verwendung des Konstrukts ›Dichte‹ in den aktuellen Debatten des geographischen Kontextes damit recht heterogen aus. Auf der einen Seite wird in der klassischen Geographie zum Teil einfach der natur- und geodeterministische und geopolitische Diskurs reproduziert und damit zur Kontinuität einer entsprechenden Perspektive beigetragen. Bis heute werden Einbindung, Funktionalisierung und das Verständnis des Dichtebegriffs im städtebaulichen, stadtplanerischen und raumplanerischen Zusammenhang (vgl. Kapitel 5, 6 und 7) durch die Ausgestaltung und Verwendung der Konstruktion Bevölkerungsdichte im kartographischen und geographischen Kontext geprägt, und in diesen Bereichen dominiert weiterhin nicht nur der klassische Raumbegriff, sondern (dadurch) auch der klassische Dichtebegriff. Auf der anderen Seite ist mit der Debatte um der ›Spatial Turn‹ Bewegung in die – der Verwendung von ›Dichte‹ implizit immer zugrunde liegenden – Raumkonzeptionen geraten. In der kritischen Humangeographie werden die Versuche, das Verhältnis zwischen dem Sozialen und dem Räumlichen neu auszuhandeln, bisher jedoch recht kritisch diskuDensity of Human Capital‹ untersucht, welche Effekte die Bevölkerungsdichte auf das regionale Bruttosozialprodukt hat (Federal Reserve Bank of New York, 2009). Richard Florida, der Autor des viel diskutierten Buches zur ›Creative Class‹, verweist auf seiner Internetseite auf diese Studie und überschreibt seinen Blogeintrag mit dem Titel »Density matters«. (http://www.creativeclass.com/ creative_class/tag/robert-lucas/. Zugriff 25.2.2010)
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tiert. Dort, wo der Natur- und Raumdeterminismus seinen theoretischen Ursprung hat, wird – in Konsequenz der Auseinandersetzung mit diesen disziplinären Wurzeln – nun die fundamentalste (und wahrscheinlich auch die fundierteste) Kritik an den Versuchen formuliert, das Räumliche als gesellschaftliche Erklärungskategorie zu rehabilitieren. Allerdings werden diese Debatten bisher nur sehr vereinzelt mit einem Bezug auf die Konstruktion von ›Dichte‹ geführt. Meines Erachtens erzeugt die Diskussion um den ›Spatial Turn‹ jedoch nicht nur einen dringenden Bedarf, das Konstrukt ›Dichte‹ einer neuen Betrachtung zu unterziehen, sondern die Debatte birgt gleichzeitig auch ein großes Potenzial für weitere Forschung auf diesem Gebiet (vgl. auch das Schlusskapitel ›Dichte‹).
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Dichte und Bevölkerung
4.1 B EWERTUNGSSYSTEME Die »Betrachtung der Volksdichtigkeit wird uns von selbst [zu] der Bevölkerungswissenschaft hinüberleiten«, schreibt der Vater von Karl Haushofer1 in seinem Buch Bevölkerungslehre (Max Haushofer 1904, 22). Und genau diesem Hinweis soll nun gefolgt werden: Die Bevölkerungswissenschaft wird in vierten Teil meiner Arbeit zum Kontext, in dem die Konstruktion von ›Dichte‹ untersucht wird. Die Bezeichnung ›Bevölkerungswissenschaft‹ ist dabei heute nicht mehr sehr verbreitet und wird wenn, dann als alternative Bezeichnung zum Fach ›Demographie‹ verwendet. Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war ›Bevölkerungswissenschaft‹ dagegen eine feststehende Bezeichnung für einen Teilbereich der Nationalökonomie, welche die Entwicklung der Bevölkerung und deren Strukturen sowie (und vor allem) die Beziehungen zwischen Bevölkerung und Volkswirtschaft zum Thema hatte. Die Bevölkerungswissenschaft ist neben der Geographie der zweite Bereich, in dem der Gebrauch und die Konstruktion der Bevölkerungsdichte ihren Ursprung haben. Aus der Perspektive einer Analyse der Konstruktion von ›Dichte‹ hat die Bevölkerungswissenschaft die Funktion, ein Bewertungssystem für den Dichtegebrauch zu erstellen und dieses zu begründen. Der Gebrauch von Bevölkerungsdichte benötigt zwingend solch ein Bewertungssystem, die bloße Nennung einer bestimmten ›Dichte‹ für sich alleine bleibt ohne Aussagekraft. Erst das Einbinden der Angabe in ein normatives System, in dem eine niedrige (zu niedrige), richtige (optimale) oder hohe (zu hohe) Bevölkerungsdichte konstruiert wird, ermöglicht es, die (für sich alleine) ›inhaltslose‹ Dichteangabe (Erika Spiegel) einzuordnen und richtungsgebend zu verwenden. Genau dieser – bei der Betrachtung des geopoli-
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Max Haushofer (1840-1907) war Professor für Nationalökonomie, Handelsgeographie und Staatsrecht an der Technischen Hochschule zu München (Jacobsen 1979, 9).
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BEVÖLKERUNG
tischen Diskurses bereits angesprochene – systematische Bewertungszusammenhang von Bevölkerungsdichte wird in der Bevölkerungswissenschaft (und damit auch in diesem Kapitel) zum zentralen Thema. Die ersten Nennungen von Bevölkerungsdichte im deutschen Sprachgebrauch sind – wie im vorigen Kapitel ausgeführt – etwa Ende des 18. Jahrhunderts zu registrieren und im (sich teilweise überschneidenden) geographischen und bevölkerungswissenschaftlichen Kontext angesiedelt. Die Ursprünge der Bewertungssystematik, in deren Rahmen die Bevölkerungsdichte verhandelt wurde und wird, sind jedoch beträchtlich älter. Bereits in den philosophischen und staatswissenschaftlichen Theorien der Antike ist das Verhältnis »Bevölkerung zur Fläche« als Problem von Philosophie und Staatstheorie ein äußerst relevantes Thema. In Platons Politeia wird das Verhältnis ›Bevölkerung zur Fläche‹ ausführlich behandelt. Platons Idee basiert auf der staatlich geregelten Regulation des Bevölkerungswachstums, mit der ein ›harmonisches Verhältnis‹ zwischen Volk und Staatsfläche gewährleistet werden sollte. Auf eben diesem Verhältnis beruht Platons Harmoniegedanke. Zum anderen konstruiert Platon das Missverhältnis von Volk und Staatsgebiet als vorrangigen Grund für die Entstehung von Kriegen (Platon 2003, 45), und damit findet sich in Platons Werk der Ursprung der geopolitischen Theorie der ›wachsenden Räume‹ (vgl. Kapitel 3.2). Aristoteles verwendet (im Gegensatz zu Platon) den Begriff ›Dichte‹ explizit, allerdings in einem anderen Kontext und mit einer anderen (physikalischen) Begriffsbestimmung. Überlegungen zur Entwicklung der Bevölkerung, deren Verhältnis zum Raum und daraus abzuleitenden politischen Strategien sind jedoch auch bei Aristoteles zentrale Themen. Aristoteles diskutiert die Beschaffenheit des ›idealen Staates‹, in dem das staatliche Recht zur zahlenmäßigen Beschränkung von Geburten besteht, da ein stabiles, gesetzlich geregeltes (begrenztes) Bevölkerungswachstum die allgemeine Grundlage des Staates sei. Eine staatliche Begrenzung der Volkszahl wird dabei als zwingend erforderlich vorausgesetzt, da willkürliche Kinderzeugung »zur Armut der Bürger« führe und jene Armut »zu Aufständen und bösen Taten treibe« (Aristoteles in Politik, zitiert nach Mombert 1929, 36). Aristoteles und Platon entwickeln damit bereits in der Antike die Ansätze einer Bevölkerungstheorie und legitimierten mit ihr ein vehementes staatliches Eingreifen. Diese Auseinandersetzungen sind der Geburtsritus der Bevölkerungslehre und beeinflussten deren Entwicklung maßgeblich. In der Neuzeit ist der Merkantilismus die Blütezeit der Bevölkerungstheorien, besonders im Rahmen der Wirtschaftstheorie wurden Bevölkerungsfragen viel diskutiert (Birg 2005a, 91). Mit dem im Jahre 1798 erstmals veröffentlichten Essay on the Principle of Population des englischen
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Geistlichen und Nationalökonomen Thomas Robert Malthus (1766-1834)2 wird das ›Bevölkerungsproblem‹ zu einem ausgiebig verhandelten Thema in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte. Malthus betrachtet in seiner Schrift das Verhältnis von Bevölkerungswachstum und Bodenertrag und leitet daraus politische Handlungsanweisungen ab. Malthus wendete sich mit seinem Essay gegen die zu seiner Zeit entstehenden Ansätze einer Sozialpolitik, die das Ziel hatte, dem ›Pauperismus‹ in England entgegenzutreten. Malthus argumentierte gegen eine Unterstützung der Armen, und zwar mit der Begründung, dass sich das ›natürliche‹ Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und Boden(ertrag) ›natürlich‹ regulieren müsse. Die Reaktionen, die Malthus mit seiner Schrift auslöste, waren enorm. Anhand der Theorien von Malthus wurde bereits zu seinen Lebzeiten eine heftige und polarisierende Debatte geführt, aus der sich einhundert Jahre später die Bevölkerungswissenschaft als eigene Disziplin profilieren sollte. Bis heute steht am Beginn praktisch jeden bevölkerungswissenschaftlichen oder demographischen Grundsatzwerkes die Darstellung von Malthus’ Theorie und der durch sie ausgelösten Diskussionen. Kern von Malthus’ Theorie ist die These, dass die menschliche Bevölkerung die beständige Tendenz habe, sich über die Menge ihrer Unterhalts(Ernährungs-)mittel hinaus zu vermehren. Malthus errechnete, die Bevölkerung verdopple sich alle 25 Jahre (Malthus 1977 [1798], 22), die Produktivitätssteigerung könne dieser Entwicklung dagegen nicht Schritt halten.3 Der Mensch sei daher »notwendig im Raume begrenzt« (Malthus 1879, 6, zitiert nach Mombert 1929, 161). Diese These ist Malthus’ zentrales Argument, und daraus leitet er das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag ab. Das Wachstum der Bevölkerung vollziehe sich in geometrischer Progression, die Produktion von Nahrungsmitteln könne dagegen nur in arithmetischer Reihe wachsen. Daher habe der Mensch von Natur aus die dauernde Tendenz, sich weit über das Maß der für ihn bereitstehenden Nahrungsmittel zu vermehren. Malthus konstruiert daraus die permanente Gefahr einer ›Überbevölkerung‹, und zwar als Naturgesetz, das man nicht ändern, dessen Folgen man im besten Falle lindern könne. Die »Vermehrungskraft der Bevölkerung« sei »unbegrenzt größer als die Kraft der Erde, Unterhaltsmittel für den Menschen hevorzubringen«, die »natürliche Ungleichheit zwischen den beiden 2
Malthus war anglikanischer Pfarrer und wurde 1806 Professor für Geschichte und politische Ökonomie am ›Haileybury College‹.
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Malthus argumentiert mit der Angabe von exakten Zahlenreihen. »The human species would increase as the numbers 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256; and subsistence as, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9. In two centuries the population would be to the means of existence as 256 to 9; in three centuries, as 4096 to 13; and in two thousand years the difference would be almost incalculable« (Malthus 1798, 8)
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BEVÖLKERUNG
Kräften« bilde die »gewaltige, mir unüberwindlich erscheinende Schwierigkeit bei der Vervollkommnungsfähigkeit der Gesellschaft« (Malthus 1977, 19f.). Die Auswirkungen dieser beiden ›ungleichen Kräfte‹, so folgert Malthus, müssten im Gleichgewicht gehalten werden, die Unterhaltsmittel seien jedoch zum einen begrenzt, zum anderen wachse die Bevölkerung dort, wo sich die Subsistenzmittel vermehren, wenn sie nicht von einer »machtvollen Kraft« daran gehindert würden. Malthus entwirft damit eine Art naturgesteuertes Regulationsmodell: Die unbegrenzte Vermehrungstendenz der Menschen werde durch die »ununterbrochen wirksamen« Vernichtungseffekte der Umwelt (Hungersnöte, Dürren und Seuchen) ausgeglichen. Malthus konstatiert »unterschiedliche Dynamiken« der beiden Prozesse und leitet daraus ein Handlungserfordernis für die staatliche Regulierung der Bevölkerungspolitik ab. Die Populationsgröße müsse sich an den Stand respektive an die Dynamik der Entwicklung des Nahrungsspielraumes anpassen (ebd.), es liege am Menschen, ob er dies freiwillig tue oder nicht (Khalatbari/Otto 1999, 13). Der Begriff ›Dichte‹ selbst findet sich in Malthus berühmten Essay noch nicht (Malthus 1798),4 Malthus hat jedoch als erster systematisch das Verhältnis von Bevölkerung zur (Agrar-)fläche behandelt (Mombert 1929, 160). Dieses Verhältnis ist der Kern der Malthusschen Theorie und es ist damit auch zum Kern der gesamten Bevölkerungswissenschaft geworden. Entscheidend ist aus meiner Perspektive zudem, dass mit Malthus ein intensiver wissenschaftlicher und politischer Diskurs über die ›Bevölkerungsfrage‹ einsetzte und dass er mit seinem Bevölkerungsgesetz drei entscheidende Voraussetzungen für die dann erst später erfolgende explizite In-RelationSetzung von Bevölkerung zu Fläche in den Diskurs einführte: Erstens die Problematisierung des Bodenertrages aus der Perspektive des ›Bevölkerungsproblems‹ und damit die Konstruktion eines Verhältnisses (noch ohne die Nennung des Quotienten dieses Verhältnisses). Zweitens den Ansatz einer Gesetzesbildung, mit der die Konstruktion eines Relationswertes, eines Zahlenwertes, in greifbare Nähe rückte.5 Drittens den normativen Blickwinkel, der die weitere Debatte über das Verhältnis von Bevölkerung zur Fläche 4
In der Sekundärliteratur wird vermerkt, dass Malthus zumindest implizit über ›Dichte‹ schreibt: »Was ist seine Frage nach den Ressourcen der Erde und den Grenzen des Bevölkerungswachstums anderes als die Frage nach dem Verhältnis von Bevölkerung und Raum – der sozialen Relevanz von Bevölkerungsdichte« (Grundmann 2004, 323, Hervorhebung im Original).
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Malthus ist der »Begründer der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bevölkerung« (Marschalck 2004, 108), und seit Malthus dominieren »quantitativ-mathematische Annäherungen an demographische Problematiken« (Gutberger 2007, 103).
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bestimmte und die Diskussion zu Begriffen wie ›Bevölkerungsminimum‹ und ›Bevölkerungsmaximum‹ lenkte, also zu dem Bewertungssystem, anhand dessen dann die Bevölkerungsdichte in Szene gesetzt worden ist. Nach dem Erscheinen von Malthus’ Essay wurde die ›Bevölkerungsfrage‹ weiter intensiv verhandelt. Der britische Unterhausabgeordnete Michael Thomas Sadler (1780-1835)6 kritisiert in seinem Werk Law of Population die Malthussche Theorie. Sadler bestreitet die These, dass sich die Menschen nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten und in dem von Malthus prognostizierten Tempo vermehren würden. Und Sadler führt den Begriff ›density‹ in die Debatte ein: »That productiveness, which varies even there, is perpetually governed, not by the quality of the soil, but by the density of the population« (Sadler 1830, 95). Die wirtschaftliche Produktivität, so führt Sadler weiter aus, werde nicht durch schlechte Böden begrenzt, sondern durch eine hohe Bevölkerungsdichte sogar befördert. Bei seiner Implementierung der Bevölkerungsdichte in den volkswirtschaftlichen Diskurs verwendet Sadler den Begriff also als positives fortschrittsförderndes Element.7 Sadlers Bevölkerungsgesetz wurde bald auch im deutschsprachigen Raum rezipiert (Kohl 1846; von Theobald 1846) und steht damit für den sehr frühen deutschsprachigen Gebrauch des Ausdrucks Bevölkerungsdichte. Umfangreich zur Kontroverse um Malthus beigetragen haben Karl Marx und Friedrich Engels, die beide Malthus Schrift nachdrücklich kritisierten. Engels bezeichnet Malthus’ Bevölkerungstheorie als »das rauste barbarischste System, das je existierte, ein System der Verzweiflung, das alle jene schönen Redensarten von Menschenliebe und Weltbürgertum zu Boden schlug« (Engels 1844, 380). Malthus behaupte, so Engels weiter, dass die der »Bevölkerung inhärente Tendenz«, sich über die »disponiblen Subsistenzmittel hinaus zu vermehren«, die Ursache allen Elends sei. Denn wenn zu viele Menschen da seien, so kommentiert Engels die Konsequenz aus Malthus’ Lehre, müssten jene »auf die ein oder andere Weise aus dem Wege geschafft, entweder gewaltsam getötet werden oder verhungern«. Malthus’ Überzeugung sei, dass »die Armen gerade die Überzähligen sind«, 6
Sadler war ein Vorkämpfer für die Einführung des Zehnstundentages und propagierte die Verpflichtung des Staates zur sozialen Fürsorge (Kirchberger 1998, 134).
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Darüber hinaus möchte Sadler am Beispiel der USA nachweisen, dass das Bevölkerungswachstum automatisch zurück gehe, wenn eine Gegend »zu dicht« besiedelt sei, während die Bevölkerungszahlen in dünn besiedelten Gebieten stark anstiegen (Kirchberger 1998). Wie Malthus geht Sadler also von einer ›natürlichen Regulation‹ aus, allerdings ohne Elend und Katastrophen als Regulationsmodi herauf zu beschwören.
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woraus folge, dass man nichts für die Armen tun solle, »als ihnen das Verhungern so leicht als möglich zu machen«. Folge man Malthus, so spitzt Engels dessen Ansatz zu, müsse man die Armen überzeugen, dass »es sich nicht ändern läßt« und dass »für ihre ganze Klasse keine Rettung da ist als in einer möglichst geringen Fortpflanzung«. Gelänge diese Überzeugung nicht, müsse zur Verwirklichung der Malthusschen Politik wohl »eine Staatsanstalt zur schmerzlosen Tötung der Kinder der Armen« eingerichtet werde. Engels resümiert, dass bei Malthus »die Unsittlichkeit der Ökonomen auf ihre höchste Spitze gebracht« worden sei (Engels 1844, 397). Marx charakterisiert Malthus Essay als ein »schülerhaft oberflächliches und pfäffisch verdeklamirtes Plagiat«, das »von der englischen Oligarchie als der große Austilger aller Gelüste nach menschlicher Fortentwicklung« jubelnd begrüßt worden wäre (Marx 1890, 553), Malthus’ Theorie verleihe dem »brutalen Ansicht des Capitals brutalen Ausdruck«. Malthus habe »das fact der Ueberpopulation unter allen Gesellschaften behauptet« (Hervorhebung im Original) und nicht bewiesen. Falsch und kindisch sei Malthus’ Auffassung, »weil er die Ueberpopulation in den verschiedenen historischen Phasen der ökonomischen Entwicklung als gleichartig« betrachte, ihren »spezifischen Unterschied« jedoch nicht verstehe und diese »sehr complicirten und wechselnden Verhältnisse daher stupid auf Ein Verhältniß« reduziere. Malthus verwandele »die historisch verschiedenen Verhältnisse in ein abstraktes Zahlenverhältniß das rein aus der Luft gefischt ist und weder auf Naturgesetzen, noch auf historischen beruht« (Marx 1859, 494f.). Das abstrakte Zahlenverhältnis, welches von Marx dabei als unzulässige Reduktion der komplizierten, komplexen und wechselnden gesellschaftlichen und historischen Beziehungen kritisiert wird, ist das Verhältnis von Bevölkerungszahl zum Bodenertrag (respektive zur Bodenfläche). Marx leitet aus der vehementen Kritik an Malthus einen eigenen Theorieansatz ab. Mit der »durch sie selbst producierten Akkumulation des Kapitals« produziere die Arbeiterbevölkerung ihre eigene »relative Ueberzähligmachung«. Diese Produktion ist nach Marx das »der kapitalistischen Produktionsweise eigenthümliche Populationsgesetz« (Marx 1890, 566). ›Überbevölkerung‹ ist bei Marx damit kein »natürliches« Phänomen, sondern das Produkt einer speziellen gesellschaftlichen Praxis. In den verschiedenen gesellschaftlichen Produktionsweisen existierten jeweils verschiedene Gesetze der »Vermehrung der Population und der Ueberpopulation«.8 Erst »Ueberpopulation und Population zusammengenommen« ergäben »die Population, die eine bestimmte Productionsbasis erzeugen kann« (Marx 1859, 8
Jede historische Produktionsweise habe ihre eignen »historisch gültigen Populationsgesetze«, ein abstraktes Populationsgesetz gebe es dagegen nur für Pflanze und Tier, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreife (Marx 1890, 566).
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493, Hervorhebung im Original). Die ›Überbevölkerung‹ sei also identisch mit dem ›Pauperismus‹. Marx verwendet Malthus Überbevölkerungsbegriff damit als Baustein seiner kritischen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise. ›Überbevölkerung‹ ist nach Marx der »Hebel der kapitalistischen Akkumulation«, weil »Surplusarbeiterpopulation nothwendiges Produkt der Akkumulation oder der Entwicklung des Reichthums auf kapitalistischer Grundlage« sei (Marx 1890, 567). Der kapitalistischen Produktion genüge nicht das Quantum disponibler Arbeitskraft, welches der natürliche Zuwachs der Bevölkerung liefere, zu »ihrem freien Spiel« bedürfe sie einer »von dieser Naturschranke unabhängigen industriellen Reservearmee« (ebd. 570). Je größer aber diese Reservearmee »im Verhältniß zur aktiven Arbeiterarmee« sei, desto massenhafter sei auch die »konsolidirte Arbeiterklasse«. Und je größer die »Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee«, desto größer wäre der »officielle Pauperismus«. Dieser Zusammenhang sei »das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« (ebd. 578, Hervorhebung im Original). Marx relativiert mithin nicht nur den Malthusschen Begriff der ›Überbevölkerung‹, sondern deutet ihn komplett um. Bei Malthus ist die ›Überbevölkerung‹ ein überflüssiger, wertloser Teil der Bevölkerung, gegen dessen Ausdehnung staatliche Maßnahmen zu ergreifen sind. Bei Marx ist die ›Überbevölkerung‹ ein sich aus der kapitalistischen Produktionsweise ergebender und für diese zwingend erforderlicher Bestandteil des Systems. Maßnahmen gegen die ›Überbevölkerung‹ sind aus dieser Sicht gar nicht möglich (es sei denn, durch Änderungen der gesellschaftlichen und ökonomischen Produktionsweise). Die Kritik an Malthus und an dessen Begriff ›Überbevölkerung‹ sind Kernbereiche der Marxschen Theorie. Engels formuliert, dass die Malthussche Theorie ein »durchaus notwendiger Durchgangspunkt gewesen« sei, der »uns unendlich weiter gebracht hat« (Engels 1844, 400). Durch die Analyse und Kritik von Malthus Theorie wäre man erst »auf die Produktionskraft der Erde und der Menschheit aufmerksam geworden« und nach der »Überwindung dieser ökonomischen Verzweiflung vor der Furcht der Übervölkerung für immer gesichert« (ebd.). Der Ausdruck Bevölkerungsdichte wird von Marx und Engels im direkten Zusammenhang mit der Kritik an Malthus nicht verwendet, bei der Erörterung des ›Arbeitsteilung‹ nimmt Marx jedoch auf den Begriff explizit Bezug. Marx definiert die ›Dichtigkeit‹ nicht selbst, er verweist aber in einer Fußnote auf den englischen Nationalökonom James Mill (auf den sich wiederum auch Thomas Sadler bezieht) und zitiert dort: »There is a certain density of population which is convenient, both for social intercourse, and for that combination of powers by which the procedure of labour is increased« (Mill, zitiert bei Marx 1867, 287). In der deutschen Übersetzung von Mill
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lautet der Satz wie folgt: »Es giebt ein gewisses Maaß der Bevölkerung,9 welches sowohl den gesellschaftlichen Verhältnissen zuträglich, als der zur Vermehrung des Products wünschenswerthen Theilung der Arbeit angemessen ist« (Mill 1824, 88). Bevölkerungsdichte wird bei Mill also als ein auf die Gesellschaft und Wirtschaft positiv wirkendes Phänomen interpretiert. In diesem Kontext diskutiert auch Marx den Begriff. Wie für »die Theilung der Arbeit innerhalb der Manufaktur eine gewisse Anzahl gleichzeitig angewandter Arbeiter die materielle Voraussetzung« bilde, so trete für »die Theilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft die Größe der Bevölkerung und ihre Dichtigkeit […] hier an die Stelle der Agglomeration in derselben Werkstatt« (Marx 1867, 287). Marx differenziert jedoch kurz darauf diese These: »Indeß ist diese Dichtigkeit etwas Relatives. Ein relativ spärlich bevölkertes Land mit entwickelten Kommunikationsmitteln besitzt eine dichtere Bevölkerung als ein mehr bevölkertes Land mit unentwickelten Kommunikationsmitteln, und in dieser Art sind z. B. die nördlichen Staaten der amerikanischen Union dichter bevölkert als Indien« (Marx 1867, 287). Auffällig ist dabei erst einmal, dass Marx den Begriff zu einem sehr frühen Zeitpunkt verwendet: bevor Durkheim ›Dichte‹ zum Baustein seiner Theorie über die soziale Arbeitsteilung macht (Kapitel 1.1), bevor Ratzel den Begriff methodisch und politisch prägt (Kapitel 3.1) und bevor von Stein ›Dichte‹ als zentrale Kategorie des Wohnungswesen installiert (Kapitel 6.1). Marx drückt mit seiner Wortwahl eine gewisse Skepsis aus und betont den relativen Charakter der Bevölkerungsdichte. Marx’ sparsame Dichterezeption und die Kritik an Malthus’ Bevölkerungstheorie haben dabei den gleichen Kern. Beides mal geht es darum, den hinter den Angaben zur Bevölkerungsentwicklung oder Bevölkerungsdichte stehenden sozialen, in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit eingebetteten Prozess zu erkennen und diesen Prozess nicht unreflektiert zu reduzieren. Auch im Anschluss an der von Marx und Engels geübten Kritik wurde die fachliche und öffentliche Debatte über Malthus’ Bevölkerungsfrage weitergeführt.10 Neben der Marxschen Position wurde vor allem aus dem Um-
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Der Ausdruck ›Density‹ wird also als ›Maaß der Bevölkerung‹ übersetzt, was zeigen mag, dass der Begriff Anfang des 19. Jahrhundert in der deutschen Sprache noch nicht sehr gebräuchlich gewesen ist.
10 Aus der Auseinandersetzung über Malthus Theorie entwickelte sich auch eine an der Praxis orientierte sozialreformerische Bewegung, die als ›praktischer Malthusianismus‹ beziehungsweise als ›Neomalthusianismus‹ bezeichnet wird. Ziel dieser Bewegung war es, gerade in den sozial schlechter gestellten Schichten (und gegen den Widerstand der Kirche) die Kenntnisse über Geburtenkontrolle zu verbreiten (Marschalck 1999, 58 und 2004, 105).
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feld der sogenannten ›Kathedersozialisten‹11 gegen Malthus Theorie Stellung bezogen, insbesondere von den Vertretern der »jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie« (Henßler/Schmid 2007, 10) Gustav Schmoller, Walter Sombart und Paul Mombert. In das Zentrum der Debatte rückt dabei zusehends die Kategorie der Bevölkerungsdichte. Bezugspunkt ist dabei die Dichtedefinition der englischen Nationalökonomie bei James Mill und Thomas Sadler. In diesem Rahmen wird eine hohe Bevölkerungsdichte als positive gesellschaftliche Errungenschaft und als Symbol für den Fortschritt schlechthin konstruiert. Der deutsche Ökonom Gustav Schmoller (1838-1917)12 bezeichnet eine »gelungene Verdichtung der Bevölkerung« als das Resultat »vollendeter Staatskunst und höchster Kultur« (Schmoller 1919, 189). Eine Höherentwicklung von Kulturniveau und möglicher Bevölkerungsdichte müssten Hand in Hand gehen, ohne »eine gewisse Dichtigkeit«, ohne Arbeitsteilung, Marktwesen und Gewerbe, ohne »städtisches Leben« und eine »gesteigerte Berührung und Reibung der Menschen« könnten Künste und Wissenschaften nicht existieren (Schmoller, nach Henßler/Schmid 2007, 105). Schmoller bestreitet, dass es eine »absolute Überbevölkerung« gebe (oder je gegeben habe); die zyklisch wiederkehrende »relative Überbevölkerung« – definiert durch die Frage, ob eine »solche Dichtigkeit« herrsche, die »gegenüber den vorhandenen Lebensbedingungen und volkswirtschaftlichen Aussichten als Druck empfunden werde« –, konstruiert er als »historische Notwendigkeit« sowie als »Bedingung des Fortschritts« (Schmoller 1919, 189). Schmoller propagiert als notwendige Maßnahmen »für unsere deutsche Gegenwart« erstens den »reichlichen Bevölkerungsabfluß« in die (eigenen) Kolonien, zweitens die Minderung der proletarischen, überfrühen Ehen mit »zu zahl11 Als ›Kathedersozialisten‹ bezeichnete man in der Zeit des deutschen Kaiserreichs jene Nationalökonomen, die für soziale Reformen zugunsten der Arbeiterschaft eintraten und die Intervention des Staates zur Verbesserung der Lage der Arbeiter forderten. Die ursprünglich polemisch gemeinte Ausdruck ›Kathedersozialisten‹ wurde von den derart bezeichneten Wissenschaftlern zur ›Ehrenbezeichnung‹ gewendet und zum Markenzeichen erhoben. Die Gruppe der ›Kathedersozialisten‹, die politisch durchaus unterschiedliche Ansichten (vom Konservatismus bis zum linken Flügel des Liberalismus) teilten, entstand in den 1860er Jahren. (Born 1978, 463f., Henßler/Schmid 2007, 10) 12 Schmoller studierte Staatswissenschaften an der Universität in Tübingen. 1864 wurde er zum Professor der Staatswissenschaften an der Universität Halle berufen, 1872 wechselte er an die Universität Straßburg, 1882 an die FriedrichWilhelms-Universität in Berlin. 1910 wurde Schmoller zum königlich-preußischen Geheimrat ernannt. http://www.sammlungen.hu-berlin.de/dokumente/72 13/. Zugriff: 20.1.2010
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reichen schwächlichen Kindern« und drittens die »innere Verdichtung« durch »innere Kolonisation«: Verbesserung des Bildungswesens, Förderung des technischen Fortschritts, Förderung des Exports und eine gleichmäßigere Einkommensverteilung (ebd. 190). Das »Bevölkerungsproblem«, so Schmollers Fazit, greife in alle Lebensgebiete hinein und fordere überall »Zucht und Selbstbeherrschung, Weitsicht und tatkräftiges Handeln«. Auch das »tüchtigste Volk« würde die zwei »selbstständigen Bewegungen der zunehmenden Menschenzahl und des wirtschaftlichen Fortschritts nie ganz in Übereinstimmung bringen können« und müsse sich darum bemühen, die »Dissonanzen zu mildern in dem Maße, wie es moralisch, geistig und technisch sich vervollkommnet« (ebd.). Schmoller führt damit die im frühen 19. Jahrhundert in der britischen volkswirtschaftlichen Debatte eingeführte Einbettung der Bevölkerungsdichte als Bedingung für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung weiter. Gleichzeitig bedient Schmoller jedoch auch die konservative Sichtweise eines Friedrich Ratzel, in dem er dessen (national-) vergleichende Perspektive reproduziert und zu ähnlichen außenpolitischen Ableitungen kommt, sowie die großstadtfeindliche Stimmungslage seiner Zeit, wenn er etwa als »unmoralische Folgen der Verdichtung« die Ehelosigkeit, die Geldheirat und die Prostitution anprangert (ebd. 189). Der Soziologe und Nationalökonom Franz Oppenheimer (18641943)13 geht in seiner Dichterezeption noch über Schmollers Auffassung hinaus. Auch Oppenheimers Ausgangspunkt ist eine grundsätzliche Kritik an Malthus. Oppenheimer analysiert Malthus’ Schrift ausführlich und kommt dabei zu den (bereits skizzierten) Widerlegungen dessen Bevölkerungsgesetzes.14 Oppenheimer formuliert, die gesellschaftliche Kooperation sorge dafür, dass der Mensch »in dem Maße, wie sich die Bevölkerung verdichtet«, mit immer besseren Kenntnissen und immer wirksameren Werkzeugen 13 Oppenheimer studierte Medizin in Freiburg und Berlin, wo er sich 1885 promovierte. 1909 promovierte er sich ein zweites Mal (zum Dr. phil.). 1919 wurde Oppenheimer auf den Lehrstuhl für Soziologie und theoretische Nationalökonomie an die Goethe-Universität in Frankfurt am Main berufen, wo er bis 1929 lehrte. 1939 floh Oppenheimer vor den Nationalsozialisten erst nach Japan, dann nach China und schließlich in die USA. http://www.franz-oppenheimer.de. Zugriff: 20.1.2010 14 Auch Oppenheimers Kritik ist vehement: Der Malthusianismus jongliere mit Zahlen und habe daher keine »logische und materielle Grundlage«, weshalb er auch nicht mit logischen und materiellen Gründen widerlegt werden könne. Man könne »einem solchen Kraken nicht mit einem wohlgezielten Schlage das Rückgrat brechen; denn er hat kein Rückgrat«. Es genüge auch nicht, die »sieben Köpfe nur abzuhauen«, sondern man müsse sie »auch noch ausbrennen; sonst wachsen sie doppelt nach« (Oppenheimer 1901, 382).
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bei seiner Nahrungsbeschaffung ausgestattet werden würde (Oppenheimer, zitiert nach Mombert 1929, 358). Oppenheimer kehrt die negative Moralisierung der Bevölkerungsdichte in ihr Gegenteil und schreibt ihr die Ursache für das Wachstum der Wirtschaft zu: Die Größe des Marktes sei eine einfache Funktion der Dichte, jede Verdichtung der Bevölkerung ergebe die Vergrößerung des Marktes, die dann zu größerer Arbeitsteilung und höherer Produktivität führe (Oppenheimer 1901, 302). Die Produktivität der Industrie und der Dienstleistungssektoren würde von einer steigenden Bevölkerungsdichte daher grundsätzlich positiv beeinflusst. Weiter diskutiert Oppenheimer die – zu seiner Zeit viel besprochene – Debatte über die maximale Bevölkerungsmenge respektive -dichte von einzelnen Regionen beziehungsweise der gesamten Erde (vgl. S. 110). Oppenheimer kommt zum Ergebnis, dass »leider, oder vielmehr zum Glück« die Voraussetzungen dieser Debatte falsch seien und der Ansatz der Rechenexempel daher unbrauchbar (Oppenheimer 1929, 57). Es gäbe nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, »wo die Grenze der Bevölkerungsdichte in einem einzelnen Lande des Kulturkreises, geschweige denn auf dem ganzen Planeten« liege. Die »absolute Überbevölkerung« läge daher so fern, dass »für eine ernsthafte Wissenschaft die ganze Erörterung ohne jedes Interesse« sei (Oppenheimer 1901, 373). Oppenheimer bezeichnet die ganze Debatte um Malthus’ berühmte Prophezeiung als »ein geistiges Spiel, das mit einem gewissen wohltätigen Gruseln verbunden ist« (Oppenheimer 1929, 47).15 Ein weiterer Protagonist der Debatten zur ›Bevölkerungsfrage‹ (und ebenfalls dem Kreise der ›Kathedersozialisten‹ zuzurechnen) ist der Ökonom Paul Mombert (1876-1938).16 Mombert veröffentlichte im Jahre 1929 seine ›Bevölkerungslehre‹ und fokussiert in diesem Standardwerk der Be15 Oppenheimer kritisiert auch den geopolitischen Kontext der Debatte über die ›Überbevölkerung‹ respektive die maximale ›Volksdichte‹ und schreibt, dass gerade die Deutschen – würde man der dort vertretenen Auffassung folgen – schon »in naher Zeit« nur noch die Alternative hätten, »zwischen dem Hungertode und dem Ausrottungskriege gegen zunächst alle nicht-kaukasischen Rassen und später gegen die weissen Brüder zu wählen« und dabei »eigentlich sehr froh über die Aussicht« sein müssten, dass »unsere eigenen wimmelnden Heerscharen durch diese Kriege wohltätig dezimiert werden« (Oppenheimer 1901, 372). 16 Mombert habilitierte sich 1906 und wurde 1922 zum Professor für Nationalökonomie an der Universität Gießen berufen. 1933 wurde Mombert als »Nichtarier« erst entlassen und 1934 (auf seinen Einspruch) zwangsweise pensioniert. Nach 1933 lebte er in Stuttgart und Trier. Mombert wurde in der Progromnacht 1938 von der Gestapo inhaftiert. Im Dezember 1938 wurde er aus der Haft entlassen, erlag jedoch noch im selben Monat einem Krebsleiden. (Lausecker 2006, 143 und Aly/Heim 1991, 107).
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völkerungswissenschaft explizit auf die Bevölkerungsdichte. Mombert formuliert, dass die Bevölkerungslehre »neben der politischen Ökonomie als selbstständige Gesellschaftswissenschaft« zu betrachten sei, da sie »zu umfassend« geworden wäre, als dass sie noch als Zweig oder Bestandteil der Volkswirtschaftslehre oder Anthropogeographie gelten könne (Mombert 1929, 7). Mombert entfaltet seine Ausführungen anhand eines historischen Rückblicks. Es sei unstrittig, so formuliert Mombert, dass die geschichtliche Entwicklung »infolge des Volkswachstums zu einer immer stärkeren Verdichtung der Menschheit geführt« habe (ebd. 12).17 Dem »Volkswachstum« komme eine »vorwärtstreibende und die gesellschaftliche Ordnung umgestaltende Kraft« zu, allerdings nur, wenn bestimmte »in der Natur des Landes aber auch in den Anlagen seiner Bewohner vorhandene Fähigkeiten« beständen. Eine »bestimmte Volkszahl« sei Voraussetzung einer »bestimmten Stufe der Wirtschaft«, umgekehrt sei eine bestimmte Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung nur dann möglich, wenn »die Dichte der Bevölkerung ein bestimmtes Mindestmaß erreicht« habe. Beide Faktoren hätten bisher die Tendenz bewiesen, »sich dauernd vorwärts, einer höheren Stufe zuzutreiben« (ebd. 243). Es handele sich dabei »keineswegs um einfache Kausalzusammenhänge, sondern um Wechselwirkungen« (ebd. 440), es sei ein »ganz wesentlicher Unterschied«, ob man »in einer Erscheinung die Ursache oder nur die Bedingung dafür« erblicke, dass sich eine bestimmte Entwicklung vollzieht (ebd. 12). Durch die Einführung des Begriffs ›Nahrungsspielraum‹ möchte Mombert das Malthussche Bevölkerungsgesetz qualifizieren, indem der ›gesellschaftliche Entwicklungsstand‹ in die Betrachtung mit einbezogen wird. Unter ›Nahrungsspielraum‹ ist nach Mombert »die zu einer bestimmten Zeit vorhandene Fähigkeit eines begrenzten Gebietes, eines Landes oder auch der ganzen Erde« zu verstehen, bei einer »gegebenen Lebenshaltung eine bestimmte Volkszahl zu ernähren« (ebd. 344). Die Größe des ›Nahrungsspielraumes‹ falle dabei zusammen mit den Lebensmöglichkeiten, »die ein bestimmter Raum bei einer bestimmten Lebenshaltung gibt«. Zudem erweitert Mombert den Ansatz durch die Variable ›Lebenshaltung‹ und stellt damit den ›gesellschaftlichen Verbrauch‹ in die Betrachtung mit ein. Momberts Ansatz ist damit eine Art erweiterter Determinismus: Zum einen bleibt Mombert dabei, dass die »Abhängigkeit des Nahrungsspielraums von der Natur und vom Boden« und deren Erträge »keineswegs 17 Mombert gibt in seinem Werk die Entwicklung der Bevölkerungsdichte in Deutschland. Demnach wuchs die Bevölkerungsdichte von 1,43 EW/ha im Jahre1882 auf 1,59 EW/ha in 1895, 1,95 EW/ha in 1907 und 2,44 EW/ha in 1925 (ebd. 377). Lausecker weist allerdings darauf hin, dass Mombert selbst später die Empirie der Bevölkerungsdaten stark angezweifelt und auf deren große Unzuverlässigkeit hingewiesen habe (Lausecker 2007, 143f.).
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allein von gesellschaftlichen Faktoren bestimmt« werden würden (ebd. 453). Zum anderen stellt Mombert fest, dass sich Volkszahl und Nahrungsspielraum nicht mehr »wie in früheren Zeiten« als zwei objektive Größen gegenüberstünden, sondern dass »das Wollen und Streben der Menschen« dem Verhältnis einen »anderen Charakter« verliehen hätten. Mombert betont, das Größenverhältnis zwischen »Volkszahl und Nahrungsspielraum« sei keine »ewige Kategorie«, sondern abhängig von »bestimmten historisch wandelbaren Voraussetzungen« (ebd. 472). Momberts Konstruktion des Verhältnisses ›Volkszahl zu Nahrungsspielraum‹ ist damit auch der Versuch, das naturdeterministisch geprägte Konstruktion der Bevölkerungsdichte umzudeuten. Im theoretisch-systematischen Teil seiner Bevölkerungslehre rekapituliert Mombert ausführlich das Bewertungssystem der Bevölkerungslehre und dessen Grundbegriffe ›Unterbevölkerung‹, ›Überbevölkerung‹ und ›Bevölkerungsoptimum‹. Kern dieses Systems, so erläutert Mombert, sei die Annahme, dass es als ›Grenzstein‹ ein ›Bevölkerungsoptimum‹ gebe, welches »die Untervölkerung von der Übervölkerung scheide« (ebd. 241). Die Abweichungen von diesem ›Optimum‹ könne man »ganz allgemein als Über- und Untervölkerung bezeichnen«. Beide Male handele es sich um »Relationsbegriffe«, die besagten, dass »die Volkszahl an einer anderen Größe gemessen, zu groß oder zu klein« sei. Das Ergebnis seiner Ausführungen zur ›Bevölkerungsfrage‹ fasst Mombert in der Formel ›L = N / V‹ zusammen, wobei L die Lebenshaltung ist, N der Nahrungsspielraum und V die Volkszahl (ebd. 444). Das ›Bevölkerungsoptimum‹ könne durch Transformation der Formel bestimmt werden: ›V = N / L‹. Die ›optimale Volkszahl‹ wird von Mombert somit definiert als Quotient des Verhältnisses von (optimalem) Nahrungsspielraum zu (optimierter) Lebenshaltung. ›Übervölkerung‹ definiert Mombert als »einen Zustand, bei dem das zahlenmäßige Verhältnis der Volkszahl gegenüber dem Nahrungsspielraum im Vergleich zu einer vorangegangenen Zeit ungünstiger geworden« sei (ebd. 268). Unter einer »relativen Übervölkerung«, so formuliert Mombert, verstehe man eine solche »Dichtigkeit«, die »gegenüber den vorhandenen Lebensbedingungen und volkswirtschaftlichen Aussichten als Druck« empfunden würde (ebd. 261). Das Maßgebende für ›Überbevölkerung‹ seien immer Änderungen in dem Größenverhältnis zwischen »Volkszahl und Nahrungsspielraum mit ihrem Einfluß auf die Lebenshaltung« (ebd. 269). Indikator für das normative Konstrukt ›Überbevölkerung‹ ist also die ›Lebenshaltung‹. Das ausschlaggebende »Überbevölkerungssymptom« ist daher für Mombert auch »der Rückgang des Durchschnittseinkommens und der Lebenshaltung der Bevölkerung für eine längere Zeit« (ebd. 265). Mombert möchte damit zeigen, dass es nicht nur darauf ankomme, was ein Volk produziere, sondern eben auch darauf, was es verbrauche. Und nicht nur bei der Identifizierung der
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Symptome, auch bei der Diskussion der Ursache von ›Überbevölkerung‹ steuert Mombert nach. Bisher sei immer nur die Rede davon gewesen, dass »die Bevölkerung dem vorhandenen Boden und seinen Gaben gegenüber« zu stark zugenommen habe und dass sich daraus »Störungen zwischen Volkszahl und Wirtschaft« ergeben würden. In seinem erweiterten Ansatz stellt Mombert nun mit dem ›Kapital‹ einen dritten Produktionsfaktor in die Betrachtung mit ein (ebd. 352). Die Menge des verfügbaren Kapitals wird damit zu einem Faktor, der neben der Bodenfläche, deren ›Ertragsfähigkeit‹ sowie dem technischen und organisatorischen Entwicklungsstand bestimmend dafür sei, ob eine ›Überbevölkerung‹ herrsche oder nicht. Insgesamt, so resümiert Mombert, könne man »unter dem Gesichtspunkt der Zusammenhänge von Wirtschaft und Bevölkerung« bei der Bevölkerungsfrage »von einem Austausch von Boden gegen Arbeit sprechen« (ebd. 351). Auch das Thema ›Untervölkerung‹ bespricht Mombert ausführlich und verweist auf die von der anti-malthussianischen (pro-natalistischen) Bewegung propagierten Parole »je mehr Untertanen, desto mehr Steuerzahler, desto mehr Soldaten«. Auch die weiteren Argumente des völkischen-nationalen Lagers finden bei Mombert in diesem Zusammenhang Gehör. Er berichtet von der Gefahr einer »langsamen Überfremdung« (ebd. 248) und erläutert diese vermeintliche Gefahr mit der These, dass wenn »ein Land hinter der normalen Bevölkerungsdichtigkeit, die seine ökonomische Arbeit an sich zulassen würde« zurück bleibe, »zwischen diesem Lande und den Ländern mit übermäßiger oder dichterer Bevölkerung ein unaufhaltsamer Menschenstrom« entstehe (ebd. 249). Mombert untermauert diese These mit (zweifelhaften) empirischen Daten.18 Zudem zitiert Mombert auch beim Thema ›Untervölkerung‹ den geopolitischen Diskurs und referiert unkritisch die dort beschworenen »nationalen und politischen Gefahren« durch Untervölkerung (ebd. 249). Das ›Volkswachstum‹, so formuliert Mombert, sei ein »Lebensgesetz der Völker« (ebd. 412).19 18 Mombert behauptet, dass der Anteil von »Fremden« in Frankreich von 26 Prozent im Jahre 1900 auf 70 Prozent im Jahre 1925 gestiegen sei! 19 Auf der anderen Seite führt Mombert eine – besonders in Hinblick auf die derzeitigen Diskurs über den ›demographischen Wandel‹ und Schrumpfungsprozesse (vgl. Kapitel 7.3) – interessante Diskussion zum Thema ›Untervölkerung‹. Die wirklich ernst zu nehmende Form der ›Untervölkerung‹ sei die ›Entvölkerung‹ als Folge eines Bevölkerungsrückganges in einem modernen Industriestaat (ebd. 250). Diese sei vorhanden, »wenn zuvor die Bevölkerung eine größere Dichte aufzuweisen hatte, also die Untervölkerung die Folge einer Abnahme der Volkszahl ist« (ebd. 247). Der »Bevölkerungsschwund« könne »Dörfer und Höfe veröden« lassen. Mombert zitiert zeitgenössische Beobachter aus Frankreich, die von der »völligen Unverkäuflichkeit ländlicher Besitzungen« berichteten. Dabei
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Mombert entwickelte seine Theorie in einem Umfeld, das bereits stark mit völkischen, nationalen, rassistischen und biologischen Stimmungen durchsetzt gewesen ist. Und er bewegt sich dabei – vor allem im systematischen Teil seiner Bevölkerungslehre – auf dünnem Eis. Mombert gerät in diesem Teil an die Grenzen der Disziplin und muss immer wieder vor der Komplexität der Faktoren, die seine Bevölkerungstheorie bestimmen, kapitulieren. Insgesamt müsse man, so zweifelt Mombert selbst an seinem »historischen Bevölkerungsgesetz«, gut überlegen, ob »man überhaupt für solche Zusammenhänge, die in sich so wenig bestimmt sind, den Ausdruck ›Gesetz‹ gebrauchen« solle (Mombert 1929, 472), denn die Möglichkeiten lägen hier »so vielgestaltig und so verwickelt, daß sie im folgenden gar nicht erschöpft werden können« (ebd. 250). Mombert ist sich (im Gegensatz zu einigen seiner Zeitgenossen) zwar durchaus bewusst, dass er sich mit seiner Bevölkerungstheorie an einem Modell versucht und schreibt, dass »der Begriff des Bevölkerungsoptimums natürlich nur ideellen Wert« habe. Niemand sei in der Lage festzustellen, »ob ein solches Optimum in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Lande vorhanden« sei, da niemand sich eine genaue Vorstellung davon machen könne, wie sich »der Nahrungsspielraum eines Landes, namentlich bei steigender Volkszahl, weiter zu entwickeln vermag« (ebd. 145). Mombert reproduziert in seiner Arbeit jedoch dennoch fortwährend das System der Bevölkerungslehre, das sich in den Begriffen ›Überbevölkerung‹, ›Unterbevölkerung‹ und ›Bevölkerungsoptimum‹ manifestiert. Und er trägt damit zu einer Verfestigung eines Denkstils bei, der weiterhin die Welt über den Blick auf das Verhältnis von Bevölkerung zur Fläche (zum Raum, zum Nahrungsspielraum) erklären möchte. Mombert ist sicherlich kein Vertreter der völkischen-nationalen respektive eugenisch-rassistischen Bevölkerungslehre und –politik (vgl. Kapitel 4.2), sein Ansatz zeichnet sich durch eine »vielfach abwägende Multiperspektivität auf der Basis einer breiten Rezeption internationaler Literatur« aus, in der sich »vielfach kritische Einwände gegen simplifizierende Konstruktionen« finden lassen (Lausecker 2006, 144f.). Momberts Bevölkerungslehre hebt sich damit deutlich von den völkischen und eugenischen Beiträgen ab, die das Forschungsfeld zu dieser Zeit schon deutlich dominierten. Mombert definiert Bevölkerung »dezidiert nicht ›völkisch‹«, auch das »Bevölkerungsoptimum« bestimmt er nicht als »idealtypischen Begriff« oder als »Planungsgrundlage« (ebd.). Allerdings schuf Mombert mit seiner entstehe die Gefahr des »Abgleiten des Volkes von einer höheren Stufe wirtschaftlicher Kultur und politischer Bedeutung« (ebd.). Der Rückgang des »Volkswachstums« könne allerdings auch positive Folgen haben und es könne sich eine gesellschaftliche Ordnung bilden, bei der »das Schwergewicht mehr auf der kulturellen als auf der rein ökonomischen Seite« läge (ebd. 463).
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Formel und dem Modell des ›Bevölkerungsoptimums‹ eine wichtige Voraussetzung für die planerische Anwendung, die dann auch nur wenig später in der deutschen Raumplanung (und hier vor allem bei den Ostplanungen) folgen sollte (vgl. Kapitel 5.2). In der kritischen Analyse der Bevölkerungslehre wird der ›Mombertschen Formel‹ daher auch die »Reduktion komplexer sozialer Vorgänge und Gegensätze auf mathematische Kürzel« vorgeworfen, deren Faktoren sich »beliebig dividieren und multiplizieren« ließen (Aly/Heim 1991, 106f.). Mit Hilfe der Theorie vom ›Bevölkerungsoptimum‹ ließ sich »jede Begleiterscheinung einer Wirtschaftskrise als ein Zuviel oder Zuwenig von Bevölkerung« ausdrücken, egal ob es sich um Armut oder Arbeitslosigkeit, um Kapital- oder Rohstoffmangel, fehlende Absatzmärkte oder geringe Arbeitsproduktivität handelte (ebd.). Damit wird Momberts Bevölkerungslehre nicht nur als Teil des bevölkerungswissenschaftlichen Diskurses in den 1920er und 1930er Jahren eingeordnet, sondern auch als Voraussetzung für die folgende Entwicklung der Bevölkerungspolitik und Raumplanung (vgl. die nachfolgenden Kapitel). Zusammenfassend lässt sich beim Blick auf den bevölkerungswissenschaftlichen Diskurs festhalten, dass das Verhältnis von ›Bevölkerung zu Ernährungskapazität‹ schon in der Antike eine bedeutende Rolle spielte und die entsprechende Thematisierung die Debatte der Neuzeit stark vorgeprägt hat. Das besagte Verhältnis ist sehr eng mit dem (später entwickelten) Konstrukt der Bevölkerungsdichte verbunden und bildet den Kern von Malthus berühmten Essay, dessen Schrift als der neuzeitliche Ursprung des entsprechenden Diskurses bezeichnet werden kann. Die Diskussion um Malthus wiederum spaltete die Diskussion über die Bewertung der Bevölkerungsdichte. Auf der einen Seite gab es eine negative Moralisierung, mit der (eng an das Konstrukt ›Überbevölkerung‹ angelehnt) ›hohe Dichte‹ als nationales Grundproblem konstruiert wurde. Der geopolitische Diskurs über das Verhältnis von ›Volk ohne Raum‹, über den bereits im Kapitel 3.2 berichtet wurde, ist somit nicht nur ein (in der Geographie initiierter) Raumdiskurs, sondern genauso ein (in der Bevölkerungslehre voran getriebener) Bevölkerungsdiskurs. Auf der anderen Seite wurde genau das Gegenteil behauptet und eine hohe Bevölkerungsdichte (mehr oder minder deutlich) als positives, fortschrittsgarantierendes Element und als Voraussetzung (oder Ursache) für kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt konstruiert. Die von den deutschen Reformsozialisten um die Wende zum 20. Jahrhundert vertretene Haltung (die Bewertung von ›hoher Dichte‹ als etwas Positives) wurde geradezu zum Erkennungszeichen für einen reformerischen Fortschrittsoptimismus, genauso wie die Bewertung von ›hoher Dichte‹ als etwas Negatives zum Inbegriff einer politisch konservativen Grundhaltung geworden ist. Bestandteil der konservativen Position war ein tiefes Misstrauen gegenüber jeder ›Ballung‹, aufbauend auf der These, dass die ›hohe Dichte‹ den
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Nährboden für soziales Elend und revolutionären Umsturz bereite. Neben diesen beiden Positionen steht der Marxsche Standpunkt. Marx verdeutlicht die gesellschaftliche Bedingtheit jeglicher Bevölkerungstheorie und formuliert dabei eine generelle Kritik an der unreflektierten Reduktion von gesellschaftlichen Verhältnissen (etwa auf ein Zahlenverhältnis). Daher beteiligt sich Marx auch nicht an der Diskussion über die positive oder negative Bewertung von hoher oder niedriger Bevölkerungsdichte und begegnet dem Konstrukt mit Skepsis.
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In diesem Kapitel wird die Fortentwicklung der Bevölkerungswissenschaft in den 1930er und 1940er Jahren betrachtet. Die qualitativen Konzepte der ›Überbevölkerung‹ und der ›Unterbevölkerung‹ sind ein wichtiger Bestandteil dieser Debatten, und auch die Bevölkerungsdichte ist in diesem Zusammenhang weiterhin präsent, wenn auch weniger exponiert als in den Bevölkerungsdiskursen davor (und auch danach). Dennoch ist (meines Erachtens) die Entwicklung des ›Bevölkerungsdenkens‹ im nationalsozialistischen Diskurs auch für die Einordnung und Bewertung des Konstrukts ›Dichte‹ von Bedeutung. Und zwar zum einen deshalb, weil sich weiterhin das Verhältnis von ›Volk zu Raum‹ im Mittelpunkt der Debatte befindet (wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen). Zum anderen, weil im Bevölkerungsdiskurs im NS-Staat die ›wissenschaftlichen‹ Grundlagen für die Konzepte und Ansätze der Raumplanung erstellt wurden (vgl. Kapitel 5) und das Verständnis der Konstruktion von ›Dichte‹ (ihrer Definition und ihrem Gebrauch) in jenem Kontext erst ermöglichen. Anfang des 20. Jahrhunderts veränderte sich die Bevölkerungswissenschaft in zweifacher Hinsicht. Zum einen löste sich die Bevölkerungslehre von der Nationalökonomie und beanspruchte einen Platz als eigenständige Disziplin. Während diese Abkoppelung in den Wirtschaftswissenschaften zu einer Abkehr von demographischen Fragestellungen führte, verschob sich der Schwerpunkt in der Bevölkerungswissenschaft selbst zur Biologie und zur Medizin (Marschalck 1999 und 2004), wodurch die Bereiche Volks-, Kulturboden- und Raumforschung sowie die ›Rassenhygiene‹ und die ›Eugenik‹ zu Kernbereichen der Disziplin wurden (von Brocke 2004). Zum anderen gewann die Praxis- und Nachfrageseite der Bevölkerungslehre an Bedeutung und wurde dabei zu einem wichtigen Baustein des nationalsozialistischen Begründungszusammenhangs. Die biopolitisch begründete ethnische Homogenisierung und Segregation (die Inklusion des ›Eigenen‹ und die Exklusion des ›Fremden‹) bildeten in der Weimarer Republik den politischen
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Hintergrund für den Aufstieg des Bevölkerungsdenkens (Pinnwinkel 2006, 65). Die nationale Gesundheits- und Sozialpolitik orientierte sich rhetorisch zunehmend am ›Volkskörper‹, in den politischen und wissenschaftlichen Diskursen wurde es selbstverständlich, zwischen ›lebenswerten‹ und ›lebensunwerten‹ Leben zu unterscheiden (Ehmer 2004, 30). In der akademischen und praxisorientierten Wissenschaft waren in den 1920er Jahren die Konzeptionen einer ›rassenhygienischen‹ Bevölkerungspolitik weit verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert, und viele Bevölkerungswissenschaftler entwickelten explizit bevölkerungspolitische Ambitionen. Dieser Diskurs wurde in den 1930er Jahren mehr und mehr radikalisiert, von radikalen Strömungen in Politik, Wissenschaft und Verwaltung wurde die Realisierung von bevölkerungspolitischen Maßnahmen nun vehement gefordert (Ehmer 2004, 33). Seit den 1880er Jahren hatte sich in Deutschland die ›eugenische‹ und ›rassenhygienische‹ Bewegung ausgebreitet. Begründer der ›Eugenik‹ ist der britische Anthropologe Francis Galton (1822-1911), der den Begriff als »Wissenschaft von der Verbesserung der Rasse« definierte (Petermann 2004, 127). Das Konzept beruht auf den Theorien von Charles Darwin, der wiederum seine Idee der Evolutionstheorie aus Malthus Bevölkerungsgesetz abgeleitet hat und in enger geistesgeschichtlicher Verbindung zu Galton stand (Birg 2005a, 94). Der Ansatz der ›Eugenik‹ war es, »durch das Begünstigen der Fortpflanzung gesunder Individuen« die »Erbanlagen in der Bevölkerung« langfristig zu verbessern. In der deutschsprachigen Forschung wird die ›Eugenik‹ in die Strömungen ›Rassenhygiene‹ (als radikale Form) und ›Sozialhygiene‹ (als gemäßigte Form) unterschieden. Die ›sozialhygienische‹ Bewegung war neomalthusianisch orientiert und unterstützte Maßnahmen für Sexualaufklärung und Geburtenkontrolle. In der ›Rassenhygiene‹ wurde dagegen die »Volksvermehrung« als Bedingung für den Erfolg im »Kampf der Völker ums Dasein« propagiert. Die Verfechter einer ›eugenischen‹ und ›rassenhygienischen‹ Bevölkerungspolitik gewannen in den 1920er Jahren an Einfluss und Macht und beherrschten zunehmend den Bevölkerungsdiskurs in Wissenschaft und Öffentlichkeit (Ehmer 2004, 25f.).1 Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die Bevölkerungswissenschaften und das Rassenparadigma auf eine neue Bedeutungsebene gehoben, die nationalsozialistische Diktatur schuf die Rahmenbedingungen, in denen sich eine rassistische staatliche Bevölkerungspolitik ungehindert entfalten konnte (ebd. 33). Die Protagonisten des ›Rassendenkens‹ und der ›Rassenhygiene‹ gelangten nun in die entscheidenden Machtpositionen des Wissenschaftsapparats, das in den Bevölkerungswissenschaften 1
Auch die Deutsche Gartenstadtgesellschaft (vgl. Kapitel 6.2) war ein Sammelbecken für die Vertreter der eugenischen Bewegung (Schubert 2004, 42).
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bisher nur Angedachte konnte in politische Realität umgesetzt werden (Henßler 2006, 119). Da die »massive Beeinflussung der Bevölkerungsvorgänge« zu den Hauptzielen der Nationalsozialisten zählte, gewann die Bevölkerungswissenschaften nach 1933 stark an Einfluss. Quantitative und qualitative Bevölkerungspolitik wurde im NS-Staat vereinigt, gemeinsame Ziel war es dabei, »der Gesundhaltung der Erbmasse und der Erhaltung der Volkszahl« zu dienen (Ehmer 2004, 35). Umgesetzt wurden »pronatalistische« Maßnahmen wie die Gewährung von zinslosen Darlehen für Ehepaare für die Einrichtung eines Haushaltes, bei denen die Frau auf Erwerbsarbeit verzichtete, sowie Kinderbeihilfen, Steuernachlässe für kinderreiche Familien und die Verschärfung der Strafen für Abtreibung. Die in der Bevölkerungslehre entwickelten Konzepte ›Überbevölkerung‹ und ›Unterbevölkerung‹ standen für die bevölkerungspolitischen Diskurse der NS-Zeit bereit. Jedes wirtschaftliche und soziale Problem wurde nun – auf Grundlage der Bevölkerungswissenschaft – als Folge der Überbevölkerung erklärt. Dabei bediente sich die nationalsozialistische Propaganda sowohl der Überbevölkerungs- als auch der Unterbevölkerungsthese, obwohl es sich dabei ja eigentlich um zwei entgegengesetzte Erklärungsmuster handelt. Zum einen wurde die Gefahr der ›Überbevölkerung‹ herauf beschworen und ein ›Bevölkerungsdruck‹ behauptet. Zum anderen wurde aber auch die Gefahr der ›Unterbevölkerung‹ konstruiert und damit die Angst vor einem Geburtenrückgang und die Sorge um die ›Arterhaltung‹ zum Ausdruck gebracht. Der Diskurs zur ›Überbevölkerung‹ kann ebenfalls in zwei Grundrichtungen unterschieden werden. Zum einen wurde ›Überbevölkerung‹ im bereits skizzierten geopolitischen Diskurs thematisiert. Hier wurde der Blick auf das deutsche Reich gerichtet. Anhand des Verhältnisses ›Bevölkerung zur Bodenfläche‹ wurde ein herrschender ›Bevölkerungsdruck‹ konstruiert und damit der deutsche Expansionsdrang begründet und legitimiert (vgl. Kapitel 3.2). Zum anderen war die Überbevölkerungsthese Bestandteil eines bevölkerungswissenschaftlichen Diskurses, in dem für Osteuropa eine solche ›Überbevölkerung‹ behauptet und in Malthusscher Tradition als sozialer Missstand konstruiert wurde, aus dem die Gefahr eines politischen Umsturzes hervor gehe. Auch in dieser bevölkerungswissenschaftlichen Debatte bediente man sich der bekannten Analyseinstrumente. Ein wichtiger Exponent im Diskurs ›Überbevölkerung in Osteuropa‹ ist der Direktor des Königsberger Instituts für Osteuropäische Wirtschaft Theodor Oberländer (1905-1998),2 sein Hauptwerk Die agrarische Bevölke2
Oberländer studierte Landwirtschaft und Volkswirtschaftslehre. 1923 beteiligte er sich am gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch und trat 1933 in die NSDAP ein. Nach dem Krieg wurde Oberländer 1953 (inzwischen Mitglied der CDU) Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte in der BRD.
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rung Polens von 1935 gilt als das »wissenschaftliche Begleitwerk der Ostexpansion« (Aly/Heim 1991, 96). Oberländer erstellt die Diagnose ›Überbevölkerung‹ mit volkswirtschaftlichen Methoden (unter anderem mit der Bevölkerungsformel von Paul Mombert) und analysiert, die ›agrarische Überbevölkerung‹ mache das Land anfällig für eine Revolution nach russischem Vorbild (ebd.). In seiner Veröffentlichung Die Bevölkerungsdichte im Generalgouvernement schreibt Oberländer: »Die außerordentlich dichte Besiedlung dieses Raumes, die zu überschüssiger Arbeitskraft und zu sozialen Spannungen führt, ist eine Tatsache, die bei allen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Maßnahmen in diesem Raum in Rechnung gesetzt werden muß« (Oberländer 1940, 52f.). Oberländer quantifiziert »die agrarische Überbevölkerung des Generalgouvernement«:3 Zwei Drittel der Bevölkerung seien für die dort betriebene Landwirtschaft »nicht notwendig, obwohl sie davon leben« (ebd.). Oberländer führt weiter aus, dass »der Bedarf des Reiches an Arbeitskräften während des Krieges« zwar für die »agrarische Überbevölkerung sehr gute Arbeitsmöglichkeiten« geschaffen habe, diese jedoch nicht von Dauer wären, weil »die Einheit an Blut und Boden die Beschäftigung polnischer Landarbeiter bald nach dem Kriege« ausschließe (ebd.). ›Überbevölkerung‹ wird in diesem bevölkerungswissenschaftlichen Diskurs als das zentrale Problem konstruiert, als »eine der ernstesten gesellschaftlichen und politischen Fragen überhaupt« (Aly/Heim 1991, 102). Armut, Arbeitslosigkeit und alle anderen sozialen Probleme begriffen Bevölkerungswissenschaftler und Sozialingenieure wie Oberländer als »Folge eines ständig wachsenden Menschenüberschusses«, dessen Lösung die »Entlastung des Bevölkerungsdrucks« sein müsse (ebd. 103). Als ›Optimum‹ galt die Bevölkerungszahl, die es erlaubte, aus den jeweiligen ökonomischen Ressourcen eines Gebietes den höchstmöglichen Ertrag zu erwirtschaften. Oberländer verbindet – anhand des Analyseinstrumentes Bevölkerungsdichte – in seiner Argumentation mühelos den bevölkerungswissenschaftlich (respektive volkswirtschaftlich) erprobten und eingeführten Theorieansatz mit der NS-Ideologie und ihrer Unterscheidung in ›notwendige‹ und ›nicht notwendige‹ Bevölkerung.
In der DDR wurde Oberländer 1960 für die Verantwortung an der Erschießung von mehreren tausend Juden und Polen angeklagt und in Abwesenheit zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. 1960 trat er aufgrund dieser Vorwürfe von seinem Ministerposten zurück. (Aly/Heim 1991, 94) 3
Der Begriff ›Generalgouvernement‹ bezeichnet die 1939 bis 1945 von Deutschland militärisch besetzten Gebiete in Polen, die nicht in das Reichsgebiet eingegliedert wurden.
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Oberländers Stellvertreter Hans-Jürgen Seraphim (1899-1962)4 steht für eine weitere Verknüpfung dieser Art und verbindet die ›Bevölkerungsfrage‹ mit der ›Judenfrage‹. Seraphim zeichnet in seinem Hauptwerk Das Judentum im osteuropäischen Raum das Bild einer dramatischen »Judenballung« vor allem in den osteuropäischen Städten, das zu sozialer Verelendung und Zersetzung führe. Die Städte würden nicht zuletzt durch den »spezifisch orientalischen Geruch« in den »Judenghettos« ein höchst eigenartiges und »äußerst fremdartiges städtisches Lebensbild« abgeben (Seraphim 1938, 371). Seraphim doziert über die Juden als »fremdrassiges Element« innerhalb einer »doch verhältnismäßig homogenen Umwelt«. Er führt »bewusst« die Begriffe »Wertigkeit der Menschengruppen« (ebd. 658f.) sowie »Judendichte« ein. In verschiedenen kartographischen Darstellungen wird die ›Judendichte‹ einzelner Städte und Länder gezeigt (ebd. 322, 323 und 343), und es werden Diagramme über Städte in Polen nach ihrer Größe und ihrem »Verjudungsanteil« erstellt (ebd. 345). In Seraphims Denken »wird die ›soziale Frage‹ – das Problem von Überbevölkerung und Verarmung – identisch mit der Judenfrage« (Aly/Heim 1991, 100), und auch hier offenbart sich der Einfluss der bevölkerungswissenschaftlichen Theoriearbeit – Seraphim arbeitete wie Oberländer mit Momberts Bevölkerungsformel. In eine Gleichung gesetzt konnten die sozialen Konflikte und Krisen der industriellen Entwicklung rechnerisch als ein ›Bevölkerungsproblem‹ konstruiert werden, diese Reduktion erlaubte den »planerischen, ›logisch‹ erscheinenden Zugriff« auf die widersprüchliche Realität (Aly/Heim 1991, 106). In der Verbindung von Bevölkerungsfrage und Judenfrage etablierte sich bei den Bevölkerungswissenschaftlern der Nationalsozialisten die Sicht, dass die »›normalen‹ Verluste des Krieges, aber auch die planmäßige Tötung von Menschen […] im Interesse des volkswirtschaftlichen Gleichgewichtes standen« (ebd.). Oberländer und Seraphim sind nur zwei Beispiele für die bevölkerungswissenschaftlichen Legitimationsstrategien des NS-Apparates. Auch andere Statistiker, Demographen und Volkswirtschaftler errechneten en detail die ›überschüssige Bevölkerung‹ in Osteuropa (vgl. Aly/Heim 1991, 109). Die deutschen Wirtschafts- und Bevölkerungsexperten forderten die Verminderung der ›Überbevölkerung‹, »also der nach Millionen zählenden, von ihnen so genannten ›bloßen Mitessern‹« (ebd. 489). Die Wurzeln der Bevölkerungswissenschaft in der Wirtschaftstheorie hatten dabei erhebli4
Seraphim promovierte 1923 in Jena und wurde 1934 auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie an der Universität Leipzig berufen. Von 1941 bis 1944 leitete Seraphim die Abteilung Wirtschaft am Osteuropa-Institut in Breslau im Niederschlesien. Von 1950 bis 1962 war Seraphim Direktor des Institutes für Siedlungs- und Wohnungswesen an der Universität in Münster.
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chen Einfluss auf die bevölkerungspolitischen Handlungsansätze (Esch 2006, 144).5 Die Ausführungen von Oberländer und Seraphim zeigen, dass der wissenschaftliche Überbau mit zwei unterschiedlich strukturierten Argumentationslinien unterlegt wurde. Der bevölkerungswissenschaftlich begründete Zweig thematisierte Mängel in der sozioökonomischen und demographischen Struktur und bezeichnete diese als Kardinalproblem für den Aufbau einer leistungsfähigen Volkswirtschaft. Die andere (politisch und national) motivierte Herleitung benannte »eine ethnisch definierte Gruppe als fremd und unerwünscht«. Beide Diskurse ließen sich jederzeit miteinander verbinden (ebd. 142). Anhand dieser doppelgleisigen Überbevölkerungsthese wurden in der NS-Ideologie viele Millionen Menschen als ›unproduktiv‹ und ›überzählig‹ gestempelt, aus dieser Analyse wurde abgeleitet, dass die Bevölkerung regional ›reduziert‹ werden müsse. Neben der Überbevölkerungsthese stand die Unterbevölkerungsthese. Auch dieser Diskurs wurde im bevölkerungswissenschaftlichen respektive – politischen Kontext intensiv geführt. Paradoxerweise war nämlich die empirische Basis des behaupteten ›Bevölkerungsdrucks‹ der geopolitischen ›Volk ohne Raum‹-These relativ schwach, im Jahre 1911 erschien in Deutschland erstmals der Begriff ›Geburtenrückgang‹ in der bevölkerungswissenschaftlichen Diskussion (Marschalck 1999, 54). Im deutschen Reich sanken nicht nur (wie schon seit längerem) die Geburtenzahlen, auch die Gesamtbevölkerung Deutschlands schrumpfte seit den 1920er Jahren (Grundmann 2004, 328). Bald formierte sich darauf eine – insbesondere durch die katholische Kirche unterstützte – Gegenbewegung zum ›Antinatalismus‹ der Neomalthusianer, die fortan den Geburtenrückgang »publizistisch bekämpfte« (ebd.) und damit die Bevölkerungspolitik in das Zentrum einer weiteren umfangreichen öffentlichen Diskussion rückte. Das öffentliche Interesse an diesem Thema wurde zu einer »wahren Obsession« und führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einer »biologistischen Aufladung« der aufkommenden nationalsozialistischen Bewegung, sie wirkte als »Scharnier zwischen Nationalsozialismus und Biologismus« (Ehmer 2002, 26). Als wichtiger Vertreter dieses Diskurses gilt Friedrich Burgdörfer (1890-1967),6 der führende Bevölkerungsstatistiker seiner Zeit (Vienne 5
Die Konkretisierung dieser Strategien von den Raumplanern des nationalsozialistischen Machtapparates (und der dortige Gebrauch von Bevölkerungsdichte) sind Gegenstand des Kapitels 5.2.
6
Burgdörfer studierte Staatswissenschaften und promovierte sich im Jahre 1916. Danach trat er in den Staatsdienst ein und wurde 1921 Regierungsrat im Statistischen Reichsamt in Berlin und 1929 Direktor der Abteilung Bevölkerungsstatistik. 1933 wurde er in den ›Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Ras-
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2004, 154). Burgdörfer veröffentlichte im Jahre 1932 seine Schrift Volk ohne Jugend, die in der deutschen Öffentlichkeit großen Anklang fand. Eingeleitet wird das Werk von einem Zitat Adolf Hitlers: »Deutschland darf nicht enden mit uns, Deutsches Leben darf nicht versiegen« (in: Burgdörfer 1935 [1932], XIII). Auch Burgdörfer liefert eine Variante des »Volk-RaumProblems« und beklagt, dass das deutsche Volk seinen »eigenen Bestand durch Kinderlosigkeit und Kinderarmut und damit auch den ihm verbliebenen Raum« gefährden würde (ebd. 434f.). Wahrer ›Lebensraum‹, so erläutert Burgdörfer diese These, würde nur »durch deutsche Geburten und deutschen Willen« gewonnen. Burgdörfer bezeichnet den »Geburtenschwund« und die »Überalterung des deutschen Volkskörpers« als »die Lebensfrage des deutschen Volkes« (ebd., Hervorhebung im Original). Es gebe nur einen Ausweg, nämlich die »hoffnungsmutige und glaubensstarke Tat«, zu der »die nationalsozialistische Regierung, wie keine vor ihr, berufen und entschlossen« sei. Zur »Lösung des inneren Raumproblems« propagiert Burgdörfer die »Verwurzelung der städtischen Familien im heimischen Boden« und die »Auflockerung der Großstädte« durch »Förderung der Rück- und Umsiedlung von der Stadt aufs Land« (ebd. 491).7 Burgdörfer fasst die bevölkerungspolitische Doktrin der NS-Ideologie zusammen: Eine »volksund rassenbewußte« Bevölkerungspolitik werde »quantitative und qualitative Ziele miteinander verbinden und zugleich anstreben müssen«. Das Mindestziel einer solchen »eugenisch orientierten Bevölkerungspolitik« sei die »Erhaltung des Volksbestandes nach Zahl und Art« (ebd. 453).8
senpolitik‹ im Reichsinnenministerium berufen und 1939 Präsident des Bayrischen Statistischen Landesamtes. 1945 wurde Burgdörfer von der amerikanischen Militärregierung entlassen. Ab 1949 erhielt Burgdörfer wieder Lehraufträge an der Universität in München und wurde Burgdörfer Ehrenmitglied der ›Deutschen Statistischen Gesellschaft‹. 7
Burgdörfer bedient damit den Diskurs der Agrarromantik und der Großstadt-
8
Burgdörfer wurde auch mit einer Machbarkeitsanalyse des so genannten ›Mada-
feindschaft, vgl. dazu ausführlich Kapitel 6.2 und 6.3. gaskar-Plans‹ beauftragt. Dieser Plan war vom Auswärtigen Amt in Zusammenarbeit mit dem Reichssicherheitshauptamt entwickelt worden. Ziel war es, die jüdische Bevölkerung auf die französische Kolonie umzusiedeln. Der Plan gilt als Vorlaufplanung zum Holocaust (vgl. Aly/Heim 1991, 257f). Burgdörfer berechnete in diesem Rahmen die Bevölkerungsdichte der Insel und kam zu dem Schluss, dass, wolle man die »Insel ausschließlich den Juden vorbehalten«, sich »bei 6,5 Mill. Juden auf der Insel eine Bevölkerungsdichte von immerhin 10 je qkm ergeben« würde, die sich im Falle der »Belassung der alteingesessenen Bevölkerung auf etwa 16 je qkm erhöhen« würde, ein Wert, der sich »innerhalb des
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Der offensichtliche Widerspruch zwischen der Unterbevölkerungsthese der Bevölkerungslehre und der Überbevölkerungsthese der Geopolitik wurde im Bevölkerungsdiskurs der Nationalsozialisten kaum thematisiert. ›Überbevölkerung‹ wie ›Unterbevölkerung‹ wurden einfach gleichzeitig behauptet, »man konnte damit leben« (Grundmann 2004, 330). Dem Widerspruch der ›Bevölkerungsfrage‹ (wenn er überhaupt zur Kenntnis genommen wurde) wurde mit der volkswirtschaftlicher Argumentation begegnet, dass der ›Bevölkerungsdruck‹ eben auch bei schrumpfender Bevölkerung entstände, nämlich dann, wenn das Wachstum der gesellschaftlichen Bedürfnisse das Schrumpfen der Bevölkerung kompensiere und damit wiederum auf Momberts Theorie und seine Ausdifferenzierung der Bevölkerungslehre (anhand der Einführung der Variable ›Lebenshaltung‹) rekurriert (ebd.). Zudem wurde mit der Wendung vom quantitativen Bevölkerungsbegriff zum qualitativen Begriff des ›Volkes‹ die rassistische Dimension des ›Problems‹ betont und der Diskurs einfach auf eine andere Ebene gestellt: »›Bevölkerung ist abstrakt, individualistisch, atomistisch gedacht. […] Der Begriff ›Volk‹ dagegen geht – wenigstens nach der geläuterten heutigen Auffassung – von einer biologisch-organischen Betrachtungsweise aus. Volk ist nicht eine amorphe Summe von Individuen, sondern ein organisches Gebilde, ein Organismus. Wir sprechen mit Recht und mit Absicht von einem Volkskörper, einem Volksleib, dessen Zellen nicht die einzelnen Individuen in ihrer Isolierung, sondern die Familien sind, die bluts- und rassemäßig, sowie nach Sprache, Sitte und Kultur dem gleichen Volkstum angehören« (Burgdörfer 1934, zitiert nach Mackensen 2004, 9). Damit konnte auch in der bevölkerungspolitischen Debatte je nach Bedarf (etwa wenn bevölkerungswissenschaftliche Argumentation und empirische Datenlage nicht mehr übereinkamen) auf die völkische (›eugenische‹, ›rassenhygienische‹) Begründung zurück gegriffen und die »Rassenverbesserung durch Geburtenbeschränkung« genauso propagiert werden wie der »moralische Zwang zur bestandserhaltenden Fortpflanzung« (Marschalck 1999, 56). Der bevölkerungswissenschaftliche Diskurs in den 1930er und 1940er Jahre, so lässt sich resümieren, beschäftigte sich in erster Linie mit der Konstruktion von ›Überbevölkerung‹ in Osteuropa und mit der Konstruktion von ›Unterbevölkerung‹ im deutschen Reich. Die ›Überbevölkerung‹ im deutschen Reich wurde dagegen vor allem im parallelen geopolitischen Diskurs behauptet. In allen drei Diskursen vereinigt sich der bevölkerungstheoretische mit einem ›rassenhygienischen‹ respektive ›eugenischen‹ Denkansatz. Götz Aly und Susanne Heim bezeichnen die ›Bevölkerungsfrage‹ als das zentrale Konstrukt der NS-Politik. Der Terminus beschreibe kein objeknatürlichen Fassungsvermögens der Insel« halte (Burgdörfer 1940, zitiert nach Vienne 2004, 154).
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tives Faktum, es handele sich vielmehr um einen »wissenschaftlich aufgewerteten politischen Kampfbegriff«, der verwendet wurde, um den Status Quo der Machtverteilung aufrechtzuerhalten und mit dem die Krisen und Probleme der Zeit als ein »Zuviel an Bevölkerung« definiert wurden (Aly/Heim1991, 76). In den »sozialwissenschaftlichen Begründungen für die ›Notwendigkeit‹, die Bevölkerung Europas insgesamt zu verringern und neu zu strukturieren« liege der »Schlüssel für das Warum« (ebd. 481). Der bevölkerungswissenschaftliche Überbevölkerungs-Diskurs wird von Aly und Heim als eine entscheidende Voraussetzung für den späteren Massenmord bezeichnet (ebd. 17). Der Begriff Bevölkerungsdichte selbst wird im expliziten Bevölkerungsdiskurs des NS-Staates auf den ersten Blick dagegen weniger exponiert verwendet als im geopolitischen Diskurs (etwa bei Haushofers geopolitischen Thesen und dessen Konstruktion des ›Druckquotienten‹). Zu einer anderen Einschätzung kann man jedoch gelangen, wenn man das Betrachtungsfeld mit der Hinzuziehung der Raumplanung um eine weitere Disziplin erweitert. In der Raumplanung – bei der planerischen Umsetzung der bevölkerungswissenschaftlichen Grundlagen – rückt das Konstrukt Bevölkerungsdichte als Analyse- und Zielvorgabe wieder in den Vordergrund (vgl. Kapitel 5.2).
4.3 O BSOLETE D ICHTE Der Zusammenbruch des ›Dritten Reichs‹ im Frühjahr 1945 hatte für die Bevölkerungswissenschaft einen deutlichen Bruch bewirkt, da die Disziplin (vor allem in Bezug auf die skizzierten ›eugenischen‹, rassistischen und antisemitischen Bestandteile) wohl noch stärker belastet war als die Geopolitik und die ›Politische Geographie‹ (Kapitel 3.3). Die Protagonisten der Bevölkerungswissenschaft, die das Forschungsfeld ›Bevölkerung‹ in der Weimarer Republik und im ›Dritten Reich‹ geprägt hatten, fanden zwar schnell wieder Anschluss an ihre wissenschaftlichen oder politischen Laufbahnen (vgl. auch die biographischen Hinweise zu Oberländer S. 149, Seraphim S. 151 und Burgdörfer S. 152), in den demografischen Diskursen der frühen Bundesrepublik wurde an die Forschungen vor 1945 angeknüpft (Pinnwinkel 2006, 66). Als eigenständige Disziplin blieb die wissenschaftliche und politische Bedeutung der Bevölkerungslehre in Deutschland jedoch erst einmal deutlich geringer und konnte nicht an ihre Rolle in den 1920er und 1930er Jahren anknüpfen. Während die Bevölkerungswissenschaft wegen ihrer massiven und nicht zu verleugnenden Verstrickungen in den Kern des NS-Apparates (und dessen Ideologie) als eigene Wissenschaft nicht weiter bestehen konnte, hatte man sich inzwischen in den Wirtschaftswissenschaf-
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ten (als eigentliche Heimat der Bevölkerungslehre) jedoch weitgehend von den ›Bevölkerungsfrage‹ gelöst und anderen Themen zugewandt. Eine Sonderstellung im bevölkerungswissenschaftlichen Diskurs nimmt das von Ernst Wagemann (1884-1956)1 aufgestellte Alternationsgesetz der wachsenden Bevölkerungsdichte ein.2 Wagemann leitet seinen Ansatz aus dem bevölkerungswissenschaftlichen Fundus ab, hat mit seinem sehr dezidierten Fokus auf die Bevölkerungsdichte jedoch einen starken räumlichen Ansatz und daher auch eine deutliche geographische Konnotation. Wagemann versucht die alte Frage zu beantworten, ob eine hohe Bevölkerungsdichte zu ›Überbevölkerung‹ und Nahrungsknappheit führe oder im Gegenteil zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlergehen. Wagemanns Auflösung dieser widersprüchlichen Positionen heißt Alternation. Seine zentrale These ist, dass es verschiedene Dichtegrade gebe, die jeweils zu Phasen der ›Übervölkerung‹ beziehungsweise der ›Untervölkerung‹ führten. Wachsende Größen, so Wagemann, hätten in ihrem Wirkungsbereich nicht entsprechend erhöhte, sondern »vielmehr in bestimmter Folge alternierende, oft einander entgegengesetzte Ergebnisse« (Wagemann 1948, 40). Mit der wachsenden Bevölkerung und der steigenden Bevölkerungsdichte habe keineswegs »der Bevölkerungsdruck, die Überbevölkerung, gleichmäßig zugenommen«, eine Gesetzmäßigkeit bestehe vielmehr »in den wechselnden Wirkungen wachsender Werte« (ebd. 39). Kern der Wagemannschen Theorie ist die Bevölkerungsdichte, und Wagemann ist ein Kenner der methodischen Debatte über deren Anwendung. 1
Wagemann studierte Staatswissenschaften in Göttingen, Berlin und Heidelberg, promovierte im Jahre 1907 und habilitierte sich 1914 an der Universität Berlin. Ebenfalls in Berlin gründete Wagemann 1925 das ›Institut für Konjunkturforschung‹ (seit 1941 ›Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung‹) und war bis 1945 dessen Präsident. Von 1921 bis 1933 war Wagemann auch Präsident des Statistischen Reichsamts und ab 1919 außerordentliche Professor an der Universität Berlin. 1932 wurde der so genannte Wagemann-Plan zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise veröffentlicht. 1933 wurde Wagemann von den Nationalsozialisten seines Amtes als Präsident des Statistischen Reichsamtes enthoben. Wagemann wurde während des Krieges mehrmals von der Gestapo verhört und 1942 für kurze Zeit festgenommen. Ihm wurde eine »jüdisch-marxistische Personalpolitik« vorgeworfen. 1948 wanderte Wagemann nach Chile aus, wo er das ›Instituto de Economía‹ gründete und in Santiago de Chile Professor für Nationalökonomie wurde. 1953 kehrte Wagemann nach Deutschland zurück. (Wissler 1954)
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Erstmals wurde Wagemanns Theorie bereit im Jahre 1941 veröffentlicht (Wissler 1954, 59), umfangreich ausgeführt hat Wagemann sein Gesetz in der im Jahre 1948 publizierten Schrift Menschenzahl und Völkerschicksal.
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»Schon die Bevölkerungsdichte als Synthese der Bevölkerungszahl und der Gebietsfläche«, so schreibt Wagemann, sei »eine höchst problematische Größe« (ebd. 48). Wagemann geht es explizit um die ursprüngliche Definition von Bevölkerungsdichte als Verhältnis von Bevölkerung zur Flächeneinheit. Er dreht die Erweiterung von Mombert (den Bezug der Bevölkerung auf den ›Nahrungsspielraum‹) wieder zurück und erklärt, »sowohl die Statistik wie die von ihr betreuten empirischen Wissenschaften (Volkswirtschaftslehre, Geographie usw.«) hätten »bei der Beurteilung der Dichtezahl allzu großes Gewicht auf die Beziehung zum Nahrungsspielraum« gelegt (ebd. 49). Wagemann setzt dagegen den Flächenbezug absolut. Man könne es geradezu wagen, von der Bevölkerungsdichte auf das Mischungsverhältnis von Industrie und Landwirtschaft, auf die Anteile der städtischen und der ländlichen Bevölkerung, »ja selbst auf die Siedlungsform (Hochhäuser in neukapitalistischen Gebieten!«), auf das Verkehrswesen und viele andere Merkmale der gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse zurück zu schließen (ebd. 51). In Wagemanns gesamten Werk finden sich zahlreiche empirische Angaben (etwa über das Volkseinkommen, den Kraftwagenbestand, die Säuglingssterblichkeit, Außenhandelsumsätze, Eisenbahnlänge, usw.), die immer in Bezug zur Bevölkerungsdichte gesetzt werden. Bewusst bezieht Wagemann seine Dichteangaben auf den Nationalstaat, da derartige Merkmale das »Gesamtgebiet der Volkswirtschaft« betreffen würden. Wähle man kleinteiligere Bezugsebenen für den Gebrauch der Bevölkerungsdichte, »würde man buchstäblich vor lauter Bäume den Wald nicht sehen« (ebd. 52). Bevölkerungsdichte, das ist Wagemanns Ausgangsposition, ist »ein wissenschaftlich fruchtbarer Begriff und ihre Höhe eine höchst ausdrucksvolle Zahl« (ebd.). Auch Wagemann benötigt für seine Verwendung der Bevölkerungsdichte ein Bewertungssystem und greift dabei auf die Begriffe ›Übervölkerung‹ und ›Untervölkerung‹ zurück. Wagemann verwendet die klassischen Definitionen: Bei der ›Übervölkerung‹ sei ein Land nicht in der Lage, alle seine Bewohner ausreichend zu versorgen, Ausdruck der ›Übervölkerung‹ seien Hungernöte, eine hohe Auswanderungsquote und strukturelle Arbeitslosigkeit. Bei der ›Untervölkerung‹ fehle es an einer für die Volkswirtschaft ausreichenden Anzahl von Arbeitskräften und einem genügend großen Absatzmarkt. Daraus ergebe sich ein »horror vacui«, eine Art »negativer Siedlungsspannung« (ebd. 56). Die Geschichte der Menschheit ist für Wagemann die Abfolge von (durch bestimmte Dichtewerte hervor gerufene) unterschiedlichen ›Siedlungsspannungen‹. Die ›kritischen Dichtegrade‹ hätten in der Geschichte »Zäsuren gebildet« und »Epochen eingeleitet« (ebd. 389f.). Solche kritischen Punkte seien die Dichtegrade, bei denen eine Phase der ›Überbevölkerung‹ begänne. Daher gibt es bei Wagemann auch kein ›Bevölkerungsoptimum‹, sondern nur »kritische Lagen«. Wagemann bezieht
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sich dabei auf die – seit Beginn des 20. Jahrhunderts bestehende – Theorie der ›konjunkturelle Schwankungen‹ der Volkswirtschaften. Er sieht sich mit seinem dichtebedingten ›Alternationsgesetz‹ als »Prophet der langen Welle« und damit als Konterpart zu den »Propheten der kurzen Welle«, also der wirtschaftlichen Konjunkturzyklen. Es sei zu vermuten, dass »in der Bevölkerungsentwicklung Analoges« geschehe wie beim Wandel der Konjunktur, so dass, wenn die »Untervölkerung in Übervölkerung« umschlage, automatisch »krisenhafte Erscheinungen demodynamischer Art« aufträten. Ergebnis von Wagemanns theoretischen Vorüberlegungen und seiner umfangreichen historischen und geographischen Vergleiche der Wirtschaftslage ist die »Formel einer Progressionsalternation«, in der sich »Überbevölkerung und Untervölkerung bei wachsender Bevölkerungsdichte« abwechseln (ebd. 44). Es gebe ein »einfaches System« von acht verschiedenen Zonen, die durch feste Bevölkerungsdichten definiert würden. In Wagemanns System verändert sich die ›Siedlungsspannung‹ dieser Zonen von ›Untervölkerung‹ zu ›Übervölkerung‹ und wieder zurück.3 Die Anzahl der empirischen historischen Fälle, aus denen Wagemann sein Gesetz ableitet, bezeichnet er zwar – verglichen mit biologischen und physikalischen Erfahrungen – als »beschämend gering«, es sei jedoch »schon verwunderlich«, wie »treuherzig die Wirklichkeit unsere schematische Skala erfülle« (ebd. 390). Im Grunde würde damit jedoch nur ausgesagt, dass der einzelne Mensch »als Produzent seine Ansprüche ungenügend oder überreichlich zu decken vermag« (ebd. 45). Wagemann diskutiert sein aus einer Mischung aus Theorie und Empirie generiertes Alternationsgesetz ausführlich und reflektiert auch die Auswirkung der ›Übervölkerung‹ auf das Individuum. Das »demodynamische Alternationsphänomen« sei zwar »aus Vorgängen der Wirtschaftsstruktur« hergeleitet, es wurzle vermutlich aber ebenso im »Kraftfeld der Beziehungen zwischen dem Ich und dem Wir« (ebd. 394). Die Schlussfolgerung liege nahe, dass »die zeitlichen und räumlichen Bereiche der Untervölkerung zum Individualismus, die der Übervölkerung zum Kollektivismus« neigten. Die »Schwierigkeiten und Gefahren der Übervölkerung« riefen »die staatliche Intervention auf den Plan«, während die Untervölkerung »dem Tatendrang 3
In der ersten ›Zone‹ beträgt die Bevölkerungsdichte 0 bis 10 Einwohner auf den Quadratkilometer, hier herrscht ›Untervölkerung‹. Schon in der nächsten Zone, mit einer Bevölkerungsdichte von 10 bis 30 Einwohnern, alterniert die ›Siedlungsspannung‹ in eine ›Übervölkerung‹, um dann in der dritten Zone (Bevölkerungsdichte 30 bis 45 Einwohner pro Quadratkilometer) wieder in die Phase der ›Untervölkerung‹ einzutreten. Diese Alternation vollzieht sich bis zur achten und letzten Zone (260 und mehr Einwohner auf den Quadratkilometer und ›Übervölkerung‹).
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des Einzelnen volle Ellenbogenfreiheit« gebe (ebd.). Es sei eine »sehr elementare und primitive Überlegung«, dass »der Mensch – als Arbeitskraft und Gehilfe, als Nachbar und Mitbürger, als Nächster und Leidensgenosse – entwertet wird, wenn Übervölkerung eintritt« (ebd. 387). Wagemann benutzt für diese Argumentation auch den Marxschen Ausdruck der kapitalistischen Reservearmee (vgl. S. 137): »Der Druck, den die Reservearmee der Überzähligen übt, verwandelt den Einzelnen in ein leicht zu ersetzendes Element des Kollektivs« (ebd. 388). Diesen Erklärungsansatz bezieht Wagemann auf die historische Entwicklung des Nationalsozialismus: Die eigentlichen Wurzeln der »Mißachtung des Menschentum« und der »furchtbaren Massenmethoden der Menschenvernichtung unseren Zeitalters«, lägen »im demodynamischen Bereich« (ebd.). Wagemann möchte die sozialwissenschaftliche Theorie (Kollektive versus Individuum) mit seiner statistischen Empirie (beziehungsweise seinen empirischen Beobachtungen) verbinden und damit auf ein naturwissenschaftliches Fundament heben. In den Naturwissenschaften sei das Handeln »stark von zahlenmäßigen Erwägungen beherrscht«, es komme überall darauf an, die »verursachenden Kräfte richtig abzumessen und sie mit dem beabsichtigten Effekt in lebendige Beziehung zu setzen« (ebd. 399). Wagemann hofft, mit seinem Alternationsgesetz den Hebel für eine ganz neue Sichtweise auf die soziale Theorie gefunden, also einen ersten Schritt in die Erklärbarkeit (und Beherrschbarkeit) sozialer Abläufe getan zu haben. Die kulturelle Periode der klassischen Renaissance habe die Naturkräfte durch das ›Instrument der Zahl‹ beherrschen gelernt. Das neue Zeitalter wäre vielleicht dazu berufen, »die Kräfte des Kollektivs, die das Individuum heute noch als unheimliche Dämonen in Schuld und Verhängnis verstricken, mit der Magie der Zahl zu beschwören« (ebd. 400). Wagemann glaubt, mit seiner Dichtetheorie (gewappnet durch die ›Magie der Zahl‹) das Einfallstor in die zahlenmäßige (statistische) Erklärbarkeit gesellschaftlicher Abläufe gefunden zu haben. Wagemann äußert die Hoffnung, dass mit diesem quantitativen Zugang – analog zur Überwindung von Naturkatastrophen in der Naturwissenschaft – auch die Überwindung der gesellschaftlichen Katastrophen in greifbare Nähe gerückt sei. Der Dämon solle »von den goldenen Sesseln des Olymps in den Abgrund der gebändigten Titanen« hinabgestoßen werden, »um Menschenwürde und Persönlichkeitswerte wieder auf den Thron zu erheben« (ebd. 400). Wagemann plädiert für ein neues, anderes Kollektiv, das sich aus den Nationen der Weltstaatengemeinschaft bilden und sich ein gemeinsames Völkerrecht als Gegengewicht gegen die nationalistischen Tendenzen geben solle (ebd. 399). Damit ergänzt Wagemann den bevölkerungswissenschaftlichen Diskurs um eine soziale Theorie mit explizit ethischem Hintergrund. Und er grenzt sich – und auch das ist neu im Dichtediskurs – deutlich von geodeterministischen und geopolitischen Ableitungen und Forderungen ab. Es wi-
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derspreche, so schreibt Wagemann, »dem humanitären Gedanken aufs schärfste, wenn ein Staat den anderen nach alter Übung durch territoriale und demodynamische Expansion zu übertrumpfen« suche, wenn er »wahllos und unersättlich nach möglichst großen Gebieten und Bevölkerungen« strebe (ebd. 398). Diese politisch-ethisch begründete Abkehr von einer geodeterministischen Perspektive ergänzt Wagemann mit einem historischen Argument. An die Stelle der »alten Naturgebundenheit des Menschen« sei eine »unentrinnbare Abhängigkeit von den eigenen Institutionen« getreten (ebd. 397). Allerdings ersetzt Wagemann die ›alte Naturgebundenheit‹ durch die Konstruktion einer Abhängigkeit der allgemeinen (wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen) Entwicklung von der alternierenden Entwicklung der Bevölkerungsdichte. Die Überwindung des Geodeterminismus führt bei Wagemann zu einer Art Dichtedeterminismus. Bei Wagemann bedingt Bevölkerungsdichte den sozioökonomischen Wandel, der bedingt wiederum die Bevölkerungsdichte, was jeweils (nach quantitativ bestimmbaren Dichtewerten) zu einer ständigen Spiralbewegung in Richtung gesellschaftlicher Fortschritt führt. Dass die Entwicklung einer Nation – und Wagemann glaubt an die Gültigkeit seines Gesetzes für sämtliche Nationen – sich wirklich nach exakt bestimmbaren Dichtestufen richtet (respektive durch den Übergang von einer in die nächste hervorgerufen werde), erscheint heute doch als etwas naive Vorstellung.4 Wagemann verstrickt sich dabei – nicht unähnlich wie Durkheim in seiner Dichtetheorie – in die Konstruktion wechselseitiger Kausalbeziehungen, die schlussendlich eine Endlosschleife ergeben. Mit seinem Dichtegesetz reproduziert Wagemann damit das mechanistische Erklärungsparadigma des geo- und naturdeterministischen Ansatzes, obwohl er sich eigentlich von einem solchen verabschieden wollte. Aus der Sicht einer kritisch-historischen Betrachtung des Konzeptes Bevölkerungsdichte ist Wagemanns Gesetz allerdings nichts Geringeres als ein theoretischer Höhepunkt. Wagemann formuliert erstmals nach Durkheim wieder eine wirklich neue explizite Dichtetheorie. Mit dem Fokus auf die alternierende Entwicklung gelingt Wagemann (vermutlich erstmals) eine Integration der widersprüchlichen Moralisierungen der Bevölkerungsdichte. Bei Wagemann stellt sich damit nicht mehr die Frage, ob hohe (oder niedrige) Bevölkerungsdichte positiv oder negativ zu bewerten ist. Wagemann überwindet damit (zumindest teilweise) den gängigen, einseitig moralisie4
Auch Wolf Gaebes Vorschlag, Verdichtungsräume zur Grundlage einer neuen interdisziplinären Verdichtungsraumforschung zu nehmen, ist ein Anteil von Wagemanns Gesetz implizit. Allerdings vertritt Gaebe keinen Dichtedeterminismus, Bevölkerungsdichte ist nur noch das Format, das den Forschungsansatz strukturiert (vgl. S. 121f.).
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renden Ansatz des Dichtegebrauchs vieler seiner Vorgänger. Die Bedeutung von Wagemanns Dichtegesetz in der wissenschaftlichen Debatte blieb allerdings relativ gering, als Gegenstand einer fachlichen Diskussion findet sich Wagemanns Dichtegesetz kaum.5 Und auch Wagemann selbst verfolgte seine Theorie nicht weiter.6 Fünf Jahre nach Wagemanns Dichtegesetz veröffentlichte der Nationalökonom und Soziologe Gerhard Mackenroth (1903-1955)7 seine Bevölkerungslehre. Mackenroth gilt als einer der einflussreichsten deutschen Sozialwissenschaftler überhaupt und seine Auffassungen haben maßgeblich zur Entwicklung der Bevölkerungswissenschaft zur ›Demographie‹ beigetragen.8 Auch Mackenroth beschäftigt sich eingehend mit den bevölkerungstheoretischen Theorien seit Malthus, und er wendet sich eindeutig gegen die Malthussche Position. Bevölkerungstheorien könnten grundsätzlich keine ›biologischen Gesetze‹ sein. Der »geschichtliche Mensch«, so formuliert Mackenroth (in Anlehnung an die Marxsche Position), sei keine »Fruchtfliege und kein Hefepilz« und würde daher auch nicht wie Fruchtfliegen und 5
Die Konjunkturschwankungen der volkswirtschaftlichen Entwicklung sind dagegen ein Thema, dem (nicht zuletzt durch das von Wagemann gegründete ›Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung‹) in der wissenschaftlichen und politischen Debatte bis heute hohe Relevanz beigemessen wird.
6
Wagemann emigrierte kurz nach Erscheinen seines Buches nach Chile. Dort veröffentlichte er noch einige Aufsätze, jedoch eher zu allgemeinen statistischen Problemstellungen (Wissler 1954, 60). In dem kurz vor seinem Tode veröffentlichten Buch Wagen Wägen Wirtschaften referiert Wagemann den Grundgedanken seines Dichtegesetzes noch einmal und formuliert, dass die Versorgung des Menschen »von der Bevölkerungsdichte abhängig sei, wenn auch nicht in einfacher Weise« (Wagemann 1955, 69).
7
Mackenroth studierte von 1922 bis 1926 Rechts- und Staatswissenschaften, Psychologie und Philosophie in Leipzig, Berlin und Halle, wo er 1926 promovierte. Mackenroth trat 1933 in die NSDAP und 1934 in die Reiter-SA ein. Ab 1934 war er außerordentlicher Professor für Theoretische Nationalökonomie, Wirtschaftspolitik und Statistik an der Universität in Kiel, 1941 wurde er an die ›Reichsuniversität‹ in Straßburg berufen, wo er bis 1943 als geschäftsführender Direktor des Staatswissenschaftlichen Instituts lehrte. Bei seinem Entnazifizierungsverfahren wurde er in die Stufe V (Mitläufer) eingruppiert und konnte schon 1945 wieder eine Lehrtätigkeit aufnehmen. 1948 wurde Mackenroth Professor für Soziologie und Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität Kiel. (Henßler 2006).
8
Mit dem Begriff ›Bevölkerungswelle‹ konstruierte Mackenroth eine Vorform des ›demografischen Übergangs‹, dem zentralen Modell in der heutigen Demographie (Pinwinkler 2006, 94).
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Hefepilze »gegenüber äußeren Situationen invariant« reagieren (Mackenroth 1953, 326). Innerhalb eines physiologischen Rahmens baue sich ein unendlich differenziertes generatives Verhalten der Menschen auf, dem jede Naturwissenschaft vollkommen hilflos gegenüberstände (ebd.). Deshalb sei die Bevölkerungsentwicklung kein naturwissenschaftlich greifbares Phänomen, sondern man bräuchte eigene, sozialwissenschaftliche Kategorien. Der Perspektivwechsel von Mackenroth bleibt nicht ohne Auswirkung für das Konzept der Bevölkerungsdichte. Mackenroth setzt den Begriff ›Bevölkerungsdichte‹ konsequent in Anführungszeichen und kommt im Ergebnis seiner historischen Analyse zu der Einschätzung, dass sobald der Produktionsfaktor Kapital eine Rolle spiele, »die Wirtschaftsweise also zu einer kapitalintensiven wird«, die »alte Verzahnung« von Bevölkerung und Wirtschaft »unhaltbar« werde (Mackenroth 1953, 432). Die feste Relation von »rein geographischer Ausdehnung des Lebensraumes und der Bevölkerungszahl«, für die die Bevölkerungsdichte ein durchaus brauchbares Maß sei, werde »durch das Hereinspielen des Faktors Kapital gänzlich unscharf« (ebd. 433). Mackenroth erklärt Bevölkerungsdichte als einen nur in der agrarischen Gesellschaft relevanten Begriff und erläutert, dass je nach Kapitalausstattung auf demselben geographischen Raum ganz verschiedene Bevölkerungen bei gleicher Arbeitsnorm und Konsumnorm existieren könnten. Die Möglichkeit der Kapitalanreicherung verändere den Wirkungsgrad von Technik und Sozialorganisation, Konsumstand und Konsumnorm würden aus ihrer »jahrhundertelangen geschichtlichen Ruhelage heraus in Bewegung« gebracht. Die ganze ökonomische Seite erhalte dabei eine viel stärkere Dynamik (ebd.). Mackenroth lehnt die weitere Verwendung des Konstrukt Bevölkerungsdichte als Erklärungsvariable daher komplett ab. Wenn der Ausdruck Einwohner je Quadratkilometer »irgend etwas« mit dem wirtschaftlichen Wohlergehen der Bewohner eines Gebietes zu tun hätte, müsste es den Bewohnern von London und New York in der Welt am schlechtesten gehen. Und das sei bekanntlich nicht der Fall. Es käme immer darauf an, wie ein Raum in das Wirtschaftsgebiet eines größeren umgebenden Raumes eingefügt sei. »Jede ›Bevölkerungsdichte‹ ist bei vernünftiger zwischenstaatlicher Wirtschaftsorganisation tragbar« (ebd. 494). Damit folgte durch Mackenroth, kurz nach dem Höhepunkt bei Wagemann, ein radikaler Abgesang auf die Konstruktion Bevölkerungsdichte. Nachdem Wagemann die Bevölkerungsentwicklung mit seinem Dichtegesetz in einen naturwissenschaftlich begründbaren Entwicklungszusammenhang stellen wollte, fährt Mackenroth Bevölkerungsdichte mit soziologischer Argumentation aufs theoretische Abstellgleis. Der Kontext, in dem diese Neubewertung vollzogen wird, wird von einem erneuten Wechsel der disziplinären Verortung der Bevölkerungslehre begleitet. Mackenroth ist der »maßgebliche Konzeptor der historisch-
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soziologischen Bevölkerungstheorie« (Henßler 2006, 102), Mackenroth verwendet den – von Rassenparadigma und ›Eugenik‹ weitgehend befreiten – Teil der Bevölkerungstheorie und erstellt damit einen soziologischen Ansatz, der für die nachfolgende Entwicklung der quantitativen Soziologie in Deutschland richtungsweisend gewesen ist. Für das Konzept Bevölkerungsdichte war aufgrund der Kritik von Mackenroth in der zum Bestandteil einer modernen Soziologie gewordenen Bevölkerungslehre fortan kaum mehr Platz. Zwar wurde in der »soziologischen Bevölkerungstheorie«, wie Mackenroth sie bezeichnete, nicht auf die Erhebung und Analyse von soziodemographischen Daten verzichtet. Der neue Ausgangspunkt der soziologischen Perspektive führte jedoch zu einer Abkehr vom natur- und geodeterministisch bestimmten Fokus auf das Verhältnis von Bevölkerung zu Raum und damit auch von der Bevölkerungsdichte samt ihrem System der ›Übervölkerung‹ und ›Untervölkerung‹. Bevölkerungsdichte wurde im deskriptiven Bereich der Forschung zwar weiter erhoben und dargestellt, jedoch kaum mehr für die diskursive Konstruktion einer Theorie verwendet. Als Theoriebestandteil innerhalb der Soziologie tauchte die Bevölkerungsdichte verstärkt erst wieder als Stadtbaustein in der Stadtsoziologie auf (vgl. Kapitel 1.2). In der Bevölkerungstheorie gab es (in Deutschland) in den 1960er Jahren damit einen »tatsächlichen Bruch mit den nationalbetonten Traditionslinien« (Pinwinkler 2006, 100) und daher auch einen Bruch mit dem Konstrukt Bevölkerungsdichte. Als Zahlenwert wird die Bevölkerungsdichte in der empirischen Sozialforschung zwar weiter erhoben, dem Begriff wird jedoch inhaltlich nicht mehr der Stellenwert eingeräumt, der ihm Anfang des 20. Jahrhunderts in der bevölkerungswissenschaftlichen Debatte zugewiesen worden war. Die ›Demographie‹ – wie die explizite Bevölkerungswissenschaft heute bezeichnet wird – erlebt in den letzten Jahren dagegen einen erheblichen Bedeutungszuwachs, im Zuge der Debatte um den ›demographischen Wandel‹ ist die ›Bevölkerungsfrage‹ wieder verstärkt in das wissenschaftliche und öffentliche Interesse gerückt. Die Diskussion um den ›demographischen Wandel‹ ist ein Querschnittsdiskurs, der in vielen politischen und fachlichen Debatten enorm großen Anklang gefunden hat und dem vor allem in den Planungsdisziplinen (vgl. Kapitel 5.3 und 7.3) inzwischen große Bedeutung zukommt. In diesen Diskussionen wird wieder stark auf eine ›Bevölkerungsfrage‹ fokussiert und dabei auf die quantitative und qualitative Bevölkerungsentwicklung abgestellt. Die bevölkerungswissenschaftlichen Bewertungssysteme (›Überbevölkerung‹, ›Unterbevölkerung‹, ›Bevölkerungsoptimum‹) bestehen dabei (zumindest latent) fort. Teilweise erinnern die demographischen Debatten auch frappierend an den Diskurs um den ›Raum ohne Volk‹ (Kapitel 4.2). Die in der demographischen Debatte gezeichneten Untergangsszenarien (und die politischen Reaktionen darauf) bleiben sich
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»eigenartig gleich« (Marschalck 1999, 55f.). Wieder sind zwei Richtungen des Diskurses zu erkennen: Zum einen die demographische Diskussion über Bevölkerungsentwicklung in den ›Entwicklungsländern‹, wo teilweise mit einem »deutlich antinatalistischen Ansatz« (ebd. 56) weiterhin die Gefahren der ›Überbevölkerung‹ herauf beschworen werden (vgl. auch Rainer 2003). Zum anderen wird im Diskurs über die ›Unterbevölkerung‹ respektive das Aussterben der (deutschen) Bevölkerung (bezogen auf die eigene Nation) – ähnlich wie in den 1930er Jahren – eine geburtenfördernde Politik propagiert.9 Der expliziten Bevölkerungsdichte wurde – zumindest in der theoretischen Metadiskussion – bei der Debatte um den »demographischen Wandel« bisher allerdings kein herausragender Stellenwert eingeräumt. In den städtebaulichen und stadtplanerischen Folgedebatten des Diskurses über den ›demographischen Wandel‹ ist die Bevölkerungsdichte jedoch wieder (weiterhin) eine feste Größe (vgl. Kapitel 7.3). Eine zweite Heimstatt hat die ›Bevölkerungsfrage‹ (respektive das ›Bevölkerungsproblem‹) im ökologischen Diskurs gefunden. Der berühmte Bericht des ›Club of Rome‹ (vgl. auch Kapitel 3.3) aus dem Jahre 1972 hat einige Ähnlichkeiten mit dem Essay von Malthus: Die Studie über die ›Grenzen des Wachstums‹ ist nicht nur entsprechend erfolgreich und zum Startpunkt einer großen Debatte geworden, sie funktioniert auch ähnlich wie Malthus’ Bevölkerungsgesetz, und zwar mit der Vorhersage einer Weltkatastrophe. Eröffnet wird der Bericht des ›Club of Rome‹ mit einem Zitat des damaligen UN-Generalsekretärs, in dem dieser ankündigt, dass der Menschheit um ihr Überleben zu sichern etwa noch zehn Jahre Zeit bleiben würde, sich auf ein gemeinsames Programm zu einigen (Meadows et al. 1972). Die Autoren der Studie berechnen mit einem Computermodell Vorhersagen über Bevölkerungsentwicklung, Verfügbarkeit von Ressourcen, industrieller Produktion und Nahrungsmittelproduktion. Ohne eine Änderung der Verhaltensmuster, so das Ergebnis, sei ein katastrophaler Zusammenbruch der Menschheit etwa im Jahr 2025 – verursacht durch eine dramatische Abnahme der Ressourcen (vor allem Mineralien und Land) – unvermeidbar.10 In 9
Beide Diskurse – der von der Gefahr der ›Überbevölkerung‹ in der ›Dritten Welt‹ und der von der Gefahr des ›Aussterbens der Nation‹ – speisen sich dabei aus einer (öffentlich nicht eingestandenen und vielleicht nicht einmal bewusst gewordenen) Furcht vor ›Überfremdung‹, vor anderen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen und zielen auf die »Erhaltung eines status quo (ante)« (Marschalck 1999, 56).
10 Die Fortschreibung der Studie über die Grenzen des Wachstums aus dem Jahre 1992 kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass die fortgesetzte Wachstumsdynamik zu »einer Überschreitung der Tragfähigkeit der Erde führen würde« (Tremmel 2005, 78).
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Folge des Berichts rückten die Themen Bevölkerungsentwicklung, Ressourcenverfügbarkeit und Umweltverschmutzung in den Fokus der weltweiten politischen Debatten. Insbesondere die »außerordentlich hohen Zuwachsraten der Bevölkerungen in den Entwicklungsländern« reiften aus dieser Perspektive zum »größten Weltproblem« heran (Bähr 1992, 125).11 In dieser Debatte lassen sich derzeit zwei verschiedene Ansätze der diskursiven Einbindung des – eng mit dem Konzept der Bevölkerungsdichte verknüpften – Tragfähigkeitsmodells erkennen.12 Auf der einen Seite lautet das Grundparadigma, dass die menschliche Bevölkerung immer die Ursache für Naturbelastung ist. Je »schneller wachsend, größer und dichter die menschliche Bevölkerung auf einem bestimmten Raum« ist, desto größer sei tendenziell die absolute Naturbelastung (Tremmel 2005, 5). Der Bericht des ›Club of Rome‹ warnte vor der »Überfrachtung der Tragfähigkeit der Erde« (ebd. 77), aber auch heute würde sich »mehr denn je die Frage nach den naturgesetzlichen Grenzen der ökonomischen und ökologischen Tragfähigkeit unseres Planeten« stellen (Guderian 2000, 18). Auf der anderen Seite wird bei der Kritik am Paradigma des ökologischen Diskurses – und hier gibt es wiederum Parallelen zur Marxschen Kritik an Malthus’ Theorie – darauf abgestellt, dass nicht die Zunahme der Bevölkerung das eigentliche Problem sei, sondern die Verteilung der Güter beziehungsweise die Ausgestaltung der Versorgungssysteme. Nahrungskrisen seien nicht auf eine »überstiegene Tragfähigkeit der Erde« zurückzuführen, sondern »vielmehr auf eine mangelnde Adaptivität von Versorgungssystemen als Folge sozialer und ökologischer Krisendynamiken« (Tremmel 2005, 370). Die Entstehung von Nahrungsknappheiten sei nicht so sehr in den »natürlichen Grenzen einer Tragfähigkeit der Erde«, sondern in der Tatsache der ungleichen Verteilung der Güter begründet (Janowicz 2008, 8). Eine »Demographisierung«, also eine »unterschwellige Naturalisierung« von mit demographischen Entwicklungen zusammenhängenden Problemlagen, würde der »Komplexität der Sachlagen so gut wie nie gerecht« werden, da es sich bei der ›Bevölkerungsfrage‹ stets um »multifaktorielle Problemkonstellationen« handele, bei der die »Reduktion der Analyse auf quantitative Zahlenspiele« wenig zielführend erscheine (Tremmel 2005, 369).
11 In den letzten dreißig Jahren gab es zehn große Weltkonferenzen, die sich den Zusammenhängen von Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt widmeten, von den Vereinten Nationen wurden Indizes entwickelt, um »das Verhältnis zwischen einer Bevölkerung und ihren Ressourcen im Raum« angemessen beurteilen zu können (Quaas 2004, 19). 12 Zur Verwendung des Konzeptes der ›Tragfähigkeit‹ im ökologischen Diskurs vgl. auch Kapitel 3.3.
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Insgesamt ist bei der Betrachtung des bevölkerungswissenschaftlichen Kontextes der Stellenwert der ›Bevölkerungsdichte‹ nicht einfach zu bestimmen – vor allem deshalb, weil die Bevölkerungswissenschaft selbst nach 1945 keinen konsistenten Zusammenhang mehr darstellt. Die Bevölkerungswissenschaft wurde in Teilbereiche von verschiedenen Disziplinen – der Soziologie, der Volkswirtschaft, der Geographie – aufgespalten, ohne dass dabei ein neuer zusammenführender Theorieansatz generiert worden wäre. Der Wagemannsche Versuch einer neuen Dichtetheorie blieb ohne großen Nachhall, in Mackenroths Bevölkerungslehre wird dem Konstrukt ›Dichte‹ im Grunde jede Relevanz abgesprochen. Die ›Bevölkerungsfrage‹ – mit der vor 1945 das bestimmende Bewertungssystem für das Konstrukt Bevölkerungsdichte eingeführt worden war – spielt dagegen besonders in den Debatten zum ›demographischen Wandel‹ und im ökologischen Diskurs auch weiterhin eine Rolle. Jedoch wird der Bevölkerungsdichte in der Regel auch hier kein besonders exponierter Platz eingeräumt. Erwähnenswert ist weiterhin, dass in den letzten Jahren im Bereich der historischen Bevölkerungswissenschaft die ›Bevölkerungsfrage‹ (im Rahmen der kritischen Analyse der eigenen disziplinären Ursprünge) ins Rampenlicht gerückt worden ist. Der Ansatz einer solchen kritischen Reflexion ist dabei noch relativ jung. Noch Anfang der 1990er Jahre war in einer Schrift des ›Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung‹ formuliert worden, dass die Bevölkerungswissenschaft auch zwischen 1933 und 1945 eine »ernst zu nehmende Wissenschaft« geblieben sei, die sich in diesem Zeitraum als »durchaus stabil gegenüber den Versuchen politischer Einflussnahme« erwiesen hätte (zitiert nach Vienne 2004, 151).13 Der ›Bevölkerungsgeograph‹ Jürgen Bähr verlautbarte zur gleichen Zeit, dass es in Deutschland so lange gedauert habe, bis die Bevölkerungsforschung wieder auf eine breite Basis gestellt werden konnte, da die »nationalsozialistische Gewaltherrschaft« mit ihrer rassistischen Politik die gesamte Bevölkerungswissenschaft »in Mißkredit« gebracht habe (Bähr 1992, V). Nur aus dieser Perspektive ist auch der weiterhin unreflektierte Gebrauch der bevölkerungswissenschaftlichen Analyseinstrumente (Bevölkerungsdichte, ›Überbevölkerung‹, ›Unterbevölkerung‹) zu verstehen, der in einigen bevölkerungswissenschaftlichen Teilbereichen bis heute festzustellen ist (vgl. Kapitel 3.3). Seit den 1990er Jahren ist die strategische Bedeutung der Bevölkerungswissenschaft im Nationalsozialismus jedoch verstärkt in die fachliche Aufmerksamkeit geraten (Henßler/Schmid 2007, 7) und hat zu einem radikalen Wechsel beim Umgang mit der eigenen Geschichte geführt. Seitdem wird eine umfangreiche Debatte über die Rolle der Bevölkerungswissen13 Erst nach Protesten der SPD distanzierte sich das Bundesinstitut von dieser Formulierung.
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schaft und -politik geführt. In der neueren Forschung zur Historie der Bevölkerungswissenschaft werden die verschiedensten »auf rassistischer Grundlage basierenden Politikfelder« immer mehr als Einheit gesehen. Zudem wird der Ausdruck »Bevölkerungspolitik« verwendet, um die Einheit dieser verschiedenen Handlungsfelder auszudrücken und der Begriff damit zur »zentralen Kategorie für die Analyse des NS-Regimes« (Ehmer 2004, 38). Für die kritische zeitgenössische Bevölkerungswissenschaft scheint die Auseinandersetzung mit den historischen Konstruktionen der eigenen Disziplin inzwischen zu einem disziplinären Konsens geworden zu sein. Ausgelöst wurde diese Debatte unter anderem von den Arbeiten von Götz Aly und Susanne Heim, die die Akteure und gemeinsamen Argumentationslinien in der Bevölkerungspolitik und -lehre im NS-Staat identifizierten und deren Bedeutung für die nationalsozialistische Politik untersucht haben (vgl. auch Kapitel 5.2). Fortgesetzt wird die Diskussion unter anderem durch umfangreiche Forschungsprojekte der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG,14 die nicht zuletzt wegen ihrer eigenen Involvierung eine besondere Verantwortung für diese Aufgabe angenommen zu haben scheint. In diesem Kontext wird (vereinzelt) auch die Konstruktion Bevölkerungsdichte untersucht und die Frage gestellt, was die Bevölkerungsdichte zum nationalsozialistischen Konstrukt Bevölkerung beigetragen hat (vgl. auch Reflexion II).
14 Etwa durch die Projektgruppe ›Das Konstrukt Bevölkerung vor, im und nach dem Dritten Reich‹. Auch die Arbeit ›Ordnung schaffen‹ von Ariane Leendertz (vgl. das folgende Kapitel) basiert auf einem DFG-Projekt (Leendertz 2008).
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Dichte und Ordnung
5.1 R AUMORDNUNG Neben der Geographie und der Bevölkerungswissenschaft gibt es mit der Raumplanung1 eine dritte Disziplin, in welcher der Begriff Bevölkerungsdichte eine wesentliche Rolle spielt und in der auf ähnliche Konstruktionsweisen von Bevölkerungsdichte zurück gegriffen wird. Allerdings hebt sich die Raumplanung von den erstgenannten Fächern ab, da sie nur zu einem Teil eine Wissenschaft darstellt. Der andere Teil der Raumplanung besteht aus institutionalisiertem Verwaltungshandeln. Daher ist auch der raumplanerische Dichtediskurs von den bisher untersuchten Debatten zu unterscheiden und daher rückt hier die Institutionalisierung der Bevölkerungsdichte in den Mittelpunkt der Analyse. Anders als der (erst einmal) analytische Ansatz in den Nachbardisziplinen generiert die der Raumplanung immanente Absicht zu steuern und zu ordnen eine neue Qualität für den Gebrauch von Bevölkerungsdichte. Raumplanung ist eine anwendungsorientierte Disziplin und eines ihrer Ziele ist es, die Konstruktion Bevölkerungsdichte in einen konkreten, handlungsbezogenen Zusammenhang zu stellen. In der Raumplanung wird das Konstrukt Bevölkerungsdichte angewendet, und es ist zu untersuchen, wie sich diese Anwendungen auswirken. Bei der Betrachtung der Bevölkerungsdichte im raumplanerischen Zusammenhang geht es an dieser Stelle daher nicht nur um einen (die Bevölkerungsdichte betreffenden) eigenen raumplanerischen Theorieansatz. Vielmehr soll einerseits auf die Entwicklung und das Selbstverständnis des institutionellen Ziel- und Wertesystems fokussiert, andererseits die jeweilige Funktion der Bevölkerungsdichte im raumplanerischen Kontext betrachtet werden. Dazu ist es erforderlich,
1
In diesem Kapitel wird Raumplanung als ›überörtliche Raumplanung‹ verstanden. Davon wird die ›örtliche Raumplanung‹ unterschieden, die in dieser Arbeit als ›Stadtplanung‹ beziehungsweise als ›Städtebau‹ (vgl. Kapitel 6 und 7) bezeichnet wird.
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die Entstehung der Disziplin sowie ihre diskursive und institutionelle Einbettung zu beleuchten und in diesem Kontext der Verwendung der Bevölkerungsdichte nachzuspüren. Entstanden ist die Raumplanung aus dem Bedürfnis, die Verwerfungen des industriellen 19. Jahrhunderts zu korrigieren, die räumliche Entwicklung der Gesellschaft zu beherrschen und zu organisieren und somit eine neue Ordnung von Volk, Wirtschaft und Siedlung zu schaffen (Leendertz 2008, 93). Die Zukunft sollte »vorgreifend gefüllt« werden, indem unter den Realitäten, die sich »in sie hinein erstrecken«, eine Ordnung gestiftet werden sollte, in die sie einmünden (Freyer 1933, nach Leendertz 2008, 98). Die Landesplanung war (nach ihrem Selbstverständnis) das Mittel, dass die industrielle Gesellschaft zur Überwindung ihrer selbst hervor brachte. Indem er plante, schaltete sich der Mensch als Subjekt der Geschichte in den Lauf der Dinge ein, entschied sich für eine der Möglichkeiten gegen die anderen. Dadurch hatte der raumplanerische Ansatz einen fortschrittsgläubigen und fortschrittlichen Impetus. Mit der Raumplanung, so formuliert der Historikerin Ariane Leendertz (*1976),2 wurde eine bestimmte Sichtweise auf gesellschaftliche und strukturelle Problemlagen verkörpert, die einen spezifischen Lösungsansatz implizierten: Durch systematische Intervention und umfassende Planung und Ordnung sollte das Zusammenleben der Gesellschaft aktiv gestaltet werden (Leendertz 2008, 8). Die Entstehung der Raumplanung interpretiert Leendertz als ein »Phänomen der klassischen Moderne«, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg »ihren soziokulturellen Durchbruch erlebte«. Diese Moderne war durch den Anspruch gekennzeichnet, die Gesellschaft »kognitiv zu beherrschen« und sie »mit Hilfe bestimmter Techniken, Wissenschaften und sozialer Institutionen ›wieder‹ in einer Ordnung zu verwurzeln« (ebd.). Die Weltsicht der Moderne vermengte sich in den raumplanerischen Anfängen in Deutschland mit dem hegemonialen völkisch-nationalen Diskurs (Kapitel 3.2), der moderne Gedanke der Planbarkeit verband sich mit einem konservativen und fortschrittskritischen Selbstverständnis (Schürmann 2005, 84). Die junge Landesplanung zeigte deutliche Affinität zu einem völkisch fermentierten Natur- und Heimatschutz mit heimatideologische Komponenten und »unübersehbar volkstumpolitischen Erwartungen« (Oberkrome 2004, 132). Die konservative Zivilisationskritik, die die Entstehung der Raumplanung von Anfang an begleitete, zeigte sich insbesondere an der großstadtkritischen Haltung, die von vielen Raumplanern der ersten Stunde vertreten wurde. So bilanzierte der Städtebauer und Landesplaner 2
Leendertz lehrt an der Universität München und veröffentlichte unter dem Titel Ordnung schaffen eine umfangreiche Studie über die Geschichte der Raumplanung (Leendertz 2008).
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Gustav Langen im Jahre 1928, dass beim Leben in »Überdruck und Überhitzung« in den Großstädten zwischen »sich zermahlenden Menschenmassen«, fern von »Natur und Scholle«, die »Volkskraft« dahinwelke (zitiert nach Leendertz 2008, 73). Zentraler Begriff des raumplanerischen Vokabulars wurde der Ausdruck ›Ballung‹. Die ›Ballung‹ der Menschen in den Städten wurde als raumpolitisches Versagen des 19. Jahrhunderts gebrandmarkt und mit politischer Instabilität, Revolte und Gewaltpotential assoziiert (Leendertz 2008, 78), sowie eine Dezentralisierung von Ballungsgebieten gefordert (Oberkrome 2004, 132). ›Ballung‹ stand für die räumliche Auswirkung der Industrialisierung, für das Unordentliche und Unharmonische, für Seuchen- und Umsturzgefahr und stellte die städtische Konkretion von ›Überbevölkerung‹ dar und ließ sich über die Erhebung der Bevölkerungsdichte empirisch erfassen.3 Die englische Regionalplanung und die deutsche Landesplanung gelten als die Wurzeln der Disziplin, die ersten Institutionen der Raumplanung in Deutschland waren der Zweckverband Großberlin (1912) und der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (1920). Die Raum- und Landesplanung war anfangs vor allem an der empirischen Bestandsaufnahme interessiert, ihr erklärtes Ziel war es, sich ein möglichst genaues Bild von der räumlichen Wirklichkeit zu verschaffen. Eng an die Kartographie und Statistik angelehnt wurde versucht, eine Bestandsaufnahme der Ist-Situation vorzunehmen um ›raumbedeutsame‹ Daten zu filtern, um dabei möglichst alle Faktoren und Elemente ›im Raum‹ in ihren Verflechtungen, Wechselwirkungen und Gesetzmäßigkeiten zu begreifen. Daher wurden in der Raumplanung viele Inhalte der Kartographie verwendet, auch aus diesem Grunde erhielt die Konstruktion der Bevölkerungsdichte große Beachtung in der Disziplin. Analog des raumplanerischen Ziels, die ›Missstände‹ in den Großstädten zu beheben und Ordnung in das planlose Alltagschaos zu bringen, wurde ›übermäßige Dichte‹ zu einem zentralen Diagnosebefund. Ziel der Protagonisten der Raumplanung war eine neue Ordnung des Raumes, und mit der Bevölkerungsdichte konnte auf ein geographisch, volkswirtschaftlich und bevölkerungswissenschaftlich bewährtes Analyseinstrument zurück gegriffen werden. Mit dem Konstrukt Bevölkerungsdichte wurden die hinter der Raumplanung stehenden programmatischen Interessen transportiert und mit dem Begriff ›Ballung‹ eine konservative, hohe Bevölkerungsdichte negativ moralisierende Zielrichtung in das disziplinäre Kernprogramm implementiert. Vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten waren die raumplanerischen Aktivitäten in erster Linie auf kleinere und begrenzte Projekte konzentriert gewesen, es gab weder überregionale Institutionen noch Gesetze 3
Zum Diskurs der Großstadtfeindschaft vgl. auch Kapitel 6.2.
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mit explizit raumplanerischen Inhalten. Nach 1933 stiegen die Umsetzungsaussichten der raumplanerischen Handlungsstrategien durch die Machtfülle des NS-Staates erheblich. Raumplanung war das Mittel, eine bestimmte Ordnung zu schaffen, genau das war aus nationalsozialistischer Sicht ihr Potenzial. Allerdings galt das auch umgekehrt: Das Potential der Nationalsozialisten aus Sicht der Raumplaner war, dass jene die nötige Macht für eine Realisierung der Vorstellungen der Planer angehäuft hatten. Für die Raumplaner ging es nun nicht mehr nur um punktuelle Maßnahmen, sondern um »volkswirtschaftliche Korrekturen im großen Stil« (Leendertz 2008, 130). Raumplanung und Raumforschung wurden zwischen 1935 und 1945 institutionell verankert und intensiviert (Gutberger 2004, 210), der Machtzuwachs der Raumplanung nach 1933 zeigt sich im Aufbau zweier zentraler Einrichtungen auf der Reichsebene. Die Reichsstelle für Raumordnung RfR wurde 1935 vom Reichsminister Hanns Kerrl (1887-1941)4 gegründet, Leiter der Reichsstelle wurde der Minister selbst. Die RfR stand an der Spitze eines hierarchischen Systems, dem die Landesplanungsinstitutionen auf Gau- und Bezirksebene angeschlossen waren, deren Planungen sich den Rahmenvorgaben der RfR unterzuordnen hatten (Leendertz 2008, 107, Pahl-Weber 1993, 148). Die RfR war oberste Reichsbehörde und direkt Hitler unterstellt. Aufgabe der RfR war es, eine zusammenfassende und übergeordnete Planung und Ordnung des deutschen Raumes für das gesamte Reichsgebiet zu entwickeln (Venhoff 2000, 10f.), erst mit Gründung der RfR begann damit die explizite staatliche Raumordnungspolitik in Deutschland (Blotevogel 2003, 2). Die RfR wurde per Erlass dazu ermächtigt, die bestehenden Landesplanungsverbände neu zu organisieren. Die alten Planungsverbände (mit Ausnahme des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk) wurden durch Landesplanungsgemeinschaften ersetzt. Die Ausrichtung der RfR sowohl an rechtskonservativen und völkisch-nationalen als auch an nationalsozialistischen Inhalten zeigen Äußerungen des stellvertretende Leiter der RfR Hermann Muhs (1894-1962).5 Selbstverständlich seien, so Muhs, die »Gegebenheiten des Raumes« Realitäten, mit denen gerechnet werden müsse. Die verschiedenen »im Raume wirkenden Kräfte« seien beachtlich für die Entscheidung der Frage, wie der Raum geordnet werden müsse, damit er »dem Volksganzen« 4
Der Jurist Kerrl war bereits seit 1923 NSDAP-Mitglied und SA-Obergruppenführer. Kerrl war 1930 für die NSDAP in den preußischen Reichstag eingezogen und zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich aufgestiegen. Ab Oktober 1935 wurde er Minister für kirchliche Angelegenheiten.
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Muhs war seit 1929 NSDAP-Mitglied und zog 1930 für die Partei in den preußischen Landtag ein. Nach Kerrls Tod 1941 wurde er dessen Nachfolger bei der RfR.
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diene. Für die »Neugestaltung des Lebensraumes eines Volkes« seien aber die »gestaltenden völkischen Kräfte«, die im Menschen liegen, von entscheidender Bedeutung. Eine »wirkliche und echte Raumordnung« sei erst in dem Staate des »überindividualisitischen Nationalsozialismus« möglich (Muhs 1937, 519). Als zweite zentrale Raumplanungsorganisation wurde im Dezember 1935 die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) gegründet6 und der RfR zur Seite gestellt. Die RAG sollte die gesamte Raumforschung zusammen fassen und wichtige Fragen der Raumordnung einer beschleunigten Lösung zuführen. In ihr waren die verschiedensten Disziplinen zusammengefasst und für die Aufgaben der Raumordnung mobilisiert (Leendertz 2008, 107). Die RAG war verantwortlich für die Vergabe von Fördermitteln und die Ausbildung des Nachwuchses. Als Leiter (›Obmann‹) der RAG wurde Konrad Meyer (vgl. S. 175f.) bestimmt, zudem wurden örtliche Hochschularbeitsgemeinschaften für Raumforschung eingerichtet. Der Obmann der RAG sollte an jeder Universität (auf Vorschlag der Rektors) linientreue Hochschullehrer als Leiter der jeweiligen Arbeitsgemeinschaft ernennen (Venhoff 2000, 16). Im Jahre 1936 existierten bereits vierzig solcher Hochschularbeitsgemeinschaften (Leendertz 2008, 117). Mit ihnen gelang es, die Raumplanung an den deutschen Hochschulen als eigene Disziplin zu etablieren. Untereinander waren die Hochschularbeitsgemeinschaften durch thematische Arbeitskreise (AK) der RAG verknüpft, denen auch Vertreter der Landesplanungsgemeinschaften und der RfR angehörten. RfR und RAG verkörperten den neuen Stellenwert der Raumplanung im Nationalsozialismus und die Verflechtungen zwischen Wissenschaft, Politik und Verwaltung. Auf breiter Front wurden neue Forschungseinrichtungen aufgebaut, während Parteidienststellen und Verwaltung die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft suchten. RfR und RAG waren Teil der Verwaltungs- und Planungsbürokratie, die in den Jahren nach 1933 den sozialen Aufstieg akademisch ausgebildeter Experten weiter beförderte (ebd.). Die Raumforschung von RfR und RAG war konzipiert als dezidiert wertgebundene Instanz wissenschaftlicher Politikberatung. Neben dem Glauben, rationale Entwürfe räumlicher Ordnung mit Hilfe von Wissenschaft und Technik konkret umsetzen zu können, trat nun die Bereitschaft und die Möglichkeiten des totalitären Staates (ebd. 115). Die Raumplaner zogen dabei aus ihrer Position zwischen Politik und Wissenschaft den größtmöglichen Nutzen. Für die Politik erfüllte die Raumplanung als Wissenschaft eine Problemlösungs- und Legitimationsfunktion. Daher stellte die Politik der Raumplanung gerne die (von den Raumplanern für notwendig erachteten) Ressour6
Durch gemeinsamen Erlass von Kerrl und Bernhard Rust, dem Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.
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cen zu Verfügung. Die Raumplanung arbeitete jedoch von Anfang an bei der Konzipierung dieser Probleme selbst mit. Durch die Einbindung in die Bewertung und Verwertung wissenschaftlicher Thematisierungen im politischen Prozess wurde in dieser Konstellation die »vermeintliche Wertfreiheit wissenschaftlichen Wissens« permanent unterlaufen (ebd. 121f.).7 Die vor allem im rechtskonservativen, völkischen Milieu entwickelten Begrifflichkeiten und Begründungen der Raumplanung zeigten sich äußerst kompatibel zum nationalsozialistischen Diskurs. Anfang der 1930er Jahre konstituierte sich der Begriff ›Raumordnung‹, der bis heute ein zentraler raumplanerischer Fachterminus geblieben ist. Der Begriff ›Raumordnung‹ war geeignet, den kompletten – Wirtschaft und Gesellschaft umfassenden – Gestaltungsanspruch der Raumplanung in den Vordergrund zu rücken. Der völkische Publizist Arthur Mahraun proklamierte 1932, der »Revolution der Maschine« müsse die »Revolution der Raumordnung« folgen, und diese Revolution könne nur in einem »Rückmarsch zur Scholle« enden (Mahraun 1932, zitiert nach Leendertz 2008, 100). Ziel von Raumplanung und Raumordnung sei es, so der Architekt Carl Lörcher, das »in seiner Existenz bedrohte Volk auf zu engem Raum« zu schützen und »seine Existenzgrundlagen, seinen Boden und seine Wirtschaftsmittel« neu zu ordnen. Der Bestand des deutschen Volkes müsse als »Bluts- und Schicksalsgemeinschaft« gesichert, der Raum »als Lebensgrundlage und ewige Erneuerungsquelle seines Volkstums und seines Blutes« erhalten werden (Lörcher 1934, zitiert nach Leendertz 2008, 101). Der Wirtschaftswissenschaftler Hans Weigmann forderte eine wissenschaftlich begleitenden »Raumforschung«, die aufgrund der »Totalität des Forschungszieles« eine interdisziplinäre Ausrichtung erfordere. Genauso, wie die »Volksgemeinschaft« an die Stelle der zersplitterten, fragmentierten Gesellschaft trete, müsse die Zersplitterung und Frag7
In der aktuellen Rezeption wird die Arbeit von RfR und RAG aufgrund »unklarer Kompetenzen« als »relativ wirkungslos« beschrieben (Pahl-Weber 1993, Venhoff 2000, 73; mit Bezug auf Venhoff auch Leendertz 2008, 127; Blotevogel 2003 sowie Wikipedia). Meines Erachtens ist es jedoch generell schwierig, die Wirksamkeit von Raumplanung auf ›Raumentwicklung‹ zu beurteilen. Schon deshalb ist die Wirkung von RfR und RAG vor allem in Bezug auf die langfristige institutionelle Ausgestaltung der Raumplanung in Deutschland zu bewerten. Und hier scheinen die beiden Institutionen durchaus wirkungsvoll gewesen zu sein (Institutionalisierung auf Bundesebene, Herausbildung der Disziplin Raumplanung, vgl. auch Umlauf 1986). Weiterhin ist die Interpretation von PahlWeber und Venhoff auch deshalb zu hinterfragen, weil innerhalb der Disziplin mit einer ähnlichen Begründung (der angeblichen Wirkungslosigkeit der nationalsozialistischen Raumplanung allgemein) die eindrucksvolle personelle und inhaltliche Kontinuität nach dem Krieg gelungen ist (vgl. Kapitel 5.3).
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mentierung innerhalb der Wissenschaft überwunden werden. (Weigmann 1935, zitiert nach Leendertz 2008, 103). Der Landesplaner Martin Pfannenschmidt führte aus, es gebe erst dann eine wirkliche »Bindung des gesamten Deutschtums an Blut und Boden«, wenn die landlose städtische Arbeiterschaft erneut mit »Grund und Boden verwurzelt« werden würde, andernfalls bestehe die Gefahr, dass »der Gewinn an rassischer Veredelung« und an »gesteigerter Geburtlichkeit des Bauernstandes« durch eine »rassische und geburtliche Unterbilanz des städtischen Arbeiterstandes« wieder aufgewogen werden würde (Pfannenschmidt 1933, nach Leendertz 2008, 89). Die exemplarischen Zitate belegen, wie leicht sich raumplanerische Zielsetzungen – ob aus Überzeugung, Opportunismus oder taktischen Gründen – mit nationalsozialistischem Gedankengut verknüpfen ließen (Leendertz 2008, 89). Die Institutionalisierung der Raumplanung und die Festigung ihrer Begrifflichkeiten gingen einher mit einer – auf der Geopolitik und der Bevölkerungslehre8 basierenden – dezidiert nationalsozialistischen Begründung und Zielrichtung. Rassenideologische Elemente der nationalsozialistischen Agrar- und Bevölkerungspolitik vermischten sich in der Raumplanung mit Traditionen der Großstadtkritik und der Gartenstadtbewegung. Das Bild der geordneten Raumstruktur, das die Raumplaner entwarfen, war dabei an Ebenezer Howards Gartenstadtmodell (vgl. Kapitel 6.2) und an einer aufgelockerten Siedlungsweise mit fließenden Übergängen zwischen Land und Stadt orientiert. Der Direktor des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk Philipp Rappaport (1879-1955)9 entwarf als raumordnerisches Idealbild das Konzept der ›Landstadt‹, um die eine krisensichere industriellagrarische Mischkultur entstehen sollte, wo der Industriearbeiter »in bodenständiger Siedlungsweise fest mit dem Boden verwurzelt« sei, anstatt »in irgendeinem Wohngeschoß des unnötig zusammengeballten Häusermeers der Großstädte dahin zu vegetieren« (Rappaport 1934 nach Leendertz 2008, 89). Die zentrale Gestalt der deutschen Raumplanung während des Nationalsozialismus war Konrad Meyer (1901-1973).10 Nach Meyers Überzeu8
Zur starken Anbindung der Bevölkerungslehre an die Raumplanung und Raumforschung vgl. auch Gutberger 2004, 212f.
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Rappaport war ab 1932 Verbandsdirektor des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk, wurde jedoch 1933 in den Vorruhestand versetzt und 1937 mit einem Arbeitsverbot belegt. Rappaport wurde 1944 verhaftet und in einem Lager für Zwangsarbeiter interniert (Leendertz 2008, 108)
10 Meyer absolvierte 1920 eine Landwirtschaftslehre und studierte danach Landwirtschaftswissenschaft in Göttingen. 1925 promovierte sich Meyer mit einer Arbeit über den Vererbungsgang beim Weizen. Meyer war 1925 bis 1934 Assistent und Privatdozent an der Universität Göttingen und habilitierte sich dort im
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gung wurde für die Raumplanung eine »Wissenschaftshaltung« benötigt, die »nicht so sehr nach abstrahierender Verallgemeinerung ihrer Erkenntnisse« strebe, sondern nach »konkreter Situationsverbundenheit ihrer Ergebnisse«. Eine solche Wissenschaft solle »nicht immer rückwärtsgerichtet das Geschehene« betrachten, sondern »vorausschauend und konstruktiv am Geschehen« mitwirken (Meyer 1941, zitiert nach Aly/Heim 1991, 157). Damit gab Meyer der von Beginn nahe an der politischen Praxis agierenden Raumplanung eine Begründung für ihre Schwerpunktsetzung in einem handlungs- und praxisorientierten Vorgehen (und weniger im analytischen Bereich) mit auf den Weg. Meyer definiert Raumplanung als durch und durch nationalsozialistisches Produkt. Raumplanung und Raumforschung bezeichnet Meyer als »allein aus der Idee des Nationalsozialismus« geborenen Auftrag für die »deutschen Wissenschaft« (Meyer 1938, I). Durch die Stärkung der Raumplanung sei es gelungen, so konstatiert Meyer, »unter Überwindung eines einseitigen Fachprinzips den nationalsozialistischen Gedanken der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit« in den Vordergrund zu rücken und »die Forschung zu den Quellen unseres nationalen Lebens hinzulenken: zu Volk und Lebensraum, zu Blut und Boden« (ebd.). Meyer sieht die Raumplanung in klarer historischer Tradition. Beim Erkennen der »völkisch-politischen Leitlinie unserer Geschichte« trete das große Ziel »vor unser suchendes Auge unverrückbar und fest umrissen: ein starkes einiges deutsches Volk, unser heiliges Drittes Reich!« (Meyer 1937, 438). Meyer und seine RAG waren ab 1936 Herausgeber der Zeitung Raumforschung und Raumordnung, die bis heute unter dem gleichen Namen (und mit fortlaufender Jahrgangszählung) besteht. In der ersten Ausgabe dieser Zeitung leitet Meyer seinen Grundsatzartikel über Raumforschung ein mit einem Zitat Adolf Hitlers über die »Fruchtbarkeit des Lebensraums« und die Beziehung zu diesem ›Lebensraum‹ »je nach den in Betracht kommenden Jahre 1930. 1932 trat Meyer in die NSDAP ein und wurde 1934 zum Schulungsleiter beim Rasse- und Siedlungsamt in Göttingen. Im selben Jahr wurde er auf ein Ordinariat für Ackerbau und Landbaupolitik an die Universität Jena berufen und war gleichzeitig Referent im Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung. Von 1935 bis 1939 leitete Meyer die RAG und war 1936/37 Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seit 1940 arbeitete Meyer mit dem Reichsicherheitshauptamt der SS zusammen und wurde 1941 zum Leiter der Planungsabteilung des Reichskommissariats zur Festigung des deutschen Volkstums ernannt (vgl. S. 187f.). 1942 avancierte Meyer zusätzlich zum Planungsbeauftragten für die Siedlungs- und Landesneuordnung beim Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und wurde zudem Leiter des Siedlungsausschusses für die besetzten Ostgebiete. (Leendertz 2008, 117f.; Aly/Heim 1991, 156 und 185; Heinemann 2003, zu Meyers Karriere nach 1945 vgl. S. 197).
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Rassen«. Meyer erweist sich in den Leitartikeln seiner Zeitung als ein Meister beim Kombinieren des Volk- und des Raumdiskurses. »Raumordnung ist Volksordnung«, formuliert Meyer, allerdings erfolge Raumordnung nicht »um des Raumes«, sondern um des Volkes willen. Volksordnung stelle »selbstverständliche Forderungen an den Raum«. Meyer transformiert dabei die geodeterministische Ausgangslage in eine dem nationalen Volksgedanken untergeordnete Position. Die Raumordnung sei »kein Verteilungsproblem«, da der Raum »keine selbstständige, in sich stehende Größe« darstelle, sondern »unmittelbar dem Volk zugeordnet« sei. Der Raum sei daher in dem Maße zu formen, in dem »sich die volklichen Kräfte ordnen« (Meyer 1937, 434), Aufgabe von Raumplanung und Raumforschung seien die »Neuordnung und Neugestaltung des deutschen Volksbodens« (Meyer 1936, 4). Meyer gelingt es durch die Aufgabenbestimmung der Raumplanung, den entstandenen Riss zwischen der geopolitischen und der nationalsozialistischen Doktrin (vgl. Kapitel 3.2) zu kitten. In der Person Meyer bündelte sich eine große Machtfülle. Meyer wurde zum »Herrscher über ein wahres Wissenschaftsimperium« (Heinemann 2003, 71), das er – unter der Bezeichnung Raumplanung respektive Raumforschung – in ein umfangreiches Geflecht von wissenschaftlichen und politischen Institutionen auszubauen verstand. Hier wurde zum einen eine »hochgradig zeit- und ideologiegebundene Grundlagenforschung« betrieben (ebd. 72), zum anderen konzipierte Meyer die Raumforschung als »dezidiert wertgebundene Instanz wissenschaftlicher Politikberatung«, die aufs engste »an die weltanschaulichen Prämissen des NS-Staates gekoppelt« war (Leendertz 2008, 107). Meyers bedeutende Stellung in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik beruhte dabei nicht nur auf seinen persönlichen Beziehungen, ideologischer Zuverlässigkeit und taktischem Geschick, sondern auch darin, dass er das Potential der Raumplanung im neuen Staat erkannte (ebd. 120). Bevölkerungsdichte war im nationalsozialistischen Diskurs der Raumplanung eine willkommene Kategorie. Dabei wurde das Verhältnis von Bevölkerung zu Raum sowohl beim (expansionistischen) Blick nach außen, als auch beim Blick auf die inneren Verhältnisse des deutschen Reichs thematisiert. Hermann Muhs formuliert – in Variation des geopolitischen Diskurses – die »Raumnot« als zentrales Problem des deutschen Volkes, ausgedrückt durch das »Mißverhältnis von Bevölkerungsgröße und Raumfläche«, das entstehe, »wenn die von der Erzeugungsfähigkeit der Bodenfläche vorgeschriebene Höchstgrenze der Bevölkerungszahl« überschritten werde (Muhs 1938, zitiert nach Leendertz 2008, 113). Die ›Raumnot‹ diente dabei sowohl der Legitimation der deutschen Expansionsbestrebungen, als auch der Begründung für die nach innen gerichtete Ordnungsaufgabe. »Raumnot führt zur Raumordnung, das ist räumliche Disziplin, die ihrerseits einheitliche Führung und Vorbereitung, also Raumplanung bedingt« (Muhs o.J., zitiert
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nach Leendertz 2008, 114). Hinsichtlich der innenpolitischen Relevanz definiert Hans Weigmann Raumordnung als »Volksordnung«, die alleine fähig sei, das 19. Jahrhundert zu überwinden, indem sie die »Masse zu meistern vermag«, die dem »abendländischen Kulturkreis zum Verhängnis werden droht«. Mittel zur Erreichung dieses Zieles sei die »Auflockerung der verhängnisvollen Ballungen« (Weigmann 1935, zitiert nach Leendertz 2008, 102). Mit dem Ausdruck ›Ballung‹ wird dabei erneut auf einen Begriff abgestellt, der ein Synonym für örtlich konzentrierte Bevölkerungsdichte ist und eine vor allem im raumplanerischen Diskurs verwendete (negativ konnotierte) Kategorie bildet, die auch im Nachkriegsdeutschland noch umfangreich verwendet wurde (vgl. Kapitel 5.3). Für Meyer selbst kennzeichnete der Gegensatz zwischen »dicht besiedelten Ballungsgebieten« und »dünn besiedelten ländlichen Räumen« den Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft (Meyer 1937, nach Leendertz 2008, 131). Diesen Gegensatz sah er als Ergebnis einer ökonomischen Entwicklung, gegen die es mit Hilfe der Raumplanung gegen zu steuern galt (ebd.). Zentrale Aufgabe der Raumplanung wurde daher die ›Angleichung‹ der »Bevölkerungs- und Betriebsdichte« im Reich und damit die ›Entlastung der Ballungsgebiete‹ (Walter Blöcker 1936, nach ebd. 114). Die Reduzierung der Bevölkerungsdichte sollte durch Raumplanung erfolgen, und zwar durch eine aktive Siedlungspolitik, also die Lenkung des Wohnungsbaus aus den ›Ballungsgebieten‹. Die Raumplanung, so lässt sich dieser Blick auf die Entstehung der Disziplin zusammenfassen, ist im Kontext der völkisch nationalen Diskurse Anfang des 20 Jahrhunderts entstanden. Raumplanung wurde als ›Instrument der Ordnung‹ eingesetzt, an die Stelle des Planlosen sollte, das hatten die Stadt- und Landesplaner schon in den zwanziger Jahren stets wiederholt, das Planmäßige treten, an die Stelle des Ungeordneten das Geordnete (Leendertz 2008, 200). Bei der Entstehung der Raumplanung waren zwar teilweise auch dem liberalen oder auch sozialistischen Umfeld zuzurechnende Protagonisten beteiligt (auch in der klassischen Moderne wurden übergreifende Neuordnungsgedanken gehegt), Planung an sich hatte (auch) eine fortschrittliche (moderne) Konnotation.11 Die wichtigsten Begriffe, Institutionen und Plattformen der Raumplanung sind jedoch erst nach 1933 entstanden, erst im Nationalsozialismus wurde die Raumplanung zu einer anerkannten und einflussreichen Disziplin. Ursache für diesen Bedeutungszuwachs war insbesondere die theoretische Einbettung der Raumplanung in den Kern der nationalsozialistischen Idee. Das Konstrukt Bevölkerungsdichte war Bestandteil der raumplanerischen Bestandserhebungen, die Etablie11 Zu den Gemeinsamkeiten im Ordnungsdenken der Moderne, des konservativ-nationalen und des nationalsozialistischen Diskurses vgl. auch ausführlich Kapitel 6.3.
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rung der Raumplanung war in die bevölkerungspolitischen und geopolitischen Volk-und-Raum-Diskurse eingebunden, in denen mit dem Konzept umfangreich agiert wurde. Die ›Veränderung der Bevölkerungsdichte‹ als dezidiertes Ziel rückte jedoch erst nach Kriegsbeginn in den Mittelpunkt der raumplanerischen Aktivitäten.
5.2 B LÜTEZEIT Die Umsetzung der raumplanerischen Ziele im NS-Staat war anfangs noch weitgehend hinter den formulierten Ansprüchen zurückgeblieben. Die tatsächlichen Siedlungsstrukturen im ›deutschen Reich‹ waren, das mussten die Raumplaner bald erkennen, nur schwer einem Idealbild (respektive einer Idealrechnung) anzugleichen. Die gewachsenen Strukturen ließen sich selbst im totalitären NS-Staat nicht kurzfristig per Dekret (und auch nicht per Plan) grundlegend ändern (›optimieren‹). Mit Kriegsbeginn änderte sich jedoch die Lage. Der deutsche Expansionskrieg schuf mit den eroberten Ostgebieten ein neues Anwendungsgebiet und darin ungeahnte Potentiale, eine umfassende Raumordnung zu planen und umzusetzen. Und die deutschen Raumplaner wandten sich der neuen Aufgabe mit großem Tatendrang zu. Der im völkisch-nationalen Umfeld schon lange verspürte und in der Geopolitik mit dem ›Lebensraumkonzept‹ legitimierte ›Drang nach Osten‹ erfuhr nun seine Verwirklichung, und die Raumplanung stand bereit. Die »planvolle Durchdringung vor allem des Ostens«, das hatte man auch schon vor Kriegsbeginn im raumplanerischen Sprachrohr Raumplanung und Raumforschung lesen können, sei noch wichtiger, als die »Bereinigung der Zusammenballung in den Industriegebieten und Großstädten« (SchulzKiesow 1937, 159). Die ›eingegliederten Ostgebiete‹ erwiesen sich als »Innovationsmotor für die Entwicklung von raumplanerischen Konzepten« (Leendertz 2008, 143), die Raumplanung erlebte ihre erste ›Blütezeit‹.1 Die theoretischen Grundlagen dieser Innovationen wurden in erster Linie mithilfe des Konzepts der ›Tragfähigkeit‹ entwickelt. Mit diesem aus dem geopolitischen Diskurs stammenden Konstrukt (vgl. Kapitel 3.2), das zudem etliche Anleihen in der Bevölkerungslehre und Bevölkerungswissen1
Als ›Blütezeit‹ der deutschen Raumplanung wird häufig die Phase von 1965 bis 1975 bezeichnet (vgl. Blotevogel 2003). Ariane Leendertz zeigt jedoch in ihrer umfangreichen Analyse der Geschichte der Disziplin, dass zumindest von zwei Hochphasen – den 1960er und den frühen 1940er Jahren – auszugehen ist und verwendet für beide Phasen den Ausdruck ›Planungseuphorie‹ (Leendertz 2008, 12).
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schaft und deren Bewertungssystemen nimmt (vgl. Kapitel 4.1), wurde in der Raumplanung ein Theorieansatz entwickelt, der die Bestimmung und Durchsetzung eines ›Bevölkerungsoptimums‹ für eine Nation oder eine Region zum Ziel hatte. Der wichtigste Protagonist des Tragfähigkeitskonzepts in der Raumplanung war Gerhard Isenberg (1902-1975),2 der »entscheidende Mann« für die Grundlagenforschung der Ostplanung der SS (Gutberger 1996, 404). Isenberg definiert »Tragfähigkeit« als »optimale Bevölkerungsdichte«, als »die Zahl der Menschen, die in einem Raum unter einigermaßen gesicherten Verhältnissen leben, d.h. ihren Unterhalt und ihre Existenz finden können« (Isenberg 1941, 5f.). Das »größenmögliche Verhältnis der Bevölkerung zum besiedelten Raum« würde ausgedrückt durch die »Volksdichte«, also durch »die Zahl der Menschen je Quadratkilometer«. Der Unterschied zwischen »Tragfähigkeit« und der »Volksdichte« sei die »Aufnahmefähigkeit eines Raumes für neu hinzukommende Menschen«. ›Tragfähigkeit‹ ist in diesem Verständnis die optimale Dichte, ›Volksdichte‹ dagegen die maximale Bevölkerungsdichte.3 Natürlich könne auch ein »negativer Wert« entstehen, in diesem Fall sei von »Überbevölkerung« zu sprechen (ebd.). Ab einer »gewissen Volksdichte« erfordere jeder weitere Zuwachs an Menschen – gleichbleibende technische und soziale Voraussetzungen angenommen – die »Ausnützung von zusätzlichen Grundlagen unter ungünstigeren Bedingungen«. Die Grenze der Aufnahmefähigkeit sei erreicht, wenn der Mehrertrag durch den jeweiligen Mehraufwand an Arbeit »aufgezehrt« würde. Diese Grenze ließe sich durch technische und soziale Mittel hinausschieben, aber nicht aufheben (ebd.). Isenberg untersucht ausführlich die Frage, welche Höhe der »Volksdichte« hinsichtlich des »volkswirtschaftlichen Gesamtertrages« als »tragfähig« anzusehen sei (Isenberg 1941, 7). Je günstiger der Erlös für die verkauften Waren im Verhältnis zu den eingeführten Waren seien, desto höher könne auch die »Volksdichte« sein. Ob eine solche ›hohe Dichte‹ für die 2
Isenberg begann 1924 ein Studium der Mathematik und Physik, wechselte nach zwei Semestern zur Wirtschafts- und Landbauwissenschaft und promovierte 1930 an der Universität Tübingen. 1933 trat Isenberg in die SA, 1937 in die NSDAP ein. 1934/35 war Isenberg wissenschaftlicher Sachbearbeiter in der Reichsstelle des Reichsernährungsministeriums, von 1935 bis zum Kriegsende Referent für Statistik und Planungsgrundlagen der Reichsstelle für Raumordnung (Gutberger 1996, 355) und von 1940 bis 1943 auch Lehrbeauftragter an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität (Leendertz 2008, 109f.). Zum Lebenslauf von Isenberg nach 1945 siehe S. 197.
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Im geographischen und bevölkerungswissenschaftlichen Diskurs war diese Definition allerdings nicht gebräuchlich. In der Regel (und auch von Isenberg selbst) wird ›Volksdichte‹ einfach mit ›Bevölkerungsdichte‹ gleichgesetzt.
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»nationale Sicherheit« wünschenswert wäre, so erläutert Isenberg, müsse allerdings »von den jeweiligen Verhältnissen eines Staates« aus geprüft werden (ebd. 9). Wenn man auf eine verhältnismäßig ›hohe Dichte‹ Wert lege, seien all die Faktoren zu fördern, die »für eine hohe Tragfähigkeit günstig sind« (ebd.). Isenberg nimmt in seinen Ausführungen direkten Bezug zur Bevölkerungsformel von Paul Mombert (vgl. S. 143). Als Faktoren der ›Tragfähigkeit‹ nennt Isenberg die Bodenbeschaffenheit, das Klima, den Stand der Produktionstechnik und die »Sozialverfassung«. Unter letzterem versteht er die Geschäftsmoral, den Arbeitseifer und die »allgemeine Moral eines Volkes« (Isenberg 1941, 9). Wichtigste Variable der Tragfähigkeitsrechnung sei der Lebensstandard. Bei ›deutschem Lebensstandard‹ werde »mehr Raum gefordert als bei polnischem«, und »passive Völker und Rassen« würden sich den »Schwierigkeiten des Lebenskampfes« durch eine »weitere Einschränkung ihrer Bedürfnisse«, also durch eine »Senkung der Lebenshaltung«, anpassen (ebd.). Isenberg berechnet mit seiner ›Tragfähigkeitsmethode‹ unter anderem die maximale Anzahl der Industriearbeiter. In nichtlandwirtschaftlichen Betrieben könnten in Deutschland, so Isenbergs Ergebnis, »unter günstigen Bedingungen« 79 Menschen pro Quadratkilometer tätig sein. Auf diese Zahl kommt Isenberg durch die Berechnung der Nettomarktleistung der landwirtschaftlichen Produktion, der »innergebietlichen Verwendungsquote der landwirtschaftlichen Einnahmen«, der Verwendung der Einkommen der übrigen Wirtschaftszweige und dem durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen der nicht-landwirtschaftlichen Bevölkerung. Diese Werte könnte man »auf Heller und Pfennig« nachrechnen (Isenberg 1941, zitiert nach Leendertz 2008, 174). Die ›Tragfähigkeit‹ ist das zentrale Konzept der nationalsozialistischen Raumplanung. Mithilfe der Tragfähigkeitsberechnung wurde der Terminus ›Raumnot‹ begründ- und quantifizierbar und konnte gleichsam im Sinne eines Naturgesetzes ›objektiviert‹ werden (Leendertz 2008, 113). Isenberg kombinierte die Theorien der Geopolitik und der (sich auf Malthus beziehenden) Bevölkerungslehre und leitete aus dieser Kombination ein anwendungsorientiertes raumplanerisches Ziel ab. Isenberg konstruierte dieses Ziel als wissenschaftlich und mathematisch exakt errechenbares Produkt und qualifizierte dadurch die Bevölkerungsdichte von der Analysekategorie zum eindeutig definierbaren Zielpunkt. Die ›Neuordnung des Reiches‹ (und der bereits eroberten respektive noch zu erobernden Gebiete) konnte aus raumplanerischer Perspektive fortan auf die Angabe der ›optimalen‹ (beziehungsweise ›tragfähigen‹) Bevölkerungsdichte reduziert werden. Bei der Verknüpfung des Tragfähigkeitskonzeptes mit den Begriffen ›Lebensraum‹ und ›Lebensstandard‹ bediente Isenberg auch die geopolitische und völkische Ausrichtung des Nationalsozialismus. Das quantitative Konzept wurde mit der Betonung des speziellen Volkes qualitativ erweitert, diese spezielle (auf
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ein bestimmtes Volk bezogene) Bevölkerungsdichte konnte als Ziel der nationalsozialistischen Politik verwendet werden. Neben dem ›Tragfähigkeitskonzept‹ etablierte sich das ›Zentrale-OrteKonzept‹ zum zweiten methodische Grundpfeiler der Raumplanung. Dabei hatte das Konzept von Walter Christaller (1893-1969)4 ursprünglich gar nichts mit der Disziplin zu tun. Christaller erarbeitete das Modell in seiner 1933 veröffentlichten Dissertation. Christallers Arbeit ist – dezidiert als rein theoretisches Werk – als »ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Anzahl, Verteilung und Größe der städtischen Siedlungen« am Beispiel von Süddeutschland konzipiert (Christaller 1933, Vorwort). Christallers Ausgangsfrage lautet, warum städtische Siedlungen so regelmäßig verteilt und was die Gründe für ihren jeweiligen Standort sind, seine Annahme ist es, dass in der Verteilung der Städte »doch irgendein ordnendes Prinzip waltet, das wir bloß noch nicht erkannt haben« (ebd. 11). Christaller diskutiert ausführlich die theoretische Herleitung seines Modells.5 Zur Analyse der Verteilung der Städte zieht er die ökonomische Theorie heran und verweist dabei zum einen auf die klassische Nationalökonomie, zum andere auf die sozioökonomische Literatur (ebd. 17). Aufbauend auf die ökonomische Theorie entwickelt Christaller eine morphologische Herangehensweise, bei der er sich insbesondere auf die verkehrs-
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Christaller begann im Jahre 1913 in Heidelberg ein Studium der Philosophie, das durch seinen Kriegsdienst im ersten Weltkrieg allerdings bald unterbrochen wurde. Nach dem Krieg arbeitete Christaller unter anderem als Bergmann und Bauarbeiter und war in den 1920er Jahren Mitglied der SPD. Erst 1929 setzte er sein Studium in Erlangen fort (Volkswirtschaft und Geographie) und promovierte sich 1933. 1937 wurde Christaller Stipendiat der RAG und Mitglied der ›Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung‹ der Universität Freiburg. Dort habilitierte er sich im Jahre 1938. Ab 1940 war Christaller freier Mitarbeiter im ›Reichskommissariat für die Festigung des deutschen Volkstums‹ (s.u.) (Aly/ Heim 1991, 186).
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Christaller unterscheidet zwischen ›Gesetzen‹ (Naturgesetzen) und ›Gesetzmäßigkeiten‹ (historischen Gesetzen) und stellt die Frage, ob ökonomische Gesetze überhaupt möglich seien (Christaller bejaht diese Frage entschieden). Weiterhin gliedert Christaller in ›allgemeine‹ und ›besondere‹ Theorie, wobei letztere »nur unter der Voraussetzung eines bestimmten, zeitlich und kulturkreismäßig festgelegten Wirtschaftssystems Gültigkeit« habe (ebd. 134). Ob sein Modell allgemeiner oder besonderer Natur sei, lässt Christaller mit dem Hinweis offen, dass seine Theorie nicht systematisch, »sondern mehr propädeutisch« sein solle und zum Ziel habe, eine »bestimmte gegenwärtige geographische Wirklichkeit« zu erklären.
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geographischen Arbeiten von Johann Georg Kohl6 bezieht. »Hauptberuf einer Stadt« sei es, so formuliert Christaller, der Mittelpunkt eines Gebietes zu sein. Die Anordnung einer Masse um einen Kern (ein Zentrum) sei die »elementare Form der Ordnung«. Damit würde das Bedürfnis zu ordnen nicht nur »aus dem Menschen« heraus erwachsen, sondern die Ordnung sei »real existent« aufgrund der »inneren Gesetzlichkeiten der Materie«. Aus diesem Grundgedanken entwickelt Christaller das Modell der ›zentralen Orte‹, wobei er betont, dass eigentlich gar nicht der Ort selbst zentral sei, sondern vielmehr dessen Funktion, zentrale Güter (Zeitungen, Dienstleistungen etc.) zu produzieren (ebd. 21f.). Bevölkerungsdichte ist bei Christaller ein Merkmal von Zentralität. Das »nähere Zusammenwohnen«, so führt Christaller (wieder in Anlehnung an Kohl) aus, bringe »häufigere gegenseitige Berührung mit sich«. Subjektiv könne diese Berührung eine Höherschätzung und damit einen stärkeren Verbrauch zentraler Güter (die vielfach »kollektivistischer Natur« seien) bewirken. Objektiv ermögliche die »dichtere Bevölkerung« eine stärkere Arbeitsteilung (wodurch viele Güter zentral erzeugt würden), zudem gestatte sie eine »höhere Ausnutzung« der »erforderlichen Kapitalien« (ebd. 39). Christaller gelingt damit eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Be6
Kohl spielt in den zeitgenössischen Debatten über Stadtmorphologie, Stadtgeographie oder Stadtsoziologie keine erkennbare Rolle. Das ist überraschend, da Kohl bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einen umfassenden Erklärungsansatz formulierte. Die künstliche Ausbildung des Lebens in den Städten, so Kohl, »die Vervielfältigung der Bedürfnisse, die außerordentliche Theilung der Arbeit, die Unbehülflichkeit jedes Einzelnen für sich allein, alsdann die den städtischen Geschäften eigenthümliche und nöthige Schnelligkeit der Betreibung, dieß Alles hält die Stadthäuser auf engem Raume zusammen« (Kohl 1850, 169). In dieser Analyse ist bereits viel von dem enthalten, was in der Stadtsoziologie erst etliches später zur Erklärung von Stadt heran gezogen wird: Arbeitsteilung, Konsumtion und Kollektivität (vgl. Kapitel 1). Kohl untersucht das Phänomen ›Stadt‹ und verwendet dabei eine dezidiert soziologische Perspektive: »Jeder Bürger wünscht mit allen seinen Mitbürgern in möglichst nahe Nachbarschaft zu treten, denn er hat sie alle mehr oder minder nöthig« (ebd.). Mit diesem Ansatz begründet Kohl auch die städtische Form. Es gebe den »allgemeinen Satz«, dass »alle Städte sich in Kreisen zu erfüllen streben und ihre Häuserringe auf ähnliche Weise absetzen wie ein Raum seine jährlichen Holzringe« (ebd.166). Zudem gelte die Regel, dass je näher man sich dem Mittelpunkt der Stadt nähere, desto stärker »die Anziehung« zu dieser Mitte sei, desto größer das »Gedränge der Häuser und Menschen«, desto »kostbarer der Boden« (ebd. 175). Und selbst die »Ringe des Stadtorganismus« (70 Jahre später ein theoretischer Meilenstein der ›Chicago School of Sociology‹) denkt Kohl bereits vor (ebd.).
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völkerungsdichte, die zwischen subjektiven und objektiven Wirkungen unterscheidet und sich durch die Wortwahl (»ermöglichen«, »gestatten«) von vereinfachenden Kausalitätsketten abhebt. Christaller konstruiert Bevölkerungsdichte zwar als (eine) Zentralität erzeugende (und von jener erzeugten) Kraft, grenzt sich jedoch explizit gegen den geodeterministischen Diskurs ab. Die »natürliche Ausstattung eines Gebietes«, also die Fruchtbarkeit seines Bodens und die Bodenschätze, habe nämlich keine unmittelbare Einwirkung auf die Entwicklung ›zentraler Orte‹ (ebd. 50). Insgesamt – hier verweist Christaller explizit auf Friedrich Ratzel – sei »große Vorsicht« beim Bezug auf natürlich bedingte Tatsachen der Erdoberfläche geboten, denn die Fruchtbarkeit des Bodens sei »direkt abhängig« von der Lage des Bodens (also von dessen Zentralität). Notwendig sei zudem immer ein In-RelationSetzen zur »ökonomischen Wertvorstellung«. In dieser Hinsicht würden »noch immer viele Fehler gemacht« und »nicht vergleichbare Tatsachenreihen in kausale Verbindung gebracht« werden, die im Ergebnis zur »Inhaltslosigkeit« oder zu falschen Schlussfolgerungen führten (ebd. 261). Das Ergebnis von Christallers Studie ist die Bestimmung von drei Prinzipien, die Verteilung, Größe und Anzahl der ›zentralen Orte‹ ausmachen.7 Primäres und vorherrschendes Hauptverteilungsgesetz in Süddeutschland, so resümiert Christaller seine Analyse, sei das ›Versorgungsprinzip‹ (die durch die ›zentralen Güter‹ verursachte Zentralität der ›zentralen Orte‹), das bei der Siedlungsverteilung »nach allen Seiten gleiche Abstände« generiere und allgemein auf »weniger dichte besiedelte, agrarische Landstriche« angewendet werden könne. An keiner Stelle ist in Christallers Dissertation eine Verbindung zu den (in der Raumplanung jener Zeit bereits hegemonialen) völkischen und nationalen Diskursen festzustellen, sein Ansatz ist auch keineswegs stadtfeindlich, sondern im Gegenteil als Urbanisierungsmodell angelegt (vgl. auch Rössler/Schleiermacher 1993, 9). Christallers Theorie beruht auf einer differenzierten theoretischen Analyse der ökonomischen Theorien und einem ambitionierten Versuch, aus dieser Theorie räumliche (morphologische) Verteilungsmuster abzuleiten. Dabei schwankt Christallers Ansatz zwischen dem Versuch, die räumliche Ausgestaltung der – wie man heute formulieren könnte – gesellschaftlichen Produktion von Raum zu verstehen und der Idee, diese Ausgestaltung als ›natürliches‹ Gesetz zu konstruieren. Christaller wendet sich auf der einen Seite explizit gegen einen vereinfachenden Geodeterminismus und betont, dass alles zu vermeiden sei, was den Raum 7
Die »Versorgungs-, Verkehrs- und Absonderungsprinzipien« könnten geradezu als »Verteilungsgesetze« der ›zentralen Orte‹ (als allgemeine »Siedlungsgesetze«) bezeichnet werden, die »grundsätzlich und oft mit erstaunlicher Exaktheit die Lage der zentralen Orte« festlegen würden (ebd. 252).
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als »etwas selbst Handelndes, Veranlassendes« auffasse, denn nur der Mensch handle und wirke im Raum. Der Raum habe zwar durchaus eine »psychologische Wirkung« auf die Vorstellungswelt, das »Geistesleben« und das Handeln von Menschen, ein solcher »in der Wertvorstellung und Empfindung des handelnden Menschen lebendig werdender Raum« sei jedoch schwer in der exakten wissenschaftlichen Forschung zu fassen, die Geopolitik gebe hier ein warnendes Beispiel (Christaller 1941b, 119). Auf der anderen Seite konstruiert Christaller jedoch dennoch eine Subjektivierung des Raumes und damit eine neuerliche räumliche Kausalität.8 Er gibt damit der Raumplanung einen entscheidenden Impuls bei der Herausbildung eines anwendungsorientierten Instrumentariums. Die als ›reine Forschung‹ angelegte Zentrale-Orte-Theorie wurde in den 1940er Jahren – unter Mitwirkung von Christaller selbst – in die institutionellen Zusammenhänge der nationalistischen Raumplanung integriert und erfuhr dadurch eine entscheidende Modifikation: Das abstrakte Modell musste auf die konkrete Wirklichkeit herunter gebrochen werden. Christaller setzte sich zum Ziel, ›reine Gesetze‹ zu ermitteln, die sich mathematisch in Formeln und Gleichungen fassen und als geometrische Figuren darstellen sollten. Dafür sei ein ›reiner Raum‹ zu denken, der vom konkreten und wirklichen Raum (und vom konkreten und wirklichen Menschen) abgehoben ist. Erst nach der deduktiven Bestimmung der raumtheoretischen Gesetze, so Christaller, werde der konkrete Raum zum Anwendungsfeld der Raumplanung (ebd. 120). Christaller modifizierte seine Raumtheorie dabei zur Vision einer ›Ideal-Landschaft‹, die fortan zum Modell der Raumplanung werden solle (Christaller 1941b, 126). Sowohl für Christallers Zentrale-Orte-Modell als auch für Isenbergs Tragfähigkeitsrechnung war die inhaltliche Klammer der Gedanke der rationalen und der rationellen Organisation der Bevölkerung und Siedlung im Raum. Die beiden Konzepte ›Zentrale Orte‹ und ›Tragfähigkeit‹ basieren auf der Annahme, dass die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen im Raum statistisch erfassbar und berechenbar (Isenberg) respektive geometrisch messbar und darstellbar (Christaller) sind. Mit beiden Ansätzen versuchten die Raumplaner, die Wirklichkeit in Bezug auf ein rechnerisch ermitteltes ›Optimum‹ umzugestalten (vgl. Leendertz 2008, 173). Die Bedeutung beider Konzepte liegt – in Kontinuität der Bevölkerungswissenschaft und Momberts Bevölkerungsformel (vgl. S. 143) – in der »Reduktion komp8
In der zeitgenössischen Raumdebatte wird die Subjektivierung von Raum inzwischen wieder diskutiert. Das zentrale Argument in dieser Debatte ist die ›gesellschaftliche Bedingtheit‹ von Raum, und damit wird (teilweise) auch wieder die These von einer ›räumlichen Bedingtheit‹ von Gesellschaft vertreten (vgl. zur Raumdebatte auch Kapitel 1.3, 3.3 und das Schlusskapitel ›Dichte‹).
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lexer sozialer Vorgänge und Gegensätze auf mathematische Kürzel«, die »den planerischen, ›logisch‹ erscheinenden Zugriff auf die widersprüchliche Realität« erlaubte (Aly/Heim 1991, 106). Die Konzepte ›Tragfähigkeit‹ und ›Zentrale Orte‹ bilden den Kern der raumplanerischen Grundlagentheorie im Nationalsozialismus, Isenberg ergänzte Christallers Rautenschema »quasi um eine empirisch-soziologische Grundlagenforschung« (Gutberger 1996, 404). Sowohl Isenberg als auch Christaller waren Mitglieder des Arbeitskreises ›Zentrale Orte‹ der RAG, das Konzept der ›Tragfähigkeit‹ ist »die notwendige Ergänzung«9 zum Modell der ›Zentralen Orte‹ (Leendertz 2008, 167). Isenberg selbst formuliert, dass »Größe, Funktion, Entfernung und Lage der ›Zentralen Orte‹« von der »Tragfähigkeit des Gesamtgebietes« abhingen (Isenberg 1941, 5). Isenberg meldete weiteren Forschungsbedarf hinsichtlich der »Bedeutung der sozialen Organisation«, der »politischen Sicherheit«, der »allgemeinen Moral« für die »Tragfähigkeit eines Raumes« und überhaupt für die »Lebensführung eines Volkes« an, und zwar gerade unter dem »Gesichtspunkt der ›Zentralen Orte‹« (ebd. 8). Dabei ließe sich dann auch die »partielle Tragfähigkeit für bestimmte Berufe und soziale Gruppen« klären, etwa die »Tragfähigkeit bzw. die Existenzmöglichkeit« für die »sogenannten Intelligenzberufe«, für die »gelernten Facharbeiter«, dann aber »überhaupt für das Landund Stadtvolk« (ebd.). Diese Fragen der »partiellen Tragfähigkeit«, so Isenberg weiter, seien für die zentralen Orte von größter Bedeutung. Die Frage, »wie viel Menschen« für die »Menschenführung, für die Verwaltung und Kontrolle, für die private Versicherungstätigkeit usw.« angesetzt werden müssten, sei für »die Stellung der einzelnen Völker innerhalb des europäischen Raums« und für die »Entwicklung ihrer Städte« maßgeblich (ebd.). Die Raumplanung wurde 1939 in die Kriegsplanung integriert und auf die militärische Eroberung folgte die planerische Inbesitznahme. Fünf Wochen nach Kriegsbeginn kündigte Hitler in einer Reichstagsrede an, »eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse« in Europa zu schaffen und übertrug die ›praktisch-organisatorische Seite‹ dieser Zielstellung an Heinrich Himmler. Himmler griff für diese ›Neuordnung‹ auf die Expertise der Disziplin Raumplanung zurück. Die Raumplaner sollten die ›Neuordnung der Ostgebiete‹ vorbereiten und steuern, und für diese Aufgabe wurde
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Allerdings wurde in der damaligen Debatte teilweise auch eine andere Position bezogen. So monierte der Raumplaner Walter Geisler, dass im Rauten-Schema der ›zentralen Orte‹ die ›Funktion der Volksdichte‹ bzw. der ›Tragfähigkeit‹ vernachlässigt werde (nach Gutberger 1996, 215).
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das Reichskommissariat für die Festigung des deutschen Volkstums10 (RKF) geschaffen. Die führenden deutschen Raumplaner wurden in das RKF eingebunden und rückten damit in die Schaltzentrale des nationalsozialistischen Machtapparates. Das RKF ging aus der Leitstelle für Ein- und Rückwanderung hervor, die bereits im Juni 1939 für die Umsiedlung der ›Volksdeutschen‹11 in Südtirol gebildet worden war. Himmler gründete im Oktober 1939 das RKF als Dienststelle, Mitte 1941 wurde es als ›Stabshauptamt‹ zu einem Hauptamt der SS befördert (Widmann 2007, 740). Das RKF war damit auf der höchsten Ebene der SS verankert, die von insgesamt zwölf Hauptämtern gebildet wurde. Die SS selbst war (nach dem Ausschalten der SA 1934) unter der Leitung von Himmler zur mächtigsten Organisation des NS-Apparates aufgestiegen. In kurzer Zeit wurde das RKF zu einem großen und mächtigen, vielfach gegliederten und komplexen Apparat ausgebaut und hatte als ›Hauptamt‹ Weisungsbefugnis und Befehlsgewalt gegenüber der gesamten deutschen Polizei und den Dienststellen der SS (Aly/Heim 1991, 129). Das RKF sollte die »Rassen-, Bevölkerungs- und Strukturpolitik zu einem umfassenden und einheitlichen Konzept für den ›deutschen Wiederaufbau im Osten‹« verknüpfen und die »bevölkerungspolitische Aufgabe vorbereiten« (Aly/Heim 1991, 125f.). Der zentrale Auftrag war die Rücksiedlung »Reichs- und Volksdeutscher« aus dem Ausland und die »Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten« (Kammer/Bartsch 1999, 246). Konkret sollte vom RKF die als ›nicht deutsch‹ eingestufte Bevölkerung der eroberten Ostgebiete ausgesiedelt und zu Arbeitseinsätzen ins ›Altreich‹ verbracht oder ins ›Generalgouvernement‹ abgeschoben werden. Die ›Volksdeutschen‹ waren dagegen aus ihrer Heimat in die eingegliederten Ostgebiete umzusiedeln. Diese programmatische Zielstellung des RKF wurde von Himmler in seinem im Dezember 1940 gehaltenen Vortrag über Siedlung formuliert. Himmler spricht darin von einem Programm zur »Platzschaffung für Volksdeutsche«, mit
10 Himmler selbst war von Hitler zum ›Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums‹ ernannt worden und gründete im Oktober 1939 die Institution mit dem gleichen Namen (RKF). 11 ›Volksdeutsche‹ war die amtliche Bezeichnung der Nationalsozialisten für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die in sogenannten ›Sprachinseln‹ außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs von 1937 (Altreich) und außerhalb der Grenzen Österreichs lebten. Davon wurden die ›Reichsdeutschen‹ unterschieden, die mit deutscher Staatsangehörigkeit im deutschen Reich oder im Ausland lebten. (Kammer/Bartsch 1999, 261)
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dem die jüdische Bevölkerung vertrieben werden solle, um »die deutsche Rasse rein zu halten« (Aly 1995, 197). Die wichtigsten Abteilungen im RKF waren das ›Planungsamt‹, das ›Zentralbodenamt‹ und das ›Amt für Fragen der Menschenverteilung‹ (Leendertz 2008, 129). Das ›Planungsamt‹ war verantwortlich für die bevölkerungs- und strukturpolitische Konzeption der Osterweiterung (ebd. 156). Das RKF war mit den anderen zentralen Institutionen der Raumplanung eng verbunden, durch das ›Kriegsforschungsprogramm‹ kam das RKF mit der Reichsstelle für Raumordnung RfR, der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung RAG und der Deutschen Akademie für Städtebau, Reichs- und Landesplanung DASRL an einen Tisch (Wasser 1993, 15). Leiter der Planungsabteilung der RKF (offiziell seit 1940 ›Hauptabteilung Planung und Boden‹) wurde Konrad Meyer. Für Meyer war das RKFPlanungsamt eine optimale Ausgangsbasis und Polen ein ebenso optimales Betätigungsfeld. Mit Rückendeckung durch die Machtfülle des RKF und Himmlers, dessen ideologische Zielsetzung Meyer teilte, konnte er sich mit ganzer Kraft einem wie nie zuvor planbaren Raum widmen. Meyer schrieb ein Memorandum für Himmlers Vortrag über Siedlung und forderte darin Bevölkerungsverschiebungen in »bis dahin noch nicht diskutiertem Ausmaß« (Leendertz 2008, 230). Selbst bei den Nürnberger Prozessen gab Meyer noch zu Protokoll, dass ihn die Aufgabe ungeheuer gereizt habe, da sich hier einmal die Möglichkeit bot, »am Beispiel eines völlig unterentwickelten Raumes das Wunschbild einer idealen Volks- und Raumordnung planungswissenschaftlich zu entwickeln« (Meyer o. D., zitiert nach Leendertz 2008, 152). Konkret bestand die unter der Bezeichnung ›Umsiedlung‹ betriebene Aufgabe vorerst in der Umsetzung der Siedlungspolitik im annektierten Westpolen. Für kein anderes Land im besetzten Europa entwickelten die Deutschen derartig radikale, auf Massenvertreibungen und Massenmord ausgerichtete Umgestaltungspläne (Aly/Heim 1991, 72). Dafür wurde auf eine »ebenso bewußte wie brutale Bevölkerungspolitik« gesetzt, die Opfer der Umsiedlungsstrategie wurden diskriminiert und »ausgemerzt«, ihre Nutznießer privilegiert und gefördert (ebd. 126). Vom RKF wurde die ›Eindeutschung‹ von Westpolen betrieben, und dazu wurde die jüdische und polnische Bevölkerung vertrieben. Die Wohnungen der Vertriebenen wurden in der Regel den ›Volksdeutschen‹ zugewiesen, die wiederum aus den baltischen Staaten, aus dem sowjetisch besetzten Ostpolen und später aus Rumänien ›rückgesiedelt‹ wurden (ebd.). Die ›Umsiedlung‹, so konstatierte Himmler bald nach Gründung des RKF, erfolge aufgrund »neuester Forschungsergebnisse« und sie werde »revolutionäre Ergebnisse« bringen, weil sie nicht nur »Volkskontingente« verpflanze, sondern auch »die Landschaft völlig umgestalten« würde (Himmler 1940, nach Aly/Heim 1991, 168). Für
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die ›Umsiedlung‹ wurde die Bevölkerung kategorisiert und ›umverteilt‹. Die Menschen wurden aus ihren gewachsenen Lebensumständen herausgebrochen und ihre traditionellen Bindungen möglichst vollständig zerstört. Die ›Gestaltung ihrer neuen Lebensräume‹ und die neue soziale Zusammensetzung erfolgten nach sozialwissenschaftlich entwickelten Kriterien. Im Zusammenhang mit den staatlich gelenkten oder politisch induzierten Bevölkerungsverschiebungen wurde der »Komplex der Tragfähigkeit« auch für die Praxis relevant (Leendertz 2006, 163). Mit der Tragfähigkeitsmethode sollte eine planerische Zielstellung für die eroberten und zu erobernden Ostgebiete entwickelt werden, die ›Tragfähigkeit‹ der Ostgebiete rückte in das zentrale Interesse der Raumplanung. Sie wurde als Voraussetzung sowohl für die Planung der Neuordnung im Osten als auch für die Abschätzung der Rückwirkung auf das Altreich angesehen. Isenberg formulierte, dass exakte Vorstellungen über »die Größenordnung der Bevölkerung«, deren »berufliche Gliederung« und die »räumliche Verteilung« die Grundpfeiler für die »Planung für den Aufbau eines neuen Gebietes« seien (Isenberg 1944, zitiert nach Leendertz 2008, 163). Bei der Gestaltung der Ostgebiete ging es nach der Aussage Isenbergs darum, einen möglichst hohen, mit dem des Altreichs vergleichbaren Lebensstandard zu gewährleisten. Erreicht werden sollte dieses Ziel durch die Herstellung einer vom RKF festgelegten Bevölkerungsdichte von achtzig bis hundert Einwohnern pro Quadratkilometer (Leendertz 2008, 166). Josef Umlauf (1906-1986),12 Leiter der RKFÄmter ›Raumordnung‹ und ›Städtebau‹, errechnete mit Hilfe von Isenbergs Methode für die eingegliederten Ostgebiete eine ›tragfähige‹ Bevölkerungsdichte von exakt 87,5 Einwohnern per Quadratkilometer (ebd. 181). Auch Christaller war in die Ostplanung involviert und ab 1940 vom RKF damit beauftragt, sein Modell der ›Zentralen Orte‹ auf die Ostgebiete anzuwenden,13 wo »planvoll und zielbewußt« in kürzester Zeit »Raumgemeinschaften« geschaffen werden sollten (Christaller 1940 nach Leendertz 2008, 170). 12 Umlauf hatte Architektur in Wien und Berlin studiert und arbeitete ab 1934 in der Planungsabteilung des Reichsheimstättenamtes der Deutschen Arbeitsfront DAF, wo er 1936 zum Abteilungsleiter aufstieg. 1937 wechselte Umlauf erst zur Landesplanungsgemeinschaft Westfalen, ein Jahr darauf zum Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk. 1940 trat Umlauf zum Planungsamt von Meyers RKF an. (Leendertz 2008, 110). Nach dem Kriege war Umlauf ab 1950 technischer Beigeordneter des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk und wurde 1959 dessen Verbandsdirektor. 1965 nahm Umlauf den Ruf an den neu geschaffenen Lehrstuhl für Raumordnung und Landesplanung an der Universität Stuttgart an (ebd. 149). 13 Christaller war wegen seiner politischen Vergangenheit (SPD-Mitglied in den 1920er Jahren) lediglich freier Mitarbeiter beim RKF (Venhoff 2000, 46).
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In der Ostplanung nach Christallers Modell wurden »quasi auf dem Reißbrett« gewachsene Verhältnisse zerstört und eine neue Raumordnung konzipiert, in der Menschen nur noch »als ein Faktor unter vielen« vorkamen (Aly/Heim 1991, 161). Raumgesetze und Raumhierarchie standen bei Christaller gegen die bestehende ›Raumanarchie‹ (ebd.), wenn am »idealen Ort« (den er nach seiner schematischen Darstellung ermittelte) keine Stadt vorgefunden wurde, sah Christaller einfach eine Neugründung vor. Um auf die ›richtige Größe‹ zu kommen, musste dann gegebenenfalls die umliegenden Städte auf ihre ›typische Größe‹ abgewertet werden.14 Das System der Raumplanung erfuhr in der Zusammenarbeit zwischen der zivilen Reichsstelle für Raumordnung und der mit den »exekutiven Möglichkeiten des SS ausgestatteten« Unterabteilung des RKF eine »wechselseitige Dynamisierung« (Aly/Heim 1991, 158), bei der die »Logik der Planer« sich »immer ungebrochener durchsetzen« konnte und welche die Entwürfe »immer rücksichtsloser« werden ließ (ebd.). In der RfR und den RAG errechneten die Raumplaner anhand von Richtzahlen und Zielbildern den ›optimalen‹ Bevölkerungsaufbau (Aly/Heim 1991, 164), in den planerischen Konzepten wurde vorgeschlagen, die Bevölkerungsdichte für breite Landstriche Osteuropas ›herabzusetzen‹ (Aly 1995, 13). Im Planungsamt des RKF wurden Visionen eines kompletten Neuaufbaus der eingegliederten Ostgebiete entwickelt, in denen wie selbstverständlich große Teile der jüdischen und polnischen Bevölkerung nicht mehr vorkamen. Ein Beispiel für die konkrete Raumplanung während des Zweiten Weltkrieges ist der 3. Nahplan, mit dem in den Jahren 1939 bis 1941 im Warthegau15 die Umsiedlungsplanungen durch das Reichssicherheitshauptamt RSHA vorbereitet und umgesetzt wurden. Die erste Fassung des 3. Nahplans vom Oktober 1939 sah den Abtransport einer solchen Anzahl von Polen und Juden vor, die ausreiche, die anzusiedelnden südosteuropäischen ›Volksdeutschen‹ unterzubringen (Aly/Heim 1991, 131). Mit der Umsiedlungsplanung sollte nicht nur die Bevölkerung ausgetauscht, sondern »zugleich die Bevölkerungsdichte gesenkt« werden, um im Ergebnis landwirtschaftliche Betriebe zusammenlegen und so rentablere Wirtschaftseinheiten schaffen zu können. Daher wurden für jeden neu anzusiedelnden Volksdeutschen zwei oder mehr polnische oder jüdische Menschen vertrieben. Das alles geschah »anhand präziser Vorarbeiten« (ebd.). Als direkte Folge des Plans wurden 25.000 Menschen deportiert, die Umsetzung blieb damit je14 Zwischen Radom und Kielce etwa fehle noch, so Christaller, ein Düsseldorf oder Köln als Kulturmetropole mit 450.000 Einwohnern (ebd. 162). 15 Die Reichsgau Wartheland bestand im Verband des Deutschen Reiches von 1939 bis 1945 und war vor dem Angriff Deutschlands auf Polen im September 1939 polnisches Staatsgebiet.
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doch weit hinter den veranschlagten Annahmen zurück. Selbst die vollständige Realisierung des Plans hätte allerdings nicht annähernd die Voraussetzungen dafür geschaffen, »die Utopie einer nachhaltigen bevölkerungspolitischen und ökonomischen Strukturreform Wirklichkeit werden zu lassen« (Aly 1995, 230). Die letzte Version des 3. Nahplans von Anfang 1941 sah die Vertreibung von 770.000 Polen vor. Die polnische Bevölkerung sollte in den weiter entfernten Ostgebieten des Reichs ›untergebracht‹ werden, um für den Vormarsch der Wehrmacht und für andere Zwecke (etwa die Erweiterung des KZ Auschwitz) Platz zu schaffen (ebd.). Auch diese ›Umsiedlungen‹ wurden nicht in der veranschlagten Dimension durchgeführt, da zum einen die Widerstände vor Ort größer als erwartet waren und zum anderen sich die Prioritäten der politischen Führung mit dem Beginn des Russlandfeldzugs geändert hatten. Es zeigte sich, dass die Verschiebung der Bevölkerung durch Deportation, ›Umsiedlung‹ und ›Ansiedlung‹ in der Realität auf unüberwindbare Widerstände stieß. Zudem wurde offenbar, dass nicht auch nur annähernd genügend ›Reichsdeutsche‹ oder ›Volksdeutsche‹ für eine ›Umsiedlung‹ zur Verfügung standen (Leendertz 2008, 176). Aufgrund des »offensichtlichen Paradoxon« der »mangelnden deutsche Bevölkerungszahl für den neu eroberten Lebensraum« (Wolter 2003, 96) machte sich bei den Planern eine gewisse Ratlosigkeit breit. Die »Herren der organisierten Völkerwanderung« wurden zu »Herren der Volksdeutschen- und Polenlager, der Ghettos und Baracken« (Aly 1995, 397). Am 16. März 1941 wurden die ›Umsiedlungen‹ eingestellt. Statt der Neuordnung der Bevölkerung wurden nun eher kleinteiligere Lösungen gesucht. So wurde zum Beispiel die Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus ihren Häusern in die für die ›Volksdeutschen‹ errichteten Auffanglager befördert und die ›Volksdeutschen‹ ihrerseits in den polnischen Unterkünften untergebracht. Statt Aussiedlung lautete die Devise nun Verdrängung (ebd. 238). Das bekannteste Beispiel für die Raumplanung in den Ostgebieten ist der ›Generalplan Ost‹. Mit diesem Sammelbegriff wird eine Reihe von Plänen, Planungsskizzen und Vortragsmaterialien bezeichnet, die zwischen 1940 und 1943 für die Ostgebiete erarbeitet worden sind.16 In der umfangreichen Forschung werden unter dem Begriff ›Generalplan Ost‹ folgende Planungen zusammengefasst:17 die ›Planungsgrundlagen‹ vom Februar 1940 (Planungsamt des RKF), die Materialien zu Himmlers Vortrag ›Siedlung‹ vom Dezember 1940 (Planungsamt des RKF), der ›Generalplan Ost‹ vom Juli 1941 (Planungsamt des RKF), der ›Gesamtplan Ost‹ vom Dezember 16 Vgl. Aly/Heim 1991, Roth 1993, Madajczyk 1993, Wasser 1993, Aly 1995, Gutberger 1996, Heinemann 2003, Leendertz 2008. 17 Das ist keine abschließende Aufzählung; Je nach Definition werden noch weitere Planungen unter dem Begriff ›Generalplan Ost‹ subsumiert.
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1941 (Planungsgruppe Gr. lll B des Sicherheitsdienstes des RSAH)18, der ›Generalplan Ost‹ vom Mai 1942 (Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität) und der ›Generalsiedlungsplan‹ vom September 1942 (Planungsamt des RKF). Die Planungen wurden (auch) von »angesehenen Fachwissenschaftlern an deutschen Universitäten« erarbeitet, ausgestattet »mit üppigen Fördermitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft« (Heinemann 2003, 45). Verbindendes Element der Planungen ist die Person Konrad Meyer. An den verschiedenen Planungen wurde zunächst im Auftrag von Himmler, später auch im Auftrag des ›NSChefideologen‹ Alfred Rosenberg gearbeitet. Die ›Generalplanung Ost‹ gilt in der historischen Forschung »als das Symbol meglamonaner und menschenverachtender Neuordnungsplanung schlechthin« (ebd.). 1940 erschien das erste Konzeptionspapier des Planungsamtes der RKF. In den Städten plante Meyer eine »völlige bauliche Neugestaltung« und eine »Verstärkung des klein- und mittelstädtischen Bevölkerungsanteils« (Meyer 1940, zitiert nach Aly/Heim 1991, 159). Die »allgemeinen Grundlagen« des Plans zeigen das »menschenverachtende Herrschaftsdenken«, der dem Plan zugrunde liegt (Aly/Heim 1991, 159). Im Plan wird die Deportation der gesamten jüdischen Bevölkerung Westpolens vorausgesetzt und mit einer ›Abschiebung‹ von weiteren 3,4 Millionen Polen gerechnet. Im Gegenzug sollten 3,4 Millionen Deutsche neu angesiedelt werden. Für die weitere Planung des gesamten Neuaufbaus wird aus »allgemeinen volksund wirtschaftspolitischen Gründen« eine »durchschnittliche Bevölkerungsdichte von 100 Einwohnern je qkm« zugrunde gelegt. Das Ostgebiet solle als »gemischt agrarisch-industrielles Gebiet« mit einer ähnlichen Sozialund Wirtschaftsstruktur, wie sie beispielsweise »die gesündesten Gebiete Bayerns und unsere Nordwestprovinz Hannover besitzen«, aufgebaut werden (Meyer 1940, zitiert nach ebd.). Trotz der Rückschläge des »Umsiedlungsalltages« brach im Frühjahr 1941 unter den »Strategen der demographischen Neuordnung« eine zweite »Zukunftseuphorie« aus (Aly 1995, 252). Mit Beginn des Aufmarsches gegen die Sowjetunion erschien den Raum- und Siedlungsplanern das ›Generalgouvernement‹ nun nicht mehr als periphere Endstation, jetzt eröffnete sich die Perspektive Abschiebung nach Osten. Nach dem ersten Optimismus des Winters 1939/40, der durch die Schwierigkeiten des Jahres 1940 auf den 18 Das Reichssicherheitshauptamt RSHA, wie das RKF ein Hauptamt der SS, wurde 1939 von Himmler durch die Zusammenlegung von Sicherheitspolizei (Sipo) und Sicherheitsdienst (SD) gegründet. Das Amt war das »gefährlichstes Werkzeug der SS und des nationalsozialistischen Terrors« (Kammer und Bartsch 1999, 245) und mit seinen etwa 3.000 Mitarbeitern die zentrale Behörde der deutschen Sicherheitsorgane zur Zeit des Nationalsozialismus.
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Boden des Faktischen zurückgeworfen worden war, wurde 1941 in einer weiteren Verschärfung der Konzeption festgelegt, für einen ›volksdeutschen‹ Ansiedler (regional gestaffelt) zwei bis drei, in Oberschlesien sogar vier bis fünf Polen (dieser hohe Wert erklärt sich vermutlich mit dem Ziel, die dortige hohe Bevölkerungsdichte zu mindern) zu »evakuieren« (Aly/Heim 1991, 160). Im ›Generalplan Ost‹ von 1941 erarbeitete Meyer die Aufteilung von Polen und der gesamten Sowjetunion in Ansiedlungsund Aussiedlungszonen. In diesem Plan wurden mehr als 200 Millionen Menschen zu Objekten von Raumordnung und Eindeutschung und zu Opfern von Sklaverei, Verschleppung und Vernichtung (ebd. 163). Himmler formulierte das Ziel im Juni 1942 unmissverständlich: Der Krieg hätte keinen Sinn, wenn nach dem Kriege die gesamten annektierten Ostgebiete nicht »nach 20 Jahren total deutsch« besiedelt sein würden (Himmler, nach Aly 1995, 292). In der im Mai 1942 mit finanzieller Unterstützung der DFG fertig gestellten letzten Fassung des ›Generalplan Ost‹19 wurden sämtliche Ostgebiete mitsamt der Sowjetunion überplant. Die riesige Größe dieser Gebiete führte bei Meyer wiederum »zu einer gewissen Ratlosigkeit«, denn es herrschte ein »krasses Missverhältnis« zwischen erobertem Raum und deutschen Menschen, von einem »perfekten Netz aus zentralen Orten«, von »optimaler Bevölkerungsdichte und Wirtschaftsstruktur« oder von einer »exakten Berechnung der Tragfähigkeit« konnte nun eigentlich keine Rede mehr sein (Leendertz 2008, 180). Trotzdem rechneten die Raumplaner weiter. Um in den eingegliederten Ostgebieten auf die »ideale Volksdichte« zu kommen, müsste die Gesamtbevölkerung, so etwa das Ergebnis des RKFPlaners Umlauf, um 2.145.790 Personen reduziert werden (Leendertz 2008, 181). Diese Angabe findet sich auch in den »Dispositionen und Berechnungsgrundlagen« für den ›Generalsiedlungsplan‹. In diesem Dokument wird ausgeführt, dass die Angaben hinsichtlich der »erstrebten Bevölkerungszahl« unter der Annahme einer »völligen Eindeutschung der Gebiete« ermittelt wurden und dass die »erwünschte Einwohnerschaft« einer »gesunden Sozialstruktur« entspräche. Die Bevölkerungsdichte sollte zu diesem Zwecke im »Ost-Siedlungsraum« vom ermittelten Bestand von 98 auf 53 Einwohner auf den Quadratkilometer reduziert werden (siehe Roth 1993, 103f.). Mit den militärischen Niederlagen von Moskau (Winter 1941/42) und Stalingrad (1942/43) begann der Rückzug der deutschen Truppen und die 19 Im September 1942 gab es noch einen weiteren, umfassenden und den gesamten europäischen Raum ins Visier nehmenden ›Generalsiedlungsplan‹ des RKF. Der Entwurf war ein »nach dem bekannten Muster entworfener sozial- und bevölkerungswissenschaftlicher Plan« (Gutberger 1996, 392).
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Raumplaner wurden vermehrt im Katastrophenmanagement gebraucht und eingesetzt – grundsätzliche Neuordnungsplanungen rückten dagegen in den Hintergrund.20 Das Kapitel der Raumplanung im Nationalsozialismus ist damit jedoch noch nicht zu Ende. Ebenfalls im Jahre 1942 wurde auf der Wannsee-Konferenz der industrielle Völkermord besiegelt. Götz Aly, dessen Verdienst es ist, »die Analyse der nationalsozialistischen Volkstumspolitik überhaupt erst mit der Holocaust-Forschung verknüpft zu haben« (Heinemann 2003, 36), sieht die nationalsozialistischen Umsiedlungs- und Raumplanung als direkte und notwendige Voraussetzung des Massenmordes in den Gaskammern. Die Umsiedlung der ›Volksdeutschen‹ und die Ermordung der Juden, die Projekte »Siedlungspolitik/Lebensraum« und »Lösung der Judenfrage« waren institutionell in der Person Himmler zusammengefasst, beide Ziele waren »gleichermaßen bevölkerungspolitische Ziele zum demographischen und herrschaftlichen Umbau Europas« (Aly 1995, 14). »Die Vorgeschichte des Holocausts«, so fasst Aly seine Forschung zusammen, »läßt sich adäquat nur dann nachzeichnen, wenn die ununterbrochene Reduktion und Modifikation aller Umsiedlungsprojekte einbezogen und der Druck vergegenwärtigt wird, der sich infolge des Heim-ins-Reich der Volksdeutschen täglich verschärfte. […] Die Zwänge, die sich aus der deutschen Kriegsführung, dem Heim-ins-Reich der Volksdeutschen und dem damit verbundenen Aus- und Ansiedeln ergaben, beeinflussten immer wieder die jeweils gedachte Form des Projekts ›Lösung der Judenfrage‹ und führten zu immer radikaleren Entwürfen« (ebd. 397). Die Umsiedlungsplanung ab 1939 war seit ihrem Beginn mit dem konkreten Massenmord verbunden (vgl. auch Gutschow 1997, 33), »das permanente Ineinandergreifen von Praxis und Planung kennzeichnete die Versuche zur Abschiebung der Juden von Anfang an« (Aly 1995, 390). Zu Beginn handelte es sich mit der beabsichtigten und durchgeführten »ziellosen Deportation nach Osten« noch um »konventionellen Massenmord« (ebd. 12). Die Juden sollten, das zeigt die RSHA-Planung von 1941, in die Ostge20 Bestandteil der politischen Propaganda war die Raumplanung bis ganz zum Schluss. In der Weihnachtsbotschaft des »Weihnachtsmannes der RfR« für die Kameraden an der Front und auf rückwärtigen Posten heißt es im Dezember 1944: »Die Raumenge des ringsum bedrängten Reiches kann nur durch eine gewissenhafte Raumwirtschaft und Raumordnung gemeistert werden. Gegenüber solcher Aufgabe kann nur der mit Geschick und Erfolg im Raum improvisieren, der das raumplanerische Rüstzeug beherrscht, der also Raumkenntnis und Raumplanungstechnik aus der Zeit gediegener systematischer Arbeit mitbringt. […] Mithin Kameraden, Arbeitsplatz und Auswirkungsmöglichkeiten an dem kommenden raumplanerischen Friedenswerk sind Euch gewiß« (zitiert nach Leendertz 2008, 216).
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biete an die Ostfront deportiert werden, um sie auf dem Marsch dorthin verhungern zu lassen. Erst als sich Mitte 1941 die militärischen Schwierigkeiten an der Ostfront abzeichneten, musste umgeplant werden. Und zwar mit der Systematisierung des Massenmordes, mit der Vernichtung in Konzentrationslagern, mit dem Holocaust. »Dieser Option war das Scheitern aller Deportationsprojekte vorangegangen, dem selbsterzeugte, kumulierende Handlungszwänge entsprachen« (ebd. 392). Der Holocaust ist nach Aly somit zum einen das Ergebnis einer »enttäuschten Siegererwartung«, zum anderen eine logische Weiterentwicklung des Umsiedlungs- und Raumplanungsansatzes. Der systematische Massenmord war die »einfachste Art der Realisierung jener Nah- und Fernpläne«, die die Raumplaner »immer neu entwickelt hatten und nicht verwirklichen konnten« (ebd. 400). Eine weitere These von Aly ist, dass Planung und Durchführung der ›Endlösung‹ nicht auf einem einsamen Führererlass beruhten, dem dann gehorsam gefolgt wurde. Der Holocaust sei vielmehr das Ergebnis eines »politischen Willensbildungsprozesses« (ebd. 388), der im Laufe des Jahres 1941 statt gefunden habe. Der Gang der politischen Willensbildung auch unter den Bedingungen der NSDiktatur war nach Aly ein »mehr oder weniger offener Prozeß«, »die Übergänge zwischen Planungen, Beschlüssen und Praxis blieben fließend, die Grenzen zwischen den beteiligten und interessierten Institutionen durchlässig«. Der Nazistaat sei nicht monokratisch, sondern polykratisch strukturiert gewesen. Die »Nazi-Ideologie«, so Aly, gewann ihre Wirksamkeit nicht aus dem »isolierten, staatlich gesteuerten Haß gegen Juden oder Geisteskranke, Zigeuner oder Slawen«, sondern aus »der totalitären Einheit sogenannter negativer und positiver Bevölkerungspolitik« (ebd. 375). Mit dieser Analyse wird nicht nur die Verantwortlichkeit der Raum- und Umsiedlungsplanung unterstrichen, sondern auch die Bedeutung der mit ihr korrespondierenden Konzepte der Bevölkerungslehre hervorgehoben.
5.3 I NSTITUTIONALISIERTE D ICHTE In diesem Kapitel geht es um die Entwicklung der Raumplanung nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und um die dort (in Relation zu den bisher skizzierten raumplanerischen Inhalten und Konzepten) festzustellenden Brüche und Kontinuitäten. Bei der Konstruktion von ›Dichte‹ in diesem Kontext zeigt es sich zum einen, dass die ›Dichte-basierten‹ Analysemodelle der ›Tragfähigkeit‹ und der ›zentralen Orte‹ in der Disziplin weiterhin Verwendung finden, zum anderen, dass bei der Klassifizierung von Raumtypen – einem vorrangigen Aufgabenfeld der Raumplanung nach 1945 – die Bevölkerungsdichte zu einem zentralen Bestimmungskriterium erhoben wurde.
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Zudem findet sich der Gebrauch der Bevölkerungsdichte auch bei der weiteren Ausformung der bundesdeutschen Strukturpolitik: Im Länderfinanzausgleichsgesetz wurde mit der ›Dichteklausel‹ die Bevölkerungsdichte als ein für die Verteilung der finanziellen Ausstattung der Länder ausschlaggebender Faktor installiert. Die Debatten und die Begründungen dieser Institutionalisierungen der ›Dichte‹ im raumplanerischen Kontext werden im Folgenden dargestellt und diskutiert. Allerdings bleibt dabei die Entwicklung der institutionellen Einbindung des Konstrukts in die Raumplanung der DDR (aus Gründen der Forschungsökonomie) ausgespart. Der Präsident der RAG-Nachfolgeorganisation Akademie für Raumforschung und Landesplanung ARL Karl Heinrich Olsen schreibt in einer Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Institution: »In Wahrheit haben weder Raumordnung noch Raumforschung mit dem Nationalsozialismus auch nur das Geringste zu tun« (Olsen 1960, 3). Dieser Standpunkt ist bezeichnend für die Beurteilung der Raumplanung im fachlichen und politischen Diskurs der Nachkriegsjahre, der zu einem hohen Maß an Kontinuität nach 1945 führte. Bis in die 1960er Jahre wurde die Vergangenheit der Disziplin (abgesehen von den Verstrickungen in den Völkermord) dabei nicht etwa verschwiegen, sondern »aus heutiger Sicht erstaunlich offen vorgetragen« (Heil 2003, 93f.). Zudem entdeckten die Raumplaner die »sozialwissenschaftliche Seite« der Raumforschung und verwendeten sie »als Ausweis der ideologischen Unbedenklichkeit der Raumforschung, ja ihrer Modernität« (Gutberger 2004, 212). Die Planer bedienten dabei weniger die Legende der ›Stunde Null‹, man verwies vielmehr mit Stolz darauf, dass »die Beständigkeit der eigenen Ideen über den politischen Systembruch hinweg ihre innere Notwendigkeit um so deutlicher werden ließ« (Heil 2003, 93). Dieser ›inneren Notwendigkeit‹ wurde entsprochen: Raumplanung und Raumplaner fanden erstaunlich schnell wieder Anschluss an ihre Netzwerke von vor und während dem Kriege, das aus der NS-Zeit geprägte Verständnis der Planungswissenschaften hatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit großen Einfluss auf die rasante Entwicklung und Professionalisierung der Disziplin nach 1945 (Rössler 1993, 359). Den NS-Planern wurde nach dem Krieg so wenig der Prozess gemacht, wie ihre Methoden Gegenstand von Analyse und Aufarbeitung waren (Aly/Heim 1991, 492), beim Wiederaufbau wurde in hohem Maße auf die alten Funktionseliten zurückgegriffen, die schon dem NS-Regime gedient hatten (ebd. 18). Die meisten institutionellen Organisationen der Raumplanung wurden mit Ende des Zweiten Weltkriegs allerdings aufgelöst oder umgewandelt.1 1
Die SS (und damit auch das RKF) wurde von den Alliierten verboten, im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als Gesamtorganisation angeklagt und 1946 vom Internationalen Militärgerichtshof als »verbrecherische Or-
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Die ›Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung‹ RAG arbeitete nach dem Krieg erst einmal weiter. In den Jahren 1949 und 1950 entbrannte um die institutionelle Nachfolge der RAG ein Konflikt (ausführlich dazu Leendertz 2008, 219f.). Der Streit führte dazu, dass zwei zentrale Institute die Nachfolge antraten: die ›Akademie für Landesplanung und Raumforschung‹ ARL mit Sitz in Hannover sowie das ›Institut für Raumforschung‹ IfR mit Sitz in Bad Godesberg. Die Zeitschrift ›Raumforschung und Raumordnung‹ erschien ab 1948 wieder, Herausgeberin war fortan die ARL. Die Hochschularbeitsgemeinschaften führten »so gut es ging« ihre Arbeit fort, lösten sich in den Nachkriegsjahren jedoch mehrheitlich auf (Schultze 1960, 45). Personell gab es in der Raumplanung dagegen kaum einen Bruch. Exemplarisch zeigt sich das an der weiteren Laufbahn von Konrad Meyer2 und Gerhard Isenberg.3 Meyer wurde in seinem Prozess in den zentralen Anklageganisation« verurteilt (Weinke 2006, 75f., Rössler 1993). Im Anschluss an den Hauptkriegsverbrecherprozess folgte eine Reihe von Verfahren, die sich mit Einzelaspekten der Taten der SS beschäftigten. Der achte Folgeprozess (Juli 1947 bis März 1948) befasste sich mit den Verbrechen der ethnischen Säuberung der annektierten Gebiete und der Vertreibung ihrer Bevölkerung. Die Leitungen der drei SS-Hauptämter Rasse- und Siedlungshauptamt, Volksdeutsche Mittelstelle und RKF wurden in diesem Prozess angeklagt, der Leiter des RKF (Oberstabsgruppenführer Ulrich Greifelt) wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Auch Stabsgruppenführer Konrad Meyer saß als Leiter der Planungsabteilung des RKF auf der Anklagebank und wurde zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Die Reichsstelle für Raumordnung wurde als oberste Reichsbehörde nach Kriegsende aufgelöst und ihre Befugnisse an die Länder übergeben (Umlauf 1986, 10; Leendertz 2008, 240). 2
Meyer bekam bald wieder Forschungsaufträge von der ARL. 1953 veröffentlichte er eine Schrift über Nahrungsraum und Überbevölkerung, in der weiterhin die Überlegenheit der »weißen Rasse« und der »germanischen Völker« propagiert werden (Heinemann 2003, 70). 1956 wurde Meyer von der TU Hannover an der Fakultät für Gartenbau und Landeskultur auf den Lehrstuhl Landbau und Landesplanung berufen, den er zum Institut Landesplanung und Raumforschung ausbaute. Hier wirkte er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1968. Ab 1956 war Meyer Mitglied der ARL, von 1965 bis 1973 auch Mitglied des Wissenschaftlichen Rats des IfR. Zudem war Meyer Mitglied verschiedener Forschungsausschüsse, der Redaktion der RuR und federführender Redakteur des Grundlagenwerks Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung (Leendertz 2008, 228).
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Isenberg verbrachte das erste Nachkriegsjahr in einem amerikanischen Internierungslager, wurde jedoch schon 1946 wissenschaftlicher Referent in der Landesplanungsabteilung des Innenministeriums von Württemberg-Hohenzollern.
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punkten (»Kriegsverbrechen« und »Verbrechen gegen die Menschheit«) freigesprochen und lediglich für seine Mitgliedschaft in der SS verurteilt (Heinemann 2003, 67). Die erfolgreiche Verteidigungsstrategie stellte die Raumplanung als unpolitisches wissenschaftliches Beiwerk der Osterweiterung dar, mit Um- und Aussiedlungen hätte das RKF nichts zu tun gehabt (ebd. 65f.). Das Gericht kam zu der Einschätzung, dass die Untersuchung des ›Generalplan Ost‹ sowie des Schriftwechsels, der sich mit diesem Plan befasst, »nichts Belastendes« ergebe (Urteil des Militärgerichts in Nürnberg, zitiert nach Rössler 1993, 366). Maßgebliches Argument war, dass der ›Generalplan Ost‹, da für die Zeit nach dem Krieg konzipiert, nicht umgesetzt worden sei und reine Theorie geblieben wäre. Durch das Urteil des Nürnberger Gerichtshofes wurden die »planerischen Konzepte ihres gesellschaftlichen und politischen Kontextes beraubt« und der »Vernichtungsplan ›Generalplan Ost‹« als rein ›wissenschaftliche‹ und ›technische‹ Planung eingestuft. Damit wurde der Weg frei für die »bruchlose Kontinuität der Planungspraxis in der Nachkriegszeit« (Rössler 1993, 362). Bei der inhaltlichen Einbettung der Raumplanung wurde nach 1945 – bei Ausblendung des rassistischen Großraumdenkens – auf die wesentlichen Begründungen der 1920er bis 1940er Jahre zurückgegriffen und die Raumordnung dabei als ›vorwissenschaftlich‹ konstruiert. Erich Dittrich, einflussreicher Raumplaner in den 1950er bis 1970er Jahren, definiert Raumordnung als System von Gedanken über die ›richtige‹ Zuordnung von Mensch, Volk und Raum, wobei der Inhalt dieses »Richtigen« in »tieferliegenden Schichten« verortet sei, auf denen die herrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leitbilder gründeten (Dittrich 1953 nach Leendertz Im Jahre 1947 wurde Isenberg vor der Spruchkammer Leonberg angeklagt. Isenberg stilisierte sich als Mitglied des Widerstandskreises vom 20. Juli 1944 (vgl. Leendertz 2008, 229f.) und wurde vom Gericht in die Kategorie II der Belasteten eingeordnet. Isenberg legte gegen das Urteil Berufung ein und wurde 1948 von der Berufungskammer Stuttgart entlastet (ebd.). Isenberg war bald wieder in der ARL aktiv, wurde 1953 eines ihrer ersten ordentlichen Mitglieder und übernahm 1950 den Vorsitz des ARL-Arbeitskreises ›Tragfähigkeit‹. Isenberg habilitierte sich 1951 in Wirtschaftswissenschaften (mit einer Arbeit über Tragfähigkeit und Wirtschaftsstruktur) und wurde im selben Jahr Ministerialrat im Bundesfinanzund Raumordnungsreferent im Bundesinnenministerium sowie Mitglied des Sachverständigenausschusses für Raumordnung. 1959 folgte Isenberg dem Ruf zum außerplanmäßigen Professor in Tübingen, wo er bis 1974 lehrte. 1961 war Isenberg Initiator und Hauptbearbeiter des SARO-Gutachtens, das zum Bundesraumordnungsgesetz 1965 führte (siehe auch weiter unten). 1969 bis 1972 vertrat Isenberg den Lehrstuhl für Raumordnung und Landesplanung an der Universität Stuttgart und war in mehreren Forschungsausschüssen der ARL vertreten.
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2008, 282). In der Zeitschrift ›Raumforschung und Raumordnung‹ wurde in inhaltlicher Kontinuität postuliert, die »planerisch ideale Lösung« wäre es, »den Teil der großstädtischen Substanz – Menschen und Betriebe –, der nicht zu ihr als zentralem Ort höchster Ordnung gehört, aus ihr heraus zu nehmen und über den übrigen Raum zu verteilen«, um damit der »Vergroßstädterung« Einhalt zu bieten (Vogt 1948. 56). Weiterhin wurde auch die »übermäßig dichte Bebauung« als einer der Hauptmängel der Großstadt gebrandmarkt (Staubach 1948, 139). Die Kriegszerstörungen wurden dementsprechend – ähnlich wie in der städtebaulichen Nachkriegsdiskussion (vgl. Kapitel 6.3) – als Chance für einen Neuanfang gesehen, da sie »die einmalige Handhabe« gäben, dem »uferlosen Wachstum der großstädtischen Steinwüsten einen Riegel vorzuschieben« (Assmann 1948, 126).4 Als konkrete raumplanerische Herausforderung wurde nun insbesondere die Unterbringung der zurückkehrenden Flüchtlinge betrachtet. Die Flüchtlingsströme ergaben aus Sicht der Raumplaner erneut ›Übervölkerung‹ und ›Raumenge‹. Die Aufnahme der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, so wurde proklamiert, führe zu solch »dramatischen Werten der Bevölkerungsdichte«, dass eine Herabstufung derselben zu den »vordringlichsten Lösungsaufgaben aller an der Raumforschung Beteiligten« gehöre (Kühn 1950, 184). In Folge dieser Analyse kam in der Raumplanung auch Isenbergs Tragfähigkeitsmodell wieder zu Anwendung. Isenberg konnte nahtlos an seine theoretischen Überlegungen der 1940er Jahre ansetzen, er musste lediglich die Zielgruppe austauschen: Nicht mehr die Neusiedler wurden ›optimal‹ verteilt, sondern die ›Vertriebenen‹. Dabei stellte Isenberg sein Konzept als neuen Untersuchungsansatz dar und verschwieg die breite Erprobung seines Planungsansatzes unter dem Nationalsozialismus (Gutberger 1996, 359) und ebenso, dass für die Entwicklung der Tragfähigkeitsmethode die Kriegsjahre sowie die Planungen in den Ostgebieten die entscheidende Rolle gespielt hatten (Leendertz 2008, 259f.). In der ersten großen Nachkriegsarbeit des IfR berechnete Isenberg umfangreich ›Tragfähigkeiten‹ für die gesamte Bundesrepublik und für die einzelnen Bundesländer. Wieder geht es in dieser raumplanerischen Dichteanwendung um ›überflüssige Bevölkerung‹, um ›Überbevölkerung‹ und um ›Überbesetzung‹. Isenberg selbst veranschaulicht dies am Beispiel der »Verfälschung« der Tragfähigkeitsberechnungen in Gegenden mit einer hohen Anzahl von Familienbetrieben. Dort lag nämlich die Menschenanzahl nach seinen Berechnungen über der errechneten 4
Die Beantwortung der Frage, ob die zerstörten Großstädte »in der bisherigen Zahl und im bisherigen Umfang« wieder aufgebaut werden sollen, sei eine Angelegenheit der Landesplanung und Raumordnung, während die Antwort auf die Frage »nach Art und Form des Wiederaufbaus der einzelnen Großstadt vom Städtebau« gegeben werden müsse (Staubach 1948, 139).
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›Tragfähigkeit‹. Diesen »Überbesatz«, so Isenberg, könnte man jedoch belassen, zumindest solange keine »überwirtschaftlichen Belange« (wie der Einsatz in der Rüstungsindustrie) dagegen sprächen. Zudem wäre es schwierig, den »Überbesatz« zu beseitigen, da dieses Vorhaben »in der Demokratie am Widerstand des Landvolks« scheitere (Isenberg 1950, zitiert nach Leendertz 2008, 257).5 Im Tragfähigkeitsbegriff und seiner Anwendung in der Nachkriegszeit bündeln sich somit mehrere Begründungsebenen. Zum einen wurde die quantifizierende, am Gedanken volkswirtschaftlicher Rationalisierung und Optimierung ausgerichtete Sichtweise auf Raum und Bevölkerung reproduziert. Zum anderen stand hinter Isenbergs Methode weiter die Annahme einer konstitutiven Verbindung zwischen dem Menschen (seiner Lebenswelt und Lebensweise) und einem geographisch begrenzten Raum (Leendertz 2008, 252f.). Auch das Konzept der ›Zentralen Orte‹ wurde nach 1945 weiter verfolgt. Walter Christaller6 stellt nun auch in seinen theoretischen Beiträgen seinen kausalräumlichen Ansatz stärker in den Vordergrund und führt aus, dass der ›zentrale Ort‹ »gewissermaßen über sein Umland« gebiete, dessen Grenzen »als die Grenzen seines Einflusses« bestimme und letztlich selbst »Gebiet erzeuge« (Christaller 1950, 5f.). Christaller formuliert in einem Beitrag über das »Grundgerüst der räumlichen Ordnung in Europa« das Ziel, die »Regelmäßigkeiten in der Herausbildung von Ländern, Regionen und Reichen« aufzudecken, um »eine europäische Ordnung, die verborgen ist« zu enthüllen und sichtbar werden zu lassen. Dabei werde gerade auch das »Nichtgeordnete« das »Ordnungswidrige« erkennbar. Mit den daraus abzuleitenden »Hinweise auf Um- und Neuzuordnendes« sei es möglich, sich »dem Ideal der Ordnung, oder der idealen Ordnung, der dringenden Aufgabe unserer Gegenwart« zu nähern (ebd.). Christaller konstruiert dabei Angaben der ›Tragfähigkeiten‹ als integralen Bestandteil seines Modells. Zum einen stellt Christaller den betrachteten Gebieten Ausgangswerte der (derzeitigen) ›agrarischen Tragfähigkeit‹ zur Seite. Zum anderen gibt er diejenigen Bevölkerungsdichten an, die »bei vollem Ausbau der Wirtschaft erreicht 5
Isenbergs fortdauernde Affinität zu nationalsozialistischen Gedankengut zeigt auch das von ihm an anderer Stelle verwendete »zoologische Vokabular« (Gutberger 1996, 359). Isenberg formuliert etwa, dass bei den zurückkehrenden Vertriebenen »wenig eigene Initiative« festzustellen sei, sie seien »aber gutartig, körperlich leistungsfähig und biologisch fruchtbar« (Isenberg 1952, zitiert nach Gutberger 1996, 359).
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Christaller engagierte sich nach 1945 zunächst in der KPD und hatte deshalb berufliche Schwierigkeiten. 1959 trat er wieder der SPD bei, 1968 wurde ihm von der Ruhr Universität in Bochum die Würde eines Dr. rer. nat. h. c. verliehen (Aly/Heim 1991, 186).
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werden können und sollen«. Diese Werte »stellen das Wunschbild dar, das Ziel planerischen Ordnens« (Christaller 1950, 7). Christaller setzt die Dichtewerte in Bezug zu einer idealtypischen Mustertabelle von »idealen« Dichtewerten (nach verschiedenen »zentralörtlichen Einheiten« wie Kreis, Land und Reich typisiert) und errechnet damit den »optimalen Abstand« zwischen den ›zentralen Orten‹. Im Ergebnis analysiert Christaller das komplette Europa und bewertet dezidiert die einzelnen Länder und Regionen.7 Eine Reflexion von Christaller über den Gebrauch solcher Dichte- und Tragfähigkeitsangaben in der deutschen Ostplanung sucht man dagegen vergebens. Neben der inhaltlichen und methodischen Kontinuität ist innerhalb der Raumplanung aber auch ein kontextueller Bruch zu registrieren. Die tatsächlichen Verhältnisse (Kriegsniederlage, freiheitlich-demokratische Verfassung, Abhängigkeit von den Alliierten) ließen Isenberg und den anderen Protagonisten der Raumplanung »keine andere Möglichkeit, als mit den vermeintlich überzähligen Menschen zu rechnen« (Leendertz 2008, 261). Zudem wurde nach 1945 die Bevölkerung nicht mehr nach rassischen Kriterien hierarchisiert, die Optionen ›Expansion‹ oder ›Umsiedlung‹ standen als Lösungsstrategien für das Problem ›Überbevölkerung‹ nicht mehr zur Verfügung. An neue Eroberungskriege war einstweilen nicht zu denken und die Freizügigkeit wurde zu einer Grundfeste der Bundesrepublik. Auch Isenberg bemühte sich um eine Verwissenschaftlichung der Debatte und bediente damit die allgemeine Tendenz, Planung mit rationellen und ›sachlichen‹ Argumenten zu begründen. Die Begriffe ›Tragfähigkeit‹ und ›optimale Volksdichte‹ sollten nun einen »Grad an wissenschaftlicher Objektivität und Unbestechlichkeit« suggerieren, um sie »gleichsam vom Verdacht des Ideologischen, Politischen und Subjektiven zu befreien« (ebd. 256). Isenberg unterstrich in diesem Sinne seinen volkswirtschaftlichen Betrachtungsansatz, die Formeln für die ›Tragfähigkeitsrechnung‹ wurden immer komplizierter und komplexer. Hauptsächliche Bestimmungsindikatoren waren wiederum die natürlichen Gegebenheiten, der Grad der Erschließung, das Niveau der Lebenshaltung, die Bedarfsrichtung und die außenwirtschaftliche Verflechtung, aber auch die soziale Moral, also die »Fähigkeit der Bevölkerung zur Zusammenarbeit« wird weiterhin genannt (Isenberg 1948, 41). Diese Kriterien wurden weiter aus ökonomischer Perspektive gedacht und orientierten 7
London zum Beispiel sei eigentlich viel zu groß und dürfte nicht mehr als drei Millionen Einwohner haben (ebd. 19). Insgesamt könnte die Volksdichte auf den britischen Inseln jedoch von 160 EW/km² auf 180 EW/km² erhöht werden. Auch Paris sei zu groß (optimal wären auch hier drei Millionen Einwohner), die Volksdichte von Frankreich könne dagegen von 85 EW/km² auf 135 EW/km² erhöht werden. Die Wunschbild-Volksdichte für das gesamte Europa beträgt bei Christaller ebenfalls 135 EW pro km². (Christaller 1959, 31)
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sich am »möglichst rationellen und effizienten Arbeitseinsatz der Bevölkerung« (Leendertz 2008, 257). Isenbergs Ziel war es – »ähnlich wie bei der Bodenschätzung« – eine Skala für die verschiedenen Annahmen und Grunddaten aufzustellen, »aus der man dann für die einzelnen natur- und sozialbedingten Fälle die Tragfähigkeit einschließlich der sonstigen Strukturelemente bestimmen« könne (Isenberg 1948, 50). Zielwährung von Isenbergs Berechnungen war weiterhin die ›optimale Volksdichte‹. Die Bevölkerungsdichte blieb damit auch nach 1945 ein wichtiger Bestandteil der raumplanerischen Theorie- und Praxisansätze. »Das Dichtephänomen«, so wird in den Fachkreisen zu dieser Zeit formuliert, gehöre »zu den Kernfragen der Raumforschung und -planung« (Boustedt 1970, 25). Bevölkerungsdichte wurde in der Raumplanung weiter ermittelt, dargestellt und zur räumlichen Analyse heran gezogen. Das Ziel des Ausgleichs zwischen ›Ballungsgebieten‹ und ›ländlichen Räumen‹ wurde gleichzeitig zum Kern des gesamten politisch-gesellschaftlichen Gefüges in Westdeutschland und zum Leitbild der sozialen Marktwirtschaft (Leendertz 2008, 264). Die raumplanerische Analyse ergab, dass die Entstehung von ›Verdichtungsräumen‹ die wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität darstellte. Diskutiert wurde daher, ob diese Entwicklung in der Raumplanung hingenommen oder ob versucht werden solle, ein Fortschreiten des ›Ballungsprozesses‹ zu bremsen oder gar zu verhindern (ebd.). Die ›Ballung‹ wurde in alter raumplanerischer Tradition kritisiert und dabei proklamiert, dass die Menschen in den ›Ballungsgebieten‹ der »Gefahr der Vermassung« ausgesetzt seien. Die »natürliche Bindungen an Grund und Boden« würden dabei abhanden kommen und die »stark überbesetzten« Räume zur Radikalisierung und starken sozialen Spannungen führen (Denkschrift des IfR von 1954 nach Leendertz 2008, 265).8 Argumentativ unterstützt wurde diese Denkrichtung durch das in jener Zeit aufkommendes Erklärungsparadigma hinsichtlich der Entstehung des Nationalsozialismus: Dieser hätte sich nämlich nur auf dem ›Nährboden‹ der ›Ballungsräume‹ ausbreiten können. Damit gewann die Forderung nach Maßnahmen zur Verhinderung der ›Ballung‹ erheblich an Dringlichkeit (ebd.). Anhand des Kriteriums Bevölkerungsdichte wurde in der Raumplanung der 1960er und 1970er Jahre eine ganze Reihe von Begrifflichkeiten gebildet und räumliche Typisierungen erstellt. Die raumplanerische Klassifizierung in ›Rückstandsgebiete‹, ›Notstandsgebiete‹, ›Sanierungsgebiete‹ oder ›Passivräume‹ wurde regelmäßig mit dem Indikator Bevölkerungsdich-
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Ausgeführt wurden diese Thesen von Karl Christian Thalheim, der bereits 1943 die volkswirtschaftlichen und »volksbiologischen« Kosten der »Ballung« und die vermeintlichen Vorteile der Dezentralisation untersucht hatte (Leendertz 265).
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te durchgeführt,9 und signalisierte immer einen exponierten raumordnerischen Handlungsbedarf. Mit ›raumwirtschaftlichen Analysen‹ wurden sämtliche Kreise der Bundesrepublik in verschiedene Begriffssysteme eingeteilt – diese Typisierung wurde geradezu zu einer Hauptaufgabe der Raumplanung. Isenberg unterteilte etwa verschiedenen »Agglomerationsräume« in die vier Gruppen ›Ballungsgebiete‹, ›Mittlere Anhäufungen‹, ›Kleinere Anhäufungen‹ und ›Industriezonen‹ (Isenberg 1957, nach Boustedt 1960, 256). Üblich bei der raumplanerischen Typisierungsarbeit wurde vor allem der Begriff ›Verdichtungsraum‹.10 Die Ministerkonferenz für Raumordnung legte 24 ›Verdichtungsräume‹ in der Bundesrepublik fest, alleiniges Kriterium war mit der Einwohner-Arbeitsplatzdichte ein erweiterter Dichtebegriff. Der ›Beirat für Raumordnung‹ blieb derweil bei der klassischen Bevölkerungsdichte und teilte mit diesem Indikator 1965 die Bundesrepublik in die Kategorien ›ländlicher Raum‹, ›Übergangsgebiete‹ und ›Verdichtungsräume‹ ein. Hintergrund solcher raumplanerischer Klassifizierungen war die Ausformung einer räumlichen wirtschaftspolitischen Strukturpolitik, hinter jeder neuen Begrifflichkeit und hinter jeder neuen Raumeinteilung standen finanzielle Interessen und Auswirkungen, da über diese Struktur monetäre und infrastrukturelle Zuweisungen von Förderprogrammen und staatlichen Investitionen gesteuert wurden. Allerdings wurde die bundesdeutsche Strukturpolitik nicht alleine durch die Raumplanung betrieben, sondern in erster Linie von der Finanzverwaltung und Wirtschaftspolitik durchgeführt, und auch hier wurde die ›Bevölkerungsdichte‹ als wichtige Kategorie verwendet. Mit Bezug auf die im § 107 GG implementierte verfassungsmäßige Forderung nach der Angleichung der Lebensverhältnisse wurde seit 1950 in der Bundesrepublik ein gesetzlich geregelter Finanzausgleich zwischen den Ländern durchgeführt, bei der Ausgestaltung dieses Ausgleichs wurde das raumplanerische Edikt der ›Entballung‹ jedoch auf den Kopf gestellt. Denn nicht die Vermeidung der ›Ballung‹ und die Schaffung von ›gesunden‹ gering verdichteten Bereichen wurde finanziell gefördert, sondern gerade die verdichteten Räume erhielten zusätzliche Mittel, wegen der dort vermuteten (dichtebedingten) Mehrkosten für Verwaltung und staatliche Investitionen. Neben die Diskussion über die Beseitigung der ›Ballung‹ kam es also ungefähr zur gleichen Zeit – initiiert von Vertretern aus Finanzpolitik und Finanzwissenschaft – zu 9
Die Merkmale für die Festlegung von Notstands- und Sanierungsgebieten nach Sanierungsprogramm des Bundes von 1951 zum Beispiel waren »gewogene agrarische Dichte«, Arbeitslosigkeit und Grad der Kriegszerstörung (Meyer 1968, 99).
10 Zum Begriff Verdichtungsraum siehe auch den Ansatz von Wolf Gaebe (vgl. S. 122).
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einer Neuinterpretation des politischen Umgangs mit ›Ballungsgebieten‹. Hohe Bevölkerungsdichte wurde dabei zwar weiter negativ moralisiert, daraus jedoch nicht mehr Maßnahmen für eine Senkung der Bevölkerungsdichte abgeleitet, sondern die Bereitstellung zusätzlicher finanzielle Mittel für die betreffenden Gebiete gefordert (und durchgesetzt). Im Länderfinanzausgleichsgesetz vom 1955 wurde die sogenannte ›Dichteklausel‹ eingeführt, die den Faktor Bevölkerungsdichte als einen Indikator bei der Bestimmung des Länderfinanzausgleichs verankerte. Begründet wurde die Einführung der ›Dichteklausel‹ mit dem Brechtschen »Gesetz von der progressiven Parallelität zwischen Staatsausgaben und Bevölkerungsmassierung« (Brecht 1932, 6) aus den 1930er Jahren (vgl. auch Seitz 2002, 13). Die Aussage des Brechtschen Gesetzes ist, dass im gemeindlichen Bereich – insbesondere auf »sozialem, hygienischem und kulturellem Gebiet« – mit der Zunahme der Siedlungsdichte die Pro-Kopf-Quote des öffentlichen Aufwands nicht proportional, sondern progressiv steige. Brecht begründete diese These mit einem strukturellen Mehrbedarf und höheren Kosten in verschiedenen kommunalen und staatlichen Bereichen (Ernährung, Bauten, Erziehungs- Wohlfahrts-, Verkehrs- und Feuerlöschwesen), höheren Beamtengehältern sowie einem erweiterten Aufgabenbereich der Polizei in den Städten (Brecht 1932, 6). Aus der Interpretation des Brechtschen Gesetzes wurde bei der Begründung der ›Dichteklausel‹ die ›Erfahrungstatsache‹ konstruiert, dass die Bevölkerungsdichte die Höhe des Finanzbedarfs bestimmen müsse (BTDrucksache 2/480, S. 102, Rdnr. 146).11 Die kausale Erklärung dieses Zusammenhangs bei Brecht war allerdings eher »dürftig und bruchstückhaft«, auch den empirischen Nachweis seiner Befunde blieb Brecht schuldig (Kaehler 1982, 446). Der eigentliche Grund für Brechts These der hohen Belastungen der verdichteten Gebiete findet sich daher auch ganz woanders. Brecht war zu dem Zeitpunkt, als er sein ›Gesetz‹ entwickelte, Ministerialdirektor im Preußischen Staatsministe11 In diesem Zusammenhang wird auch auf das Gutachten von Popitz (aus dem Jahre 1932) zum Finanzausgleich verwiesen. Auch Popitz geht davon aus, dass bei zunehmender Einwohnerzahl die Höhe der Staatsausgaben steige. In seinem umfangreichen Gutachten wird unter anderem diskutiert, ob die Einwohnerzahl eine geeignete Maßzahl für den Finanzausgleich sei. Von dem Gebrauch der ›reinen Bevölkerungsdichte‹ als Maßzahl rät Popitz allerdings ab: »Würde man als das Merkmal für die Erscheinung den zunehmenden Gemeindebedarfs bei steigender Einwohnerzahl den Begriff der Dichte der Bevölkerung wählen, so wäre nicht richtig, diesen Begriff rein räumlich zu nehmen […], da die Größe des Gemeindegebiets von der historischen Entwicklung und von der Gesetzgebung, die die politischen Gemeindegrenzen festlegt, abhängig ist« (Popitz 1932, 281; Hervorhebung im Original).
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rium und Generalberichterstatter für den Reichshaushalt im Reichsrat. In der Diskussion um Reparationsleistungen nach der Versailler Vertrag wurde Deutschland Ende der 1920er Jahre der Vorwurf der überhöhten Staatsausgaben gemacht. Brecht entwickelte sein ›Gesetz‹ daher als Argument, die gegenüber dem (ländlich geprägten) Frankreich höheren Staatsausgaben des (verstädterten) Deutschlands zu rechtfertigen. Brecht führt die im Vergleich zu Frankreich »doppelte Bevölkerungsdichte« und den »doppelt so hohen Prozentsatz von Großstädtern« an (Brecht 1932, 13). Das ›Brechtsche Gesetz‹ ist also vor allem als ein Versuch zu werten, Argumente für eine Minderung der deutschen Reparationsleistungen zu finden. In späteren Veröffentlichungen relativierte Brecht seine These und verwies darauf, dass Bevölkerungsdichte und Verdichtung »multidimensionale Phänomene« seien (Kaehler 1982, 447). Zwanzig Jahre und einen Weltkrieg später wurde Brechts ›Gesetz‹ dann jedoch als inhaltliche Basis für die Begründung der finanziellen Bevorzugung der ›verdichteten Räume‹ im Länderfinanzausgleich herangezogen. Auch im raumplanerischen Diskurs wurde weiter über die richtige Strategie hinsichtlich des Umgangs mit den ›Ballungsgebieten‹ diskutiert. Dabei setzte in den 1960er Jahren Schritt für Schritt eine Neuinterpretation des Befundes ›hohe Bevölkerungsdichte‹ ein. Die Feststellungen von ›zu hoher Dichte‹ oder ›Überbevölkerung‹ wurde seltener, im Gegenteil wurde vermehrt eine ›zu niedrige‹ Bevölkerungsdichte diagnostiziert. Auch über den Ausdruck ›Ballung‹ wurde diskutiert. Verdichtete Räume hatten nun nicht mehr nur eine negative Konnotation, dem Problem der ›Überlastung‹ wurde die Frage »unzureichender Verdichtung und mangelhafter Urbanität« gegenübergestellt (Borcherdt et al. 1971, 202). Eine »den modernen Ansprüchen genügende Daseinsvorsorge« könne erst bei einer gewissen Mindestgröße und -dichte der Agglomeration geboten werden (Boustedt 1970, 30). Und selbst Isenberg stellt seine Tragfähigkeitsanalyse nun in den Kontext der Kritik an »monotonen Schlafstädten« und »zunehmender Zersiedlung« (Isenberg/Sättler 1973, 315). Mit dieser diskursiven Kehrtwende wurde die vor allem im stadtsoziologischen Umfeld geführte Diskussion über die ›Urbanität‹ (vgl. Kapitel 7.1 und 7.2) und der ökonomisch und ökologisch begründete Diskurs der ›Verdichtung‹ (vgl. Kapitel 7.3) in die raumplanerische Debatte integriert und lieferten neue Argumente bei der Legitimation von Bevölkerungsdichte als Analyseinstrument und anzustrebendes Ziel. Nach jahrelangen Bemühungen und Debatten erreichte die Raumplanung durch die Verabschiedung des Raumordnungsgesetzes im Jahre 1965
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(ROG 1965) nach zwanzig Jahren wieder die zentrale staatliche Ebene.12 Vorausgegangen war das so genannte ›SARO-Gutachten‹, in dem unter Federführung von Gerhard Isenberg die Frage nach den Vor- und Nachteilen einer Raumordnung auf Bundesebene bearbeitet worden war. Verankert im ROG 1965 wurde das Zentrale-Orte-Konzept von Christaller, mit dem seitdem (raumplanerisch bedingte) Restriktionen und Investitionsentscheidungen gesteuert werden. Im ROG 1965 wurde der Begriff ›Ballung‹ durch den »wertneutraleren Begriff« ›Verdichtungsraum‹ ersetzt, da die Gefahr bestehen würde, dass dem Ausdruck ›Ballung‹ »gewisse negative Akzente« zugeschrieben werden (Meyer 1968, 102). In der zeitgenössischen Rezeption wird vermerkt, dass die Debatte über den Begriff ›Verdichtungsraum‹ zweifellos »eine politische Note« gehabt habe, bei der sehr unterschiedliche und »meist sehr unklare Auffassungen« vertreten worden seien. Es sei schwierig und problematisch, diejenigen Dichtewerte zu bestimmen, die »als Richtschnur für die Beurteilung der Tragfähigkeit eines Raumes für die menschliche Besiedlung« zu verwenden seien (Boustedt 1975, 109). Diese Schwierigkeiten lassen sich auch an den im ROG letztendlich verwendeten Formulierungen nachzeichnen. Als einer der Grundsätze der Raumordnung wird im ROG 1965 formuliert, dass »in Verdichtungsräumen mit gesunden räumlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie ausgewogenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen […] diese Bedingungen und Strukturen gesichert und, soweit nötig, verbessert werden« sollen, wohingegen der »Verdichtung von Wohn- und Arbeitsstätten, die zu ungesunden räumlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie zu unausgewogenen Wirtschafts- und Sozialstrukturen« führe und entgegenzuwirken sei. Dort, »wo solche ungesunden Bedingungen und unausgewogenen Strukturen bestehen«, solle »deren Gesundung gefördert werden« (§ 2 Abs. 1 Nr. 6 ROG 1965). Es wird also proklamiert, dass ›hohe Verdichtung‹ sowohl zu gesunden Lebensbedingungen als auch zu ungesunden Lebensbedingungen führen könne. ›Verdichtung‹ ist in diesem raumordnerischen Grundsatz dabei nicht nur eine Kategorie (ein Behälter), auch die der Bevölkerungsdichte zugeschriebene Kausalfunktion findet sich in den Formulierungen wieder. Es gibt nicht nur gute und schlechte Verdichtungsräume, die Verdichtung führt selbst zu den guten oder schlechten Bedingungen und Strukturen. Wann der eine und wann der andere Fall eintritt (und wovon das abhängt) wird allerdings nicht ausgeführt, und somit bleibt der Aussagegehalt des ROG-Grundsatzes schwer bestimmbar. Der Terminus ›Verdichtungsraum‹ blieb in den verschiedenen Novellierungen des Raumordnungs12 Im Jahre 1949 war mit Artikel 75 des Grundgesetzes dem Bund die Kompetenz zur Rahmengesetzgebung auf dem Gebiet der Raumordnung gegeben worden (ausführlich dazu Leendertz 2008, 273f. und Umlauf 1986, 13f.).
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gesetzes samt seiner Konstruktion als sowohl positives als auch negatives Merkmal im Gesetzestext bis in das Jahr 1997 erhalten. Mit dem ROG 1997 wurde auf eine Definition des Begriffs jedoch verzichtet, seitdem heißt es lediglich, dass »verdichtete Räume als Wohn- Produktions- und Dienstleistungsschwerpunkte zu sichern« seien (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 ROG 1997). Auch das Konzept der ›Zentralen-Orte‹ (und die dortige Verwendung der Bevölkerungsdichte als Indikator der Zentralität) ist weiterhin in der raumplanerischen Regelungspraxis verankert – als geltender Grundsatz der Raumordnung (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 ROG) und als flächendeckend im Zielsystem der Landes- und Regionalplanungsgesetze der Länder verankertes Modell. In der raumplanerischen Debatte wird Christallers Konzept auf der einen Seite weiterhin als »geniale Arbeit« (Dietrichs 2005, 529) bezeichnet, als »unsubstituierbarer Bestandteil der raumordnerischen Praxis«, die sich »in der Raumordnung als planungsrechtlich wie auch planungspolitisch etabliert und prinzipiell akzeptiert« habe (Kühne 2008, 451). Auf der anderen Seite wird das Konzept allerdings auch kritisiert. So spricht etwa Hans Heinrich Blotevogel (*1943)13 von einer »auffälligen und denkwürdigen Diskrepanz« zwischen der Rezeption des ZO-Konzeptes in der Politik (und der Verwaltung) und der Bewertung des Themas in der Forschung. In der aktuellen Grundlagenforschung würde, so formuliert Blotevogel, der Theorie der zentralen Orte »keine große Bedeutung mehr zugemessen« (Blotevogel 1996a 10, V). Das Zentrale-Orte-Konzept habe sich als »weitgehend unwirksam zur Steuerung der allgemeinen Siedlungsentwicklung« erwiesen (ebd. 626), die Thematik scheine insgesamt »obsolet geworden zu sein« (ebd. 617). Christallers Zentrale-Orte-Theorie sei in Deutschland zwar noch im »kanonisierten Lehrbuchstoff« enthalten, ihre »Verbannung in einen esoterischen Wahlbereich« sei in den fortschrittlichen angloamerikanischen Lehrprogrammen jedoch längst vollzogen und auch in Deutschland »wohl nur noch eine Frage der Zeit« (ebd. 618).14
13 Der Geograph und Raumplaner Blotevogel ist seit Dezember 2008 Präsident der ARL. 14 Auch Blotevogel spricht sich jedoch letztendlich für die Beibehaltung des Modells aus. Blotevogel diskutiert eine mögliche Renaissance des Konzepts als verkehrsminimierendes Siedlungsstrukturmodell (Blotevogel 1996b). Er glaubt »eindeutig urbanisierungs- und modernisierungsorientierte Zielrichtung« bei der Verwendung des Zentrale-Orte-Konzeptes im Rahmen des Raumordnungsgesetzes (bei der »Zentrale-Orte-Politik«) erkennen zu können, fordert allerdings – aufgrund der Diskrepanz (dem Verlust an Relevanz in der Theorie und dem anhaltenden Stellenwert bei der praktischen Anwendung) – eine »Debatte« über das Modell, seine Herkunft und seine Verwendung (Blotevogel 1996b, 655).
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Bei der weiteren Debatte über die ›Dichteklausel‹ des Länderfinanzausgleichs offenbart sich eine ähnliche Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Die mit der ›Dichteklausel‹ ausgeübte Bevorteilung der ›verdichteten Räume‹ bei der Finanzmittelzuteilung und das dieser Praxis zugrunde liegende Brechtsche »Bevölkerungsmassierungsgesetz«, so formuliert der Finanzwissenschaftler Helmut Seitz ähnlich wie der Raumplaner Heinrich Blotevogel, stehe im »markanten Gegensatz zur finanzwissenschaftlichen und stadtökonomischen Literatur« (Seitz 2002, 13). In diesem Forschungsbereich würde inzwischen das »Konzept der optimalen Stadtgröße« dominieren, also die Annahme eines U-förmigen Kostenverlaufs im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte. Eine sehr geringe Einwohnerdichte verursache genauso erhöhte Staatsausgaben wie eine zu hohe Dichte. Seitz Argument ist ein wirtschaftstheoretisches: Aufgrund der »Economies of scales« (steigende Skalenerträge) würde mit (aufgrund der Bevölkerungsdichte) zunehmendem Faktoreinsatz der Output (bis zu einem gewissen Limit) überproportional zum Input wachsen. Für die öffentliche Leistungserstellung bedeute dies, dass bei zunehmender Einwohnerzahl und -dichte die Gesamtkosten unterproportional steigen und die Stückkosten (bzw. Kosten je Einwohner) sinken würden. Seitz formuliert, dass der »Bevölkerungsballung« auf Skaleneffekten resultierende Vorteile zu Eigen wären und möchte damit den Bedarf von steuerlicher Bevorteilung von verdichteten Gebieten widerlegen.15
15 Zum Zusammenhang von Siedlungsdichte und öffentlicher Leistungsbereitstellung gebe es, so Seitz weiter, in der finanzwissenschaftlichen Literatur zwar einige Forschungsarbeiten, diesen sei jedoch allesamt eine theoretische Schwierigkeit immanent: Sowohl die empirische als auch die theoretische Trennung von ›Dichte‹ und Größe wären nämlich »nicht unproblematisch«, weil beide Variablen nicht voneinander unabhängig seien (Seitz 2002, 17). Die Trennung von Größe- und Dichteeffekten sei auch bei Brecht nicht eindeutig, »Bevölkerungsmassierung« könne sowohl in »Termini von Dichte als auch von Bevölkerungsgröße« interpretiert werden (ebd.). Daher würden die theoretischen Überlegungen kaum Anhaltspunkte liefern können, »eine bestimmte Korrelation zwischen den Kosten der öffentlichen Leistungserstellung und der Bevölkerungsdichte zu postulieren« (ebd. 20). Aus diesem Grund benötige man empirische Untersuchungen zum Zusammenhang von Kosten der öffentlichen Leistungserstellung und der Bevölkerungsdichte, solche seien aber »auch in der internationalen finanzwissenschaftlichen Literatur« kaum vorhanden (ebd.). Seitz berichtet von einer Studie von Bennet aus dem Jahre 1990, in der eine negative Korrelation zwischen ›Dichte‹ und Durchschnittskosten in vielen öffentlichen Aufgabenbereichen ermittelt worden sei.
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Die Debatte über die Ausgestaltung des Länderfinanzausgleichs in Deutschland wurde maßgeblich von zwei Urteilen des Bundesverfassungsgerichts beeinflusst. Im Jahre 1986 wurde von einigen Bundesländern Klage gegen die ›Dichteklausel‹ nach § 9 Abs. 3 FAG und die dadurch hervorgerufene Bevorzugung des Stadtstaaten erhoben und begründet, die Annahme sogenannter »Agglomerationsnachteile« hoch verdichteter Gebiete sei empirisch nicht nachgewiesen. Den Nachteilen stünden sowohl auf der Ausgaben- als auch auf der Einnahmeseite Vorteile gegenüber (etwa kleinere Straßen- und Versorgungsnetze, weniger Schulbauten und überdurchschnittliche Einkommen). Von der Gegenseite (den Stadtstaaten) wurde (weiter) mit dem Brechtschen Gesetz argumentiert und ausgeführt, dass jenes der Geschichte und Staatspraxis des Finanzausgleichs »seit jeher und bisher unangefochten zugrunde liege«. In seinem Urteil bestätigte das Gericht zwar grundsätzlich die Berücksichtigung der vorgegebenen strukturellen Eigenart der Stadtstaaten, Umfang und Höhe dieser Berücksichtigung dürften allerdings vom Gesetzgeber nicht »frei gegriffen« werden und müssten sich nach Maßgabe »verlässlicher, objektivierbarer Indikatoren« als angemessen erweisen (BVerfG-Urteil vom 24. Juni 1986). Im Jahre 1999 wurde ein zweiter Anlauf unternommen, die ›Dichteklausel‹ zu kippen. Wieder wurde von der einen Seite argumentiert, dass der Finanzbedarf der Kommunen nicht nur mit steigender Bevölkerungszahl und Siedlungsdichte, sondern auch mit deren Degression ansteige und dass das Brechtsche These inzwischen »immer mehr durch empirische Untersuchungen in Frage gestellt« werde. Von der Gegenseite wurde die Bevölkerungsdichte als »abstrakter Bedarfsmaßstab« bezeichnet und nach wie vor die Geltung des Brechtschen Gesetzes proklamiert. Auch in diesem zweiten Urteil stellt das Gericht eine Vereinbarkeit der ›Dichteklausel‹ mit dem Grundgesetz fest, allerdings werden die Indikatoren Gemeindegröße und Siedlungsdichte als »in ihrer Tragfähigkeit und Sachangemessenheit« fragwürdig bezeichnet. In der Finanzwissenschaft würden die traditionellen Indikatoren für den gemeindlichen Finanzbedarf stark in Frage gestellt, es fehle aber bislang an »anerkannten verlässlichen Kriterien zur objektiven Bestimmung des Finanzbedarfs der Gemeinden«. Solange nicht andere »hinreichende und zuverlässige« Kriterien entwickelt worden seien, wird die pauschale Form der Bedarfsberücksichtigung in Anknüpfung an die Einnahmen aus dem gemeindlichen Einkommensteueranteil vorgeschlagen. Der Gesetzgeber wird vom Gericht verpflichtet zu überprüfen, ob Gemeindegröße und Siedlungsdichte unter heutigen Bedingungen noch zu einem erhöhten Bedarf führten. Die Geltung des vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Brechtschen Gesetzes wird vom Gericht in Zweifel gezogen, ein überproportionaler Anstieg des Finanzbedarfs bei hö-
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herer Siedlungsdichte lasse sich empirisch nicht nachweisen.16 Mit der Neufassung des Finanzausgleichsgesetzes im Jahre 2001 und dem ›Maßstäbegesetz‹ aus demselben Jahr hat der Gesetzgeber auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichts reagiert. Die ›Dichteklausel‹ wurde gestrichen,17 und damit die lange Geschichte der Bevölkerungsdichte als Indikator des Länderfinanzausgleichs beendet. Dabei ist es vor allem überraschend, wie lange die Bevölkerungsdichte (von 1955 bis 2001) Bestandteil der hoch komplexen Konstruktion des Länderfinanzausgleichs gewesen ist. Noch erstaunlicher ist vielleicht, dass die hauptsächliche Begründung der ›Dichteklausel‹ bis zum Jahre 2001 auf einer als ›Gesetz‹ getarnten Propagandathese von 1932 beruhte. Bemerkenswert ist weiterhin, dass sich damit eine der raumordnerischen Zielstellung widersprechende Förderung der ›Ballungsräume‹ in einem Bundesgesetz etablieren konnte, und zwar bis zu einem Zeitpunkt, an dem die Raumplanung selbst – aufgrund der Bedeutungszunahme des ökologischen Diskurses – sich zunehmend den ökologischen Vorteilen einer verdichteten Siedlungsstruktur angenommen hat. Dass in der Begründung des Verfassungsgerichts18 von 1999 auf die »raumordnerische Unerwünschtheit« des Ausgleichs von »Agglomerationsnachteilen« abgestellt wird, entbehrt dabei nicht einer gewissen Komik. Das Konstrukt Bevölkerungsdichte, so lässt sich zusammenfassen, wird im raumplanerischen Kontext weiterhin verwendet. Insgesamt betrachtet scheint es jedoch nicht mehr ein klares – mit der Angabe eines Bevölkerungsdichtewertes als Zielgröße bestimmbares – raumordnerisches Leitbild 16 Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Dichteklausel wird auch auf die alte raumplanerische Argumentation zurück gegriffen, der Ausgleich von »Agglomerationsnachteilen« sei »raumordnungspolitisch unerwünscht«, da er »die zu räumlichen Ungleichgewichten führende Konzentration verstärke«. Die vom Gesetzgeber verwendeten Bedarfskriterien seien »in ihrer Tragfähigkeit erschüttert«. Die Prüfung der Indikatoren Bevölkerungsdichte und Bevölkerungszahl habe sich zum einen darauf zu erstrecken, wie weit die vom Gesetzesgeber zugrunde gelegten Kriterien angesichts der heutigen Verhältnisse »noch tragfähig« seien und ob sie einer Modifizierung oder Fortentwicklung bedürften (BVerfGUrteil vom 27. Mai 1999). 17 Die den Finanzausgleich bestimmenden Messzahlen ergeben sich nunmehr alleine aus den auszugleichenden Einnahmen je Einwohner der Ländergesamtheit, vervielfacht mit der Einwohnerzahl des Landes (§ 8 FAG). Die Einwohner der Stadtstaaten und der dünn besiedelten Länder Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg werden stärker gewichtet, direkter Bezug der Ausgleichsbemessung auf die Bevölkerungsdichte wird im Gesetz nicht mehr genommen (§ 9 FAG). 18 Auch die in der Urteilsbegründung verwendete Diktion (Stichwort ›Tragfähigkeit‹) ist bemerkenswert.
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zu geben, unter dem sich die disziplinären Aktivitäten unterordnen lassen. Die Zuversicht der 1940er und 1960er Jahre, raumplanerisch (und mit der Konstruktion Bevölkerungsdichte) die Welt erklären und steuern zu können, ist inzwischen Geschichte. ›Dichte‹ im raumplanerischen Maßstab ist nicht mehr so sehr ein Ziel, es ist auch kein direktes Kriterium mehr für die Verteilung von staatlichen Mitteln, der Begriff wird in weiten Teilen nur noch als Beschreibungsmerkmal gebraucht. Im Nachkriegsdeutschland erfüllte die Kategorie Bevölkerungsdichte bei ihrer zentralen Einbindung in das strukturpolitische System insbesondere die Funktion, politische Normen und Ziele in ein zahlengestütztes ›wissenschaftlich‹ begründbares Ergebnis umzuwandeln und war Bestandteil einer Art ›Planungseuphorie‹, die aus dem Glauben an die grenzenlose Gestaltungsfähigkeit einer auf Zahlenmodelle beruhenden naturwissenschaftlichen Planung beruhte. Bevölkerungsdichte war eine exakt ermittelbare Kategorie der mathematischen und statistischen Modelle, mit denen zur Objektivierung, Versachlichung und Entpolitisierung der Politik beigetragen werden sollte. Diese Funktion soll die Dichteanwendung in anderen Planungsbereichen bis heute erfüllen (vgl. auch Kapitel 7.3). Seit etwa den 1970er Jahren ist im raumplanerischen Kontext ein Bedeutungsverlust der Konstruktion Bevölkerungsdichte festzustellen. Die jüngsten Studien zur Abgrenzung und inneren Gliederung von Verdichtungsräumen zeigten, so konstatiert etwa Jürgen Bähr (vgl. S. 123), dass »das Merkmal der Bevölkerungsdichte in der Gegenwart seine allein entscheidende Bedeutung verloren« habe (Bähr 1992, 102). Auch das Tragfähigkeitsmodell von Gerhard Isenberg wurde nach dessen Tod im Jahre 1975 in der Disziplin kaum mehr verwendet.19 Neue Theorieansätze zur Bevölkerungsdichte wurden in Raumforschung und Raumplanung seither kaum entwickelt. Und auch aus den benachbarten Disziplinen kamen keine entsprechenden neuen theoretischen Ansätze (vgl. Kapitel 3.3 und 4.3). Auf der anderen Seite hat sich seit den 1960er Jahren ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der politischen und gesellschaftlichen Bewertung von Bevölkerungsdichte vollzogen. Aus dem (raumordnerisch zu bekämpfenden) ›Ballungsraum‹ wurde nach und nach der (raumordnerisch neutrale oder gar zu befürwortende) ›Verdichtungsraum‹.20 Getragen wird dieser Bewertungswandel vor allem durch den ökologischen Diskurs. Mit der in den 1970er und 1980er Jahren erstarkenden Umweltbewegung etablierte sich auch für 19 Vermutlich liegt das auch darin begründet, dass im Rahmen der seit den 1990er Jahren einsetzenden intensiven Auseinandersetzung mit den Akteuren und Methoden der »Vordenker der Vernichtung« (Aly/Heim) der Begriff ›Tragfähigkeit‹ einige Aufmerksamkeit erhalten hat (vgl. dazu auch die folgende Reflexion II). 20 Vgl. auch Kapitel 7.
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die Raumplanung ein neuer Begründungszusammenhang, der generelle raumordnerische Leitgedanke der Raumplanung wandelte sich dabei von der »sozialen Raumordnung« der 1960er Jahre zum Ziel der »nachhaltigen Entwicklung« seit den 1990er Jahren (Giesel 2007, 133). Im Interesse einer »langfristigen Sicherung« und einer »im Sinne der Nachhaltigkeit strukturierten Lebensumwelt«, so wird heute wieder erklärt, sei »eine erneute Auseinandersetzung mit der Dichteproblematik für Raumplaner auf allen Maßstabsebenen unentbehrlich« (Michael 2005, 111).
Reflexion (II)
I Ein interdisziplinärer Kontext Die Konstruktion Bevölkerungsdichte hat in den Disziplinen Geographie, Bevölkerungswissenschaft und Raumplanung einen zentralen Stellenwert. Im geographischen Kontext wurde für das Verhältnis ›Menschenzahl zur Fläche‹ Ende des 18. Jahrhunderts erstmals der Begriff ›Dichtigkeit‹ verwendet, Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Konstruktion in der Disziplin ausführlich methodisch ausgearbeitet und diskutiert, in den 1920er bis 1940er Jahren ist die Bevölkerungsdichte als ein Grundbegriff der ›Politischen Geographie‹ und der Geopolitik eingesetzt worden. Die Bevölkerungsdichte wurde also erstmals im Kontext der Entstehungsgeschichte der Geographie verwendet (entdeckt) und in Folge im dortigen methodischen Diskurs als Konstruktion ausgearbeitet (erfunden). Aus der Bevölkerungslehre stammen sowohl das für den Gebrauch von Bevölkerungsdichte relevante Bewertungssystem der ›Überbevölkerung‹, ›Unterbevölkerung‹ und des ›Bevölkerungsoptimums‹, als auch die ausführliche theoretische Debatte über das Für und Wider einer hohen Bevölkerungsdichte. Die Raumplanung schließlich ist aus dem Begründungskontext der erstgenannten Disziplinen entstanden, und vor allem in ihrer Hochphase in den 1940er Jahren wurden regelmäßig exakt angegebene Bevölkerungsdichten als raumplanerisches Ziele eingesetzt. Geographie, Bevölkerungslehre und Raumplanung bilden erst gemeinsam einen Kontext, in dem die Konstruktion Bevölkerungsdichte sich zu einem vollständigen Bild zusammensetzen lässt. Das ganze Ausmaß der Komplexität des Begriffs Bevölkerungsdichte und der mit ihm geführten Debatten erschließt sich nur, wenn die epistemologischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Disziplinen, in denen diese Diskurse geführt wurden, als eigenständige Untersuchungsebene berücksichtigt wird. Zwischen den drei hier betrachteten Kontexten können etliche Querbezüge hergestellt werden, daher lassen sich die Dichtediskurse teilweise auch nur schwer exakt der einen oder anderen Fachrichtung zuordnen. Ratzels ›politische Geographie‹ machte genauso Anleihen bei den Ergebnissen der Bevölkerungs- und Volkswirtschaftslehre, wie etliche Bevölkerungspolitiker sich bei der Geographie (etwa der von Ratzel) bedienten. Die Raumplaner
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TRANSDISZIPLINÄRE
D EKONSTRUKTION
hatten nicht selten (disziplinäre) geographische oder volkswirtschaftliche Wurzeln und speisten ihre Theorien immer mit mehr oder weniger ausgeprägten Bezügen zu den Nachbardisziplinen: Bevölkerungswissenschaftliche Denkfiguren und geographische methodische Zugangsweisen lassen sich umfänglich in der Raumforschung nachweisen (vgl. Pinnwinkel 2006, 65), thematische Kartographie und Raumforschung ergänzten und ergänzen sich nicht nur, sondern sind direkt »voneinander abhängig« (Witt 1960, 194). Einordnung und Prägung erhielt die ›Bevölkerungsdichte‹ – parallel zur methodischen Festigung in der Geographie – vor allem aus der nationalökonomischen Debatte, in der auf das Konstrukt ›Bevölkerung‹ fokussiert wurde. In beiden Zusammenhängen wurde die Einbeziehung der Bevölkerungsdichte von einer naturdeterministischen und geopolitischen Denkweise geprägt. Hohe Bevölkerungsdichte wurde – insbesondere im Kontext der völkisch-nationalen Bewegung und der Ausformung der ›Politischen Geographie‹ – dabei zunehmend mit einer negativen Konnotation belegt. Hohe Bevölkerungsdichte führe, so die dieser Bewertung zugrunde liegende Metaerzählung, zu ›sozialen Missständen‹, zu ›Überbevölkerung‹ und daher zum Erfordernis der ›nationalen Raumerweiterung‹. Diese Wertung basierte in weiten Teilen auf dem konservativen malthussianischen Paradigma der Nationalökonomie und wurde von den Geographen fortgeschrieben. In der Nationalökonomie selbst (und anfangs auch in der geographischen Debatte) gab es jedoch schon früh auch eine entgegengesetzte Position, bei welcher der Bevölkerungsdichte eine positive, die ökonomische Entwicklung befördernde Wirkung zugeschrieben wurde (etwa bei Sadler, anfangs aber auch bei Ratzel). Im sozialreformerischen Zweig der deutschen Volkswirtschaftslehre wurde diese These aufgenommen und weiter ausgebaut. Auch die Einbindung der Bevölkerungsdichte in Durkheims Soziologie (vgl. 1.1) steht in dieser Tradition. Damit lässt sich der Gebrauch von Bevölkerungsdichte in diesem Gesamtkontext nach der jeweilig vorgenommenen Bewertung (Moralisierung) unterscheiden, also ob hohe Bevölkerungsdichte als etwas Positives oder als etwas Negatives in den Diskurs implementiert worden ist. Während die negative Bewertung vor allem in der konservativen Debatte vorherrschte und als Bestandteil des völkisch-nationalen auch Einzug in den nationalsozialistischen Diskurs hielt, steht die positive Wertung für den fortschrittsorientierten sozialreformerischen Diskurs der Moderne. Entscheidend jedoch ist, dass beiden Diskursen eine natur- und geodeterministische Weltsicht zugrunde gelegen hat. Ob ›Dichte‹ nun als Ursache von sozialem Fortschritt oder nationalen Niedergang konstruiert wurde – in beiden Fällen wurde ›Dichte‹ nicht nur als Abbild von ›natürlichen‹ beziehungsweise ›räumlichen‹ Gegebenheiten, sondern auch als räumliche Kausalität für die soziale
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Entwicklung konstruiert. Nur in einer dritten Position, nämlich der marxistischen Rezeption, wurde diese Konstruktion selbst in Frage gestellt. Die drei Disziplinen Geographie, Bevölkerungslehre und Raumplanung verbindet nicht nur der intensive Gebrauch von Bevölkerungsdichte, sondern auch ihre massiven Verstrickungen in die nationalsozialistische Theorie und Praxis. Der Zusammenhang zwischen den drei Kontexten wird schon in der nationalsozialistisch geprägten Diskussion selbst thematisiert. Gegen die »Unordnung im deutschen Raume«, so formuliert die Raumplanerin Elisabeth Pfeil, sei »reaktiv ein Antrieb zur Neuordnung entstanden«, zu dem »Geopolitik, Raumforschung und Raumordnung – Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik« gehörten (Pfeil 1937, 129).1 Alle drei Disziplinen wurden in den nationalsozialistischen Diskurs und in die nationalsozialistische Politik integriert. Zwischen den Nationalsozialisten und den Wissenschaftlern entstand bald ein »prekäres Arrangement auf Gegenseitigkeit« (Weisbrod 2002, 21): In den Planungsstäben der Sonderbehörden fanden sich nicht nur wissenschaftlich anerkannte und ausgewiesene ›Dienstleister‹ für das ›große Experiment‹ der völkischen Weltanschauung. In weiten Bereichen – wie etwa der Raumplanung und Raumordnung – drängt sich vielmehr ein umgekehrter Eindruck auf: diese Wissenschaften machten sich nicht nur dem Nationalsozialismus nützlich, »sie machten sich vielmehr den Nationalsozialismus selber zunutze« (ebd.). Die Verstrickung der drei ›Dichtedisziplinen‹ in den nationalsozialistischen Diskurs ist dabei kein Zufall. Ein Hauptthema des nationalsozialistischen Diskurses ist das Verhältnis von ›Volk und Raum‹. Und genau dieses Verhältnis bildet Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auch den Kernbereich der Geographie und der Bevölkerungswissenschaft (aus denen wiederum die Raumplanung als Anwendungsdisziplin entstanden ist). Der Quotient dieses Verhältnisses ist die Bevölkerungsdichte. II Bevölkerung und Raum Das Konstrukt ›Bevölkerung‹ ist in den letzten Jahren in das Zentrum der Debatte um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gerückt. Dabei geht es zum einen um die theoretischen Ursprünge der ›Bevölkerungsfrage‹ respektive des ›Bevölkerungsproblems‹, um das Aufzeigen der aus dem national-konservativen wissenschaftlichen und politischen Milieu stammenden Entwicklungspfade, auf denen sich das ›Bevölkerungsdenken‹ seit Anfang des 19. Jahrhunderts in der Geographie und Nationalökonomie bewegte. Kernthese in dieser Debatte ist, dass der Nationalsozialismus keine irratio-
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Pfeil nennt zudem »Erbkunde und Erbpflege, Rassenkunde und Rassenpflege«, die jedoch allesamt unter der Bevölkerungspolitik subsumiert werden können.
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nale und unerklärliche Naturerscheinung ist, sondern auf einer Vorgeschichte aufbaut und sich aus einer langen theoretischen Tradition herausgebildet hat. Diese Argumentation widerspricht der in allen drei Disziplinen nach 1945 (und teils bis heute) gepflegten Attitüde, sich einfach auf die Zeit vor dem Nationalsozialismus zu berufen und damit einer Kontinuität der theoretischen Ansätze zu legitimieren (und ist damit auch eine grundsätzliche Kritik am jeweilig gepflegten klassischen disziplinären Selbstverständnis). In der Aufarbeitungsdebatte geht es im Kern um die Implementierung des Bevölkerungskonstrukts in die nationalsozialistische Politik und Planung. Das Konstrukt ›Bevölkerung‹ steht für den interdisziplinären Ansatz, Probleme von der ›Bevölkerungsseite‹ her lösen zu wollen: zum einen in der Theorie (als Analysekategorie), zum anderen in der Politik (als Maßnahmekategorie). Dieser Ansatz lässt sich immer wieder auf die Struktur der Malthusschen Argumentation rückbeziehen, nämlich auf das Konstrukt, eine ›natürliche‹ Problemlage (das exponentielle Bevölkerungswachstum im Vergleich zur arithmetischen Steigerungsfähigkeit des Nahrungsspielraums) zu behaupten und als Konsequenz die Manipulation des Bevölkerungswachstums als politische Aufgabe zu propagieren. Die Konstrukte ›Bevölkerung‹ und ›Bevölkerungsdichte‹ sind eng miteinander verknüpft. Bevölkerungsdichte ist Bestandteil des ›Bevölkerungsdenkens‹, genauer: eine Spezifizierung der Konstruktion ›Bevölkerung‹ mit explizit räumlichen Bezug. Bevölkerungsdichte bricht die Konstruktion ›Bevölkerung‹ auf den Raum herunter. Damit ist Bevölkerungsdichte ein Bindeglied zwischen dem Bevölkerungsdiskurs und dem Raumdiskurs. Innerhalb beider Zusammenhänge wurde der Bevölkerungsdichte daher auch ein hoher Stellenwert beigemessen. Die Anwendung der Bevölkerungsdichte folgt der zweifachen Funktionalisierung der ›Bevölkerung‹ (als Analyseund als Maßnahmekategorie): Bevölkerungsdichte ist zum einen eine Einheit zur Darstellung (und Bewertung) von ›sozialen‹ (beziehungsweise politischen, gesundheitlichen, sittlichen) Missständen, zum anderen eine (auf eine Zahl reduzierbare) Zielgröße, mit der normative Absichten nicht nur transportiert, sondern auch in ein rationales und wissenschaftliches Gewand gekleidet werden konnten. Ziel beim derzeitigen Fokus auf die ›Bevölkerungsfrage‹ in der historischen Forschung ist es, die Diskurse der Bevölkerungswissenschaft herauszustellen, die Ursprünge dieses Denkens zu erkennen und auf die Gefahren von zeitgenössischen bevölkerungswissenschaftlichen Diskursen aufmerksam zu machen. Bezüglich der ›Bevölkerungsdichte‹ könnte meines Erachten analog verfahren werden: Die Untersuchung der Konstruktion ›Bevölkerungsdichte‹ kann zum Verstehen der ›Bevölkerungsdichtewissenschaften‹ (der Geographie, der Nationalökonomie, der Raumplanung, der Stadtplanung) beitragen, und zwar sowohl zur Erklärung
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der jeweiligen epistemologischen Ursprünge als auch zum Verständnis von heutigen Neuauflagen des Dichtediskurses. Neben der Debatte um das Konstrukt ›Bevölkerung‹ steht die Debatte zum Thema ›Raum‹. Anders als bei der Diskussion um ›Bevölkerung‹ ist in dieser – ebenfalls seit etwa den 1990er Jahren umfangreich geführten – Debatte der nationalsozialistische Kontext weniger Ziel- denn Anfangspunkt. Die meisten (zumindest die meisten deutschsprachigen) grundsätzlichen Reflexionen zum Thema Raum beginnen mit dem Hinweis auf die Bedeutung des Raumbegriffs für die nationalsozialistische Theorie und Praxis (etwa Löw 2001, Schroer 2006, Läpple 1991, Lippuner 2005 etc.) und erklären damit, weshalb das Thema ›Raum‹ nach 1945 im theoretischen Diskurs viele Jahre von der (deutschsprachigen) Oberfläche weitestgehend verschwunden gewesen ist. Während die Re- und Dekonstruktion von Bevölkerungskonstrukten hauptsächlich auf die kritische Analyse von vergangenen und gegenwärtigen Diskursen abzielt, geht es bei der Raumfrage in erster Linie um eine neue Fundierung des Raumbegriffs, mit der eine theoretische Erneuerung gelingen soll. Als Grundlegung wird im neuen Raumdiskurs in der Regel dem (vor allem die klassische Geographie prägenden) Geodeterminismus abgeschworen. Ein Kern des neuen Raumdenkens ist die Abkehr vom klassischen ›Containerdenken‹, von der Definition von Raum als Behälter. Regelmäßiges Ziel dieser Debatten ist eine Neudefinition des ›Raumes‹ als gesellschaftlich bedingtes ›relationales‹ Konstrukt. Damit wird der Fokus auf gegenseitige räumlich-gesellschaftliche Wechselbeziehungen gelegt und diese selbst zum grundlegenden analytischen sozialwissenschaftlichen Zielpunkt erhoben (vgl. auch Kapitel 1.3 und 3.3). Auch mit dem Konstrukt ›Raum‹ ist die Bevölkerungsdichte eng verbunden. Bevölkerungsdichte (aber auch ›soziale‹ und ›bauliche Dichte‹) hat grundsätzlich einen räumlichen Bezug (durch diesen Bezug ist der in meiner Arbeit zugrundgelegte Dichtebegriff definiert). Daher bleibt das Konstrukt ›Bevölkerungsdichte‹ auch nicht davon unberührt, wenn sich das Verständnis von ›Raum‹ ändert. Dem klassischen Bevölkerungsdichtediskurs liegt das klassische Raumverständnis zugrunde, mit diesem entfaltet er seine Relevanz. Nur wer ›Raum‹ als einen ›Container‹ denkt, kann die geodeterministische und naturdeterministischen Implikationen der Konstruktion ›Bevölkerungsdichte‹ weiter verfolgen und Bevölkerungsdichte als relevante Analyse- und Zielkategorie gebrauchen. Der diskursive Bedeutungsverlust der Bevölkerungsdichte nach 1945 lässt sich daher zum einen damit erklären, dass das Nachdenken über ›Raum‹ in der kritischen Analyse lange Zeit gemieden wurde. Zum anderen ist zu vermerken, dass mit dem sich durch die Debatten zum ›Spatial Turn‹ etablierenden neuen Raumverständnis der klassischen Bevölkerungsdichte ihre Basis (ihre ›Containergrundlage‹) entzogen wird. Ändert sich das klassische Raumverständnis, so erwächst da-
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raus das Erfordernis, auch über die klassische ›Dichte‹ neu nachzudenken. Geschieht das nicht, folgt ein (weiterer) Bedeutungsverlust für den klassischen (veralteten) Gebrauch. Ansätze, bei denen über eine Einbindung des Konstrukts ›Bevölkerungsdichte‹ in ein gewandeltes Raumverständnis neu nachgedacht wird, scheinen (neuerdings und ansatzweise) im stadtsoziologischen und im städtebaulichen Kontext sichtbar zu werden (vgl. hierzu Kapitel 1.3, Reflexion III und das abschließende Kapitel ›Dichte‹). III Ist Bevölkerungsdichte nationalsozialistisch? Eine hohe Kompatibilität der Konstruktion Bevölkerungsdichte (und der kontextualen Zusammenhänge in denen diese Konstruktion verwendet wurde) zur nationalsozialistischen Theorie und Praxis lässt sich kaum leugnen. Mit der Identifizierung von Bevölkerungsdichte als Quotienten von ›Volk und Raum‹ (beziehungsweise als wichtigen Bestandteil sowohl des Bevölkerungs- als auch des Raumdiskurses) konnte diese empirische Beobachtung auch theoretisch fundiert werden. Die Häufung des Konstrukts im nationalsozialistischen (oder diesen vorbereitenden) Diskurs führt irgendwann zu der Frage, ob der Gebrauch oder die Angabe von Bevölkerungsdichte per se ›nationalsozialistische Ideologie‹ darstellt. Diese Frage stellt etwa der Bevölkerungswissenschaftler Hansjörg Gutberger. Gutberger kommt bei seiner Analyse von Isenbergs Tragfähigkeitskonzept zu dem Ergebnis, dass es sich dabei um eine »mehr oder weniger sozialanalytisch verklausulierte Umsetzung nationalsozialistischen Rassenwahns« handele (Gutberger 1996, 406) und dass der »schillernde Begriff der Tragfähigkeit auf spezifische Weise in der Raumforschung in eine Grauzone« geriet, in der »wissenschaftliche Analyse und politisch-administrative Steuerung nur noch schwer zu unterscheiden waren« (Gutberger 2004, 213). Insgesamt bezeichnet Gutberger Isenbergs Konzept als »technokratisch-rationales Ordnungsschema«, dass allerdings »zumindest kein spezifisch nationalsozialistisches Gedankengut beinhaltete«, es sei denn, dass »jede Analyse, die Bevölkerungszahl und Raumfläche in Beziehung zueinander setzt, von Nazi-Ideologie nicht zu unterscheiden« sei (Gutberger 1996, 405). Natürlich ist Gutbergers Formulierung eine Überspitzung (und als solche auch gemeint), natürlich ist es keine ›Nazi-Ideologie‹, Bevölkerungszahl und Raumfläche miteinander in Beziehung zu setzen (respektive Bevölkerungsdichte anzugeben). Der Umkehrschluss, dass das Konstrukt nichts mit NS-Ideologie zu tun habe, dass die »Konzepte der Tragfähigkeit und Bevölkerungsdichte« lediglich »durch die Bevölkerungspolitik der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« missbraucht worden seien (Bähr 1992, 5), ist meines Erachtens jedoch eine ebenso unzulässig reduzierende Interpretation. Natürlich ist das Konstrukt Bevölkerungsdichte selbst keine NS-Ideologie –
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es ist jedoch festzuhalten, dass das Entstehen der Konstruktion einiges mit der Entstehung des NS-Diskurses zu tun hat und dass der Bevölkerungsdichte nicht zufällig bei Ratzel, Haushofer, Isenberg oder Burgdörfer ein solch hoher Stellenwert gegeben wurde. Das Konstrukt ›Bevölkerungsdichte‹ ist im nationalsozialistischen und im völkisch-konservativen Diskurs umfangreich eingesetzt worden und war zu jenen Debatten hoch kompatibel. Bei einer historisch-kritischen Analyse ist es daher (meines Erachtens) unvermeidlich zu untersuchen, weshalb und worin diese Kompatibilität bestand. Gutberger untersucht in diesem Zusammenhang die Frage, weshalb ein ›Denkstil‹, der in den radikalen Planungen im NS-Staat Anwendung fand, dies auch im demokratischen Nachkriegsdeutschland tun konnte. Gutberger führt aus, dass es zu einfach wäre, dies allein auf restaurative Tendenzen im Umfeld, auf personale Kontinuitäten und mangelndes demokratisches Bewusstsein der Wissenschaftler zurückzuführen und dabei den Blick von jenen Ordnungsbildern abzuwenden, die den Erkenntnisprogrammen inhärent waren (Gutberger 2004, 214). Gutberger bezeichnet den Begriff ›Denkstil‹ als »Genese und Entwicklung des wissenschaftlichen Erkennens«, als »gleichgerichtete Bereitschaft« und »selektive Wahrnehmung empirischer Materialien im Hinblick auf ideal entworfene Bilder (des ›Volkes‹, der ›Gesellschaft‹)« (Gutberger 2006, 17f.). Gutberger wirft die Frage auf, ob »der Wahrheitsanspruch von Wissenschaft« nicht auch deshalb gefährdet sei, weil »innerhalb ihrer Erkenntnisapparate unerkannte, über lange Perioden gültige Ordnungsvorstellungen und Zugänge zur Beschreibung der (sozialen) Welt« übermittelt werden würden (Gutberger 2004, 215). In diesem Kontext kann auch die Konstruktion ›Bevölkerungsdichte‹ diskutieret werden: Sie ist Teil eines ›Denkstils‹, der für eine spezielle Art von wissenschaftlicher Erkenntnis steht und dadurch Beschreibungen (Analysen) und Ordnungsvorstellungen (Zielgrößen) einer bestimmten Weltsicht tradiert. Bei der Einordnung des nationalsozialistischen Diskurses wird häufig auf den Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus und Moderne abgestellt. Der Nationalsozialismus sei »eine spezifische Mischung aus modernisierenden Effekten und antimodernen Ideologien« gewesen (Gutberger 2006, 6). Die ›antimoderne Entwicklungslinie‹ habe auf dem völkisch national-konservativen und naturdeterministischen Diskurs beruht, das ›moderne Element‹ des Nationalsozialismus zeige sich dagegen im Versuch, die Natur komplett zu beherrschen, also im Glauben an die Gestaltbarkeit aller Natur- und Sozialverhältnisse durch den Menschen. Nach Zygmunt Baumann war »die nationalsozialistische Revolution ein gigantisches Projekt des Social Engineering«, ein groß angelegter Versuch, die gesellschaftlichen Strukturen nach zuvor festgelegten Optimierungskriterien künstlich zu formen (Baumann 1994, 81). In den Diskursen der Geographie, der Bevölke-
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rungswissenschaft und der Raumplanung wäre es letztlich darum gegangen, die ›Produktivität der Bevölkerung‹ zu steigern. Diese Sichtweise sei von den Nationalsozialisten radikalisiert und zu »Menschenökonomie« ausgebaut worden und habe zur rassischen, auf Auslese und Ausmerzung der Schwachen und »Unwerten« beruhenden Definition einer ›Leistungsgemeinschaft‹ geführt (Leendertz 2008, 61). Endpunkt dieser Entwicklung sei der Holocaust gewesen, der von Baumann als »eine Maßnahme rationaler Gesellschaftsplanung, ein Versuch, die Grundsätze und Regeln angewandter Wissenschaft systematisch für diesen Zweck einzusetzen« bezeichnet wird (Baumann 1994, 87). Der Massenmord der Nationalsozialisten sei zum »einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft« geworden (ebd. 25). Nach Gutberger lag das »Moderne des Völkermordes« zum einen in der Wertsetzung, eine vollkommene Gesellschaft zu schaffen, zum anderen in der dafür eingesetzten Mittelrationalität der Planungswissenschaft (Gutberger 1996, 477). Daher werden in der historischen Analyse auch explizit die angewandten Methoden der NS-Planung untersucht. Gutberger fragt, ob die den Arbeiten der NS-Strategen zugrunde liegenden Methodologien nicht ein »fatales Wissenschaftsverständnis transportieren« (Gutberger 2004, 211) und ob die Reduktion des Sozialen auf ein »technokratischer Steuerung zugänglichen Objekts« nicht den »für Bürokratien in totalitären Gesellschaften nützlichsten Wissenschaftstypus« darstelle (Gutberger 1996, 477).2 IV Forschungslücke Die Entwicklung der Disziplinen Geographie, Bevölkerungswissenschaft und Raumplanung gestaltete sich nach 1945 recht unterschiedlich. Die Geographie wurde anfangs als entpolitisierte Länderkunde weiter betrieben, in neuerer Zeit hat sich jedoch – als Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit den disziplinären Wurzeln – eine umfangreiche sozialwissenschaftliche und kritische ›Humangeographie‹ etabliert. Die Bevölkerungswissenschaft wurde als eigene Disziplin größtenteils aufgegeben, aktuell wird jedoch in einem auf die historische Forschung fokussierenden Teilbereich intensiv und wahrnehmbar die ›Bevölkerungsfrage‹ und die Aufarbeitung der entsprechenden Diskurse thematisiert. Die Raumplanung wurde dagegen mit großer Kontinuität weiter betrieben. Aufgrund des in der Disziplin verbreiteten Selbstverständnis, mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt zu haben, wurde es hier auch nicht für erforderlich gehalten, sich ausführlicher mit der eigenen Geschichte und den eigenen Verantwortlich-
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Ähnlich argumentieren – bezogen auf Geschichte der Stadtplanung – auch Häußermann et al. 2008, 76f.
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keiten auseinander zu setzen. Erst seit den 1990er Jahren wird – vor allem von Historikerinnen und Historikern – die Rolle der Raumplanung in der NS-Zeit eingehender thematisiert. Das Kapitel ›Generalplanung Ost‹ wurde in diesem Rahmen ausführlich untersucht und aufbereitet und die Rolle der Raumplaner in den Expansionskriegen der Nationalsozialisten damit neu definiert. In der Raumplanung selbst steckt die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte (und den eigenen Instrumenten) jedoch noch in den Kinderschuhen.3 Besonders auffällig wird das Fehlen einer solchen Praxis im raumplanerischen Bereich bei der vergleichenden Betrachtung der drei Disziplinen. Während es in der Geographie eine umfangreiche kritische Debatte zu den Begriffen ›Raum‹, ›Natur‹ oder ›Lebensraum‹ gibt und es in der Bevölkerungswissenschaft selbstverständlich geworden ist, sich mit dem Konstrukt ›Bevölkerung‹ auseinander zusetzen, findet sich in der Raumplanung kaum eine Hinterfragung der Begriffe ›Raumordnung‹ und ›Raumforschung‹. Auch die Kontinuität der raumplanerischen Instrumente (etwa des Zentrale-Orte-Konzeptes oder der Bevölkerungsdichtekonstruktionen) werden in der Disziplin bisher kaum thematisiert. Dominant ist in der Raumplanung dagegen weiterhin das Selbstbild, dass die Disziplin einen ›prä-diskursiven‹ Charakter habe und ihre Erforderlichkeit naturgegeben sei. So wird etwa im aktuellen Handwörterbuch der Raumordnung (dem Standardwerk der Disziplin) zum Stichwort ›Raumplanung‹ ausgeführt, dass letztlich jede menschliche Tätigkeit »mit Ansprüchen an den Lebensraum« verbunden sei und sich dabei unterschiedliche »Raumansprüche ergänzen, überlagern oder in Konkurrenz zueinander« treten würden. Da die »sich permanent verstärkenden Störungen im sozialen Verhalten der Menschen« insgesamt eine »ökologische und soziale Überforderung des Raumes« bewirken würden, habe sich eine »systematische und vorausschauende, d.h. planvolle Bewirtschaftung des gesamten Lebensraumes« als unumgänglich erwiesen (Turowski 2005, 894). Raumplanung wird hier als eine umgangssprachliche und somit gesetzte Grundwahrheit (re-)konstruiert. ›Lebensraum‹, ›Raumansprüche‹, ›Überforderung des Raumes‹ sind Schlüsselbegriffe der Diskurse, von denen in den vorigen Kapiteln berichtet worden ist. Aus diesem Umfeld wird die Legitimation der Raumplanung abgeleitet und ein grundsätzliches (›naturgegebenes‹) Erfordernis von Raumpla3
In Teilen der raumplanerischen Debatte scheint allerdings inzwischen die Einsicht zu wachsen, dass eine solche kritische Auseinandersetzung mit personellen Kontinuitäten von Raumplanern und Raumwissenschaftlern zwischen dem NSRegime und der jungen Bundesrepublik erforderlich seien könnte und die Thematisierung der disziplinären Vergangenheit anvisiert (vgl. Arbeitsprogramm 2009/2010 der Akademie für Raumforschung und Landesplanung: http://www. arl-net.de/pdf/forschung/Arbeitsprogramm.pdf. Zugriff 10.3.2009).
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nung behauptet. Ein solches Selbstverständnis, welches unschwer als Fortführung der die Diskussion zur vorletzten Jahrhundertwende dominierenden natur- und geodeterministischen Ansätze erkannt werden kann, korrespondiert meines Erachtens direkt mit der bisher fehlenden historischen Aufarbeitung der disziplinären Wurzeln respektive der Ursprünge der in der Raumplanung verwendeten Begriffe, Instrumente und Konzepte. V Maßstabswechsel Im großmaßstäblichen Kontext – also in den Kontexten von Geographie, Bevölkerungswissenschaft und Raumplanung – wird die Konstruktion ›Bevölkerungsdichte‹ auf der theoretischen (generellen) Diskursebene aktuell deutlich weniger intensiv verwendet, als das in den Debatten des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts der Fall gewesen ist. Es finden sich zwar weiterhin Angaben zur Bevölkerungsdichte in nahezu allen länderkundlichen Analysen und Kartendarstellungen. Bei der Angabe von Werten der Bevölkerungsdichte wird heute jedoch – wie Claus Heidemann treffend formuliert hat – in der Regel keine Frage mehr beantwortet und auch keine gestellt. Das Konstrukt hat einen großen Teil seines ihm ehemals zugeschriebenen normativen Inhaltes verloren. Diese Diagnose lässt sich insbesondere durch drei Tendenzen erklären. Erstens hat die Kritik am Natur- und Geodeterminismus dazu beigetragen, dass auf diesen ursprünglichen Kontext der Bevölkerungsdichte nicht mehr ohne weiteres zurückgegriffen werden kann. In der länderkundlichen oder raumplanerischen Praxis mag diese historische Basis zwar durchaus noch wirkungsmächtig sein, in der Grundlagenforschung kann jener Ansatz jedoch vermutlich als gänzlich überwunden betrachtet werden. Zweitens hat (auch in Folge der Kritik an den deterministischen Konzepten) die These, dass eine hohe Bevölkerungsdichte kausal zur Weiterentwicklung der Wirtschaft und/oder der Gesellschaft führe, deutlich an Überzeugungskraft verloren. Allerdings wird vereinzelt – bei auf den Debatten des ›Spatial Turn‹ rekurrierenden Ansätzen – die erneute Einbindung von ›Dichte‹ als räumlich-kausaler Faktor zur Diskussion gestellt (ausgestattet mit einem gewandelten Raumverständnis). Drittens wird in den verschiedenen Diskursen der ›große Maßstab‹, für den die klassische Bevölkerungsdichte steht, zunehmend als ungeeignete Ebene für den quantitativen und qualitativen Gebrauch von Bevölkerungsdichte betrachtet.4 Bevölkerungsdichte wird heute üblicherweise in einem kleineren Maßstab thematisiert. Dadurch hat sich ein
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So heißt es etwa bei Wikipedia lapidar, dass die Angabe von Bevölkerungsdichte von Ländern ohne Aussagekraft sei (www.wikipedia/bevoelkerungsdichte, Zugriff 10.4.2009).
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Wechsel des disziplinären Dichtekontextes vollzogen, als dessen Ergebnis ›Dichte‹ gegenwärtig hauptsächlich im Städtebau und in der Stadtplanung diskutiert wird. ›Dichte‹ ist dabei zur ›städtischen Dichte‹ geworden.
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Dichte und Städtebau (Teil 1)
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Im städtebaulichen Kontext ändert sich die Konstruktionsweise des Untersuchungsgegenstandes. Zum einen vollzieht sich hier der bereits angekündigte Maßstabswechsel: aus der ›Bevölkerungsdichte‹ wird die ›Einwohnerdichte‹, die Ortsbezüge sind nun weniger die Nationen und Regionen, sondern mehr die Städte und Stadtbereiche. Zudem gibt es mit der ›baulichen Dichte‹ einen zweiten Dichtebegriff, der im Städtebau eine zentrale Rolle spielt. Mit dem Ausdruck ›bauliche Dichte‹ wird ebenfalls ein Verhältnis bezeichnet, und zwar das Verhältnis der ›bebauten Fläche‹ zur ›gesamten Fläche‹ eines bestimmten Bereiches (etwa eines Grundstückes). Die ›bauliche Dichte‹ hat damit drei Einflussfaktoren – die Grundfläche eines Gebäudes, die Anzahl der Geschosse und das dazugehörige Grundstück – und sie ist mathematisch exakt bestimmbar. Ein hohes Gebäude auf einem kleinen Grundstück hat eine relativ hohe ›bauliche Dichte‹, ein niedriges Gebäude auf einem großen Grundstück hat eine relativ niedrige ›bauliche Dichte‹. Spricht man von der ›baulichen Dichte‹ von größeren Bereichen, gilt das Gleiche: Ein Häuserblock mit einer fünfgeschossigen Bebauung und überbautem Blockinnenbereich hat beispielsweise eine sehr hohe ›bauliche Dichte‹, während ein Hochhausgebiet auch eine recht geringe ›bauliche Dichte‹ haben kann (wenn zwischen den Gebäuden große Abstandsflächen liegen). Beide für den städtebaulichen Kontext relevanten ›Dichten‹ – die Einwohnerdichte und die ›bauliche Dichte‹ – können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Im Dichtediskurs des Städtebaus ist gerade das Verhältnis der beiden Dichten ein entscheidender Faktor, die Konzeption der ›baulichen Dichte‹ ist eine Ergänzung (beziehungsweise eine Erweiterung) des Konstrukts ›Einwohnerdichte‹. Neben der Modifikation des hier betrachteten Dichtebegriffes ist auf eine weitere Erweiterung des Betrachtungsbereiches hinzuweisen. Im Städtebau wird ›Dichte‹ nicht nur im theoretischen Diskurs verwendet, sondern
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sie wird auch als Teil des städtebaulichen Regelwerkes eingesetzt, und dieser instrumentelle Gebrauch verdient besondere Beachtung. Die institutionelle Einbindung des Konstrukts ›Dichte‹ in städtebaulichen Gesetze und Verordnungen ist eine Verfestigung der in den städtebaulichen Diskursen bewegten Inhalte. Es bedarf langer Debatten, bis ein Diskursinhalt zum Gesetz formalisiert wird. Gesetze und Verordnungen sind Ergebnisse von Diskursen, eine Dichteregelung im Planungsrecht ist immer Ausdruck eines längeren diskursiven Vorlaufs. Daher wird im Folgenden auf diesen Teil des städtebaulichen Dichtegebrauchs (seine Entwicklung, seine Begründung, seine Ausgestaltung) besonderes Augenmerk gelegt. Ausgangspunkt dabei ist die historische Entwicklung der Regelungen der ›bauliche Dichte‹ in den mittelalterlichen Rechtsbüchern. Das erste verschriftete rechtliche Regelwerk des deutschen Mittelalters ist der (ohne staatlichen Auftrag verfasste) Sachsenspiegel, der alleine durch seine Schriftform eine solche Autorität erhielt, dass er als offizielles Gesetzbuch betrachtet wurde (vgl. Seng 2003, 91f.). Inhalt des Sachsenspiegels sind unter anderem Bestimmungen über das ›Maß der baulichen Nutzung‹, mit denen geregelt wurde, was ein Grundstückseigentümer auf seinem Grundstück bauen durfte und was nicht (vgl. auch Wolff 1958).1 Die Regelung der baulichen Grundstücksausnutzung war also eine Begrenzung des Grundeigentums, beziehungsweise eine Begrenzung der Möglichkeit, jedes Grundstück in beliebiger Weise baulich nutzen zu können. Die Vorschriften über die Bauweise, die zulässige Geschosshöhe und über einzuhaltende Abstände definierten das, was heute (zusammengenommen) als ›bauliche Dichte‹ bezeichnet wird. Mit den Detailregelungen des Nachbarschaftsrechts (Regelung der Abstände zwischen den Gebäuden), des Feuerschutzes und der Begrenzung der Geschosszahlen wurden die ersten instrumentellen Regelungen hinsichtlich der Festlegung der ›baulichen Dichte‹ erstellt. Die baupolizeilichen Vorschriften des Mittelalters sind, auch wenn in ihnen der Begriff ›Dichte‹ noch nicht explizit verwendet wird, die Wurzeln des instrumentellen städtebaulichen Dichtegebrauchs. Andersherum ist die Beeinflussung der ›baulichen Dichte‹ (die Regelung des ›Maßes der baulichen Nutzung‹) der »Ausgangspunkt des Städtebaus« (Wolff 1958, 87). Feuerpolizei, Nachbarschutz und Bauordnung waren allesamt hoheitliche staatliche Aufgaben – eine städtische (kommunale) Verwaltung existierte zu diesem Zeitpunkt praktisch noch gar nicht. Mit dem Anwachsen der 1
Ohne Genehmigung durften nach dem Sachsenspiegel zum Beispiel Bauten aus Holz und Stein mit bis zu drei Stockwerken (eins unter der Erde, zwei darüber) errichtet werden, die dafür notwendigen Ausgrabungen mussten dabei jedoch im Rahmen von dem bleiben, was »ein Mann mit einem Spaten ausheben konnte, ohne dabei abzusetzen« (Seng 2003, 91).
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Städte und dem Aufkommen mehrgeschossiger Wohnhäuser seit dem 14. Jahrhundert wurden die einzelnen Verordnungen und Verbote weiterentwickelt. Die mittelalterlichen nachbarrechtlichen und feuerpolizeilichen Regelsammlungen der Städte wurden zu umfassenden Bauordnungen ausgeweitet und institutionalisiert, in denen sämtliche Baubereiche und Bauabläufe geregelt wurden (Seng 2003, 265). Ziel der Bauordnungen war eine Vereinheitlichung und Rationalisierung des Bauwesens, mit der die bisherigen Regelungen kodifiziert, systematisiert und mit anderen bestehenden Ordnungen (etwa den Handwerksordnungen) verbunden wurden. Die baupolizeilichen Vorschriften wurden vor dem Hintergrund einer Neuorganisation der Ordnungspolitik des sich formierenden frühneuzeitlichen Staates etabliert.2 Mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden Liberalisierung der feudalen Ordnung und des absolutistischen Staatswesens vergrößerte sich das Selbstbewusstsein der städtischen Akteure, die zu wichtigen Bestandteilen der Reformbewegungen wurden. Nicht zuletzt entstanden daraus Ansprüche, die baulich-räumliche Planung der jeweils eigenen Stadt verstärkt selbst in die Hand zu nehmen. Zentrales Element der Steuerung der städtischen Entwicklung war es zunächst, den Straßenraum freizuhalten und für die Feuersicherheit zu sorgen. Erst nach und nach bildete sich ein geschlossenes System der behördlichen Beeinflussung des Baugeschehens, in dem die Regelung der baulichen Grundstücksausnutzung (also von dem, was heute als ›bauliche Dichte‹ bezeichnet wird) einen wichtigen Raum einnahm (Wolff 1958, 9f.). Die auf Grundlage der Konkretisierung der ›polizeilichen Generalklausel‹ erlassenen Bauordnungen wurden Bestandteil einer immer weitere Bereiche umfassenden Polizeigesetzgebung. Der Steuerungsanspruch für die baupolizeilichen Regelungen wurde mit der Ausdifferenzierung des Gewohnheitsrechts zum Bauordnungswesen gesteigert – neben die nachbarschutzlichen und feuerpolizeilichen Aufgaben wurde die Idee einer eigenen städtischen Planung gestellt und es begann sich eine kommunale Selbstverwaltungsund Stadtplanungspraxis herauszubilden. Das Ringen um die Planungskompetenz und –befugnis hinsichtlich der Steuerung der baulichen Entwicklung 2
Die in der zeitgenössischen historischen, politikwissenschaftlichen und juristischen Forschung angebotenen Erklärungen für die in nahezu allen Lebensbereichen einsetzenden reglementierenden und ordnenden Maßnahmen sind komplex und vielschichtig. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage gestellt, ob künstlerische oder ästhetische Vorstellungen für die Bauordnungen im ausgehenden Mittelalter bereits eine Rolle spielten; die stetig zunehmende Zahl der Verordnungen weise nicht nur auf den »teilweise enger werdenden Raum« in den Städten hin, sondern auch auf eine zunehmende Sensibilisierung gegenüber Baulinien, Baufluchten und Einbauten (Seng 2003, 59f.).
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der Städte und Gemeinden, die zu einem nicht unbeträchtlichen Teil gleichbedeutend mit der Befugnis zur Regelung der ›baulichen Dichte‹ war, entwickelte sich zu einer entscheidenden Frage bei der Ausgestaltung der Machtaufteilung zwischen den feudalen und den kommunalen Kräften. Mit dem ›Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten‹ von 1794 wurden die unterschiedlichen Rechtsquellen (wie der Sachsenspiegel) durch ein einheitliches Recht ersetzt und das Polizei- und Bauordnungswesen als staatlichen (nicht als kommunalen) Aufgabenbereich definiert. Die Rechte des Adels wurden durch das Landrecht weiter gefestigt, die bestehende Sozialordnung und der Zunftzwang beibehalten. Das Landrecht fixierte einerseits die feudale Ordnung, zielte jedoch gleichzeitig auf die Bindung von Staat und staatsbürgerlicher Gesellschaft an Gesetz und Recht (Kantzow 1983, 27f.). Mit dem Landrecht wurde insbesondere das Prinzip der ›Baufreiheit‹ herausgestellt. Paragraph 65 des Allgemeinen Landrechts besagt, dass »in der Regel jeder Eigentümer seinen Grund und Boden mit Gebäuden zu besetzen wohl befugt ist« (vgl. Gerberding-Wiese 1968, 38). Mit den ›Stein-Hardenbergschen Reformen‹ Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das ›Allgemeine Preußische Landrecht‹ politisch liberalisiert. Wichtige Punkte der Reformen waren die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Befreiung der Bauern aus der Erbuntertänigkeit, die Garantierung einer freien Berufswahl, die Einführung der Gewerbefreiheit sowie die Aufhebung der Ständeordnung und der Zunftverfassung. Mit dem ›Oktoberedikt‹ von 1807 wurde der Boden formell zur Ware und war nun ohne ständische Beschränkung handelbar (vgl. auch Häußermann et al. 2008, 43 und Fisch 1991, 94). Im Zentrum der Reformen stand das Ideal der Selbstverwaltung. Die Städte sollten nicht mehr ausschließlich dem Staat untergeordnet sein, sondern die Stadtbürger über ihre Angelegenheiten selbst bestimmen können. Kernstücke der Städtereform waren die Konstitution und Regelung der Kompetenzen der städtischen Entscheidungsgremien.3 Die Reformpolitik Steins stand weitgehend im Einklang mit den Wünschen und Vorstellungen des Adels, dennoch war sie auch ein Schritt auf dem Weg zur kommunalen Selbstverwaltung. Auch im Bereich der baulich-räumlichen Planung kam es zu Verschiebungen. Die Polizei (einschließlich der Baupolizei) ging in den großen Städten (als Auftragsverwaltung) in den Aufgabenbereich der Kommunen über, 3
Trotz dieser Ansätze gab es jedoch auch weiterhin ständische Elemente, die vollen Rechte blieben den ›Bürgern‹ vorbehalten. Das Bürgerrecht musste erworben werden, wobei Grundeigentümer und Gewerbetreibende zum Erwerb verpflichtet waren. Grundsätzlich stand das Bürgerrecht zwar auch anderen offen, die ärmeren Schichten konnten davon aber wegen der damit verbundenen Kosten nur selten Gebrauch machen.
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damit wechselte auch die Kompetenz für die Erstellung von Bauordnungen in den kommunalen Bereich (teilweise direkt, teilweise dadurch, dass die örtliche Polizei als Planungsträger in den kommunalen Kompetenzbereich überging). Das Instrumentarium blieb vom Ansatz her unverändert, weiterhin wurde mit den Bauordnungen vor allem das ›Maß der baulichen Nutzung‹ durch Bestimmungen über Abstände, Bauweise und der Geschosshöhen geregelt. Ergänzt wurden die Bauordnungen nun jedoch mit polizeibehördlichen Fluchtlinien- und Bauplänen. Die Planungskompetenz für diese Pläne hatte die staatliche Baupolizei, welche die örtliche Polizeibehörde aufforderte, Baupläne aufzustellen, die zudem königlich genehmigt werden mussten. Auch mit den polizeibehördlichen Bauplänen wurde (indirekt) das ›Maß der baulichen Nutzung‹ beeinflusst, indem die Flächen definiert wurden, auf denen gebaut (beziehungsweise nicht gebaut) werden durfte. Der (städtische und polizeibehördliche) Bebauungsplan war dabei als Teil der polizeilichen Bauordnung konzipiert (vgl. Hobrecht 1870, 158), der weniger gestaltende oder präventive Wirkung entfalten, sondern insbesondere die Freihaltung von Verkehrswegen gewährleisten sollte.4 Gut darstellen lässt sich die Funktion des ›polizeibehördlichen Bebauungsplanes‹ anhand der Debatte über den Berliner Bebauungsplan von 1862 (den sogenannten Hobrechtplan). Der Berliner Bebauungsplan lieferte den »Grundriß des öffentlichen Raumes«, also die Flächen, die von der Bebauung freigehalten werden sollten und sagte nichts über die jeweilige Flächennutzung oder das Maß und die Formen der Überbauung aus (vgl. Geist/Kürvers 1984, 143f.). Solche Bestimmungen wurden jedoch (unzureichend, wie die Kritiker bemerkten) durch die Berliner Bauordnung gesteuert, in denen auch »nach der einen Richtung der Dichtigkeit5 des Zusammenwohnens eine Schranke gezogen« wurde (Assmann 1871, 150). Bebauungsplan und Bauordnung sollten, so wird die Intention des Berliner Bebauungsplans erklärt, »einander ergänzen und helfend, wie verhindernd, eingreifen« (ebd.). Allerdings wird von den Verfassern des Plans auch be4
Die Unterscheidung zwischen ›Bauplänen‹ und ›Bebauungsplänen‹ ist für diese Zeit noch nicht eindeutig vornehmbar. Als ›Baupläne‹ wurden meist die gesamtstädtischen Erweiterungspläne bezeichnet, teilweise wurde aber (etwa beim Berliner Bebauungsplan von 1862) der Terminus ›Bebauungsplan‹ gewählt. Daneben gab es auch (ebenfalls als Baupläne oder Bebauungspläne bezeichnete) Pläne für einzelne Vorhaben, die jedoch noch keine (im heutigen Sinne) bauleitplanerischen Funktionen hatten, also keine kommunale Planung darstellten, sondern das Projekt des jeweiligen Vorhabenträgers abbildeten (vgl. Geist/Kürvers 1984, 143f.).
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Dieses Zitat ist im direkten städtebaulichen Kontext die erste mir bekannte Verwendung des Begriffs ›Dichtigkeit‹.
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tont, dass die Festlegungen des Bebauungsplans auf das notwendige Maß beschränkt und eine möglichst hohe Flexibilität zugelassen werden solle, um die zukünftige Entwicklung nicht zu beschränken. So viel gegen die »herrschende Bauweise von 4 und 5 Geschoß hohen Gebäuden an engen Höfen einzuwenden« sei, so heißt es hier, so falsch wäre es, dieselbe »durch polizeiliche Bestimmungen, also durch Bauordnung und Bebauungsplan« beseitigen zu wollen. »Dergleichen allgemeine Formen« entwickelten sich nämlich »mit Nothwendigkeit aus den sonstigen Bedingungen des Lebens«, und im vorliegenden Fall sei es »vor Allem die Billigkeit des Wohnens, welches diese Bauweise« gerade bedingt habe (ebd. 152). Am wenigsten, so wird weiter ausgeführt, sei es Aufgabe polizeilicher Anordnungen, in die »allgemeineren Formen des Lebens« einzugreifen und »etwa anstatt der Miethskaserne das englische Familienhaus« einführen zu wollen. Bauordnung und Bebauungsplan hätten »nur innerhalb des üblichen Herkommens dasjenige festzusetzen, was dem gemeinen Wesen zu dienen hat, im Uebrigen nur den Mißbrauch des Einzelnen zu verhüten« (ebd. 153). Der städtebauliche Steuerungsanspruch wurde im Folgenden jedoch weiter ausgebaut. Im Jahre 1868 wurde das Badische, 1875 das Preußische Fluchtliniengesetz verabschiedet und damit die Entwicklung von polizeibehördlicher zur kommunalen Stadtplanung voran getrieben. Der Städtebau wurde zu einer kommunalen Planungs- und Gestaltungsaufgabe. Inhaltlich wurden mit dem Preußischen Fluchtliniengesetz die Gemeinden ermächtigt, in private und öffentliche Flächen zu trennen. Der Gemeindevorstand konnte nun – im Einverständnis mit der Gemeinde und unter Zustimmung der Ortspolizeibehörde – die Anlegung (oder die Veränderung) von Straßen und Plätzen mit Straßen- und Baufluchtlinien bestimmen (Gerberding-Wiese 1968, 38). Die Initiative der Planung und die Planhoheit gingen also vom Polizeipräsidium auf den Magistrat (und damit auf die Gemeinden) über (Geist/Kürvers 1984, 165). Mit dem Fluchtliniengesetz wurden die Bereiche ›Bauaufsicht‹ und ›städtebauliche Planung‹ voneinander getrennt – die Regelung der Bebauung auf dem Grundstück wurde als Aufgabe der Ortspolizei definiert, die Steuerung des Grundrisses der Stadt als Aufgabe der Kommune.6 Die skizzierte Ausgestaltung der ›baulichen Dichte‹ zu einem zentralen Thema der städtebaulichen Planung war damit fest eingebettet in die Entwicklung der kommunalen Stadtplanung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederum ein wichtiger Faktor bei der Herausbildung der kommunalen Selbstverwaltung gewesen ist. Im Zuge dieser Entwicklung 6
Gleichzeitig verlor diese Zweiteilung jedoch auch an Spannung, da (zumindest in den großen Gemeinden) die Ortspolizeibehörde im kommunalen Entscheidungsbereich angesiedelt wurde (Wolff 1958, 12).
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wurde mit der kommunalen Bauleitplanung ein städtebauliches Instrumentarium aus dem bestehenden staatlichen bauordnungsrechtlichen Regelwerk abgespalten, das sich neben und zusätzlich zum rein baupolizeilichen Einflussbereich zu etablieren begann. Auf den Bereich ›Maß der baulichen Nutzung‹ (respektive die Regelung der ›baulichen Dichte‹) hatte diese Abspaltung weitreichende Auswirkungen: Die Grundstücksausnutzung wurde nun nicht mehr nur als polizeiliches, sondern auch als städtebauliches Thema angesehen. Was als »polizeiliche Maßnahme« begonnen hatte, wurde zum »allgemeinen städtebaulichen Ordnungsprinzip« erhoben (Wolff 1958, 12). Flankiert und vorangetrieben wurde die Entstehung der kommunalen Selbstverwaltung durch eine theoretische Debatte, in der die Frage nach der Aufgabe des Staates neu verhandelt wurde und die auch Einfluss auf das Verständnis des entstehenden neuzeitlichen Städtebaus nahm. In dieser Debatte – die als Vorlauf der eigentlichen städtebaulichen Theoriedebatte betrachtet werden kann – erscheint dann auch der Begriff ›Dichte‹ auf der diskursiven Bildfläche. Robert von Mohl (1799-1875)7 entwarf im Jahre 1833 mit dem von ihm eingeführten Begriff ›Rechtsstaat‹ einen Gegenentwurf zum absolutistischen Staat, in dem er zum einen die klare Absteckung der staatlichen Kompetenzen (und eine Begrenzung der staatlichen Macht), zum anderen eine veränderte Staatsdoktrin zum Ausdruck brachte. Mohl unterscheidet in ›negatives‹ und ›positives‹ Verwaltungshandeln, in den eingreifenden Akt durch polizeiliche Maßnahmen (repressives Handeln) auf der einen und in fördernde Maßnahmen (präventives Handeln) der inneren Verwaltung auf der anderen Seite (Mohl 1866, 20). Besonders das präventive Handeln sieht Mohl im Aufgabenbereich der Gemeinden verankert. Mohl widmet sich ausführlich dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft, plädiert für eine Verlagerung von Kompetenzen und Verwaltungsaufgaben auf die gesellschaftlichen Kräfte (zu den Gemeinden) und fundiert das Konzept der kommunalen Selbstverwaltung. Mohl bewegt sich mit seinen Thesen in den zeitgenössischen Diskursen der Staatswissenschaften und der Nationalökonomie, die Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts stark von der Debatte zur ›Über- und Unterbevölkerung‹ geprägt gewesen ist (vgl. dazu ausführlich Kapitel 4.1). Mohls Ausgangsposition ist an den Thesen von Robert Malthus orientiert: Mohl erkennt dessen Bevölkerungsgesetz als »unumstößliche Wahrheit« an und definiert die »Sorge für die gehörige Volkszahl« als wichtigste Staatsaufgabe (ebd. 97f.). Mohl war fest von der Planbarkeit der Bevölkerungs7
Mohl studierte an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Tübingen Jura und Politik. Von 1827 bis 1846 war Mohl Professor der Staatswissenschaften in Tübingen und wurde 1847 Professor der Rechte in Heidelberg. Mohl war zeitweise Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung und des Reichstages.
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zahl überzeugt und propagiert radikale Vorschläge für die Verhinderung des weiteren Anwachsens »gerade der Unterschichten« (etwa in Form von Ehebeschränkungen). Die Existenz von Großstädten ist für ihn ein sicheres Anzeichen dafür, dass das Verhältnis zwischen Bevölkerungszahl und Nahrungsquellen aus dem Lot geraten ist (vgl. auch Jellinghaus 2006, 37f.). Aufgrund der aus Malthus Thesen abgeleiteten Angst vor ›Überbevölkerung‹ fordert Mohl eine Verschiebung des Schwerpunktes der staatlichen Maßnahmen auf die Regelung dieses Sektors,8 besonderer Stellenwert solle dabei der öffentlichen Gesundheitspflege eingeräumt werden. Damit bringt Mohl – als Aufgabenbereich der kommunalen Selbstverwaltung – die beiden Bereiche ›baupolizeiliche Regelungen‹ und ›präventive Gesundheitsvorsorge‹ zueinander. Weitergeführt wurde die angestoßene Debatte vor allem durch Freiherr Lorenz von Stein (1815-1890),9 der Mohls ›Polizeiwissenschaft‹ zur ›Verwaltungswissenschaft‹ transformierte und die Theorie der kommunalen Selbstverwaltung weiter ausbaute. Auch für Stein ist die Gesundheitsdebatte der Katalysator seiner staatswissenschaftlichen Überlegungen, ihr Werdegang markiert einen Wendepunkt für das Verständnis von Staat und Staatsaufgabe. Die Lehre vom Gesundheitswesen sei nicht mehr nur als eine Lehre von der Gesundheit zu verstehen, sondern als »eine Lehre von dem was dieselbe im Gesammtleben« fordere, eine »Lehre von der Arbeit des Staats für seine eigene Gesundheit, welche die einheitliche Gesundheit seiner Angehörigen ist« (Stein 1882, 90). Es solle nicht mehr nur die Krankheit bekämpft, sondern »die Gesundheit von allen für alle« angestrebt werden, im Gesundheitswesen werde die öffentliche Gesundheit eine Aufgabe für das »Leben des Staats« (ebd. 89). Es sei keinen Augenblick zu verkennen, so formuliert Stein, dass »wir aus der Epoche der Polizei des Gesundheitswesens in die der Verwaltung desselben« übergegangen seien (ebd. 2). Die Abkehr vom repressiven Gesundheitswesen war für Stein damit gleichbedeutend mit der Abkehr vom repressiven Staatscharakter, ebenso wie die
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Die ›Medizinalpolizey‹ hatte noch bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts die Steigerung der Bevölkerungszahl (als Mittel zur Steigerung der Staatsmacht) zum Ziel erhoben. Durch die Diskussion um Malthus wurde diese Richtung jedoch aufgegeben und versucht, den großen (und vor allem ländlichen) Bevölkerungszuwachs einzudämmen (Jellinghaus 2006, 34).
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Der Staatsrechtslehrer und Nationalökonom Lorenz von Stein studierte in Kiel und Jena Philosophie und Rechtswissenschaft, habilitierte sich als Privatdozent an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und wurde dort 1846 Professor. 1855 folgte er einem Ruf als Professor der Staatswissenschaften an die Universität Wien.
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präventive Fürsorge im Gesundheitsbereich einen neuen Anspruch auf die Verwaltung generierte. Stein entwirft ein neues Staatsmodell, in dem der Staat als ›tätiger‹ und ›arbeitender‹ Staat in Erscheinung treten soll und liefert damit die Beschreibung und Begründung des modernen Sozialstaates (Jellinghaus 2006, 169). Mit der ›inneren Verwaltung‹, die Stein propagiert, grenzt er sich zudem vom Polizeibegriff und vom absolutistischen Polizeistaat des 18. Jahrhunderts ab. Stein tritt dafür ein, die Befugnisse der staatlichen Polizei zu beschneiden, um im Gegenzug die Gestaltungsräume der Städte zu stärken. Damit vermischen sich in Steins Grundhaltung zwei gegenläufige Positionen: auf der einen Seite die liberale Forderung nach einer Eindämmung der Polizei und des Staates, auf der anderen Seite das (einer wirtschaftsliberalen Position entgegengesetzte) Ziel, di Gemeinden und Städte mit mehr Kompetenzen und Eingriffsmöglichkeiten (gegenüber dem Privaten) auszustatten. Die Forderung nach kommunaler Selbstverwaltung entsteht dabei aus einer Verbindung von politischem Liberalismus (mit dem der Staat zurückdrängt werden sollte) und neuem Interventionismus (mit dem die Gemeinden gestärkt werden sollte und der wirtschaftlichen Liberalismus als Verursacher der sozialen und gesundheitlichen Problemlagen kritisiert wurde). Im Grunde fordert Stein (wie auch die anderen Vertreter der kommunalen Selbstverwaltung seiner Zeit) gleichzeitig mehr und weniger Staat, nämlich mehr ›Gemeinde‹ und weniger ›Polizey‹. Die Verwaltungslehre von Stein schafft damit die Theorie für die Ausweitung der kommunalen Selbstverwaltung und die damit verbundene Etablierung der kommunalen Stadtplanung. Die Stadtplanung wiederum ist der Kontext für die hier betrachtete Verwendung der ›baulichen Dichte‹ als zentrales städtebauliches Instrument. Darüber hinaus findet sich in den Schriften Stein an exponierter Stelle der explizite Gebrauch des Begriffs ›Dichtigkeit‹. Stein führt aus, dass es nicht das Land als solches sei, welches die Verwaltung beziehungsweise das Behördensystem notwendig macht, sondern vielmehr das »Leben der Menschen in diesem Lande«. Die Gesetze, welche dieses Leben beherrschten, hätten eine gemeinsame statistische Grundlage. Die »Mannigfaltigkeit und Größe« dieses Lebens steige nämlich »naturgemäß mit der Zahl der Menschen« an, und mit ihr steige auch die »Aufgabe und Thätigkeit der Verwaltung«. Die erste Regel für »dieß natürliche Element in der Entwicklung des Behördensystems« laute daher: »Die Entwicklung des Behördensystems steht immer im gleichen Verhältnis zu der örtlichen Dichtigkeit der Bevölkerung« (Stein 1869, 290, Hervorhebung im Original). Da nun diese »Dichtigkeit der Bevölkerung« wieder »auf das Engste mit der Formation des Landes« zusammenhänge und »wenigstens zum großen Theile von Ebene, Flüssen, Meer und Gebirge« bedingt werde, so erscheine »äußerlich das Behördensystem im innigen Anschlusse an die geographische Gestalt des Lan-
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des«. Der Charakter des einen erzeuge damit den Charakter des anderen, und in diesem Sinne könne man sagen, dass »jedes Land sein individuelles System von Behörden habe«. Das »eigentliche Element aller Verwaltungsthätigkeit und ihrer organischen Entwicklung« sei damit »die Dichtigkeit der Bevölkerung« (ebd.). Stein erscheint mit dieser Verwendung von ›Dichte‹ gleichsam als Quell des Durkheimschen Dichtegebrauchs: Durkheim konstruiert ›Dichte‹ als Ursache für gesellschaftliche Fortentwicklung (vgl. Kapitel 1.1), Stein benennt ›Dichtigkeit‹ als »eigentliches Element« des sich im Behördensystem manifestierenden Staatsfortschrittes. Und nicht nur die Fokussierung auf den Begriff ›Dichte‹ erinnert dabei an Durkheim, auch die eigentümliche Abkehr von einem reinen Naturdeterminismus (wie er in der Geographie jener Zeit geläufig gewesen ist) zu einem sozial bedingten Raumdeterminismus erinnert an den Ansatz des französischen Soziologen. Der zweite Zusammenhang, in dem Stein sich der ›Dichtigkeit‹ zuwendet, ist das Gesundheitswesen. Auf diesem Gebiet, so führt Stein aus, steige die »verwaltungsrechtliche Arbeit« mit der »Dichtigkeit der Bevölkerung«. Und zwar deshalb, weil mit der ›Dichtigkeit‹ die »Gefahren der öffentlichen Gesundheit in gleichem Grade« zunehmen würden wie die Kraft diese Gefahren zu bekämpfen (ebd.). Diese These ist dabei deutlich differenzierter als der später in der städtebaulichen Debatte durchgängig behauptete kausale Zusammenhang zwischen ›hoher Dichte‹ und ›schlechter Gesundheit‹. Stein stellt (gar nicht so weit vom marxistischen Ansatz entfernt) dezidiert auf die Handlungsfähigkeit der Menschen ab und erklärt, dass beim Anwachsen der ›Dichtigkeit‹ nicht nur die gesundheitlichen Gefahren zunehmen würden, sondern eben auch die Möglichkeiten ihnen zu begegnen.10 Drittens schlägt Stein mithilfe des Begriffs ›Dichte‹ die Brücke von der Gesundheitspflege zum Wohnungswesen und zum Städtebau. Es könne kein Zweifel bestehen, so erläutert Stein diesen Zusammenhang, dass »die Wohnung des Einzelnen Sache des Einzelnen« sei und als solche bilde sie weder einen Gegenstand der Verwaltung im Allgemeinen noch der Gesundheitsverwaltung. Allerdings gäbe es ebenso wenig Zweifel, dass die Wohnung die Fähigkeit habe, zu einem »wesentlichen Faktor der Gesundheit« zu werden. In der Wohnung empfange einerseits das tägliche Leben der Menschheit »Gesundheit, Luft und Licht«, andererseits sei die Wohnung im Stande, die »hygiene Beschaffenheit – die sanitäre Reinheit – von Luft und Licht« zu verderben. Aus dieser Analyse leitet Stein das »Gesetz« ab, dass 10 Die britische Stadtgeographin Doreen Massey kommt über 100 Jahre später zu einer ganz ähnlichen Einschätzung: »The very fact of high population density can ›lead‹ either to the spread of disease or to the possibility of providing, relatively cheaply, a good local medical service. It will lead to something; what it leads to is a social choice« (Massey 1999, 165).
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die »Bedeutung der Wohnung für Luft und Licht in geradem Verhältniß zur Dichtigkeit der Bevölkerung« stehe, so dass »die Aufgabe des gesundheitlichen Wohnungswesens in demselben Grade« wachse, in welchem »die Dichtigkeit der Bevölkerung zunimmt«. Dieser Satz erscheine »als Grundlage der Geschichte des Wohnungswesens« (Stein 1882, 227). Die ›Dichtigkeit der Bevölkerung‹ steht für Stein damit am Beginn des Erfordernisses, sich mit dem Wohnungswesen zu beschäftigen und auch am Anfang der exakt zur gleichen Zeit beginnenden städtebaulichen Theoriedebatte. Stein weist der neuen Disziplin einen theoretischen und praktischen Ausgangspunkt und Rahmen zu. Nicht zuletzt prägt (eröffnet) Stein also den (expliziten) städtebaulichen Dichtediskurs. Die von Stein theoretisch vorgedachte Vereinigung zwischen Städtebau und Gesundheitswesen wurde praktisch und institutionell im 1873 gegründeten Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege DVÖG vollzogen. Die einflussreichsten Städtebauer jener Zeit (etwa der Berliner Stadtbaurat James Hobrecht, der Kölner Stadtbaurat Josef Stübben und der Karlsruher Oberbaurat Reinhard Baumeister) waren aktive Mitglieder im DVÖGP und Akteure der erstarkenden Bewegung der kommunalen Selbstverwaltung.11 Die zentralen Hoffnungen des Vereins richteten sich auf das Baurecht. Vor allem von den örtlichen Bauordnungen und dem Bauplan erhoffte man sich, die Vorstellungen von einer gesunden und sozialen Stadt in die Praxis umsetzen zu können (Jellinghaus 2006, 113f.). Das vorrangig diskutierte sozialpolitische Thema jener Zeit war dabei die ›Wohnungsfrage‹, also der Mangel an Wohnungen und die schlechte Ausstattung und Überfüllung der Wohnungen in den Arbeiterquartieren (vgl. Reulecke 1985, 33f.). Die ›Wohnungsfrage‹ war jedoch nicht nur Analyseebene, sondern vor allem auch ein Handlungsfeld. Die ›Wohnungsfrage‹ fungierte als Verbindungsglied zwischen städtebaulicher und sozialreformerischer Ausrichtung, in ihr vereinten sich Sozialpolitik, Gesundheitspolitik und Städtebau. Mehr noch – die Beschaffung von gesunden Wohnungen erschien den Reformern gar als probates Mittel für den Abbau und die Überwindung der Klassengegensätze (vgl. auch. Rodenstein 1992, 121). Vor allem aber wurde
11 Stein formuliert, dass »diese Selbstverwaltung hier wie in allen Dingen sich sofort in ihre zwei großen organischen Gestaltungen« gespalten habe, die »eigentlichen Selbstverwaltungskörper mit ihrer Hauptform, den Gemeinden« auf der einen und das »Vereinswesen« auf der anderen Seite. Auf letzterem Gebiet nehme »ohne Zweifel der ›Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege‹« die erste Stelle ein (Stein 1882, 2).
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die ›Wohnungsfrage‹ als städtebaulich zugängliches (lösbares) Problem angesehen.12 In diesem Kontext beginnt sich der Städtebau als sozialreformerisches Projekt zu etablieren. Der von den Städtebauern selbst formulierte Anspruch an ihr Projekt war zu diesem Startpunkt äußerst umfassend: Vom »schönen Bauen«, so die damalig vertretene Lehrmeinung, hänge »die Schönheit des Landes oder der Stadt, die Gesundheit und die Lebensfreude der Menschen ab« (Lux 1908, Vorwort). Eine Stadt solle gebaut werden, »um die Menschen sicher und zugleich glücklich zu machen« (Sitte 1889, 2), Städtebau wurde als »umfassende, fürsorgende Thätigkeit für das körperliche und geistige Wohlbefinden der Bürgerschaft« definiert, als »die Wiege, das Kleid, der Schmuck der Stadt« (Stübben 1890, 514). Die Städtebauzunft sah ihre Aufgabe also nicht nur in einer Anpassungsleistung der städtischen Infrastruktursysteme an den vehementen Wandel in den Städten und auch nicht lediglich als ästhetisch-künstlerischer Geschmackswächter und -gestalter des Stadtbildes, sondern definierte ihre Bestimmung mit dem Ziel, zum Wohlergehen und zum Glück der Stadtbewohnerinnen und -bewohner beizutragen, ja dieses gar zu gewährleisten. Auf dieser Ausgangskonstellation beruht auch der sozialreformerische Ansatz des Städtebaus. Städtebau wurde als »sozialstädtebauliche Fürsorge« (Lux 1908, 13) definiert und das soziale Elend in den Städten des ausklingenden 19. Jahrhunderts zum Kern des städtebaulichen Aufgabenbereichs erklärt. Vor allem aber interpretierten die modernen Städtebauer der ersten Stunde ihre Mission als »grundlegende praktische öffentliche Gesundheitspflege« (Stübben 1890, 514). Für den Städtebau war die Verbindung mit der Gesundheitspflege vor allem aus zwei Gründen ein Erfolgsrezept: Zum einen, weil die Städtebaureformer mit der Thematisierung der Gesundheit als Planungsprinzip auf den bestehenden gesellschaftlichen Konsens setzten (Rodenstein 1992, 121) und »sozusagen aus der Todesangst auch der Grundbesitzer politische Durchsetzungskraft ziehen« konnten (Häußermann et al. 2008, 47). Zum anderen, weil die Protagonisten dieser Union für die Strategie der kommunalen Selbstverwaltung standen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts als wichtige politische Kraft neben dem staatlichen Regierungsapparat durchsetzte. Reinhard Baumeister (1833-1917)13 gilt als erster »Theoretiker des modernen Stadtbaues« (Sitte 1889, 89), seine Schrift Stadt-Erweiterungen in 12 Friedrich Engels bezeichnete dagegen die ›Wohnungsfrage‹ als »soziale Quacksalberei« mit dem immer gleichen Ergebnis, nämlich nicht der wirklichen Beseitigung der Übel, sondern deren Verlegung in die Hinterhöfe und immer neue Proletarierviertel (nach Reulecke 1985, 34). 13 Baumeister studierte in Karlsruhe und Hannover Bauingenieurswesen. 1857 war er im badischen Staatsdienst als Ingenieur im Eisenbahnbau beschäftigt, wo er
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technischer baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung wird als das »erste Grundlagenwerk des neuzeitlichen Städtebaus« (Brix 1912, 22) und als eigentlicher Ausgangspunkt der modernen Städtebaudebatte bezeichnet. Baumeister bricht die im politischen und wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit diskutierten Themen auf die praktischen Fragen des Städtebaus herunter und stellt die Weichen für die nachfolgenden Debatten. Die »größten städtebaulichen Herausforderungen«, so schreibt Baumeister, seien die »Schaffung neuer Wohnungen« sowie die »Erleichterung des Verkehrs« und beide Problemlagen seien bedingt durch die Zunahme der städtischen Bevölkerung. Mit gesundheitspolitischer Begründung wendet sich Baumeister gegen die in den großen Städten (vor allem in Berlin) entstehenden »Miethscasernen«. Man wisse, so Baumeister, dass »sehr hohe Häuser der Gesundheit nicht zuträglich« seien, das »gedankenlose Anstauen hoher Häuser« sei »gewiß eine Unsitte« (Baumeister 1876, 25f.). In einer Stockwerkswohnung wäre es unmöglich, sich der Ansteckung vor epidemischen Krankheiten »so vollständig zu entziehen, wie in einem allein bewohnten Hause«. Allgemein seien zum »Gedeihen des Menschen Sonnenlicht und reine Luft nothwendig« (ebd. 16). Es sei zu hoffen, so formuliert Baumeister sein städtebauliches Credo, dass in der »wohlgestalteten Zukunftsstadt das Innere mehr mit Miethscasernen von mäßigem Umfang, das Aeußere hauptsächlich mit Familienhäusern besetzt sein werde« (ebd.). Baumeister entwickelte dezidierte Vorstellungen, was gegen die identifizierten ›städtebaulichen Missstände‹ zu unternehmen sei. Die Lösung der ›Wohnungsfrage‹ (identifiziert als städtebauliches und soziales Grundproblem) möchte Baumeister mit zwei verschiedenen Strategien bewirken. Zum einen plädiert er bereits in den 1870er Jahren für kommunale Initiative bei der Errichtung von Wohnungen und ist damit ein früher Fürsprecher des gemeindlichen Wohnungsbaus (ebd. 69f.). Zum anderen (und das ist sein Hauptanliegen) möchte Baumeister gesetzliche Regelungen für Städtebau und Wohnungswesen durchsetzen. Das »individuelle Belieben zu bauen«, das selbst »Ausfluß des Eigenthumsrechts am Boden« sei, müsse eingeschränkt werden, »um Andere vor Nachtheilen zu beschützen« (ebd. 246). Daher sei die Stärkung der Bauordnungen aus »gewißer Fürsorge der öffentlichen Gewalt gegenüber der Gewinnsucht oder Nachlässigkeit von BauherEinblick in die Denkstrukturen und Bewertungskriterien staatlicher Verwaltung bekam. 1862 wurde Baumeister zum ordentlichen Professor am Polytechnikum in Karlsruhe berufen und führte im Jahre 1887 das Fach Städtebau (als erstes Fach dieser Art in Deutschland) in das Curriculum der Technischen Hochschule ein. Baumeister war 1871 Gründungsmitglied des ›Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieurvereine‹ und trat 1874 dem ›Deutschen Verband für öffentliche Gesundheitsvorsorge‹ bei. (Oetzel 2005)
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ren« erforderlich (Baumeister 1887, 221).14 Als Aufgabe des Städtebaus bezeichnet es Baumeister, die bestehenden baupolizeilichen Regelungen zu qualifizieren, auszuweiten und zu vereinheitlichen. Baumeister fordert ein einheitliches Gesetz für ganz Deutschland »zur Bekämpfung der schweren Missstände im Wohnungswesen und der hieraus für die menschliche Gesundheit erwachsenden grossen Nachtheile und Gefahren« (Baumeister/Miquel 1889, 11).15 Baumeister gliedert die bestehenden baupolizeilichen Regelungen »nach den vier Momenten, welche eine Abgrenzung des Gemeinwohls gegenüber dem individuellen Belieben erheischen, nämlich Freiheit des öffentlichen Verkehrs, Feuersicherheit, Gesundheit, Festigkeit der Construction« (Baumeister 1880, 4). Schwerpunkt sind für Baumeister auch hier die gesundheitlichen Aspekte. Aufgrund der gestiegenen »Anforderungen an die Gesundheitspflege« müsse die »Ausnutzbarkeit der Grundstücke« geringer und das Bauen »weiträumiger« sein (ebd. 8), den Gebäuden müsse »Licht und Luft in hinreichendem Masse« zugeführt werden (ebd. 56). Baumeister schlägt einheitliche Festlegungen zur maximalen Gebäudehöhe, zur Anzahl der Geschosse und zu den Abstandsregelungen vor. Thema von Baumeisters Ausführungen ist damit immer die ›Ausnutzung der Grundstücke‹. Der Begriff ›Dichte‹ selbst wird jedoch erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zum expliziten Terminus der Debatte. Im Jahre 1894 ist erstmals die ›Wohndichtigkeit‹ auf der Tagesordnung des ›Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege‹, der Frankfurter Oberbürgermeister Franz Adickes (1846-1915) referiert bei dieser Gelegenheit über die »Nothwendigkeit weiträumiger Bebauung«. Die ›Weiträumigkeit‹ wird von Adickes als ein Gegenkonzept zur bestehenden dichten Stadt konstruiert, wissenschaftlich legitimiert anhand einer (eigens für die Tagung erstellten) umfangreichen Vergleichsstatistik über die »Bewohnungsdichtigkeit in den grösseren Städten Deutschlands und Englands«. Die »Zusammendrängung der Bevölkerung« und die »ins Unendliche gesteigerte Nothwendigkeit gegenseitiger Berührung auf den gemeinsamen Höfen, Treppen, Waschküchen und Gängen, oft auch Closets«, so führt Adickes aus, erhöhe »in körperlicher Hinsicht die Ansteckungsgefahr« und erschwere »in sittli14 Alle ästhetischen Vorschriften seien dagegen »verwerflich« (ebd. 311). 15 Die detailiert herausgearbeiteten Forderungen dokumentieren eindrucksvoll die prekären Wohnbedingungen in den Städten: So wird gefordert, »Schlafräume, sowohl in Privatwohnungen als in Logirhäusern, dürfen nur soweit belegt werden, dass auf jede erwachsene Person ein Luftraum von mindestens 12 cbm, auf jedes Kind unter zehn Jahren die Hälfte davon entfällt« (Baumeister/Miquel 1889, 12). Diese Ziffer könne verringert werden, »wenn die Fensterfläche des Raumes eine reichlichere ist, als 1 qm auf 30 cbm Rauminhalt, aber niemals unter 10« (ebd.).
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cher Beziehung die Entwicklung eines natürlichen, gesunden Familienlebens auf das Aeusserste« (Adickes et al. 1894, 107). Je länger man »dies System der Miethscaserne« studiere, um so mehr erkenne man die »ungeheuren socialpolitischen Gefahren, welche dasselbe mit sich bringt und von Jahr zu Jahr stärker entwickelt, je größer die Menschenmassen werden, welche in Casernen eingepfercht werden« (ebd. 108). In der an Adickes Referat anschließenden Resolution heißt es, dass die in vielen Großstädten Deutschlands »übliche dichte Zusammendrängung der Bevölkerung in Miethskasernen« die Gesundheit gefährde und das Familienleben schädige (ebd.).16 Kurz nach der Jahrhundertwende fasst Reinhard Baumeister den städtebaulichen Diskurs zusammen und fokussiert dabei stark auf das Thema ›Dichtigkeit‹. Baumeister erklärt, dass große ›Wohndichtigkeit‹ nach dem »natürlichen Gefühl«, nach »ärztlicher Erfahrung« und auch nach den »statistischen Belegen über Krankheit und Sterblichkeit« zu großen und weit ausgebreiteten Gefahren wie Tuberkulose und »verminderter Wehrfähigkeit« in der städtischen Bevölkerung führe (Baumeister 1911, 6). Mit Recht gelte daher die Verbesserung der Wohnungszustände als die »wichtigste äußere Grundlage aller sozialen und sittlichen Reformen« (ebd.). Die »gesundheitlichen Übelstände«, so wiederholt Baumeister die inzwischen bekannte Argumentation, folgten aus der »Zusammendrängung der Menschen im Innern der Wohnungen«, aus der »Überfüllung und Unreinlichkeit«, aus der »Übereinanderschichtung in vielen Geschossen«, aus »zu geringen Abständen zwischen den Häusern«, aus »Mangel an Sonne, Licht und Luft«. Zusammengenommen, so resümiert Baumeister, »heißen diese Umstände Wohndichtigkeit« (ebd., Hervorhebung im Original). Während der Begriff ›Wohndichtigkeit‹ in der städtebaulichen Debatte vor allem bei der Analyse Verwendung findet, wird der Terminus ›Baudichtigkeit‹ entscheidend für die instrumentellen Vorschläge. Der »Grad der Baudichtigkeit«, so führt Baumeister aus, werde durch vier Gruppen von Regeln bestimmt (vgl. Baumeister 1911, 23f.): Die Raumregel (Vorschriften über die Zahl der Wohnungen pro Haus, die dem »Familienstand entspre16 Auch bei Josef Stübben (1845-1936), der neben Reinhard Baumeister als wichtiger Vertreter des Städtebaus zu nennen ist, ist der Dichtegebrauch ähnlich strukturiert. Die »dichte Bebauung« sei »nebst der mit ihr in Wechselwirkung stehenden Preissteigerung städtischer Baugründe« die bedenklichste »Schattenseite des städtischen Wohnens« (Stübben 1890, 238). Es gäbe keinerlei rationale (technische) Begründung für eine solche Baupraxis, es sei »einfach Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit und Mangel an gutem Willen, welche uns moderne Stadtbewohner dazu verurtheilten, lebenslänglich in formlosen Massenquartieren den geisttötenden Anblick ewig gleicher Miethhausblöcke, ewig gleicher Straßenfluchten zu ertragen« (ebd. 153).
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chende« Anzahl der Räume, Mindestabmessungen der Zimmerhöhe, des Zimmergrundrisses und der Fensterfläche), die Flächenregel (Regelungen des Verhältnisses von überbaubarer Fläche zu Grundstücksfläche), die Höhenregel (Festlegungen der maximalen Höhe der Häuser und der zulässigen Anzahl der bewohnten Geschosse) und die Abstandsregel (Bestimmung des Verhältnisses von Höhe und Abstand zwischen zwei einander gegenüberstehenden Baulichkeiten). Baumeister subsumiert damit einen Großteil des baupolizeilichen Regelungsinhaltes unter dem Begriff ›Baudichtigkeit‹, sein Anliegen ist es, diese Regelungen zu vereinheitlichen. Baumeister plädiert im Ergebnis dafür, die gemeindlichen Vorschriften durch Landesbauordnungen beziehungsweise durch eine Reichsbauordnung zu ergänzen (ebd. 41f.).17 Neben der Verwendung von ›Dichte‹ als Indikator für gesundheitliche und soziale Missstände (und als Ansatzpunkt, diese mit bauordnungsrechtlichen Mitteln zu bekämpfen) wird im städtebaulichen Diskurs noch ein zweiter Begründungszusammenhang hergestellt, nämlich das Verhältnis zwischen ›Dichte‹ und Bodenpreis. Durch die Bauordnungen, so wird diese Konstruktion erläutert, würde der Preis des Grundeigentums wesentlich bedingt.18 Zwischen der ›Wohndichtigkeit‹ und dem Bodenpreis fände eine Wechselwirkung statt. Der zulässige äußerste Grad der Ausnutzung bestimme (neben anderen Momenten) den Preis des Bodens und führe zu Bodenspekulation (Baumeister/Miquel 1889, 26). Wenn die Zahl der Geschosse eines Hauses beschränkt sei oder beträchtliche Abstände zwischen den Häusern gefordert würden, dann sinke die »Ausnützbarkeit des Bodens« (und damit sein Handelswert), während umgekehrt die Möglichkeit, eine »einträgliche Miethscaserne von großer Höhe mit engem Hof« zu errichten, bei dem Verkauf eines Grundstücks angerechnet werde, auch wenn der Käufer »gar nicht die Absicht zu einer solchen« hege (Baumeister 1887, 222). Wo jedoch einmal der Bodenwert hoch stehe, da könne ein »Baulustiger, der nicht Geld zusetzen will«, gar nicht mehr anders, als »dicht bauen«, um
17 Dabei scheint der Fokus der Städtebauer auf die gesundheitspflegerische Legitimation der städtebaulichen Regelungen einen strategischen Vorteil zu haben: Die verfassungsmäßige Kompetenz des Reiches erstreckte sich nämlich nicht auf die Baupolizei im Ganzen, jedoch sehr wohl auf die Belange der Gesundheitspflege. Eine Reichsbauordnung, wie sie Baumeister und Stübben anstrebten, war damit – ohne eine Änderung der Verfassung – nur mit einer Interpretation des Anliegens als gesundheitspflegerisches Projekt vorstellbar. 18 Die Vorschriften über die Baudichtigkeit seien zwar nicht die einzige Ursache von Bodenpreisen, »allein sie machen denjenigen Gegenstand aus, welcher unmittelbar gesetzlich erfaßt werden kann« (Baumeister 1911, 22).
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den hohen Preis des angekauften Bauplatzes wieder herauszuschlagen.19 Die »Einschränkung dieser Speculation« und die Herbeiführung einer »weiträumigen Bebauung«, sowie die »Beseitigung der ihr entgegenstehenden Hindernisse« sei daher als ein »dringendes Bedürfnis« anzuerkennen (Adickes et al. 1894, 137). Eine zulässige hohe ›bauliche Dichte‹ führe zu ungesunder Spekulation,20 die mit der »Steigerung der Wohnungsmiethen verbundene Zusammendrängung der Bevölkerung« sei wiederum die Folge der »überhandnehmenden Boden- und Bauspeculation« (ebd.). Die »Baudichtigkeit in waagrechter und in senkrechter Richtung« müsse »nicht nur aus hygienischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen gesetzlich beschränkt werden« (Baumeister 1906, nach Reinborn 1996, 67). ›Dichte‹ wird in der städtebaulichen Debatte damit in einen wechselseitigen Kausalzusammenhang eingebunden: ›Dichte‹ führt zur Spekulation, Spekulation führt zur ›Dichte‹. Die Regelung des Maßes der Bebauung sollte also auch eine »volkswirtschaftliche Aufgabe allerersten Ranges zur Lösung bringen« (Brix 1912, 16). Baumeister widmet sich dieser Konstruktion eingehend. Frühere Bauordnungen hätten die im Zentrum bestehende Baudichtigkeit einfach fortgesetzt, dadurch seien die Bodenpreise am Rand gestiegen, wohingegen Bauland im Kern aus Spekulationsgründen zurückgehalten worden sei. Am Stadtrand seien »Häuser mit gedrängter Bauweise« entstanden, während doch eigentlich die »naturgemäße Erweiterung von innen nach außen« hätte fortschreiten müssen (Baumeister 1911, 16f.). Wenn man überall eine hohe Baudichtigkeit zuließe, so Baumeister, dann entständen überall Mietskasernen. Richte man die zulässige Baudichtigkeit nach der bisherigen dichten Bebauung und dem hohen Bodenwert im Kerne der Stadt ein, so pflanzten sich »dieselben ungünstigen Verhältnisse immer weiter nach außen fort«. Um solchen »künstlich geschaffenen verderblichen Folgen vorzubeugen«, so erörtert Baumeister weiter die »für das Gemeinwohl zweckmäßigste Regelung der Baudichtigkeit«, müssten die »gestatteten Höchstgrade der Baudichtigkeit« abgestuft werden, und zwar »im allgemeinen entsprechend den natürlichen Bodenwerten von innen nach außen«.21 Baumeister konstruiert 19 Allerdings, so räumt Baumeister ein, seien »statistische Belege hierfür schwer herbeizuschaffen« (ebd.). 20 Der wahre Sünder sei die »Bauspeculation«, allerdings »nicht die gesunde, welche unter Umständen durchaus nöthig und nützlich sei«, sondern »die überhandnehmende ungesunde, schwindelhafte Bauspeculation« (Stübben nach Adickes et al. 1894, 134). 21 Eine solche Einschränkung sei jedoch am Rande der Stadt unproblematisch, da es betriebswirtschaftlich dasselbe sei, wenn man auf einem kleinen Grundstück relativ viel Kapital für ein dichtes Vorhaben investiere, oder auf einem großen
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wiederholt einen »natürlichen« Verlauf des Bodenwertes, ein »natürliches Verhältniß« des Bodenpreises mit der Entfernung vom Mittelpunkt der Stadt. Eine »gute Bauordnung« müsse zum Ziel haben, genau dieses Verhältnis abzubilden und herzustellen, nur so könne »die Herstellung gesunder und wohlfeiler Wohnungen« gestärkt werden (ebd.). Baumeister postuliert, dass dadurch der »Bodenpreis und die Baupolizei« sich »allmählich ins Gleichgewicht« setzen ließen (Baumeister 1880, 8). Der Analyse ›Baudichtigkeit führt zur Spekulation‹ folgt damit der Vorschlag, mit der Abstufung der Baudichtigkeit eine ›natürliche‹ Bodenpreisentwicklung wiederherzustellen. Die hygienischen und gesundheitlichen Missstände werden im städtebaulichen Diskurs als volkswirtschaftlich bedingt erklärt, die Heilung dieser Zustände wird mit einer Korrektur der als ›unnatürlich‹ bezeichneten Spekulation (anhand von Zonenbauordnungen) versprochen. Im städtebaulichen Diskurs verfestigte sich somit die Theorie, dass eine – jenseits der Marktkräfte liegende – ›natürliche‹ Bodenpreisentwicklung existiere. Mit dieser Sichtweise werden die Marktmechanismen zu negativen, ›unnatürlichen‹ Erscheinungen, die zu unzulässigen und maßlosen Bodenspekulationen führen (die wiederum die sozialen Missstände verursachen) und die (durch Regulierung der zulässigen baulichen Dichte) korrigiert und reguliert werden müssen. Nicht ganz klar wird dabei, welches die Mechanismen und Bestimmungsfaktoren dieses Naturphänomens eigentlich sein sollen, und diese Lücke wird auch nicht mit einer eigenen Theorie gefüllt. Dieser Teil des städtebauliche Ansatzes erinnert zum einen an die Theorien von Walter Christaller (vgl. Kapitel 5.2), der ja auch eine NatürGrundstück mit weniger Kapital (weil das Grundstück nicht so zentral liegt und weniger kostet) ein »weiträumiges« Vorhaben realisiere. Die Abstufung der Baudichtigkeit führe lediglich zu einer »Erziehung des baulustigen Unternehmers«, der dann entweder auf billigem Gelände weiträumig in der gesundheitlich erwünschten Weise baue oder eben auf teurem Grunde seine Häuser notgedrungen eng und hoch ausführe (Baumeister 1911, 16). Würde man dagegen »alles so ideal behandeln, wie in einer ganz neuen Stadt« (also mit niedriger zugelassener Baudichtigkeit), so würden die Besitzer älterer Grundstücke, die bereits dichter bebaut gewesen sind, oder sich zwischen dicht bebauten Plätzen befinden und daraufhin ihren Wert erhalten haben, im Falle von Neubauten »ungebührlich geschädigt« (ebd.). Wo die noch mäßigen Bodenpreise in der Stadtumgebung das kleine Haus gestatteten, brauche »die Mietskaserne polizeilich nicht zugelassen werden«, die Baudichtigkeit könne dort »ohne wirtschaftliche Schädigung« (für den Grundeigentümer) eingeschränkt werden (Stübben 1902, 8). Um dies zu erreichen, müsse eine abgestufte Bauordnung überall dem tatsächlichen Bodenwert angepasst und »eine so dichte Ausnutzung« zugelassen werden, dass »überall der zur Zeit bestehende Bodenwert voll zur Rente gebracht werden kann« (ebd. 26f.).
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lichkeit von topographischen, auf das Zentrum hin ausgerichteten ›Stadtkräften‹ behauptet hatte und dessen Modell – genauso wie das städtebauliche Konstrukt (wie noch gezeigt werden wird) – auf der instrumentellen planerischen Ebene auf einen bis heute aktuellen und fruchtbaren Nährboden gefallen ist. Zum anderen wird die ›natürliche‹ kreisförmige Stadtentwicklung später zum Modell der Chicago School (vgl. Kapitel 2.2). Mit dem von den Städtebauern wie Baumeister propagierten Instrument der ›Zonierung‹ sollte die Zusammensetzung der Stadt gesteuert werden, und zwar sowohl räumlich als auch sozial. Die Abstufung der Bauordnung, so lautet die städtebauliche Lehrmeinung, sei »von großer sozialer Bedeutung« (Stübben 1902, 8), Baumeister plädiert für eine maßvolle Vermischung der sozialen Klassen.22 Es komme bei den Zonenbauordnungen darauf an, »in einzelnen Bezirken gewisse Bauformen zu fördern, in anderen möglichst zu verhindern« (Adickes et al. 1894, 136). Eine Villa passe nicht »an laute staubige Straßen«, ein Kaufladen nicht in »stille abgelegene« Bereiche (Baumeister 1887, 216). Im Städtebau seien »soziale Rücksichten« als Aufgabe dazu gekommen (Stübben 1902, 27): Eine Abstufung der zulässigen Baudichtigkeit könne das »Einfamilienhaus und Bürgerhaus fördern« und dieses »vor der künftigen Einschließung durch hohe Mietskasernen« schützen (Baumeister 1911, 17). Die Vorschriften der Zonenplanung, so erläutert Baummeister, seien in einem größeren Stadtplan abzustufen, die Stufen sollten teils »aufgrund der bestehenden Bodenwerte«, teils mit Rücksicht auf die »erwünschte Bauweise« gewählt werden (Baumeister 1906, nach Reinborn 1996, 67). Man müsse alle Vorschriften über Baudichtigkeit (Raumregel, Flächenregel, Höhenregel, Abstandsregel) planmäßig miteinander verbinden und so Bauklassen bilden (Baumeister 1911, 17). Mit den Zonenbauordnungen, so ergänzt Stübben, sollten auf der einen Seite »das Streben die vorhandenen Bodenwerte behufs Vermeidung wirtschaftlicher Benachteiligungen« berücksichtigt, auf der anderen Seite »das spekulative Hinauftreiben der Bodenpreise über die durch verminderte Ausnutzung gezogene Grenze« verhindert werden, und zwar weil jenes »Preistreiben die Gesamtheit der zukünftigen Bewohner und Mieter« den wenigen Personen tributpflichtig mache, die von der Spekulation Vorteil haben und weil – da22 Eine »völlige Vermischung aller Klassen« könne dagegen nicht befriedigen. Die Trennung der Klassen bringe »sociale Gefahren und auch hygienische Uebelstände mit sich«, dagegen müsse eine Mischung der Wohnungsclassen günstig ausfallen »für den Ausgleich der socialen Gegensätze, für das moralische Verhalten beider Theile und ganz speciell auch für die Gesundheit der Aermeren«. Herstellen möchte Baumeister diese Mischung durch die gesetzliche Verpflichtung, in manchen Gebieten ab einer gewissen Grundstücksgröße sogenannte Kleinwohnungen herzustellen (Baumeister/Miquel 1889, 30).
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mit schließt sich der Kreis zur gesundheitspflegerischen Argumentationslinie – »dieser letztere Vorteil zugleich erkauft wird mit einem gesundheitlich minderwertigen Wohnen in der ganzen Zukunft der Stadt« (Stübben 1902, 15). Mit dieser Begründung wurden ab den 1890er Jahren in vielen deutschen Städten Zonen- und Staffelbauordnungen verabschiedet, mit denen von innen nach außen abnehmend (teilweise gestaffelt nach verschiedenen Haustypologien) in verschiedenen Zonen die zulässigen Höchstmaße der Baudichtigkeit vorgegeben wurden.23 Die komplexe Begründungskonstruktion aus volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Annahmen führte in der Praxis jedoch zu widersprüchlichen Ausgestaltungen, zudem gab es von den Grundbesitzern erhebliche Widerstände gegen die Zonierungspraxis, da sie ihre wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten beschränkt sahen (und die Gemeindevertretungen in Deutschland waren aufgrund des bestehenden Wahlrechts überall ›Hausbesitzerparlamente‹). In Stuttgart wurde der bestehende abgestufte Plan im Jahre 1900 wieder außer Kraft gesetzt, weil das ganze Stadtgebiet »hoch und dicht bebaut werden sollte«, und zwar »um auf diese Weise den Einwohnern billiges Bauland zu sichern« (Karnau 1996, 190). Auf der anderen Seite wurde jedoch festgestellt, dass eine Baubeschränkung dann, wenn sie nicht nur das eigene Grundstück, sondern auch die aller Nachbarn betraf, auch werterhöhend wirken konnte. Ein Villengrundstück ließ sich besonders gut verkaufen, wenn dem Käufer garantiert war, dass er nicht von fünfstöckigen Mietskasernen eingekreist werden würde (Fisch 1990, 186). Die tatsächlichen Auswirkungen der Zonenbauordnungen auf die Stadtentwicklung, auf die ›Wohnungsfrage‹, auf die Gesundheitspflege und auf die Bodenspekulation lassen sich daher insgesamt auch nur schwer fest machen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die städtebaulichen Instrumente ja selbst zur Produktion der materiellen Wirklichkeit beigetragen haben (und beitragen) und die abgestufte Baudichtigkeit volkswirtschaftliche und städtebauliche Realitäten herstellte (oder verfestigte). Im Rückblick wird die eigentliche Motivation der Zonenbauordnungen in der Literatur daher auch recht unterschiedlich bewertet. Hervorgehoben 23 Erste Formen von Zonenbauplänen gab es bereits 1874 in Budapest, 1878 in Dresden und 1879 in Erfurt. Zu Anfang handelte es sich noch dabei um die »rudimentäre Form einer Abstufung der Bebauungsdichte« in geschlossene und offene Bebauung (Fisch 1990, 185). Zonenbauordnungen mit mehr als diesen beiden Zonen wurden 1884 in Altona und 1891 in Frankfurt/Main verabschiedet. In Berlin wurde 1892 als erste Zonenbauordnung die ›Bauordnung für die Berliner Vororte‹ beschlossen. Die differenzierteste Zonenbauordnung war die Münchener Staffelbauordnung von 1904, wo die Festlegungen an eine umfangreiche Gebäudetypologie (die Staffeln) gekoppelt wurden (ebd.).
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wird etwa die beabsichtigte »räumliche Distanzierung der bürgerlichen Schichten« von den Bevölkerungsteilen, denen »die Seuchen offensichtlich an den Stiefeln klebten« (Häußermann et al. 2008, 48). Mit der Zonierung hätten die Hygieneprobleme an bestimmte Stellen der Stadt verschoben werden sollen, um die Gesundheitsgefahren besser kontrollieren und auf bestimmte Stadtgebiete und Bevölkerungsgruppen eingrenzen zu können (Rodriguez-Lores 1991, 73). Durch die neue »Konzeption der sozialräumlichen Stadtentwicklung« sei die systematische Herstellung der zur »sozialen Distanz adäquaten räumlichen Distanz« (und damit die räumliche Steuerung der Klassen) beabsichtigt gewesen und mit der Reduktion der Bodenwerte in den städtischen Erweiterungsgebieten hätte eine Verbilligung der Bauten (und damit die Reduzierung der Mieten), eine Umleitung der Unbemittelten in die Erweiterungsgebiete und die Verhinderung des zunehmenden Eindringen von ländlichen Schichten in die bürgerliche Stadt erreicht werden sollen (Rodenstein 1988, 124f.). Die scharfe Trennung der Stadt in ein dicht bebautes Zentrum und eine weniger dicht bebaute Peripherie, so eine anderslautende Erklärung, sei ein Gewinn für die Immobilienbesitzer gewesen, die draußen im Grünen wohnten und von den durch die hohe Ausnutzung produzierten Profiten ihres Besitzes im Inneren profitierten, während sich die »Zonierung für die Allgemeinheit als kostspielig und dysfunktional erwies«. Auf diese Art sei die Stadt zu einem »Instrument der Diskriminierung« geworden (Benevolo 1991, 834f.). Auch die Bewertung des gesamten bisher dargestellten Kontextes ist von verschiedenen Positionen aus möglich. Städtebau und Stadtplanung seien, so wird auf der einen Seite konstatiert, zur »Domäne eines konservativ gewordenen Bürgertums« geworden, dem weit mehr als die politischen und ökonomischen Grundlagen seiner eigenen Existenz die ›Größe und Dichte‹ der Großstädte als »Quellen allen Übels« eingeleuchtet habe, zumal mit dem Wachstum der großen Städte auch der Gegner dieses Bürgertums (die »darin zusammengepferchte Arbeitermassen«) sich immer stärker organisiert hätte (Häußermann/Siebel 1978, 488). Die Widersprüche der Urbanisierung seien den Reformern bekannt gewesen, es habe jedoch auch Konsens darüber geherrscht, dass die »zwiespältige Ursache von Reichtum und Übel«, der Industrialisierungsprozess und die private Produktion der Stadt, nicht gebremst werden durften (Rodriguez-Lores 1991, 64f.). Einen bleibenden Einfluss auf Städtebau und Stadtwesen, Wohnungsbau und Wohnungswesen habe besonders die Stadthygiene entwickelt, konstituiert als »politisches Repressionssystem«, durch das mit wissenschaftlichen abgesicherten Kriterien und ideologischen und polizeilichen oder verwaltungsmäßigen Mitteln die ›Normalität‹ erzwungen werden sollte. Zentrale Strategie sei dabei die Durchsetzung von – aus dem städtebaulichen Fachwissen – abgeleiteten städtebaulichen Normen gewesen, mit dem Ziel, die Reproduktion der Ar-
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beitskraft sicher zu stellen (ebd.). Auf der anderen Seite wird jedoch auch festgestellt, dass die »chaotischen Zustände in den industriellen Großstädten des 19. Jahrhunderts« eine ordnende Planung der Stadt »unabweisbar« gemacht hätten (Häußermann et al. 2008, 76). Die sozialen Reformen hätten dann auch tatsächlich zur »allmählichen Verbesserung der Wohn- und Lebensverhältnisse von immer mehr Menschen aus den unteren Klassen geführt« (Reulecke 1985, 56). Für die Betrachtung der im frühen modernen (sozialreformerisch und gesundheitspflegerisch begründeten) Städtebaudiskurs vorgenommenen Dichteeinbindung bleibt erst einmal festzuhalten, dass in diesem ›Diskurs der Ingenieure‹ deutlich auf die Etablierung von bau- und planungsrechtlichen Bestimmungen fokussiert wurde und dass dabei das Konstrukt ›Dichte‹ eine überaus bedeutsame Rolle eingenommen hat. Und zwar sowohl als Analysekategorie als auch als Bestandteil des städtebaulichen Instrumentariums. Auf der Analyseebene wurde zum einen die ›Wohndichte‹ im Sinne einer aus der gesundheitspflegerischen Argumentationslinie stammenden Interpretation von ›Dichte‹ als Sinnbild und Ursache des sozialen Elends in den städtischen Armutsquartieren verwendet und entsprach damit in weiten Teilen der konservativen geographischen und bevölkerungswissenschaftlichen Perspektive (und kann auf diese rückbezogen werden). Zum anderen wurde die ›Baudichtigkeit‹ als entscheidendes Kriterium für die Entwicklung des Bodenpreises bezeichnet, die zu Spekulation und (damit wieder) zu sozialem Elend führe. Der städtebauliche Dichtegebrauch fand in einem Umfeld statt, das sich aus einer Mischung aus politischem Konservatismus und marktkritischem Sozialreformismus zusammensetzte, in dem vermutlich nicht nur die Sorge um die Volksgesundheit transportiert wurde, sondern auch die Angst vor den in eben diesen städtischen Bereichen gedeihenden kommunistischen Umsturzkräften. Auf den volkswirtschaftlichen sozialreformerischen Dichtediskurs, in dem (im nationalen Maßstab) ›Dichte‹ ja genau gegensätzlich bewertet worden ist (vgl. Kapitel 4.1), wurde in der (ebenso sozialreformerischen) städtebaulichen Debatte dagegen kaum Bezug genommen. Auf der instrumentellen Ebene24 kam vor allem das Konstrukt der ›Baudichtigkeit‹ zum Einsatz, in dem alle die ›Ausnutzung der Grundstücke‹ betreffenden baupolizeilichen Regelungen zusammengefasst wurden und das sich als Sammelbegriff in der Debatte über die Ausweitung 24 Im Baugesetz für das Königreich Sachsen aus dem Jahre 1900 findet sich der Begriff ›Dichte‹ erstmals explizit innerhalb eines planungsrechtlichen Paragraphen: Im § 18 dieses Gesetzes wird formuliert, dass die geschlossene Bauweise in »ausreichendem Umfange von Straßen mit offener Bauweise« unterbrochen werden solle, um »in den Außenbezirken eine zweckmäßige Beschränkung der Bau- und Wohndichtigkeit« zu bewirken (nach Gerberding-Wiese 1968, 38).
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und Normierung der städtebaulichen Regularien etablierte. Bei der gleichzeitig stattfindenden Ausdifferenzierung der stadtplanerischen Regelungsbereiche (Bebauungspläne, Zonenbauordnungen) wurde das Konzept ›Baudichtigkeit‹ weiter ausgearbeitet und befindet sich seither explizit im Kernbereich des stadtplanerischen Regelwerkes. Der Dichtediskurs in der städtebaulichen Debatte der Jahrhundertwende war die Voraussetzung für die Etablierung (und Legitimation) der instrumentellen Dichteverwendung in den kommunalen Bauordnungen und Zonenplänen.
6.2 D ER D ISKURS
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Die Städtebaudebatte der Ingenieure wird flankiert durch den sich Ende des 19. Jahrhunderts etwa gleichzeitig entfaltenden Diskurs der Architekten und Stadtbaukünstler. Hier wird vor allem über städtebauliche Konzepte und Leitvorstellungen sowie um das geeignete städtebauliche Selbstverständnis gerungen, es geht um die Suche nach dem Bild einer künftigen, besseren, schöneren und sozial gerechteren Stadt. Zu Beginn steht in diesem Kontext der Begriff ›Dichte‹ noch nicht im Vordergrund der Debatte. Der Blick auf die Historie des städtebaulichen Diskurses der Architekten ist jedoch wichtig für das Verständnis und die Einordnung der nachfolgenden Entwicklungen im Städtebau, in denen das Konstrukt ›Dichte‹ dann wieder in das Zentrum des Geschehens rückt. Zudem lassen sich die städtebaulichen Vorstellungen – die Gartenstadt, die Trabantenstadt, die Flachbauweise, der Hochhausbau – allesamt nicht nur nachträglich anhand des Kriteriums ›Dichte‹ rekonstruieren, sondern das Dichteideal der jeweiligen Protagonisten steht häufig auch am Beginn des entworfenen Städtebauideals. Eingebunden ist die städtebauliche Debatte der Architekten dabei in eine politische Stimmungslage, die Ende des 19. Jahrhunderts von einer breiten Ablehnung des Diskursobjektes – der bestehenden Stadt – geprägt gewesen ist. Der inhaltliche Kern der sich »mit allgemeinen Ausprägungen des Zeitgeistes wie Kulturpessimismus und Fin-de-siècle-Stimmung verbündenden Großstadtfeindschaft« (Engeli 1999, 33) bestand in der These, dass das flache Land und seine Bevölkerung durch die – seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtbaren – massive Verstädterung unaufhaltsam und gesetzmäßig ›geschwächt werden‹ würde. Die »minderwertige städtische Bevölkerung«, so lautete etwa die Theorie des sich auf Wilhelm Heinrich Riehl1 berufenden Agrarhistorikers Georg Hanssen (1809-1894), bilde sich 1
Zum »Begründer der modernen Großstadtfeindschaft« (Bergmann 1970, 103) vergleiche auch Kapitel 3.1.
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aus dem »Überschuss an Kräften«, die der Stand der Grundbesitzer produziere (Hansen, zitiert nach Bergmann 1970, 52). Der Bauernstand wurde in dieser ›Jungbrunnenideologie‹ als ›Urquell‹, ›Urstand‹, ›Urmaterial‹ und ›Vorratsbehälter für alle übrigen Stände‹ idealisiert, die Großstadt war verlorenes Terrain, dem Untergang und dem proletarischen Siechtum geweiht (Bergmann 1970, 144). Die großstadtfeindlichen und argrarfreundlichen Doktrinen bilden den Kern des zu Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten vaterländisch-konservativen Denkens, in dessen Kontext sich Ende des 19. Jahrhunderts die Diskussion über das richtige städtebauliche Selbstverständnis entwickelte (vgl. auch Durth/Gutschow 1988). An den Anfang der architektonischen Städtebaudebatte wird häufig die Schrift Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen von Camillo Sitte (1808-1908)2 gestellt. Sitte, auf den sich bis heute viele Städtebauinstitute beziehen (Wilhelm/Jessen-Klingenberg 2006, 7), beschäftigt sich in seinem Grundlagenwerk mit dem ästhetischen Bild der Stadt als künstlerische Komposition und gestalterischer Aufgabe (Sitte 1889). Sitte beklagt, dass den technischen und hygienischen Verbesserungen eine »bis zu Spott und Geringschätzung gehende Verwerfung der künstlerischen Erfolge des modernen Städtebaus« entgegenstehe (ebd. Vorrede). Sitte, dessen Urteil über die bestehende Großstadt ähnlich negativ ist wie das des Großteils seiner Zeitgenossen, untersucht vor allem Platz- und Straßengestaltungen in italienischen Städten und richtet seinen Blick zurück auf die Gestaltungsprinzipien mittelalterlicher Städte, wobei er Empfehlungen für unregelmäßige Platzanlagen, gewundene Straßenzüge und zur genauen Beachtung topographischer Besonderheiten gibt. Sittes Werk gilt in der Städtebaudebatte bis heute als Koordinate einer romantisierenden und konservativen Position. Besonders die Landschaftsplaner aus dem Umfeld des deutschen Heimatschutzbundes (s.u.) erhoben Sittes Ausführungen zu einem Lehrbuch für eine landschaftsgebundene und organische Bauweise (Münk 1993, 165). Sitte gab der Städtebaudiskussion im deutschsprachigen Raum eine neue Richtung und forderte damit die in technischen und rechtlichen Bahnen denkenden Verfechter der älteren Städtebaulehre heraus (Fisch 1990, 178). Durch Sitte wurde der Städtebau zur Architekturaufgabe. Eigentliches Zentrum des städtebaulichen Diskurses der Architekten ist jedoch nicht Sittes Stadtkunstlehre, sondern mit dem Modell der Gartenstadt eine konzeptionelle Idee.
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Sitte studierte von 1864 bis 1869 an der Technischen Hochschule in Wien Archäologie, Anatomie und Kunstgeschichte. Im Anschluss war Sitte als Architekt tätig und übernahm 1875 die Direktion der Salzburger Staatsgewerbeschule. Ab 1883 lehrte er an der Wiener Staatsgewerbeschule und wurde 1889 deren Direktor. (Willem und Klingenberg 2006)
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In die deutschsprachige städtebauliche Debatte eingeführt wurde das Konzept der Gartenstadt durch Theodor Fritsch (1852-1933).3 Fritsch selbst war kein Städtebauer, sondern ein radikaler völkisch-nationaler Publizist. Fritsch konzipiert seine Stadtvision dezidiert als antistädtisches Modell, als ein Projekt gegen die »großstädtische Dichte« (Schubert 2004, 12). Ausgangspunkt seiner Stadtvision ist für Fritsch ein ausgeprägter Hass auf die bestehende Großstadt, die er als »Lasterparadiese« und »wüste Steinhaufen« (Fritsch 1896, 4f.) bezeichnet. Fritsch postuliert, dass »dem Volke in seinen Großstädten und Industrie-Zentren schwere Gefahren« drohten und dass die Bewohner der Städte einem »raschen Aussterben preisgegeben« seien (Fritsch 1912, 28). In der Großstadt, so rezipiert Fritsch den Dichtediskurs, dränge sich »die Miets-Bevölkerung in unheimlicher Dichtheit zusammen«, viele »gesundheitliche und auch sittliche Schäden« seien »lediglich auf die unvernünftige Engigkeit und Gedrängtheit des Zusammenwohnens« zurück zu führen. Die »Dichtheit der Bevölkerung« stehe in unmittelbarem Verhältnis zur Sterblichkeits-Ziffer und auch zu »gewissen sittlichen Zuständen« (Fritsch 1896, 28). Trotz aller Kritik an den bestehenden Großstädten betrachtet Fritsch die Stadt jedoch auch als eine Notwendigkeit. Man dürfe »nicht verhelen«, so erklärt Fritsch, dass es »für eine größere Nation und ihre manchfachen Bedürfnisse notwendiger Weise Städte geben« müsse. Aus diesem Grunde sollte man sie »wenigstens vernünftig anlegen«. Was den alten Stadtvierteln am meisten fehle sei die »innere Ordnung« und »der Plan«. Fritsch malt das Gegenbild zur bestehenden Stadt als »organisches Wesen«, die »in allen ihren Teilen das Erzeugnis eines klaren weitschauenden Geistes« ist und die »in edler Regelmäßigkeit und Schönheit« sich aufbaue und »ordnend und richtend auf den Menschengeist« zurück wirke. Fritschs Ideal ist eine kleine, überschaubare Stadt, die sich in spiralförmig erweiternden funktions- und klassengetrennten Zonen entwickelt4 und in der Grund und Boden sich in Gemeindeeigentum befinden.
3
Fritsch war gelernter Techniker und betätigte sich ab 1880 als Publizist. 1902 gründete Fritsch in Leipzig den Hammer-Verlag, in dem zahlreiche antisemitische Propagandaschriften erschienen. Vor allem sein 1907 veröffentlichtes Handbuch der Judenfrage war ein großer publizistischer Erfolg. 1924 wurde Fritsch für die Deutschvölkische Freiheitspartei(DVFP) in den Reichstag gewählt.
4
Im Zentrum von Fritschs Zukunftsstadt stehen die »monumentalen Gebäude«, dann folgen »vornehme Villen«, »feinere Wohnhäuser«, Wohn- und Geschäftshäuser, Arbeiter-Wohnungen, kleine Werkstätten, Fabriken und ländliche Betriebe (ebd.).
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Im Jahre 1897 – ein Jahr nach Fritschs Stadt der Zukunft – veröffentlichte Ebenezer Howard (1850-1928)5 seine Schrift Garden Cities of Tomorrow, die in der heutigen städtebaulichen Rezeption der Gartenstadt im Vordergrund steht. Die Gartenstadt von Howard (der ebenfalls kein Städtebauer war) ist eine von der Einwohnerzahl her begrenzte Ansiedlung auf dem Land, in der die Naturnähe mit den Vorteilen der städtischen Lebensweise verbunden werden sollte (Howard 1968 [1897]). Bei Howard verschmelzen die jeweiligen Vorteile aus Stadt und Land im Begriff »Landstadt«. Zu diesen Vorteilen zählt er das Gesellschaftsleben, die soziale Solidarität und das reiche kulturelle Angebot. Ebenso wie Stadt und Land sollten auch die verschiedenen sozialen Klassen versöhnt werden und in enger Durchmischung miteinander leben können. Howard wollte in seinem Planungsmodell das private Grundeigentum abschaffen und hoffte diesen ›Bodensozialismus‹ beim Bürgertum mit Vernunftgründen durchsetzen zu können (de Bruyn 1996, 173). In Howards Modell wird das gesamte Siedlungsterrain zum kollektiven Eigentum der Gemeinde erklärt, um die aus der wirtschaftlichen Entwicklung resultierenden Wertsteigerungen als kommunale Einnahmen verbuchen zu können. Das Konzept der Gartenstadt stieg »sehr schnell zum populärsten Planungsmodell der Moderne auf« (de Bruyn 1996, 173) und war beliebt »von Liebknecht bis Himmler« (Durth/Gutschow 1988, 168). Die »Ideologie der ›Gartenstadt‹«, so lautet später die zurückblickende Bewertung, sei eine »historische Aufforderung eines resignierenden Städtebaus an die Besserverdienenden« gewesen, die »am Proletariat und den Lasten der Industrialisierung anscheinend unheilbar kränkelnde Stadt« zu verlassen und »sich auf dem billigen Land im Eigenheim« neu anzusiedeln (Rodriguez-Lores 1991, 75). Das »gartenstädtische Rezept zur Rettung der Menschen«, so eine prominente Kritikerin, sei »die Vernichtung der Großstadt« gewesen (Jane Jacobs, zitiert nach Bergmann 1970, 163). Von anderer Seite wird die Gartenstadtidee als aus der Verschmelzung von »bürgerlichromantischen und sozialistischen Gedanken« hervorgegangene »ebenso naiv wie pragmatisch klingende Liaison« bezeichnet (de Bruyn 1996, 171) oder auch als Synonym, für alle »fortschrittlichen Bemühungen, durch Städtebau die Lebensbedingungen der unteren Mittelschichten zu heben« (Schubert 2004, 92). Diese kontroversen Bewertungen des Gartenstadtmodells lassen sich vor allem darauf zurückführen, dass sich hier zwei unterschiedliche Denklinien – die Diskurse des völkisch-nationalen Konservatismus und der reform-sozialistischen Moderne – einander näherten und beide im Gartenstadtgedanken ihr städtebauliches Leitmotiv fanden. Die Gartenstadtbewegung wurde zum Sammelbecken all jener Erneuerungsbewegungen neuro5
Howard war ein Büroangestellter in London ohne akademische Ausbildung.
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mantischer Art, die in Reaktion auf den sozial-ökonomischen Strukturwandel entstanden (Bergmann 1970, 150). In der Gartenstadtbewegung wurden ›Landkult‹ und ›Agrarutopismus‹ unterschiedlich pointiert mit Kulturkritik und lebensreformerischen Ansätzen verbunden (Schubert 2004, 46). Die Idee der Gartenstadt wurde zur Mutter einer Vielzahl von städtebaulichen Konzepten, in denen sich sozialrevolutionäre Hoffnungen auf eine Stadt für die arbeitende Klasse mit Elementen der konservativen Stadtfeindschaft mischten (Häußermann et al. 2008, 58). Die sozialistischen und die völkischen Ideen trafen sich bei der Ablehnung der bestehenden städtischen baulichen Strukturen und Eigentumsverhältnisse. Die Deutungsmacht der ›Deutschen Gartenstadtgesellschaft‹ hat lange Zeit den sozialreformerischen Mythos der Gartenstadt konserviert und andere Interpretationen nicht zugelassen (Schubert 2004, 93). Die Lesart der Gartenstadtbewegung als ausschließlich sozialreformerisch ausgerichtete Bewegung entspricht jedoch nicht der historischen Realität (ebd. 10). Fritsch, der die meisten Gedanken Howards und der deutschen Gartenstadtpioniere vorweg genommen hatte, bezichtigte Howard des Plagiats. Inhaltlich und konzeptionell gleichen sich die beiden Projekte von Fritsch und Howard bis ins Detail.6 Fritsch konnte mit seiner Idee einer Gartenstadt in Deutschland jedoch nicht reüssieren, da er wegen seines fanatischen Antisemitismus (noch) als zu reaktionär galt (Bergmann 1970, 150). Die Protagonisten der im Jahre 1902 gegründeten deutschen Gartenstadtbewegung7 bezogen sich daher vorrangig auf Howard und ignorierten weitgehend seinen deutsch-nationalen Kontrahenten. In der Anfang des 20. Jahrhundert innerhalb der Gartenstadtbewegung geführten Diskussion über die Urheberschaft der Idee wird die Gemeinsamkeit der beiden Entwicklungslinien auf den Punkt hervorgehoben. Bernhard Kampffmeyer (1867-1942)8 formuliert, dass »der Streit über die Priorität des Gartenstadtgedankens: hier England, hier Deutschland, hier Theodor Fritsch, hier Ebenezer Howard« ein müßiger sei. Die Entwicklung beider Länder zu Industrieländern und die sich daraus ergebende »ungesunde – ungesund in volkswirtschaftlicher, gesundheitlicher und kultureller Hinsicht – Zusammenballung von Menschenmassen in 6
Dirk Schubert arbeitet in seiner Analyse von Fritschs und Howards Schriften vor allem Unterschiede in den Persönlichkeiten und im politisch-gesellschaftlichen Umfeld heraus. Schubert kommt zum Ergebnis, dass Howard vermutlich nicht bei Fritsch abgeschrieben habe (vgl. Schubert 2004).
7
Mitglied der Deutschen Gartenstadtgesellschaft waren (neben Theodor Fritsch) auch Reinhard Baumeister, Josef Stübben, Paul Schultze-Naumburg und Franz Oppenheimer (zu Oppenheimer vgl. S. 140).
8
Kampffmeyer war mehrere Jahre Vorsitzender der Deutschen Gartenstadtgesellschaft.
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Großstädten« hätten zwangsläufig zu diesen »beiden Gegenströmungen zur Beseitigung der Schäden« geführt (Bernhard Kampffmeyer 1917, nach Schubert 2004, 11). In dieser Interpretation zeigt sich der Ursprung sowohl des modernen als auch des völkisch-nationalen Diskurses: die Großstadtkritik und die Definition der ›Ballungen‹ als ›zu beseitigende Schäden‹. Die Großstadtkritik machte »kausal ein baulich-räumliches Phänomen« für die mit Industrialisierung und Verstädterung verbundenen gesellschaftlichen Probleme verantwortlich (Schubert 2004, 31). Damit steht das Gartenstadtmodell für den Ansatz, durch eine Manipulation der gebauten Umwelt gestaltend auf soziale Prozesse und Beziehungen einwirken zu können (ebd. 93). Nach dem ersten Weltkrieg veränderte und erweiterte sich das Spektrum der städtebaulichen Debatte. Die vorherrschende Stimmung der Weimarer Republik war ein »komplexes Amalgam aus expressionistischer Schwärmerei, sozialistischen Utopieelementen, Anti-Wilhelminismus und Großstadtkritik«, in der zum Aufbruch zur neuen Stadt, zur neuen Wohnung und zum neuen Menschen gerufen wurde. Erhalten blieb jedoch die »Frontstellung gegen den gründerzeitlichen Moloch Großstadt« (Harlander 2006, 26f.). In der Weimarer Republik, dem ersten Sozialstaat auf deutschem Boden, entstand erstmals eine systematisch angelegte Wohnungspolitik, die Lösung der ›Wohnungsfrage‹ wurde auf allen Ebenen des Staates zur vordringlichen Aufgabe der Sozialpolitik erklärt. Der Anspruch auf gesunde Wohnung wurde in die Reichsverfassung aufgenommen und bot die Basis für weitreichende Staatsinterventionen. Mit der neu eingeführten Hauszinssteuer wurde die finanzielle Grundlage für eine staatliche Städtebauförderung gelegt (Häußermann et al. 2008, 55f.; Durth/Gutschow 1988, 175; Peltz-Dreckmann 1978, 59). Das Gartenstadtkonzept wurde vor allem in den sozialdemokratisch regierten Kommunen auf den Arbeitersiedlungsbau angewendet, allerdings ohne die ursprünglichen sozio-ökonomischen Bestandteile dabei umzusetzen. Bei den dann tatsächlich errichteten Arbeiter- und Kleinbürgersiedlungen der Wohnungsbaugenossenschaften, die nur aufgrund ihrer landschaftlich schönen Lage als ›Gartenstädte‹ bezeichnet wurden, blieb von Howards Konzept lediglich die Naturnähe und das preisgünstige Wohnen übrig, Howards ökonomisches Model hatte mit den realisierten Projekten nicht mehr viel zu tun (Harlander 2006, 26f.). Auf der konzeptionellen Ebene formte sich – als Gegenbewegung zum historizistischen Stil der Heimatschutzbewegung und des konservativen Teils der Gartenstadtvertreter – das architektonische und städtebauliche Konzept des ›Neuen Bauens‹. Ziel der ersten architektonischen Moderne (für deren Entwicklung etwa der ›Deutsche Werkbund‹ und das Bauhaus stehen) war es (ausgehend von den neuen verfügbaren Materialien und Bautechniken), eine völlig neue Form der Architektur und des Städtebaus zu entwickeln.
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Einer der bedeutendsten Vertreter des Städtebaus der ersten Moderne ist der Schweizer Architekt Le Corbusier (1887-1965). Le Corbusier betrachtete den industriellen und seriellen Wohnungsbau als die entscheidende Errungenschaft der »modernen Baukunst«, als »Revolutionierung der Architektur« (Le Corbusier 1926, 166f.). Le Corbusier grenzt sich sowohl vom Städtebauverständnis stadttechnischer und baupolizeilicher Provenienz als auch von den romantisierenden Vorstellungen eines Camillo Sitte ab. Bei Le Corbusier hängt das »Gleichgewicht der Gesellschaftsordnungen« nicht mehr von der Lösung der ›Wohnungsfrage‹, sondern von der »Lösung der Baufrage« ab (ebd. 233).9 Le Corbusiers Ziel ist es, die Stadt nach den Prinzipien industrieller Rationalisierung, optimaler Besonnung, Belichtung und Durchlüftung zu gestalten. Le Corbusier erhebt in seinen Thesen den Städtebau zu der bestimmenden gesellschaftlichen Aufgabe. Das »Werkzeug des Menschen«, so schreibt Le Corbusier, sei »zu allen Zeiten dem Menschen in die Hand gegeben« gewesen, nun müsse man »dem dummen Menschen beibringen, wie er seine Werkzeuge zu gebrauchen hat« (Le Corbusier 1926, 239). Le Corbusier ergänzt den Fortschritt der konstruktiven und materiellen Möglichkeiten mit einem planerisch-organisatorischen Ansatz, der die Trennung der »menschlichen Funktionen« in Wohnen, Arbeiten, Kultivierung von Körper/Geist und Fortbewegung (und der Anwendung dieser Funktionalisierung auf den Städtebau) zum Ausgangspunkt hat. Das Bild, das Le Corbusier auf der Grundlage seines theoretischen Ansatzes entwirft, ist das der ›Trabantenstadt‹, einer Stadt, die die bestehende Großstadt durch eine Bebauung mit Hochhäusern ersetzen sollte. Im städtebaulichen Diskurs wurde das Modell der ›Trabantenstadt‹ bald als Alternative zum Gartenstadtmodell diskutiert, ›Gartenstadt‹ und ›Trabantenstadt‹ wurden die beiden Pole in der städtebaulichen Diskussion, ergänzt durch die in der Architektur geführte Debatte über den ›Flach-‹ und den ›Hochbau‹ als zu favorisierendes Siedlungskonzept. Die Ziele, die mit dem jeweiligen Modell erreicht werden sollten, waren jedoch gar nicht so unterschiedlich. So verschieden und kontrovers die jeweiligen Kontexte der städtebaulichen Protagonisten auch gewesen sein mögen, ob sie aus dem völkisch-nationalen und antisemitischen Lager oder aus dem sozial-reformerischen oder avantgardistischen Bereich stammten – die Ablehnung der ›alten‹ Stadt bildete den allgemeinen Konsens der städtebaulichen Leitvorstellungen. Eine neue Stadt, in der mehr ›Licht und Luft‹ für die Bewohner garantiert sein sollten, war das Ideal beider städtebaulicher Modelle. Im städtebaulichen Diskurs wurde daher in der Folge vor allem über Methoden diskutiert, wie dieses Ziel am besten erreicht werden könnte. Und hierbei wurde (von Vertretern 9
Gleichwohl gelte es, »unsere Köpfe von den Spinnern der Romantik zu säubern« (ebd. 207).
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beider Richtungen) auch wieder auf die Konstruktion der ›Dichte‹ zurück gegriffen. Im Beitrag Baudichte und Weiträumigkeit bringt Anton Hoenig (18861951) das Konstrukt ›Dichte‹ und die Frage ›Flachbau oder Hochbau‹ zusammen. Städtebau wird von Hoenig dabei als notwendiges Regulativ zum Wirtschaftsliberalismus, die Kategorie ›Dichte‹ dagegen als naturwissenschaftliche und objektive Komponente inszeniert. Das »privatwirtschaftliche Streben nach größter Rentabilität«, so argumentiert Hoenig, sei im Allgemeinen auf die »Herstellung eines Maximums« gerichtet. Dies führe im Städtebau »zu verhängnisvollen Entartungen«, da das Ergebnis einer rein wirtschaftlichen Herangehensweise »engräumiger Hochbau« sei: »Wirtschaftlich ist Manhattan«. Dagegen seien »Weiträumigkeit, Flachbau, Grünpolitik, Gartenstädte und Wohnungsreform« unwirtschaftlich und könnten daher nur durch städtebauliche Normen gesichert werden (Hoenig 1928, 713f.). Diese These möchte Hoenig wissenschaftlich herleiten. Zu diesem Zwecke müsse man, so formuliert Hoenig, »die im Städtebau geltenden nebelhaften Begriffe« schärfen und »Ausdrücke von schärfster Inhaltsprägung« einführen. Möglich wäre dieses Anliegen mit den Elementen eines Bebauungsplanes, da diese »exakt meßbare und vergleichbare Flächensummen« ergäben. Jede der Flächensummen habe ihre »besondere Funktion im Siedlungsorganismus«, zwischen den Flächensummen beständen »exakt erfaßbare, gesetzmäßige Beziehungen«. Als Fazit dieser Betrachtung formuliert Hoenig, dass die »Polarität von Quantität und Qualität, von Wirtschaftlichkeit und Weiträumigkeit« eigenen »Naturgesetzen« folge, an deren »unwandelbarer Geltung die individuelle Einstellung gefühlsbegabter Stadtplankünstler nicht zu tüfteln vermag« (ebd.). Die Mathematik, so resümiert Hoenig, biete »zuverlässige Prüfsteine für die verschiedenen Qualitäten städtebaulicher Planungen« (ebd. 716). In die umfangreichen Dichteberechnungen von Hoenig sind die bestehenden Festlegungen der Bauordnungen dabei als unveränderliche Grundvariable eingestellt. In seinen städtebaulichen Formeln mischt Hoenig also die Regelungsziffern der Bauordnungen (über die Ausnutzbarkeit von Grundstücken, Geschossflächen, Geschosshöhen etc.) mit physikalischen Gegebenheiten (etwa dem Lichteinfall) und leitet aus dieser Mischung von Norm und Wissenschaft ein »unwandelbares« Naturgesetz ab. Hoenigs Ergebnis lautet dann auch wenig überraschend, dass bei Steigerung der Geschosszahl die Wirtschaftlichkeit zuerst verhältnismäßig stark ansteige, über ein gewisses Maß hinaus aber kaum mehr gesteigert werden könne (Hoenig 1928, 716).10 10 Hoenig möchte nachweisen, dass die Hochbauweise – aufgrund der ›naturgesetzlichen‹ Regeln der Dichteverhältnisse und der Wirtschaftlichkeit – nicht nur normativ abzulehnen, sondern auch objektiv unwirtschaftlich sei. Der Wider-
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Im Jahre 1930 hält Walter Gropius (1883-1969)11 auf dem III. Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) in Brüssel einen Vortrag, in dem sich eine neue Sichtweise auf die ›Dichte‹ anbahnt. Gropius untersucht in seiner Rede, welche Bauweise für die »städtebauliche Massierung von Volkswohnungen rationell« sei (Gropius 1931, 321f.). Die Propagierung des Flachbaus, so folgt Gropius zunächst der die städtebauliche Debatte seiner Zeit, sei eine »gesunde Grundforderung« mit dem Ziel, die »Siedlungsdichte der Städte« einzuschränken, die »hauptsächlich infolge der Bodenspekulation vielfach zu groß geworden« sei (Gropius 1931, 321f.). Es sei durchaus zu begrüßen, dass die »verheerenden Folgen der wilden Bautätigkeit in den Städten« als »gesunden Rückschlag« die Tendenz des »›Zurück zur Natur‹« und den »Kampf der Behörden« für die Unterbringung der »Mehrzahl des Volkes im Einfamilienhaus mit Garten« bewirkt hätten. Die für das »gesunde Gedeihen« des Menschen »unerläßlichen Vorbedingungen« wie Licht, Luft und Auslaufmöglichkeit könnten, so Gropius weiter, im Einfamilienhaus besser als in den »verpönten Hofwohnungen dicht zusammengebauter Mietskasernen« erfüllt werden. Schuld an dem Elend der »unwürdigen Behausungen« sei allerdings nicht die Wohnform des »mehretagigen Großhauses« an sich, sondern die »kurzsichtige Gesetzgebung«, die »den Bau der Volkswohnungen ohne ausreichende soziale Sicherung skrupelloser Spekulation« preisgegeben habe. Jede Bauordnung habe zwar die vorherige »in dem Bestreben überboten«, die gesundheitlichen Vorbedingungen für die Bewohner dichtbesiedelter Gegenden zu verbessern, das Ergebnis sei – hinsichtlich der dort selbst formulierten Kriterien (Licht, Luft, Gesundheit) – aber nicht überzeugend. Insbesondere die bestehenden »Bauzonengesetze« müssten geändert werden. Unrichtig sei es nämlich, wenn die »natürliche Tendenz zur Höhenbeschränkung des Flachbaues« auch auf das Stockwerkhaus übertragen werde, denn das Ziel, die »Siedlungsdichte aufzulockern«, ließe sich auf »rationellere Weise« regeln, als durch die übliche Herabzonung (ebd.).
spruch, dass zuerst die Hochbauweise (Manhattan) als wirtschaftlich bedingt dargestellt, am Ende jedoch als unwirtschaftlich herausgearbeitet wird, wird in Hoenigs Artikel nicht weiter diskutiert. 11 Gropius studierte Architektur in München und Berlin und arbeitete als Industriedesigner und Architekt. 1919 wurde Gropius zum Direktor der GroßherzoglichSächsischen Hochschule für Bildende Kunst in Weimar ernannt und gab der neuen Schule den Namen »Staatliches Bauhaus in Weimar«. Gropius war bis 1928 Bauhausdirektor (bis 1926 in Weimar, dann in Dessau). 1934 emigrierte Gropius nach England und 1937 in die USA, wo er zum Professor für Architektur an der »Graduate School of Design« in Harvard berufen wurde.
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Gropius kommt nun zu seinem eigentlichen Anliegen – dem Plädoyer für das ›Großhaus‹ und für den Zeilenbau. Der Mensch, so entwickelt Gropius sein Thema, brauche Gegensätze zur Anregung und Entspannung, daher suche der Städter das Land und der Landmensch die Stadt. Der »Kampf um die Wohnform« sei daher im Kern »psychologischen Ursprungs« und damit »panischen Rückschlägen und Psychosen« unterworfen, die auch »den leidenschaftlichen Kampf gegen die Mietskaserne« erklärten.12 Das dem Landleben entlehnte Einfamilienhaus mit Garten sei für die Industriebevölkerung jedoch nicht die ideale Lösung, der Städter – auch wenn er sich nach dem Land sehne – wolle und solle im Grunde dennoch in der Stadt leben. Das ›Großhaus‹ sei zudem wirtschaftlicher als das Einfamilienhaus, da die Kosten für den Grunderwerb und die Verkehrswege deutlich geringer wären. Um die städtische Industriebevölkerung unterzubringen sei es daher notwendig, mehrgeschossige Wohnbauten zu errichten. Auch die Struktur der Stadt verhindere eine einseitige Ausbreitung des Eigenheims, der flächendeckende Bau von Einfamilienhausgebieten produziere »lange Anmarschwege«, »erschwerten Einkauf« und den »Verlust an Freizeit«. Besonders das Ziel »kurze Wege« stellt Gropius als stadtplanerische Aufgabe heraus. Die Aufgabe des Städtebauers sei nicht nur die Verbesserung der Verkehrsmittel, sondern »vor allem ihre Verhinderung«, und dies könne nur mit dem ›Großhaus‹ gelingen. Schließlich wendet Gropius das hegemoniale städtebauliche Argument für die ›weiträumige Bebauung‹: Die jüngste Forschung auf dem Gebiete der Hygiene, so berichtet Gropius, räume mit dem Dogma auf, dass in den Großstädten die schlimmsten Wohnungszustände bestehen würden, die »Anschauung von der gesundheitlichen Schädigung durch das Leben in der Großstadt« sei erschüttert. Die Verbreitung ansteckender Krankheiten stehe keineswegs mit der Wohnungsenge und der geringen Größe der Behausungen in Verbindung, sondern zum einen mit der schlechten Belichtung und Belüftung minderwertiger Wohnungen, zum anderen damit, dass dort die wirtschaftlich schwächsten und damit »schlecht ernährtesten Volkskreise« wohnten (ebd.).13 Gropius führt weiter aus, dass es eine Utopie sei, die »Mehrzahl des Volkes in Eigentum« unterbringen zu wollen. Für die »grosse Masse der freizügigen Arbeiterschaft« eigne sich dagegen die »Mietswohnung im Großhaus«. Das »gut organisierte moderne Großhaus« dürfe nicht als not12 Die Meinungen über die ideale Wohnform entsprächen in ihren Wurzeln der »alten Antithese von Stadt und Land« (ebd.). 13 Es sei fraglich, »ob der Villenbesitzer zwischen dem naturnahen Lärm, Geruch und Staub der Verkehrsstraßen ruhiger und gesunder leben wird als sein bedeutend ärmerer Volksgenosse im 10. Stock einer wohldurchdachten und wohl ausgestatteten Hochhaussiedlung« (ebd.).
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wendiges Übel betrachtet werden, sondern »als ein biologisch bedingtes echtes Wohngebilde unserer Zeit«. Das »mit Verantwortung geplante, mit reichlichen Abständen in breite Grünflächen gestellte Großhaus« könne die Bedingungen nach Licht, Luft und Auslauf erfüllen und außerdem dem Stadtbewohner eine Fülle weiterer Vorteile bieten. Die beiden »wesensverschiedenen Wohnformen« (flach und hoch) seien an sich nicht gut oder schlecht, sondern ihre verschiedenen Eigenschaften bedingten »unterschiedliche Anwendungen«. Die Großstadt brauche Wohnformen, die »ein relatives Maximum an Luft, Sonne und Pflanzenwuchs mit einem Minimum an Verkehrswegen und an Bewirtschaftungsaufwand« vereinen, die Forderung nach dem vielstöckigen Wohnhochhaus gehöre daher »zu den dringendsten Aufgaben des Wohnungsbaues«. Der Flachbau dürfe »nicht das Allheilmittel« des Städtebaus sein, da die logische Folge eines solchen Vorgehens »die Auflösung und Verleugnung der Stadt« wäre. Das Ziel müsse jedoch nicht die »Auflösung der Städte«, sondern deren »Auflockerung« sein (ebd.). Gropius markiert damit eine neue Position in der Städtebaudebatte. Auch wenn Gropius sich weiter kritisch gegenüber der bestehenden Großstadt äußert und sein Beitrag nicht frei von biologistischen Analogien ist, sind doch deutlich markante Neuinterpretationen aus dem Text herauszulesen. Zum einen wird von Gropius die Großstadt als städtebauliches Betätigungsfeld anerkannt und er stellt sich eindeutig gegen die (im gängigen städtebaulichen Diskurs vorherrschende) Sehnsucht nach der Auflösung der Großstadt. Zweitens entwickelt Gropius in Ansätzen eine (für die städtebauliche Debatte) neue Sichtweise auf die ›Zusammenballung‹ in den Städten, nämlich die These, dass nicht nur ein Bedürfnis der Menschen zur Natur, sondern auch ein Streben nach dem Städtischen existiere. Drittens zielt Gropius – und auch das ist neu – auf die Bewertung der dichten Stadt (und der Mietskaserne) als eine Erscheinungsform von gesellschaftlich-ökonomischen Prozessen (im Gegensatz zur sonst üblichen Interpretation als selbstständige Ursache für die sozialen Missstände). Viertens ist das strukturelle Argument von Gropius zu nennen, mit dem er die Verkehrsvermeidung und die ›kompakte Stadt‹ als städtebauliche Aufgabe definiert und damit den Diskurs der 1980er Jahre zur ›Stadt der kurzen Wege‹ antizipiert (vgl. Kapitel 7.3). Fünftens hinterfragt und kritisiert Gropius das (die städtebauliche Debatte so lange bestimmende) Erklärungsmuster, nach dem dichtes Wohnen zwangsläufig die Gesundheit der Bewohner gefährde. Sämtliche Argumente von Gropius beinhalten ein enormes Potenzial für eine rigorose Neubewertung der ›Dichte‹: Zunächst stellt Gropius das im Städtebau gängige gesundheitspflegerische Dichteargument vom Kopf auf die Füße: nicht mehr eine hohe ›Dichte‹ ist in seiner Analyse die Ursache für die gesundheitlichen Verhältnisse, sondern die sozialen Bedingungen. Gleichsam ist ›Dichte‹ aus dieser Perspektive nicht mehr der Grund für die
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Bodenspekulation, sondern andersherum eine Auswirkung derselben. Der (neue) soziologisch-psychologische Aspekt öffnet die Tür zur Annäherung an eine soziologische Stadttheorie, die strukturelle Perspektive wendet den Begriff ›Dichte‹ über den Begriff ›Kompaktheit‹ zu einem tendenziell positiven städtischen Merkmal. Diese Neuinterpretationsmöglichkeiten von ›Dichte‹ bleiben bei Gropius allerdings (noch) auf einer impliziten Ebene. Explizit fokussiert Gropius dagegen auf das städtebaurechtliche Instrumentarium, auf die Festsetzung von ›Dichte‹. Gropius fordert in seinem Vortrag, in den Bauordnungen und Bebauungsplänen die ›bauliche Dichte‹ anstatt der Gebäudehöhe zu begrenzen, also das Mengenverhältnis von Wohnfläche zum Bauland zu regeln und nicht die maximale Geschossigkeit (ebd. 325). Hintergrund dieser Forderung sind von Gropius eigens erstellte Berechnungen über die städtebaulichen Dichteverhältnisse, die zu einem komplett anderen Ergebnis als demjenigen der Flachbaufraktion (vgl. die Ausführungen zu Hoenig, S. 254) führen. Gropius zeigt, dass im Hochbau die Besonnung bei gleicher Grundstücksausnutzung um etliches günstiger ausfalle als bei der Bauweise im Flachbau. Dadurch wird für den Vertreter der Hochbauweise die Dichtefestsetzung (als Verhältniszahl) interessant. Bei gleicher zulässiger ›Dichte‹, so ist der Ansatz von Gropius, lasse sich mit Hochbauten eine viel günstigere Stadtstruktur entwerfen als mit dem Einfamilienhaus, die Ersetzung der Höhenbegrenzung durch eine Dichtebegrenzung könne daher einen größeren architektonischen und städtebaulichen Gestaltungsspielraum generieren. Damit sollen die Flachbautheoretiker mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden – und die Begrenzung der ›Dichte‹ wird auch aus der Perspektive des modernen Städtebaus attraktiv. Ludwig Hilberseimer (1885-1967)14 greift den von Gropius ausgeführten Ansatz auf und beschäftigt sich in seinem Beitrag Raumdurchsonnung und Siedlungsdichtigkeit ausführlich mit dem Thema ›Dichte‹. In dem der drei Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten publizierten Text wird die Ende der 1920er Jahre begonnene Diskussion über die ›optimale baugesetzliche Dichteregelung‹ fortgeführt. Hilberseimer setzt die Besonnung als zentrales Kriterium seiner Analyse ein und untersucht, welche Faktoren dabei zu berücksichtigen seien.15 Auch Hilberseimer kritisiert die 14 Ludwig Hilberseimer studierte von 1906 bis 1910 Architektur in Karlsruhe und arbeitete danach als Architekt, Stadtplaner und Publizist. Von 1928 bis 1932 unterrichtete Hilberseimer die Fächer Wohnungs- und Städtebau am Dessauer Bauhaus. 1938 emigrierte Hilberseimer nach Chicago, wo er am Illinois Institute of Technology (IIT) Stadt- und Regionalplanung lehrte und 1955 Direktor des ›Department of City and Regional Planing‹ wurde. 15 Hilberseimer unterscheidet zwischen ›unabänderlichen‹ und ›planbaren‹ Gegebenheiten und macht auf die Bedeutung des Sonnenwinkels für die Besonnung
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»völlig unzureichende Baugesetzgebung«, die zu »rücksichtsloser Grundstücksausnutzung« geführt habe und plädiert im Ergebnis seiner Überlegungen für einen gesetzlichen Mindestwert bezüglich der Raumdurchsonnung einer Wohnung, die einerseits durch die Festlegung einer bestimmten Höchstsiedlungsdichte, andererseits einer Mindestwohnfläche pro Kopf der Bevölkerung ergänzt werden müsse. Durch Festlegung dieser Mindestforderungen ergebe sich, »was auch die bisherigen Bestimmungen erstrebten, eine allgemeine Höchstausnutzung, nur unter weitergehenden und sinnvolleren Gesichtspunkten«. Von den Bauabsichten und den Bauaufgaben werde es dann abhängen, ob jeweils Flach- oder Hochbau gewählt werde, mit den vorgeschlagenen Mindestforderungen könne gleichzeitig eine »völlige Freiheit in der Art der Anwendung« dieser Forderungen verbunden sein (Hilberseimer 1936, 76). Auch in den internationalen Debatten der städtebaulichen Moderne wurde ›Dichte‹ in der Zwischenzeit zum Thema, in der Charta von Athen spielt das Konstrukt eine wichtige Rolle. Die ›Charta von Athen‹ bezieht sich auf das Abschlussdokument des IV. CIAM-Kongresses, der ursprünglich in Moskau veranstaltet werden sollte, dann jedoch (da in Moskau nicht erwünscht) auf einer Schiffsfahrt von Marseille nach Athen (und wieder zurück) abgehalten wurde (Giedion 1965, 421). Die ›Charta von Athen‹ wurde nach umfangreicher Überarbeitung von Le Corbusier im Jahre 1943 publiziert, die erste vollständige deutsche Übersetzung erschien im Jahre 1962.16 Bekannt geworden ist die Charta vor allem durch das dort propagierte Konzept der funktionell gegliederten Stadt. Der von Le Corbusier schon früher vertretene Ansatz (vgl. S. 253) der Gliederung (in die vier Funktionen ›Wohnen‹, ›Arbeiten‹, ›Erholung‹ und ›Fortbewegung‹) sowie die daraus abgeleitete Kernaufgabe des Städtebaus, diese Funktionen in voneinander getrennten Bereichen der Stadt zu organisieren, steht im Vordergrund der Rezeption der Charta und ihrer Folgen. Im (heutigen) städtebaulichen Diskurs weniger präsent sind dagegen die (dort ebenso hervorgehobenen) »drei gebieterischen Notwendigkeiten« der Funktionstrennung, nämlich die aus der klassischen Städtebaudebatte übernommenen Elemente »Raum, Sonne, (und damit für die ›verträgliche Siedlungsdichte‹) aufmerksam. Er empfiehlt, bei der Diskussion über die ›richtige Dichte‹ den Breitengrad des betrachteten Ortes mit einzubeziehen. Im Ermessen des Planenden liege die Lage einer Wohnung zur Sonne. Dabei sei auf die jeweilige Geländeformation zu achten, Südwohnungen an Südhängen könnten etwa dichter gebaut werden als nach Norden ausgerichtete Wohnungen an Nordhängen. 16 Es ist somit nicht ganz einfach festzustellen, wann sich die Wirkung der Charta auf den städtebaulichen Diskurs zu entfalten begann: 1933, 1943 oder (was die deutsche Debatte betrifft) gar erst 1962.
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Luft« (Le Corbusier 1962 [1943], 122), anhand derer ›Dichte‹ auch in der Charta zum fundamentalen Begriff wird. Ausgangspunkt des IV. CIAM-Kongresses war ein Städtevergleich, in dem Daten aus 33 verschiedenen Großstädten erhoben wurden, und auch hier war ›Dichte‹ eine zentralen Analysekategorie des »gegenwärtigen Zustandes der Städte« (Le Corbusier 1962 [1943], 73). Das Ergebnis der Bestandsaufnahme war eindeutig: Die Großstädte würden »sich durch Ordnungslosigkeit und Chaos« auszeichnen (ebd. 115). Die Bevölkerungsdichte in den Städten (das zu hohe Verhältnis »zwischen Kopfzahl der Bevölkerung und der von ihr bewohnten Fläche«), so wird im Analyseteil der Charta ausgeführt, sei ein grundlegendes Problem. Ab einer gewissen Höhe führe die Bevölkerungsdichte zu »Unbehagen und Krankheit als permanentem Zustand«, eine solch hohe Bevölkerungsdichte bedeute die »Tatsache des Elendsquartiers« (ebd. 73). In der Charta wird damit erst einmal der städtebauliche Grundkonsens zusammengefasst. Zudem wurden die Vertreter der einzelnen Ländersektionen im Vorfeld befragt, ob und wie die Bevölkerungsdichte der Wohnquartiere ihrer Meinung nach fixiert werden solle, wie viel Quadratmeter Bruttowohnfläche als Minimum pro Einwohner erachtet werde und welche weiteren Vorschläge zur Verhinderung von »Überbevölkerung der Wohnquartiere« gemacht werden könnten (nach Steinmann 1979, 140). Der Thematisierung der ›Dichte‹ als Beurteilungskriterium folgt die Einbindung des Begriffs auf der instrumentellen Ebene. Die »Bevölkerungsdichte einer Stadt«, so wird formuliert, solle »von den Behörden diktiert«, eine »vernünftige Bevölkerungsdichte« müsse vorgeschrieben werden (ebd. 84). Die »Fixierung« der »Wohndichte einer Stadt«, so steht es in Le Corbusiers Charta, sei dabei ein »folgenschwerer Akt« der Verwaltung, auf dessen Ausgestaltung besonderes Augenmerk gelegt werden müsse. Man müsse, so die explizite Handlungsanweisung, eine bestimmte Bevölkerungszahl bestimmen und dabei auch festlegen, wie viel Raum dazu nötig sei und welche »›Zeit-Distanz‹ ihr tägliches Los« sein werde. »Sobald die Bevölkerungszahl und die Dimensionen des Terrains fixiert sind, ist die ›Dichte‹ bestimmt« (ebd., Hervorhebungen im Original). Das richtige »Verhältnis von Baumasse zu freiem Raum« sei die Formel, die »einzig und allein das Problem des Wohnens« lösen könne (ebd. 90). Die Bevölkerungsdichte einer Stadt solle dabei groß genug sein, um die »Errichtung der kollektiven Institutionen« lohnend zu machen. Nachdem die Bevölkerungsdichte festgelegt worden ist, sei eine Zahl der voraussichtlichen Bevölkerung zu bestimmen, die es erlaube, die der Stadt vorbehaltene Fläche »auszukalkulieren«. Darüber zu bestimmen, wie der Boden bebaut werden soll, das Verhältnis herzustellen zwischen der bebauten und freigelassenen oder bepflanzten Fläche, das alles mache die »schwerwiegende Operation« aus, die
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in den Händen der Behörde liege: Die »Veröffentlichung einer ›BaulandVerordnung‹«. Nur so könne die Bevölkerungsdichte oder der Prozentsatz bebauter und unbebauter Fläche (je nach Funktion, Ort und Klima) variiert werden (ebd. 92). In den Grenzen der durch solch eine Verordnung aufgestellten Gesetze könne dann der »speziellen Initiative« und der »Erfindungskraft des Künstlers volle Freiheit« gewährt werden (ebd. 88).17 Der Dichtegebrauch in der Charta von Athen ist damit deutlich unterschiedlich zum Ansatz etwa von Gropius oder Hilberseimer. Die klassische Gleichsetzung von (zu) hoher Bevölkerungsdichte mit gesundheitlichem und sozialem Elend steht im Mittelpunkt von Le Corbusiers Analyse, und auch die Ablehnung der Großstadt findet sich in der Charta noch in ihrer Reinform.18 Le Corbusiers Ansatz war es in alter städtebaulicher Manier, die sozialen Verhältnisse durch städtebauliche Maßnahmen ändern und gestalten zu wollen. Diese Denkweise hatte einen »dominierenden Einfluss« auf das »konzeptionelle Denken der Moderne« (Hilpert 1984, 32; Durth/Gutschow 1988, 202). Eine neue Qualität ist dabei der starke Fokus auf die Forderung nach einer Festlegung der Bevölkerungsdichte. Der Städtebau, so lautet die in der Charta explizit formulierte (und sich die Bedeutung dieser Forderung durchaus bewusst machende) Strategie, solle die Einwohnerdichte ›fixieren‹, also die Menschenanzahl der (mit der eigenen Planung geschaffenen) städtebaulichen Struktur anpassen. Dass eine solche Festlegung einen totalitären Ansatz in sich trägt, dass die gesetzliche Bestimmung einer bestimmten Bevölkerungsdichte konträr zum Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen steht, wird von Le Corbusier dabei nicht thematisiert – der hehre städtebauliche Ansatz stand weit jenseits einer solchen Überlegung.
17 In einer englischsprachigen und eher populärwissenschaftlich ausgerichteten Publikation wird das Kriterium ›Dichte‹ ähnlich eingesetzt, jedoch mit einer anderen Klangfarbe ausgestattet: »Superdensity in these areas, reached under such conditions, means lack of space, pure air, sun, light, privacy, and community services« (Sert 1942, 14). Mit dem Merkmal ›zu hohe Dichte‹ werden hier die sozialen Verhältnisse angeprangert (und nicht die Großstädte als Hort des Übels verdammt). 18 Thilo Hilpert, der die Charta in einer kritisch kommentierten Neuauflage im Jahre 1984 erneut im deutschsprachigen Städtebaudiskurs verankerte, vertritt die These, dass Le Corbusier die eigentliche Erklärung des CIAM verunstaltet habe. Ursprünglich habe diese nicht so einheitlich die »Zerstörung der städtischen Umwelt« zum Ziel gehabt, vielmehr sei es in der städtebaulichen Moderne bereits Konsens gewesen, dass der Ausgangspunkt einer Architektur der Stadt nur die Realität der Großstadt sein könne (Hilpert 1984, 12).
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6.3 A UFGELOCKERTE S TADT Mit dem Ende der Weimarer Republik verschob sich im städtebaulichen Diskurs der Einfluss zugunsten der völkisch-nationalen Kräfte. Die städtebauliche Moderne verlor (insbesondere auf personeller und institutioneller Ebene) schnell an Gewicht, das Bauhaus wurde aufgelöst, viele wichtige Vertreter des ›neuen Bauens‹ emigrierten ins Ausland, die sich bei Gropius andeutende Entwicklung eines neuen Stadtverständnisses wurde abrupt unterbrochen. Die antiurbanen Emotionen bekamen dagegen neuen Aufwind und bereiteten umgekehrt jenen romantischen Gegenbildern den Boden, mit denen die Nationalsozialisten ihre großen propagandistischen Erfolge erzielen konnten (Durth/Gutschow 1988, 164). Die Nationalsozialisten nahmen die heterogenen ›Argumente‹ aller großstadtfeindlichen Ideologen von Riehl bis Spengler auf und bezogen sie in ihren völkisch-rassistischen Kontext einer Blut- und Boden-Ideologie ein (Schubert 2004, 90). Die Begründungen in der städtebaulichen Debatte wurden schärfer, die Inhalte veränderten sich jedoch nicht grundsätzlich (Häußermann et al. 2008, 67).1 Was sich 1933 jedoch erheblich veränderte, waren die Möglichkeiten einer planerischen Steuerung und damit auch die Ausgangsbedingungen für das Bau- und Planungsrecht. Daher wird an dieser Stelle zunächst die weitere Entwicklung der städtebaulichen Regelungspraxis im NS-Staat dargestellt, bevor auch der städtebauliche Grundlagendiskurs und die Rolle, die dem Konstrukt ›Dichte‹ dort zugeschrieben wird, betrachtet werden. Auch im Städtebau ist dabei von inhaltlichen und personellen Kontinuitäten nach 1945 zu berichten, zu denen der Dichtegebrauch und das Dichteverständnis einen erheblichen Teil beigetragen haben. In Preußen war im Jahre 1918 (noch während des Ersten Weltkrieges) mit dem Wohnungsgesetz (dem Änderungsgesetz zum Preußischen Fluchtliniengesetz von 1875) eine Städtebaureform durchgeführt worden, durch die die Rechtsgrundlage für die Zonenbauordnungen (vgl. Kapitel 6.1) gestärkt und die »Abstufung der baulichen Ausnutzbarkeit der Grundstücke« (Artikel 4, § 1) als Regelungsinhalt der Bauordnungen festgeschrieben wurde. Hinzu kamen Vorschriften über die »Benutzung der Gebäude«, mit denen die Kommunen zum Erlaß von ›Wohnungsordnungen‹ ermächtigt wurden, Vorschriften über die gesundheitlichen Anforderungen an Wohn- und Schlafräume zu erlassen. Mit der Einheitsbauordnung für die Städte, die als Musterentwurf den Bauordnungen zugrunde gelegt werden sollte, folgte im Jahre 1919 der Versuch einer Vereinheitlichung des Bauordnungsrechts. In
1
Zur diskursiven und institutionellen Einbindung der räumlichen Planung im NSStaat vgl. auch Kapitel 5.1 und 5.2.
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der Bauordnung der Stadt Berlin von 1925 findet sich die Konstruktion der ›Ausnutzungsziffer‹ (vgl. S. 287), mit der erstmals eine Verhältnisziffer für die Festlegung der ›baulichen Dichte‹ eingeführt wird. Im NS-Staat wurden die bau- und planungsrechtlichen Rahmenbedingungen umfassend weiterentwickelt, die neuen Machtverhältnisse waren für eine grundlegend neue und (aus Sicht vieler Städtebauer) endlich effektive Gestaltung des Bau- und Bodenrechts durchaus günstig. Durch das Ermächtigungsgesetz (Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich) von 1933 bekam die nationalsozialistische Diktatur ihre Basis, mit der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 wurde die kommunale Selbstverwaltung faktisch abgeschafft. Auch die Bedeutung der Landesgesetzgebung und das Satzungsrecht autonomer Körperschaften gingen deutlich zugunsten der Reichsgesetzgebung zurück. Seit 1934 wurde im Reichsarbeitsministerium an einem Entwurf für ein ›Reichsbaugesetz‹ gearbeitet, infolge der Kriegsereignisse wurden diese Kodifizierungsbestrebungen im Jahr 1942 jedoch eingestellt. Dennoch ließ die Normsetzungstätigkeit auf Reichsebene in der NS-Zeit keineswegs nach, sondern war in quantitativer Beziehung deutlich umfangreicher als im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Mertens 2009, 3). Bereits 1933 wurde auf der Reichsebene das Gesetz über die Aufschließung von Wohnsiedlungsgebieten (Wohnsiedlungsgesetz) verabschiedet. Die oberste Landesbehörde wurde mit diesem Gesetz ermächtigt, »Gebiete, in denen eine starke Wohnsiedlungstätigkeit besteht oder zu erwarten ist, zu Wohnsiedlungsgebieten [zu] erklären« (§ 1 Abs. 1 Wohnsiedlungsgesetz). In solchen Gebieten war ein sogenannter ›Wirtschaftsplan‹ aufzustellen, in dem Baugebiete und Verkehrswege festgelegt wurden und der zur Grundlage der Siedlungspolitik wurde. In den festgesetzten Wohnsiedlungsgebieten war für sämtliche Grundstücksgeschäfte fortan eine ›Wohnsiedlungsgenehmigung‹ erforderlich, die nur erteilt wurde, wenn das jeweilige Vorhaben den Zielen des ›Wirtschaftsplans‹ nicht widersprach. Damit wurde dem Staat eine frühzeitige und weitgehende Kontrolle der Grundstücksgeschäfte sowie die Lenkung der Bodennutzung an die Hand gegeben und – wie es in einer zeitgenössischen Rezeption formuliert wird – ein »Bruch mit den bisher dieses Rechtsgebiet beherrschenden liberalistischen Grundsätzen« (Heilmann 1938, 1207) vollzogen. Nach »nationalsozialistischer Auffassung« sollte das Privateigentum an Grund und Boden nicht mehr das »Recht zu einer beliebigen Bebauung« einschließen (ebd.). Das Wohnsiedlungsgesetz solle, so heißt es in einem Runderlass des Reichsarbeitsministers, die städtische Siedlung in »geordneten Bahnen« halten und ein »wirtschaftlich nicht vertretbares Eindringen der städtischen Siedlung« in Landwirtschaft und Bauerntum verhindern (in: Werner-Meier/Enskat 1937, 52). Im Jahre 1934 folgte mit dem Gesetz über einstweilige Maßnahmen zur Ordnung des deutschen Siedlungswesens (Siedlungsordnungsgesetz) die
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Grundlage für weitere Verordnungen mit städtebaurechtlichem Regelungsinhalt. Als ›deutsches Siedlungswesen‹ wird in den Erläuterungen des Gesetzgebers »die Unterbringung deutscher Menschen in menschenwürdigen Wohnungen, möglichst unter gleichzeitiger Seßhaftmachung auf eigener Scholle, die Verbindung von Blut und Boden« definiert (in: WernerMeier/Enskat 1937, 70). In einem Erlass2 aus dem gleichen Jahr werden die städtebaulichen Zielsetzungen konkretisiert. Die »Vermehrung der Wohndichte«, so heißt es hier, sei ebenso wenig mit den städtebaulichen und bevölkerungspolitischen Forderungen wie mit den Interessen des zivilen Luftschutzes zu vereinbaren. Die »Forderungen des Städtebaues und des Luftschutzes« verlangten die »Auflockerung der Städte« und die »Verhinderung eines weiteren Anwachsens der Bevölkerungsdichte über das nach den heutigen Anschauungen vertretbare Maß hinaus«. Die Baupolizeibehörden werden daher angewiesen, »tunlichst Zurückhaltung« hinsichtlich der »Ausnutzbarkeit der Grundstücke« zu üben und solchen Gesuchen nicht stattzugeben, die »mit den Forderungen einer gesunden städtebaulichen Entwicklung und mit den Interessen des Luftschutzes nicht in Einklang stehen« (in: Werner-Meier/Enskat 1937). Mit der Bauregelungsverordnung von 1936 wurde die staatliche Lenkungskompetenz über die Wohnsiedlungsgebiete des Wohnsiedlungsgesetzes hinaus auf sämtliche Bereiche ausgedehnt. Durch Baupolizeiverordnung konnten nun überall Kleinsiedlungsgebiete, Wohngebiete, Geschäftsgebiete und Gewerbegebiete als Baugebiete ausgewiesen (§ 1 Abs. 1 Bauregelungsverordnung) und die Mindestgröße von Grundstücken vorgeschrieben werden (§ 2 Abs. 2). Zudem wurde hier explizit festgelegt, dass für Gemeinden oder Teile von ihnen vorgeschrieben werden kann, dass Gebäude mit mehr als einem Vollgeschoss und ausgebautem Dachgeschoss nicht errichtet werden dürfen (§ 2 Abs. 1). In einem die Ziele dieser Verordnung ausführenden Erlass wird begründet, dass die Förderung der Kleinsiedlung zu den vordringlichen Aufgaben des nationalsozialistischen Staates gehöre und daher die Schaffung von Gebieten mit eingeschossiger Bauweise heute vielfach notwendig sei. Zudem wird durch den Erlass bestimmt, dass in Wohngebieten die ein- und zweigeschossige Bauweise zu bevorzugen sowie dreigeschossige Bebauung »auf den notwenigen Umfang einzuschränken« sei, viergeschossige Bebauung solle künftig nur im Ausnahmefall, mehr als viergeschossige Bebauung gar nicht mehr zulässig sein.3 Weitere Bestimmungen »zur Frage der Ausnutzbarkeit der Grundstücke« wur2
Erlaß des Reichwirtschaftsministers, betr. Erteilung von Ausnahmen oder Befreiungen (Dispensen) von den Bauordnungsvorschriften.
3
In ›Geschäftsgebieten‹ wird als Obergrenze eine fünfgeschossige Bauweise festgelegt.
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den angekündigt und die nachgeschalteten Behörden (mit Fristsetzung zum 1. Juni 1936) angewiesen, alle baurechtlichen Vorschriften, welche die Ausweisung von Baugebieten und die Abstufung der Bebauung regeln (insbesondere die örtlichen Baustufen-, Bauzonen-, Bauklassen-, Bauplanverordnungen) »beschleunigt« nachzuprüfen, ob sie mit den Ausführungen des Erlasses und damit mit den »heutigen siedlungspolitischen und wohnungspolitischen Forderungen« im Einklang stehen und sie gegebenenfalls entsprechend zu ändern (in: Werner-Meier/Enskat 1937, 88). Mit dem Gesetz zur Neugestaltung deutscher Städte von 1937 wurden schließlich für bestimmte (durch Führererlass zu bestimmende) Planungen die Eingriffsmöglichkeiten maximiert. Das Gesetz galt für städtebauliche Maßnahmen, deren Durchführung der Führer anordnete (§ 1 Abs. 1 Gesetz zur Neugestaltung deutscher Städte), Anwendungsbereich und Dauer der Anwendung waren durch den Führer zu bestimmen (§ 1 Abs. 2). Soweit es zur Durchführung der städtebaulichen Maßnahmen erforderlich war, konnten auf Grundlage dieses Gesetzes das Grundeigentum entzogen oder beschränkt werden (§ 2 Abs. 1). Damit wurde eine eigene Rechtsgrundlage für die monumentalen Umbauplanungen der nationalsozialistischen Repräsentation geschaffen und ein eigentumsrechtlicher Freifahrtschein für die städtebaulichen Ambitionen von Hitler und Speer erstellt.4 Für die instrumentelle Dichteverwendung wurden in der NS-Zeit damit neue Grundlagen geschaffen. Legitimiert wurden diese Regularien mit Argumenten aus der Bevölkerungspolitik, der Gesundheitspflege und des Luftschutzes. Ziel des nationalsozialistischen Städtebaus war es, eine »dezentralisierte Bau- und Siedlungsweise« durch die »Verwurzelung der Menschen an den Boden« zu fördern (Göderitz 1938a, 1023). Dafür wurden weitreichende Eingriffe in das liberale Prinzip der Baufreiheit unternommen, der kommunale Städtebau geschwächt und die Stellung des Reiches massiv ausgebaut. Die Verschiebung in den politischen Kräfteverhältnissen zugunsten des nationalsozialistischen Machtapparates war für den Ansatz vieler Städtebauer attraktiv, da damit die Durchsetzbarkeit der propagierten städtebaulichen Visionen in den Bereich des Vorstellbaren rückte. Abgeschafft wurde jedoch der dem Städtebau bisher immanente kommunale Selbstver4
Neben diesen bauordnungsrechtlichen und städtebaurechtlichen Reglementierungen wurden im NS-Staat auf Wohnungsbauförderungsebene weitere gesetzliche Regelungen geschaffen, die die Umsetzung des propagierten städtebaulichen Ideals zum Ziel hatten. So wurden mit dem Zweiten Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit von 1933 die Steuerbefreiung für neu errichtete Kleinwohnungen und Eigenheime beschlossen sowie mit dem Gesetz zur Förderung des Wohnungsbaus von 1935 direkte staatliche Finanzvolumen für die Förderung der Kleinsiedlung und des Kleinwohnungsbaus generiert.
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waltungsansatz. Die erstmalige Festlegung der maximalen Geschossanzahl auf Reichsebene durch das Bauregelungsgesetz (beziehungsweise im dazugehörigen Erlass über die Abstufung der Bebauung), mit der eine in der Städtebaudebatte lange erhobene Forderung erfüllt wurde, war eingebunden in eine Auflösung der bisherigen Hierarchie zwischen formellem Gesetzesrecht und davon abhängigem Verordnungsrecht (Mertens 2009, 88). Die Verordnung von Obergrenzen für die Geschossigkeit von Gebäuden im komplexen Baurecht des NS-Staates ist dabei kein durchkomponiertes städtebauliches Regularium, sondern ein eher zufälliges Fragment, das freilich in die allgemeine städtebauliche Zielsetzung eingebunden war. Eine weitere Ausgestaltung von Regelungen über die bauliche Ausnutzung der Grundstücke wurde angekündigt, dann jedoch erst einmal nicht weiter verfolgt. Die Zielstellungen der Baugesetzgebung lassen sich auch anhand des städtebaulichen Grundlagendiskurses nachzeichnen, der – teils parallel zu der Entwicklung der städtebaulichen Rechtsregularien, teils diesen nachgeschaltet – zunehmend an den politischen Vorgaben des NS-Staates ausgerichtet wurde. Das Lehrbuch Die neue Stadt von Gottfried Feder (18831941),5 das in der deutschsprachigen städtebaulichen Debatte bis weit in die 1950er Jahre »den Rang eines Standardwerkes« inne haben sollte (Durth/ Gutschow 1988, 175), basiert auf der im städtebaulichen Diskurs gebräuchlichen großstadtfeindlichen Analyse. Der heutige Zustand werde von Feder gekennzeichnet durch die »ungeheure Zusammenballung unserer Bevölkerung«, die »so entartete Großstadt« sei der »Tod der Nation!« (Feder 1939, 14). Auch Feders Antwort ist ein kleinstädtisches Gegenkonzept, die Einwohnerzahl seiner »neue Stadt« wird auf rund 20.000 Einwohner beziffert (ebd.).6 Die Städte der Zukunft sollten nach Feders Vorstellung ›organisch‹ aus der »sozialen Struktur der Bevölkerung« herauswachsen, der ›Stadtorganismus‹ werde sich zusammensetzen aus einer Reihe von »Zellen, die sich dann zu Zellverbänden innerhalb verschiedener Unterkerne um den Stadtmittelpunkt herum gruppieren« (ebd. 19). Die »neue Stadt« solle fortan dem Leben und der Arbeit der Bevölkerung in ganz anderer Weise dienen, als es die »chaotisch gewachsenen Häuseransammlungen unserer modernen Großstädte« bisher getan hätten (Feder 1939, 1). 5
Feder war von seiner Ausbildung her Ingenieur und seit 1920 Mitglied der NSDAP. 1933 wurde Feder Staatsekretär im Reichwirtschaftsministerium, ein Jahr darauf Reichskommissar für das Siedlungswesen Raumordnung und Städtebau, 1936 auch Professor an der TH Berlin. Ab 1937 fungierte Feder als Leiter der Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung an der TH Berlin (Durth/ Gutschow 1988, 175).
6
Natürlich darf auch die Angabe der Bevölkerungsdichte der »neuen Stadt« nicht fehlen: der Idealwert betrage 127 EW/ha (ebd. 127).
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Feders ›neue Stadt‹ ist orientiert am Leitbild einer »romantisierendmittelalterlichen Lebensform« (Münk 1993, 178). In seiner »gleichermaßen antikapitalistischen wie antisemitischen Diktion« (Durth/Gutschow 1988, 175) wird – unter Betonung dessen völkisch-nationaler Bestandteile (etwa dem Bezug zur bevölkerungspolitischen Jungbrunnenideologie) 7 – der Gartenstadt- und Heimatstildiskurs rekapituliert, in dessen Tradition sich der Autor auch selbst verortet. Aus der Debatte der städtebaulichen Moderne importiert Feder dagegen den umfassenden Ordnungsgedanken und die Konzeption seiner »neuen Stadt« als Normstadt: Schwerpunkt von Feders umfangreicher Schrift sind Tabellen mit Orientierungs- und Richtwerten für alle Lebensbereiche seiner Idealstadt. Die Bedingungen für sein Projekt, so resümiert Feder, seien dabei vielversprechend: »Welche Zeit aber sollte günstiger sein, als die Zeitenwende, die der Nationalsozialismus heraufgeführt hat, und welcher Acker könnte wohl fruchtbarer und zukunftsträchtiger sein als der heilige Boden des Dritten Reiches aller Deutschen – Großdeutschlands –, das unser Führer Adolf Hitler aus jahrtausendaltem Traume zur kraftbewußten stolzen Wirklichkeit erweckt hat?« (Feder 1939, 479). Ein – gegenüber der Städtebaudebatte in der Weimarer Republik – neues Element im Diskurs ist bei Feder zum einen das Thema Luftschutz. Die »in ihrem zukünftigen Ausmaße und Tempo gar nicht abzusehende gewaltige Entwicklung der Luftwaffe«, so schreibt Feder, stelle völlig neue Anforderungen an die »Dezentralisierung der lebenswichtigen Industrien und die Auflockerung der Menschenmassierungen« (ebd.). Zum anderen (und das ist die zweite Neuerung) stellt Feder seine neue Stadt ganz in den Dienst der Partei. Die Städte der Zukunft müssten in »Plan und Aufbau«, in ihrer »harmonischen Eingliederung in Landschaft und Umgebung« und in ihrem »Verhältnis zu Kreis, Gau und Reich« ein »lebendiger Ausdruck eines neuen Zeitgeistes und des Lebens- und Arbeitswillens des neuen von Adolf Hitler geschaffenen Großdeutschland« sein (ebd. 2). Organisation und Aufbau der NSDAP wurden für Feder somit das Vorbild einer Stadtplanung, die mit gleichen Formen der Siedlungs- wie mit der Parteihierarchie die Kontrolle im Alltag sichern wollte (Zlonicky 1997, 241). Die »Gestaltung der Siedlungsmasse durch den Städtebau« und die »Gestaltung der Masse des Volkes durch die Partei« werden von nun an (und nicht nur von Feder) als »gleichlaufende und verwandte Aufgaben« bezeichnet (Culemann 1941).
7
Feder verweist unter anderem mit Bezug auf Burgdörfer (vgl. S. 152) auf die angeblich um ein Vielfaches höhere Geburtenzahl auf dem Lande. Erst die »gesunden und organisch lebendigen Siedlungen« der neuen Stadt böten die »Voraussetzungen für einen gesunden und ausreichenden Nachwuchs unseres Volkes« (ebd. 20).
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Ende der 1930er Jahre schreibt der Stadtplaner Johannes Göderitz (1888-1978)8 zwei Grundsatzbeiträge zu den Themen ›Städtebau‹ und ›Altstadtsanierung‹. Erst nach dem politischen Umbruch des Jahres 1933 sei hier »Klarheit geschaffen worden«, so formuliert Göderitz: der neuzeitliche Städtebau umfasse »die Ordnung des völkischen Lebensraums« (Göderitz 1938a, 1015). Mit dem Städtebau setze der Staat die Ziele für die »Ordnung des deutschen Lebensraumes« und regele das Bauen »auf deutschen Boden nach den Lebensnotwendigkeiten des Volkes« (ebd. 1021f.). Göderitz fordert den »Umbau« und die »Auflockerung« der überalterten, ungesunden und »sonstwie den neuzeitlichen Anforderungen nicht mehr entsprechenden« Stadtviertel. In den Städten zeigten sich so viele Missstände, dass sich »deren Beseitigung zu einer technischen, sozialen und finanziellen Sonderausgabe« herausgebildet habe (Göderitz 1938b, 15f.). Der Städtebau, so prognostiziert Göderitz, werde »zu einem großen Teil Städteumbau«.9 Die der Begründung dieser ›Gesundungsplanung‹ zugrunde liegende Analyse bewegt sich in den bekannten Bahnen des Städtebaudiskurses. Der »Stadtkörper« sei »krank« und müsse daher »gesundet« werden. In den Großstädten hätten sich, so schreibt Göderitz, »sozial und politisch unerträgliche Zustände« gebildet, die Städte böten Unterschlupf für »asoziale Elemente, Prostitution und Verbrecherwelt«. Ganze Stadtteile würden »in ihrer Anlage und vor allem in ihren Wohnverhältnissen den neuzeitlichen Leistungsansprüchen« nicht mehr genügen. Besonders betroffen seien die Altstadtvier8
Göderitz (1888-1978) studierte Architektur in Berlin und war seit 1927 Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau, Reichs- und Landesplanung. Ab 1921 war Göderitz in der Magdeburger Bauverwaltung tätig, 1927 wurde er dort zum Stadtbaurat gewählt. 1933 wurde Göderitz von den Nationalsozialisten all seiner Ämter enthoben. 1936 bis1945 war Göderitz Geschäftsführer der Deutschen Akademie für Städtebau, Reichs- und Landesplanung und Mitglied des AK ›Zentrale Orte‹ der ›Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung‹ (vgl. S. 173). Ab 1943 war Göderitz Referent im Reichsministerium von Albert Speer. 1945 bis 1953 hatte Göderitz das Amt des Stadtbaurates in Braunschweig inne, von 1945 bis 1959 war er als Honorarprofessor für Landesplanung, Städtebau und Wohnungswesen an der TH Braunschweig tätig. Im Jahre 1953 wurde Göderitz von der Technischen Universität Berlin der Dr.-Ing. E.h. verliehen. 1960 bis 1962 war Göderitz Direktor des Institutes für Städtebau und Wohnungswesen in München. (Gisbertz 2000, Hillebrecht 1968)
9
Die DASRL hatte bereits im Jahre 1935 Vorschläge über die reichsrechtliche Regelung von »städtebaulicher Gesundungsmaßnahmen« unterbreitet. Zu diesen Wurzeln der Sanierungsplanung und Stadterneuerung in der Bundesrepublik vgl. auch das DASRL-Gutachten zu den »wirtschaftlichen und rechtlichen Grundlagen der organischen Stadtgesundung und Stadterneuerung« (Ritterbusch 1943).
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tel, aber auch die »in neuerer Zeit, vor allem seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts aufgrund schlechter Bauordnungen dicht und vielgeschossig bebauten Stadtteile« seien nach heutiger Anschauung »ungesund« (ebd.). Göderitz argumentiert auch mit der Angabe von Dichtewerten. Die ›Wohndichte‹ in »reinen Berliner Mietskasernenvierteln«, so berichtet Göderitz, betrage bis zu 1.200 Bewohner je Hektar, bei einer ›gesunden Auflockerung‹ sei jedoch eine ›Dichte‹ von etwa 250 Bewohnern anzustreben. Die Ziele der Sanierungsplanung seien die »Hebung der Volksgesundheit«, die »Steigerung der Geburtenzahl«, die »wirtschaftliche Entfaltung durch gutes Verkehrswesen« sowie die »Landesverteidigung« (insbesondere der Luftschutz). In jedem Fall müsse bei der Sanierung eine »bauliche Auflockerung« und die »Verminderung der Wohndichte« erreicht werden; »glücklicherweise« entsprächen sich hierbei die »Anforderungen der Volksgesundheit« den sich »meist mächtiger bemerkbar machenden des Verkehrs und des Luftschutzes«, so dass sie sich gegenseitig stützen könnten (ebd.). Als Maßstab zur Feststellung des Grads der Sanierungsbedürftigkeit der Wohngebiete könne zur Gewinnung eines Überblicks »die Bevölkerungsdichte und der Umfang der baulichen Ausnutzung« dienen (ebd. 17). Die »erforderliche Auflockerung« werde eine Herabzonung (etwa auf dreigeschossigen Reihenhausbau) notwendig machen und damit eine »Senkung der Wohndichte« herbeiführen. In vielen Fällen sei der Abriss ganzer Blöcke oder gar die »Niederlegung von Stadtteilen« erforderlich (ebd.). Die Positionen von Feder und Göderitz stehen exemplarisch für den städtebaulichen Diskurs im Nationalsozialismus. Großstadtfeindschaft, Agrarromantik und biologistische Ansätze sind in dieser Zeit weiterhin die Eckpunkte der Debatte, der völkisch-nationale Tenor der Heimatschutz- und Innere-Kolonisations-Bewegungen ließ sich ausgezeichnet mit der nationalsozialistischen Propaganda verbinden, die Vertreter der fortschrittlicheren Position waren aus dem Diskurs ausgeschieden (worden). Mit der ›Auflockerung‹ der Städte und der idealisierten Propagierung des Eigenheims rezipieren Feder und Göderitz die beiden Hauptthemen des nationalsozialistischen Städtebaus. Diese Ziele sind dabei zwei Seiten derselben Medaille: Die Bekämpfung der weiteren »Zusammenballung großer Bevölkerungsmassen« (Kruschwitz 1938, 325) in den Großstädten (samt ihrer »bekannten nachteiligen sozialen und wirtschaftlichen Folgeerscheinungen«) entspricht der Förderung von Scholle und Eigenheim (samt ihrer als positiv für den ›Volkskörper‹ gesetzten Auswirkungen). Die städtebauliche Debatte im Nationalsozialismus ist dabei allerdings keineswegs widerspruchsfrei. Die »reaktionäre Idylle der Blut- und Bodenromantiker« hatte wenig mit der Realität hochindustrialisierter Rüstungsproduktion gemein (Schubert 2004, 91). Zudem ist zwar die Rückkehr zum Lande propagiert worden, gleichzei-
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tig wurden jedoch monumentale Umgestaltungen geplant, mit denen der Führerkult in Szene gesetzt werden sollte (vgl. auch Häußermann et al. 2008, 66f.). Mit Kriegsbeginn änderten sich die Rahmenbedingungen des Diskurses erneut. Durch die militärische Eroberung vor allem der osteuropäischen Gebiete entstanden auch für den Städtebau ganz neue Möglichkeiten für eine Planung im neuen ›Lebensraum‹ (Durth/Gutschow 1988, 189). In den eroberten Ostgebieten erlebte das Gartenstadtkonzept »den Höhepunkt der Pervertierung und seine völkische Realisierung« durch die Nationalsozialisten (Schubert 2004, 91). Die im Osten gewonnene Machtfülle bildete den geeigneten Motor, die überlieferten Fesseln zu sprengen und die städtebauliche Utopie neu zu umreißen (Gutschow 1993, 256). Tenor der – weiterhin bevölkerungspolitisch gestützten – städtebaulichen Analysen wurde es zunehmend, dass die »bekannten nachteiligen sozialen und wirtschaftlichen Folgeerscheinungen« der »Zusammenballung großer Bevölkerungsmassen in den Städten, besonders in den Großstädten« nicht verhindert werden könnten, wenn es nicht zu »einer planmäßigen und zielbewußten Lenkung der Binnenwanderungsbewegung« komme (Kruschwitz 1938, 325). Eine solche Lenkung der Binnenwanderung schien mit den neuen Gebieten im Osten nun möglich. Dadurch änderte sich die Maßstabsebene der städtebaulichen und stadtplanerischen Perspektive. Inhaltlich wie personell folgte eine Annäherung an die deutsche Raumplanung in den besetzten Gebieten (dazu ausführlich Kapitel 5.2).10 Auch für die Verwendung des Konstrukts ›Dichte‹ gab es in Folge der Einbindung des Städtebaus in die Ostplanung einen neuerlichen Qualitätssprung. In den von Josef Umlauf (vgl. S. 189) erstellten und von Himmler unterzeichneten Richtlinien für die Planung und Gestaltung deutscher Städte in den eingegliederten Ostgebieten von 1942 ist die Bevölkerungsdichte nicht nur zum wichtigsten und zentralen Faktor bei der Analyse der bestehenden Situation geworden, nun werden darüber hinaus – ganz in raumplanerischer Manier – exakte Angaben der anzustrebenden Bevölkerungsdichte als Ziele des raumplanerischen Städtebaus ausgegeben (Umlauf 1942). In »Abwägung der Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft und der gegebenen Voraussetzungen für eine gewerbliche und industrielle Entwicklung«, so wird in den Richtlinien formuliert, sei als »Planungsziel für die Ostgebiete eine Dichte der Gesamtbevölkerung von 85 bis 90 Einwohnern je Quadratkilometer« anzustreben. Der auf die Bevölkerungsdichte gestützten Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse wird damit eine Zielvorgabe in Form 10 Auch die ›Deutsche Akademie für Städtebau, Reichs- und Landesplanung‹ arbeitete seit 1943 an ›Planungsgrundlagen in den besetzten Ostgebieten‹ und an der ›Wissenschaftlichen Erforschung des Ostraums‹ (Knoch 1999, 36).
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von Bevölkerungsdichte als planerisches Pendant gegenübergestellt. Die Protagonisten des Städtebaus (wie Josef Umlauf und Johannes Göderitz) bewegten sich im NS-Staat auf Augenhöhe mit den raumplanerischen Kollegen wie Konrad Meyer und Gerhard Isenberg.11 Neben den neuen Möglichkeiten, die den deutschen Städtebauern und Stadtplanern durch den Feldzug nach Osten eröffnet wurden, veränderten sich im Kriegsverlauf die Voraussetzungen der Disziplin auch im Altreich. Seit 1942 führten die Luftangriffe der Alliierten in den deutschen Großstädten zu schweren Schäden auch der Gebäudesubstanz, wodurch mit der Wiederaufbauplanung ein neues und dringliches Aufgabenfeld für den Städtebau entstand. Die planerische Vorbereitung des Wiederaufbaus begann direkt nach den ersten Luftangriffen auf die deutschen Städte Anfang der 1940er Jahre. Mit den Luftangriffen entstand für die Städtebauer – plötzlich und unverhofft – eine neue Ausgangslage, auch was die Durchsetzung eines lange gehegten Wunsches betraf: Durch die Bombenschäden eröffnete sich die Möglichkeit, die verhasste Mietskasernenstadt endlich hinter sich zu lassen, die stets geforderte ›Auflockerung der Wohnbebauung‹ wurde vielerorts zur Realität. Was die konkrete Durchführung des Städtebaus betraf, kamen die Maßnahmen in den 1940er Jahren jedoch größtenteils zum Erliegen. Sämtliche Planungen und Maßnahmen, die als ›nicht kriegsnotwendig‹ eingestuft wurden, durften nicht mehr durchgeführt werden, der Wohnungsbau war mit Fortschreiten des Krieges fast komplett eingestellt worden. Im Jahre 1942 wurde auf der planungsrechtlichen Ebene die Bauleitplanung mit dem Dritten Erlaß über den Deutschen Wohnungsbau noch einmal stärker zentralisiert, indem ein »Reichskommissar für den sozialen Wohnungsbau« eingesetzt wurde, der für die »Ausstellung der Bebauungspläne für die nach der städtebaulichen Planung ausgewiesenen Wohnbaugebiete« zuständig war. Da es aber praktisch keine Planung für weitere Wohnbebauung gab, blieb dieser Schritt ohne erkennbare Auswirkungen. In den Mittelpunkt rückte die sogenannte ›Wohnraumlenkung‹, für die in den letzten Kriegsjahren noch ein umfangreiches Regelwerk erschaffen wurde, mit dem vor allem die Aufteilung des mit den Vertreibungen und Deportationen hergestellten Bestandes an leerstehenden Mietwohnungen und Wohneigentum organisiert und strukturiert wurde (vgl. Werner-Meier 1943). In den Richtlinien für den baulichen Luftschutz von 1944 – der letzten städtebaulichen Verordnung im NSStaat – wird noch einmal eine Obergrenze für die ›Baudichte‹ festgelegt.12 Das Kriegsende bewirkte im städtebaulichen Diskurs inhaltlich und personell keinen größeren Bruch. Albert Speer wurde im Nürnberger Pro11 Vgl. auch hierzu ausführlich Kapitel 5.1. 12 Je Hektar Netto-Bauland durften nicht mehr als 60 Wohnungen errichtet werden (nach Durth/Gutschow 1988, 183).
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zess gegen die Hauptkriegsverbrecher (vgl. auch S. 196) zu 20 Jahren Haft verurteilt, die meisten anderen prominenten Vertreter der Disziplin konnten nach gewissen Startschwierigkeiten ihre Karriere jedoch nahtlos fortsetzen (Münk 1993, 399). Ebenso wie die Raumplanung wurde auch der Städtebau als eine Aufgabe von höchster Dringlichkeit für den ›Wiederaufbau‹ angesehen, für die alle greifbaren Spezialisten unbedingt benötigt wurden. In Relation dazu wurde die Aufbereitung der eigenen Rolle im NS-Staat zu einer höchstens sekundären Aufgabe betrachtet. Zudem einigte man sich im disziplinären Nachkriegsdiskurs bald darauf, den Städtebau während des Nationalsozialismus auf die Themen ›monumentale Architektur‹ und ›axiale Stadtanlagen‹ zu reduzieren, von denen man sich problemlos distanzieren konnte. Durth und Gutschow sprechen von einer »gestalterischen Entnazifizierung«, die sich weitgehend darauf beschränkte, auf die Repräsentationsformen der nationalsozialistischen Stadtarchitektur zu verzichten (Durth/ Gutschow 1988, 217). Gleichwohl wurden im städtebaulichen Theoriediskurs »alle der Biologie entnommenen und auf natürliche Wachstumsprozesse bezogenen Kategorien« sowie die »›volksbiologische‹ Argumentation« beibehalten (ebd.). In lediglich leicht veränderter Sprache, die auf ausgediente und als besonders anrüchig empfundene Schlagworte der NaziPropaganda verzichtete, wurden nach 1945 fast sämtliche Planungsgedanken und -konzepte der vorhergehenden Jahre in den Planungen zum Wiederaufbau der zerstörten Städte weiter verwendet (ebd. 194). Noch im Jahre 1944 hatte Speers Behörde die ›Deutsche Akademie für Städtebau, Reichs- und Landesplanung‹ mit umfassenden Forschungsaufträgen über das »künftige Boden-, Planungs- und Baurecht«, die »Folgerungen für die Neuplanung der durch Feindeinwirkung zerstörten deutschen Städte« sowie »die Raumordnung in der Neuplanung der zerstörten deutschen Städte« beauftragt (Knoch 1999, 36). Auf Grundlage dieser Überlegungen formuliert Johannes Göderitz im Januar 1945 – also noch während des Kriegsgeschehens – den Entwurf für ein Thesenpapier, das die Begriffe ›Gliederung‹ und ›Auflockerung‹ als die zentralen Aufgaben des Städtebaus erklärt (DASRL 1945). Die ›Gliederung‹ der Stadt entwickelt Göderitz ganz im Kontext der nationalsozialistischen Städtebaudebatte: »Große Massen von Menschen« sollten organisiert werden, indem man sie in »kleinere, übersehbare, einander über und untergeordnete Einheiten« aufgliedere, zu orientieren sei sich dabei an der militärischen Gliederung in Kompaniestärken (DASRL 1945, 571). Wie die »Masse der Menschen durch Gruppierung und Gliederung« organisiert und übersichtlich gemacht werde, so leitet Göderitz den räumlichen Gliederungsgedanken aus dem militärischen ab, könne auch der Stadtraum – die »Masse der städtischen Baugebiete« – als das »bauliche und räumliche Gefäß des menschlichen Lebens« nur durch Gliederung in
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Stadtzellen geordnet und organisiert werden (ebd.). Zudem solle der Stadtraum auch funktional gegliedert werden. Die ›Auflockerung‹ wird von Göderitz als zweites unabdingbares Planungsprinzip neben die ›Gliederung‹ gestellt: Die Gliederung der Stadt in »klar voneinander getrennte Wohn- und Industriegebiete« alleine gewährleiste nämlich noch keine »ausreichende Sicherheit« vor den »Gefahren der Großstadt«. Die Höhe der durch die Luftangriffe entstandenen Schäden, so argumentiert Göderitz, stände »in unmittelbarem Zusammenhang mit der jeweils vorhandenen Wohndichte« (ebd. 576). Daraus ergäbe sich die allgemeine Forderung, dass eine »bestimmte Wohndichte«13 in Zukunft nicht mehr überschritten werden dürfe. Zudem sei die »Auflockerung des bebauten Gebietes« unbedingt erforderlich, um die »Anforderungen an ein gesundes Stadtleben« zu erfüllen und eine »ungesunde Ballung« zu verhindern (ebd.). Göderitz insistiert auf die von den »Städtebauern und Wohnungspolitikern schon seit den Anfängen der ungesunden Ballung immer wieder verteidigte« Forderung nach grundsätzlich gleicher Wohnungsdichte für alle Stadtbewohner, da alle ein gleiches Anrecht auf die Verfügung von ausreichendem Freiraum und genügender Besonnung hätten.14 Die Wohndichte in verschiedenen Bauklassen müsse annähernd konstant gehalten werden (ebd.). Anzustreben ist nach Göderitz der Flachbau, durch »Geschoßhäufung« könne kein Gewinn im Sinne höherer Ausnutzung erzielt werden, da höhere Gebäude höhere Abstände erforderten. Das »geeignete Maß« und die »beste Art der Auflockerung« werde, so fasst Göderitz seine Ausführungen zusammen, nur unter »Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte vom umfassenden städtebaulichen Standpunkt« aus gefunden werden können (ebd.). Mit der ›Auflockerung‹ wird damit von Göderitz das die städtebauliche Debatte seit Anfang des 20. Jahrhunderts prägende Konzept der ›Weiträumigkeit‹ weiterentwickelt und zum maßgeblichen Ansatz der Wiederaufbauplanung für die zerbombten Großstädte aufgewertet (vgl. auch Kapitel 7.1). Die ›Stadtlandschaft‹ ist ein weiteres zentrales Konzept, welches das Jahr 1945 nahezu ohne Brüche überlebte (Münk 1993, 399). Die ›Stadtlandschaft‹ hatte bereits in den Schriften der Gartenstadt- und Heimatschutzbewegung vor dem Nationalsozialismus eine bedeutende Rolle gespielt, in der städtebaulichen Debatte der Nationalsozialisten wurde das Konzept aufgegriffen und der Begriff inhaltlich zugespitzt (Sohn 2008, 159). Nach 1945
13 Göderitz bezeichnet Dichten von 30 bis 60, ausnahmsweise 80 Wohnungen je ha Nettowohnbauland für ideal (ebd.). 14 Die Abstandsregel für die Besonnung entspräche dabei dem Gebäudeabstand, der auch aus Luftschutzgründen eingehalten werden müsse (ebd.).
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STÄDTEBAU (TEIL 1)
verwendet Hans Scharoun (1893-1972)15 den Begriff ›Stadtlandschaft‹ als Überschrift des unter seiner Leitung erstellten ›Kollektivplans‹. Mit dem im Jahre 1946 erarbeiteten Vorschlag für eine radikale städtebauliche Neuorganisation Berlins sollte es möglich werden, »Unüberschaubares, Maßstabsloses in übersehbare und maßvolle Teile aufzugliedern und diese Teile so zueinander zu ordnen, wie Wald, Wiese, Berg und See in einer schönen Landschaft zusammenwirken« (Scharoun 1946a, 40). Auch Scharoun wendet sich von der »zusammengeballten Großstadt« ab, um die Siedlung im Sinne eines organischen Prinzips in eigenständige, überschaubare Einheiten aufzugliedern (Sohn 2008, 87). Und auch Scharoun definiert die Hinterlassenschaften des Krieges als städtebauliche Chance und setzt sich in seiner Planung über die bisherige Bausubstanz im Wesentlichen hinweg. Was geblieben sei, »nachdem die Bombenangriffe und Endkampf eine mechanische Auflockerung« vollzogen haben, eröffne nun die Möglichkeit, eine »Stadtlandschaft zu gestalten« (Scharoun 1946b, 237). Auch im Kollektivplan wird das Konstrukt ›Dichte‹ für die städtebauliche Beweisführung herangezogen. In einem der Pläne wird der bestehenden (zum Zentrum stark zunehmenden) Einwohnerdichte die geplante Einwohnerdichte nach Umgestaltung der Stadt »auf der Grundlage der Mindestbesonnung und der Differenzierung des Verkehrs« gegenübergestellt. Durch den kompletten Neubau der Stadt (nach ihrem vollständigen Abriss) wird eine gleichmäßige Bebauungsdichte von 250 Personen pro Hektar vorgeschlagen, mit der zum einen die Abschaffung des Bodenpreisgefälles und der Bodenspekulation, zum anderen eine Mindestbesonnung von vier Stunden am dunkelsten Tage des Jahres erreicht werden soll. Scharoun resümiert, dass »Menschenballungen« in der »Stadtlandschaft der Zukunft« nicht mehr notwendig seien (nach Geist/Kürvers 1984, 196). Auch in der Organischen Stadtbaukunst von Bernhard Reichow (18991974)16 wird die ›Stadtlandschaft‹ als städtebaulicher Konzeptbegriff ausge15 Scharoun studierte Architektur an der TU Berlin-Charlottenburg (ohne Abschluss). Ab 1919 arbeitete Scharoun als Architekt in Breslau. 1925 wurde Scharoun Professor an der Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in Breslau (bis 1932). Während der NS-Zeit blieb Scharoun in Deutschland und baute einige Einfamilienhäuser. 1945 wurde Scharoun von den Alliierten als Stadtbaurat von Berlin ernannt (bis 1947). 1946 wurde er Professor für Architektur an der TU Berlin. 16 Reichow studierte Architektur in Danzig und München, arbeitete 1925 bis1928 als Architekt in Berlin, 1928 bis 1934 als kommunaler Stadtplaner in Dresden und wurde 1934 zum Stadtbaurat in Braunschweig. Nach einem Konflikt mit der NSDAP wurde Reichow zur Baupolizei strafversetzt, 1936 trat er in die NSDAP ein und wurde darauf Baudirektor von Stettin. Wie Göderitz war auch Reichow
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legt und als städtebauliches Ideal gesetzt. Seine städtebauliche Vision entwickelt Reichow dabei aus einer besonders radikalen Version der Großstadtfeindschaft. An den Anfang seiner Ausführungen stellt er einen Vers von Rainer Maria Rilke: »Die Städte aber wollen nur das Ihre und reißen alles mit in ihren Lauf. Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere und brauchen viele Völker brennend auf« (zitiert nach Reichow 1948, 3). Reichow verwendet bei seinem Abgesang auf die Großstadt die alten Begründungsmuster des völkisch-nationalen Kontextes. »Alle Sehenden« wüssten seit langem, dass »Großstadtelend und Vermassung mit ihren vielfältigen Wirkungen zum Niedergang jeder städtischen Gemeinschaft, Menschenwürde und Lebenskultur, schließlich gar zum Tod ganze Völker« führe (Reichow 1948, 3). Die Großstadt zerreiße jede »Einheit des persönlichen individuellen Lebens und seiner höheren Gemeinschaftsformen, die Bande der Gemeinschaft von Mensch zu Mensch, der Familie, der Nachbar- und Wohngemeinschaft, nicht zuletzt der Gesamtgemeinde«. Auch beim explizit nationalsozialistischen Vokabular bedient sich Reichow umstandslos. Die Landschaft sei »mit unseren Städten verletzt, geschändet, unterdrückt, verfälscht und verkümmert« worden (Reichow 1948, 28), »in der Erscheinung unserer Städte und Großstädte wurde diese Entartung und Verwirrung zuerst und zugleich am umfassendsten sichtbar« (ebd. 1). »Schranken-, form- und uferlos« würden sich, so formuliert einer der bedeutendsten Städtebauer des bundesdeutschen Nachkriegsstädtebau, die Steinmassen der Städte in die sie umgebende Landschaft ergießen, »all ihre natürliche Schönheit zersetzend und zerstörend« (ebd. 4). Die Großstadt fördere »die Absonderung und das ›Untertauchen‹ asozialer Elemente«, schmälere das »letzte Verantwortungsbewußtsein« und biete »arbeits- und lichtscheuen Kreaturen, die in ländlichen und kleinstädtischen Verhältnissen undenkbar sind, Unterschlupf« (ebd.). Nicht nur in der Analyse, auch bei der Ausarbeitung seiner Konzeption ist Reichow entschiedener Verfechter einer biologistischen Herangehensweise. Erst wenn der Großstadt als einer bisher »geradezu lebensfeindlichen und amorphen Steinwüste« wieder »›organisches‹ Leben« eingehaucht werde, diene der Städtebau einer »wahrhaft lebendigen Stadtbaukunst« und schaffe »einem biologisch gesunden Großstadtleben das ihm gemäße organische Gehäuse« (ebd. 33). Somit gelange man zu einer »biologisch und soziologisch begründeten Gliederung« bisher »amorpher, unübersichtlicher Siedlungsmassen«, die den »tausendfältigen Lebensgesetzen des Menschen und seiner Gemeinschaftsgebilde« am besten entsprächen und damit der Mitglied des AK ›Zentrale Orte‹ der ›Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung‹ (vgl. S. 173). Nach 1945 arbeitete Reichow als Architekt und Stadtplaner in Hamburg. 1964 wurde Reichow vom Lande Nordrhein-Westfalen zum Professor ernannt, 1966 erhielt er das ›Große Bundesverdienstkreuz‹.
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»Wiedergewinnung einer organischen Lebenseinheit« als Rahmen diene (ebd. 30). In der »gesunden Stadtlandschaft« komme es dabei »vor allem darauf an, mit Anstand untereinander Abstand zu wahren« (ebd. 69). Organische Stadtbaukunst und ›Stadtlandschaft‹ stehen bei Reichow auch für Agrarromantik und die Sehnsucht nach dem Lande. Erstrebenswert sei der »bauliche und kulturelle Niederschlag« eines aus »hoher Reife wieder einfachen und natürlichen Lebens!« (ebd. III). Höchstes städtebauliches Ziel ist der Umbau der »geschlossenen und kompakten Stadt« zur »aufgelockerten, gegliederten Stadtlandschaft« (ebd. 64).17 Und Reichow sieht sich am Beginn einer nachhaltigen Mission: Es sei nicht allein »der Sinn unseres Mühens« Ordnung zu schaffen, sondern vielmehr »ihr auch Dauer zu verleihen!«. Wie der Wald, so schreibt Reichow, solle auch die ›organische Stadtlandschaft‹ als Ganzes von »erhabener Dauer« bestehen (ebd. 207f.). Das Autorenduo Geist und Klüvers kommt bei der Analyse der Entstehungsgeschichte des Konzeptes der ›gegliederten und aufgelockerten Stadt‹ zu dem Ergebnis, dass »die luftige, freie grüne Stadt von morgen« durchaus Ähnlichkeiten mit der »luftsicheren, überschaubaren und auf Fruchtbarkeit berechneten Planung von gestern« aufweise, es jedoch zu einseitig wäre, dieses Konzept nur als »Ideengerüst von Luftschützern, Volkshygienikern und Parteiorganisatoren« zu sehen, da es sich gleichzeitig wie die »theoretische Beschreibung des Kollektivplans von 1946« lese (Geist/Kürvers 1989, 577). Die Nähe der städtebaulichen Konzepte der Moderne und des Nationalsozialismus wird auch von anderen Autoren herausgearbeitet. Anhand der Neuplanungen für die von den Deutschen überfallene Stadt Warschau schreibt etwa Gerd de Bruyn von »frappierenden Parallelen zwischen den städtebaulichen Visionen der Täter und der Opfer« (de Bruyn 1996, 259) und fügt hinzu, dass sich nach Kriegsende die »›neutrale‹ Brücke des modernen Städtebaus« über den Abgrund zwischen Kriegstätern und –opfern gespannt habe, eine »über alle Ideologien erhabene universalistische und damit ›unschuldige‹ Planungsmethode« (ebd.). In beiden Ansätzen verschaffte sich das »Postulat eines objektiv richtigen Gestaltens« seine Legitimation mit der Behauptung, »äquivalenter Ausdruck eines Naturgesetzlichen zu sein, das in der Substanz stecke« (Sohn 2008, 269).
17 Bereits bei seiner Tätigkeit für das nationalsozialistische Regime hatte Reichow die ›organische Stadtlandschaft‹ propagiert. Im Kontext eines Städtebaulichen Gutachtens zu den Fragen der Industrie- und Gewerbeansiedlung in der Gauhauptstadt Posen arbeitete Reichow in den frühen 1940er Jahren die Idee der ›Stadtlandschaft‹ aus, die gegenüber dem »gestaltlosen Zerfließen« in »neuer befreiter Weite« endlich wieder als Einheit von »Ordnung und Gestaltung« angesehen werden könne (Reichow o.D., nach Pahl-Weber 1993, 150).
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›Gliederung‹, ›Auflockerung‹ sowie ›organische Stadtlandschaft‹ sind die dominierenden Elemente für die Neukonstituierung des städtebaulichen Diskurses nach 1945, bei der die verschiedenen städtebaulichen Traditionslinien und Konzeptebenen völkisch-nationalen, nationalsozialistischen und modernen Ursprungs miteinander verschmolzen werden. Gemeinsame Basis war weiterhin die Ablehnung der bestehenden Stadt sowie der übergreifende Ordnungsgedanke der Planungsdisziplinen (vgl. Kapitel 5.1). Mit dem Konzept der ›gegliederten und aufgelockerten Stadt‹ wurden die völkischkonservativen und nationalsozialistischen Traditionslinien mit den Leitgedanken der städtebaulichen Moderne – der Funktionstrennung und der Herabstufung der ›Dichte‹ – fusioniert und damit auch der Bezug zur internationalen Debatte und auf die Inhalte der – ebenfalls in den 1940er Jahren publizierten – Charta von Athen (vgl. S. 259f.) wieder hergestellt. Die Kontinuität des städtebaulichen Denkens, die sich »nicht allein mit der Lebensgeschichte der beteiligten Planer« erklären lässt (Durth/Gutschow 1988, 193), beruht dabei auf den inhaltlichen Ähnlichkeiten und Wurzeln der Konzepte, die sich bis zu den Anfängen des Diskurses im späten 19. Jahrhundert rückverfolgen lassen. Traditionalisten und Modernisten waren sich nach 1945 einig in der »radikalen Ablehnung der historischen gründerzeitlichen Stadt mit ihren dicht überbauten Blockstrukturen« (Harlander 2006, 33), mit der ›aufgelockerten Stadt‹ wurde die daraus abgeleitete städtebauliche Strategie der ›Entdichtung‹ auf einen Begriff gebracht. Das dominante Ziel der ›Auflockerung‹ ist eine direkte Antwort auf das Begründungskonzept der ›zu hohen‹ Dichte.
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STÄDTEBAU (TEIL 1)
7
Dichte und Städtebau (Teil 2)
7.1 D AS M ASS
DER
N UTZUNG
Im zweiten Teil meiner Untersuchung der Dichtekonstruktionen im Städtebau wird die Entwicklung der städtebaulichen Debatte und der städtebaulichen Rahmengesetzgebung nach 1945 betrachtet.1 In den 1960er Jahren haben dabei zwei grundlegende Setzungen stattgefunden: Zum einen wurde die (im Wesentlichen bis heute geltende) Regelung der ›baulichen Dichte‹ mit der Baunutzungsverordnung (als bundesgesetzliche Verordnung) an zentraler Stelle des Bau- und Planungsrechts implementiert. Zum anderen wurde – in Folge der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Dichteregelungen – in den 1960er Jahren eine umfangreiche fachliche Debatte über den Städtebau und seine Dichtepraxis geführt, an deren Ende in großen Teilen der Disziplin die ›hohe Dichte‹ nicht mehr negativ, sondern positiv bewertet worden ist. Das Zustandekommen, der Inhalt und die Folgen dieser einschneidenden Veränderungen sind die Themen der nachfolgenden Ausführungen. Nach 1945 wurden die bestehenden (und weiterhin geltenden) bau- und planungsrechtlichen Bestimmungen aus der NS-Zeit als nicht ausreichend für die städtebauliche Großaufgabe des Wiederaufbaus erachtet. Daher wurde bald damit begonnen, für die Bundesländer neue planungsrechtliche Grundlagen zu erarbeiten, mit denen eine rasche Aufnahme der städtebaulichen Planung möglich gemacht werden sollte. Johannes Göderitz hatte bereits 1946 den Entwurf für ein Aufbaugesetz für die britische Besatzungszone ausgearbeitet, der die Grundlage für den im Auftrag des Deutschen Städtetages erstellten Musterentwurf für ein Wiederaufbaugesetz (Musterentwurf des ehemaligen Zentralamtes für Arbeit in Lemgo) und die daraus abgeleite-
1
Auch hier wird auf die Darstellung der Entwicklung des Dichteverständnisses im Städtebau der DDR verzichtet. Verwiesen sei diesbezüglich auf die interessanten Ausführungen bei Westphal 2008, 74f.
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STÄDTEBAU (TEIL 2)
ten Aufbaugesetze der Bundesländer bildete (Hillebrecht 1968, 2). Da auf Druck der Siegermächte die polizeibehördlichen Befugnisse beschnitten wurden, fiel die Kompetenz zur baulich-räumlichen Steuerung mit den Aufbaugesetzen den Gemeinden zu. In den Aufbaugesetzen der Länder aus den 1950er Jahren wurde die Stadtplanung daher auf der kommunalen Ebene verortet und der historische demokratische Selbstverwaltungsgedanke der Stadtplanung wieder aufgenommen. In den Aufbaugesetzen wurde mit der vorbereitenden und der verbindlichen Bauleitplanung ein zweistufiger Planungsaufbau eingeführt (Ansätze dazu hatte es schon in früheren städtebaulichen Regelungen gegeben).2 Inhaltlich lag den Aufbaugesetzen das städtebauliche Konzept der ›aufgelockerten und gegliederten Stadt‹ zugrunde. In der Tradition der raumplanerischen Ansätze aus den 1940er Jahren wurde in den Aufbaugesetzen der Ansatz implementiert, die künftige gesellschaftliche Struktur der beplanten Gebiete durch eine Festsetzung der Besiedlungsdichte zu steuern. Die Aufbaugesetze enthielten die Maßgabe für die kommunale Planung (als Pflichtteil), in ihren vorbereitenden Bauleitplänen die jeweilig anzustrebenden Einwohnerdichten festzulegen. Diese Festlegungen der vorbereitenden Bauleitplanung waren als Vorgaben in der verbindlichen Bauleitplanung zu beachten und umzusetzen.3 Ein Beispiel für die Implementierung der ›Wohndichte‹ in die Gesetzgebung ist das Aufbaugesetz des Landes Nordrhein-Westfalen von 1952. Hier wird zunächst die ›Wohndichte‹ – konkretisiert als »Anzahl der in den ausgewiesenen Bauflächen unterzubringenden Bewohner« (2.14, Richtlinien zum Aufbaugesetz NRW) – als ein Regelinhalt des vorbereitenden Leitplans bestimmt (§ 5 Abs. 1 Aufbaugesetz). Die Gemeinden wurden damit ermächtigt (respektive verpflichtet), nicht nur das ›Maß der baulichen Nutzung‹, sondern (in Tradition der nationalsozialistischen Ostplanung) auch das ›Maß der Bevölkerungsdichte‹ festzusetzen. Dass eine solche Steuerung selbst bei der Machtfülle des NS-Staates wenig Erfolg gehabt hatte (vgl. Kapitel 5.2) und daher auch kaum im Möglichkeitsbereich der Stadtplanung und des Städtebaus eines demokratisch verfassten Staates verortet werden konnte, 2
In der vorbereitenden Bauleitplanung wird für das gesamte Gemeindegebiet eine übergreifende Planung im großen Maßstab erstellt, aus der (bei Bedarf) konkretere, kleinmaßstäbigere und verbindliche Bauleitpläne entwickelt werden.
3
Die Pläne hatten in den jeweiligen Aufbaugesetzen noch unterschiedliche Bezeichnungen. Neben dem ›Flächennutzungsplan‹, der sich mit dem Bundesbaugesetz dann allgemein für die ›vorbereitende Bauleitplanung‹ durchsetzte, wurden die Pläne auch als ›Wirtschaftsplan‹ (wie im Wohnsiedlungsgesetz von 1933), ›Übersichtsplan‹ oder als ›Leitplan‹ bezeichnet; für die verbindlichen Pläne gab es neben der später üblichen Benennung ›Bebauungsplan‹ auch den Begriff ›Durchführungsplan‹ (Schütz/Frohberg 1962).
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störte die Väter der Aufbaugesetze offenbar nicht. Die Wichtigkeit der Bevölkerungsdichte für das gesellschaftliche, gesundheitliche und städtebauliche Wohlergehen war so oft und laut verkündet worden, dass die Vorgehensweise, Bevölkerungsdichte einfach festzusetzen, nicht hinsichtlich ihrer Wirkungsweise hinterfragt wurde. Dadurch wurde beim demokratischen Neuanfang der städtebaulichen Planung den Aufbaugesetzen einerseits ein totalitärer Keim implementiert, zum anderen der Einflussbereich der Profession deutlich überschätzt. Gleichzeitig zur Ausgestaltung der ersten gesetzgeberischen Initiativen nach 1945 wurde auch der planungsrechtliche Grundlagendiskurs über ›Dichte‹ weitergeführt. So bezieht etwa Anton Hoenig, der 25 Jahre zuvor bei seiner Dichteanalyse vor allem auf das Eigenheim und den Flachbau fokussiert hatte (vgl. S. 254), nun das im geographischen Diskurs der ersten Jahrhunderthälfte entwickelte Dichteverständnis (vgl. Kapitel 3.2) in seine Überlegungen mit ein und transkribiert den dortigen geopolitischen Ansatz auf die städtebauliche Ebene.4 Nach »diesem Kriege«, so führt Hoenig dabei aus, sei in Deutschland bei »stark vermindertem Umfang des Staatsgebietes« eine »erheblich größere Einwohnerzahl« zu beherbergen als davor (Hoenig 1952, 9f.).5 Gerade die »aufschlußreichen Verhältniszahlen« der »Relation zwischen den Menschen und ihrem Lebensraum« seien, so fährt Hoenig in seiner Argumentation fort, für Städtebau und Raumordnung »ebenso bedeutsam« wie die »Belastungsangaben für die Statik von Baukonstruktionen«. Im Grunde genommen läge der Unterschied nur in den Maßstäben: Der Brückenbau betrachte die Menschen nach Quadratmetern, der Städtebau zähle sie nach Hektar, die Landesplanung nach Quadratkilometern. In allen drei Fällen komme es »auf den Druck an, den eine Ansammlung von Menschen auf eine Flächeneinheit ausübt« (ebd.). Eine »geordnete Raumwirtschaft« müsse »diesen Druck« nicht nur kennen, sondern es sei ihre »vornehmste Aufgabe«, ihn sorgfältig zu regeln. Für diese »Druckregelung« würden »exakte Gesetze der Statik und Dynamik« gelten, welche die »wesensbedingten Zusammenhänge zwischen Menschengedränge und Flächenraum mit mathematischer Schärfe« erkennen ließen (ebd.). Neben dem geopolitisch geprägten Ansatz wird damit wieder verstärkt auf den ›wissenschaftlichen‹, ›objektiven‹ und ›mathematischen‹ Ertrag des auf Dichtezahlen beruhenden Städtebaudiskurses abgestellt. In diese Rich4
Die Ausarbeitung des 1951 verstorbenen Hoenigs wurde von Johannes Göderitz
5
Vor dem Kriege, so versucht Hoenig seine These empirisch zu belegen, hätten
in der Schriftenreihe der DASL posthum herausgegeben. 140 Deutsche auf einem Quadratkilometer gelebt, in Gegenwart und absehbarer Zukunft müssten infolge der Zuzüge aus den Ostgebieten mit einer »Bevölkerungsdichte von fast 200 Köpfen je Quadratkilometer gerechnet werden« (ebd.).
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STÄDTEBAU (TEIL 2)
tung geht auch Johannes Göderitz in seiner Publikation Besiedlungsdichte aus dem Jahre 1954 (Göderitz 1954), in der er sich wiederum auf die Thesen von Hoenig bezieht. Göderitz formuliert, dass »während anfänglich freies Ermessen« die Grundlage für die Aufstellung der ersten Vorschriften über die »zulässige ›Ausnutzbarkeit‹ der Baugrundstücke« gewesen wäre, sich im Laufe der Zeit immer mehr die Erkenntnis durchgesetzt habe, dass »auch diese Fragen exakt wissenschaftlich« zu beantworten seien (ebd. 5). Besiedelungs- und Bebauungsdichte seien »einheitliche Wertmesser« und garantierten ein »möglichst objektives Ergebnis«, »subjektive Faktoren« könnten weitgehend durch »theoretisch-deduktive Methode« ausgeschaltet werden (ebd. 9f.). Göderitz untersucht, wie viele Einwohner auf Flächen bestimmter Größe unter bestimmten Voraussetzungen untergebracht werden können und fokussiert auf den Zusammenhang zwischen »Bebauungsweise und Höchstgrenze der Besiedlungsdichte«. Göderitz berechnet – nach dem Kriterium der »ausreichenden Besonnung« – die idealtypische maximale »Besiedlungsdichte« für Wohnungsbauten mit unterschiedlichen Geschosszahlen.6 Erstaunt muss er dabei feststellen, dass die hier errechneten Dichten bei weitem höher lägen, als bei der »allgemein vertretenen Forderung« hinsichtlich der »normalen Besiedlungsdichte« bei städtischer Wohnweise.7 Von »hygienischer Seite« könne daher kein Einwand gegen diese hohen Dichten erhoben, lediglich aus »Gründen des Luftschutzes« könnten niedrigere Höchstgrenzen gefordert werden (Göderitz 1954, 14). Göderitz geht es bei seinen Berechnungen jedoch keineswegs um eine Rehabilitierung einer verdichteten Bauweise, sondern darum, ›wissenschaftliche‹ Argumente für das Eigenheim zu entwickeln. Weil das Argument der ›Hygiene‹ mit den aus den Berechnungen ableitbaren Ergebnissen nicht mehr aufrecht zu halten ist, müssen daher andere Faktoren gefunden werden. Erstens lasse sich, so führt Göderitz aus, eine hohe Bevölkerungsdichte auch mit Flachbauten herstellen (die Wertung einer hohen Bevölkerungsdichte als etwas Positives kommt dabei etwas überraschend und unvermittelt): die Flachbebauungsweise führe nämlich gar nicht zu einer »starken Ausweitung der Städte« (Göderitz 1954, 14f.).8 Zweitens verbindet Göderitz 6
Für eine 10-geschossige Bebauung ergibt Göderitz Berechnung eine maximale ›Dichte‹ von 1.311 EW/ha Nettobaugebiet, für eine eingeschossige Bebauung wird ein Wert von 513 EW/ha angegeben.
7
Diese ›Dichte‹ läge, so Göderitz, bei 200 EW/ha Nettobaugebiet.
8
Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, vergleicht Göderitz die Einwohnerdichte bestehender Städte mit idealtypischen theoretischen Dichtewerten – was nicht nur ein methodisch kritischer Ansatz ist, sondern im Grunde auch eine gegenteilige Interpretation ermöglicht: Mit mehrgeschossigen Gebäuden, so die Wendung des Argumentes, könnte auch eine (nach den Kriterien der ›Hygiene‹ und ›Be-
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seine idealtypische Dichteberechnung (ähnlich wie Hoenig in den 1920er Jahren) mit den geltenden Abstandsregelungen und kommt dabei zum Ergebnis, dass eine höhere Geschossigkeit zu größeren Abständen führe und deshalb in vielgeschossigen Bauten kaum mehr Menschen untergebracht werden könnten als in ein- oder zweigeschossigen.9 Drittens ergäbe eine höhere Geschossigkeit wenig Freiraum für den Einzelnen, je höher (also: dichter) man auf einem Grundstück baue (und je mehr Menschen man damit dort unterbringe), desto geringer sei zwangsläufig die durchschnittliche Freiraumfläche pro Kopf.10 Mit diesen drei Argumenten erreicht Göderitz das erwünschte Ergebnis: Hochhäuser (überhaupt mehrgeschossige Bauten) würden nicht dazu führen, mehr Menschen sinnvoll auf der gleichen Fläche unterzubringen und seien daher auch nicht erstrebenswert. Aufschlussreich ist im Text von Göderitz weiterhin die Verteidigung der ›Auflockerung‹ gegen die befürchtete Vereinnahmung des Begriffs durch die Hochhausbefürworter (etwa bei Gropius). In letzter Zeit, so formuliert Göderitz, sei die Auffassung vertreten worden, dass Wohnhochhäuser, zwischen denen etwas größere Zwischenräume freigehalten werden, »zur Auflockerung« beitragen würden. In Wirklichkeit sei jedoch durch solche Bauten die Zahl der Wohnungen und Bewohner auf der Flächeneinheit – die Besiedelungsdichte – und damit die Beanspruchung der freien Flächen durch Verkehr und Erholungsbedürfnisse fast immer erhöht worden. Eine solche ›Auflockerung‹ sei also »nur eine bauliche, nicht aber eine städtebauliche und meist auch keine hygienische«. Man solle daher, solange die Besiedlungsdichten locker angeordneter Hochhäuser »über dem erwünschten Maße« blieben, von »unechter Auflockerung« sprechen – »echte Auflockerung« sei nur dann vorhanden, wenn die Besiedlungsdichten so niedrig wären, dass die »gerechten Bedürfnisse der Bewohner« (nach Besonnung, nach wohnungsnahem Erholungsraum, Verkehrsbedürfnisse) voll erfüllt werden könnten (ebd. 28, in gleichen Worten auch bei Göderitz/Rainer/Hoffmann 1957, 83). sonnung‹ nicht zu beanstandende) sehr viel höhere Bevölkerungsdichte erreicht werden, als die bisher als vertretbar bezeichnete. 9
Göderitz berechnet, dass durch Verzehnfachung der Geschosszahl lediglich eine Verdoppelung der Besiedlungsdichte erreicht werden könne (ebd.). Auch hier ist die Methode zu hinterfragen: die Verbindung von ›mathematisch‹ ermittelten Idealwerten mit den Normsetzungen der Bauordnung kann schon vom Ansatz her kaum zu einer ›wissenschaftlichen‹ Legitimation genau dieser Normwerte führen.
10 Dieses (in-sich-stimmige) Argument entfaltet jedoch erst dann seine Wirkung, wenn ein bestimmter Freiraumanteil auch als individuelles Grundbedürfnis definiert wird.
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Göderitz Ausführungen zur ›Besiedlungsdichte‹ zeigen vor allem, dass durch geschickte Hervorhebung und Kombination einzelner Faktoren mit Dichteberechnungen fast alles begründet werden kann. Flachbauweise, Hochbauweise, Eigenheim, Mietskaserne, große Stadt, kleine Stadt – für sämtliche städtebaulichen Positionen lassen sich Argumentationen konstruieren, die sich mit Berechnungen der ›Bebauungsdichte‹ und / oder der ›Wohndichte‹ legitimieren lassen und die – das ist ein weiterer Vorteil – schnell so kompliziert werden, dass eine Überprüfung nicht mehr zu befürchten ist.11 Göderitz’ Argumentation läuft letztendlich auf die Propagierung des Flachbaus respektive des Eigenheims als ideale Bauform hinaus. Mit der auf die ›Besiedlungsdichte‹ basierenden städtebaulichen Analyse soll diesem Ziel ›wissenschaftliches‹ und ›objektives‹ Begründungsmaterial an die Seite gestellt werden. Damit liefert Göderitz eine städtebauliche Legitimation der staatlichen Eigenheimförderung, die in Fortführung der seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestehenden und im NS-Staat ausgebauten Wohnungspolitik im Jahre 1949 in die Steuergesetzgebung übernommen worden ist.12 Das »allgemein anerkannte Ziel«, so formuliert Göderitz, bestehe letzten Endes darin, »der einzelnen Familie ein Maximum an persönlicher Freiheit und Selbstständigkeit in einem eigenen räumlichen Bereich – am besten dem eigenen Hause – zu geben, bei gleichzeitiger möglicher enger Verbindung dieser Einheit zu Nachbarschaften mit gemeinschaftlichen Einrichtungen«. Wortgleich zu seinen Thesen vom Januar 1945 argumentiert Göderitz, dass »große Massen von Menschen« am besten dadurch organisiert werden könnten, indem man sie in »kleinere, übersehbare« Einheiten aufgliedere (ebd. 23). Zusammen mit Roland Rainer und Hubert Hoffmann fasst Göderitz im Jahre 1957 seine seit den 1930er Jahren vertretenen Thesen in der Schrift Die gegliederte und aufgelockerte Stadt zusammen, die zum Standardwerk des westdeutschen Nachkriegsstädtebaus geworden ist. Je mehr – so wird hier weiterhin auf die konservativ-völkische Bevölkerungsdebatte aus der ersten Jahrhunderthälfte rekurriert – die »lebensstarke Landbevölkerung« gegenüber der Bevölkerung der Großstädte, die »ihre Volkszahl nicht aus eigener Kraft erhalten können«, zurück trete, um so stärker müsse sich der »ungünstige Bevölkerungsaufbau dieser immer zahlreicher werdenden Großstädte in der Vergreisung des gesamten Volkes auswirken« (Göderitz/Rainer/Hoffmann 1957, 9). Die »allgemeine bevölkerungspolitische Lage« und die Folgen des Krieges machten es zu einer »brennenden Lebens11 Zudem lässt man sich mit dem Überprüfungsversuch der Dichteberechnungen bereits auf den (den Berechnungen zugrundeliegenden) Ansatz ein. 12 Zur Entwicklung der Eigenheimförderung zur Eigenheimzulage vgl. Heinelt/Egner 2006, 215f..
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frage«, die »nicht ernst und gründlich genug erörtert und nicht frühzeitig genug« beantwortet werden könnte. Der Städtebau habe für die Zeit nach dem Krieg eine »besonders ernste Verpflichtung« zu erfüllen, nicht nur die baulichen Schäden, auch die »Schädigungen am Volkskörper« müssten wiedergutgemacht werden (ebd. 84f.). Sei dagegen der »Stadtkörper durch und durch gesund«, so würden auch die »in ihm lebenden und ihn bildenden Menschen gesunden Sinnes sein«. Im Städtebau seien die Lösungen zu bevorzugen, die geeignet seien, zum »Ausgleich der schweren Verluste des Volkes an Gut und Blut den gesunden und leistungsfähigen Stadtkörper zu schaffen«. Auf die »volksbiologischen, ethischen und gesundheitlichen Vorzüge« des Einfamilienhauses mit Garten sei daher besonders zu verweisen. Zur Durchführung dieser Vorstellungen seien »wenige, aber durchgreifende« neue boden- und baurechtliche Regelungen erforderlich (ebd.). Vor dem Hintergrund dieser Debatten wurde in Deutschland schon bald nach Kriegsende über ein Bundesbaugesetz diskutiert. Seit 1949 bestand durch die Gründung der Bundesrepublik Deutschland wieder ein einheitlicher Gesetzesgeber. In den 1950er Jahren wurden verschiedene Entwürfe eines Baugesetzes erarbeitet und im Bundeskabinett verhandelt, jedoch vorerst wieder zurückgestellt, da noch verfassungsrechtliche Bedenken vor der Weiterverfolgung des Projektes zu klären waren. In einem Rechtsgutachten des Bundesverfassungsgerichts von 1954 wurde die städtebauliche Planung (nach Art. 74 Ziff. 18 GG) in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes verwiesen. Das alte Baupolizeirecht solle dabei nur Bundesrecht werden, insofern es »Bestandteile des Planungsrechts« enthalte (Schöning 1968, 18). Die Festsetzung von ›Art und Maß der baulichen Nutzung‹ wird durch das Karlsruher Gutachten als eine städtebauliche und nicht mehr – wie nach der früheren preußischen Regelung – als eine baupolizeiliche Angelegenheit definiert (Wambsganz 1959, 26). Im Jahre 1960 wurde das Bundesbaugesetz (BBauG) dann verabschiedet. Mit dem BBauG – von seinen Grundgedanken ein Gesetzeswerk liberal-konservativer Prägung mit streng rechtsstaatlicher Ausgestaltung – wurde eine vereinheitlichende Kodifikation der städtebaurechtlichen Regelungen umgesetzt und eine einheitliche Rechtsgrundlage für die städtebauliche Planung in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen. Zentraler Begriff des Bundesbaugesetzes ist die ›Bauleitplanung‹. Als Zweck der Bauleitplanung werden im BBauG die »Ordnung und die Steuerung der städtebaulichen Entwicklung« definiert (§ 1 BBauG), und dafür wird den Gemeinden die Befugnis zur Aufstellung von Bauleitplänen übergegeben. Als zentraler Inhalt der Bauleitplanung wird im Bundesbaugesetz die Festsetzung der »Art und des Maßes der baulichen Nutzung« bestimmt (§ 9 BBauG). Die Gemeinden sollen also – so das lautet das Prinzip der formellen Stadtplanung – mit Bauleitplänen, in denen die Art und das Maß
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der baulichen Nutzung festgesetzt werden, die städtebauliche Entwicklung auf ihrem Gemeindegebiet steuern. Wie diese Steuerung konkret stattfinden soll, wird allerdings nicht im Bundesbaugesetz, sondern in der ›Baunutzungsverordnung‹ BauNVO geregelt. Zur Aufstellung einer solchen Baunutzungsverordnung wird im § 2 Abs. 10 BBauG der Bundesminister für Wohnungsbau ermächtigt. Der Aufbau der bundesdeutschen formellen städtebaulichen Planung kann also folgendermaßen zusammengefasst werden: Mit dem Bundesbaugesetz wird die Bauleitplanung als grundlegendes Instrument der städtebaulichen Planung der Kommunen bestimmt, in der Baunutzungsverordnung wird die Funktionsweise der Bauleitplanung geregelt, in der gemeindlichen Stadtplanung wird die Bauleitplanung mit Flächennutzungsplänen (vorbereitender Bauleitplanung) und Bebauungsplänen (verbindliche Bauleitplanung) vollzogen und verortet. Die im Jahre 1962 erlassene Baunutzungsverordnung BauNVO ist für die Einbindung des Konstrukts ›Dichte‹ in den städtebauliche Planung von zentraler Bedeutung, da hier Verständnis, Methode und Intention der planungsrechtlichen Dichtepraxis maßgeblich vorbestimmt werden. Bereits im Jahre 1949 war ein Arbeitsausschuss der ›Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung‹ DASL (der Nachfolgerin der DASRL) unter Vorsitz von Johannes Göderitz gegründet worden, um den Entwurf für eine Baunutzungsverordnung zu erstellen. Die endgültige Fassung des Entwurfs von 1951 wurde von Anton Hoenig konzipiert und beinhaltete die Grundstruktur der dann 1962 beschlossenen BauNVO (Schöning 1968, 18). Die beiden Kernelemente der BauNVO sind die Ausgestaltung der Regelungen über die ›Art und das Maß der baulichen Nutzung‹. Diese Kernelemente entsprechen direkt dem, was in der städtebaulichen Debatte Anfang der 1960er Jahre als die grundlegende Aufgabe des Städtebaus weitgehend akzeptiert wurde: Die ›Gliederung‹ der Stadt durch die Festsetzung der ›Art der Nutzung‹, die ›Auflockerung‹ durch die Regelung des ›Maßes der Nutzung‹. Die Festsetzung der ›Art der Nutzung‹ nach der BauNVO funktioniert über die Gliederung der städtischen Wirklichkeit in unterschiedliche Gebietstypen – etwa in ›Wohngebiete‹, ›Mischgebiete‹ und ›Gewerbegebiete‹. In der BauNVO werden diese Gebietstypen definiert und es wird geregelt, welche Nutzungen in den Gebietstypen jeweils zulässig, ausnahmsweise zulässig oder unzulässig sind. In der gemeindlichen Bauleitplanung werden die Gebietstypen dann in den Bebauungsplänen festgesetzt, um damit die baulich-räumliche Entwicklung zu steuern.13 Beim ›Maß der Nutzung‹ – dem zweiten Regelungsschwerpunkt der Verordnung – werden die (ebenfalls in 13 Wobei die BauNVO den Gemeinden einen begrenzten Spielraum bei der Modifikation der jeweiligen Gebietstypen zugesteht.
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den Bebauungsplänen festzusetzenden) Maßzahlen durch die BauNVO definiert und für die einzelnen Gebietstypen Obergrenzen dieser Maßzahlen festgelegt. Die wichtigste Maßzahl der ›baulichen Dichte‹ in der BauNVO ist die ›Geschossflächenzahl‹ GFZ, die definiert ist als das Verhältnis der Geschossfläche zur Grundstücksfläche.14 Die GFZ ist eine Weiterentwicklung der schon zuvor in einigen Bauordnungen verwendeten ›Ausnutzungsziffer‹, mit der bereits das gleiche Prinzip – die Regelung der ›baulichen Dichte‹ mit einer Maßzahl für das Verhältnis von Geschossfläche zu Grundstücksfläche – verfolgt worden war (vgl. S. 263).15 Die Ursprünge des Begriffs ›Geschossflächenzahl‹ finden sich in der Debatte um das Hamburger Aufbaugesetz von 1950. In diesem Gesetz wurde – wie in den meisten anderen Aufbaugesetzen – als Regelungsinhalt der städtebaulichen Planung die Angabe der ›Wohndichte‹ für die einzelnen Ortsteile vorgegeben, also die Planung der »Anzahl Menschen, die auf einem bestimmten Hektar wohnen sollen« (Freie und Hansestadt Hamburg 1960, 12). In der Praxis seien aber, so wird in der damaligen Fachdiskussion vermerkt, »manche Unklarheiten« bei der Anwendung des Begriffs ›Wohndichte‹ entstanden (ebd.). Die zunehmende Bedeutung der städtebaulichen Planung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der Städte sowie die Erfahrungen des Wiederaufbaues seit 1945 hätten zudem eine Überprüfung der Vorschriften über die bauliche Ausnutzbarkeit von Grundstücken erforderlich gemacht. Dabei habe es sich als notwendig erwiesen, »normativ einen Rahmen zu setzen«, der für einen neuzeitlichen Städtebau die »zweckmäßige Gliederung und Gestaltung neuer Baugebiete« und die »Auflockerung vorhandener Ballungsgebiete durch eine sachgerechte Bemessung der Nutzung der einzelnen Grundstücke« ermögliche. Ein solcher Rahmen könne »unter Beibehaltung bewährter Maßstäbe« über die Ausnutzbarkeit von Grundstücken durch die Festlegung von Geschossflächen14 Als weitere, die bauliche Ausnutzung bestimmende Maßzahlen werden in der BauNVO die Grundstückszahl GRZ (das Verhältnis von überbauter Fläche zur Grundstücksgröße) und die Baumassenzahl BMZ (das Verhältnis der mit der Höhe der baulichen Anlage multiplizierten überbauten Fläche zur Grundstücksfläche) eingeführt. In der stadtplanerischen Debatte ist jedoch die GFZ die dominierende Maßzahl geworden und bis heute wird sie als Synonym für die ›baulichen Dichte‹ verwendet. 15 Bereits im Entwurf der BauNVO von 1951 war vorgeschlagen worden, das ›Maß der baulichen Nutzung‹ mit einer solchen Ausnutzungsziffer zu regeln. Der Grundgedanke des Entwurfs bestand darin, eine »Auflockerung von zu dichter Bebauung« zu erreichen. Über die Ausnutzungsziffer sollte eine »Reform der Bestimmungen über das Maß baulichen Nutzung« durchgesetzt werden (Wolff 1958, 48).
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zahlen geschaffen werden, daher solle die GFZ als Richtlinie für die bauliche Ausnutzung von Grundstücken eingeführt werden (ebd.). Für die instrumentelle Verwendung des Konstrukts ›Dichte‹ war dies eine entscheidende Weichenstellung. Die Festsetzung der ›Wohndichte‹ (also der Einwohnerdichte) wurde aus dem städtebaurechtlichen Planungsrepertoire gestrichen. Eine Festlegung der Bevölkerungsdichte, die schon während der NS-Diktatur kaum erfolgreich umgesetzt werden konnte, war nun weder vermittel- noch durchsetzbar. In der demokratisch verfassten Stadtplanung war ein Ansatz, der letztendlich die ›Verfügbarkeit von Menschen‹ zu Voraussetzung hatte, nicht mehr zeitgemäß und wurde daher durch einen Ansatz ersetzt, der nur noch die ›Verfügbarkeit von Sachen‹ (Gutschow 1993, 256) implizierte. Das festzusetzende Dichteverhältnis war nun so konstruiert, dass nicht mehr Personen, sondern Quadratmeter im Zähler des Verhältniswertes standen. Dennoch war die Absicht hinter dem Ansatz, die städtebauliche Entwicklung mit der Festsetzung der GFZ zu steuern, natürlich weiterhin von dem Gedanken getragen, damit nicht nur die ›bauliche Dichte‹, sondern auch die Bevölkerungsdichte zu beeinflussen (aber nicht mehr zu dekreditieren), um auf diese Weise wiederum bestimmte gesellschaftliche und politische Normvorstellungen durchzusetzen (nun aber eben nur noch indirekt und über den Umweg der GFZ). Auch weiterhin war der Festsetzung der ›baulichen Dichte‹ die Absicht immanent, eine über die Kategorie der Bevölkerungsdichte gedachte und vermittelte gesellschaftliche Norm zur Geltung zu bringen. In der BauNVO 1962 wird nicht nur der Wechsel von der Festlegung der Wohndichte zur Festlegung der Bebauungsdichte vollzogen und der Rahmen für die Festsetzung der ›baulichen Dichte‹ definiert, es werden auch allgemein gültige Obergrenzen für die entwickelten Maßzahlen eingeführt. Mit den bundesweit geltenden Obergrenzen der ›baulichen Dichte‹ sollte das Ziel der ›Auflockerung‹ flächendeckend und einheitlich umgesetzt werden. Bei der Diskussion der adäquaten Höhe solcher Obergrenzen wurde im Entwurf der ›Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung‹ von 1951 postuliert, dass eine »einfache Nachprüfung der städtebaulichen Auswirkungen« zu der Erkenntnis führe, dass »Ausnutzungsziffern über 2,0 von Übel« seien (zitiert nach Boeddinghaus 2002, 1334). Im BauNVOEntwurf von 1951 wurde vorgeschlagen, für Wohngebiete die GFZ-Obergrenze von 1,2 festzulegen, in der BauNVO 1962 wurde dann die Obergrenze GFZ 1,0 beschlossen (§ 17 BauNVO 1962).16 In Relation zu der beste16 GFZ 1,0 bedeutet, dass auf einem Grundstück mit 1.000 m² Grundstücksfläche ein eingeschossiges Gebäude mit 1.000 m² Grundfläche, ein zweigeschossiges Gebäude mit 500 m² Grundfläche oder ein dreigeschossiges Gebäude mit 333 m² Grundfläche (usw.) zulässig wäre.
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henden Stadt war das ein klares Statement: In vielen Altbaugebieten lag (und liegt teilweise bis heute) die GFZ bei 3,5 bis 4,0 oder noch höher. In der von den Städtebauern avisierten neuen Stadt sollte also maximal noch ein Viertel dieser ›baulichen Dichte‹ zulässig sein.17 Nach der Einführung der BauNVO entstand über deren Inhalte und Zielsetzungen eine umfangreiche Debatte. Insbesondere zur in der BauNVO vorgegebenen Begrenzung der ›baulichen Dichte‹ wurden in den 1960er Jahren zahlreiche Artikel in städtebaulichen Fachzeitschriften publiziert (vgl. etwa Boeddinghaus 1965, Brandt 1965a/1965b; Schöning 1968), explizit mit dem Thema ›baulichen Ausnutzung‹ (respektive mit dem Dichtebegriff) setzen sich alleine an der ›Technischen Hochschule Aachen‹ vier Dissertationen auseinander (Wolff 1958, Boettger 1965, Gerberding-Wiese 1968, Boeddinghaus 1969). In der Dichtedebatte der 1960er Jahre wird eine grundsätzliche Kritik an der Baunutzungsverordnung laut, und es werden »Zweifel am Bild der gegliederten und aufgelockerten Stadt« als nicht mehr zeitgemäßer Metapher für die »Lebensvorgänge und einer daraus hergeleiteten Stadtform« geäußert (Fahrenholtz 1963, 74). In dieser Fachdebatte wird zum einen die Weiterentwicklung und thematische Auffächerung des städtebaulichen Diskurses sichtbar, zum anderen wird dabei die – vermutlich bis heute ausführlichste und reflektierteste – Auseinandersetzung mit dem städtebaulichen Dichtebegriff selbst und seinen Implikationen für die Disziplin geführt. Ein Hauptthema der städtebaulichen Dichtedebatte der 1960er Jahre ist der wachsende Verkehr in den Städten. Mit der Bedeutungszunahme der Verkehrsthematik verschieben sich insgesamt die Schwerpunkte im städtebaulichen Diskurs, die Verkehrserfordernisse rücken auf den vordersten Platz der von den Städtebauern und Stadtplanern ins Blickfeld genommenen Themen (etwa bei Reichow 1959). Die postulierten Bedürfnisse des Verkehrs waren vielen Städtebauern ein willkommener Grund für die Aufrechterhaltung des Auflockerungsgedankens und als Argument für eine planerische Reduzierung der Einwohnerdichte (und der Bebauungsdichte). Die sozialen, hygienischen und gesundheitspflegerischen Argumente für die ›aufgelockerte Stadt‹ traten langsam in den Hintergrund, abgelöst wurden sie durch die Forderung nach der Funktionsfähigkeit des fließenden und ruhenden Verkehrs. Der propagierte städtebauliche Output blieb dabei der gleiche: Erreicht werden sollten die Ziele weiterhin mit der Reduzierung der ›baulichen Dichte‹. Bereits in der Hamburger Schrift zur Einführung der 17 Die GFZ-Obergrenze von 1,0, die im Mittelpunkt der nachfolgenden Debatte über die Dichtebegrenzungen der BauNVO steht, bezieht sich auf ›allgemeine Wohngebiete‹. Für die zentralen ›Kerngebiete‹ der Städte wurde durch die BauNVO eine Obergrenze von GFZ 2,0 festgelegt.
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GFZ wird ausgeführt, dass das Auto »den vielfachen Platzbedarf des einzelnen Menschen auf derselben zur Verfügung stehenden Fläche« beanspruche (Freie und Hansestadt Hamburg 1960, 56). Die Relation von »Bebauungsdichte und Verkehrsmenge« habe sich gewandelt, das Verkehrsvolumen wachse aufgrund der Rationalisierung der Wirtschaftsprozesse überproportional zur Bebauungsdichte. Daher werden Richtlinien vorgeschlagen, mit denen »die städtische Verkehrsnot in wesentlichen Punkten von der Wurzel her« angepackt werden könnte. Die zentralen Gebiete der Städte müssten »im allgemeinen wesentlich aufgelockert werden«, da die »zu dicht bebauten Geschäftsviertel« bei »zunehmender Ballung des Verkehrs« nicht mehr voll funktionstüchtig seien. Eine Folge davon sei das »Absinken der Grundstückswerte«. Auf Dauer könne es nur erfolgsversprechend sein, die »Nutzung der Grundstücke herabzusetzen« (ebd. 11).18 Der städtebauliche Diskurs der 1960er Jahre findet jedoch keineswegs nur einspurig auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet statt – im Gegenteil scheint es in dieser Phase nicht nur eine thematische Auffächerung zu geben, sondern auch das Meinungsspektrum wird enorm erweitert. Einer der ersten expliziten Kritiker des traditionellen Dichtegebrauchs im Städtebau ist dabei Gerhard Boeddinghaus (*1931).19 Boeddinghaus weist darauf hin, dass bei abnehmender ›Dichte‹ mehr Verkehr erzeugt werde und besonders die Wirtschaftlichkeit des öffentlichen Nahverkehrs unter einer geringeren Bevölkerungsdichte leide (Boeddinghaus 1965, 574). Auch die Wirtschaftlichkeitsaspekte des Wohnungsbaus seien differenziert zu betrachten: Würde man bei einer verdichteten Bauweise etwa die Unterbringung des ruhenden Verkehrs in Tiefgaragen anstreben (und genau das sollte man tun), würden diese »bei höherer Dichte erst wirtschaftlich werden«.20 In seiner Dissertation aus dem Jahre 1969 mit dem Titel Die Bestimmung des Maßes der baulichen Nutzung in der städtebaulichen Planung untermauert Boeddinghaus seinen Widerspruch und führt aus, dass die Zahl der Verkehrsbewe18 Im Dichtediskurs der 1960er Jahre wird diese Argumentation weiter ausgebaut. Die »Unterbringung des ruhenden Verkehrs« würde gegen eine Erhöhung der Dichteobergrenzen der BauNVO sprechen (Brandt 1965a, 343f.), höhere Maße der baulichen Nutzung würden die Schaffung der Kraftfahrzeugabstellplätze unmöglich machen oder mit »wirtschaftlich untragbaren« Kosten belasten (Bielenberg 1964, 83). 19 Boeddinghaus studierte Architektur in München und Berlin, promovierte 1969 in Aachen und arbeitete in verschiedenen städtischen Verwaltungen. Boeddinghaus ist Herausgebers des aktuellen Kommentars zur Baunutzungsverordnung und veröffentlicht seit den 1960er Jahren zum Thema der ›baulichen Dichte‹. 20 Genauso verhielte es sich auch bei Aufzügen in mehrgeschossigen Gebäuden (ebd.).
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gungen sich durch den Planer kaum beeinflussen lasse. Die Stadtplanung könne und solle jedoch durch die Verteilung und Zonierung der verschiedenen Nutzungen und durch die Bestimmung der »Siedlungsdichte bzw. der Bebauungsdichte« auf die Länge der jeweils zurückzulegenden Wege wirken. Eine höhere Siedlungsdichte ergäbe eine Verkürzung der Wege (Boeddinghaus 1969, 105). Boeddinghaus plädiert für eine »konzentrierte Stadt«, in der die »teuren Grünflächen«, welche die Gebäudeabstände moderner Siedlungen ausfüllten, zwar vermutlich fortfallen müssten, dafür sei jedoch die »freie Landschaft« aus der »konzentrierten Stadt« heraus leichter zu erreichen (Boeddinghaus 1965, 574).21 Der in der städtebaulichen Debatte aufgestellte »ursächliche Zusammenhang zwischen hoher Bebauungsdichte und städtebaulichen Mißständen«, so resümiert Boeddinghaus in seiner Dichteanalyse, sei »irreführend«, tatsächlich seien die »Wirkungen einer hohen Bebauungsdichte viel zu komplex«, als dass eine »einfache Überprüfung zur Klärung der Ursachen von städtebaulichen Mißständen und der Wirkung einer hohen Bebauungsdichte« ausreiche (ebd. 103). Boeddinghaus stellt die Frage, ob eine bundeseinheitliche Dichtebegrenzung für die städtebauliche Planung notwendig und sinnvoll sei (ebd. 71) und kommt zu dem Ergebnis, dass die Festsetzung einer solchen Obergrenze den »Erfordernissen einer differenzierten Planung kaum gerecht werde« (ebd. 116f.). Auf der anderen Seite könne jedoch nicht bestritten werden, dass bei einer höheren Bebauungsdichte »bestimmte Mängel eher auftreten können als bei einer geringeren Bebauungsdichte«, und zwar vor allem hinsichtlich der Belichtung und Belüftung. Eine Dichtebegrenzung erscheine daher nicht von vornherein und in jedem Falle widersinnig. Boeddinghaus plädiert für eine »Auflockerung der Dichtebegrenzung« (ebd. 145). Weiterhin sei zu empfehlen, die bauliche Ausnutzung wieder auf der Ebene der Bauordnungen zu regeln, da dort »weit besser für geordnete städtebauliche Verhältnisse« gesorgt werden könne, als mit einer »globalen Dichtebegrenzung« im Rahmen der BauNVO (ebd. 124). Neben Boeddinghaus ist mit Gerd Albers (*1919)22 ein weiterer Städtebautheoretiker im Dichtediskurs vertreten, der bis heute als eine Koryphäe
21 Die Erholung auf den Freiflächen der Baugrundstücke, so wendet sich Boeddinghaus gegen die Argumentation aus dem Lager der Eigenheimbefürworter, würde zwar für einen Teil der Bevölkerung – insbesondere für »Gartenliebhaber« – ihre Bedeutung behalten, aus diesen partikularen Bedürfnissen könne jedoch »kein allgemeiner Anspruch abgeleitet werden, der mit den Mitteln des gesetzlichen Zwangs durchgesetzt werden müßte« (Boeddinghaus 1969, 113). 22 Albers ist emeritierter Professor für Städtebau, Orts- und Landesplanung an der Technischen Hochschule München und veröffentlichte zahlreiche Schriften zu
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auf diesem Gebiet angesehen wird. Albers formuliert, dass ›Dichte‹ ein »wichtiges, wenn nicht gar das entscheidende Kriterium für die qualitative Beurteilung von Planungsräumen« sei, mit dem versucht werde, den »›städtebaulichen Gesundheitszustand‹ zu charakterisieren« (Albers 1964, 44f.). Auch Albers unterscheidet in Einwohnerdichte und Bebauungsdichte: Die Einwohnerdichte würde zwar einen »recht guten Maßstab« zur Beurteilung eines bestehenden Baugebietes abgeben, als »baurechtliches Kriterium« sei sie jedoch schwer zu fassen. Die Bebauungsdichte (in Gestalt der GFZ) ließe sich dagegen lückenlos kontrollieren und biete sich daher als baurechtlicher Maßstab geradezu an. Auf der anderen Seite bezeichnet Albers jedoch gerade die »Nichtberücksichtigung der tatsächlichen Bewohnerzahlen« als die »eigentliche Schwäche« der Geschossflächenzahl (ebd.). Albers führt aus, dass das Problem der GFZ darin läge, dass der durchschnittliche Flächenanteil pro Person keine Berücksichtigung findet.23 Das habe zur Folge, dass die starre Norm einer GFZ-Obergrenze nicht auf die durch die gesellschaftliche Entwicklung bedingte (und auch in den 1960er Jahren beobachtbare) kontinuierliche Erhöhung des mittleren ›Flächenverbrauchs‹ pro Person reagiere.24 Albers wirft damit einen durchaus kritischen Blick auf den in der BauNVO exerzierten Dichtegebrauch. Zu den »zentralen Aufgaben unserer Zeit«, so schreibt Albers, gehöre die Erarbeitung von Entscheidungen den Themen Stadtplanung und Städtebau, mehrfach auch explizit zum Thema ›Dichte‹ (vgl. Albers 1970; 1968; 1964). 23 Albers erläutert, dass das Bindeglied zwischen beiden Dichten der mittlere Wohnflächenanteil pro Einwohner ist. Möchte man etwa von einem Quartier mit der GFZ 1,0 auf die dortige Einwohnerdichte rückschließen, ist die Annahme eines mittleren Wohnflächenanteils pro Einwohner erforderlich, um zu einem Ergebnis zu kommen. Albers berichtet, dass genau dieser Ansatz zu der Obergrenze der BauNVO für Wohngebiete (GFZ 1,0) geführt habe: Als »vertretbares Höchstmaß« habe in der städtebaulichen Diskussion der 1950er Jahre eine Einwohnerdichte von 500 EW/ha gegolten, die statistisch einer Person an Wohnraum zur Verfügung stehende Wohnfläche wurde mit 20 m²/EW angegeben. Zusammengenommen ergaben diese Werte dann exakt eine GFZ von 1,0 (500 EW x 20 m² = 10.000 m²; 10.000 m²/1 ha = GFZ 1,0). 24 Eine GFZ von 1,0 ergibt jedoch eine ganz andere Einwohnerdichte, ob man einen Wohnanteil von 20 m²/EW, von 35 m²/EW (wie Albers ihn im Jahre 1964 als künftig zu erwartenden Wert angibt) oder gar den heutigen Durchschnittswert von über 41 m²/EW zugrundelegt. Aber um genau diese Einwohnerdichte geht es ja bei dem Ansatz, die GFZ in der Bauleitplanung zu begrenzen. Der Status quo – die Aufrechterhaltung der GFZ-Obergrenze – führt daher automatisch dazu, dass bei einer Erhöhung des ›Wohnflächenverbrauchs‹ die (mit der GFZ) angestrebte Einwohnerdichte kontinuierlich sinkt.
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über die zukünftige Siedlungsstruktur, die »letzten Endes auf Wertvorstellungen gegründet sein müssen« und die mit einem »sehr viel größeren Maß an Überblick und gutem Gewissen« getroffen werden könnten, wenn »wir ein wenig mehr über die Zusammenhänge und Wechselwirkungen von Mensch und Raum, von Dichte und Siedlungsstruktur wüßten« (Albers 1968, 197). Dieses Eingeständnis führt bei Albers jedoch keineswegs zu einer Ablehnung des in der BauNVO eingeführten Gebrauchs des Konstrukts ›Dichte‹ als planungsrechtliches Instrument. Albers postuliert, dass er seinen Beitrag explizit nicht als Plädoyer für eine »grundsätzliche Änderung« der BauNVO verstanden wissen möchte (Albers 1964, 44) und dass die Regelungen der BauNVO zur Bebauungsdichte »der richtige Weg« seien (ebd. 47). Albers stellt seine inhaltlichen Bedenken zur Dichteverwendung damit bewusst zurück, um einer generellen Überprüfung der Wirkungszusammenhänge des BauNVO-Regelwerkes zu vermeiden. Diese Haltung ist wohl vor allem vor dem Hintergrund der langen und schwierigen Diskussion über ein einheitliches Bau- und Planungsrecht in den 1950er Jahren zu erklären: Das beschlossene komplexe Regelwerk stellte aus der Sicht des Städtebauers eine große Errungenschaft für die Festigung der kommunalen Stadtplanung und für die Einflussmöglichkeiten derselben auf die (vorrangig durch private Akteure vollzogene) Stadtentwicklung dar, sie war ein unbedingt zu verteidigendes Erreichtes im unhinterfragten Begehren nach größerer Einflussnahme des Städtebaus. Albers formuliert, dass zwischen ›Dichte‹ und Wohnqualität keine »unmittelbare Relation« bestehe und dass eine gesetzliche Dichteobergrenze »natürlich keine Qualität« garantiere (ebd. 192). Aber – sie mache »diese auch keineswegs unmöglich«. Die GFZ-Obergrenze von 1,0 habe den »großen Vorteil«, dass »auch bei schlechter Planung« unterhalb dieser Schwelle nicht mehr sehr viel Schlechtes passieren könne, und damit erfülle sie den »Zweck einer Rechtsvorschrift« (ebd.). Damit stellt Albers die Weichen für die in der planungsrechtlichen Betrachtungsweise bis heute bestimmende (aber kaum mehr debattierte) Einschätzung der Dichteregelung der Baunutzungsverordnung: Ohne direkte positive Wirkung, aber als Rechtsinstrument unersetzlich. Jenseits der Frage, ob eine Regelung nun im Detail den angestrebten Zielen entsprach oder nicht, wird daher das Instrumentarium selbst zu einem unbedingt zu verteidigenden Gut.25 Eine weitere und für den städtebaulichen Kontext eher ungewöhnliche Position im Dichtediskurs der 1960er Jahre findet sich in der Dissertation Dichtewerte und Freiflächenzahl im Städtebau von Irene Gerberding-Wiese 25 Auf diese Perspektive wird bei der Betrachtung der aktuellen Diskussion zur BauNVO noch einmal zurückgekommen (vgl. Kapitel 7.3).
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(*1935).26 Der Begriff ›dicht‹, so schreibt Gerberding-Wiese, existiere nicht aus sich selbst heraus, sondern konstituiere sich aus dem »aufeinander Bezogensein bestimmter Einheiten« (Gerberding-Wiese 1968, 1f.). Im übertragenen Gebrauch werde der Begriff ›dicht‹ zur Metapher, beladen mit Bedeutungen und transparent für »dahinter stehende Wertvorstellungen«. Der Begriff trete damit in eine »andere Verständigungsebene der Sprache« ein, durch Übertragung entstehe die »geistige Schicht der Sprache«, die ihre Begriffe immer wieder aus der unteren, konkreten Ebene des Wortes rekrutiere. Somit werde aus dem quantitativen Begriff ein qualitativer, er wandle sich »aus der konkreten Bezeichnung zum abstrakten Zeichen« (ebd.). Für das Gebiet des Städtebaus, so führt Gerberding-Wiese weiter aus, seien Dichteangaben in den meisten Fällen Quantitätsangaben, der Umschlag zur Qualität sei dabei eine Frage des »gesellschaftspolitischen Leitbildes«. Im Städtebau erfasse der Begriff ›Dichte‹ das Verhältnis von Größen, mit dessen Hilfe »bestimmte Zustände und Ziele interpretiert oder begrenzt« werden könnten (ebd. 10). Gerberding-Wiese verweist auf die (für eine qualitative Aussage notwendige) Aufladung der ›Dichte‹ mit gesellschaftlichen Normvorstellungen, aber auch auf deren stetigen Rückbezug auf die sprachliche Ebene. Gerberding-Wiese verfolgt allerdings auch ein konzeptionelles – ein planerisches – Ziel und verlässt daher recht bald wieder die zu Beginn bezogene abstraktere Betrachtungsebene. Gerberding-Wiese möchte mit ihrer Arbeit den sogenannten ›Freiflächenwert‹ in der städtebaulichen Debatte lancieren, den sie als Verhältnis von Freifläche eines Grundstücks zur dortigen Geschossfläche definiert. Gerberding-Wiese schlägt vor, solche Freiflächenindices an die Einwohner zu koppeln. Die Idee ist, einen durchschnittlichen Mindestanspruch an Freifläche pro Einwohner zu bestimmen, der dann in Bebauungsplänen festgesetzt werden könnte. Ein solcher Freiflächenwert hat aus der Sicht Gerberding-Wieses vor allem den Vorteil (gegenüber der GFZ), dass er mit der tatsächlichen Einwohnerentwicklung korrespondiert. Interessant ist bei dem Ansatz des Freiflächenwertes, dass er nicht wie die GFZ als Obergrenze, sondern als Mindestwert konstruiert ist. GerberdingWiese versucht, die herausgearbeiteten strukturellen Widersprüche des Dichtebegriffes durch die Inszenierung des ›Freiflächenwertes‹ als ›wertfreies‹ Instrument aufzulösen. Die Dichte, so schreibt Gerberding-Wiese, sei ein »Messbegriff«, der »mittelbar zu einem Leitbegriff« werde. Zugleich sei 26 Gerberding-Wiese (später Wiese von Ofen) studierte Architektur in Aachen, promovierte dort im Jahre 1968 und lehrte danach an der TU Stuttgart und der Universität Essen. Wiese von Ofen war bis 1998 Beigeordnete der Stadt Essen und ist Vorsitzende des Verbandsrates des Deutschen Verbandes für Städtebau, Wohnungswesen und Raumordnung.
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hier »der Punkt, an dem die Willkür von Interpretationen« einsetzen könne und deshalb »eingeschränkt werden müsse« (ebd. 13). Gerade die Dichtewerte seien geeignet, »außerhalb formaler und emotioneller Bereiche vergleichbare Fakten zu schaffen«, die wiederum »wertungsfreie Kriterien« für den Städtebau ergeben könnten (ebd. 33), und der Freiflächenwert sei solch ein gegen die interpretative Willkür gerichteter neutraler Dichtewert. Gerberding-Wieses Arbeit führt direkt zum Thema ›Städtebauliche Orientierungswerte‹, bei dem – neben der explizit planungsrechtlich ausgerichteten Debatte – in den 1960er Jahren ein zweiter Bereich entstand, in dem das Konstrukt ›Dichte‹ eine wichtige Rolle spielte. In Tradition des insbesondere von Gottfried Feder geprägten Ansatzes, für alle denkbaren städtebaulichen Tätigkeitsfelder Richt- und Orientierungswerte zu sammeln und zu propagieren, wurde in der städtebaulichen Grundlagentheorie nach 1945 zunehmend auf Dichtewerte zurückgegriffen. Begründung und Ausführung dieses Vorgehens lassen sich in einem Beitrag von Konstanty Gutschow (1902-1978)27 zeigen, der an der Weiterentwicklung von Feders Ansatz arbeitete und die unterschiedlichen Dichtebegriffe zu systematisieren suchte. Die Dichte, so schreibt Gutschow, sei das »dem Stadtplaner in besonderer Weise eigentümliche Maß« (Gutschow 1958, 1001) und die »Beeinflussung der Wohndichte über die Bebauungsdichte« ein Hauptanliegen »aller stadtplanerischen Arbeit«. Als »Folgeerscheinungen überspitzter Bebauungsdichte«, so rekapituliert Gutschow zunächst den alt bekannten Dichtediskurs, seien »Tuberkulose, soziale Verwahrlosung, Kriminalität, Verkehrschaos« bekannt, andere Folgeerscheinungen seien dagegen noch unerforscht (ebd.). Neu bei Gutschow ist die Ausdifferenzierung der verschiedenen Dichtebegriffe in als Orientierungswerte zu gebrauchende Kategorien. Mit solchen Orientierungswerten erfolgte – ähnlich wie in der Raumplanung (vgl. Kapitel 5.3) – eine Rationalisierung der Planersprache, die vermeintlich objektivierbaren Zahlen waren das statistische Material, mit dem nachprüfbare Begründungen und quantifizierbare Prognosen für die städtische Entwicklung hergestellt werden sollten. Gutschow listet dabei die Begriffe Bevölkerungsdichte, Besiedlungsdichte, Wohndichte, Netto-Wohndichte, 27 Gutschow studierte Architektur in Danzig und Stuttgart. Im NS-Staat profilierte sich Gutschow und wurde 1941 zum ›Architekt für die Neugestaltung der Hansestadt Hamburg‹ und 1943 zum Leiter des ›Arbeitsstabes für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte‹ ernannt. Nach 1945 wird Gutschow von der britischen Militärregierung verboten, für öffentliche Auftraggeber tätig zu werden. Dennoch arbeitet Gutschow bald wieder in seinem Fach, etwa bei der Hannoveraner und Düsseldorfer Wiederaufbauplanung. 1964 erhält Gutschow von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen einen Professorentitel verliehen. (Durth/Gutschow 1988).
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Brutto-Wohndichte, Wohnungsdichte, Wohnraumdichte, Geschossflächendichte, Baumassendichte, Wohnungsbelegungsziffer sowie Behausungsziffer. Auch dieser Ansatz wurde im städtebaulichen Diskurs jedoch von Anfang an hinterfragt und debattiert. So bezieht sich etwa Klaus Borchard (*1938)28 auf die »große Anzahl von Dichtewerten«, in denen »bestimmte sozioökonomische Tatbestände in Beziehung zu der jeweiligen Fläche ihrer Verbreiterung« gesetzt werden. ›Richtwerte‹ seien von ›Orientierungswerten‹ dadurch zu unterscheiden, dass die von ihnen transportierten Werte »allgemein akzeptiert« würden und sie durch eine »gesetzliche Verankerung« einen »normativen Charakter« erhalten hätten (Borchard 1969, 267f. und 1970, 3181f.). Insgesamt würde jede Angabe von Richt- und Orientierungswerten immer auch eine Antwort auf die Frage nach den gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnissen implizieren. Die »Akzeptierung von Faustzahlen als anerkannter Norm« führe in der städtebaulichen Praxis jedoch häufig dazu, dass die Planer den »Bereich der eigenen Verantwortung« einengten.29 Die »rechtlich fixierten oder anderweitig akzeptierten Richtwerte« beruhten zwar immer auf einem »weitgehenden Konsensus über bestimmte Wertvorstellungen«, allerdings dürfte häufig die »Ausgangslage des analysierten Problems« schon nach kurzer Zeit kaum mehr nachweisbar sein. Auch bezüglich der Festlegungen der BauNVO habe es einen »Konsensus für eine Dichtebegrenzung« gegeben, mit der die Mindestanforderungen an die Qualität der Wohnumgebung gesichert werden sollten; heute ließen »raum- und strukturökonomische Gesichtspunkte« jedoch vielfach höhere Dichten »geradezu als wünschenswert« erscheinen. Die Voraussetzungen für die meisten Orientierungs- und Richtwerte – insbesondere Lebensgewohnheiten und Lebensstandard – seien mehr oder minder flexibel und könnten sich mitunter so schnell wandeln, dass sie sich in »allgemeinen Bedarfswerten« nur höchst unvollkommen und allenfalls als Gegenwartsaufnahme erfassen lassen würden. Borchard stellt daher die Frage, ob von der Verwendung solcher Werte generell abgesehen werden sollte, kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass es eine Anzahl von allgemeinen Grundsätzen
28 Borchard studierte Architektur und Städtebau an der TU München und war Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Städtebau und Wohnungswesen München der DASL. 1974 folgte die Promotion in München. Borchard wurde zum Ordinarius für Städtebau und Siedlungswesen an der Universität Bonn berufen, wo er später zum Rektor gewählt wurde. Seit 2003 ist Borchard Vizepräsident der ›Akademie für Raumforschung und Landesplanung‹ (ARL). 29 Der »amtliche Charakter der Publikation derartiger Werte« würde diese Bereitschaft noch fördern (ebd.).
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gebe, die sich zu mehr oder weniger weit gefassten generellen Anhaltswerten »verdichten lassen« würden (ebd.). Einen weiteren Beitrag zur Debatte über städtebauliche Orientierungsund Richtwerte liefert Herbert Hübner (*1934),30 der davor warnt, dass das »gesamte Spektrum der Vorschriften« als gegeben und als unveränderbar betrachtet und darauf verzichtet werde, »nach ihren Ursachen und ihrer Legitimität, vor allem aber nach ihren gesellschaftlichen Folgen zu fragen« (Hübner 1969, 270f.). Die »Quasi-Objektivität« der Richtwerte, so Hübner weiter, ebne den Unterschied zwischen technisch legitimierten Normen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten ein und verdecke daher die Frage, ob sie als »quantifizierte Ableitungen« technische Erfordernisse widerspiegelten oder ob sie durch die »wirtschaftlichen Interessen der am Bauprozeß beteiligten Gruppen« bedingt seien. Erst recht aber bleibe die Frage unberücksichtigt, »inwieweit bei der Anwendung der Richtwerte den Bedürfnissen derer entsprochen wird, die sich letzten Endes mit den Ergebnissen von Planungsprozessen arrangieren müssen, weil sie mit ihnen leben müssen.« Weiterhin bestehe die Gefahr, dass die Richtwerte zu »Manipulationsinstrumenten« würden, deren »Reproduktion« durch Architekten und Planer im konkreten Fall gewährleistet werde. Hübner bezieht sich bei seiner Kritik »in besonderem Maße« auf die »Anwendung der Geschoßflächenzahl«, die in doppeltem Sinne wertbedingt sei, nämlich weil sie erstens die Interessen aller am Wohnungsbau beteiligten Gruppen betreffe und zweitens auf die Qualität des städtischen Wohnens wirke (ebd.). Hübner diskutiert auch die Forderungen nach höherer Dichte. Die »Einsicht«, dass zu geringe ›Dichte‹ ›Urbanität‹ verhindere, habe zu dem »Kurzschluß« geführt, eine »Erhöhung der Dichte« werde allein ausreichen, »um das Merkmal des ›Städtischen‹ zu gewährleisten«. Die das Baugeschehen monopolisierenden Wohnungsbauunternehmen hätten inzwischen »längst auf Hochhausbau und größere Dichten umgestellt« und zwar deshalb, weil die »höhere Dichte eine höhere Rendite« ergebe, von der Unternehmen als Bauherren profitierten. Das Hauptinteresse am heutigen Städtebau sei der Profit, dem die Bedürfnisse der Bewohner untergeordnet würden. In »Verkennung der Tatsache«, dass sich »hinter den Richtwerten Produktivitätszahlen verbergen«, stabilisierten Architekten und Planer diesen Sachverhalt, indem sie die Richtwerte unkritisch als rein technische Zahlen interpretierten. Daher sei es eine dringende Aufgabe, die gesellschaftlichen Konsequenzen von Wohndichtemaßen
30 Hübner studierte Soziologie, Geschichte, Kunstgeschichte und Stadtplanung in Deutschland, Frankreich und in den USA. Hübner lehrte an der TU Berlin, der TU Hannover, am Institut für Wohnen und Umwelt in Darmstadt sowie an der Universität Duisburg.
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transparent zu machen und die »Verflechtung von gesellschaftlichnormativen und technischen Aspekten der Richtwerte« aufzuzeigen (ebd.). Zusammenfassend (und bevor im nächsten Kapitel die Betrachtungsebene noch einmal erweitert wird) lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass in den 1960er Jahren überhaupt eine Auseinandersetzung mit der Baunutzungsverordnung und deren Dichtedefinition und –begrenzung geführt worden ist, und zwar in Form einer höchst umfangreichen und komplexen Diskussion. Einerseits wurde in dieser Phase also das Konstrukt ›Dichte‹ durch die BauNVO zum einheitlichen Planungsrecht bestimmt und tief in den institutionellen Grundfesten der Stadtplanung verankert. Andererseits wurde das Konstrukt ›Dichte‹ in der Debatte über diesen Gebrauch jedoch auch Zielpunkt einer vielschichtigen und vielstimmigen Kritik. Das Konzept der ›aufgelockerten und gegliederten Stadt‹ büßte im städtebaulichen Diskurs (und auch als Ergebnis der Debatte über die ›Dichte‹) an Deutungshoheit ein, die klassische Beweisführung, dass ›hohe Dichte‹ in den Städten zwangsläufig zu hygienischen und sittlichen Missständen führe, verlor deutlich an Überzeugungskraft. Im Rahmen dieser Diskussion wurde als Antithese zur ›Auflockerung‹ der Stadt ein Zielbild entworfen, welches durch Bezeichnungen wie ›konzentrierte Stadt‹ und ›kompakte Stadt‹ seinen begrifflichen Ausdruck fand. Die Grundzüge dieses Bildes waren bereits in den 1930er Jahren (vgl. S. 255f.) gezeichnet worden, mit 30 Jahren Verspätung begann sich der dort nur in Ansätzen erkennbare Perspektivwechsel jedoch im städtebaulichen Denken zu verfestigen. Erstmals wurde damit im städtebaulichen Diskurs für eine hohe Einwohner- und Bebauungsdichte plädiert, die Wertung der ›Dichte‹ also um 180 Grad gedreht: Eine ›hohe Dichte‹ wurde nun tendenziell als etwas Erstrebenswertes angesehen und dem Ideal der ›Stadt der kurzen Wege‹ (vgl. Kapitel 7.3) der Boden bereitet. In dieser kritischen Debatte wurde der traditionelle städtebauliche Dichtediskurs zwar kritisiert und die negative Moralisierung des Konstrukts auf den Kopf gestellt, die städtebauliche Grundessenz ›Dichte‹ (als kausaler räumlicher Faktor) ist dabei allerdings nicht prinzipiell hinterfragt worden, sondern wurde bei der Kritik am realen Städtebau übernommen und (damit reproduziert). Auch bei der Etablierung der Dichtekategorien als städtebauliche Orientierungswerte zeigt sich der Glauben an die Objektivierbarkeit von Stadtentwicklung durch den Einsatz von mathematisch fundierten Zahlen. Das Konstrukt ›Dichte‹ – als ›naturwissenschaftlicher‹ Faktor konstruiert – spielte eine wichtige Rolle beim Versuch, den ideologischen emotionalen städtebaulichen Ballast aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu entsorgen und wurde zum zentralen Element des sich nun rational gebenden Städtebaus. Zum anderen zeigt sich bei der Verwendung des Konstrukts ›Dichte‹ als Bestandteil städtebaulicher Richt- und Orientierungswerte aber auch eine
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Sozialdemokratisierung der Planung. Der Einsatz ›objektiver Dichtewerte‹ war auch ein Versuch, Gerechtigkeit herzustellen und mit städtebaulichen Mitteln gleiche Lebensbedingungen zu schaffen. In dieser Hinsicht wurde an das Dichteverständnis im sozialreformerischen Städtebaudiskurs Anfang des 19. Jahrhunderts angeknüpft (allerdings auch das dort geprägte Verständnis von ›Dichte‹ als Ursache von sozialen Bedingungen reimportiert). Eine solche Strategie impliziert – im Vergleich mit den klassischen Dichtewerten – eine weitere Änderung: den Wechsel des Adressaten. Während der klassische instrumentelle städtebauliche Dichtegebrauch das Grundstück und den (privaten) Grundstückseigentümer im Fokus hat, konnte über den Gebrauch von Mindestwerten hinsichtlich kommunaler respektive staatlicher Leistungen eine politische Forderung nach ebendiesen geknüpft werden. Bei der Betrachtung der Geschichte der Dichteverwendung im Städtebau bleiben solche Potenziale jedoch eine (notwendige) Randnotiz, weil die klassischen Dichtewerte (die Einwohnerdichte, die ›bauliche Dichte‹) gerade nicht in diesem Sinne verwendet wurden. Der Seitenblick zeigt aber sehr wohl, dass es auch anders gehen könnte, dass es also nicht der Behälter selbst ist, der Inhalte produziert, sonder die Art und Weise seiner Verwendung.
7.2 ›U RBANITÄT
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Auf der Eröffnungsrede zur 11. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages hält der Volkswirtschaftler Edgar Salin vor der versammelten deutschen Städtebauprominenz einen Vortrag über den Begriff der ›Urbanität‹. Salins Rede gilt als Ausgangspunkt für eine neue Einbeziehung des »sozialen Elements« (Hohenadl 1977) in die städtebauliche Debatte, Begriffe wie ›Urbanität‹, ›Kommunikation‹ und ›soziales Handeln‹ werden in dieser Zeit zu wichtigen Inhalten des Fachdiskurses. Auch in der originären städtebaulichen Debatte finden soziologische Positionen nun Berücksichtigung, im Städtebau wurde der »Ruf nach Stadtatmosphäre« laut (Fahrenholtz 1963, 70). Im Jahre 1963 wurde in Aachen – der Theoriehochburg des städtebaulichen Dichtediskurses der 1960er Jahre (vgl. S. 289f.) – ein Kongress mit dem Titel Gesellschaft durch Dichte durchgeführt. Der Titel der Tagung, in dem (vermutlich unbewusst) der soziologische Ansatz von Emile Durkheims Frühwerk auf den Punkt gebracht ist (vgl. Kapitel 1.1),1 war als eine Provokation gedacht (Boeddinghaus 1995, 9). Wenn der Begriff ›Dichte‹ in den dortigen Beiträgen explizit erwähnt wird (was eher selten geschieht), 1
Zumindest findet sich in den Beiträgen keinerlei Bezug auf Durkheim.
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dann mit dem Hinweis, dass ›Gesellschaft durch Dichte‹ kein ernsthaftes Ziel des Städtebaus abgeben könne (vgl. Kühn 1963, 21 und Günschel 1963, 41).2 Dennoch wird sich nun im expliziten städtebaulichen Dichtediskurs vermehrt auf soziologische Themen bezogen. In den neuen Wohngebieten, so lautet ein solches Argument, könne sich wegen der »zu lockeren Bebauung« kein Kontakt zwischen den Bewohnern bilden – »gute Wohnquartiere« müssten »eine gewisse Dichte« aufweisen, wenn sie nicht zu reinen Schlafstätten werden sollten (Brandt 1965a, 343). Es sei zwar ungewiss, ob mit einer höheren Bebauungsdichte wirklich die »Kontaktfreudigkeit der Bevölkerung gesteigert werden könne«, aber das zu erreichen wäre auch gar nicht Zweck des Städtebaus – sehr wohl solle jedoch versucht werden Räume zu schaffen, die eine Kontaktaufnahme ermöglichen (Boeddinghaus 1965, 574). Auch in den eher konservativ ausgerichteten Reihen wird jetzt auf solche Positionen eingegangen. Roland Rainer (Co-Autor der Zweitausgabe der ›aufgelockerten und gegliederten Stadt‹ von 1957) schreibt, dass eine Verdichtung in manchen Fällen auch »größere menschliche Nähe« und damit »bessere Kommunikationsmöglichkeiten« bedeuten könne, auch wenn daraus nicht die Forderung nach einer Erhöhung der GFZ-Obergrenze abgeleitet werden könnte (Rainer 1968, 13). In einer Veröffentlichung der Wohnungsbaugesellschaft Neue Heimat wird schließlich formuliert, dass die »Dichte der Funktionen« auf den Gebieten der Wirtschaft, Erziehung und Kultur für eine Großstadt die »Grundlage ihrer Urbanität« seien (Feicht 1969). Auch dieser Fokus auf die Einbeziehung von soziologischen Inhalten in die städtebauliche Debatte spielt eine entscheidende Rolle für die Verwendung, die Bewertung und die Konstruktion von ›Dichte‹ im städtebaulichen Kontext. Aus diesem Grunde wird hier – neben die im vorigen Kapitel skizzierte eng an der Einführung der Baunutzungsverordnung orientierten explizit städtebauliche Diskussion – ein zweiter Diskus gestellt, und zwar die in den 1960er und 1970er Jahren besonders von SoziologInnen und sozialen AktivistInnen geführte Grundsatzdebatte über Städtebau und Stadtentwicklung und deren soziologischen Implikationen. Untersucht wird dabei 2
Zudem wurde die Tagung in der fachlichen Debatte nur sehr am Rande wahrgenommen (Boeddinghaus 1995, 9). In den Beiträgen der Dichtediskussion der 1960er und 1970er Jahre findet sich daher auch kaum ein Hinweis auf die Aachener Veranstaltung. Lediglich Gerd Albers bezieht sich in einem seiner Dichtebeiträge auf die Tagung und erklärt darin, dass die »simplifizierende Gegenparole« ›Gesellschaft durch Dichte‹ sicherlich keine »ernsthafte These« gewesen sein könne (Albers 1968, 185). Eine größere Bekanntheit hat die Tagung erst durch die von Gerhard Boeddinghaus herausgegebene Zusammenstellung der Tagungsbeiträge im Jahre 1995 erlangt.
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auch, wann, wie und warum die in der heutigen Rückbetrachtung auf diese städtebauliche Phase regelmäßig gebrauchte Bezeichnung ›Urbanität durch Dichte‹ in die Debatte eingeführt worden ist, was wiederum eine überraschende Erkenntnis zum Ergebnis hat. Edgar Salin (1892-1974)3 nimmt in seinem Grundsatzreferat Bezug auf die historischen Entstehungslinien des Begriffs ›Urbanität‹ in der Antike. In Athen (und im alten Rom) sei ›Urbanität‹ als stadtbürgerliches Ideal definiert gewesen, als eine sich nur in einem speziellen städtischen Umfeld herausbildende Geisteshaltung der Offenheit, Toleranz und Humanität (Salin 1960, 14f.), mit der die Bildung des Städters an »Leib und Seele« sowie die Mitwirkung der Menschen am ›Poliswesen‹ zum Ausdruck gebracht wurde. Im europäischen Feudalismus, so führt Salin weiter aus, habe dagegen der Einzelne kaum mehr Teil am städtischen Geschehen genommen und daher sei in dieser historischen Phase der Begriff praktisch komplett von der Gebrauchsfläche verschwunden. Erst nach der französischen Revolution könne vor allem in Paris eine wieder erstarkende ›Urbanität‹ festgestellt werden, für die insbesondere die Herausbildung des Humanismus und die »fruchtbare Mischung der Kulturen« verantwortlich gewesen sei. In Deutschland habe sich die ›Urbanität‹ dagegen deutlich weniger ausprägen können, Mitte des 19. Jahrhunderts sei in einigen deutschen Städten jedoch zumindest so etwas wie eine »Atmosphäre der Urbanität« entstanden. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, so Salin weiter, seien »alle guten Ansätze« erstickt worden, der »Sieg des Ungeistes« habe bewusst und erfolgreich die »Urbanität von den Wurzeln her vernichtet« (ebd. 22f.). Da die deutsche Vergangenheit noch »völlig unbewältigt« hinter den Deutschen liege, so spricht Salin im Jahre 1960 vor dem deutschen Städtetag, sei dieser überaus folgenschwere Tatbestand in seiner »geschichtlichen Endgültigkeit« noch kaum wahrgenommen worden. Sein Verständnis sei jedoch von ganz entscheidender Bedeutung für die richtige Würdigung der Aufgaben, der Möglichkeiten und der Grenzen heutiger Stadtpolitik. Salin bezeichnet das Jahr 1933 als »das Ende der deutschen Urbanität«, die »Verbrecher« hätten »für Zeit und Ewigkeit« die »humanistische Humanität« genommen. Salin empfiehlt den deutschen Städtebauern daher, »auf lange hinaus« das »Wort ›Urbanität‹ ganz zu vermeiden« (ebd. 24). Den Begriff ›Dichte‹ verwendet Salin in seinem Vortrag kein einziges Mal, ebenso ist sein Vortrag weit entfernt von der Konstruktion eines städtebaulichen ›Leitbildes‹. Salin diskutiert, welche neuen Handlungsfelder der Stadtpolitik und der Stadtplanung in Frage kommen könnten und erklärt da3
Salin studierte Nationalökonomie, Jurisprudenz, Philosophie sowie Kunst- und Literaturgeschichte in Heidelberg, München und Berlin. Von 1927 bis 1962 lehrte er als Professor für Nationalökonomie an der Universität Basel.
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bei, dass entgegen dem »heute so beliebten Schlagwort« der »›Entballung‹ der Städte« die vordringliche Aufgabe darin bestehe, ihre »Aushöhlung« zu verhindern (ebd. 27). Das größte Augenmerk legt Salin jedoch auf die Ermöglichung der politischen Teilhabe und der allgemeinen Bildung. Salin plädiert dafür, die Städte wieder zu einer »Burg der Demokratie« zu entwickeln und die Bevölkerung einer Stadt in eine »Gemeinschaft von Stadtbürgern« zu verwandeln. Insbesondere die Bildung sei als existentielle ›Stadtaufgabe‹ anzuerkennen und zu betreiben, Mitbestimmung, Mitverantwortung und Selbstverwaltung seien Schlüsselwörter für die künftige Stadtgestaltung. Diese Bereiche sind aber gerade keine baulich-räumlichen Themenfelder, Salin fokussiert eindeutig auf gesellschaftliche Inhalte. Allerdings können Inhalt und Umstände von Salins Vortrag – ein Volkswirtschaftler, der eine kulturphilosophische Rede vor der versammelten Riege der Städtebauer hält – als Anzeichen der Öffnung der städtebaulichen Debatte für eine soziologische und politische Perspektive genommen werden. Forciert wurde diese Entwicklung dadurch, dass sich erstmals praktischer Widerstand gegen die städtebauliche Praxis bildete und auf die theoretische Ebene reproduziert wurde. Großen Einfluss auf den städtebaulichen Diskurs entfaltete vor allem das Buch The death and the life of great American cities von Jane Jacobs (1916-2006),4 in dem die Autorin – selbst Aktivistin der in einigen amerikanischen Städten aufkommenden Bürgerbewegung gegen die Flächensanierungen – eine grundsätzliche Kritik an den Grundfesten der Stadtplanung übt (Jacobs 1961). In ihrer – im Jahre 1963 in deutscher Übersetzung erschienenen – Streitschrift protestiert Jacobs gegen die vorherrschende Stadtplanung und das dieser Praxis zugrunde liegende Stadtverständnis. Jacobs entwickelt als Gegenbild zum hegemonialen Städtebau vier Bausteine, die in ihrem Zusammenwirken zum Entstehen von ›Stadt‹ (den Begriff ›Urbanität‹ verwendet Jacobs nicht) führen würden: Erstens die Mischung von verschiedenen – möglichst mehr als zwei – unterschiedlichen primären Funktionen (etwa von Wohnen und Arbeiten) an einem Ort, zweitens eine nicht zu große Dimensionierung der Baublöcke, drittens eine Mischung der Gebäude hinsichtlich ihres Alters und ihres Zustandes und viertens die Konzentration von »genügend Menschen« auf einem Raum (Jacobs 1963, 95). Jacobs schreibt, dass Städte eine »hohe Dichte« bräuchten, und sie ist sich darüber bewusst, dass in der städtebaulichen Diskussion Anfang der 1960er Jahre eine solche Aussage als Provokation gelten muss. Es sei harmloser, so formuliert Jacobs, Partei für einen menschen4
Jacobs hatte keine städtebauliche akademische Ausbildung. Sie arbeitete als Journalistin für eine Architekturzeitschrift und publizierte zahlreiche Bücher zu städtebaulichen und volkswirtschaftlichen Themen.
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fressenden Hai zu ergreifen, als eine hohe Einwohnerdichte als Grundbedürfnis von Städten zu fordern (Jacobs 1961, 218). Die Flucht aus der Stadt (wie bei Howards Gartenstadtmodell) sei jedoch keine zeitgemäße Antwort auf die städtischen Probleme, Fortschritte in der Medizin, der Hygiene, der Epidemiologie und im Arbeitsrecht hätten die soziale Lage, die einst untrennbar mit den Bedingungen des hochverdichteten Stadtlebens verbunden gewesen sei, grundsätzlich geändert, eine Herabsetzung der ›Dichte‹ könne nicht mehr als Forderung daraus abgeleitet werden. Jacobs leistet damit Pionierarbeit: Eine ›hohe Dichte‹ hatte im städtebaulichen Diskurs vor ihr noch niemand als Ziel formuliert. Der erste deutlich wahrnehmbare Ruf nach einer Umkehr der klassischen städtebaulichen Dichteperspektive erklingt somit nicht aus den eigenen Reihen, sondern im Rahmen einer von außerhalb in den Diskurs hereingetragenen disziplinären Fundamentalkritik. Im gleichen Jahr wie Jacobs veröffentlicht der Soziologe Hans Paul Bahrdt (1918-1994)5 sein Buch Die moderne Großstadt, und auch hier beschäftigt sich ein außerhalb der Disziplin stehender Protagonist mit den grundlegenden Belangen des Städtebaus. In seinen Ausführungen fundiert er dabei eine ›Kritik der Großstadtkritik‹, in der er die historischen Wurzeln der traditionellen Großstadtfeindschaft aufdeckt und zudem den (auch) im Städtebau gepflegten Biologismus (vgl. Kapitel 6.3) als für die »Deutung sozialer Zusammenhänge« äußerst ungeeignete Analogie bezeichnet (Bahrdt 1969 [1961], 132). Zudem formuliert Bahrdt eine soziologische Perspektive und fordert die Mitwirkung der Soziologie im Städtebau ein. Er betont, dass die soziologischen Begriffe auch für den Städtebau eine »positive Bedeutung« hätten, die »empirisch erarbeiteten sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse« seien für Stadtplanung und den Städtebau unverzichtbar.6 Zwar ließe sich »aus der Soziologie kein städtebaulicher Entwurf« deduzieren (ebd. 34) und der Soziologe müsse dem Städtebauer klarmachen, dass sich »durch den Umbau der Städte« nur »wenig an der Gesellschaft« ändern ließe, dennoch ist für Bahrdt das Projekt der Einbindung der Soziologie im städtebaulichen
5
Bahrdt studierte Philosophie und Geschichte in Göttingen und Heidelberg. Von 1952 bis 1955 arbeitete er in der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, bis 1958 war er freier wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der BASF. Von 1959 bis 1962 war Bahrdt außerordentlicher Professor an der TU Hannover, danach bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1982 ordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Göttingen.
6
Zentraler Punkt von Bahrdt ist die Polarisierung in ›Öffentlichkeit und Privatheit‹, die er als den für den künftigen Städtebau entscheidenden Ansatzpunkt erachtet (ebd.).
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Geschehen ein wichtiges Anliegen.7 Bahrdt steht damit am Beginn der Entwicklung der Stadtsoziologie zur ›Stadtplanungssoziologie‹ (vgl. Kapitel 1.3), die auf die städtebauliche Debatte der 1960er Jahre einen zunehmenden Einfluss entwickelte. In einem Text aus den späten 1960er Jahren setzt sich der Soziologe Norbert Schmidt-Relenberg (*1931)8 mit dem grundsätzlichen Verhältnis von Soziologie und Städtebau auseinander. Schmidt-Relenberg arbeitet den Wandel des städtebaulichen Selbstverständnisses heraus und stellt darauf ab, dass sich die Intention der Disziplin nach dem Kriege geändert habe: Es sei nun nicht mehr so sehr das Ziel, durch städtebauliche Planung die Gesellschaft grundsätzlich zu ändern, sondern der Gesellschaft (wie sie ist) mit städtebaulichen Mitteln zu dienen. Dies sei »eine wichtige Erkenntnis und ein bedeutsamer Fortschritt« von den ehemals »häufig recht gewalttätigen ideologischen Forderungen des Städtebaues« (Schmidt-Relenberg 1968, 41). Schmidt-Relenberg konstatiert, dass das für den Städtebau »wesentliche Leitbild« der ›gegliederten und aufgelockerten Stadt‹ in den »letzten Jahren« zunehmender Kritik ausgesetzt gewesen sei und dass dieser Kritik eine »grundsätzlich ›stadtfreundliche‹ Tendenz« zugrunde gelegen habe. Diese »positive Hinwendung zum Städtischen« und zur »städtischen Lebensweise« kulminiere im »Schlagwort ›Urbanität‹«, auf das die Thesen von Jane Jacobs hinausliefen (ebd. 208). Jacobs habe mit ihren Thesen dem Städtebau ein Leitbild beschert, das die Schaffung der baulich-räumlichen Voraussetzungen der ›Urbanität‹ propagiere. Das bedeute, dass eine ständige »Fluktuation von Massen« zu gewährleisten sei, und dieser Zustand solle – nach Jacobs – durch die bauliche Mischung »möglichst vieler verschiedener Funktionen« und durch »reine Dichte der Bebauung« erreicht werden (ebd. 210).9 Schmidt-Relenberg formuliert, dass die ›Dichte‹ »akzidentiell wirksam« auf den »städtischen Interaktionsstil« einwirke und damit den »städtischen Lebensstil« (also die ›Urbanität‹) hervorbringe (ebd. 96). SchmidtRelenberg erstellt mit Bezug auf Georg Simmel und Louis Wirth (vgl. ausführlich Kapitel 1.2) die These, dass jene »städtische Lebensweise« eine »gesamtgesellschaftlich relevante Funktion« erfülle, indem sie »allgemeine
7
Insbesondere in der äußerst defensiv formulierten Neuauflage seines (wie Bahrdt selbst schreibt) ›Büchleins‹ ist der Soziologe äußerst bemüht, es sich mit niemandem zu verderben.
8
Schmidt-Relenberg lehrte bis zu seiner Emeritierung am Institut für Soziologie
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Jacobs habe damit ein »brisantes Modell« entworfen, dessen »totale Verwirkli-
an der Universität Gießen. chung für viele Stadtbewohner den schrecklichen Zustand eines DauerJahrmarktes bedeuten würde« (ebd. 212).
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humane Qualitäten« und speziell die »Toleranz der Beteiligten« untereinander erfordere und erzeuge (ebd. 113). Der Einzug des soziologischen Denkens in den städtebaulichen Diskurs der 1960er Jahre bringt damit Neuerungen für den Dichtegebrauch im städtebaulichen Kontext. Die städtebauliche Diskussion wird für eine soziologische Perspektive geöffnet, die Stadtsoziologie bietet sich als Hilfswissenschaft für den Städtebau an und wird auch als solche angenommen. Auf dieser Ebene wird der Vorzeichenwechsel bei der städtebaulichen Dichtebetrachtung unterstützt (eingeleitet), mit der Analyse der klassischen Großstadtfeindschaft wird auch die zentrale städtebauliche Kategorie der ›zu hohen Dichte‹ seziert und das ehemalige Vermeidungsedikt zum positiven Ziel gewendet – allerdings nicht in simplifizierender Weise, sondern in Form einer differenzierten und abwägenden Annäherung. Deutlich wird bei der Ankunft des stadtsoziologischen Dichteparadigmas im städtebaulichen Diskurs, dass im Städtebau erst die Großstadtfeindschaft überwunden werden musste, bevor die soziologische Toleranzthese diskutierbar wurde. Immerhin bedeutete dieser Wechsel ja, dass die These ›großstädtische Dichte produziert Seuchen und Revolte‹ durch die Antithese ›Dichte führt zu Offenheit und Toleranz‹ abgelöst wurde – mithin (zumindest auf den ersten Blick) eine recht fundamentale Kehrtwende.10 Nach der (von Soziologen wie Bahrdt geleisteten) Analyse der disziplinären Großstadtfeindschaft wurde die Debatte nun (durch Soziologen wie Schmidt-Relenberg) dem stadtsoziologischen Dichtediskurs geöffnet. Zwischen der theoretischen Neubewertung von hoher ›Dichte‹ als etwas tendenziell Positives und Erstrebenswertes, die sich im städtebaulichen Diskurs der 1960er Jahre (wenn auch mit unterschiedlicher Konsequenz) erstaunlich schnell etablierte und der praktischen Anwendung des Konstrukts klaffte allerdings noch eine gewaltige Lücke. Auf der gleichen Veranstaltung, auf der die deutschen Städtebauer Edgar Salins Ausführungen zur ›Urbanität‹ gelauscht hatten, wurden zusätzliche gesetzgeberische und finanzielle Maßnahmen zur ›Stadtsanierung‹ gefordert. Und in diesem Be10 Schmidt-Relenberg kritisiert am Ende sowohl Göderitz’ als auch Jacobs’ Ideal, beide Vorstellungen seien zu einseitig und daher der »Differenziertheit einer städtischen Gesellschaft« nicht angemessen (ebd. 210f.). Der gebaute Raum habe keine derart starke Wirkung auf das Verhalten des Menschen, ›Urbanität‹ könne nur im Wechselverhältnis von Menschen und gebautem Raum entstehen, Städtebau habe jedoch die Aufgabe, »minimale« (also baulich-räumliche) Voraussetzungen zu schaffen. Die Wahrheit läge nicht in der Mitte und auch nicht in der Vermischung beider Ziele, sondern »möglicherweise in dem Versuch, die Polarität beider innerhalb ein und derselben Stadt zur Wirkung kommen zu lassen« (ebd.).
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reich wurde die ›Dichte‹ nach wie vor in der klassischen städtebaulichen Manier konstruiert. Der Konzeption des Städtebauförderungsgesetzes, an der wiederum Johannes Göderitz maßgeblich beteiligt gewesen ist (Fahrenholtz 1963, 69), lag weiterhin der ›Gesundungsansatz‹ der 1930er Jahre und der dort geübte Dichtegebrauch (vgl. S. 268f.) zugrunde. Während ein bundeseinheitliches Städtebauförderungsgesetz noch auf sich warten ließ, begann in den 1960er Jahren die Praxis der Flächensanierung (im wahrsten Sinne) durchzuschlagen. Erklärtes Ziel der Stadtsanierung war es, die verhassten Gründerzeitviertel zu beseitigen und auf deren Trümmern die ›aufgelockerte und gegliederte Stadt‹ zu errichten. ›Dichte‹ wurde hier noch ganz in alter Tradition als »Maßstab für die Gesundheit – oder auch für die Sanierungsbedürftigkeit eines Stadtquartiers« eingesetzt (Fahrenholtz 1963, 69), Bebauungsdichten von GFZ 2,0 und mehr als eindeutiges Kriterium für den ›Sanierungsbedarf‹ definiert (Geist/Kürvers 1989, 585).11 Nur langsam wurden in der städtebaulichen Debatte Stimmen laut, die Stadtgebiete mit einer GFZ über 2,0 nicht automatisch als ›Slum‹ klassifizierten. Mitte der 1960er Jahre formierte sich auch in den deutschen Städten erster Protest der BewohnerInnen gegen die städtebauliche Praxis der Flächensanierung (vgl. Geist/Kürvers 597f.). Der Widerstand gegen die Flächensanierungen (und damit gegen die herrschende Städtebaupolitik), der ab Mitte der 1970er Jahre zu einer allmählichen Umkehr dieser städtebaulichen Praxis führte, ist im Kontext der in den 1960er Jahren gegründeten allgemeinen Politisierung der gesellschaftlichen Debatten zu sehen. 1968 revoltierten – nach französischem Vorbild – die deutschen Studenten, Mitte 1969 wurde mit Willy Brand der erste sozialdemokratische Bundeskanzler der Bundesrepublik gewählt. Stadtplanung und Städtebau änderten sich in dieser Zeit grundlegend, die jungen und kritischen Stimmen der Zunft gewannen zunehmend an Einfluss. Die exemplarisch nachvollzogenen Änderungen des städtebaulichen Diskurses – auch die Etablierung der soziologischen Perspektive und die Umkehrung der Dichtebewertung – sind Anzeichen wie Ergebnis dieser Umwälzungen. Stadtplanung und Städtebau wurden in dieser Zeit vor allem als ›soziale Entwicklungsplanung‹ definiert, für die einerseits der in den 1960ern etablierte kritische theoretische Zugang, andererseits der Drang zur ›Verwissenschaftlichung‹ und damit die Affinität zum Gebrauch von vermeintlich objektiven Zahlen und mathematischen Formeln 11 Von Geist/Kürvers wird gezeigt, wie sehr auch die renommierten Städtebautheoretiker (wie etwa Gerd Albers) in die Praxis der Flächensanierung eingebunden waren. Bei der Sanierungsplanung für ein Gebiet im Berliner Bezirk Wedding im Jahre 1963 stellte lediglich eines der von den 12 deutschsprachigen Städtebaulehrstühlen erarbeiteten Gutachten die Strategie des Totalabrisses grundsätzlich in Frage (vgl. Geist/Kürvers 1989, 594f.).
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wichtige Erkennungsmerkmale sind. Für den Gebrauch des Begriffs ›Dichte‹ bedeuteten diese Diskurseigenschaften, dass zum einen die theoretische Auseinandersetzung weiter verfeinert wurde und dass zum anderen dem Konstrukt als Bestandteil des städtebaulichen Richtwertarsenals zunehmend an Wichtigkeit beigemessen wurde (vgl. etwa Atteslander 1975). Die Schlacht um die Dichteinstrumentalisierung in der BauNVO und deren Obergrenzen scheint dagegen geschlagen gewesen zu sein – nach der Novelle der BauNVO im Jahre 1969 ebbte das Interesse an diesem Thema bald ab, Diskussionsbeiträge zur Regelungspraxis des Maßes der baulichen Nutzung in der BauNVO sind seit den 1970er Jahren kaum mehr zu finden. Für die Fortentwicklung des Dichtediskurses in den 1970er Jahren ist die Studie Städtebauliche Verdichtung von Claus Heidemann (vgl. S. 124) ein gutes Beispiel. In seinen »theoriegeleiteten Untersuchungen« über die »Möglichkeiten und Grenzen städtebaulicher Verdichtung« trennt Heidemann darin in einen »Objektbereich der städtebaulichen Realität« und in einen »Bereich der Kenntnisse über städtebauliche Realität und planerischer Konstrukte« (Heidemann 1975, 6). Heidemann konstatiert, dass es müßig sei, alle »Verwendungsarten des Begriffes ›städtebauliche Dichte und Verdichtung‹ listenmäßig zusammenzustellen«, vielmehr ginge es darum, ein »einigermaßen griffiges Instrumentarium« zu entwickeln, um das »Phänomen selbst beschreiben« und um »Probleme des Phänomens« artikulieren zu können. Dafür bildet Heidemann die drei Kategorien ›Sachen‹, ›Personen‹ und ›Instanzen‹ und definiert »städtebauliche Dichte« als das, was bei dem Zusammenwirken der drei Kategorien auf ein »bestimmtes Areal« in einem »arealen Problemkontext« konstituiert werde. Heidemann konstatiert, dass die Schwierigkeit der Verwendung des Dichtebegriffs im Planungs- und im Forschungszusammenhang darin läge, dass dort, wo in einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen Dichtebegriffe verwendet werden, diese ausschließlich fachspezifisch definiert und benutzt würden und dabei meist ohne Bezug zur Terminologie anderer Disziplinen blieben (die den gleichen Objektbereich behandelten, jedoch unter jeweils anderen Fragestellungen) (ebd. 23). Heidemann möchte ein »Begriffsraster« entwickeln, das »auf einer Metaebene« Einzeldefinitionen und Begriffselemente zusammenfassend zu kategorisieren erlaube. Heidemann untersucht die »Möglichkeiten und Grenzen« des Konstrukts ›Dichte‹ daher mithilfe eines interdisziplinären Forschungsansatzes, für den er die Soziologie (zusammen mit der Medizin und der Psychologie), die Ökonomie und die Verkehrswissenschaften auswählt. Auch auf den historischen Kontext geht Heidemann (allerdings nur kurz) ein und formuliert, dass mit dem Begriff ›Dichte‹ zu Anfang technische Sachzusammenhänge bezeichnet worden seien, ihre Verwendung jedoch immer auch einen »emotionalen oder ideologischen Bedeutungsgehalt« aufgewiesen hätten (ebd. 21). In der Historie der ›Dichte‹ hätten »Pau-
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schalurteile die wissenschaftliche Untersuchung der offenkundigen oder nur behaupteten positiven wie negativen Auswirkungen hoher Bevölkerungsund Realkapitalkonzentrationen« behindert oder gar ersetzt. Heidemann möchte dagegen eine »von Emotionen freie Darstellung« der ›Dichte‹ ermöglichen. Heidemann bezieht sich auch auf Edgar Salins Rede von 1960 und formuliert, dass Salins Vortrag einen »radikalen Umschwung der vorherrschenden Auffassungen« angedeutet habe, der sich nach und nach auch in der städtebaulichen Praxis niedergeschlagen hätte. Flankiert von technisch-ökonomischen Überlegungen und sanktioniert durch eine neue Stadtsoziologie, so Heidemann, habe das neue Credo »Städtebauliche Konzentration = Urbanität« Eingang in Planungsämter und Stadtparlamente gefunden (ebd. 22).12 Im Ergebnis kommt Heidemann zur Feststellung eines enormen Forschungsbedarfs. Heidemann leitet aus der Gegenüberstellung der »vorhandenen Wissenslücken« mit den »raumstrukturellen und städtebaupolitischen Zielvorstellungen« nicht weniger als 47 Forschungsaufgaben ab, welche die Themenbereiche mit weiterem Forschungsbedarf verdeutlichen sollten und zusammen ein »Bild des benötigten Planungswissens« ergäben (ebd. 191f.).13 Heidemann resümiert in seiner Untersuchung, es sei typisch für die Stadtplanung, dass sie vielfach Verhaltenshypothesen benutze, die zwar für die Lösungssuche erhebliche normative Wirkungen hätten, deren Gültigkeit aber weitgehend ungeklärt sei. Die Durchsicht der Literatur der einschlägigen Wissenschaften zeige, dass bislang kaum für konkrete Planungen im Rahmen städtebaulicher Verdichtung bedeutsame Ergebnisse erarbeitet worden seien. Die Begriffe ›städtebauliche Dichte‹ und ›Verdichtung‹ suggerierten im städteplanerischen Zusammenhang eine Präzision und Treffsicherheit, die ihnen keineswegs zukomme (ebd.). Heidemann bringt damit nicht nur den widersprüchlichen Dichtegebrauch im städtebaulichen Kontext auf den Punkt, sondern er bereichert diese Perspektive, in dem er die Komplexität jener Widersprüche mit der Unterscheidung in eine ›materielle‹ und in eine ›konstruktive‹ Dichterealität erklärt. Zusätzlich – und auch das ist neu – erweitert Heidemann den Analyseansatz durch die Betrachtung der unterschiedlichen Dichteanwendungen in den verschiedenen Disziplinen. Der Geograph Heidemann verwendet in seiner Untersuchung damit einen 12 Damit kommt Heidemann der Wortkombination ›Urbanität durch Dichte‹ sehr nahe (s.u.). 13 Beispiele für Heidemanns Forschungsaufgaben sind etwa die Untersuchung der »sozialen Folgeerscheinungen bei sanierungsbedingtem Wohnungswechsel von Flachbauwohnungen in Geschoßwohnungen« oder der »Auswirkungen erzwungener Wohnungswechsel auf die Morbidität und Mortalität ausgewählter Personengruppen« (Heidemann 1975, 67).
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konstruktivistischen Forschungsansatz, der heute vor allem im Bereich der Humangeographie (bisher allerdings nicht auf das Konstrukt ›Dichte‹ bezogen) gebräuchlich ist (vgl. Kapitel 3.3). Allerdings ist die Analyse von Heidemann auch ein Kind seiner Zeit. Der Ansatz, den Begriff ›Dichte‹ soweit zu analysieren, dass er einer ›wissenschaftlichen‹ Methode zugänglich ist, wird in einer für die 1970er Jahre typischen Form ausgeführt, mit der eine möglichst objektive Artikulation angestrebt wird, was jedoch auf Kosten der sprachlichen Verständlichkeit und Konsumierbarkeit geht. Zudem vermeidet Heidemann weitgehend – wohl ebenfalls der angestrebten ›Wissenschaftlichkeit‹ geschuldet – eine kritische Positionierung. Heidemann möchte ein Forschungsprogramm legitimieren, daher verzichtet er auf eine (in seiner Analyse angelegte) grundsätzliche Kritik des Konstrukts ›Dichte‹. Die Nachwirkung von Heidemanns Dichtebetrachtung im städtebaulichen Diskurs ist daher auch eher gering: Die eingeschlagenen Pfade wurden nicht weiter verfolgt, Heidemanns Untersuchung fand kaum Eingang in die nachfolgenden Dichteuntersuchungen. Von den von Heidemann abgeleiteten Forschungsthemen scheinen zwar etliche Ansätze bis heute von großer Relevanz. Heidemanns Konstruktion, diese aus der Analyse des Dichtebegriffs abzuleiten, blieb jedoch ohne großen Widerhall.14 Und noch ein Punkt ist bei Heidemanns Analyse meines Erachtens problematisch: Die Ausweitung der Dichtedefinition von Heidemann auf das »Verhältnis zwischen zwei verschiedenartigen Größen« führt zu einer (in den 1970er Jahren auch bei anderen Theoriebeiträgen zum Thema ›Dichte‹ feststellbaren)15 Praxis, die den Begriff nur noch auf einer sehr allgemeinen Ebene diskutierbar macht. ›Dichte‹ als ›Verhältnis‹ zwischen irgendetwas zu bestimmen, weitet den Themenbereich so sehr auf, dass er kaum noch einer konkreten Analyse zugänglich ist. Ein weiteres Beispiel für den Dichtediskurs der 1970er Jahre ist die Dissertation von Karl Hohenadl (*1940),16 in der die »Erörterung der städtebaulichen Argumente zur Bestimmung optimaler Dichtewerte« als Aufgabenstellung formuliert wird. Auch Hohenadls Grundlage ist eine Aufarbeitung des Dichtegebrauchs im Städtebau. Die Auseinandersetzung um locke14 Interessant ist dabei auch die Einschätzung zu der Heidemann 17 Jahre später in einer (ebenfalls kaum wahrgenommenen) Publikation kommt (und auf die schon an früherer Stelle dieser Arbeit hingewiesen wurde): Man gewänne den Eindruck, so schreibt Heidemann in den 1990ern, dass Angaben zur ›Dichte‹ in die Klasse der »Auskünfte von nutzloser Richtigkeit« gehörten, deren Erwähnung »hochgradig ritueller Natur« sei und deren Kenntnis »weder der Beantwortung einer drängenden Frage diene noch eine solche auslöse« (vgl. auch hier S. 124f.). 15 Vgl. etwa Atteslander 1975, 34. 16 Hohenadl studierte Volkswirtschaft in München und promovierte in Regensburg.
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re oder dichte Bebauung, so schreibt Hohenadl, ziehe sich wie ein roter Faden durch die »Geschichte der städtebaulichen Leitbilder«, wobei in der zeitgenössischen Diskussion der »Ruf nach höherer Dichte« vorherrsche. Eine »begriffliche Klarheit« respektive eine »Klarheit über konkrete Zusammenhänge zwischen Dichte und städtebaulichen Leitbildern« würden dabei weitgehend fehlen (Hohenadl 1977, 50f.). Er fokussiert im Theorieteil seiner Arbeit zum einen auf den Dichtegebrauch in der Soziologie, zum anderen auf die ökonomischen Aspekte und gibt dabei einen guten Überblick über den Stand der Debatte Ende der 1970er Jahre. Hohenadl behandelt im ökonomischen Teil seiner Dissertation vor allem die Frage der Kosten. Er untersucht die Erschließungskosten pro Wohneinheit in Relation zur Einwohnerdichte und kommt zu dem Ergebnis, dass diese Kosten mit fallender Wohndichte steigen, mit steigender Wohndichte sinken würden (ebd. 150). Auch bezüglich der Öffentlichen Verkehrsmittel könne festgehalten werden, dass unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit und Attraktivität jedes öffentliche Verkehrssystem eine Mindestdichte verlange (ebd. 170). Weiterhin sei »unter dem Gesichtspunkt des städtebaulichen Flächenbedarfs« eine höhere Wohndichte zu begrüßen (ebd. 88). Hohenadl setzt sich auch mit dem (immer noch) klassischen Gegenargument der gesundheitlichen Folgen einer ›hohen Dichte‹ auseinander. Er kategorisiert diesen Aspekt unter der Überschrift »städtische Umweltbedingungen« und kommt zu dem Ergebnis, dass der »übliche Meinung«, dass mit steigender ›Dichte‹ die Umweltbelastung generell zunehme und die Lebensqualität sinke, nur noch »sehr eingeschränkt« gefolgt werden könne. Hohenadls Ansatz zeigt, dass in den 1970er Jahren die ökologische Perspektive auch im städtebaulichen Diskurs eine zentrale Rolle einzunehmen beginnt und ist mit seiner Verbindung der ökonomischen mit den ökologischen Aspekten ein Vorreiter dieser Diskursentwicklung für die nachfolgende Dichtebewertungen.17 Interessant ist auch Hohenadls Darstellung des soziologischen Dichtediskurses seiner Zeit, bei der er in eine reformerische und in eine fundamentale sozialwissenschaftliche Position unterscheidet. Die »Gruppe von Autoren« um Hans Paul Bahrdt billige dabei den »räumlich-physischen Faktoren« eine – wenn auch eingeschränkte – Wirkungsmöglichkeit für die »Verbesserung des sozialen Klimas in den Städten« zu. Der Ansatz dieser Soziologen falle daher auch in ›positiver‹ Manier aus: Ziel sei es hier, die städtebauliche Planung durch die »Hilfswissenschaft« Soziologie zu unterstützen und zu qualifizieren. Als eine zweite Gruppe grenzt Hohenadl davon die 17 Zu den Ursprüngen der Umweltdebatte (etwa dem Bericht des ›Club of Rome‹ aus dem Jahre 1972) siehe Kapitel 4.3, zur Weiterführung der ökologischen und ökonomischen Argumentation vgl. Kapitel 7.3.
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›kritischen Soziologen‹ ab. Hier werde die These abgelehnt, dass räumliche Faktoren eine positive Wirkung auf das Sozialverhalten haben könnten. Ausgangspunkt dieser Sichtweise sei eine grundsätzliche Kritik an Gesellschaft und Politik, die (als deren Bestandteil) speziell die Städtebaupraxis in den Fokus nehme. Die Autoren aus diesem Lager suchten daher auch nicht nach »besseren Modellen und Planungsmethoden«, sondern nach den »gesellschaftlichen Gründen für unzulängliche Ergebnisse des Städtebaus.« Räumliche und bauliche Strukturen würden aus dieser Warte nur als Indikatoren gesellschaftlicher Prozesse gesehen, die es zu ändern gelte. Stadtplanung werde als »gesellschaftliches Problem innerhalb eines Bezugssystems von Herrschaftspositionen« betrachtet. »Urbanität, Öffentlichkeit und Nachbarschaftsidee« samt deren räumlichen Vorstellungen wie »Entmischung, Verdichtung, Funktionstrennung und Gliederung« würden also als Versuche interpretiert, »Symptome einer Gesellschaftsordnung« kurieren zu wollen, ohne nach den »Ursachen der Mißstände« zu fragen. Gefordert würden in der kritischen Soziologie daher auch »keine baulichen, sondern politische Maßnahmen.« Die »Wahl der Bebauungsdichte«, so resümiert Hohenadl, werde aus dieser Perspektive als »irrelevant für Änderungen des Befindens und Verhaltens der Bewohner« angesehen (ebd. 66f.). Ein Beispiel für eine solche Fundamentalkritik ist die Schrift Die Inszenierung der Alltagswelt von Werner Durth (*1949),18 in der im Rahmen einer grundlegenden Hinterfragung von Theorie und Praxis des Städtebaus deutliche Anleihen an neomarxistischen und politökonomischen Positionen genommen werden. Durth fokussiert in seiner Streitschrift auf die soziologische Wende in der Städtebaudebatte. In »ideologie-kritischer Aufräumarbeit« hätten die Sozialwissenschaftler zunächst geholfen, einige »allzu pessimistische Argumente der traditionellen Großstadtkritik« abzuräumen und an deren Stelle ein »leuchtendes Bild der Möglichkeiten städtischer Lebensformen aufzubauen« (Durth 1977, 30f.). Nach der Kritik der Soziologen an den überkommenen »organiszistischen Vorstellungen«, so Durth, seien deren eigenen Konzepte (Privatheit, Öffentlichkeit, Urbanität) in die »Lücke der Leitbilder« gedrängt worden. Die soziologischen Konzeptionen von ›Privatheit‹ und ›Öffentlichkeit‹ (Bahrdt) oder von ›Urbanität‹ (Salin) wären trotz ihrer wissenschaftlichen Präsentation im Grunde eine »simple In-Eins18 Durth studierte in Darmstadt Architektur und in Frankfurt am Main Soziologie. 1981 wurde Durth an die Universität Mainz (Lehrstuhl für Umweltgestaltung) berufen, 1993 wechselt er an das Institut für Grundlagen der modernen Architektur der Universität Stuttgart, seit 1998 lehrt Durth am Fachgebiet Geschichte und Theorie der Architektur der TU Darmstadt. Durth ist Sprecher einer der Forschergruppen des Forschungsschwerpunktes ›Eigenlogik der Städte‹ (vgl. Kapitel 1.3).
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Setzung gesellschaftlicher Beziehung mit räumlich eindeutigen Einheiten.« Gerade der von Edgar Salin in die Diskussion eingebrachte Begriff der ›Urbanität‹ sei »durch seine schillernde Unbestimmtheit allen Projektionen offen und für unterschiedliche Zwecke instrumentalisierbar« geworden und habe zu einer »Ausblendung des gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhangs« geführt. Damit sei bewusst auf eine »vom Wirtschaftssystem ausgehende Betrachtung des sozioökonomischen Gebildes der modernen Stadt« verzichtet worden (ebd.). Im Kontext dieser Städtebaukritik findet sich auch zum ersten Mal explizit die Wortkombination ›Urbanität durch Dichte‹. Der Architekt Hanns Adrian (1931-2003) bezeichnet in einem kritischen Artikel über den zeitgenössischen Wohnungsbau das »sinnlose und im Ergebnis stadtzerstörerische Schwärmen für ›Urbanität durch Dichte‹« als den »Slogan« der 1960er und 1970er Jahre, aus dem die »Phase der großen Burgen und Silos« entstanden sei (Adrian 1979, 10). Der Soziologe Ulfert Herlyn (*1936) formuliert in einer Untersuchung über die städtebauliche Entwicklung der Stadt Wolfsburg, dass sich die »›Urbanität-durch-Dichte‹-Ideologie« in den dortigen Wohnvierteln und Stadtteilen niederschlagen würde (Herlyn 1982, 266). Die Entstehung von Baukörpern in »einer bis dahin noch nicht gekannten Massierung«19 sei der »Ideologie der ›Urbanität-durch-Dichte‹ der späten 60er Jahre« geschuldet (ebd. 69). Der Stadtplaner Dietrich Kautt (*1939) benennt in seiner Dissertation (die ebenfalls die Stadtbaugeschichte von Wolfsburg thematisiert) den Ausdruck ›Urbanität durch Dichte‹ schließlich als »Leitbild« (Kautt 1983, 308). Das »neue Leitbild«, welches das Ideal der aufgelockerten und gegliederten Stadt abgelöst habe, sei zurückzuführen auf Le Corbusier und mit »ideologischer Unterstützung« der Soziologie weiterentwickelt worden (ebd. 309). Und auch Werner Durth verwendet nun – in einem Beitrag aus der Mitte der 1980er Jahre – den Ausdruck ›Urbanität durch Dichte‹. In seiner historisch-kritischen Analyse der Geschichte des modernen Städtebaus beschreibt Durth den »Sieg der Zahlen über die Bilder«, mithin die Ablösung des »organischen« durch das »ökonomische« Denken als die neue eigentliche Antriebsfeder der Disziplin. Mit dem Ausdruck ›Urbanität durch Dichte‹ bezeichnet Durth die jüngste Entwicklung im Städtebau, die zu einer »Transformation sozialer und räumlicher Qualitäten« der Städte in »quantifizierbare Größen« wie »Geschoßflächenzahlen und Verdichtungsziffern« geführt habe. ›Dichte‹ wird bei Durth – ohne dass der Bedeutungsgehalt des Begriffs eingehender untersucht wird – als Metapher verwendet, und zwar als Metapher für die »Reduktion planerischen Denkens«, für die Aufgabe 19 Mit »bis zu 12 Geschossen« und einer »GFZ von 1,0« im Wolfsburger Stadtteil Westhagen (ebd.).
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von »differenzierten Vorstellungen vom gelebten Raum der Menschen« auf »zweidimensionale Leit-Bilder der Planung« (Durth 1987, 46) und für die Abkehr von den (ehemaligen) »sozialen und politischen Qualitäten« des Städtebaus hin zu einer »Ökonomisierung« der Disziplin (Durth 1985, 367). Aus dieser fundamental-kritischen soziologischen Perspektive wird die städtebauliche Praxis insgesamt – und damit auch ›Dichte‹ als zentrale Analysekategorie und Instrumentarium des Städtebaus – zum Objekt der Kritik. Aus dieser Sicht wird das Konzept ›Dichte‹ als ein Werkzeug des Kapitals und als unzulässige Reduktion des Sozialen auf eine baulich-räumliche Konstruktion kritisiert und grundsätzlich abgelehnt. Und aus dieser Sicht wird das Leitbild ›Urbanität durch Dichte‹ (re)konstruiert. Damit hat die Suche nach den Ursprüngen des Leitbildes ›Urbanität durch Dichte‹ ein überraschendes Ergebnis. In der heutigen Diskussion wird ›Urbanität durch Dichte‹ regelmäßig als das zentrale Leitbild der 1960er und 1970er Jahre bezeichnet.20 Die in diesem Zusammenhang übliche Darstellung, Edgar Salins Urbanitätsvortrag beinhalte die Propagierung eines ›Leitbildes‹ mit dem Namen ›Urbanität durch Dichte‹, ist dabei (wie der Blick in den Text von Salin gezeigt hat) eine »krasse Mißinterpretation« beziehungsweise »schlicht falsch« (vgl. Wüst 2004, 112). Mehr noch – explizit wurde ein solches ›Leitbild‹ in den 1960er und 1970er Jahren vermutlich nie formuliert, eigentlich existiert es einfach gar nicht (nicht als positiv formuliertes Ziel).21 Über ›Urbanität‹ wurde im städtebaulichen Diskurs dieser Jahre sicherlich viel geredet und über ›Dichte‹ natürlich auch: ›Urbanität‹ wurde zwar (trotz Salins Abraten) als tendenziell zugängliches und erstrebenswertes Ziel in den städtebaulichen Diskurs integriert, die Festlegung von Dichteobergrenzen war zweifellos eines der meistdiskutierten Instrumente des Städtebaus. Es gab also ›Urbanität‹ als Ziel und es gab ›Dichte‹ als Instrumentarium. Dennoch wird in den städtebaulichen Diskussionsbeiträgen an keiner Stelle explizit das Ziel (respektive die Strategie) ›Urbanität durch Dichte‹ formuliert. Wenn man also den Blick auf die Begrifflichkeiten scharf stellt, wenn man davon ausgeht, dass zu einem ›städtebaulichen Leitbild‹ auch die explizite Formulierung desselben gehört (so wie etwa bei der ›Gartenstadt‹ oder bei der ›aufgelockerten und gegliederten Stadt‹), dann 20 Vgl. Eisinger 2004, 96; Harlander 2006, 35; Streich 2005, 88; Seegers 2005, 375; Otto 2006, 32; Lips 2005, 15 oder Heineberg 2006, 131. 21 Meine These stützt sich auf drei Indizien: erstens ist mir bei meinem Studium der Beiträge zur städtebaulichen Debatte der 1960er und 1970er die Verwendung der Wortkombination ›Urbanität durch Dichte‹ nicht begegnet. Zweitens bleibt die Suche mittels ›Googlebooks‹ ebenso ergebnislos. Und drittens wird bei der Debatte ab den 1980ern, wo dann häufig vom Leitbild ›Urbanität durch Dichte‹ geschrieben wird, nirgends eine Quelle aus den 1960er oder 1970er Jahren genannt.
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kommt man zu dem Ergebnis, dass ›Urbanität durch Dichte‹ gar kein ›städtebauliches Leitbild‹ gewesen ist. Die Formulierung ist ein der städtebaulichen Entwicklung erst sehr viel später (Ende der 1970er, verbreitet erst ab Mitte der 1980er Jahre) posthum verliehenes Prädikat, mit dem eine bestimmte Kritik an jener Entwicklungsphase geübt werden sollte. Nimmt man nun in Augenschein, aus welcher Richtung das Attribut ›Urbanität durch Dichte‹ der Debatte eigentlich verliehen wurde, zeigt es sich, dass die nachträgliche Würdigung (Mitte der 1980er Jahre waren die Großsiedlungen schon lange ein Auslaufmodell) vor allem den Streit zwischen den beiden aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive heraus generierten Ansätzen widerspiegelt: Mit der Bezeichnung ›Urbanität durch Dichte‹ wurde von der fundamentalen (postmarxistischen politökonomischen) Seite die realsoziologische (hilfswissenschaftliche) Vereinigung von Soziologie und Städtebau kritisiert und diese Kritik mit dem scheinbar offensichtlichen Widerspruch zwischen der ›Urbanität‹ und der ›Dichte‹ in ein plakatives Gewand gekleidet. Die stadtplanungssoziologische Seite allerdings hätte eine solche Simplifizierung wohl kaum je vertreten, obwohl in den stadtsoziologischen Grundlagentheorien (Durkheim, Wirth) diese Ableitung gar nicht besonders weit entfernt zu sein scheint (was jedoch von beiden Seiten nicht registriert wurde). Zu fragen bleibt jedoch, ob die mit dem Label ›Urbanität durch Dichte‹ bezeichnete Kritik nicht auf das reale Städtebaugeschehen zutrifft, ob also die Kritik hinsichtlich des in diesen Jahren (wenn schon nicht in Form eines ›Leitbildes‹ formulierten) real gebauten Städtebaus vielleicht dennoch ins Schwarze trifft. Aber auch bei diesem Punkt scheinen zumindest Zweifel angebracht. Die geplanten und gebauten Großwohnsiedlungen (BremenHorn, das Märkische Viertel in Berlin, München Perlach etc.) sind im Grunde die Fortsetzung der – aus Großstadtfeindschaft und Dichteablehnung – entstandenen Strategie der ›aufgelockerten Stadt‹.22 Die mit der Prädikatsverleihung ›Urbanität durch Dichte‹ geäußerte Kritik an den Großwohnsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre ist – aus Perspektive der Dichteanalyse – somit nicht eindeutig. Legt man als Dichtekriterium den beträchtlichen Unterschied zwischen den Dichtewerten der gründerzeitlichen Stadtquartiere und der Großwohnsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre zugrunde, dann sind letztere keineswegs als ›dichter‹ Städtebau zu klassifizieren. Die Großwohnsiedlungen sind allesamt nach den in der BauNVO aufgestellten Dichteregeln – also den Regeln der »aufgelockerten Stadt‹ – geplant und er22 Auf der anderen Seite sind sie jedoch auch Ausfluss eines sozialdemokratischen Stadterneuerungsmodells, der Versuch einer »gebauten Demokratie«, dessen politische und soziale Dimension heute weitgehend vergessen ist (Bodenschatz 1987, 332).
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baut worden. Das Ideal der ›Urbanität durch Dichte‹ gab es also nicht nur nicht, auch die nachträgliche Kritik zielt (zumindest auf der Ebene des Dichtevergleichs) am Kern vorbei. Viel eher könnte der Slogan ›Urbanität durch Dichte‹ den bei den Protesten gegen die Flächensanierungen propagierten Vorstellungen zugeschrieben werden, wo (etwa von Jane Jacobs) eine hohe Einwohnerdichte tatsächlich als ein notwendiges Kriterium für das Entstehen von ›Stadt‹ propagiert worden ist.
7.3 R ETTUNG
DER
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Im Mittelpunkt dieses letzten Kapitels über den städtebaulichen Kontext steht die dortige Konstruktion von ›Dichte‹ seit den 1990er Jahren bis heute. In dieser Periode sind kritische Annäherungen an den Begriff nur noch selten zu finden, die städtebauliche Debatte ist in ihrer jüngeren Vergangenheit insgesamt deutlich pragmatischer, ›anwendungsorientierter‹ und auch unpolitischer geworden. Die kontroverse Diskussion um die städtebauliche Praxis wurde weitgehend abgelöst von einem Diskurs über städtebauliche ›Leitbilder‹, der die theoretische Expertise der Disziplin seitdem dominiert. Die Suche nach neuen Denkansätzen bezüglich des Konstrukts ›Dichte‹ gestaltet sich in diesem Zusammenhang als schwierig, auch weil der Gegenstand kaum mehr grundsätzlich hinterfragt wird. Das Konstrukt selbst ist dabei allerdings keineswegs von der Bildfläche verschwunden. Im Gegenteil, ›Dichte‹ ist bis heute ein anerkanntes Kriterium und Leitbildelement im Städtebau, und auch die durch das Baugesetzbuch vorgegebene Festsetzung der ›baulichen Dichte‹ (sowie die Obergrenzen nach der Baunutzungsverordnung) gehören weiterhin zum stadtplanerischen Grundrepertoire. Der Ansatz in diesem Kapitel ist es, den Dichtegebrauch in verschiedenen Bereichen der aktuellen städtebaulichen Debatte – dem ökologischen Diskurs, dem Diskurs über Suburbia und die ›Zwischenstadt‹, dem Diskurs zu den ›Schrumpfenden Städten‹ und zur ›Renaissance der Innenstadt‹ und dem städtebaulichen Diskurs zur ›europäischen Stadt‹ – nachzustellen und auf die Funktion zuzuspitzen, die dem Konstrukt dabei eingeräumt wird. Am Ende des Kapitels wird dann abschließend auf zwei Beiträge von Gerhard Boeddinghaus – dem Dichtespezialisten der 1960er Jahre – eingegangen, der das Konstrukt ›Dichte‹ im planungsrechtlichen Diskurs bis heute einer kritischen Betrachtung unterzieht Seit den 1980er Jahren wird die städtebauliche Diskussion vom Leitbild der ›kompakten Stadt‹ dominiert, mit dem – aufbauend auf die Umweltdebatte der 1970er Jahre (vgl. Kapitel 3.3) – der ökologische Diskurs auch im Städtebau Einzug gehalten hat. In diesem Rahmen wird eine »Stadt
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der kurzen Wege« gefordert, wobei den Faktoren ›Dichte‹, Nähe und funktionaler Mischung »große ökologische Potenziale« attestiert werden (vgl. Loske 1996, 98f.). Unter ökologischen Gesichtspunkten wird die ›Dichte‹ als ein »eindeutiges Ziel städtebaulicher Planung« betrachtet (Aurich 1997, 66). Der ökologische Städtebaudiskurs ist dabei vor allem auch ein ökonomischer Diskurs. Die auf das Soziale fokussierenden Begründungen, die am Anfang der modernen städtebaulichen Dichtedebatte (die ›soziale Lage‹ betreffend) und auch in den 1960er Jahren (die soziologischen Ambitionen betreffend) noch im Vordergrund gestanden hatten (vgl. Kapitel 6.1 und 7.2), rücken in das zweite Glied des Diskurses (wohl auch in Folge der von sozialwissenschaftlicher Seite geäußerten Kritik). Die Forderung der städtebaulichen Verdichtung wird heute in erster Linie mit dem Argument der höheren Rentabilität von Infrastrukturmaßnahmen bei höherer Einwohnerdichte begründet. Straßen- und Wohnbaukosten, Energie- und Instandhaltungskosten, so wird in diesbezüglichen Studien ausgeführt, nehmen bei steigender ›Dichte‹ ebenso ab wie der Energieverbrauch und der Schadstoffausstoß (vgl. etwa Lichtenberger 1991, Bott/Haas 1996). Allerdings finden sich auch hier Argumente in zwei unterschiedliche Richtungen: Zum einen sollen ›kompakte Siedlungsstrukturen‹ gefördert und eine Erhöhung der ›Dichte‹ erreicht werden (um dadurch die Umweltbelastungen zu verringern), zum anderen wird eine Verringerung der ›Siedlungsdichte‹1 gefordert, um einem weiteren ›Landschaftsverbrauch‹ entgegenzuwirken. Die Begründungszusammenhänge für die Dichteeinbindung im ökologischen Diskurs der ›kompakten Stadt‹ sind dabei keine neuartigen Konstruktionen und lassen sich auf die historischen Diskurse rückbeziehen. So basiert etwa das Modell der ›Gartenstadt‹ gleichfalls auf dem Attribut ›Kompaktheit‹, auch wenn das Gartenstadtkonzept Anfang des 20. Jahrhunderts ein Neugründungs- und nicht (wie die ›kompakte Stadt‹) ein Stadtumbauprojekt gewesen ist (vgl. Kapitel 6.2). Walter Gropius stellt bereits in den 1930ern die Verbindung von ›Kompaktheit‹ und ›hoher Dichte‹ her (vgl. S. 255f.) und erklärt die Herstellung von ›kurzen Wegen‹ zum städtebaulichen Ziel (um unnötiges Verkehrsaufkommen strukturell zu verhindern). Gropius’ Ausführungen können als Vorlage für das Gründungskonzept der ›kompakten Stadt‹ gelesen werden, welches fünfzig Jahre später den Kern der städtebaulichen Ökologiedebatte bildet. Weiter konkretisiert 1
Der Begriff ›Siedlungsdichte‹ wird in der zeitgenössischen Stadt- und Raumplanung in der Regel als das Verhältnis von Einwohnerzahl zur besiedelten Fläche verwendet. Es finden sich – wie bei praktisch allen Dichtebegriffen – jedoch auch andere Definitionen, etwa die Gleichsetzung mit der Einwohnerdichte (Seitz 2002, 10). Ursprünglich ist Siedlungsdichte dagegen als »Verhältnis der Anzahl der Siedelungen zur Größe der Fläche« (Hettner 1901a, 500) definiert.
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(und mit der expliziten Forderung nach ›Verdichtung‹) taucht das Plädoyer für die ›kompakte Stadt‹ in den 1960ern (unter anderem) bei Gerhard Boeddinghaus auf (vgl. S. 290f.), der sein städtebauliches Ideal als ›konzentrierte Stadt‹ bezeichnet und begründet, dass bei ›steigender Dichte‹ weniger Verkehr erzeugt und die Wirtschaftlichkeit des öffentlichen Nahverkehrs erhöht werde. Bezüglich dem Konstrukt ›Dichte‹ und dessen Einbindung in ein städtebauliches Erklärungsmuster bietet das Leitbild der ›kompakten Stadt‹ damit vor allem Altbekanntes. Neu ist dagegen der Stellenwert, welcher der Argumentationsweise eingeräumt wird: Die ›Verdichtung‹ als Ziel einer ökologischen Stadtentwicklung wurde im städtebaulichen Diskurs der 1980er zum allgemeinen fachlichen Konsens. Die ›Verdichtungseuphorie‹ der städtebaulichen Diskussion erreichte in den 1990er Jahren – befördert durch die Umwälzungen der ›Wiedervereinigung‹ – ihren vorläufigen Höhepunkt. In zahlreichen Stadterweiterungsplanungen aus dieser Zeit wird eine ›hohe Dichte‹ als explizites Ziel formuliert (vgl. etwa die Berliner Senatspostille ›Stadtforum‹ und den Titel ›Dichte als Voraussetzung‹ ihrer Novemberausgabe von 1996), in einigen Neubauprojekten wird eine relativ hohe ›Dichte‹ auch realisiert. Begründet wird die angestrebte ›hohe Dichte‹ in erster Linie mit Argumenten aus der ökologischen Debatte. Weiterhin wird allerdings auch die These diskutiert, dass eine ›Verdichtung‹ für das Entstehen von ›Stadt‹ notwendig und dass ›Dichte‹ das »wesentliche Element« von »urbanen Stadtquartieren« sei (Pätz/Soehlke 2001; vgl. auch Roskamm 1997). Städtische Dichte, so werden die Erfahrungen mit städtebaulichen Projekten der 1990er Jahre (wie der Tübinger Südstadt oder Freiburg Vauban) zusammengefasst, werde dann akzeptiert, wenn sie »tatsächlich zu attraktiver Vielfalt« beitrage und wenn sie durch innerstädtische Freiräume mit einem hohen Gebrauchswert ausgeglichen werde (Feldkeller 2001, 35). Deutlich höhere Dichten als die der (nach wie vor bestehenden) Obergrenzen der Baunutzungsverordnung bilden jedoch (auch bei den genannten Projekten) die Ausnahme. Das Gegenbild, das in der städtebaulichen Debatte zur ›kompakten Stadt‹ gezeichnet wird, besteht aus den suburbanen Einfamilienhausgebieten der Stadtregionen. Diese Siedlungsform ersetzt nun in weiten Teilen die Negativfolie, die im klassischen Diskurs von der ›steinerne Mietskasernenstadt‹ gebildet worden war. Im ›Siedlungsbrei‹ der Stadtregionen werden dabei nicht mehr soziale, hygienische und sittliche Missstände verortet, sondern vor allem ökologische Problemstellungen lokalisiert: Flächenverbrauch, motorisierter Individualverkehr, übermäßige Infrastrukturkosten. Die »wahren Schrecken der Stadt« sind nun nicht mehr die Mietskasernen, sondern – in auffälliger Repetition der Formulierungen des klassischen Diskurses – die als »Brutstätten der verhängnisvollen Illusion« bezeichneten suburbanen Gebilde (Mönninger 1994, 164). ›Dichte‹ wird bei dieser Ar-
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gumentation – in gewendeter Ausformung – als (alter neuer) Schlüsselbegriff verwendet und verkündet: »Dichte ist nicht alles, aber ohne Dichte ist alles nichts« (ebd.). Diese diskursive Kehrtwende findet im auffälligen Kontrast zur tatsächlichen baulichen Entwicklung statt: Massiv finanziell gefördert (etwa durch die staatliche Eigenheimförderung und die Pendlerpauschale) war das Einfamilienhaus in Suburbia längst zum dominierenden Siedlungsmodell in den prosperierenden Stadtregionen geworden. Verwirklicht wurden durch die Suburbanisierung dagegen die klassischen städtebaulichen Ziele: die Versorgung großer Teile der Bevölkerung mit einem Eigenheim, die ›Auflockerung‹ der baulichen Strukturen und deren ›Weiträumigkeit‹ (allerdings erst zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Forderungen nicht mehr das bestimmende städtebauliche Ideal dargestellt haben). Thomas Sieverts (*1934)2 unternimmt in seinem vielbeachteten Buch Zwischenstadt dagegen den Versuch, die Negativsicht auf die suburbanen Gebiete zu relativieren. Sieverts setzt sich in seiner Schrift auch mit dem »im Städtebau unrettbar mit Vorurteilen« überlasteten Begriff der ›Dichte‹ auseinander und widerspricht dabei dem Argument, mit einer baulichen Verdichtung würde Siedlungsfläche gespart (und damit Landschaftsverbrauch eingeschränkt werden). Aufgrund der (gesetzlichen) Anforderungen der Versorgungs- und Infrastruktureinrichtungen (etwa dem Flächenbedarf des Individualverkehrs), so führt Sieverts aus, würde der eigentliche Wohnbedarf nur einen kleinen Teil der gesamten Siedlungsfläche in Anspruch nehmen, daher sei hier auch nicht der richtige Ansatzpunkt für eine flächensparende Stadtentwicklung. Sieverts ist der Meinung, dass sich bauliche Verdichtung nur bis zu einer bestimmten Grenze lohne, darüber hinaus würden nur die Wohnverhältnisse verschlechtert werden (Sieverts 1997a/1997b). Auch diese Debatte ist allerdings keineswegs neu, sondern erinnert stark an die Argumente der ›Auflockerungstheoretiker‹ Hoenig und Göderitz. Von diesen beiden Städtebautheoretikern war bereits in den 1920er beziehungsweise in den 1950er Jahren die These vertreten worden, dass eine Verdichtung nicht zu einer Verdichtung führt (vgl. S. 254f. und S. 281f.).3 Sieverts, der mit seinem Ansatz viel dazu beigetragen hat, dass die 2
Sieverts studierte Architektur und Städtebau in Stuttgart, Liverpool und Berlin. 1964 war Sieverts Mitbegründer der ›Freien Planungsgruppe Berlin‹, ab 1967 lehrte er an der Hochschule für Bildende Künste Berlin, der Harvard University, der TH Darmstadt und der TU Wien.
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Das Argument von Göderitz, Hoenig und Sieverts besagt eigentlich nur, dass eine bauliche Verdichtung nicht isoliert von den anderen planungsrechtlichen Bestimmungen (etwa dem Anspruch auf eine bestimmte Anzahl von Stellplätzen pro Wohneinheit) betrachtet werden kann (vgl. Roskamm 1997). Benutzt wird dieses Argument jedoch, um eine generelle Unmöglichkeit von baulicher Ver-
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›Zwischenstadt‹ nicht nur verdammt, sondern erst einmal als eine Realität zur Kenntnis genommen wurde (vgl. Kuhn 2006, 79), reproduziert auf dem Gebiet des Dichtediskurses damit Erklärungsmuster aus vergangenen Debatten, ohne dabei zu wirklich neuen Erkenntnissen zu kommen. Eine weitere Debatte, die im städtebaulichen Diskurs in den letzten Jahren große Bedeutung erlangt hat, ist die seit Ende der 1990er Jahre geführte Diskussion über die ›schrumpfenden Städte‹. In diesem häufig anhand von Prognosen der Bevölkerungszahlen (Stichwort ›demographischer Wandel‹) abgearbeiteten Diskurslinie (vgl. auch Kapitel 4.3) wird vor allem auf das Ende des städtischen Wachstums und damit das Ende der bisherigen Rahmenbedingungen der Disziplin abgestellt (vgl. Pahl-Weber/Roskamm 2007). Im Kontext der Schrumpfungsdebatte findet sich mit der Dissertation Dichte und Schrumpfung von Christiane Westphal (*1975) eine aktuelle und ausführliche Auseinandersetzung mit der ›Dichte‹. Westphal setzt sich zum Ziel, »jenseits der emotional geführten Debatte« der Vergangenheit Antworten auf die Frage nach der »angemessenen Dichte« zu finden (Westphal 2008, 4). Westphal fokussiert auf die Sicht der stadttechnischen Infrastruktur und bestätigt tendenziell die Ergebnisse der Untersuchungen aus den 1970er Jahren, die ergeben hatten, dass bei steigender ›Dichte‹ niedrigere Pro-Kopf-Kosten (und umgekehrt) entstehen (vgl. S. 309f.). Westphal spezifiziert diesen Wirkungszusammenhang und leitet daraus ›Schwellenkorridore minimaler Dichten‹ differenziert nach ›Stadtstrukturtypen‹ ab (Westphal 2008, 237f.). Ergebnis von Westphals Dichteanalyse sind eine Reihe von Handlungsanweisungen für »Wissenschaftler und Stadtplaner«.4 Eine wichtige Aufgabe im künftigen Städtebau sei es, so formuliert Westphal, »tragfähige städtebauliche Leitbilder und Dichteziele« zu entwickeln (ebd. 273f.). Westphals Dichtekonstruktion verdeutlicht die Verlaufsrichtung des von der Ökologiedebatte determinierten städtebaulichen Dichtediskurses. Mit dem starken Fokus auf die ökonomischen und stadttechnischen Aspekte wird ›Dichte‹ hier nicht mehr für die Inszenierung eines ›sozialen‹ oder ›urbanen‹ (respektive eines unsozialen oder antiurbanen) Stadtverständnisses eingesetzt, das stadtplanerische Dichteziel – weitgehend freigestellt von gesellschaftlichen Aspekten – lautet ›Kosteneffizienz‹ (wobei natürlich auch mit diesem Ansatz normative Inhalte transportiert werden). Das klassische Bewertungssystem – die Bestimmung von ›optimalen Dichten‹ – steht dabei für Westphals Ansatz weiterhin Pate. dichtung zu behaupten (und diese Lesart hat sich in der städtebaulichen Diskussion verfestigt). 4
Die von Westphal angegebenen GFZ-Werte variieren zwischen 0,3 und 1,4, nur für den ›Strukturtyp Altbau‹ wird beim ›Sektor Wohnungsnachfrage‹ ein Zielkorridor von GFZ 0,6 bis 2,0 angegeben (ebd. 262f.).
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Neben der Schrumpfungsdiskussion bildet auch die Debatte über die ›Renaissance der Innenstadt‹ einen Rahmen für die Thematisierung von ›Dichte‹ im städtebaulichen Kontext. Kernthese dabei ist es, dass aufgrund unterschiedlicher Einflüsse – etwa Änderungen des Akkumulationsregimes (vgl. Häußermann et al. 2008) – ein ›Bedeutungsgewinn‹ für die Innenstädte zu verzeichnen wäre. Ob sich eine solche ›Renaissance der Stadt‹ in Form »diskursiver Setzungen« und durch die Entstehung »eines neuen Bildes der Stadt« niederschlägt (Hesse 2008, 416) oder ob tatsächlich ein verstärkter Zuzug in die Innenstädte festzustellen ist (Siedentop 2008, 206), wird in der Debatte dabei noch unterschiedlich bewertet. Bezogen auf das Konstrukt ›Dichte‹ wird der Diskurs zur ›Renaissance der Innenstadt‹ vor allem dafür genutzt, die Erforderlichkeit von neuen ›verdichteten‹ Wohnformen zu propagieren. So wird etwa erklärt, dass »zeitgemäßer Städtebau« die Herstellung eines »harmonischen Gleichgewichts« zwischen »hoher städtebaulicher Dichte« und einem »gesunden Maß an Wohnqualität« erfordern würde, mit dem »attraktives Wohnen in der Stadt« zu ermöglichen sei (Heid 2008, 26). Eng verbunden mit der Debatten um die ›Renaissance der Innenstadt‹ ist die städtebauliche Variante des Diskurses zur ›europäischen Stadt‹.5 In dieser Diskussion werden – häufig in Anlehnung an Camillo Sitte (vgl. S. 248) – die Vorzüge der alten europäischen Stadt hervorgehoben und auch hier wird die ›Dichte‹ zum Leitbildelement erklärt. So wird etwa formuliert, dass »neue Ansätze zu einem verdichteten, sozial wie funktional gemischten und am Leitbild der historischen europäischen Stadt orientierten Städtebau« zu Hoffnung Anlass geben würden, dass »urbane Stadtqualität« ein Zukunftsmodell bleibe (Harlander 2006, 40). Die städtebauliche Debatte zur ›europäischen Stadt‹ basiert auf der Entwicklung der architektonischen Postmoderne, in der ab den 1960er Jahren – parallel zur entsprechenden Entwicklung der Städtebaudebatte (vgl. Kapitel 7.1 und 7.2) – ein Bruch mit den bisherigen städtebaulichen Konzepten vollzogen und eine Neubewertung der Stadt des späten 19. Jahrhunderts gefordert wurde. Im theoretischen Diskurs der klassischen Postmoderne spielte der Begriff ›Dichte‹ selbst zwar kaum eine eigenständige Rolle (vgl. etwa bei Rossi 1973 [1966] und Krier 1975), in den Konzepten des postmodernen ›New Urbanism‹ wird jedoch oftmals explizit auf die ›dichte europäische Stadt‹ rekurriert. In diesem Umfeld ist auch ein aktueller Forschungsansatz zu verorten, der sich eine neue Sicht auf die Architektur- und Städtebaugeschichte zum Ziel gesetzt hat. Im Projekt ›Kultur der Urbanität. Die dichte Stadt im 20. Jahrhundert‹ wird dabei die These aufgestellt, dass die Stadtplanung im 20. Jahrhundert keineswegs nur avantgardistischen auf eine Überwindung und Auflösung der Stadt zielenden Konzepten gefolgt sei, sondern es von Anfang an Initia5
Zur stadtsoziologischen Diskussion über die ›europäische Stadt‹ vgl. Kapitel 1.3.
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tiven und Bewegungen gegeben hätte, die an »Modellen der dichten Stadt« gearbeitet hätten (Sonne 2006, 49f.). Es sei eine zentrale Aufgabe der heutigen Stadtbaugeschichte eine Geschichte zu zeichnen, in der »Vorstellungen einer urbanen ›dichten Stadt‹« das ganze 20. Jahrhundert hindurch verfochten und verwirklicht wurden. Insgesamt habe sich die »dicht gebaute Stadt« als »überraschend resistent gegen politisch, ökonomisch und sozial motivierte Wechsel« erwiesen. Gefordert werden daher ein neues Verständnis von ›Urbanisierung‹ und ›Urbanität‹ sowie eine Relativierung der Analyse von Stadtentwicklung als »Ergebnis sozioökonomischer Veränderungen«. Die gebaute Stadt hätte im Lauf der Geschichte ein »Eigenleben« mit eigenen Gesetzlichkeiten entwickelt, es gelte, die »gebaute städtische Form« und die Stadtkultur als »unhintergehbare Faktoren« in die Betrachtung mit einzubeziehen (ebd.). Ob für eine Neuinterpretation der Städtebaugeschichte, als Baustein der ›europäischen Stadt‹ oder als Element des Ideals der ›kompakten Stadt‹: ›Dichte‹ ist in der derzeitigen städtebaulichen Leitbilddebatte sehr präsent, und zwar als ein mehrheitlich positiv moralisiertes Element. ›Dichte‹ gilt zum einen (wieder) als Kategorie von ›Urbanität‹, zum anderen und insbesondere als Garant einer ›nachhaltigen Stadtentwicklung‹, als Mittel gegen Flächenverbrauch, Energieverschwendung und unnötigen Verkehrsaufwand. Auf den ersten Blick ist die Dichteeinbindung in den Ökologiediskurs dabei durchaus überzeugend. In den an ökonomischen Ansätzen orientierten Effizienzberechnungen von städtebaulichen Projekten wird hier nämlich ein entscheidender Kritikpunkt an der historischen Dichtepraxis des Städtebaus ausgehebelt: Mit dem räumlichen Faktor ›Dichte‹ wird in der ökologisch begründeten Variante nicht mehr versucht, soziale Entwicklung zu beeinflussen respektive zu ›ordnen‹ (und genau dieser Ansatz ist ja ein Kernpunkt der Kritik an der Verwendung der ›Dichte‹), sondern vordergründig ist die Absicht nun, eine ökonomische Entwicklung zu steuern. Die gesellschaftlichen Ebene betreffend ist das Konzept der ›optimalen Dichte‹ – das ist bei der historischen Analyse deutlich geworden (vgl. etwa Kapitel 4) – grundlegend kritisiert worden, aus ökologisch/ökonomischer Sicht spricht dagegen erst einmal nicht viel gegen die Bestimmung einer ›optimalen Dichte‹. Erst die (meines Erachtens dringend erforderliche) Rückbeziehung des Ökologiediskurses auf die gesellschaftliche Ebene führt wieder zu den bekannten Problemlagen. Das wird nicht zuletzt dann deutlich, wenn überlegt werden muss, mit welchen Mitteln eigentlich eine solche (mit ökologischen Kriterien bestimmte) ›optimale Dichte‹ umgesetzt werden könnte. Und dieser Gedanke führt zurück zur Debatte um die planungsrechtliche Dichtepraxis im Städtebau. Während gegenwärtig die Leitbilddebatte im Städtebau umfangreich betrieben wird, ist das Planungsrecht (also die städtebauliche Institution des alltäglich in der stadtplanerischen Praxis angewendeten Regel-
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werkes) und die dort verankerte Dichtepraxis kaum noch Gegenstand einer grundsätzlichen Diskussion, obwohl die Anfang der 1960er eingeführten (und damals viel diskutierten) Regelungen weiterhin Bestand haben. Die Baunutzungsverordnung von 1962 ist zwar bis heute etliche Male (1969, 1977, 1986 und 1990) novelliert worden, entscheidende Änderungen bezüglich der ›baulichen Dichte‹ wurden dabei jedoch nicht vorgenommen.6 Der ausgewiesene Dichteexperte Gerhard Boeddinghaus (vgl. S. 290f.) kritisiert in Fortführung seiner Untersuchungen aus den 1960er Jahren weiterhin die Regelungen der Baunutzungsverordnung. Boeddinghaus bezeichnet ›Dichte‹ als »anerkanntes« und »entscheidendes Kriterium« im Städtebau, welches es genau in dieser Funktion zu analysieren gelte (Boeddinghaus 1986, 57f.). Boeddinghaus führt aus, dass die These von Gerd Albers, dass sich ›Wohnqualität‹ und ›Dichte‹ gegenseitig entsprechen würden und ›Dichte‹ also als messbarer Indikator für die Qualität städtebaulicher Planung verwendet werden könne (vgl. S. 291f.), viel zu der exponierten Position der ›Dichte‹ im Städtebau beigetragen hätte, ohne dass die These jemals überprüft worden sei. Es wäre daher zu fragen, ob das für die Einführung der Dichteregeln maßgebliche Ziel der ›aufgelockerten Stadt‹ auch heute noch gelte, und ob sich die entsprechenden Mittel (die Begrenzung der ›baulichen Dichte‹) als geeignet erwiesen hätten, dieses Ziel zu erreichen. Bei dem Versuch einer Beantwortung dieser Fragen formuliert Boeddinghaus die These, dass das Bedürfnis nach ›Licht und Luft‹ zwar weiterhin den »Wünschen der Bewohner« entspräche, der Drang in »aufgelockerten Stadtteilen mit geringer Bebauungsdichte« zu leben jedoch so stark verbreitet sei, dass der Wohnungsmarkt diese Ansprüche ganz von alleine gewährleisten würde. Eine planungsrechtliche Regelung der ›baulichen Dichte‹ sei daher nicht weiter erforderlich. Zudem sei der Ansatz, gesunde Wohnverhältnisse durch die Verwendung von Messzahlen zu schaffen, grundsätzlich kritisch zu hinterfragen. Neben dem persönlichen Gesundheitsbedürfnis wäre inzwischen die Sorge um die allgemeinen Umweltgefahren getreten, zu deren Behebung der Städtebau aber nicht in der Lage sei. Auch wäre die Thematik der ›gesunden Wohnbedürfnisse‹ insgesamt zu komplex, als dass sie durch eine generelle und vereinheitlichende Konstruktion geregelt werden könne. Im Ergebnis seiner Analyse plädiert Boeddinghaus für eine Abschaffung der geltenden Dichteregelung der BauNVO, anzustreben sei dagegen die Rege6
In der Novelle von 1990 wurden die Obergrenzen nach § 17 BauNVO teilweise angehoben, so gilt als Obergrenze für Kerngebiete nun eine GFZ von 3,0, für Mischgebiete und für allgemeine Wohngebiete eine GFZ von 1,2. Gleichzeitig wurde jedoch die Ausnahmeregelung (Befreiungsmöglichkeit von der Obergrenzenregelung) mit § 17 Abs. 3 BauNVO verschärft (vgl. BVerwG 23.1.1997- 4 NB 7.96, BauR 1997, 442).
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lung des Maßes der baulichen Nutzung über das Nachbarschutzrecht mit Hilfe von bauordnungsrechtlichen Bestimmungen über die Abstandflächen (ebd.). Im Jahre 2002 publiziert Boeddinghaus eine weitere kritische Bewertung der (weiter unveränderten) Dichteregelungspraxis der Baunutzungsverordnung. Boeddinghaus stellt dabei fest, dass eine Analyse der Vorschriften zur ›baulichen Dichte‹ im Hinblick auf ihre Wirkungen immer noch nicht erfolgt sei und fragt erneut, ob es sinnvoll ist, eine Planungspraxis auf der Grundlage einer Verordnung, die auf den Zielvorstellungen der 1960er Jahre beruht, geradlinig fortzusetzen (Boeddinghaus 2002, 1327f.). Die BauNVO sei in der Hoffnung entwickelt worden, dass sich mit diesen Vorschriften ein »besserer, humanerer Städtebau« durchsetzen ließe, dieser Wunsch habe sich jedoch nicht erfüllt. Die in der städtebaulichen Debatte vertretene Lehrmeinung, die BauNVO habe »hohe städtebauliche Standards sichergestellt« und so eine »wichtige Schutzfunktion, insbesondere für die Gesundheit der Wohn- und Arbeitsstätten« wahrgenommen, sei eine »durch nichts begründete Annahme«. Die klassische Vorstellung, alles was unter dem Dichtewert 1,0 (oder 2,0 für Kerngebiete) liege, könne als unbedenklich eingestuft werden, alles was darüber liege, sei dagegen nicht nur bedenklich, sondern »inhuman, unsozial und ungesund«, müsse »wohl eindeutig als nicht zutreffend zurückgewiesen werden«. Heute seien die Städte in ihrem Bau- und Siedlungsgefüge aufgelockert, nicht eine zu hohe Siedlungsdichte, sondern der zunehmende Landverbrauch (die Zersiedlung der Landschaft) sei zum Problem geworden. Die heute anerkannten städtebaulichen Ideale »Nutzungsmischung und hohe Dichte« seien das Gegenteil von dem, was mit der BauNVO hatte erreicht werden sollen. Insgesamt, so formuliert Boeddinghaus sein Fazit diesmal in etwas resignierendem Tonfall, sei die den Vorschriften über die Obergrenzen der ›Baulichen Dichte‹ zugrunde liegende Zielvorstellung als »obsolet« anzusehen (ebd. 1336). Es ist ein durchaus bemerkenswerter Vorgang, dass der im Bereich der Baunutzungsverordnung führende Planungsrechtsexperte (Boeddinghaus ist der Autor des Kommentars zur BauNVO) mehr oder minder deutlich für die Aufhebung des wichtigsten Instrumentes dieses Regelwerkes plädiert. Boeddinghaus kritisiert jedoch nicht nur die planungsrechtliche Dichtepraxis, er liefert auch einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis derselben. Boeddinghaus reflektiert, warum eigentlich die große Diskrepanz zwischen den Regelungsabsichten der BauNVO und den heutigen Vorstellungen bis heute nicht zu einer fundamentalen Änderung (oder Abschaffung) der BauNVO geführt hat und kommt damit zum Kern der derzeitigen Funktion der Dichtekonstruktion im planungsrechtlichen Kontext. Die Dichteregelung der BauNVO, also die Einführung von Dichteobergrenzen und die Ermächtigung der Gemeinde, unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmerege-
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lungen davon zu gestatten, so erklärt Boeddinghaus, gäbe den Kommunen einen Pfand in die Hand, mit dem sie bei Verhandlungen mit bauwilligen Investoren wuchern können. Würde es keine Dichtegrenze geben, könnte der Investor bauen wie er möchte (das entspräche der Baufreiheit), würden starre Obergrenzen bestehen, müsste der Investor sich einfach daran halten. Erst die Ausnahmekonstruktion der BauNVO gibt der kommunalen Selbstverwaltung eine Verhandlungsmasse an die Hand. Vor diesem Hintergrund wird auch der von den städtebaulichen Praktikern immer wieder vertretene Standpunkt verständlich, bloß nichts Grundsätzliches an der BauNVO zu ändern. Der eigentliche Grund für das Fortbestehen der Dichteregelungen der BauNVO, so schreibt Boeddinghaus, sei der Wunsch nach der Beibehaltung einer starken Position der Verwaltung in den Verhandlungen mit bauwilligen Investoren, auch wenn dies bei den Änderungsberatungen zur BauNVO in den offiziellen Stellungnahmen und Begründungen so nicht ausgeführt werde. Nimmt man die städtebauliche Diskussion insgesamt in Betracht, bleibt Boeddinghaus mit seiner Kritik der Regelungen zur ›baulichen Dichte‹ ein (kaum wahrgenommener) Einzelfall. Die Debatte der 1960er Jahre ist lange vorbei, eine Hinterfragung und Kritik der Dichtepraxis steht heute in der städtebaulichen Debatte nicht mehr auf der Tagesordnung. Was im städtebaulichen Kontext jedoch umfangreich diskutiert wird, sind die Umwälzungen der Rahmenbedingungen, in denen die Disziplin eingebettet ist. Das Ende der von umgreifenden Wachstumsprozessen geprägten Epoche der Moderne, so wird in diesem Zusammenhang formuliert, sei gleichbedeutend mit dem Ende der entsprechenden städtebaulichen Vorstellungen, Handlungskonzepten, Theorien, Gesetzen und Praktiken (Oswalt 2008). Aufgrund des Endes der »industriellen Verstädterung«, der durch die Neuerungen der Verkehrs- und Kommunikationstechnik ermöglichten (und von der moderne Stadtplanung unterstützten) räumlichen Auflösung der ökonomischen und sozialen Einheit Stadt, gäbe es nun nicht mehr einen »Zwang zur Stadt« respektive eine Erfordernis zur »räumlichen Dichte« (Häußermann 1997, 11, vgl. auch Segal/Verbakel 2008, 7). In der aktuellen städtebaulichen Debatte führen solche Analysen häufig zur Diagnose einer »Krise« der Disziplin (vgl. Wohlhage 1990, Sieverts 2000, Eisinger 2006, Sieverts 2007, Selle 2007, etc.). Die ›Krise des Städtebaus‹, das ist meine These, kann dabei auch als eine ›Krise der Dichte‹ interpretiert werden. Das klassische Konzept der ›Dichte‹ ist im städtebaulichen Kontext – trotz seiner weiteren Verwendung im ökologischen Diskurs (der ›Rettung der Dichte‹) – in erhebliche Legitimationsschwierigkeiten geraten. Erstens hat sich inzwischen der institutionalisierte Dichtegebrauch in der BauNVO (mit dem Ziel einer Beschränkung der ›Dichte‹) vom gängigen ökologischen Begründungsdiskurs (mit dem Ziel einer möglichst hohen ›Dichte‹) soweit entfernt, dass kaum
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mehr ein Bezug zwischen den beiden Positionen hergestellt werden kann. Zweitens hat die Relevanz des Ziels der ›städtebaulichen Verdichtung‹ durch das Ausbleiben von städtischem (ökonomischen, demographischen) Wachstums stark gelitten. Drittens wird auf der theoretischen Ebene weiterhin (und immer fundierter) insistiert, dass jede »Raumpolitik zur Behebung sozialer Problemsituationen« zwangsläufig »ins Leere greifen« müsse (Werlen 2005, 18),7 und damit ein erheblicher Teil des konzeptionellen Fundaments der städtebaulichen Dichteinstrumentalisierung aufgekündigt.
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Respektive der Einfluss öffentlicher Planung auf funktionale und soziale Nutzungsstruktur »getrost als gering« bezeichnet werden könne (Häußermann 1996, 7).
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Reflexion (III)
I ›Dichte‹ = Städtebau Der Schweizer Architekt und Architekturhistoriker Vittorio Lampugnani formuliert, Dichte sei »allgemein gleich Stadt und Stadt gleich Dichte« (Lampugnani 2004, 2). Betrachtet man die Geschichte der Theorie des Städtebaus aus der von mir eingenommenen Perspektive, drängt sich eine weitere Entsprechung auf. ›Dichte ist gleich Städtebau‹, so mag man formulieren, und ›Städtebau ist gleich Dichte‹. ›Dichte‹ ist im Städtebau eine Art selbstreferentielles System geworden: der Begriff wird mit jedem neuen städtebaulichen Thema verbunden, scheinbar unabhängig davon, um welches Thema es sich handelt, ob die Gesundheitsfrage, die Wohnungsfrage, die Bodenfrage, die soziale oder die ökologische Frage diskutiert wird. In allen Phasen und Bereichen im städtebaulichen Diskurs, in den meisten klassischen Grundsatzpositionen (ob konservativer oder sozialreformerischer Herkunft) – eine enge Beziehung zwischen ›Dichte‹ und Städtebau besteht praktisch immer. Ebenso wie das Konstrukt ›Dichte‹ lässt sich Städtebau dabei in einen ›materiellen Objektbereich‹ (den realisierten gebauten Städtebau) und in einen ›konzeptionellen Objektbereich‹ (den theoretischen Konzepten von Städtebau, den städtebaulichen Debatten) unterscheiden. Das Bau- und Planungsrecht ist als ein dritter Bereich zu nennen, den man zwischen der materiellen und der konzeptionellen Ebene verorten kann. Bei den theoretischen Konstrukten kann wiederum in einige diskursive Hauptlinien gegliedert werden, etwa in den architektonisch-stadtkünstlerischen, den planerisch-ingenieurstechnischen und den planungsrechtlichen Städtebaudiskurs. Zudem gibt es Querschnittsbereiche wie die ökologische Debatte und die Debatte zum ›demographischen Wandel‹. Um einen Zugang zu diesem komplexen Untersuchungsfeld zu erhalten, ist mein Vorschlag, in verschiedene Gebrauchsformen der ›Dichte‹ zu gliedern, anhand derer die Konstruktion weiter diskutiert werden kann. Aus der historischen Analyse des städtebaulichen Dichtediskurses lässt sich ein Muster ableiten: Erstens wird ›Dichte‹ als Kategorie für die Beschreibung und Bewertung von Räumen verwendet, als empirisch zugängliches Kriterium für die Analyse von bestimmten städtischen (oder nichtstädtischen)
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Bereichen. Zweitens findet sich ›Dichte‹ auf der Zielebene, als Element und Symbol bei der Formulierung eines städtebaulichen Standpunkts, als Metapher für eine städtebauliche Grundposition. Drittens und als Ergebnis der beiden ersten Dichteeinbindungen ist ›Dichte‹ ein zentrales instrumentelles Element des bau- und planungsrechtlichen Regelwerkes. Die drei Gebrauchsarten – Kriterium, Ziel, Instrument – befinden sich in einem kontinuierlichen und gegenseitigen Wechselverhältnis. Insbesondere der Gebrauch der ›Dichte‹ als Element von gesetzlichen Vorgaben erzeugt dabei – auch im Vergleich zu den sozialwissenschaftlichen Dichtedisziplinen – eine neue Qualität. Mit der städtebaulichen Praxis, ›Dichte‹ in Form von rechtsverbindlichen Plänen festzusetzen, wird versucht, direkten Einfluss auf die materielle Realität auszuüben. Da ein solcher Eingriff begründet werden muss, ist die instrumentelle Ausformung Ergebnis einer Diskussion, in der ›Dichte‹ als Kriterium respektive als Leitbildelement verwendet wird. Die Institutionalisierung ergibt wiederum selbst mannigfaltig Themen für den theoretischen Rekurs auf die ›Dichte‹. II ›Dichte‹ als Kriterium Bei der Verwendung der ›Dichte‹ als Kriterium wurde in der modernen Städtebaudebatte auf ein bereits bestehendes Konzept zurückgegriffen. Schon bei Lorenz von Stein wird die ›Dichte‹ als entscheidendes Merkmal des Wohnungswesens bestimmt, in der anschließenden städtebaulichen Debatte Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Konzept zu einer zentralen Kategorie der Disziplin ausgebaut. Inhaltlich wird in diesem Kontext insbesondere auf drei Gebieten argumentiert: Im hygienischen beziehungsweise gesundheitspflegerischen Bereich, hinsichtlich der ›sozialen Frage‹ und im Rahmen der Ursachenforschung für die Bodenspekulation und deren Folgen. Alle drei Bereiche werden als sich gegenseitig beeinflussend dargestellt, die ›hohe Dichte‹ wird auf den drei Gebieten sowohl als negativ zu bewertende Ausprägung als auch als Ursache der bestehenden Problemlagen bestimmt. Zurückgegriffen wird dabei auch auf den gleichzeitigen Dichtediskurs in der Geographie und der Nationalökonomie, in dem ›Dichte‹ ebenfalls als Merkmal der negativen Begleiterscheinungen des Großstadtwachstums der Industriealisierung verwendet wird. Die dortige vor allem im sozialreformerischen bzw. sozialdemokratischen Kontext zu findende alternative Bewertung der ›Dichte‹ als ein positives Element kommt in der städtebaulichen Debatte (zu diesem Zeitpunkt) dagegen praktisch gar nicht zum Ausdruck.1
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Mit meiner Darstellung des Gebrauchs des Kriteriums ›Dichte‹ in der städtebaulichen Debatte soll dabei keineswegs bestritten werden, dass die hohe Einwoh-
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Als ein aus statistischen Angaben gebildeter Zahlenwert bot sich auch in der städtebaulichen Debatte das Konstrukt ›Dichte‹ dafür an, die Bemühungen um eine wissenschaftliche Qualifizierung der Disziplin zu befruchten. Gerade der zentralen Forderung nach städtebaulichen allgemein gültigen Regeln (Normen, Verordnungen, gesetzlichen Bestimmungen) musste eine mit ›objektiven Zahlenangaben‹ angereicherte städtebauliche Analyse voran gestellt werden. Prädestiniert für die Verwendung als rationales und objektives Kriterium war das Konstrukt ›Dichte‹ vermutlich auch deshalb, weil zur gleichen Zeit in der naturwissenschaftlichen geographischen Debatte die Einwohnerdichte als direktes gesellschaftliches Abbild der Natur konzipiert worden ist (vgl. Kapitel 3.1). Insbesondere die in der städtebaulichen Debatte behauptete ›natürliche‹ Staffelung der ›baulichen Dichte‹ um den Stadtkern, die als zentrales Argument für die Einführung der Zonenbauordnungen eingesetzt wurde, ist eine Ableitung aus dem von geographischer Seite gepflegten Naturdeterminismus. In den 1920er und 1930er Jahren wird der Fachdiskurs zum einen durch umfangreiche Berechnungen des ›unbestechlichen‹ Dichtekriteriums angereichert, mit denen das jeweils bevorzugte Städtebauideal als objektiv bestes Stadterweiterungsmodell begründet werden sollte. Zum anderen wird ›Dichte‹ (in der Ausprägung ›zu hohe Dichte‹) weiterhin als negatives Merkmal der bestehenden Großstadt verwendet. Auch in der Städtebaudebatte im NS-Staat wird beim Gebrauch des Dichtekriteriums vornehmlich weiter auf den konservativ-völkischen Diskurs rekurriert, hinzugefügt wird der Debatte dort jedoch ein weiterer Aspekt, nämlich die Bedeutung der ›Dichte‹ als Kriterium des Luftschutzes. Bis in die 1960er Jahre dominiert in der städtebaulichen Debatte die Betrachtung der ›Dichte‹ als grundsätzlich negativ zu bewertendes Kriterium für ungesunde, unsittliche und unsichere städtische Zustände. Erst nach Einführung der Baunutzungsverordnung Anfang der 1960er Jahre wird eine ›hohe Dichte‹ auch als potenziell positives Merkmal in der städtebaulichen Debatte verwendet. Zugleich lassen sich auf der anderen Seite auch erste Stimmen vernehmen, welche ›Dichte‹ als geeignetes Kriterium für den Städtebau grundsätzlich hinterfragen. In den 1960er und 1970er Jahren wurde die Betrachtung der ›Dichte‹ zunehmend differenziernerdichte und die hohe ›bauliche Dichte‹ der industriellen Großstadt tatsächlich mit dem sozialen Elend in den Städten korrespondiert hat, dass die sozialen (hygienischen, gesundheitlichen) Bedingungen wirklich in den räumlich dicht bebauten Quartieren besonders katastrophal gewesen sind. Für meinen Ansatz (die Untersuchung der gedanklichen Konstruktion von ›Dichte‹) ist es jedoch entscheidend zu betrachten, was aus dieser Beurteilung gemacht wurde, welche impliziten und expliziten Ziele (und Instrumente) aus der Diagnose abgeleitet wurden.
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ter, aus dieser Zeit stammen die wohl grundlegendsten Annäherungen an den Begriff, in denen in einer vielschichtigen Debatte wichtige Beiträge für eine Grundlagenbetrachtung des Konstrukts erarbeitet wurden. Gleichzeitig wurde verstärkt mit ›städtebaulichen Richtwerten‹ gearbeitet, die zum großen Teil aus Angaben der Einwohnerdichte respektive der ›baulichen Dichte‹ gebildet wurden. In diesem Rahmen findet eine Aufweitung des Dichtebegriffs statt, mit der – definiert als Verhältnis von irgendeiner zu irgendeiner anderen Größe – der Gebrauch als Metapher für einen politischen oder gesellschaftlichen Inhalt komplizierter wurde. Ergebnis des Diskurses der 1970er Jahre war, dass das Konstrukt ›Dichte‹ als zentrales Kriterium des Städtebaus zunehmend hinterfragt wurde und dabei einen beträchtlichen Teil der ihr zugeschriebenen Deutungsmacht verlor. Dem Kriterium ›Dichte‹ wird seitdem hinsichtlich der gesundheitlichen (und auch hinsichtlich der sozialen Aspekte) kaum mehr ein entscheidender Einfluss eingeräumt. Abgelöst werden diese klassisch mit dem Merkmal ›Dichte‹ verknüpften Bereiche durch den ökologischen Diskurs, auf dessen Grundlage ›Dichte‹ heute wieder als ein wichtiges Kriterium für städtebauliche Planungen verwendet wird. III ›Dichte‹ als Ziel Von der Bestimmung der ›hohen Dichte‹ als Kriterium für sämtliches ›städtebauliche Übel‹ hin zur Implementierung der Forderung nach einer Verringerung der ›Dichte‹ als städtebauliche Zielvorgabe ist es nur ein kleiner Schritt. Das vorherrschende städtebauliche Ideal aus der Anfangszeit des modernen Städtebaudiskurses lässt sich daher auch am ehesten mit dem Begriff ›Weiträumigkeit‹ umschreiben, der – als Gegenbild zum auf der städtebaulichen Analyseebene eingeführte Kriterium ›Dichte‹ konzipiert – Anfang des 20. Jahrhunderts als allgemeiner Konsens für die städtebauliche Planung bezeichnet werden kann. Die Debatten um die ›Gartenstadt‹ oder die ›Trabantenstadt‹ respektive über die Bevorzugung der ›Flachbauweise‹ oder der ›Hochbauweise‹ zeugen zwar von unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Einstellungen und Zielen. Als städtebauliches Ideal wurde jedoch von allen Richtungen die ›weiträumige Bebauung‹ genauso anerkannt, wie die bestehende Großstadt von den meisten Akteuren im städtebaulichen Diskurs grundsätzlich abgelehnt wurde. In diesen Programmpunkten ist zwischen Fritschs und Howards Gartenstadt, Feders ›neuer Stadt‹, Le Corbusiers Charta, Reichows organischer Stadtlandschaft oder Scharouns Kollektivplan kaum ein Unterschied zu erkennen. Die ›Weiträumigkeit‹ wurde in der städtebaulichen Debatte der 1930er und 1940er Jahre weiterentwickelt zum Konzept der ›Auflockerung‹, das seinen publizistischen Höhepunkt in Göderitz’ Thesen über die ›aufgelockerte und geglie-
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derte Stadt‹ fand. Mit der ›aufgelockerten Stadt‹ schuf Göderitz, für den ›Dichte‹ immer eine überaus wichtige Kategorie des Städtebaus darstellte, den Inbegriff des gegen die ›großstädtische Dichte‹ gerichteten städtebaulichen Leitbildes. Marianne Rodenstein definiert den Begriff ›Leitbild‹ als »Konkretion komplexer Zielvorstellungen«, die einzelnen Entwürfen, Planungskonzepten und persönlichen Gestaltungspräferenzen einen gemeinsamen Hintergrund gibt und sie in einen übergreifenden Konsens über Wertmaßstäbe einbindet. Voraussetzung für die Entstehung von ›Leitbildern‹ sei dabei eine gesellschaftliche Konstellation, in der es eine leitende planerische Autorität gibt, die im Sinne der herrschenden politischen Kräfte handelt (Rodenstein 1992, 33f.). Auf genau solch eine Konstellation trafen am Ende der 1950er Jahre die Thesen von Göderitz. Die Schwerpunktsetzung von Göderitz auf die Themen ›Dichte‹ respektive ›Auflockerung‹ spiegelt zum einen die Bedeutung wider, die das Konstrukt ›Dichte‹ in der städtebaulichen Debatte bis zu diesem Zeitpunkt erreicht hatte. Zum anderen verankern seine Thesen das Konstrukt ›Dichte‹ weiter im diskursiven städtebaulichen Kern und bereiten die (ebenfalls von Göderitz vorangetriebene) Implementierung und Institutionalisierung der ›Dichte‹ im Bau- und Planungsrecht vor. Die ›gegliederte und aufgelockerte Stadt‹ ist damit das Dichteleitbild des Städtebaus und zugleich eine Zusammenfassung der Traditionslinien der Disziplin. Die inhaltliche Übereinstimmung dieser Traditionslinien – unabhängig von der unterschiedlichen politischen Herkunft ihrer Protagonisten – ist bemerkenswert. In einer aktuellen Untersuchung über städtebauliche Wiederaufbaukonzepte unterschiedlicher politischer Provenienz stellt Elke Sohn die Frage nach dem Hintergrund der Gemeinsamkeiten in den Zielsetzungen der jeweiligen Städtebauer. Die Untersuchungen von »Kongruenzen und Kontinuitäten im Rahmen der Leitbild-Analyse« würden aufzeigen, so schreibt Sohn, dass es eine Flexibilität beziehungsweise eine Austauschbarkeit in der politischen Lesbarkeit dieser Entwürfe geben müsse, da die eindeutige Zuweisung der Konzepte in entgegengesetzte politische Formationen nicht möglich wäre (Sohn 2008, 24f.). Sohn führt aus, dass dies verschiedene Gründe haben könne: Ein Erklärungsansatz sei, dass die politischen Haltungen nur oberflächlich unterschiedlich seien, dass es also eine Entgegengesetztheit gar nicht gäbe, sonder eigentlich eine Kontinuität vorherrsche (eine »bürgerliche oder gar faschistische Kontinuität«). Eine andere These könnte es sein, so führt Sohn weiter aus, dass städtebauliche Pläne politischen Implikationen (ob diese nun intendiert sind oder nicht) allgemein nicht gerecht werden könnten, da eine geschlossene und eindeutige Transformation zwischen sprachlich formulierten Zielen und zeichnerischen Entwürfen gar nicht möglich sei (ebd.). Eine dritte Möglichkeit lässt sich meines Erachtens aus der Betrachtung der ›Dichte‹ als zentrales städtebauliches Zielelement
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ableiten, nämlich die These von – auf langer Tradition beruhenden – städtebaulichen Gemeinsamkeiten: der Ablehnung der bestehenden Stadt, der Implementierung der ›Dichte‹ als zentrales Kriterium, der Weiträumigkeit als übergreifendes städtebauliches Ideal und die Intention ›Ordnung zu schaffen‹. Die These ist also, dass weniger von einer bürgerlichen oder faschistischen Kontinuität im Städtebau zu sprechen ist, als vielmehr von einer (von den politischen Einstellungen unabhängigen) städtebaulichen Kontinuität, die vom Bismarckreich über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis in die 1950er Jahre reicht. Nicht zu verwechseln ist diese These mit dem Erklärungsangebot, mit dem bis in die 1960er Jahre die Fortschreibung der in der NS-Zeit und davor entwickelten städtebaulichen Zielvorstellungen nach 1945 legitimiert wurden. Städtebau, so lautete die dort übliche Argumentation, sei eine (naturwissenschaftliche) Notwendigkeit mit (unpolitischen) allgemeingültigen Regeln, die eben zu allen Zeiten gegolten hätten und weiterhin gelten würden. Eine Betrachtung der (zweifelsohne bestehenden) inhaltlichen Kontinuität im Städtebau bis (mindestens) in die 1960er Jahre, bei der eine solche politische Unbedenklichkeitserklärung nicht abgegeben wird, fokussiert zwangsläufig auf inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen Konservatismus, Moderne und Nationalsozialismus. Die Dichteverwendung im städtebaulichen Diskurs ist als solch eine Gemeinsamkeit zu identifizieren, und sie spiegelt und transportiert keine naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten, sondern ein gemeinsames politisches, gesellschaftliches und philosophisches Grundverständnis. Für eine Beurteilung der Frage nach den städtebaulichen Kontinuitäten ist es von Bedeutung, dass im Laufe der 1960er Jahre die städtebaulichen Grundwahrheiten ins Wanken geraten sind. Das Verhältnis des Städtebaus zur bestehenden Großstadt wurde in der Disziplin neu definiert, die Bewertung der ›Dichte‹ wandelte sich – erst vereinzelt, dann umfassend – hin zu einer Konnotation mit positiven Vorzeichen. Dieser Bruch wird auch von Werner Durth und Niels Gutschow thematisiert, die viel zur Aufbereitung der städtebaulichen Historie im NS-Staat beigetragen und dabei eine andere These – die von der Stunde Null im Mai 1945 – eindrucksvoll widerlegt haben. Den vorläufigen Endpunkt der von ihnen aufbereiteten Geschichte setzen Durth und Gutschow am Ende der 1960er Jahre. Erst zu diesem Zeitpunkt seien, so schreiben die beiden Autoren, »solche weiträumigen Leitbilder grundsätzlich in Frage gestellt« worden (Durth/Gutschow 1988, 218f.). Der »drängende Umbau der Innenstädte, die Reorganisation des Verkehrs und die Expansion der Großstädte zu amorphen Gebilden« hätten ein »neues Planungsverständnis« erfordert, das »unter dem Schlagwort ›Gesellschaft durch Dichte!‹« zu neuen Programmen geführt habe, die »tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Strukturwandlungen« hätten »neue Formen der
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Verstädterung« ergeben, die mit den »alten ›Leitbildern‹ nicht mehr zu deuten und »erst recht nicht zu steuern« gewesen seien (ebd.). Bemerkenswert an dieser Deutung ist zum einen, dass Durth und Gutschow den Endpunkt der klassischen und den Anfangspunkt einer neuen Städtebauperiode mit Änderungen im Dichteverständnis begründen. Zum anderen ist aber auch diese These zu hinterfragen. Erstens wird nämlich von Durth und Gutschow ein kausaler Zusammenhang zwischen städtebaulichen Anforderungen und dem städtebaulichen Planungsverständnis zugrunde gelegt und dabei impliziert, dass mit den neuen städtebaulichen ›Leitbildern‹ dem ökonomischen und sozialen Strukturwandel auch adäquat begegnet worden sei – und das ist aus heutiger Sicht zumindest zweifelhaft. Zweitens benennen die beiden Autoren das ›neue Planungsverständnis‹ mit einer Variation des vermeintlichen Leitbildes ›Urbanität durch Dichte‹, was – so ein Ergebnis meiner Untersuchung – in dieser Form aber gar nicht existiert hat (vgl. Kapitel 7.2). Peter Zlonicky fragt bei seiner Reflexion der Verstrickungen des Städtebaus in die Geschichte des NS-Staates mit direktem Bezug auf die Ausführungen von Durth und Gutschow, ob die »Kontinuitäten-These nicht über das Jahr 1966 hinaus« fortgeschrieben werden müsse (Zlonicky 1997, 239). Und auch bei der Betrachtung des städtebaulichen Dichteverständnisses scheint die Frage nach der eigentlichen Qualität des Bruches am Ende der 1960er Jahre für eine andere Interpretation (als der von Durth und Gutschow) zugänglich zu sein. ›Dichte‹ wurde in Folge der städtebaulichen Debatten der 1960er Jahre zwar in der Tat neu bewertet, sie blieb dabei aber trotzdem ein wichtiges Element des städtebaulichen Diskurses. Was in der städtebaulichen Debatte nicht aufgegeben wurde, war das Ziel, die Gesellschaft (das Soziale) mit baulich-räumlichen Mitteln zu gestalten und zu ordnen, und das Konstrukt ›Dichte‹ wurde bei diesem Vorhaben als Zielkategorie beibehalten, wenn auch mit (zumindest in der theoretischen Debatte) geänderten Vorzeichen. Zwar wurde in der städtebaulichen Diskussion zu keiner Zeit ein simples Leitbild ›Urbanität durch Dichte‹ formuliert und vertreten, dennoch ist die ›Dichte‹ ein fortwährender Bestandteil des städtebaulichen Zielkataloges geblieben. Aus dieser Perspektive ist das Konstrukt ›Dichte‹ weniger (in Folge ihrer Neubewertung) ein Symptom für einen städtebaulichen Neubeginn, sondern eher (aufgrund des beibehaltenen Denkansatzes) ein über die 1960er Jahre hinaus reichender Träger städtebaulicher Kontinuität. Somit ist der Wandel der Dichtebewertung auf der städtebaulichen Zielebene als Metapher für von Seuche, Armut und Umsturz zeugenden und daher abzulehnen Zuständen zum »Synonym für städtische Vielfalt, Lebendigkeit, Erlebnisfülle, für das Städtische schlechthin« (Spiegel 2000, 39) sicherlich ein imposanter Positionswechsel. Andererseits blieb (bleibt) dem Städtebau das Konstrukt selbst erhalten – ›Dichte‹ war und ist (trotz unterschiedlicher Ausrichtungen) immer städtebauliches Ziel und
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steht weiter für den disziplinären Ansatz, mit eigenen Mitteln die Gesellschaft formen zu wollen. IV ›Dichte‹ als Instrument Aus der Weiterentwicklung der mittelalterlichen Regelungen über die Ausnutzung der Grundstücke entstanden der institutionelle Städtebau und dessen Regularien. Eingebettet ist dieser Entstehungsprozess in einen übergreifenden politischen und gesellschaftlichen Wandel. Aus der ehemals staatlichen Bauordnungsplanung in einem feudalen System bildete sich zum Ende des 19. Jahrhunderts eine kommunale und demokratisch angelegte Stadtplanung in einer kapitalistisch-liberalen Ordnung. Die städtebauliche Regelungspraxis ist damit ein gegen die feudalistischen Strukturen gerichtetes Verfahren, ein Element der demokratischen politischen Strömungen, ein Instrument, mit dem versucht wurde, den wirtschaftlichen Liberalismus zu zähmen und schließlich (wie alle reformerischen Ansätze) auch ein Mittel für den Erhalt der bestehenden Ordnung. Mit dem Ansatz, die bauliche Ausnutzung der Grundstücke zu regeln, glaubten die Städtebauer einen wichtigen Hebel für die Umsetzung all dieser Ziele in der Hand zu halten. Die seit dem Mittelalter bestehenden baupolizeilichen Regelungen über die zulässige Ausnutzung von Grundstücken wurden in der städtebaulichen Debatte am Ende des 19. Jahrhunderts in dem Begriff ›Baudichtigkeit‹ zusammengefasst. Damit wurde dem Kriterium Einwohnerdichte (›Wohndichtigkeit‹) ein zweites Konstrukt an die Seite gestellt und der Analysebereich ›Wohndichte‹ mit dem städtebaulichen Wirkungsbereich der ›baulichen Dichte‹ verzahnt. Das soziale Elend der Städte wurde aus Sicht der Städtebauer mit der originär städtebaulichen Kategorie der ›baulichen Dichte‹ quantifizierbar, darauf aufbauend konnte aus der (in vielen Fällen sicherlich zutreffenden) Diagnose ›je dichter die Bebauung desto höher das soziale Elend‹ abgeleitet werden, dass mit einer Begrenzung der ›baulichen Dichte‹ auch das soziale Elend bekämpft werden könne. Gleichzeitig wurde die instrumentelle Dichteverwendung neu definiert: Die Regelung der ›baulichen Dichte‹ wurde nun nicht mehr alleine bauordnungsrechtlich und baupolizeilich (mit Brandschutz- und Nachbarschutzgründen), sondern ›städtebaulich‹ legitimiert, und ›städtebaulich‹ bedeutete vor allem gesundheitspflegerisch, sozialreformerisch und ökonomisch. Diese Weitung des baupolizeilichen Ansatzes in eine fachübergreifende integrierte Strategie ist der Ausgangspunkt der kommunalen städtebaulichen Planung und der Disziplin Städtebau. Methodisch wurde mit den gesetzlichen Regelungen über die ›bauliche Dichte‹ das Prinzip der indirekten Einflussnahme der Verwaltung auf den privaten Grundstücksbesitzer entwickelt und damit das Funktionsprinzip der institutionellen Stadtplanung bis heute geprägt. Die Bestimmung des ›Ma-
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ßes der baulichen Nutzung‹ ist (neben der ›Gliederung des baulichen Nutzung‹) seitdem Kernelement der verbindlichen Bauleitplanung, die ihrerseits das wichtigste Element der städtebaulichen Planung bildet. Mit dem komplexen Regelungsansatz – der Regelung des Maßes der baulichen Nutzung durch eine Kombination von Bauordnung und Bebauungsplan – versuchten die Städtebauer und Stadtbauräte, die räumliche Entwicklung gemäß ihren hochgesteckten Zielen zu steuern. Eine Erweiterung des Konzeptes der instrumentellen Dichteverwendung wurde mit der in der ›Charta von Athen‹ aufgestellten Forderung angestoßen, nicht nur die ›bauliche Dichte‹, sondern – mit städtebaulicher Begründung – auch die Einwohnerdichte gesetzlich ›zu fixieren‹. Dieser Ansatz erforderte eine weitgehende staatliche Zugriffsmöglichkeit auf die Sphäre des Individuums, die mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland auch bald gegeben war. Das Ziel der ›Fixierung der Einwohnerdichte‹ wurde vor allem in der Raumplanung mit umfangreichen Grundlagenforschungen ausgestaltet, dort wurde dieser Ansatz – bis hin zum Generalplan Ost – auch am konsequentesten umgesetzt (vgl. Kapitel 5.2). Im Städtebau war die gesetzliche Festlegung der Einwohnerdichte zwar Bestandteil der theoretischen Debatte, in der planungsrechtlichen Umsetzung wurde jedoch vorrangig das Konzept der Festlegung der ›baulichen Dichte‹ beibehalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Ansatz, in der städtebaulichen Planung die Einwohnerdichte festzusetzen, zwar weiter präsent, wurde jedoch aufgrund der fehlenden staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in der demokratisch konstituierten Bundesrepublik bald fallengelassen. Die instrumentelle Dichteverwendung wurde in den 1950er Jahren wieder auf den indirekten Ansatz der Regelung der ›baulichen Dichte‹ beschränkt. Mit dem Bundesbaugesetz und der Baunutzungsverordnung wurde Anfang der 1960er Jahre auf der Bundesebene die ›moderne‹ städtebauliche Strategie (so die Einschätzung in vielen Fachbeiträgen der 1960er Jahre) der Regelung der Bebauungsdichte verankert und befindet sich dort – weitgehend unverändert – bis heute. Im städtebaulichen Diskurs lassen sich in der Gesamtschau auf die Verwendung der ›Dichte als Instrument‹ damit drei qualitativ verschiedene Stufen unterscheiden, die sich zwar nicht immer exakt der chronologischen Abfolge der planungsrechtlichen Regelungen zuordnen lassen (dafür sind letztere zu heterogen konzipiert), aber doch anhand der jeweilig dominierenden Begründungskonstruktionen in einer historischen Reihenfolge nachvollzogen werden können. Die erste Stufe bilden die bauordnungsrechtlichen Regelungen der Bebauungsdichte vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die zweite Stufe wurde mit dem Preußischen Fluchtliniengesetz erreicht (weiterentwickelt mit dem Preußischen Wohnungsgesetz und der städtebaulichen Gesetzgebung im NS-Staat), mit dem erstmals eine
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städtebaulich motivierte Regelung der Bebauungsdichte in Kraft gesetzt wurde. Die dritte Stufe ist die städtebaulich begründeten Regelung der Einwohnerdichte, die in den 1940er Jahren insbesondere der Planung in den besetzten Ostgebieten zugrunde gelegt wurde (aber auch bei den Aufbaugesetzen nach 1945 weiter eine Rolle spielte). In den 1960er Jahren wurde die Regelungsqualität dann mit dem Bundesbaugesetz und der Baunutzungsverordnung wieder auf die zweite Stufe (die städtebaulich begründete Festsetzung der Bebauungsdichte) zurückgenommen, wo sie auch weiterhin verortet ist. Neuerdings wird im Fachdiskurs (etwa von Gerhard Boeddinghaus) allerdings auch eine weitere Herabstufung der Dichtereglung zurück auf die Stufe des Bauordnungsrechts diskutiert. Die Bauleitplanung ist das zentrale Instrument des (heutigen) institutionellen Städtebaus und basiert auf der Ablösung eines polizeilichen (bauordnungsrechtlichen) Steuerungsmodells durch ein städtebauliches (sozialpolitisches) Steuerungsmodell, und hier liegt meines Erachtens der Kern des Bedeutungsgehalts des Begriffs ›Städtebau‹. In der heutigen Übersetzung im deutschen Bau- und Planungsrecht lautet dieser inhaltliche Anspruch, dass die Bauleitpläne eine »nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung« gewährleisten sollen (§ 1 Abs. 5 BauGB). Aufgabe der Bauleitplanung, so steht es ebenfalls gleich im ersten Paragraphen des zentralen städtebaulichen Regelwerks, ist die »Steuerung der räumlichen (und sonstigen) Nutzung der Grundstücke durch die Gemeinde« (§ 1 Abs. 1 BauGB). Die städtebauliche Planung soll also – und genau das ist ihr Grundkonzept – mit der Regelung des Baulich-Räumlichen das Soziale steuern. Und genau hier ist der Grund für die kontinuierliche Präsenz und für die große Bedeutung des Dichtebegriffs im städtebaulichen Diskurs – als Kriterium, als Ziel, als Instrument – zu suchen. Der Begriff ist definiert als Verhältnis von Sozialem zum Baulich-Räumlichen, und diese Beziehung steht für die zentrale Herausforderung der Disziplin. Im Städtebau besteht seit jeher der Anspruch, mit baulich-räumlichen Mitteln zur Beeinflussung (zur Verbesserung!) des Sozialen (der Gesellschaft) beizutragen. Dieser Anspruch, der seit dem Beginn der modernen städtebaulichen Debatte am Ende des 19. Jahrhunderts an die Disziplin gestellt wird (und aus dem die Disziplin letztlich hervorgegangen ist), bedarf eigener Begriffe, Kriterien, Ziele und Instrumente. Das Konstrukt ›Dichte‹ erwies sich in der Geschichte des Städtebaus als ausgesprochen adaptionsfähig für all diese Bereiche. Die Historie des städtebaulichen Dichtegebrauchs zeugt vom kontinuierlichen Versuch Modelle zu entwickeln, mit denen die jeweiligen Interpretationen des eigentlichen Ziels (der Verbesserung der Gesellschaft)
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umgesetzt werden sollten. Das Konzept der ›Dichte‹ ist dabei zwangsläufig eine Reduktion, mit dem die Komplexität der Stadtentwicklung handhabbar gemacht werden soll: analytisch, auf der Zielebene und vor allem durch den städtebaulichen Regelungsapparat. Für diesen Regelungsapparat wurde, um ein im Einflussbereich des Städtebaus befindliches Instrument zu kreieren, die ›bauliche Dichte‹ als Erweiterung der ›Wohndichte‹ etabliert. Der Grundgedanke – die Steuerung des Sozialen durch die Regelung des Baulich-Räumlichen – bleibt bei diesem Austausch jedoch erhalten.
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Schluss: ›Dichte‹
»Wer mir Dekonstruktion ans Herz legt und auf Differenz besteht, steht am Anfang eines Gesprächs, nicht an seinem Ziele.« HANS-GEORG GADAMER 1986, 372 »Probatheit von Ergebnissen ist bekanntlich die Sache der Dekonstruktion nicht, nicht das Durchschlagen gordischer Knoten, sondern das Aufsuchen ihrer kompliziertesten Schürung.« ANSELM HAVERKAMP 1995, 7 Die Eingangsthese dieser Arbeit lautete, dass ›Dichte‹ auf zwei verschiedene Weisen konstruiert wird: durch die Definition des Begriffs und durch seinen Gebrauch. Zum Abschluss dieser Untersuchung sollen noch einmal einige der herausgearbeiteten Konstruktionsmechanismen in den Vordergrund gestellt werden, um sie in kurzen Rückblicken einer vergleichenden Betrachtung zugänglich zu machen. Auch hier wird noch einmal auf die Widersprüche, Kontinuitäten und Brüche der zahlreichen instrumentellen und theoretisch-kausalen Dichteverwendungen eingegangen. Die den Dichteverwendungen regelmäßig implizierten Bedingtheiten und Kausalitäten, die Moralisierungen des Konstrukts sowie die Einbettung des Dichtegebrauchs in das Raumverständnis der jeweiligen Akteure der Dichtediskurse bilden die Metaebene, auf der die epistemologische Abfolge der Dichtepraxis greifbar gemacht werden kann. Das Konstrukt ›Dichte‹ wird daher zum Abschluss anhand dieser Kategorien (der Kausalkonstruktionen, der Moralisierung, der im Hintergrund wirkenden Raumkonzepte) in einen epistemologischen Rahmen eingeordnet, bevor ein Ausblick auf mögliche Anschlussperspektiven gewagt wird. Bereits im frühen 19. Jahrhundert war das Verhältnis der Bevölkerung zu der ihr zu Verfügung stehenden Fläche ein zentrales Thema der Nationalökonomie (etwa beim ›Bevölkerungsgesetz‹ von Thomas Robert Malthus), zur gleichen Zeit ist im geographischen Kontext erstmals die explizite Verwendung des Begriffs ›Dichtigkeit‹ zu finden. Gegen Ende des 19. Jahr-
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hunderts entwickelte sich eine erste Hochphase der Dichtediskurse. In der Geographie wurde eine intensive Diskussion über die ›richtige‹ Methode der Verwendung (und der Darstellung) der Bevölkerungsdichte geführt. Gleichzeitig wurde von Emile Durkheim ein umfassender Dichtebegriff entwickelt und die ›Dichte‹ als eine initiierende Ursache von gesellschaftlicher Entwicklung inszeniert. In der ›Massenpsychologie‹ erhielt das eng mit dem Begriff ›Dichte‹ verbundene Thema ›Masse‹ große Aufmerksamkeit in den politischen und gesellschaftlichen Diskursen, und neben der soziologischen Einbettung von ›Dichte‹ in eine Theorie der Gesellschaft etablierte sich ein sozialpsychologischer Blick auf die Auswirkungen von Menschenmengen (auf begrenztem Raum). In der Nationalökonomie wurde eine kontroverse Diskussion über die Auswirkung und die Bewertung von ›hoher Dichte‹ geführt und sich umfangreich an den Thesen von Malthus abgearbeitet. Im Städtebau wurde ›Dichte‹ einerseits als Schlüsselbegriff in die theoretische Debatte eingeführt, andererseits als Element von Zonenplänen und Bauordnungen in das sich herausbildende städtebauliche Instrumentarium implementiert. Befördert durch die Eigenschaft, als eine Zahl ausgedrückt werden zu können, wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Konstrukt ›Dichte‹ in den genannten Disziplinen als quasi naturwissenschaftliche Kategorie der Sozial- und Planungswissenschaften weiter ausgebaut. Zudem wurden in der Geopolitik und in der Bevölkerungswissenschaft mit dem dort verfolgten Fokus auf den ›Raum‹ und auf das ›Volk‹ ein Zusammenhang geschaffen, in dem ›Dichte‹ – besonders in den Debatten über ›Überbevölkerung‹ und ›Unterbevölkerung‹ – als eine zentrale Bewertungskategorie der jeweiligen Diskurse gebrauchsfähig wurde. Der Höhepunkt des daraus abgeleiteten Versuchs, eine spezifische ›Dichte‹ zum Planungsziel zu erheben, ist in der Raumplanung des NS-Staates zu finden. Im Rahmen der deutschen Ostplanung Anfang der 1940er Jahre wurden mit Gerhard Isenbergs Tragfähigkeitskonzept und der planerischen Anwendung von Walter Christallers Konzept der Zentralen Orte zwei Modelle ausgearbeitet, in denen der Bestimmung eines ›Dichteoptimums‹ eine zentrale Rolle zugewiesen wurde. Auch im Generalplan Ost ist die ›Dichte‹ eine entscheidende Kategorie. Das Ende des zweiten Weltkrieges markiert trotz zahlreicher institutioneller und personeller Kontinuitäten einen Bruch im disziplinübergreifenden Dichtegebrauch. Einige der Theorieansätze, in denen der Begriff eine zentrale Rolle gespielt hatte, standen nach 1945 nicht mehr zur Verfügung. Vor allem der geopolitische Dichtekontext und der starke Stellenwert der Bevölkerungswissenschaft waren durch die Verstrickung in die Grundlagen des nationalsozialistischen Diskurses (etwa des Expansionismus oder der ›Rassenlehre) in der wissenschaftlichen Diskussion der Nachkriegszeit nicht mehr anschlussfähig. In den Sozialwissenschaften wurde aus ähnlichen Be-
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weggründen weitgehend alles, was mit dem Konstrukt ›Raum‹ in direkter Verbindung stand, aus dem disziplinären Forschungsbereich ausgeklammert. Eine Einbettung des Dichtebegriffs in die Grundlagentheorien der verschiedenen Diskurse fand daher nur noch eingeschränkt statt. Weiter verwendet wurde der Begriff ›Dichte‹ dagegen in der städtebaulichen und raumplanerischen Debatte. In Folge einer oftmals als ›Planungseuphorie‹ bezeichneten Phase in den 1960er und 1970er Jahren (und dem dieser Euphorie zugrunde liegenden Glauben an den Erklärungs- und Deutungsgehalt von mathematisch beweisbaren Konstruktionen) wurde das Konstrukt ›Dichte‹ Bestandteil vieler Modelle und Generalisierungen jener Disziplinen. Die Bestimmung von allgemein gültigen Regeln und Obergrenzen der ›baulichen Dichte‹ wurden in das Bau- und Planungsrecht überführt und das Konstrukt damit tief in den institutionellen Grundfesten der Disziplin verankert. Im Kontext des Ende der 1960er Jahren entstehenden Forschungsfeldes ›Crowding‹ wurden die wohl intensivsten Untersuchungen zum Phänomen ›Dichte‹ und dessen Auswirkungen auf das Individuum durchgeführt. Ergebnis und vorläufiger Abschluss dieser Forschung war die Erkenntnis, dass weder ›Crowding‹ noch ›Dichte‹ eindeutigen Kausalzusammenhängen zugeordnet werden können, dass also die Komplexität des Forschungsobjektes mit sozialpsychologischen Modellen nicht in den Griff zu bekommen ist. Als ein Ergebnis der epistemologischen Rückblicks auf die verschiedenen Dichtediskurse kann damit festgehalten werden, dass in den meisten der hier untersuchten disziplinären Zusammenhängen die theoretische Grundlagenforschung zur ›Dichte‹ irgendwann beendet (oder doch zumindest deutlich eingeschränkt) wurde. Das kann in der Bevölkerungslehre Anfang der 1950er Jahre (erinnert sei an Gerhard Mackenroths Abgesang), in der Stadtsoziologie in den 1970er und 1980er Jahren (in Folge der Kritik an Wirths und Durkheims Kausalkonstruktionen), und das kann besonders deutlich anhand des Endes der sozialpsychologischen Crowdingforschung in den 1980er Jahren gezeigt werden. Aber auch in der Geographie wurde die einst so intensiv geführte Dichtedebatte eingestellt. Während im epistemologischen Verlauf der Stadtsoziologie, der Sozialpsychologie, der Geographie und der Bevölkerungslehre ein mehr oder weniger deutlicher Abbruch der Dichtethematisierung zu vermerken ist, ist das Konstrukt ›Dichte‹ in den Planungswissenschaften dagegen weiterhin sehr präsent. Im Städtebau ist ›Dichte‹ zu einem »magischen Begriff« (Häußermann 2007) geworden, und auch in der stadtplanerischen Debatte ist das Konstrukt ein permanentes Thema – nicht nur wegen der Institutionalisierung des Konzepts in den Bauund Planungsgesetzen. Auch in der Stadtsoziologie lässt sich neuerdings wieder ein verstärktes Aufgreifen des Begriffs registrieren. Ein Unterscheidungsmerkmal für den epistemologischen Rückblick ist die Maßstabsebene der jeweiligen Dichtediskurse. Die »Dichtigkeit der Be-
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völkerung in den großen Städten«, so wird bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in einem Beitrag aus der sozialstatistischen Literatur vermerkt, müsse von »anderem Gesichtspunkte« aus beurteilt werden als die »Dichtigkeit der Bevölkerung ganzer Länder«, denn wenn in letzteren die »Dichtigkeit in der Regel das Zeichen eines höheren Kulturzustandes der Einwohner« sei, so wäre das »dichte Beisammenwohnen der städtischen Bevölkerung oft als nachteilig für die Gesundheitsverhältnisse der Einwohner hervorgehoben worden« (Dieterici 1853, 197). Die ›Dichte der Nationen‹ und die ›Tragfähigkeit der Erde‹ sind dabei die Themen des Dichtediskurses der Nationalökonomie und der Geographie des 19. Jahrhunderts, und auch bei Durkheims Dichteeinbindung geht es um das Große und Ganze, um die gesellschaftliche Entwicklung im Allgemeinen. In der zweiten Hochphase der Dichteverwendung, in den Diskursen des Städtebaus und der Sozialpsychologie der 1960er und 1970er Jahre, wird dagegen vorrangig auf kleinere Bezugseinheiten fokussiert: auf die Stadt, auf bestimmte Bereiche der Stadt, auf das Grundstück, auf das Individuum. Die Thematisierung von ›Dichte‹ scheint sich also in ihrer epistemologischen Entwicklung vom kleinen auf den großen Maßstab hin zu bewegen. Die Moralisierung von ›Dichte‹ (beziehungsweise die Moralisierung von ›hoher Dichte‹) ist das augenfälligste Unterscheidungsmerkmal bei der Einordnung der unterschiedlichen Dichteverwendungen in den historischen und disziplinären Verlaufskontext. Die negative oder positive Moralisierung des Konstrukts bildet den inhaltlichen Kern des jeweiligen Dichtegebrauchs. Die beiden Thesen ›Dichte ist etwas Gutes‹ respektive ›Dichte ist etwas Schlechtes‹ wurden in den verschiedenen Kontexten immer mit Vehemenz vertreten. ›Dichte‹ funktioniert in den verschiedenen Diskursen als ein polarisierendes Konzept. Bei der Einführung des Begriffs im geographischen Kontext im 19. Jahrhundert ist das allerdings noch nicht der Fall gewesen, dort war die Dichtekonstruktion offen sowohl für eine negative als auch für eine positive Bewertung. Aus diesem Diskurskern entwickelte sich eine dialektische Verwendungspraxis, eine bis heute festzustellenden erstaunlichen Übergangsfähigkeit von einem zum anderen Extrem bei der Bewertung von ›Dichte‹. Im Diskurs ›Volk ohne Raum‹ wurde eine ›zu hohe Dichte‹ diagnostiziert, eine ›Überbevölkerung‹, die zum ›Bevölkerungsdruck‹ führt. Parallel wurde im gleichen politischen (beziehungsweise wissenschaftlichen) Lager der Diskurs ›Raum ohne Volk‹ geführt, in dem anstandslos das Gegenteil behauptet wurde. Hier wurde eine ›zu niedrige Dichte‹ als gesellschaftliches Problem konstruiert und gegenläufige Maßnahmen als prioritäres politisches Ziel gefordert. Eine Variante einer solchen gegensätzlichen Dichteverwendung findet sich auch in der zeitgenössischen städtebaulichen und raumplanerischen Debatte, wo mit ökologischer Begründung einerseits gegen ›hohe Dichte‹ argumentiert (Verhinderung von Versiegelung), ande-
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rerseits und gleichzeitig eine möglichst hohe Verdichtung (Kompaktheit) gefordert wird. Insgesamt lässt sich bei der Moralisierungsgeschichte der unterschiedlichen Dichteverwendungen jedoch ein Ausdifferenzierungsprozess feststellen. Die in der konservativen Nationalökonomie entwickelte Diagnose einer (bevorstehenden beziehungsweise gegenwärtigen) ›Überbevölkerung‹ wurde zum zentralen Bezugspunkt des konservativen Diskurses. Die städtische ›Überbevölkerung‹ ist der Kern von Wilhelm Heinrich Riehls großstadtfeindlichen Schriften, die ›Übervölkerung der Nation‹ ist die Grundlage für Friedrich Ratzels ›politische Geographie‹ und das darauf basierende Konzept der Geopolitik. Auf der anderen Seite wird die ›hohe Dichte‹ einer Nation – auch hier basierend auf der nationalökonomischen Debatte – als ökonomisches und zivilisatorisches Fortschrittsmerkmal (und als Fortschrittsursache) inszeniert und damit zum Bezugspunkt der sozialreformerischen Diskurse. Höhepunkt dieser Entwicklung ist Durkheims Theorie ›über soziale Arbeitsteilung‹, in der die Verdichtung als eigentliche Ursache der gesellschaftlichen Fortentwicklung konstruiert und die positiv konnotierte ›Dichte‹ explizit als positives städtisches Merkmal herausgearbeitet wird. In der ebenfalls sozialreformerisch aufgestellten städtebaulichen Debatte des 19. Jahrhunderts wird dieser Theorieansatz jedoch nicht zur Kenntnis genommen, hier ist ›hohe Dichte‹ durchgängig ein Merkmal für soziales Elend und gesundheitliche und sittliche Missstände und damit zugleich der Ansatzpunkt für städtebauliche Interventionen. Die Bewertung von ›Dichte‹ als etwas Positives kam in der städtebaulichen Debatte (im Vergleich zu Durkheims Soziologie beziehungsweise zu den sozialreformerischen Diskursen der Volkswirtschaft) erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung auf (als eine Art von ›Cultural lag‹). Die Beurteilung von ›hoher Dichte‹ als erstrebenswertes Ziel wurde dabei zuerst Merkmal einer Kritik am klassischen Städtebau (etwa bei Jane Jacobs) und war in diesem Diskurs Anfang der 1960er Jahre noch eine handfeste Provokation. Überraschend schnell etablierte sich diese Position dann jedoch zum anerkannten Allgemeingut der Disziplin. In der Sozialpsychologie lässt sich bei der Dichteverwendung ebenfalls eine Moralisierung feststellen. Zumindest zu Beginn der Crowdingforschung wird ›Dichte‹ hier als ein Phänomen mit tendenziell negativen Auswirkungen gesetzt. Im Verlauf der sozialpsychologischen Dichtethematisierung bildete sich jedoch ein differenziertes Verständnis heraus, als dessen Ergebnis festgehalten wurde, dass die Auswirkungen von räumlich dichten Gegebenheiten manchmal als negativ, manchmal als positiv, manchmal als sowohl negativ als auch positiv und manchmal als weder positiv noch negativ zu bewerten sind. Die Verweigerung einer eindeutigen Bewertungszuweisung korrespondiert mit einer weiteren Position, nämlich der grundsätzlichen Kritik an der
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Einbindung des Dichtekonstrukts in eine kausale Gesetzmäßigkeit. Der Widerspruch gegen die beiden miteinander verbundenen Konstruktionsweisen ›Moralisierung‹ und ›Kausalitätszuschreibung‹ wird dabei aus zwei Richtungen erhoben. Einerseits wird – aus humangeographischer und historischer Perspektive – das insbesondere in der Geographie geprägte naturdeterministische und geopolitische Wissenschaftsbild kritisiert, in dem ›Dichte‹ vor allem als negativ moralisierter Faktor (im Sinne der drohenden ›Überbevölkerung‹ der Nationen) eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Kritik des Naturdeterminismus (und dessen nationalökonomischen Bewertungslinie) bezieht sich dabei auf eine ›Dichte‹, die als naturgesetzlich determiniertes Abbild konstruiert ist, in dem ›natürliche‹ Phänomene – das Klima, die Bodenbeschaffenheit – ihren (vom Handeln des Menschen) nicht beeinflussbaren Niederschlag finden. Solche Konstruktionen sind der negativ moralisierende Dichtegebrauch in den klassisch-konservativen Diskursen der Geographie (Friedrich Ratzels und Karl Haushofers Theorie der ›wachsenden Räume‹), der Nationalökonomie (Malthus’ ›Bevölkerungsgesetz‹) und des Städtebaus (der Diskurs der Großstadtfeindschaft). Andererseits werden – aus Perspektive einer postmarxistischen Analyse – die theoretischen Grundlagen der klassischen Stadtsoziologie kritisiert, also die im Frühwerk von Emile Durkheim aufgestellten Thesen und das Stadtverständnis von Louis Wirth (samt der kausalen Stadtbausteine ›Dichte‹ und ›Größe‹). Die Kritik des Kausalitätskonzeptes bezieht sich auf eine ›Dichte‹, die als ein sozial determinierender Faktor konstruiert ist. Im Anschluss an die konservative Großstadtfeindschaft – so die These einer solchen Kritik – sei in der Stadtsoziologie ein Verhältnis kausaler Abhängigkeiten konstruiert worden, indem »räumliche Strukturen und ihre Veränderungen als eigenständige Ursachen sozialer Phänomene« isoliert worden sind (Häußermann/Siebel 1978, 487).1 Kern der Kritik ist also die Verwendung eines räumlichen Konstrukts als positive Gesellschafts- beziehungsweise Stadtursache, was als unzulässige Reduktion von komplexen sozialen Beziehungen abgelehnt wird. Meines Erachtens liegt in der Verbindung der Kritik des naturgesetzlich determinierten und des sozial determinierenden Dichtekonstrukts das größte Potenzial für eine produktive Weiterführung des Dichtediskurses. Beide Kritiken – die Kritik am Naturdeterminismus wie die Kritik am Kausalitätskonzept – lassen sich mit Durkheims in der (stadtsoziologischen) Dichterezeption bisher kaum registrierten Revidierung seiner eigenen Dichtetheorie zusammenbringen. Durkheim eröffnet mit seiner ›sozialen Morphologie‹ eine »Traditionslinie genuin sozialer Raumbeschreibung«, die 1
Großstadtfeindschaft und sozialwissenschaftliche Stadtforschung teilten sich in ihrer formativen Phase damit ein »gemeinsames Bezugssystem von Krise und Bruch« (Berking/Löw 2005, 13).
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sich »zunehmend vom geographischen Substrat« zu lösen versucht (Dünne 2006, 289, vgl. auch Schroer 2005, 49f.). Durkheim entwickelt diesen Ansatz als explizites Gegenkonzept zu den Thesen von Friedrich Ratzel (Durkheim 1897b und 1898; vgl. auch Sprengel 1996). Es gehe nämlich in der Tat darum, so führt Durkheim aus, »nicht die Formen des Bodens zu untersuchen, sondern die Formen der Gesellschaften, die sich auf dem Boden niederlassen«, und eben das sei etwas ganz Anderes (Durkheim 1897a, 182; Übersetzung nach Dünne 2006, 289). Durkheims ›Regeln der soziologischen Methode‹ lassen sich (bezogen auf den Begriff ›Dichte‹) als Versuch interpretieren, das Konstrukt als sozial determinierten Tatbestand zu untersuchen. Unter dieser Prämisse könnte die Analyse der sozialen Produktion von spezifischen Phänomenen materieller ›Dichte‹ ein interessanter Forschungsbereich werden, aber auch die Wirkungsanalyse von räumlich dichten Gegebenheiten als von gesellschaftlichen Machtbedingungen, Interessenlagen und Verordnungen (etwa dem Planungsrecht) hergestellten konkreten materiellen Erscheinungsformen des Raums. Integriert man die soziale Bedingtheit des Phänomens ›Dichte‹ in den Analyseansatz und grenzt sich von den traditionsreichen und multidisziplinären Kausalisierungsbestrebungen ab, könnte die Dichteanalyse einen fruchtbaren Zugang für die Betrachtung von städtischen Entwicklungen ergeben. Das, was Durkheim in seinem Frühwerk als Blindstelle definiert, die Ausgestaltung des Einflusses der Gesellschaft auf die Produktion materieller Dichte, könnte im Kontext der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung ein vielversprechender Anknüpfungspunkt werden und bestehende derzeitige Forschungsbereiche (etwa die ›Eigenlogik der Städte‹ oder die ›dichte Stadt des 20. Jahrhunderts‹) disziplinübergreifend befruchten beziehungsweise zu weiteren und anderen Ansätzen einer Sozialtheorie mit einem »nicht reduktionistischen Einbezug der räumlichen Komponente« (Werlen 2005, 17) führen. Die Relevanz für eine Weiterführung des Dichtediskurses ist dabei offensichtlich – insbesondere für den stadtsoziologischen und für den städtebaulichen Kontext. Vor dem Hintergrund der skizzierten Position des Dichtebegriffs im Zentrum des jeweiligen theoretischen Kerns der genannten Disziplinen erscheint eine weitere Annäherung an das Konstrukt in diesen Kontexten von eminenter Wichtigkeit. Die Auseinandersetzung mit dem Konstrukt ›Dichte‹ ist Ventil und Erfordernis für die Untersuchung des Verhältnisses von Baulich-Räumlichem zu Sozialem wie auch für die Frage, ob räumliche Strukturen als gesellschaftliche Strukturen respektive als erklärungsrelevante Ursachen sozialer Phänomene angesehen werden können. Wer jedoch dem Konstrukt grundsätzlich jegliche Relevanz abspricht, verweigert damit letztlich auch den Disziplinen Stadtsoziologie und Städtebau (zumindest in ihren bisherigen Ausgestaltungen) einen Großteil ihres Bedeutungsgehalts. Vermutlich lassen sich aus diesem Grunde die häufigen
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Krisendiagnosen bezüglich der Stadtsoziologie und des Städtebaus (und der Stadt!) auch als Krise des Dichtegebrauchs interpretieren. ›Dichte‹ ist eine klassische Raumkategorie des klassischen Containerdenkens, in dem ›Raum‹ als ein außerhalb der subjektiven Erfahrung und Wahrnehmung materiell existierender Behälter betrachtet wird, als ein Element der physischen Wirklichkeit. Während in der gegenwärtigen disziplinübergreifenden Raumdebatte das klassische Containerdenken vielfach diskutiert und kritisiert wird und sich die verschiedenen Diskurse in spannenden Debatten über verschiedene Konstruktionsweisen von ›Raum‹ abarbeiten (vgl. Lippuner 2005, Schroer 2006, Dünne/Günzel 2006, Belina/Michel 2007, Holzinger 2007, Döring/Thielmann 2008, Günzel 2009), steht ein solche Diskussion bezüglich des Konstrukts ›Dichte‹ ganz am Anfang (in der Stadtsoziologie) beziehungsweise hat den fachlichen Diskurs noch gar nicht erreicht (im Städtebau). Der Dichtebegriff eines sozial konstruierten (›relativistischen‹, ›relationalen‹) Raumverständnisses muss dabei ein anderer sein als der eines klassischen (›absolutistischen‹, ›banalen‹) Containerraumkonzepts. Die Arbeit an der Hinterfragung des ›Container-Dichtebegriffs‹ könnte daher dazu beitragen, in den ›raumblinden‹ Raumwissenschaften (wie der Raumplanung und dem Städtebau) einen notwendigen diskursiven Prozess über den ausgeblendeten Kern des eigenen Fachs in Gang zu setzen und diese Disziplinen an die Debatten zu einem neuen Raumverständnis heranzuführen. In diesem Zusammenhang birgt der Dichtebegriff auch weiterhin großes Potenzial für Analysen von neuen und alten raumdeterminierten und raumdeterminierenden Konstruktionen (und möglicherweise auch für die Einbindung in eine nicht reduktionistische Raumtheorie). Der eingangs postulierte dekonstruktive Ansatz führt natürlich auch am Ende dieses Textes nicht zur Konstruktion eines neuen kohärenten Konzepts von ›Dichte‹: in meiner Untersuchung wurde systematisch jeder Versuch vermieden wurde, eine eigene normative Definition von ›Dichte‹ zu entwickeln. Intention meiner Studie dagegen ist es gewesen, die komplexen und widersprüchlichen Hintergründe, die den verschiedenen Dichtediskursen zugrunde liegen, aufzudecken und zu benennen. Die Sozial- und Planungswissenschaften sind maßgeblich an der Konstruktion von Wirklichkeit beteiligt, durch Setzungen von Diskursen und durch die Ausgestaltung von Normen. ›Dichte‹ ist bei diesen Tätigkeiten ein Schlüsselbegriff. Das Konstrukt ›Dichte‹ ist ein Hybrid – halb sozial und halb räumlich – und als Quotient von etwas Sozialem und etwas Baulich-Räumlichem ein Symbol (eine Repräsentation) für eine räumliche Materialisierung des Sozialen. Der Behälter ›Dichte‹ transportiert diese Doppelfunktion und reproduziert sie permanent. Durch die widersprüchliche Begriffsgeschichte, die fortwährend zwischen Determiniert-Sein und Determinieren, zwischen Bedingtheit und Kausalität pendelt, wird dabei ein enormer Spannungsreichtum erzeugt. Gemein ist den
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Dichtebegriffen in allen von mir untersuchten Kontexten dabei, dass sie einen räumlichen Bezug haben: Das Dichteverhältnis ist immer bezogen auf einen konkreten Ort, der räumliche Bezug ist der kleinste gemeinsame Nenner aller hier untersuchten Dichtekonstruktionen. Daher sind diese Konstruktionen sowohl abhängig vom jeweilig dort zu findenden Raumverständnis als auch Ausdruck desselben. Und darauf läuft es letzten Endes hinaus: ›Dichte‹ ist ein Konstrukt, dessen Analyse dafür prädestiniert ist, sich dem für die Sozial- und Planungswissenschaften so bedeutsamen Verständnis von Raum anzunähern.
Dank
Danken möchte ich an erster Stelle Britta Brugger (sowohl für ihre alltägliche als auch für ihre inhaltliche Unterstützung) sowie Nelly und Yannick (für ihr Dasein). Weiterhin gilt mein Dank Max Welch Guerra, der von Anfang an an mein Projekt geglaubt und immer wieder für neue Motivation gesorgt hat. Dankbar bin ich Gabi Dolff-Bonekämper nicht nur für die überaus freundliche und präzise Begutachtung meiner Dissertation, sondern vor allem dafür, dass ich mit ihr einen geistesverwandten Menschen treffen durfte, der mir höchst wertvollen Beistand für mein Unternehmen gewährt hat. Auch Stephan Günzel möchte ich nicht nur für sein kluges Gutachten danken, sondern besonders für sein Interesse an meinem Ansatz (das genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen ist) und dafür, dass er mir den Weg in die raumtheoretische Debatte aufgezeigt hat. Größten Dank auch an meine LektorInnen: Neben Britta Brugger hat Katharina Dilger mein gesamtes Manuskript gelesen und mir entscheidende Anregungen und (gerade in der Endphase) unverzichtbare Motivation gegeben. Teile meines Manuskripts haben Karen Sievers, Cordula Dickmeiß, Stephanie Herold, Florian Hutterer und Ruth Pützschel gelesen, und alle haben mit ihren Kommentaren viel zur Verbesserung des Textes beigetragen. Sehr hilfreich war auch der gedankliche Austausch auf den Forschungsrunden am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin, besonders erwähnen möchte ich dabei (neben den bereits Genannten) Bernhard Weyrauch, Florian Wukovitsch, Ricarda Pätzold, Biagia Bongiorno, Tim Schwarz, Jan Abt, Kerstin Schröder, Elke Becker, Laura Calbet und Sebastian Seelig. Ebenso hilfreich waren die kritischen und konstruktiven Anregungen auf den verschiedenen PhDKolloquien in Weimar am Lehrstuhl von Max Welch Guerra. Größten Dank an Anke Fesel für die Gestaltung des Buchcovers. Danke auch an den Transcript-Verlag für die gute Zusammenarbeit bei der Produktion dieses Buches. Schließlich danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die den Druck dieses Buches mit einer großzügigen Publikationsbeihilfe unterstützt hat.
Verzeichnisse
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2. VERWENDETE GESETZESTEXTE (CHRONOLOGISCH) Edikt den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums so wie die persönlichen Verhältnisse der Land-Bewohner betreffend (Oktoberedikt). Vom 9. Oktober 1807. (Huber 2001) Gesetz, betreffend die Anlegung und Veränderung von Straßen und Plätzen in Städten und ländlichen Ortschaften (Preußisches Fluchtliniengesetz). Vom 2. Juli 1875. (Gesetzsamml. S. 561) Wohnungsgesetz vom 28. März 1918. Amtliche Ausgabe. Abdruck der Drucks Nr. 702 des Hauses der Abgeordneten Zweites Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit. Vom 21. September 1933. Reichgesetzblatt I 651 Gesetz über die Aufschließung von Wohnsiedlungsgebieten (Wohnsiedlungsgesetz). Vom 22. September 1933. Reichsgesetzblatt, Jg. 1933, Teil I, S. 659 Erlaß des Reichwirtschaftsministers, betr. Erteilung von Ausnahmen oder Befreiungen (Dispensen) von den Bauordnungsvorschriften. Vom 22. Juni 1934-SW 4855/34-WGB.1 Gesetz über einstweilige Maßnahmen zur Ordnung des deutschen Siedlungswesens (Siedlungsordnungsgesetz). Vom 3. Juli 1934. Reichsgesetzblatt, Jg. 1934, Teil I, S. 568 Erlaß des Führers und Reichskanzlers über das Siedlungs- und Wohnungswesen. Vom 4. Dezember 1934. Reichsgesetzblatt, Jg. 1934, Teil I, S. 1225 1
Wohnungswirtschaftliche Gesetzgebung (Beilage der »Zeitschrift für Wohnungswesen«).
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TRANSDISZIPLINÄRE
D EKONSTRUKTION
Gesetz zur Förderung des Wohnungsbaus. Vom 30. März 1935. Reichsgesetzblatt, Jg. 1935, Teil I, S. 469 Verordnung über die Regelung der Bebauung. Vom 15. Februar 1936. Reichsgesetzblatt, Jg. 1936, Teil I, S. 104 Erlaß des Reichs- und Preußischen Arbeitsministers über die Ausweisung von Baugebieten und Abstufung der Bebauung. Vom 19. Februar 1936 IVc3 Nr. 1180/36. WGB. S. 127. Verordnung über Baugestaltung. Vom 10. November 1936. Reichsgesetzblatt, Jg. 1936, Teil I, S. 938 Erlaß des Reichs und Preußischen Arbeitsministers, betr. Verordnung über Baugestaltung. Vom 17. Dezember 1936 -IVc5 Nr. 1042/19. WGB. 1937, S. 43 Gesetz über die Neugestaltung deutscher Städte. Vom 4. Oktober 1937. Reichsgesetzblatt Jg. 1937, Teil I, S. 1054 Richtlinien für die Planung und Gestaltung deutscher Städte in den eingegliederten Ostgebieten. Vom 30. 1. 1942. Allgemeine Anordnung des Reichsführers SS, Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums. Nr. 13/II Dritter Erlaß über den Deutschen Wohnungsbau. Vom 23. Oktober 1942. RGBl. I 623 Richtlinien für den baulichen Luftschutz im Städtebau. Vom 5. September. (In: Durth/ Gutschow 1988) Gesetz über Maßnahmen zum Aufbau in den Gemeinden (Aufbaugesetz) in der Fassung vom 29. April 1952. Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen. Ausgabe A. 6. Jg. Nr. 20. S. 75 Richtlinien zum Aufbaugesetz. RdErl. d. Ministers für Wiederaufbau v. 25.9.1952-IIB-1-110-Nr. 4204. Ministerialblatt für das Land NordrheinWestfalen. Ausgabe A. 5.Jg. Nr. 74. S. 1308 Bundesbaugesetz. Vom 23. Juni 1960. BGBl. I vom 29. 6. 1960. Nr. 30. S. 341 Verordnung über die bauliche Nutzung der Grundstücke (Baunutzungsverordnung). Vom 26. Juni 1962. BGBl. I vom 30.6.1962, Nr. 23. S. 429 Raumordnungsgesetz (ROG 1965) vom 8. April 1965, Sammlung des Bundesrechts, Bundesgesetzblatt III 2300-1 Verordnung zur Änderung der Verordnung über die bauliche Nutzung der Grundstücke (Baunutzungsverordnung). Vom 26. November 1968. BGBl. I vom 29.11.1968, Nr. 84. S. 1233 Zweite Verordnung zur Änderung der Baunutzungsverordnung. Vom 15. September 1977. BGBl. I vom 20.09.1977, Nr. 63. S. 1757 Dritte Verordnung zur Änderung der Baunutzungsverordnung. Vom 19. Dezember 1986. BGBl. I vom 30.12.1986, Nr. 69. S. 2665
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Urban Studies Ralph Buchenhorst, Miguel Vedda (Hg.) Urbane Beobachtungen Walter Benjamin und die neuen Städte (übersetzt von Martin Schwietzke) 2010, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1524-1
Thomas Dörfler Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989 2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1295-0
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