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German Pages 390 Year 2014
Silke Förschler, Rebekka Habermas, Nikola Roßbach (Hg.) Verorten – Verhandeln – Verkörpern
Dynamiken von Raum und Geschlecht | Band 1
Editorial Die Buchreihe »Dynamiken von Raum und Geschlecht« dokumentiert die Ergebnisse des gleichnamigen DFG-Graduiertenkollegs 1599 der Universitäten Göttingen und Kassel, das die Wechselwirkungen von Raum und Geschlecht aus interdisziplinärer Perspektive analysiert und neue Perspektiven für Analysen global-lokaler Zusammenhänge entwickelt. Die zentrale Herausforderung der in dieser Reihe publizierten Forschung ist es, die Konfigurationen von Raum und Geschlecht in ihrer kulturellen Dynamik und Variabilität wahrzunehmen, sie theoretisch-terminologisch zu modellieren sowie historisch zu kontextualisieren. Beteiligt sind die Disziplinen Geschichts- und Literaturwissenschaften, Soziologie, Ethnologie, Ethik der Medizin, Theologie, Arabistik/Islamwissenschaft und Kulturanthropologie. Die Reihe wird herausgegeben von Rebekka Habermas und Nikola Roßbach.
Silke Förschler, Rebekka Habermas, Nikola Roßbach (Hg.)
Verorten – Verhandeln – Verkörpern Interdisziplinäre Analysen zu Raum und Geschlecht
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
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Inhalt
Einleitung | 9
I. V ERORTEN Zwischen Sprechgitter und Pforte Räumliche Zuordnungen und die Produktion von Gemeinschaft in den Klausurbeschreibungen der Genfer Klarissenchronik (1534-46) Babette Reicherdt | 17 Moniza Alvi’s Europa Rewriting Myth from a Feminist Postcolonial Perspective Sonja Lehmann | 41 Gendered Geographies of Power Ein Modell zur Analyse von Bildungsmigration und Geschlecht am Beispiel von Malaysia und Singapur Viola Thimm | 61 Queer Urban Spaces in New Delhi Negotiating Femininity, Masculinity and Thirdness from a kothi perspective Janina Geist | 85
II. V ERHANDELN Ehre — Prestige — Profit Handlungsleitende Konzepte bei Eheanbahnungen der Norfolker gentry-Familie Paston Sabrina Funkner | 117 Kunst als Freiraum? Strategien weiblicher Subjektivierung bei Victoria Benedictsson, Helene Böhlau und Toni Schwabe Jenny Bauer | 145 »… a body of uncivilized men« Zur Dynamik von Weltreisen und Männlichkeiten Anne Mariss | 171 »A Man May Travel Far« Eastern European Labour Migration as a Quest for Masculine SelfAssertion in Rose Tremain’s The Road Home (2007) Julia Elena Thiel | 197 Männlichkeit und Gewaltabstinenz Dynamiken im adoleszenten (Ver)Handlungsraum Mart Busche | 219
III. V ERKÖRPERN Der männliche Blick und die Entortung des Weiblichen? Elliptisches Erzählen in Heinrich von Kleists Die Marquise von O… (1808) und Inka Pareis Die Schattenboxerin (1999) Urania Julia Milevski | 249 »Da fürchtete Ägypten sich vor Israel« (Ex 1,12) Exegetische Perspektiven auf Diversität am Beispiel der Exodusexposition Nele Spiering | 275
Benötigtes Leben Literatur als Medium zur kritischen Auseinandersetzung mit der Lebendorgantransplantation Solveig Lena Hansen | 307 Raum, Atmosphäre und verkörperte Differenz Raumbezogene Wahrnehmungsweisen einer anderen Körperlichkeit Marie-Theres Modes | 335 Verbotene Postkarten aus Rio de Janeiro Diskursive und räumliche Praktiken im Milieu des Sextourismus in Copacabana Johanna Neuhauser | 359
Autor_innen | 385
Einleitung
Der vorliegende Sammelband ist im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Dynamiken von Raum und Geschlecht: entdecken – erobern – erfinden – erzählen« entstanden. Er versammelt interdisziplinäre Beiträge zu zwei international expandierenden, bislang jedoch vorwiegend isoliert bearbeiteten Forschungsfeldern, die hier nun zusammengedacht werden: Fragestellungen einer bereits fest etablierten Geschlechterforschung werden verschränkt mit einer ebenfalls in den letzten Jahren intensivierten Raumforschung. Die Beiträge untersuchen die wechselseitigen Bezüge von Raum und Geschlechterkonstitutionen in aktuellen und historischen Gesellschaften inner- und außerhalb Europas, gehen sie doch davon aus, dass Raum und Geschlecht relationale Kategorien sind, die sich gegenseitig konstituieren: doing space while doing gender. Im Fokus stehen damit die Zusammenhänge zwischen zwei zentralen Veränderungen der letzten Jahrzehnte – dem radikalen Wandel der Geschlechterordnung einerseits und der Intensivierung von Globalisierungsprozessen andererseits. Ziel ist es, bis dato häufig ausgeblendete komplexe Dynamiken zwischen Geschlechter- und Raumordnungen – seien diese auf globaler oder auf lokaler Ebene – in historischen und gegenwärtigen Dimensionen in den Blick zu nehmen. Die Studien stammen aus den Disziplinen Geschichtswissenschaft, anglistische und germanistische Literaturwissenschaft, Ethnologie, Soziologie, Theologie und Ethik der Medizin. Aus unterschiedlichen Fachperspektiven und in interdisziplinärer Vernetzung dieser Perspektiven wird der Konstruktionscharakter von Raum- und Gender-Begriffen analysiert, der gleichermaßen für soziale, kulturelle, politische Welten wie auch fiktionale Welten konstitutiv ist. Der vorliegende Band möchte dazu beitragen, die Verschränkungen von Raum und Geschlecht zu erforschen – und zwar dadurch, dass zum
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einen die räumliche Dimension auf globale Zusammenhänge ausgeweitet wird. Zum anderen soll die Dimension Geschlecht anders als bislang häufig üblich nicht auf Fragen nach Weiblichkeitskonzepten oder auf die Erforschung von Frauen als Akteurinnen beschränkt bleiben. Zentral für die hier versammelten Beiträge ist die Grundannahme, dass Raum und Geschlecht Resultate von Konstruktionsprozessen sind sowie als relationale Kategorien wechselseitig aufeinander bezogen werden. Übergreifende und leitende Fragestellungen beziehen sich etwa darauf, welche Dimensionen von Geschlecht bei der Konstruktion, Strukturierung oder Transformation von Räumen entstehen, inwiefern räumliche und geschlechtliche Kontexte Handlungen bestimmen, wie sich globale Zusammenhänge unter Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht anders darstellen und auf welche Weise sich gegebenenfalls theoretische Modelle von Raum und Geschlecht gegenseitig affizieren können. Der Band gliedert sich in drei Sektionen. Der erste Teil stellt Verortungen im Raum und damit einhergehende Geschlechterpositionen vor, der zweite Verhandlungen von Geschlecht und Raum, der dritte Teil fokussiert Verkörperungen. In der ersten Sektion steht zunächst die Frage im Vordergrund, wie Räume Handlungen strukturieren und inwiefern geschlechtlich markierten Subjekten durch Orte Bedeutung zukommt. Die Artikel im mittleren Teil legen Verhandlungen von Möglichkeiten und Grenzen geschlechtlicher Identitäten im sozialen ebenso wie im metaphorischen und im imaginierten Raum dar. Die Beiträge des letzten Teils nehmen unter der Überschrift Verkörperungen Stimme und Gewalt, die Bedeutung von Organen, den als behindert wahrgenommenen sowie den im urbanen Raum platzierten Körper zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zu Konstitutionen von Geschlecht im Wechselspiel mit räumlichen Konstellationen. In ihrem Aufsatz Zwischen Sprechgitter und Pforte. Räumliche Zuordnungen und die Produktion von Gemeinschaft in den Klausurbeschreibungen der Genfer Klarissenchronik (1534-46) untersucht Babette Reicherdt anhand von Selbsterzählungen frühneuzeitlicher Nonnenklöster den Zusammenhang von Gemeinschaftsbildung und räumlicher Situierung. In der Klosterchronik der Äbtissin des Genfer Klarissenkonvents Jeanne de Jussie werden Praktiken und deren Verortung im architektonischen Raum als wesentlich für das Selbstverständnis des Konvents dargelegt. Gleich-
Einleitung
zeitig bilden die räumlichen Situierungen eine Geschlechterordnung aus, mit der die Ordensfrauen konfrontiert sind. Neuen Verortungen Europas, die sich aus einer postkolonialen Perspektive ergeben, geht Sonja Lehmann in ihrer Analyse dreier Gedichte der Gegenwartslyrikerin Moniza Alvi nach. In ihrem Artikel Moniza Alvi’s Europa: Rewriting Myth from a Feminist Postcolonial Perspective führt Lehmann aus, wie in Alvis Schreiben koloniale Gewalt und Unterwerfung mit Ovids Erzählung der Vergewaltigung Europas durch Jupiter verflochten sind. Die wankenden und sich auflösenden Grenzen Europas verorten – im Bedeutungshorizont von Alvis Gedichten – Europa als Teil seiner ehemaligen Kolonien sowie im Angesicht seiner Kolonialgeschichte. Anhand des Ortes Singapur verfolgt Viola Thimm die Frage, welche strukturellen und institutionellen Praktiken die Feminisierung von Bildungsmigration beschreibbar machen. In ihrem Text »Gendered Geographies of Power«. Ein Modell zur Analyse von Bildungsmigration und Geschlecht am Beispiel von Malaysia und Singapur zeigt Thimm das Zusammenspiel von struktureller Benachteiligung von Chinesisch-Malaysierinnen in Malaysia und ihrer bevorzugten Rekrutierung als foreign talents in Singapur auf. Für die Analyse der Verklammerung von Migration und Geschlecht nutzt und erweitert die Autorin das Modell Gendered Geographies of Power von Sarah Mahler und Patricia Pessar. Unter dem Titel Queer Urban Spaces in New Delhi: Negotiating Femininity, Masculinity and Thirdness from a Kothi perspective nimmt Janina Geist die Performance von Genderrollen in öffentlichen und privaten Räumen New Delhis in den Blick. Dabei beleuchtet die Verfasserin am Beispiel der Identität der kothis Verortungen von Queerness in Delhi. Geist beschreibt Interpretationen von Femininität der kothi im urbanen Raum. Zudem wird in Geists Beitrag herausgearbeitet welche Inklusions- und Exklusionsmechanismen queeren Räumen in Delhi eingeschrieben sind. Den Abschnitt Verhandeln eröffnet Sabrina Funkners Beitrag, er analysiert welche Strategien die englische Gentry des Spätmittelalters entwickelt um mittels Heirat sozial aufzusteigen. In ihrem Aufsatz Ehre – Prestige – Profit. Handlungsleitende Konzepte bei Eheanbahnungen der Norfolker Gentryfamilie Paston weist Funkner unter Rekurs auf Bourdieus Konzept des sozialen Raums nach, dass Gender, Alter und Status gleichermaßen Faktoren sind, die Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten mitbestimmen, wenn qua Heirat sozial aufgestiegen werden soll.
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In ihrem Aufsatz Kunst als Freiraum? Strategien weiblicher Subjektivierung bei Victoria Benedictsson, Helene Böhlau und Toni Schwabe nimmt Jenny Bauer die räumliche Metapher des Freiraums als Ausgangspunkt für die Darstellung und Analyse ›weiblicher‹ Positionierungen und Möglichkeiten um 1900. Die Autorin macht sowohl abstrakte als auch konkrete Raumbegriffe für die Analyse der ausgewählten Texte von Schriftstellerinnen produktiv. Verbindendes Element der untersuchten Romane ist das Kunstschaffen weiblicher Figuren als Symbol für eigenmächtiges Handeln. Anne Mariss demonstriert den Zusammenhang von wissenschaftlicher Expedition und Männlichkeitskonstruktionen. In ihrem Aufsatz »… a body of uncivilized men«: Zur Dynamik von Weltreisen und Männlichkeiten analyisert Mariss am Beispiel von Berichten, die im Zuge der Cook-Reisen entstanden sind, das Selbstverständnis von Forschungsreisenden als Heilsbringer. Zentral ist hierbei, dass die Abgrenzung über die Dichotomie von Zivilität und Barbarei, die der bürgerliche Naturforscher und selbsternannte philosopher in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konstruiert, nicht nur in Bezug auf die Einwohner der bereisten Gebiete erfolgt, sondern auch in Bezug auf die europäischen Matrosen auf dem Schiff, die allesamt aus der Unterschicht stammen. Julia Elena Thiel diskutiert in ihrem Aufsatz »A Man May Travel Far«: Eastern European Labour Migration as a Quest for Masculine Self-Assertion in Rose Tremain’s The Road Home (2007) Konstruktionen von Männlichkeit im Spannungsfeld von Migration, Arbeit und Klasse. Thiel veranschaulicht am Protagonisten von Tremains Roman, wie unterschiedliche Konzeptionen von Männlichkeit in Relation zu Orten verhandelt werden. Im Zuge der EU-Osterweiterung emigriert der Protagonist aus einem ehemals sozialistischen Land nach Großbritannien; mit seinem Eintritt in andere, nun kapitalistische Arbeitsstrukturen geht ein verändertes Männlichkeitskonzept einher. In welcher Form adoleszente Jugendliche mit persönlicher Gewalterfahrung selbst Gewalt verhandeln und sich dennoch gegen die Ausübung von Gewalt entscheiden, zeichnet Mart Busche unter der Überschrift Männlichkeit und Gewaltabstinenz: Dynamiken im adoleszenten (Ver) Handlungsraum nach. Am Beispiel eines Interviews illustriert Busche mit Hilfe unterschiedlicher Felder welche Rolle Räume für die Auseinandersetzung mit Geschlechterzuordnungen, in Konfliktsituationen sowie für das Erfahren von eigenen Handlungsmöglichkeiten einnehmen.
Einleitung
In der Sektion Verkörpern erörtert Urania Julia Milevski die Bedeutung von Auslassungen für die Narration von Vergewaltigung. Unter dem Titel Der männliche Blick und die Entortung des Weiblichen? Elliptisches Erzählen in Heinrich von Kleists Die Marquise von O… (1808) und Inka Pareis Die Schattenboxerin (1999) setzt sich die Verfasserin mit erzähltheoretischen Vermittlungsstrategien in der Darstellung sexualisierter Gewalt auseinander. Milevski macht die Kategorien Stimme und Fokalisierung für eine gendersensible Erzähltextanalyse von Raum- und Körperdarstellungen produktiv. Die Antwort auf die Frage, wie Diversität in der Exposition des Exodus-Buches beschrieben werden kann, erläutert Nele Spiering mit Hilfe der narratologischen Kategorie der Erzählstimme. Ihr Beitrag »Da fürchtete Ägypten sich vor Israel« (Ex 1,12). Exegetische Perspektiven auf Diversität am Beispiel der Exodusexposition zeigt wie sich Konstruktionen von Identität und Differenz in der ägyptischen und der hebräischen Kultur im Laufe der Erzählung vom Leben im Exil wandeln. Wie eng hierbei Körper- und Raumpolitiken miteinander verzahnt sind, lässt Spiering anhand der Widerständigkeit der Hebammen gegen den vom Pharao geplanten Genozid an den Hebräern erkennen. Solveig Lena Hansen untersucht die im Roman Die Entbehrlichen von Ninni Holmqvist aus dem Jahre 2006 verhandelten gesellschaftlichen Debatten um Lebendorgantransplantation. Unter dem Titel Benötigtes Leben. Literatur als Medium zur kritischen Auseinandersetzung mit der Lebendorgantransplantation macht Hansen sowohl auf geschlechtsspezifische Codierungen der Organspende aufmerksam wie auf die soziale Strukturiertheit des Raums. Ethische Überlegungen und altruistisches Handeln werden in dem Roman ebenso vor Augen geführt wie die Frage nach der Wertigkeit von Körpern und der Bewertung von Lebensentwürfen. Marie-Theres Modes’ Artikel Raum, Atmosphäre und verkörperte Differenz. Raumbezogene Wahrnehmungsweisen einer anderen Körperlichkeit untersucht die Verzahnung von Körper- und Raumwahrnehmung. Als Teil einer ethnografischen Studie in einem Hotel mit behinderten und nicht behinderten Mitarbeiter_innen referiert Modes Aussagen von Akteur_innen zu raumbezogenen Atmosphären sowie Daten, die im Rahmen teilnehmender Beobachtung erhoben wurden. Anhand der Aussagen und Daten interpretiert Modes den Zusammenhang zwischen sozialen Zuschreibungen von Behinderung und der Art und Weise, wie der Körper im Raum platziert ist.
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Der Verschränkung devianter Körper- und Räumlichkeit widmet sich auch Johanna Neuhauser in ihrem Beitrag Verbotene Postkarten
aus Rio de Janeiro. Diskursive und räumliche Praktiken im Milieu des Sextourismus in Copacabana. Neuhauser stellt die mediale Berichterstattung über einzelne Orte in Copacabana exemplarisch vor, um politische Praktiken zu beleuchten, die sich an Verkörperungen im urbanen Raum festmachen. In der Verschränkung von Diskursanalyse und ethnografischer Perspektive kontrastiert die Autorin die medial vermittelten Polizeieinsätze mit Aussagen von interviewten Frauen aus dem Milieu der Sexarbeit.
Silke Förschler Nikola Roßbach Rebekka Habermas Göttingen/Kassel 2014
I. Verorten
Zwischen Sprechgitter und Pforte Räumliche Zuordnungen und die Produktion von Gemeinschaft in den Klausurbeschreibungen der Genfer Klarissenchronik (1534-46) Babette Reicherdt
Meine Herren, mit Verlaub, es entspricht nicht unserer Berufung, unsere Pforten zu öffnen. Aber wenn Sie gefälligst hinauf an das Sprechgitter steigen wollen, werden wir gern dorthin kommen, um Sie zu begrüßen.1
Jeanne de Jussie, die Schreiberin des Genfer Klarissenkonvents SainteClaire, berichtet in dieser Passage ihrer Klosterchronik vom Besuch des reformatorischen Predigers Guillaume Farel im Kloster der Nonnen am 4. Juli 1535. Farel lebte und predigte seit 1532 dauerhaft in Genf und führte das Engagement um die Produktion und Verbreitung theologischen Wissens im Sinne der sich auf den Bibeltext berufenden Reformationsideen in der Stadt an. Nach jahrelangen Aushandlungsprozessen der verschiedenen Interessengruppen um die ›richtige‹, also gottgewollte Ordnung, verlagerte sich das politische Kräfteverhältnis in der Stadt in Richtung der reformierten Partei.2 Sainte-Claire – als einziges Nonnenkloster und 1 | Jeanne de Jussie: Petite Chronique. Einleitung, Edition, Kommentar von Helmut Feld. Mainz 1996. Alle Quellenzitate wurden der deutschen Übersetzung entnommen: Jeanne de Jussie: Kleine Chronik. Bericht einer Nonne über die Anfänge der Reformation in Genf. Übers. und hg. von Helmut Feld. Mainz 1996, fol 183r (im Folgenden mit der Sigle fol zitiert). 2 | Für einen Überblick zur Geschichte Genfs bis zur Einführung der Reformation 1536 siehe Herbert Darling Foster: Geneva Before Calvin (1387-1536). The Antecedents of a Puritan State. In: The American Historical Review, 8, 2, 1903, S. 217-
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Babette Reicherdt
eines der letzten noch bestehenden Klöster innerhalb der Genfer Stadtmauern – war einer der wenigen Orte, an denen der alte Ritus noch regelmäßig und sichtbar für alle anderen vollzogen wurde.3 Die Vertretenden der alten Ordnung mit den neuen Glaubensinhalten zu konfrontieren, gehörte zum politischen Programm der Reformatoren und erfolgte während des hier beschriebenen Besuches durch einen erzwungenen Eintritt in die Klausur der Nonnen, die infolgedessen auf ihre Haltung zu Glauben und Lebensweise geprüft werden sollten. Jeanne de Jussie leitet die Schilderung dieser Ereignisse mit einer Anrede ein, die uns zugleich einen Zugang zum Phänomen der Klausur liefert. Für Sainte-Claire als observantes4 Klarissenkloster gehörte die Einhaltung der strengen Klausur zum Selbstverständnis als Konvent in direkter Tradition der Klara-Ordensregel. Das Prinzip Klausur, wie es in der Chronik entwickelt wird, ist in seinen spezifischen Aspekten bereits in der oben zitierten Anrede enthalten: in der für die Praktizierung der Klausur notwendigen architektonischen Voraussetzung (Pforte, Sprechgitter), in der Performativität als Mittel (hinaufsteigen) sowie in der Anredesituation an ein Außen, von dem sich eine Gruppe abgrenzen lässt (wir). Im Folgenden werden Selbsterzählungen frühneuzeitlicher Nonnenklöster anhand der Kategorien Raum und Geschlecht für die Beschreibung monastischer Gemeinschaften produktiv gemacht. Die Fokussierung auf 240 und Volker Reinhardt: Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf. München 2008, S. 7-54. Auf die komplexen Aushandlungsprozesse um die Einführung der Reformation in der Stadtgemeinde Genfs vor dem Hintergrund des Kampfes um die politische Souveränität des savoyischen Herzogs und im Kontext der Allianzbildung zwischen den Städten Bern und Fribourg kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 3 | Nach erstmaliger Durchführung von evangelischer Taufe und Eheschließung 1534 wurde am 11.08.1535 das Abhalten der Messe in Genf verboten, vgl. Reinhardt: Tyrannei der Tugend, S. 48f. 4 | Im Zuge der Observanz, jener Reformbewegungen innerhalb der spätmittelalterlichen Ordensfamilien, die sich für eine Rückkehr zur strengen Beachtung der ursprünglichen Ordensregel einsetzten, wurden im 15. Jahrhundert zahlreiche Klöster reformiert sowie unter dem Regelwerk neu gegründet. Für die Klarissen vgl. als Überblick Ancilla Röttger/Petra Groß: Klarissen. Geschichte und Gegenwart einer Ordensgemeinschaft. Werl 1994.
Zwischen Sprechgitter und Pfor te
gemeinschaftsbildende Praktiken ermöglicht es, Konventsgemeinschaft in ihrer räumlichen Situierung zu verstehen. Dabei soll eine spezifische Gruppe von Personen in ihrer Abhängigkeit voneinander und in ihrem geteilten Begehren nach Gemeinschaft dargestellt werden. Das für Konvente konstitutive Phänomen der Klausur, zugleich Norm und Lebensform, kann als ein System sich überlagernder räumlicher Dimensionen aufgefasst werden, das zugleich den Handlungsort und den Handlungsraum monastischer Gemeinschaften abbildet. Einen evidenten Teil der Klausur bilden dabei ihre architektonischen Bestandteile, die in der Ordensregel festgeschrieben sind und sich in den Alltagspraktiken des Konvents wiederfinden. Hierzu gehören das Sprechgitter und die Pforte, die als materielle Manifestation der Klausur die Kontaktpunkte des Konvents mit Personen und Gruppen markieren, die sich außerhalb der Klostergemeinschaft befinden. Auf der Ebene der Konventserzählung wird die Gemeinschaft der Klarissen durch Praktiken beschrieben, deren Voraussetzung in der architektonischen Klausuranordnung gegeben ist. In seinem für die geistes- und sozialwissenschaftliche Raumforschung der letzten Dekaden wegweisenden Buch La production de l’espace entwickelt der französische Philosoph Henri Lefebvre den Grundsatz von Raum als einem Produkt sozialer Interaktionen. Lefebvre erklärt unter anderem anhand mittelalterlicher Mönchsklöster seine Vorstellung von einer Raumproduktion, die mittels körperlicher Bewegungen, zu denen auch Sprechakte gehören, in Form von Gesten erfolgt. Diese Gesten finden in einem architektonisch genau durchkomponierten Ort statt und ermöglichen es den Teilnehmenden, einen mentalen mit einem materiellen Raum zu verknüpfen und damit gemäß dem theologischen Programm des Ordenslebens eine Verbindung zwischen Begrenztheit des irdischen und Unendlichkeit des ewigen Lebens herzustellen.5 Teile dieser Raumerzeugung sind dabei die materiellen Artefakte der Klausur (zum Beispiel die einzelnen Bestandteile des Kreuzgangs), die den vorgeschriebenen Rhythmus, in dem die Gesten zu erfolgen haben, bemessen.6 Der immense Einfluss von Lefebvres Theorie auf die historische Forschung zu vormodernen monastischen Gemeinschaften schlägt sich in einer beachtlichen Zahl von Studien nieder, die Raum zum Thema ma5 | Zitiert wird aus der englischen Übersetzung: Henri Lefebvre: The Production of Space [1974/1991]. Oxford 2005, S. 216. 6 | Ebd., S. 217.
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chen.7 Jedoch finden sich erst in jüngerer Zeit Untersuchungen, die in klösterlichen Kontexten verhandelte Räume auch in theoretischer Perspektive fokussieren. So fragt Julie Ann Smith in ihrer Studie zur Klausur in dominikanischen Nonnenklöstern nach dem Funktionieren von Ordensregeln und Vorschriften als einem mapping für Klostergemeinschaften, die räumlich definierte Beziehungen sowie eine Haltung individueller Klausur bei den einzelnen Nonnen herzustellen vermochten. 8 Lynda Coon geht in ihrer exzeptionellen Studie über den Zusammenhang von Körper, Architektur und Praktiken in frühmittelalterlichen Mönchsgemeinschaften einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie gemäß Lefebvres konstruktivistischem Raumverständnis die Verbindung von geschlechtlicher Markierung und Raumproduktion analysiert. Beide genannten Arbeiten fokussieren auf die Praktiken mehrerer einzelner, hierarchisch unterschiedener Akteur_innen9. 7 | Als wegweisend für die Erforschung vormoderner monastischer Kontexte ist Roberta Gilchrists Studie zu spätmittelalterlichen englischen Nonnenklöstern zu nennen, die geschlechtsspezifische Unterschiede zu Mönchsklöstern anhand der Archäologie der Klöster nachweist: Roberta Gilchrist: Gender and Material Culture. The Archaeology of Religious Women. London/New York 1994. Darauffolgende Arbeiten verstehen Raum in erster Linie als gegeben und untersuchen räumliche Zusammenhänge weniger in Bezug auf Dynamiken und ihre Gewordenheit, vgl. Heike Uffmann: Innen und außen: Raum und Klausur in reformierten Nonnenklöstern des späten Mittelalters. In: Gabriela Signori (Hg.): Lesen, Schreiben, Sticken und Erinnern. Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte mittelalterlicher Frauenklöster. Bielefeld u.a. 2000, S. 185-212; Christina Lutter: Klausur zwischen realen Begrenzungen und spirituellen Entwürfen. Handlungsspielräume und Identifikationsmodelle der Admonter Nonnen im 12. Jahrhundert. In: Elisabeth Vavra (Hg.): Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes. Krems 24.-26. März 2003. Berlin 2005, S. 305-323. Zur Rezeption von Raumtheorien innerhalb der mediävistischen historischen Forschung vgl. den Überblick von Megan CassidyWelch: Space and Place in Medieval Contexts. In: Parergon, 27, 2, 2010, S. 1-12. 8 | Julie Ann Smith: Clausura Districta: Conceiving Space and Community for Dominican Nuns in the Thirteenth Century. In: Parergon, 27, 2, 2010, S. 13-36. 9 | Die mit Versalien-I versehenen substantivischen Personenbezeichnungen sind hier nicht im Sinne der gleichzeitigen Verwendung grammatischer Maskulina und Feminina zu verstehen, die damit bezeichnete Personen geschlechtlich bi-
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Inwiefern erweist sich nun die Produktion von Raum durch spezifische monastische Praktiken, das heißt die Verbindung von Gesten und architektonischer Materialität, als konstitutiv für die Gemeinschaft eines Konvents? Dieser Aufsatz will am Beispiel der Genfer Klarissen zeigen, wie Konventsgemeinschaft in der Klosterchronik durch raumerzeugende Praktiken hergestellt wird. Der in dieser Weise abgebildete Konvent besteht aus hierarchisch unterschiedenen, geschlechtlich markierten Personen, deren Einzelbedeutung funktional hervorgehoben wird und die an anderen Stellen zugunsten des Bildes von einer organisch funktionierenden Gruppe zurücktreten. Nach einem kurzen Überblick über die Quelle und ihren historischen Kontext sowie einigen Informationen zur Bedeutung monastischer Klausur werden die verschiedenen Praktiken der in der Chronik genannten Akteur_innen, die im Zusammenhang mit dem Sprechgitter und der Pforte des Klosters stehen, in den Blick genommen. Diese Klausurpraktiken werden daraufhin geprüft, auf welche Weise über Raumproduktion gemeinschaftskonstituierende Effekte entstehen und welche geschlechtlichen Markierungen dabei eine Rolle spielen.
D IE P ETITE C HRONIQUE UND DIE K L ARISSEN IN G ENF Die im Mittelpunkt der Untersuchung stehende Klosterchronik wurde von der Schreiberin und späteren Äbtissin des Genfer Klarissenkonvents Jeanne de Jussie aufgezeichnet.10 Anders als viele der überlieferten Chronär als ›Mann‹ und ›Frau‹ kodieren. Vielmehr umfasst die Darstellung im Sinne der Queer-Theorie zugriffsfrei alle denkbaren Geschlechter, so lange diese nicht als explizit sozial positioniert erscheinen und dadurch benennbar werden. 10 | Über Jeanne de Jussie liegen nur wenige biografische Informationen vor. Geboren 1503 als jüngstes von sechs Kindern einer Familie des Landadels im 15 km von Genf entfernten Dorf Jussy-l’Évêque, besuchte sie ab 1521 die (außerhalb der Chronik nicht erwähnte) Mädchenschule in Genf und trat in den Konvent Sainte-Claire ein. Sie hatte das Amt der Schreiberin inne und übernahm 1548 das siebte Abbatiat des Konvents in Annecy, wo sie 1561 verstarb. Zu den Daten vgl. das 1739 von Bonaventure Gariod, dem damailigen Beichtvater des Konvents, angelegte Professions- und Totenbuch, Livre contenant les noms, les jours de prise d’habit, et professions des Religieuses du Convent de Betlëhëm de Genève Refugiés dans le Convent de Ste croix d’Annecy; fondé par S.A.R. Charle III. Duc de
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niken aus Nonnenklöstern, die entweder von einem Kollektiv von Autor_ innen aufgeschrieben wurden oder von einer Person, die nicht zum Konvent gehörte,11 handelt es sich bei dieser Quelle um das Werk nur einer Autorin, die Teil der Gruppe ist, über deren Geschichte sie berichtet.12 Der umfangreiche Text13 erzählt in abgeschlossener Form die Geschichte des Konvents in den 1530er Jahren in Genf während der gesellschaftlichen Umbruchsituation der Reformation, in der die Nonnen die Stadt verlassen und in das Exilkloster Saint-Croix im savoyischen Annecy flüchten. Die Schreibsituation, also der historische Kontext, in dem die Chronik entstand und von dem aus der Chroniktext erschlossen werden muss, ist bestimmt durch das Erlebnis einer erfolgreichen Migration in den Genf benachbarten Herrschaftsbereich. Die Klosterchronik kann gleichermaßen als historiografischer Wissensspeicher und als Selbstzeugnis gelesen werden. Angefertigt für die Konventsgemeinschaft und ihre Memoria mit der Absicht, die eigene Geschichte mit allen Details zu dokumentieren,14 lässt die mehrmalige Verwendung eines Ich im Text darauf schließen, dass hier eine Person auch Auskunft über sich selbst und ihr Leben gibt.
Savoye. Recuillis sur des anciens memoires par le Rd P. Bonaventure Gariod bachelier de Sorbonne, ancien definiteur et Confesseur des dites Religieuses d’Annecy 1739. Eine Abschrift des Buches aus dem 18. Jahrhundert befindet sich im Genfer Staatsarchiv (Archives d’État de Genève, Manuscrits historiques N˚ 224). Zur Biografie Jeanne de Jussies vgl. Helmut Feld: Einleitung. In: Jeanne de Jussie: Petite Chronique. Einleitung, Edition, Kommentar von Helmut Feld. Mainz 1996, S. XIII-LXXV, hier S. XIII-XIX ; Henri Roth: Une femme auteur au 16e siècle. Jeanne de Jussie. In: Revue du Vieux Genève, 19, 1989, S. 5-13, hier S. 6 ; Edmond Ganter: Les clarisses de Genève 1473 – 1535 – 1793. Genève 1949, S. 207f. 11 | Zur Überlieferungssituation von Schriftgut aus Nonnenklöstern und der sich daraus ergebenden Infragestellung von Masternarrativen über Klostergeschichte vgl. nach wie vor maßgeblich Anne Winston-Allen: Convent Chronicles. Women Writing About Women and Reform in the Late Middle Ages. Pennsylvania 2005, v.a. S. 3f. 12 | Feld: Einleitung, S. XXV. 13 | 285 beidseitig beschriebene Manuskriptseiten im Format von etwa DIN A 5. 14 | Zur Komplexität der Gattung der Klosterchroniken aus Nonnenklöstern vgl. Winston-Allen: Convent Chronicles, S. 15f.
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Jeanne de Jussie berichtet über das klösterliche Leben im Konvent sowie die Ereignisse in der Stadt und ihrer Umgebung im Kontext einer sich umstrukturierenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Die Reformation in Genf setzte im Vergleich zu anderen Städten des Reiches oder der Eidgenossenschaft verhältnismäßig spät ein und wurde ideell vor allem mit dem Eintreffen französischer Prediger lanciert.15 Inmitten des Unabhängigkeitskampfes der Stadtgemeinde Genfs mit den beiden Regenten – dem Inhaber der Region des Landes um Genf, Herzog Charles III. von Savoyen, und dem direkten Stadtoberen, dem Prinzbischof – bewegte sich der Kampf um die Definitionsmacht über den rechten Glauben und das dem entsprechende Leben an verschiedenen sozialen Orten. Der Stadtrat hielt einen beschwichtigenden Kurs ein, nach dem zwar das ›reine Gotteswort‹ gepredigt, ansonsten jedoch der alte Ritus aufrechterhalten werden sollte. Mit der 1534 erreichten Mehrheit der reformierten Kräfte regelte der Rat die Glaubenspraxis jedoch neu. Daraus resultierten veränderte Rituale für die Feier von Taufe und Eheschließung und das Verbot der Messe im August 1535.16 Als Repräsentation des alten Glaubens und gleichzeitig unter dem Patronat des savoyischen Herzogs stehend, musste sich der Konvent SainteClaire fortan in einer Umwelt behaupten, die die (biblische) Legitimität und den Sinn der monastischen Lebensweise infrage stellte. Der Disput um das Leben der Nonnen in Keuschheit und in der Abgeschiedenheit der Klausur nimmt einen umfangreichen Platz innerhalb der Petite Chronique ein. Diskutiert wird die Klausurpraxis in erster Linie anhand geschilderter Besuche, bei denen Einlass in den Konvent beansprucht wird und die Schwestern von ihren neuen Ideen überzeugen werden sollen. Schließlich gelang es den Schwestern, bis auf eine Ausnahme, in ihrer Gemeinschaft zu verbleiben und ins Exil nach Annecy zu flüchten. Dort stellte ihnen der savoyische Herzog ein Gebäude zur Verfügung, in dem sie den neuen Konvent Saint-Croix einrichten konnten.
15 | Guillaume Farel besuchte Genf erstmals 1529. Die Stadt Bern hingegen führte die Reformation bereits 1528 ein, vgl. Reinhardt: Tyrannei der Tugend, S. 27-29. 16 | Ebd., S. 48f.
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K L AUSUR ALS MONASTISCHES PAR ADIGMA UND R ÄUMLICHE O RDNUNG Das Prinzip der Klausur, also des Einschlusses einer Gruppe von Personen und des gleichzeitigen Ausschlusses der Welt um sie herum, als konstitutives Moment vormodernen monastischen Lebens wurde im Zuge der religiösen Reformbewegungen des 15. Jahrhunderts für die Nonnenklöster neu diskutiert und für alle verbindlich festgelegt. Strenge aktive und passive Klausur17 wurde fortan für alle Nonnenklöster eingefordert, architektonisch umgesetzt und die Einhaltung im Rahmen von Visitationen kontrolliert. Die den Mönchen zugestandene Predigertätigkeit war für Nonnen nicht vorgesehen, was sich in den Klausurkonzepten weiblicher Orden im Unterschied zu denen der Mönchsklöster niederschlug.18 Das Genfer Klarissenkloster Sainte-Claire wurde 1473 von Herzogin Yolande von Savoyen als Klarissen-Colettinen-Kloster nach dem Vorbild von Colette de Corbie (1381-1447) gegründet. Colette, eine französische ›Religiose‹ und Ordensreformerin, gründete im 14. Jahrhundert mehrere observante Klarissenkonvente im Gebiet des heutigen Frankreich und der westlichen Schweiz. Nach ihrem Beispiel entstanden Konvente, die sich der strengen Einhaltung der Ordensregel Klaras von Assisi von 1253 verpflichtet sahen. Im Unterschied zu allen weiteren Regeln für die weiblichen ›Religiosen‹ der franziskanischen Ordensfamilie betonte die Klara-Regel neben den Vorschriften zum Leben in schwesterlicher Gemeinschaft und Keuschheit das Leben in vollkommener Armut und
17 | Unterschieden wird zwischen dem Verbot, das Kloster zu verlassen (aktive Klausur), sowie der Vorschrift, nur ausgewählte Personen zu besonderen Anlässen in die Klausur einzulassen (passive Klausur), siehe auch Anm. 18. 18 | Für eine systematische Untersuchung zu Klausurkonzepten vgl. Gisela Muschiol: Klausurkonzepte. Mönche und Nonnen im 12. Jahrhundert. Unveröff. Habil.schrift Universität Münster 2003, v.a. Kap. 2.1. Zur Klausur in Nonnenklöstern im Zuge der monastischen Reformen vgl. Eva Schlotheuber: Klostereintritt und Bildung. Die Lebenswelt der Nonnen im späten Mittelalter. Mit einer Edition des ›Konventstagebuchs‹ einer Zisterzienserin von Heilig-Kreuz bei Braunschweig (1484-1507). Tübingen 2004; Heike Uffmann: Wie in einem Rosengarten. Monastische Reformen des späten Mittelalters in den Vorstellungen von Klosterfrauen. Bielefeld 2008, sowie Winston-Allen: Convent Chronicles.
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Besitzlosigkeit. Die für Klarissenkonvente vorgesehene strenge Klausur wurde durch die Erlaubnis zur Besitzlosigkeit jedoch erst ermöglicht.19 Die Architektur der Klausur war in der Klara-Regel vorgegeben und die Klostergebäude wurden exakt nach den Vorschriften und Erfordernissen des geistlichen Lebens in einem Konvent angelegt. Klausur und Askese erforderten es, die Außenwelt von den Nonnen abzugrenzen und den Kontakt zu allen Personen außerhalb des Konvents räumlich zu organisieren. Zu diesem Zweck existierten ausgewählte Stützpunkte im gesamten Klostergebäude. Sainte-Claire gehörte als einziges Nonnenkloster zu den fünf Klöstern Genfs, die innerhalb der Stadtmauern errichtet waren. Es grenzte an den Platz Bourg-de-Four in unmittelbarer Nähe zur Kathedrale SaintPierre.20 Edmont Ganter entwickelte auf der Grundlage archäologischer Befunde und mit Hilfe der Klosterchronik einen möglichen Klosterplan für Sainte-Claire. Die folgende architektonische Beschreibung des Konvents, die für das Verständnis der Klausurpraktiken erforderlich ist, stützt sich auf Ganters Studie.21 Der Haupteingang in das Klostergebäude führte vom Platz Bourg-deFour in einen großen Korridor, von dem aus alle Bereiche des Bauwerkes zu erreichen waren. Rechts vom Haupteingang führte eine Tür zum rechten Flügel des Gebäudes, der aus Zimmern, Kapellen und einem angeschlossenen Garten bestand und den Mönchen des Franziskanerordens, die für die spirituelle Betreuung ihrer Schwestern verantwortlich waren, sowie den Laienbrüdern vorbehalten war. 19 | Für einen Überblick zur Geschichte der Klarissen vgl. Röttger/Groß: Klarissen, S. 23-25 sowie S. 59, Karl Suso Frank: Die Klarissen (Ordo S. Clarae, OSCI). In: Friedhelm Jürgensmeier/Regina Elisabeth Schwerdtfeger (Hg.): Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500-1700. Münster 2006, Bd. 2, S. 125-137, hier S. 135, sowie für die Schweiz Theophil Graf: Enleitung. Der Klarissenorden und seine Niederlassungen in der Schweiz. In: Brigitte Degler-Spengler/Klemens Arnold et al. (Hg.): Der Franziskusorden. Die Franziskaner, die Klarissen und die regulierten Franziskaner-Terziarinnen in der Schweiz. Bern 1978, S. 529-544, hier S. 538. 20 | Nach lang jähriger Nutzung als Krankenhaus befindet sich dort seit dem 19. Jahrhundert der Palais de Justice. Dessen Kellergewölbe lassen noch den Unterbau des einstigen Klostergebäudes erkennen, vgl. Ganter: Clarisses, S. 169f. 21 | Ebd., S. 173-185.
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In der linken Hälfte des Gebäudes lagen die Konventsräume und die Klosterkirche, ein einfacher rechteckiger Raum ohne Säulen oder Pfeiler. Die Klosterkirche bestand aus dem von einer Doxale begrenzten Kirchenschiff, aus zwei Kapellen und einer Sakristei. Im hinteren Teil des Schiffes befand sich der vom Kirchenraum abgetrennte Nonnenchor, höchstwahrscheinlich auf einer Empore, die über eine Treppe zu erreichen war.22 Hier, zwischen der Wand vom Kirchenschiff zum Chorraum, war ein Eisengitter eingelassen, das von Jeanne de Jussie als treillie bezeichnet wird. Das Gitter konnte vonseiten des Nonnenchores mit einem Vorhang verhängt und auch mit einer Holztür verschlossen werden. Jeanne de Jussie beschreibt in der Chronik das Gitter als den Ort legitimen Sprechens aller Schwestern mit Personen aus der Außenwelt des Konvents. Damit entspricht sie unmittelbar den Vorgaben der Klara-Regel, die das Reden mit Außenstehenden wenn überhaupt nur an der Sprechöffnung gestattet, stets in Anwesenheit zweier weiterer Schwestern und mit Erlaubnis der Äbtissin oder Vikarin.23 Die Klara-Regel differenziert jedoch zwischen Sprechöffnung und Gitter, und für etliche andere Nonnenklöster konnten verschiedene, funktional unterschiedliche Fenster im Klausurraum nachgewiesen werden.24 Eine solche Unterscheidung lässt sich für die Genfer Klarissen jedoch nicht verifizieren, vielmehr legen die Chronikaufzeichnungen nahe, dass es sich beim Gitter um den einzigen Sprechort aus der Klausur heraus in den Kirchenraum handelte.
22 | Die sowohl horizontale als auch vertikale Lage des Nonnenchores in den Kirchen der Bettelordensklöster ist regional verschieden und richtete sich u.a. nach der Größe und Repräsentativität der Kirche und des jeweiligen Klosters, vgl. Carola Jäggi: Frauenklöster im Spätmittelalter. Die Kirchen der Klarissen und Dominikanerinnen im 13. und 14. Jahrhundert. Petersberg 2006, S. 191f. Klosterkirchen, für die eine sogenannte Nonnenempore bekannt ist, wiesen eine hölzerne Treppe oder Leiter auf, die die Nonnen nachts hochziehen konnten, vgl. ebd., S. 186. Zur Lage des Chores und des Sprechgitters in Sainte-Claire s.u. die Ausführungen zu den Klausurpraktiken. 23 | Zitiert wird aus der deutschsprachigen Übersetzung: Engelbert Grau/Lothar Hardick (Hg.): Leben und Schriften der Heiligen Klara. Einführung, Übersetzung und Anmerkungen von Engelbert Grau. Erläuterungen von Lothar Hardick. Werl 1988, V 5, 6 und 9 (im Folgenden mit der Sigle Klara-Regel zitiert). 24 | Vgl. Klara-Regel: V; Jäggi: Frauenklöster, S. 186 und 188.
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Neben der Klosterkirche lag der Klausurbereich. Im Erdgeschoss befand sich der Kreuzgang, um den herum die Küche, Arbeitsräume und eine Krankenstation angeordnet waren. Im oberen Geschoss befanden sich Refektorium, Dormitorium und Kapitelsaal. Hinter dem Klostergebäude schloss sich ein Klostergarten an, dessen Umgrenzung Teil der Stadtmauern Genfs war. Die Klausurräume waren mit dem Hauptflur des Klostergebäudes über einen kleinen, von Jeanne de Jussie salle de tour genannten Raum verbunden, den die Pförtnerin besetzte und der mit drei Türen von den übrigen Konventsräumen getrennt war.25 Auf der anderen Seite des Raumes lag die Haupteingangstür zum Kloster mit einem Drehfenster (tournet), das vonseiten der Nonnen verschlossen werden konnte. Die Tür wurde zum Austausch aller materiellen Güter genutzt sowie für den Einlass von Personen zu besonderen Anlässen geöffnet. Dazu zählten die Aufnahme von Novizinnen, das Austeilen der letzten Sakramente oder der Besuch von hochrangigen Angehörigen des Ordens oder des Klerus.
K L AUSURPR AK TIKEN Das Sprechgitter Jene die Klausur betreffenden Praktiken in der Petite Chronique können zunächst hinsichtlich ihrer räumlichen Verortungen innerhalb der Konventsarchitektur miteinander verglichen werden, den Klausurkontaktpunkten Sprechgitter und Pforte. Grundsätzlich wird für beide Orte von einer Vielzahl an Kontakten zu Personen außerhalb des Konvents berichtet. Zu ihnen zählten alle weiteren Klosterangehörigen – der Beichtvater, die im Kloster lebenden Franziskanermönche und die Konversen26 – wie auch Personen außerhalb des Hauses. Zu diesen gehörten die Mitglieder der Herkunftsfamilien der Nonnen, Bürger_innen der Stadt Genf, Angehörige des Rates, des Militärs sowie des Klerus. Der maßgebende 25 | Die Klara-Regel schreibt eine Pförtnerin und eine Gehilfin vor, vgl. KlaraRegel XI 1 und 2. Nach Jeanne de Jussie wirkten in Sainte-Claire jedoch drei Pförtnerinnen, vgl. fol 171v. 26 | Die Petite Chronique erwähnt Laienbrüder- und Schwestern, vgl. fol 201v, 252r und 256v.
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Unterschied der kommunikativen Kontakte an beiden Orten bestand im Grad der Legitimität des Sprechens der Nonnen mit Außenstehenden. Legitimität war an der Pforte nur für die mit dem Pförtnerinnenamt betrauten Schwestern gegeben und beschränkte sich auf die Aufnahme und Weiterleitung des Anliegens von Besuchenden. Jegliches darüber hinausgehende Sprechen aller Konventsangehörigen sollte laut Ordensregel am Gitter »sehr selten, an der Pforte aber überhaupt nicht«27 stattfinden. Nicht selten, sondern vielmehr häufig und verdichtet für das Jahr 1535, beschreibt Jeanne de Jussie die kommunikativen Handlungen der Konventsmitglieder am legitimen Sprechort treillie. Diese Kontakte durch die Klausur hindurch sind mit einer Bewegung ›hinauf‹ zum Sprechgitter verbunden. Den vorgegebenen Weg beschreiten die Besuchenden von der Klosterkapelle aus über die Treppe, die zum Nonnenchor führt, die Nonnen bewegen sich von ihrem jeweiligen Aufenthaltsort in den Konventsräumen zum Gitter, das den Chorraum zum öffentlich zugänglichen Kirchenraum hin abschließt.28 Die geschilderten Begegnungen am Sprechgitter können in ein Ordnungssystem von Kontakten gebracht werden. Bei den im Zusammenhang mit einem Ort erwähnten Besuchenden des Klosters handelt es sich um Personen, deren Anwesenheit in Verbindung mit besonderen Ereignissen steht: Zu nennen sind hier der Fall des Klosteraustritts einer der Schwestern des Konvents, der mehrfache Besuche ihrer leiblichen Schwester zur Folge hatte, sowie die Versuche protestantischer Geistlicher, im Kloster zu predigen und die Nonnen hinsichtlich ihrer Haltung in den Glaubensauseinandersetzungen zu befragen. Bei all diesen Besuchen, die zumeist von den Genfer Bürgermeistern begleitet werden, handelt es sich nicht um zum Klosteralltag gehörende Ereignisse, sondern 27 | Vgl. Klara-Regel V, 8.: »Die Äbtissin und deren Vikarin sollen auch für ihre Person verpflichtet sein, diese Form des Sprechens zu beobachten« und 9.: »Und dies geschehe am Gitter sehr selten, an der Pforte aber überhaupt nicht.« 28 | Eine zum Gitter führende Treppe im Kirchenraum wird explizit auf fol 227r erwähnt. Evident sind ebenfalls die räumlichen Vokabeln ›hinauf‹ und ›hinab‹. Diese Beschreibungen lassen auf eine Lage des Gitters am Chorraum und damit auf der gleichen Ebene wie die Konventsräume im Obergeschoss des Klosters schließen. Weniger leicht zu erschließen sind die Größe des Gitters und das etwaige Vorhandensein eines Zugangs vom Chor- in den Kirchenraum. Vgl. hierzu Jäggi: Frauenklöster, S. 186-188.
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vielmehr um Begegnungen, die das Bestehen des Konventes bedrohen. In sämtlichen Fällen erwähnt die Schreiberin, der Besuch werde an das »Sprechgitter geführt«, »steigt zum Sprechgitter hinauf«, verbleibe »an dem Sprechgitter« oder »stieg vom Sprechgitter hinab«.29 Die jeweils geschilderte Kommunikationssituation erhält damit eine raumbezogene Markierung. Zugleich wird der Klausurraum in der Beschreibung dahingehend ausgeformt, dass formuliert wird, wo die rechtmäßige Stelle ist, an der Kontakt stattfinden darf. Diese Rechtmäßigkeit wird noch unterstrichen, indem geschildert wird, wie seitens der Nonnen eine Aufforderung erfolgt, der Besuch möge sich zum Sprechgitter begeben. So berichtet Jeanne bereits für den Oktober 1530 von einem für die Schwestern bedrohlichen Ereignis während der Besatzung Genfs durch militärische Truppen aus Bern und Fribourg.30 Der Konvent muss 30 Soldaten im Kloster beherbergen und diese mit Lebensmitteln, Holz und Heu für die Pferde versorgen. Zusätzlich zu dieser Herausforderung für das mit 24 Chorschwestern recht kleine Kloster erzählt die Schreiberin, die Soldaten hätten mehrfach nachts zu den Schwestern »eindringen und ihnen Böses und Gewalt antun« (fol 22v) wollen. Durch den beredten Einsatz eines ihrer Laienbrüder konnte ein solcher Einbruch vorerst verhindert werden. Die Gefahr, in der die Schwestern sich befanden, ist wie folgt beschrieben: Als die Schwestern erfuhren, daß sie in großer | Gefahr schwebten, ließen sie ihre Gäste ans Sprechgitter heraufsteigen. Dann stellten sie sich alle dort auf und baten unter großen Strömen von Tränen und in tiefer Demut und Barmherzigkeit, indem sie sich ihnen anempfahlen: sie möchten sie doch vor den Häretikern in Schutz nehmen. Da begannen sie alle zu weinen und sagten: ›Liebe Damen, möge Gott Euch stärken und bewahren als seine Mägde, denn wir können Euch nicht beschützen, wenn sie Euch schaden wollen. Wir haben ein Treuegelöbnis abgelegt, einander keinen Schaden zuzufügen. Selbst wenn wir es tun wollten, sie sind mächtiger als wir […].‹
29 | Fol 120v, 192r, 227r, 229v. 30 | Genf hatte sich 1526 der combourgeoisie mit den freien Städten Bern und Fribourg angeschlossen. Während des Angriffs des Bischofs auf Genf im Herbst 1530 erhielt die Stadt starke militärische Unterstützung seitens der Bündnispartner, vgl. Reinhardt: Tyrannei der Tugend, S. 30.
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Da waren die armen Schwestern halbtot vor Angst und Furcht. Die Soldaten hatten mit ihnen solches Mitleid, daß sie ihnen versprachen, sie zu beschützen und ihr Leben für sie einzusetzen, falls es notwendig werden sollte. (Fol 22v-23r)
Diese Episode erzählt von der Rettung der Schwestern aus einer höchst gefährlichen Lage. Indem sie das Mitleid der Soldaten erregen und sie zu einer anderen Haltung bringen, wird die Situation entschärft. Bemerkenswert an dieser Beschreibung der Bekehrungssituation ist die Selbstpräsentation als Konvent exakt nach der Ordensregel und innerhalb räumlicher Parameter. Die Nonnen zitieren die sie vorher permanent bedrohenden Personen an das Gitter, positionieren sich dort vor ihnen als Gruppe und nehmen eine ihrem Stand angemessene körperliche und emotionale Haltung ein. Die hier verwendete Choreografie als Konventsgemeinschaft kann innerhalb der Chronik als erfolgsversprechende Handlungsanweisung gelesen werden. Die Nonnen erzeugen mithilfe eines Sprechaktes, der auf die einzig mögliche Art der Kontaktaufnahme am legitimen Sprechort, an dem Gitter am Nonnenchor, verweist, den Raum der Klausur. Zugleich repräsentieren sie ihn, indem sie sich vor dem Gitter auf bauen. Die Gemeinschaft ist in dieser Szene hierarchisch nicht unterschieden, sondern spricht und handelt als ein Ganzes.31 Die zweite Erzählung eines Verweises von Gästen an das Sprechgitter, nämlich anlässlich des eingangs geschilderten Besuchs Guillaume Farels, verläuft völlig anders. Farel, der zusammen mit Pierre Viret, einem reformatorischen Prediger aus Orbe im Kanton Waadt, einem Mönch, den vier Bürgermeistern Genfs sowie zwölf weiteren männlichen Personen im Juli 1535 den Konvent aufsucht, meldet sich an der Pforte, um Einlass zu erhalten. Er verfolgt das Anliegen, »zu unserem Wohl und Trost zu uns hereinkommen zu dürfen, indem sie sagten, sie seien | unsere Väter und guten Freunde« (fol 182v-183r). Die Gäste treffen zunächst auf die Pförtnerin, die sofortig die Äbtissin und die Vikarin konsultiert. Beide übernehmen zusammen die Gesprächsführung, während der Rest des Konventes zur Kirche läuft. Der Anweisung, »hinauf an das Sprechgitter 31 | Erst im weiteren Verlauf des Quellentextes wird die Rolle der sprachgewandten Pförtnerin, der späteren Vikarin und Äbtissin, erwähnt, vgl. fol 23v. Zur Repräsentation der Klausur als Konventskörper bei den Genfer Klarissen vgl. auch die Arbeit von Elisabeth Mary Wengler: Women, Religion, and Reform in SixteenthCentury Geneva. Unveröff. Diss., Boston College 1999, S. 113.
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zu steigen«, um als Gäste empfangen zu werden, kommen die Besuchenden jedoch nicht nach. Sie erwirken vielmehr, so schildert es Jeanne de Jussie, durch Nötigung und die Drohung, die Pforte aufzubrechen, Einlass in die Klausur über den Raum des Drehschalters zu erhalten. Sie begeben sich zum Kapitelsaal, dem Versammlungsraum des Klosters, und erzwingen die Einbestellung aller Schwestern des Konvents, um sie alle einzeln anzureden und zu befragen. Der Verweis auf das Funktionieren der Klausur zieht in dieser Erzählung nicht das Ausführen der korrekten Praxis nach sich, vielmehr wird geschildert, zu welchen Konsequenzen eine Kommunikation innerhalb der Klausurräume führen kann: zu Chaos und Vereinzelung der Gemeinschaft, hauptsächlich durch die Versuche der Einbrechenden, die Vikarin als Wortführerin der Gruppe vor allem der jüngeren Schwestern zu trennen. Die Gefahr kann jedoch in der Weise abgewendet werden, dass die Nonnen mehrfach versuchen, sich als geschlossene Gruppe zusammenzufinden, und den Ausführungen Farels nicht zuhören wollen (vgl. fol 186v-188v). Der unterschiedliche Verlauf der geschilderten Ereignisse steht zweifellos in Zusammenhang mit der differierenden politischen Verortung der Besuchenden. Während die einquartierten Soldaten zwar fremd sind, aber als Angehörige der Genfer Bündnispartner nicht als politische Feinde gelten können, handelt es sich bei den protestantischen Predigern sowie den Bürgermeistern um religiöse Kontrahenten und zukünftige politische Feinde.32 Die Episode der bekehrten Soldaten kann als ein Beispiel für erfolgreiches Handeln als Konvent gelesen werden, dass es für die Konventsmemoria festzuhalten galt.33 Der Anblick der tränenüberströmt 34 um Hilfe bittenden Non32 | Zwar fiel die Entscheidung des Rats für die Einführung der Reformation erst im August 1535, doch konnte spätestens mit dem Ergebnis der Disputation im Mai 1535 von einer solchen Entscheidung ausgegangen werden (vgl. dazu auch Rudolf Pfister: Kirchengeschichte der Schweiz. Bd. 2: Von der Reformation bis zum zweiten Villmerger Krieg. Zürich 1974, S. 156f.). 33 | Zur historiografischen Funktion von Klosterchroniken vgl. Charlotte Woodford: Nuns as Historians in Early Modern Germany. Oxford u.a. 2002, S. 31-77. 34 | Für einen Überblick zur Semantik von Tränen in christlicher frühneuzeitlicher Kultur- und Wissensproduktion vgl. zuletzt Claudia Ulbrich: Tränenspektakel. Die Lebensgeschichte der Luise Charlotte von Schwerin (1731) zwischen Frömmigkeitspraxis und Selbstinszenierung. In: L’Homme, 23, 1, 2012, S. 27-42, hier S. 27f.
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nen am Sprechgitter bewegt die Soldaten zum Mitleiden und sie agieren darauf hin als Beschützende. Hingegen scheitern die Klausurpraktiken gegenüber den Predigern und Bürgermeistern und markieren damit die Unmöglichkeit, als Konvent in einem solchermaßen gewandelten Umfeld fortzubestehen. Das Sprechgitter als der angemessene Ort des Kontaktes zur Außenwelt wird auch aus pragmatischen Gründen bevorzugt, da er einen weiteren Handlungsspielraum für den Konvent eröffnet: Das Gitter kann nämlich in problematischen Situationen vor den Gästen verschlossen werden. Dies erwähnt Jeanne de Jussie zweimal, jeweils während der Besuche Hemme Faulsons, der leiblichen Schwester der austretenden Nonne Blaisine. Diese nutzt jeden ihrer Besuche, um dem Konvent ihre kontroversen Ansichten in Glaubensfragen mitzuteilen, und wird in der Chronik stets als aggressiv und feindselig beschrieben. Die Vikarin des Konvents »verschloß ihr die Tür, indem sie sagte, daß ihr Oberer ihnen verboten habe, diese Irrtümer anzuhören. Und sie blieb noch eine ganze Zeitlang da, in der sie aber immer gegen Holz sprach.« (Fol 122r-v) Bei ihrem nächsten Besuch im darauffolgenden Jahr handelt die Vikarin ähnlich: »Und dann machte sie ohne weiteren Abschied die Tür zu und zeigte ihnen | ein Gesicht, unbewegt wie aus Holz geschnitzt.« (Fol 193rv) Wir erfahren hier nicht nur die korrekte Ausstattung des Gitters mit einer hölzernen, fest verschließbaren Tür,35 sondern auch die mögliche Verwendung seitens der Nonnen, die Klausur von sich aus verschließen zu können. Die Kontakte zum Beichtvater werden ebenfalls in Verbindung mit dem Gitter geschildert. Gehört diese Kommunikation zwar regulär zum Klosteralltag der Nonnen, ist es der Chronistin wichtig, diese stets räumlich zu verorten. Angesichts zunehmender Bedrohung für altgläubige Geistliche, vor allem jene des Ordensklerus, beschloss Jean Gacy, Beichtvater der Klarissen,36 im Mai 1535 seinen Abschied von den Schwestern zu 35 | Die Klara-Regel V, 11 schreibt (neben einem Vorhang auf der Innenseite, Abs. 10) eine hölzerne Tür am Gitter vor, die mit zwei verschiedenen Schlössern versehen sein musste. Darüber sollte das Gitter hauptsächlich nachts, im Grunde aber auch zu jedem anderen möglichen Zeitpunkt verschlossen werden. 36 | Feld: Einleitung, S. XLVIII-L. Jeanne de Jussie erwähnt singulär ›den‹ Beichtvater und seine Gefährten, zwei ebenfalls observante Franziskanermönche. Alle drei Priester leben im Kloster am Bourg-de-Four in eigens für sie hergerichteten Räumen.
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nehmen und Genf zu verlassen: »Nach dem Essen stieg ihr Beichtvater an das Sprechgitter hinauf, um von allen Abschied zu nehmen […]. Da gab er ihnen seinen Segen und die Lossprechung. […] So stieg er sehr verstört hinunter, und wie er so allein durch das Kirchenschiff ging […].« (Fol 176r-177v) Diese Episode gibt eine detaillierte Beschreibung der Verbindung von Klausur- und (öffentlich zugänglichem) Kirchenraum wieder. Der Beichtvater wird im weiteren Handlungsverlauf von zufällig in der Kirche anwesenden Bauern davon überzeugt, die Schwestern wegen der drohenden Gefahr nicht zu verlassen (vgl. fol 178r). Der sich im Abschiedsschmerz der (schließlich zu diesem Zeitpunkt doch noch nicht vollzogenen) Lossprechung befindliche Priester schreitet vom Gitter aus den Kirchenraum ab. In seiner Funktion als Repräsentant der Heiligkeit, die er den Nonnen vermittels der Sakramente an das Gitter bringt,37 erzeugt er aus der Perspektive der Schwestern eine Erweiterung des Klausurraums durch das Gitter hindurch. Die Klausurausdehnung in den Kirchenraum hinein wird an den Punkten in der Chronik ersichtlich, an denen Kommunikationssituationen beschrieben werden, die zu den liturgischen und alltagsreligiösen Praktiken der Nonnen gezählt werden können. Der Konvent nimmt im Chorraum am Gottesdienst teil und sieht und hört durch das Sprechgitter hindurch. Infolge des Besuchs der Bürgermeister im Mai 1535, die die Schwestern zur Teilnahme am Glaubensgespräch verpflichten wollen, berichtet Jeanne: Als sie weg waren, stiegen die Hochwürdige | Mutter Äbtissin, die Vikarin und die Pförtnerinnen zusammen mit den anderen hinauf in die Kirche. Dann zogen sie den Vorhang des Gitters hoch, um das heilige Sakrament anzubeten, das auf dem Altar ruhte, wie es guter Brauch ist. (Fol 174r-v)
37 | Das Sakrament der Beichte war durch den Beichtvater am Sprechgitter zu vollziehen, vgl. Klara-Regel V, 14. Die siebenmal jährlich erhaltene Kommunion durfte jedoch innerhalb der Klausurräume erfolgen. Dies findet in der Klarissenchronik keine Erwähnung. Zur Hierarchisierung von Sakralität im Kirchenraum und der Person des Priesters vgl. Renate Dürr: Politische Kultur in der Frühen Neuzeit. Kirchenräume in Hildesheimer Stadt- und Landgemeinden, 1550-1750. Gütersloh 2006, S. 91-99.
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Das Gitter im Chorraum war demnach so platziert, dass den Nonnen eine ausreichende Sicht auf den Altar möglich ist.38 Dies macht zugleich auch die tatsächliche Größe des Gitters vorstellbar, es musste immerhin vierundzwanzig Schwestern vom Chorgestühl aus die Sicht auf den Altarraum freigeben.39 Alle in der Petite Chronique geschilderten, auf das Sprechgitter als Klausurkontaktpunkt bezogenen Praktiken finden im Rahmen von Kommunikationssituationen statt. Die performativen Akte sowohl der Nonnen als auch der mit ihnen in Kontakt tretenden Personen sind zugleich architektonisch gerahmt40 und spannen den Raum der Klausur auf. Die Chronik zeigt zugleich normative Vorstellungen und die sich daraus ergebenden Handlungsspielräume: Die Klausur funktioniert als Raum und der Konvent als Gemeinschaft, indem die Vorschrift eingehalten wird, die Nonnen am Sprechgitter zu kontaktieren. Die Nonnen ihrerseits erreichen eine Erweiterung ihres Klausurraums über die Grenze des Sprechgitters hinweg in den Kirchenraum hinein. Die Abgeschlossenheit der Klausur kann durch das Verschließen der Holztür am Sprechgitter ausgedrückt werden. Der Konvent agiert in den jeweiligen Situationen stets als Gruppe, die gemeinschaftlich spricht, handelt und anzureden ist. Die oft erwähnte Wortführung der Vikarin oder der Äbtissin beziehungsweise der Pförtnerin zeigt eine funktional hierarchisierte Konventsstruktur nach dem Vorbild der Klara-Regel. Danach schulden die Schwestern der Äbtissin absoluten Gehorsam und die 38 | Der Befund für spätmittelalterliche italienische Klarissenkonvente, deren Chorräume, mit Ausnahme desjenigen von Santa Chiara in Neapel, keinen direkten Blick auf den Altar ermöglichten, kann laut Chronik für Sainte-Claire nicht bestätigt werden: Caroline A. Bruzelius: Hearing Is Believing: Clarissan Architecture, ca. 1213-1340. In: Gesta, 31, 2, 1992, S. 83-91. 39 | Es kann sich daher schwerlich um ein Sprechgitter in der Größe des für den Klarissenkonvent Pfullingen archäologisch geborgenen handeln (vgl. Rahel Bacher: Klarissenkonvent Pfullingen. Fromme Frauen zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ostfildern 2009, S. 70f., und Jäggi: Frauenklöster, S. 188). 40 | Trotz der architektonischen Manifestierung der Ordensregel im Klausurraum zeigt die Untersuchung für den Genfer Konvent, dass es sich bei Orten nicht um festgeschriebene physikalische Plätze handelt, sondern auch die places innerhalb von space durch die Handlungen der sich dort befindenden Personen konstituiert werden (vgl. dazu Smith: Clausura Districta, S. 16, und Cassidy-Welch: Space, S. 2).
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Aufgabe des eigenen Willens, die Äbtissin wiederum versteht sich als die Dienerin aller Schwestern.41 Diese normativ festgeschriebene Ungleichheit bei gleichzeitigem Streben nach dem Ideal der vita apostolica, der Gleichheit aller vor Gott,42 wird auf der Chronikebene als Ideal von Gemeinschaft wiederholt performativ vollzogen. Raumnutzung und -konstituierung der Klausur sind grundlegend für die Gemeinschaftserzeugung.
Die Pforte Welche Rolle spielt die Pforte als zweiter Kontaktort innerhalb des Klausurraums von Sainte-Claire? Zunächst ist die Pforte die Möglichkeit für die Schwestern, ihrerseits Kontakt zu den im Klostergebäude lebenden Priestern und Laienbrüdern aufzunehmen, die sie über die Ereignisse außerhalb des Klosters unterrichten. Diese Kontaktaufnahme ist mit Handlungen, wie Hinuntersteigen und Läuten verbunden. Nach der oben geschilderten Aufforderung der Bürgermeister zur Teilnahme an der Disputation im Mai 1535 berichtet die Schreiberin: Dann stiegen die Mutter Äbtissin, | Mutter Vikarin und die Pförtnerinnen wieder hinab zum Drehschalter, um den guten Rat und die Ansicht ihres Beichtvaters und einiger angesehener katholischer Bürger zu erbitten. Alle waren sie sehr betrübt, aber sie konnten ihnen keinerlei menschliche Unterstützung geben betreffs dieser Zitation, denn sie waren ja alle selbst dahin zitiert worden. Und es gab keinen anderen Rat als zurückzukehren und sich Gott zu empfehlen. (Fol 174v-175r)
Hier zeigt sich nicht nur, dass die Pforte durchaus ein Ort für Gespräche mit anderen sein kann, sondern es wird auch die Möglichkeit benannt, dort mit Personen zu sprechen, die weder zum Kloster gehören noch zur Gruppe der als Gäste in der Klausur erlaubten Kleriker. Neben dieser als legitim verstandenen Kontaktform an der Pforte werden nun zahlreiche Begegnungen geschildert, die eindeutig nicht zu den erlaubten und er41 | Vgl. Klara-Regel X 2 und 3. Vgl. auch zu Klaras Selbstverständnis als liebende Mutter und Dienerin ihrer Schwestern Lezlie S. Knox: Creating Clare of Assisi. Female Franciscan Identities in Later Medieval Italy. Leiden 2008, S. 141. 42 | Christina Lutter: Zwischen Hof und Kloster. Kulturelle Gemeinschaften im mittelalterlichen Österreich. Wien, Köln, Weimar 2010, S. 22f.
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wünschten Kontakten zählen. Zunehmend werden die Nonnen von Bürger_innen, Bürgermeistern, Predigern und Militärangehörigen an der Pforte aufgesucht, die sie dort entweder belästigen (vgl. fol 184v, fol 194r) oder sich unter Drohungen Einlass in die Klausur erzwingen wollen (vgl. fol 143r, 167v-168r, 182v-183r). Aus Angst vor schlimmeren Folgen werden, so beschreibt es Jeanne, in zwei Fällen Gäste durch die Pforte in die Klausur gelassen. So wird im Juli 1535 der fünfzehn Personen umfassenden Gruppe um Guillaume Farel Eintritt gewährt: »Und um ihrer Wut zu entgehen, wurden die Pforten geöffnet.«43 Der in der Chronik als Prozess geschilderte Verlauf des wiederholten Angerufenwerdens an der Pforte kulminiert in der Erzählung eines gewaltsamen Aufbruchs der Klausur durch mehrere bewaffnete Personen der Stadt Genf im August 1535, sechs Tage bevor die Nonnen ihr Kloster schließlich verlassen werden. Nachdem sie von einem der Laienbrüder eingelassen werden, zerstören die Genfer zunächst die Räume der Brüder und begeben sich daraufhin zur Pforte der Schwestern: Und nachdem diese satanischen Bösewichter ihrem Ärger Ausdruck gegeben hatten, begaben sie sich schnurstracks zum Drehschalter der Schwestern, und Pierre Vandelly und Baudichon, die Hauptleute dieser pestbringenden Gesellschaft, begannen mit einer großen eisernen Brechstange, die sie mit sich führten, um alle Schlösser aufzubrechen, und einer großen Axt, mit der sie die Türen einschlugen, den Drehschalter zu demolieren, der schön und fest aus gutem Nußbaumholz gefertigt war. Als die Pförtnerin den Drehschalter in Stücken zu Boden fallen sah, verrammelte sie die Tür und stemmte sich mit ihrem Rücken dagegen, um das Öffnen zu verhindern. | Aber einer von ihnen schlug mit seiner Axt so fest hinein, daß er weit damit vordrang, und es fehlte nur wenig, daß er sie der Pförtnerin in den Rücken geschlagen hätte. Aber Gott der Schöpfer hielt sie auf wundersame Weise zurück, und die Schwestern verließen das Zimmer des Drehschalters und verschlossen dessen Tür, die doppelt und stark war, und noch eine weitere Tür, die sich hinter der ersten Tür befand, und alle waren fest und gut gearbeitet. Dann liefen sie in die Kirche […]. (Fol 203v-204r)
43 | Fol 184v. Hier funktioniert der Verweis an das Sprechgitter nicht mehr. Für das Jahr 1534 vgl. fol 143r.
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Jeanne beschreibt, wie die Einbrecher auch die beiden Türen hinter der Pforte zerschlagen und sich über den ganzen Konvent verteilen, Mobiliar, Bilder und Andachtsgegenstände zerstören und die Schwestern angreifen. Die Pförtnerin verteidigt die Tür und damit die Klausur mit ihrem Körper. In der Folge dieses Einbruchs verbleiben die Klarissen vereinzelt zurück. Von diesem Zeitpunkt an lebt der Konvent in seiner verbleibenden Zeit in Genf mit zerstörter Pforte und ohne Klausur weiter. Alle Gäste, die in diesem Zeitraum den Konvent aufsuchen, treten durch die Tür an der Pforte ein. Dennoch berichtet die Schreiberin von einem Minimum an ›Klausurverhalten‹, das weiterhin aufrechterhalten wird, indem die Besuchenden zwar ›hineingingen‹, vorher jedoch noch zum Sprechgitter kommen und damit zumindest teilweise die Klausur der Schwestern performativ anerkennen (fol 229). Während das Gitter am Nonnenchor der Ort des Sprechens für alle Schwestern ist, fungiert die Pforte als der Teil der Klausur, von dem aus die Gemeinschaft der Nonnen von dafür beauftragten Schwestern geschützt und organisiert wird. Während die Nonnen Ende August 1535 über mehrere Tage nach Annecy reisen, um sich im Exilkloster SaintCroix niederzulassen, erhalten sie Unterkunft im Schloss der Herkunftsfamilie der Vikarin, La Perrière bei Viry. Dort, so vermerkt es Jeanne de Jussie, beschließen sie, das Ordensleben wieder aufzunehmen. Die dafür benötigte prioritäre Handlung ist die Abordnung der Pförtnerin durch die Vikarin an das Tor, »um Almosen in Empfang zu nehmen und die Leute zufriedenzustellen« (fol 264r). Auch die Pforte erscheint als ein Ort, der Handlungsspielräume ermöglicht, gleichzeitig jedoch Gefahr bedeuten kann, ist die Tür am Drehschalter doch als fragilerer und durchlässigerer Ort dargestellt als der Platz am Sprechgitter. Die Klostergemeinschaft wird von der Pforte aus mit materiellen Gütern und Informationen versorgt, geschützt und ihre Abgrenzung überwacht.
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R AUM UND G ESCHLECHT — EIN A USBLICK Vormoderne Klöster faszinieren als Prinzip für die räumliche Organisation von Kollektivität und sind damit Ausgangspunkt zahlreicher theoretischer Zugänge zu Raum als Strukturprinzip von Gesellschaft.44 Michel Foucault begreift in seiner Untersuchung der Strafinstitutionen Architektur als eine »Maschine zur Wissensproduktion«.45 Im Zuge der Etablierung des Regimes der Disziplinierung seit dem 18. Jahrhundert werde zur Selbstbildung und Disziplinierung des Einzelnen die Klausur als Strukturprinzip verwendet. Nach dem Vorbild der Zellen für jeden Mönch des mittelalterlichen Klosters werde durch Parzellierung innerhalb der Klausur die Herstellung der Einsamkeit von Körper und Seele erreicht.46 Lässt sich die Wirkung von Macht in der architektonischen Ordnung für das Genfer Klarissenkloster bestätigen, so trifft das von Foucault formulierte Prinzip der Vereinzelung, wie die Untersuchung zeigte, hier nicht zu. Vielmehr tritt an ihre Stelle die Produktivität von Raum im Hinblick auf Gemeinschaftsbildung. Die performative Wiederholung der Praktiken der Raumkonstitution, wie sie in der Petite Chronique sichtbar sind, bezieht sich auf Personen, die als unabtrennbarer Teil einer Gruppe, der Konventsgemeinschaft, aufgerufen werden. Auf der Textebene der Quelle werden die Handlungen der Nonnen als Aktionen und Reaktionen auf ein Außen beschrieben. Mit dem Aufrufen dieser Begebenheiten gelingt es, als Konvent eigene Positionen zu formulieren. Die im Text aufgeführten Bewegungen entlang der Klausurkontaktpunkte und die Zuweisungen von hier nach dort erzeugen den Raum der Klausur und zugleich die Gemeinschaft des Konvents. Räumliche Ordnung und Konstitution von Gemeinschaft sind verflochten und bedingen einander. Der Gemeinschaft kann daher auch nur in der bestehenden räumlichen Ordnung be-
44 | Neben den als Klassiker geltenden Arbeiten von Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1977, und Lefebvre: Production, sind hier die jüngeren Studien von Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Frankfurt a.M. 2012, und Beatriz Preciado: Pornotopia. Architektur, Sexualität und Multimedia im »Playboy«. Berlin 2012, zu nennen. 45 | Preciado: Pornotopia, S. 96. 46 | Foucault: Überwachen und Strafen, S. 181-183.
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gegnet werden; wird diese nicht anerkannt, findet eine Störung oder gar Verletzung der Gemeinschaft statt. Zugleich sind diese raumbezogenen performativen Akte im Hinblick auf die Etablierung einer Geschlechterordnung wirksam. Der Klausurraum ist durch seine normativen Vorgaben geschlechtlich markiert: Die Konzeption von Nonnen, hier genauer von Klarissen der Observanz, unterscheidet sich von der anderer ›Religioser‹ und schlägt sich in der Ordensregel und in den aus ihr hervorgehenden Bestimmungen für die Klosterarchitektur und die auf sie bezogenen Praktiken nieder.47 Begreift man Geschlecht als einen Modus, der Machtbeziehungen strukturiert,48 wird deutlich, dass die geschlechtlichen Markierungen des Konvents zugleich Identität und hierarchische Differenz innerhalb der Gruppe produzieren. Die raumbezogenen und raumerzeugenden Praktiken verstehen sich darüber hinaus auch als Auseinandersetzung mit vergeschlechtlichten Zugriffen der Besuchenden des Konvents, die die Nonnen mit einer neuen, geschlechtlich überdeterminierten Wissensordnung konfrontieren. Geschlecht ist eine Kategorie, die durch Performativität, Begehren und Anerkennung anderer49 produziert wird. In diesem Sinn sind Klausurpraktiken und ihre raumerzeugenden Effekte für die Bewohnerinnen des Genfer Klarissen-Konvents Saint-Claire geschlechtskonstituierend.
47 | Erwähnt werden müssen hier die Vorschriften hinsichtlich angemessener Kleidung, Gesten und Blicke für Nonnen, die die Klausur als bezogen auf den Körper von Nonnen aus einer anderen Perspektive in den Blick nehmen (vgl. dazu Heike Uffmann: Körper und Klosterreform. Leiblichkeit und Geschlecht in spätmittelalterlichen Frauenkonventen. In: Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte [Hg.]: Körper Macht Geschichte – Geschichte Macht Körper. Körpergeschiche als Sozialgeschichte. Bielefeld 1999, S. 191-221, und Smith: Clausura Districta). 48 | Joan W. Scott: Gender: A Useful Category of Historical Analysis. In: The American Historical Review, 91, 5, 1986, S. 1053-1075, hier S. 1067. 49 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991.
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A recurring image in British poet Moniza Alvi’s writing is the boundary. Together with her frequent emphasis on gender issues, this makes her an interesting poet when it comes to the relationship of space and gender, since boundaries are also central to the study of these topics. For example, the boundary between private and public, personal and political, or the body and its surroundings are important issues in gender studies. Similarly, research on space is often concerned with the way spaces are constructed and with the borders that demarcate them, especially divisions of inside and outside. Alvi’s poetry with its concern with borders and their transgression, shifting boundaries and the taking up of unusual perspectives therefore promises new literary perspectives on the dynamics of space and gender. The daughter of an English mother and Pakistani father, Alvi grew up in England. Much of her early writing has been influenced by her desire to recapture her South Asian background, attempting to make sense of her dual cultural heritage. Especially in her first two collections, The Country at My Shoulder and A Bowl of Warm Air1, many poems feature speakers who negotiate their own position in a cross-cultural background. The poet even stated, »›Many poems do contain the idea of some kind of split, or division, and maybe I write partly to heal this in some way.‹«2 It is for 1 | Both in Moniza Alvi: Split World. Poems 1990-2005. Tarset 2008. 2 | Rehana Ahmad: Moniza Alvi. In: Victoria R. Arana (ed.): Twenty-First Century ›Black‹ British Writers. Detroit 2009, p. 41. See also Muneeza Shamsie: Exploring Dualities. An Interview with Moniza Alvi. In: Journal of Postcolonial Writing, 47, 2, 2001, p. 195.
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this reason that she has often been called a »diasporic«3 or »postcolonial«4 writer, even though Alvi personally refers to herself as a British poet 5 and her work covers such a heterogeneous range of topics that it is hard to sum it up under one label.6 However, in the large part of her work that does not address issues of migration or multicultural belonging, boundaries play an equally crucial role. As Rehana Ahmad observes: Much of Alvi’s work, its overt subject matter notwithstanding, seems concerned with displacing, disturbing, or inverting conventional images, ideas, or perspectives. A refractive lens is applied to monolithic understandings of culture and nation – such as a taken-for-granted, static conception of Englishness. […] Singular categories of identity are undermined, and peripheral perspectives capture the elusive and paradoxical in a variety of contexts. These transformative gestures bind Alvi’s poetry.7
What Ahmad describes can in more abstract terms be called a concern with the construction of various spaces that can be found in Alvi’s poetry. The poet’s concern with boundaries and their transgression naturally calls into question the spaces they supposedly demarcate. Emphasizing the artificial and arbitrary nature of borders, she focuses on space as a fluid, relational category. Her understanding of ›space‹ seems similar to the way ›space‹ is theorized in the new geographies and related disciplines that lead to the spatial turn in literary and cultural studies.8 From this perspective, ›space‹ is understood as socially constructed as opposed to an entity that existed prior to social interactions. For, as the French philosopher Henri Lefebvre poignantly sums it up, »(Social) space is a (social) prod-
3 | Peter Childs: The Twentieth Century in Poetry. A Critical Survey. London 1999, p. 204. 4 | Stan Smith: Poetry and Displacement. Liverpool 2007, p. 149. 5 | Lorna Sage: The Cambridge Guide to Women’s Writing in English. Cambridge 1999, p. 15. 6 | See also Ahmad: Moniza Alvi, p. 40. 7 | Ibid., p. 37. 8 | Cf. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg 2006, p. 284ff.
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uct.«9 Many postcolonial critics have based their theories on a spatialized approach and have shown that this social product is not a neutral category but influenced by power dynamics.10 These operate in an intersectional framework in which categories of difference, such as race, ethnicity, class and gender are of central importance, as has been especially emphasized by feminist postcolonial studies11 and feminist geography.12 A focus on space is not unusual to the genre of poetry and in many ways it appears to be an ideal medium to address topics preoccupied with it. Poetic techniques such as the use of imagery, metaphor and metonymy relate the genre to the visual arts and accordingly, there have been many considerations regarding the relationship between poetry and painting,13 the effects created by »composite art, a fusion of writing and visual images from the hand of the same artist«,14 poems that have paintings as a subject matter, and ekphrastic poems as a sub-form of the latter.15 The study of visual poetry, »poetry composed for the eye as well as or more than, the ear«, similarly addresses questions of space by paying attention to the layout of the poetic text on the page and the spaces left between words and lines.16 Especially common in free verse, it is argued that in this verse form
9 | Henri Lefebvre: The Production of Space. Trans. by Donald Nicholson-Smith. Malden 2008, p. 26. 10 | Cf. Edward W. Said: Orientalism. New York 1979; Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London, 2004; Stuart Hall: Cultural Identity and Diaspora. In: Jonathan Rutherford (ed.): Identity. Community, Culture, Difference. London 1990, p. 222-237. 11 | Cf. Reina Lewis (ed.): Feminist Postcolonial Theory. A Reader. Edinburgh 2003; Avtar Brah: Cartographies of Diaspora: Contesting Identities. London 1997. 12 | Cf. Doreen Massey: Space, Place and Gender. Cambridge, UK 2007; Doris Wastl-Walter: Gender Geographien: Geschlecht und Raum als soziale Konstruktion. Stuttgart 2010. 13 | Richard Wendorf: Visual Arts and Poetry. In: Alex Preminger/T.V.F. Brogan. (eds.): The New Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. Princeton 1993, p. 1361, 1363. 14 | Wendorf: Visual Arts and Poetry, p. 1361. 15 | Ibid., p. 1361f. 16 | Eleanor Berry: Visual Poetry. In: Alex Preminger/T.V.F. Brogan (eds.):. The New Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. Princeton 1993, p. 1364.
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[…] intra- or interlinear white space can fulfill such mimetic, expressive, and rhetorical functions as (1) iconically rendering space, distance, length of time, void, silence, or whiteness; (2) signaling emotion too great for words; and (3) inviting the reader to take time for contemplation of the preceding text, signaling closure.17
These considerations on the function of visual poetry are of particular interest to a study of Alvi’s poetry as she frequently makes use of them. However, to only pay attention to her use of space in formal elements would not do her poetry justice as its concern with social and political issues naturally touches upon the constructed nature of social spaces as well. In this respect, her work is similar to that of other contemporary poets whose writing »does not give you easy answers or solutions, but specifically and implicitly through form and content critiques a culture or cultural products that present themselves as finished« as Ian Davidson puts it.18 He argues that such a spatial approach is characteristic of »socially concerned poets trying to deal with the complexities of a post-modern world, unwilling to reduce experience to the neatly turned lyric«.19 While this is certainly also true for Alvi’s poetry, hers is a specific approach as she is not only keenly aware of post-modernity but, even more than that, of questions of gender as well as a postcolonial perspective. One collection in which this is particularly visible is Europa.20 In general, the collection is concerned with various kinds of trauma but, as the title suggests, at the heart of the collection lies a retelling of the ancient myth of the rape of the Phoenician princess Europa by the god Jupiter. Alvi bases her retelling of the myth on the Roman poet Ovid’s version of the story in which Jupiter falls in love with Europa, king Agenor’s daughter, and transforms himself into a white bull to seduce her.21 They meet at the coast of the Phoenician town Tyre, located in modern day Lebanon, where Europa regularly plays with her friends. Europa is somewhat afraid of the tame bull at first but soon begins to touch him, decorates him with flowers 17 | Berry: Visual Poetry, p. 1365. 18 | Ian Davidson: Ideas of Space in Contemporary Poetry. Basingstoke 2007, p. 1. 19 | Davidson: Ideas of Space, p. 1. 20 | Moniza Alvi: Europa. Tarset 2008. 21 | Moniza Alvi: Foreword. In: Sorcha Gunne/Zoë Brigley Thompson (eds.): Feminism, Literature and Rape Narratives. Violence and Violation. New York 2010, p. xii.
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and finally even dares to climb onto his back as she does not recognize the god’s disguise. Ovid’s account ends with the bull walking into the sea and swimming off with Europa who, holding tight to the bull, fearfully looks back towards the coast.22 The traumatic events of the abduction and rape are entirely left out. In fact, the next time Europa is mentioned in Ovid’s Metamorphoses she is matter-of-factly described as the wife of Jupiter but how she came to be married to him is not addressed at all.23 It is this silence that Alvi focuses on in her version of the story. Drawn to the myth because of an »urge to explore rape and the extreme of post-traumatic stress disorder with its shattering array of symptoms«,24 Alvi says that she felt the psychological trauma of the myth was not adequately addressed in the original: Ovid’s myth of Europa was a gift for various reasons. The original narrative is comparatively short, fizzling out unresolved for Europa. I wanted to know what happened to her after the rape. A whole psychological aspect was missing, her human suffering, along with the ›end‹ of the story. The way was clear for a woman’s re-imagining. 25
This places Alvi in close proximity to feminist poets such as Carol Ann Duffy, Margaret Atwood and Louise Glück who all rewrite classic myths from a feminist perspective to give a voice to silenced female perspectives. Alvi’s Europa, unlike Ovid’s, takes centre stage in »Europa and the Bull«, the middle part of the collection, which comes in the form of a narrative poem in twenty-five sections. It is told from Europa’s perspective and focuses on her emotional response to the events. However, Alvi’s retelling of the myth is not only a feminist rewriting but soon moves off to address additional issues by transforming the girl Europa into the continent Europe in the second half of »Europa and the Bull«. She comments: Eventually it struck me that as Europa was an embryonic continent, as well as a girl, ultimately she could contain all things, tragic and otherwise, and with her me22 | Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Epos in 15 Büchern. Zürich 1958, p. 147-149. 23 | Ovid: Metamorphosen, p. 172f. 24 | Moniza Alvi: Foreword, p. xi. 25 | Ibid., p. xii.
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tamorphosis into an area of land my fable could have an optimistic ending in one sense. This ending also has resonances of the creation of the continent, Europe by trauma, and by implication the subjugation involved in colonial rule, the legacy of which is apparent in my writing on contemporary Britain and Pakistan, and the intertwining of East and West. 26
In other words, Alvi does not only give Europa a voice but also turns her story into a postcolonial allegory, which comments on colonialism in general and contemporary Europe in particular. The political and personal level are hardly separable in Alvi’s tale. On the contrary, they are presented as mutually influencing and intersecting with one another, which adds an additional perspective to both myth and political background. This becomes especially visible if one looks at the text from a spatial perspective. I will, therefore, show in the following how the two levels of »Europa and the Bull« mutually influence one another through form and content to show how Alvi’s poetic rewriting adds a new perspective on the gendered dynamics of cross-cultural contact she addresses in the collection. In terms of content, Alvi’s retelling begins similar to Ovid’s account of the myth. A herd of cattle, including the transformed Jupiter, approach the beach of Tyre, where Europa and her companions are at play: I The herd was slipping down the green glass hill Twenty heifers and a bull. A force in the sky switched the lights off and on to the accompaniment of a new kind of weather, not snow, not sleet, but the cold slanted down. Although it was Spring it was treacherous for the heifers and the bull – they were glad when the sky was swept clear. 27 26 | Ibid., p. xiii. 27 | Alvi: Europa, I.
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The concern with spaces and their boundaries is visible right from the start of the section and the poem’s apparent simplicity is deceptive. It is almost suspicious in the light of Alvi’s statement that she intended to make up her retelling out of »a series of short sections, each presenting a bright image, each one hitting home«.28 Far from an innocent description of what Europa sees in beautiful poetic imagery, the stanza is as treacherous as the season described. From the first lines, the poem introduces an element of instability and uncertainty to the myth. The cows move on slippery ground, skidding in uncontrolled motion because of the bad weather. In addition, subtle poetic means suggest that the bull is not what he seems to be. Linked by assonance to the »slipping« motion and the »glass hill«, the bull himself appears to be in movement or in a process of transformation and just as the »glass hill« is not a hill of glass despite its appearance, the bull is not a bull even though he pretends to fit in with the rest of the herd. Things are not as they seem in this poem, which is further emphasized by the next lines. Everything else is also in a process of change: the elements are pelting down on the scene in an indescribable state, not quite snow, not quite sleet but a surreal materialized cold. This weather is still »new«, for example spring has not fully arrived even though winter is not completely gone either. It is a »treacherous« time in which one season blurs into another so that one does not know what climate to expect. Everything is uncertain, everything is moving and changing and there are no clear-cut boundaries. Similarly, the meeting between Europa and the bull is located in the liminal space of the shoreline in which the boundary between land and sea is constantly shifting: […] The sand stretched out like the floor of the world – and the sea rushed up to it, telling a bit of its story and snatching it back. […] 29 28 | Alvi: Foreword, p. xii. 29 | Alvi: Europa, II, 3-8.
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There is no distinct dividing line between land and sea. Instead, the boundary is presented as a matter of negotiation that is constantly being transformed in a dynamic process, visually portrayed in the shape of the poem that mirrors the back-and-forth motion of the waves on the beach. The uneven length of individual and groups of lines further emphasizes the visualization, creating the impression of a negotiation between sea and land, both giving and taking sometimes more and sometimes less of themselves and the other so that the dividing line between them shifts and meanders along. Like the atmosphere introduced in the first poem, the location described in the second one characterizes the eventual meeting between Europa and the bull as an encounter that will be marked by a gradual process of transformation. Accordingly, the themes from the second poem are taken up again, reinforced and transformed in the poem that depicts the protagonists’ first meeting. The changes to Europa are immediately visible: V She was softening, melting, collapsing onto the sand. And a beast was stepping towards her dragging the sea behind him – light in step as a dancer, […] 30
In its use of imagery, the meeting reflects the liminality of the location that had previously been introduced in the second poem. Yet, it transfers the state of being in flux and the negotiation of boundaries to the actors involved in the scene. However, it is not only Jupiter and Europa as individual characters who meet in this scene: it also constitutes the beginning of a cross-cultural exchange. Europa, who had previously been described as »very much the king’s daughter« who »sometimes […] felt she wore / his heavy gold crown, that his, / kingdom trailed behind her like a dress«31 is now not only metonymically linked to her kingdom and country in Asia through the imaginary dress, but begins to turn into a metaphor for it: by 30 | Ibid., V, 1-5. 31 | Ibid., III, 3-5.
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»melting« into the »sand« she is becoming part of the very ground itself. A similar process is occurring for the bull, who is now »dragging the sea behind him«, much like Europa was connected to her father’s kingdom. He, too, becomes a symbol of something more than only himself and is not only connected to the sea but also the country that is separated from Phoenicia by this sea, namely Greece. The meeting of Europa and Jupiter thus becomes a symbol for a cultural exchange between an Eastern and a Western civilization which, at first glance, seems innocent and playful: the bull moves like a dancer, the imagery of the poem relates this poem to the second one of the collection and suggests a process of liminality and the negotiation of a third space which in postcolonial theory is often characterized as a space of possibilities and new perspectives.32 However, the dash at the end of line four masks an uncomfortable silence that could easily be overlooked if the following stanza did not hint at a different outcome in its additional description of the bull. He is portrayed as: white as a boulder, a snowy mountain, a ship’s sail, a lie. Orchid-white, violet-white, rose-white, not white at all. 33
As in the first poem, Jupiter’s deception is alluded to through the imagery. The bull is not only compared to different shades of white but also to a white lie, which upon closer inspection is not a ›white‹ lie at all, just as the bull no longer appears to be purely white. The poem indicates that the bull has a secret and ulterior motives. This is further emphasized in the following poem in which the way he looks at Europa is described as »flitt[ing] on and off / like a cabbage white«.34 In the course of a few lines, the majestic dancer-like animal has been transformed into a crop-damaging pest so that his harmful nature becomes ever clearer. 32 | Bhabha: Location of Culture. 33 | Alvi: Europa, V, 6-13. 34 | Ibid., VI, 3-4.
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This is most obvious when the narrative turns to the rape of Europa, which is not glossed over as in Ovid’s version. On the contrary, it is strategically placed exactly in the centre of »Europa and the Bull« to mark the gravity of the event, and shows that everything else revolves around it. In addition, the structuring of the rape scene suggests that this occurrence has an influence on everything that happens afterwards which can once again be seen in the use of spatialization in the poetic form. The preceding section ends with the bull »teasingly / stepping into the waves« at which point the classical narrative fades out.35 Strikingly, Alvi emphasizes this unresolved ending in the grammatical structure. While, as previously mentioned, usually each section of Europa deliberately contains one poem that is supposed to convey one image »hitting home«,36 this image hits home precisely because it is not contained within just one section. Instead, the boundary is crossed between section twelve and thirteen as the last sentence of the section is not finished but continued in the following one and mirrors how Europa is torn apart by this traumatic event. This is even further emphasized in the way the continuation of the poem is depicted on the page in the following section: XIII and back again. Then forward plunging in and plunging in repeatedly this was no game
35 | Ibid., XII, 6-7. 36 | Alvi: Foreword, p. xii.
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deeper deeper harder without pause harderharder until there was no return. 37
The poet comments that she deliberately used the »ambiguous image of the plunging bull in which much could be left to the readers’ imagination« in order not to »sensationalize the tale«.38 Her technique proves to be more effective than spelling out the events in detail: it makes the central poem of the narrative both the most and least visual poem in Europa. Disturbingly, the playful atmosphere of section twelve in which the bull »teasingly« interacted with Europa suddenly changes dramatically as the word ›rape‹ changes its meaning during the course of the poem, which no longer simply relates how Europa is carried away by the bull but gradually turns into a description of sexual violence. This change is marked by a drastically different style compared to the preceding and following poems. Alvi does not rely on elaborate imagery and metaphors to convey her meaning in this instance. Instead, by breaking down the sentence into visual poetry, she literally visualizes the disruptive effect of the violence of the scene. Not only has the poem been torn apart by being spread over two sections, but in section thirteen the sentence is ripped into small pieces that are hardly structured by punctuation marks. Even individual words are broken down into fragments as in »plung- / ing« or, on the contrary, condensed into one as in »harderharder«. The additional spacing between the individual lines highlights these effects even more and creates the disturbing and shocking effect of someone or something being completely torn apart through an act of intimate violation. 37 | Alvi: Europa, XIII. 38 | Alvi: Foreword, p. xii.
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The poem is a turning point in the sequence that changes Europa’s sense of self entirely. Even though she had been changing slowly before, she is now unrecognizable to herself. Consequently, the following poem asks, »Where was she, Agenor’s daughter? / Wrenched from herself, flung across worlds.«39 In the following, Europa is described as traumatized both physically and psychologically. References to bodily damage abound in the following sections and a stark contrast between before and after is evoked: »Her body, that precious thing / she’d tried to look after – / as if it were a kitten / that had grown up with her.«40 What happened to her body appears so awful that it cannot even be described but is signified by a dash that masks her incomprehension at and inability to make sense of what happened to her. She is tortured by nightmarish visions of a self that she no longer recognizes: »Europa haunted by Europa. / Her ravaged twin, / scratched as a pane of glass.«41 Yet, Europa’s process of transformation does not end in this state but continues to shift to a different, more political perspective. In the second half of the narrative, she is not only a girl anymore but completes her transformation into Europe, the continent, as can be seen in the way Jupiter addresses and looks at her after the abduction and rape: XX I am Jupiter, lord of all bulls, King of the gods, and you, Europa, a continent full of undiscovered countries. His eyes roved, wandered her borderless fields, her towns, her woods. […]42
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Alvi: Europa, XIV, 6-9. Ibid., XVII, 4-7. Ibid., XXIII, 25-27. Ibid., XX, 5-7.
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Alvi explains this shift by stating, »[t]his broader political aspect felt like the somewhat safer aspect of the collection in literary terms, a well-trodden, more ›male‹ and less obviously intimate territory«,43 even though she admits that for her »politics and sexual violence, [are], via trauma, inextricably linked«.44 What she alludes to with her reference to literary tradition is, of course, the motif that portrays colonized land in the form of a woman, which the male colonizers can take and use as they wish. This has been a recurring motif »from the beginning of the colonial period till its end (and beyond)«.45 As Ania Loomba explains, this use of imagery not only occurred in literary texts: »If we go back to a period when European colonial discourse was in its formative stages, we can chart the fairly dramatic overlaps between literary texts, visual representations and other writings.«46 Loomba cites the famous sixteenth century picture of »Vespucci discovering America« by Stradanus and Ortelius’ »Theatrum Orbis Terrarum« from 1570 as examples for depictions and descriptions of the recently discovered America in the form of a woman. She eventually concludes, »[d]uring the Renaissance, the new artwork and the new geography together promised the ›new‹ land to European men as if it were a woman; not to mention the women of the new land who were regarded as literally up for grabs«.47 Loomba thus touches upon the fact that the relationship between colonizer and colonized people and country is not only presented in terms of a gender hierarchy, but that this hierarchy is present both in representations of colonialism and in the everyday practices of colonization. In both instances, European men have all the power to do with native women and country as they wish while the women, both real and metaphorical, are silenced in the process. Alvi’s »Europa and the Bull« can be seen as a response to this tradition and this history. Especially in section XX, Jupiter’s perspective is clearly that of a colonizer who takes stock of his new possession, which, from his perspective, is something or someone to be exploited. However, it is important to consider that the poem expresses Jupiter’s view of Europa which stands in stark contrast to the way she sees herself after the traumatic 43 44 45 46 47
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Alvi: Foreword, p. xiii. Ibid., p. xiii. Ania Loomba: Colonialism/Postcolonialism. London 2005, p. 129. Ibid., p. 68. Ibid., p. 69.
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events of her rape/colonization. By means of this juxtaposition of perspectives, Alvi transforms the trope and turns it on its head. Having spent almost the entire narrative retelling the events from Europa’s perspective, she makes the political perspective ›intimate‹ by making it impossible to take up the colonizer’s perspective without considering the colonized’s perspective as well. Personal and political space blend into one another as the body of the girl and the continent become interchangeable. In Alvi’s »Europa and the Bull«, the recipient of the gendered violence of colonialism is a subject with her own story and not a silenced object. The reader is forced to take up her perspective and reflect on both personal and political violence from a very intimate point of view. As a result, the tradition Alvi refers to can no longer be looked at in the same way. For example, canonical texts such as Sir Walter Raleigh’s account on the discovery of Guyana, in which he describes the unexplored land as »a country that hath yet her maidenhead, never sacked, turned, nor wrought, the face of the earth hath not been torn, nor the virtue and salt of the soil spent«48 seems even more disturbing if one imagines Guyana as another Europa. Similarly, John Donne’s elegy »To His Mistress Going to Bed« in which the speaker addresses his mistress in the following way sounds anything but flattering if one listens to it from a colonised point of view: […] O my America, my new-found-land, My kingdom, safeliest when with one man manned, My mine of precious stones, my empery, How blest am I in this discovering thee! To enter in these bonds is to be free; Then where my hand is set, my seal shall be. 49 […]
48 | Sir Walter Raleigh: From the Discovery of the Large, Rich, and Beautiful Empire of Guiana, with a Relation of the Great and Golden City of Manoa (Which the Spaniards Call El Dorado). In: Stephen Greenblatt/M.H. Abrams (eds.): The Norton Anthology of English Literature. Vol. I. New York 2006, p. 925. 49 | John Donne: To His Mistress Going to Bed. In: Selected Poems. London 2006, ll. 27-32.
Moniza Alvi’s Europa: Rewriting Myth from a Feminist Postcolonial Perspective
Alvi writes back to such texts from a postcolonial feminist perspective, subtly changing the focus and centre of (literary) history. The white male European literary tradition is challenged as much by this as the white male European authority on the writing of colonial history, which makes her text a twofold rewriting. However, the European point of view is not only decentred through this but rewritten from its very beginnings. By constructing the story of Europa and the bull, the founding myth of the continent Europe, as a colonial encounter, Alvi deconstructs any idea of a homogeneous West by placing the East as its starting point. Strikingly, Europa’s abduction from the Eastern country Phoenicia to a new continent brings her to a distant place »at the blurred brink of the Earth«.50 This continent which will be named ›Europe‹ as a result of Europa’s abduction thence is portrayed as literally marginalized prior to its contact with Eastern influences through the arrival of the princess. The poem suggests that Europe could not have become what it is, were it not for the cultural interchange with non-European cultures that helped create it. The validity of history thus becomes a matter of perspective as is repeatedly emphasized in the third part of Europa. Not directly connected to »Europa and the Bull«, the poems in this last part of the collection nevertheless continue the themes introduced earlier and reflect on them in a more abstract and general way. I will only focus on two of them here, »Hanging« and »Outsider Art«, as they directly address the issue of writing history and the role of art in it. »Hanging« is a reflection on what is considered ›history‹: Like a raindrop suspended from a twig, or the flower on the brink of saying goodbye to its stalk, history is hanging, along with the tyrant and the woman who murdered her lover. 51
50 | Alvi: Europa, XVI, 7. 51 | Ibid., p. 46, ll. 1-6.
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While the natural imagery of the first lines implies that ›history‹ is something equally natural that just unfolds, the beginning of the poem is immediately subverted by the violence of the following lines. The peaceful image of ›history‹ as a gradual, organic unfolding of events, is killed off brutally. The poem suggests that such an innocent view of history is no longer tenable in our time and that it is violent in itself. Tyrannical and murderous, the pretense of its naturalness is exposed as damaging so that it needs to be abolished once and for all. It is replaced by a notion of ›history‹ that seems far less clear-cut and easy. It is marked by differing and conflicting opinions and the process of reaching a consensus appears far from idyllic but rife with struggles.52 Yet, the poem ends with another peaceful image: As a child, I picked up my pen and marvelled, how the ink clung in the nib, the tiny miracle. 53
Even though the image of the drop of ink clinging to the pen alludes to the raindrop of the first line, the notion of history could hardly be more different. It is no longer something that is naturally produced, but something that is artificially created by the person holding the pen. ›History‹ becomes a matter of perspective and the way it is written depends on one’s point of view. Yet, as mentioned above, agreeing on a version of history is not an easy process. Doubtless, it is no coincidence that of the competing versions of ›history‹ introduced in the preceding lines, one is described as »countries«54 that experience a crisis and another as »bullish«55, echoing the imagery associated with Europa and Jupiter. These connotations remind the reader of the postcolonial topics previously addressed, stressing that the same events can look quite different depending on one’s perspective. Nevertheless, the speaker calls the ink a »tiny miracle« because she knows that only this approach to making history offers even the slightest 52 53 54 55
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Ibid., ll. 7-15. Ibid., ll. 16-19.
Ibid., l. 7. Ibid., l. 11.
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chance to include a marginal position because it is not conceived as prefixed and unchangeable from the start. Accordingly, the writer of history is shown to be in a very powerful position. »Outsider Art« suggests that not only historians can bring about such changes but also artists, who have even greater freedom to include different perspectives. The poem consists of nine very short imagist descriptions of works of art such as »Unpublished books of hair, string leaves, / seasoned and cooked in the oven«56 or »Her face looks one way, her eyes another / Her cheeks rucked like a landscape.«57 All seem strange and unfamiliar. But is this because they are art made by outsiders or because the viewer is an outsider to the artistic traditions? The work of art could be strange because it comes from an unfamiliar culture, but this unfamiliar culture could just as well be an avant-garde or any other non-canonical movement in one’s own culture the viewer is not familiar with. Hence, the poem calls into question essentialist categories of insider and outsider; the boundary between them becomes impossible to locate once the category itself has been deconstructed. Whichever position the artist is in, he or she can take up the powerful role to make the strange familiar or the familiar strange and thereby introduce new perspectives on old as well as new things. It is a telling poem coming from a writer whose bicultural background and wide range of topics complicate attempts to define her as purely an insider or outsider artist. She is hard to label and Ahmad consequently stresses: […] the awkward position a poet such as Alvi occupies in the categories ›black British‹ or even ›Asian British‹ writing – both because of her mixed heritage and because of her breadth of focus. According to Alvi, the diversity of later sources of inspiration – Shapcott, Jacques Prévert, and Eastern European poetry, as well as Mimi Khalvati – is suggestive of the difficulty of placing her work in a category. 58
Is Alvi a postcolonial poet because she addresses postcolonial issues in Europa even though a large part of her work does not? A poem like »Outsider Art« seems to suggest that attempting to put her in a category might not 56 | Alvi: Outsider Art. In: Europa, ll. 5-6. 57 | Ibid., ll. 9-10. 58 | Ahmad: Moniza Alvi, p. 40.
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be the right approach to a poet like her. If one looks at the way she ends her retelling of the myth, the poetry suggests an answer. The last poems of »Europa and the Bull« depict a different image of Europa and end on a positive note: XXIV […] Or her whole body Strained and cracked, and spread. XXV Until – stopping at a gilded mirror she gazed at a continent, a home to countries, ripening fields, orchards, valleys, placid lakes, mountains, plains and seas, saw a girl and a friendly bull playing on a shore, the ocean tumult, the wilderness, a father tearful in his palace. Her lands stirred, her rivers ran on. Can we forgive him? Their song. 59
Once again the boundary between two sections has been crossed, but this time the transgression symbolizes something very different. Europa has healed from her traumatic experience and incorporated her entire history into her body/continent. She has transformed herself and grown so much 59 | Alvi: Europa, XXIV, 14-15; XXV.
Moniza Alvi’s Europa: Rewriting Myth from a Feminist Postcolonial Perspective
that she can no longer fit into just one section, category or box. This does not mean that she does not fit in though; rather, the multitudes of perspectives contained in her peacefully stirring lands and running rivers have outgrown their labels. Europa has changed, which is echoed in her father’s perspective in »King Agenor«, the last poem of Europa: »You are larger than you were, for sure. / I am an old man. / I cannot stand back far enough to see you.«60 King Agenor does not meet the daughter he had known but a new Europa who is both familiar and strange to him as the name ›Europa‹ describes something different now. As in »Outsider Art«, the artist has introduced a new perspective through her use of gendered spaces in Europa. Alvi appears to present a new history of Europe along with the changed Europa. The overlap of the personal and political spaces in the rewritten myth suggests that it is not only Europa who has changed but that contemporary Europe needs to be considered from a fresh perspective as well. Just as Europa’s name stands for something new and different, Europe also appears to signify something new that is not easily recognizable to previous generations. The text suggests a vision of a postcolonial Europe that can only be understood if the effects of its colonial history and the influences of the former colonies are taken into account. From such a point of view the dividing lines between insider and outsider become unstable and permeable. Likewise, the division between insider and outsider art has been effectively deconstructed so that Alvi has created a space for her own poetry.
60 | Alvi: King Agenor. In: Europa, ll. 25-27.
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Gendered Geographies of Power Ein Modell zur Analyse von Bildungsmigration und Geschlecht am Beispiel von Malaysia und Singapur Viola Thimm
In Asien leben circa die Hälfte der Weltbevölkerung und fast zwei Drittel der weltweiten Arbeitskräfte.1 Die besondere Geschwindigkeit und das besondere Ausmaß an ökonomischen, politischen, sozialen und demografischen Veränderungen in Asien führen seit den 1960er-Jahren zu Arbeitsmigrationen, und zwar sowohl innerhalb einzelner als auch zwischen verschiedenen Staaten. Dabei bildete sich in den letzten Jahrzehnten ein bestimmtes Migrationsmuster heraus: Während es generell von den 1950er- bis in die frühen 1970er-Jahre in dieser Region noch wenig internationale Arbeitsmigration gibt,2 verzeichnet die südostasiatische Migrationsforschung für die 1960er-Jahre aktive und eigenständige LandStadt-Migrationen von Frauen in Malaysia und auf den Philippinen.3 Hier kann von einer ›Feminisierung der Migration‹ zumindest für den Bereich der arbeitsbasierten Land-Stadt-Migration gesprochen werden. Die Feminisierung der Migration steht im Mittelpunkt des folgenden Beitrages, ihr wird anhand von Prozessen der Bildungsmigration im regionalen Kontext von Malaysia und Singapur nachgegangen. Das 1 | Theresa Wong et al.: Migration and the ›Asian‹ Family in a Globalising World. A Selective Review. In: Johannes Pflegerl/Asian MetaCentre for Population and Sustainable Development Analysis (Hg.): Researching Migration and the Family. Singapur 2003, S. 10-33, hier S. 13. 2 | Wong et al.: Migration and the ›Asian Family‹, S. 13. 3 | Vgl. z.B. Jamilah Ariffin: Migration of Women Workers in Peninsular Malaysia. In: James Fawcett/Khoo Siew-Ean/Peter C. Smith (Hg.): Women in the Cities of Asia. Migration and Urban Adaptation. Boulder 1984, S. 213-226.
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Erkenntnisinteresse des Aufsatzes gilt gesellschaftlichen Prozessen, anhand derer Bildungsmigration und Geschlecht analysiert werden können. Im ersten Teil wird die Kategorie Geschlecht und das Phänomen der Migration vor dem Hintergrund des spezifischen Kontextes erläutert. Anschließend wird der Forschungsstand zu Geschlecht und Migration unter besonderer Berücksichtigung von Geschlecht und Bildungsmigration skizziert, um die Besonderheit des Analysemodells Gendered Geographies of Power nach Sarah Mahler und Patricia Pessar in den Blick nehmen zu können. Dabei sind sowohl Möglichkeiten als auch Grenzen des von Mahler und Pessar vorgeschlagenen Modells von Interesse. Letztere werden für die Analyse von institutionellen und strukturellen Praktiken ausgemacht. Mahlers und Pessars Modell wird anschließend auf der Grundlage von Beispielen aus dem Feld erweitert. Anhand des erweiterten Analysemodells sollen schließlich umfassendere Antworten darauf gefunden werden, wie gesellschaftliche Kontexte und individuelle Handlungen im Rahmen von Bildungsmigration und Geschlecht in Malaysia und Singapur zueinander in Beziehung stehen. Im Mittelpunkt der Analyse steht der Fall der malaysischen Bildungsmigrantin Alice Lam.
THEORE TISCHE Z UGÄNGE : G ESCHLECHT UND M IGR ATION Geschlecht fungiert als zentrale Analysekategorie, um Machtverhältnisse in Malaysia und Singapur strukturiert einordnen zu können. Diese Machtverhältnisse werden von unterschiedlichen Akteur_innen auf körperlicher, familiärer, gesellschaftlicher, staatlicher und globaler Ebene verhandelt. Geschlechtertheoretische Diskussionen liefern Maznah Mohamad,4 Zainah Anwar5 und Ng/Maznah/tan6 für den malaysischen 4 | Vgl. z.B. Maznah Mohamad: From Nationalism to Post-Developmentalism. The Intersection of Gender, Race and Religion in Malaysia. In: Macalester International, 12, 2002, S. 80-102. 5 | Vgl. Zainah Anwar: What Islam, Whose Islam? Sisters in Islam and the Struggle for Women’s Rights. In: Robert W. Hefner (Hg.): The Politics of Multiculturalism. Pluralism and Citizenship in Malaysia, Singapore, and Indonesia. Honolulu 2001, S. 227-252. 6 | Vgl. Cecilia Ng/Maznah Mohamad/tan beng hui: Feminism and the Women’s Movement in Malaysia. An Unsung (R)evolution. New York 2007.
Gendered Geographies of Power
sowie Lenore Lyons,7 Nirmala PuruShotam8 und Maila Stivens9 für den singapurischen Kontext. Die Kategorie Geschlecht sowie entsprechende Ideologien und Handlungspraxen verändern sich in unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexten. Zuschreibungen, Erwartungen und Wertvorstellungen führen zu Annahmen darüber, wie Weiblichkeit und Männlichkeit normiert und codiert werden und wie Geschlecht verkörpert werden kann. In Migrationsprozessen kommt Geschlecht eine besondere Bedeutung im Hinblick auf soziale Beziehungen zu. Geografische Grenzüberschreitungen sind in komplexe Dynamiken von Globalisierung und technologischen Veränderungen eingebettet, die »time-space-compression[s]«10 hervorbringen, also räumlich-zeitliche Verdichtungen. Dadurch entwickeln sich für Migrant_innen neue Wahrnehmungen in Bezug auf geografische Distanzen sowie auf Beziehungen, die über solche Distanzen hinweg geführt werden. Soziale Bindungen können mittlerweile über hunderte bis zehntausende Kilometer hinweg vereinfacht aufrechterhalten werden. Mittels Telekommunikation und Internet werden die Hürden von Zeitverschiebung und territorialer Entfernung verringert. Dabei entstehen neue Erfahrungen von Nähe und Distanz, Raum und Zeit, die zum Alltag von Migrant_innen gehören. Globalisierungsbezogene Veränderungen erforderten in den 1990erJahren eine Neuorientierung in der Migrationsforschung. Nationale Grenzen werden durch Migration überschritten und dabei lokale Gemeinschaften, Organisationen und Lebensformen auf neuartige Weise integriert sowie miteinander in Beziehung gesetzt. Auf Grundlage des Konzepts ›Transnationalismus‹ untersucht vor allem die singapurische 7 | Vgl. z.B. Lenore T. Lyons: A Curious Space ›in-between‹. The Public/Private Divide and Gender-based Activism in Singapore. In: Gender, Technology and Development, 11, 1, 2007, S. 27-51. 8 | Vgl. Nirmala PuruShotam: Between Compliance and Resistance. Women and the Middle-Class Way of Life in Singapore. In: Krishna Sen/Maila Stivens (Hg.): Gender and Power in Affluent Asia. London 1998, S. 127-166. 9 | Vgl. z.B. Maila Stivens: Post-modern Motherhoods and Cultural Contest in Malaysia and Singapore. In: Theresa W. Devasahayam/Brenda S. A. Yeoh (Hg.): Working and Mothering in Asia. Kopenhagen 2007, S. 29-50. 10 | Vgl. David Harvey: The Condition of Postmodernity. Oxford 1998.
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Geografin Brenda S. A. Yeoh in verschiedenen Projekten die migrationsbezogenen Neuorientierungen im singapurischen und teilweise singapurisch-malaysischen Kontext.11 Ihr Verständnis von ›transnationaler Migration‹ gründet sich auf theoretischen Vorarbeiten der Ethnologinnen Linda Basch, Nina Glick Schiller und Cristina Szanton Blanc: Soziale Beziehungen werden demnach über mindestens zwei nationalstaatliche Orte hinweg geführt.12 Die transnationalen sozialen Räume verteilen sich über mehrere Lokalitäten hinweg und stehen durch dynamische soziale wie kulturelle Bindungen in verschiedenartigen machtdurchdrungenen Verhältnissen zueinander. Die theoretische Grundlage des Transnationalismus wendet sich gegen die Modernisierungstheorie, in der Migration als von push- und pull-Faktoren abhängig konzipiert wird.13 Herkunfts- und Zielland von Migration werden hier als zwei Gefüge betrachtet, die voneinander abgeschlossen bestehen. Das Verständnis von transnationaler Migration betont hingegen die sozialen Beziehungen von migrierenden Akteur_innen zwischen den Staaten. Institutionelle Verbindungen können mit in die Betrachtung aufgenommen werden, müssen aber nicht zwangsläufig Teil eines transnationalen Verhältnisses sein.
F ORSCHUNGSSTAND ZU M IGR ATION UND G ESCHLECHT In Südostasien bilden Arbeitsmigrantinnen unter den asiatischen Migrantinnen den größten Teil, speziell die unqualifizierten Arbeitskräfte.14 Diese arbeiten in der Regel im schlecht bezahlten und miserabel abgesi11 | Vgl. z.B. Theodora Lam/Brenda S. A. Yeoh: Negotiating ›Home‹ and ›National Identity‹. Chinese-Malaysian Transmigrants in Singapore. In: Asia Pacific Viewpoint, 45, 2, 2004, S. 141-164. 12 | Vgl. Linda Basch/Nina Glick Schiller/Cristina Szanton Blanc: From Immigrant to Transmigrant. Theorizing Transnational Migration. In: Ludger Pries (Hg.): Transnationale Migration. Baden-Baden 1997, S. 121-140. 13 | Vgl. Michael Kearney: From the Invisible Hand to Visible Feet. Anthropological Studies of Migration and Development. In: Annual Review of Anthropology, 15, S. 331-361, hier S. 333. 14 | Mittlerweile liegt ein breite Forschung zum Thema der arbeitsmigrierenden Frauen in Südostasien vor, z.B.: Keiko Yamanaka/Nicola Piper: Feminized Mig-
Gendered Geographies of Power
cherten Dienstleistungssektor. Beispiele sind die als live-in domestic workers beziehungsweise maids bezeichneten Migrant_innen.15 Die ethnologische und soziologische Forschung in Südostasien wie auch in Europa und den USA beschäftigt sich seit den 1980er-Jahren vor allem mit der Arbeitsmigration von unqualifizierten Frauen.16 Zuvor wurden Frauen in Migrationszusammenhängen entweder gar nicht oder als Personen ohne agency wahrgenommen. Während männliche Familienangehörige als aktiver Part dargestellt werden, sind Frauen diejenigen, die ihnen lediglich folgen.17 Seit den 1980er-Jahren hat sich dieser Fokus verändert. Frauen werden seitdem nicht nur sichtbar gemacht, sondern Geschlecht ist zu einer Analysekategorie entwickelt worden. Trotz der Interdisziplinarität der Themenfelder wurde Migration von Frauen in der Migrationsforschung lange unter dem Aspekt ›gender-Spezifik‹ und in der Geschlechterforschung unter dem Aspekt ›Ethnizitätsspezifik‹ betrachtet, wie Helma Lutz dies konstatiert.18 Das heißt, es werden in der Migrationsforschung Konstruktionen von Ethnizität in den Mittelpunkt gerückt, während Konstruktionen von Geschlecht in der Geschlechterforschung kaum auf Migrantinnen bezogen werden. Erst seit Mitte der 1990er-Jahre wird bei der Erforschung von Migrationszielen, -schritten und -orten die geschlechtliche Identifizierung als Schlüsselkategorie be-
ration in East and Southeast Asia: Policies, Actions and Empowerment. United Nations Research Institute for Social Development. Occasional Paper 11, 2005. 15 | Vgl. z.B. Brenda S. A. Yeoh/Shirlena Huang: Foreign Domestic Workers and Home-based Care for Elders in Singapore. In: Journal of Ageing & Social Policy, 22, 1, 2010. 16 | Vgl. z.B. Khoo Siew-Ean/Peter Pirie: Female Rural-to-Urban Migration in Peninsular Malaysia. In: James T. Fawcett/Khoo Siew-Ean/Peter C. Smith (Hg.): Women in the Cities of Asia. Migration and Urban Adaptation. Boulder, Colorado 1984, S. 125-142; Patricia Pessar: The Role of Gender in Dominican Settlement in the United States. In: June C. Nash (Hg.): Women and Change in Latin America. South Hadley 1986, S. 273-294. 17 | Vgl. hierzu kritisch z.B. Pamela Sharpe: Women, Gender and Labour Migration. London 2001. 18 | Helma Lutz: Migrations- und Geschlechterforschung: Zur Genese einer komplizierten Beziehung. In: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauenund Geschlechterforschung. Wiesbaden 2004, S. 476-484, hier S. 476.
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rücksichtigt. Die Geschlechter- und Migrationsforschung werden so zu komplexen analytischen Ansätzen verwoben.19 Für Südostasien wird Geschlecht als analytische Strukturkategorie im Zusammenhang mit Migration vor allem im Themenfeld der Familie untersucht. Denn »[…] images of ›family‹ […] have […] seen women placed as important bearers of the nation’s honour and creators of the Asian families«.20 Um Veränderungen des Konzepts der ›Asiatischen Familie‹ auf der praktischen Handlungsebene einordnen zu können, liegen die Schwerpunkte bestimmter südostasiatischer Geschlechterstudien auf der Transformation von Familienkonstellationen durch Migrationsschritte.21 Während das Thema ›Geschlecht und Migration‹ in den wissenschaftlichen Debatten innerhalb der letzten vier bis fünf Dekaden in und über Singapur und Malaysia große Aufmerksamkeit erfahren hat, fehlt die Zusammenführung der Themen ›Geschlecht, Bildung und Migration‹ hingegen bisher. Allein im Bereich der Bildungsmigration sind kulturwissenschaftliche Forschungen rar. In rezenten Studien wird aus einem erziehungswissenschaftlichen Blickwinkel die Internationalisierung von höherer Bildung sowie Muster von Bildungsmigrationen unter dem Stichwort student mobility in verschiedenen regionalen Kontexten untersucht.22 Trotz vielfältiger Forschung zum Bereich ›Geschlecht und Migration‹ gibt es wenig anwendungsbezogene Forschungsmodelle, um Zusammenhänge von Geschlecht und Migration zu analysieren. Eine Ausnahme bildet das Analysesystem der US-amerikanischen Ethnologinnen Sarah Mahler und Patricia Pessar, das 2001 unter dem Titel Gendered Geographies of Power publiziert wurde. Die besondere Qualität dieses Modells liegt darin, dass es bei konkreten Akteur_innen ansetzt und ihre gesellschaftliche Position als relevant für ihre individuelle und reflektierte Handlungsfähigkeit betrachtet.
19 | Vgl. z.B. Sheba Mariam George: When Women Come First. Berkeley 2005. 20 | Maila Stivens: Becoming Modern in Malaysia. In: Louise Edwards/Mina Roces (Hg.): Women in Asia. Ann Arbor 2000, S. 16-38, hier S. 30. 21 | Vgl. z.B. Tisa Ng: Migrant Women as Wives and Workers in Singapore. In: Beatriz P. Lorente et al. (Hg.): Asian Migrants. Sojourning, Displacement, Homecoming and other Travels. Singapur 2005, S. 99-107. 22 | Vgl. z.B. Rajika Bhandari/Raisa Belyavina/Robert Gutierrez (Hg.): Student Mobility and the Internationalization of Higher Education. New York 2011.
Gendered Geographies of Power
G RUNDL AGENMODELL : G ENDERED G EOGRAPHIES OF P OWER Sarah Mahler und Patricia Pessar bieten mit ihrem Analysemodell Gendered Geographies of Power ein Konzept, um Geschlecht als konstitutives Element von Migration auf verschiedenen sozio-räumlichen Achsen zu untersuchen. Diese Achsen verlaufen vom körperlichen über den familiären bis hin zum nationalstaatlichen und schließlich globalen Raum. Die Kategorie ›Geschlecht‹ verstehen Mahler und Pessar dabei als wirkmächtig mit anderen Strukturkategorien der Differenz verschränkt – wie Ethnizität, Klasse, Sexualität oder Nationalität. Konkret geht das Modell von drei Ebenen aus: Mit dem Element der geographic scales bezeichnen Mahler und Pessar, wie Geschlechterverhältnisse in transnationalen Räumen gleichzeitig auf verschiedenen räumlichen und gesellschaftlichen Ebenen, etwa der körperlichen, familiären, staatlichen oder globalen, verhandelt werden.23 Diese einzelnen Ebenen müssen im Sinne Mahlers und Pessars als miteinander verschränkt gedacht werden. Denn wie beispielsweise nationale Geschlechterpolitik die Geschlechterkonstellationen auf der Familienebene beeinflussen, so geschieht dies auch umgekehrt. Mit social location beziehen sich Mahler und Pessar auf soziale Positionierungen von Subjekten in multiplen, miteinander verknüpften Differenzsystemen wie Geschlecht, Ethnizität, Klasse, Sexualität und Nationalität.24 Menschen positionieren sich durch ihre Verwandtschaft, ihre Geschichte und in der gesellschaftspolitischen Struktur und werden gleichzeitig von außen positioniert. Die Differenzsysteme werden im Sinne der social location nicht statisch, sondern als veränderbare Positionierungen gedacht. Die dritte Komponente, die agency, bezeichnet subjektive Handlungsmöglichkeiten, die im Kontext der Gendered Geographies of Power entwickelt werden können. Mit dem Prinzip der Machtgeometrie (power geometry) nach Doreen Massey, auf die sich Mahler und Pessar an dieser Stelle beziehen, können Akteur_innen die soziale Positionierung für ihre Bedürfnisse mehr oder weniger gut einsetzen. Dabei ist die agency abhängig von der Vorstellungs- und Interpretationskraft der Akteur_innen, die wie23 | Sarah Mahler/Patricia Pessar: Gendered Geographies of Power. Analyzing Gender across Transnational Spaces. In: Identities, 7, 4, S. 441-459, hier S. 445. 24 | Ebd., S. 445f.
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derum durch eigene Erfahrungen geprägt sind.25 So sind die Erweiterung oder die Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten (agency) nicht nur abhängig von strukturellen Faktoren, sondern auch von den persönlichen Fähigkeiten und Charakteristika der Individuen und verweisen damit auf ihre subjektive Gestaltungskraft.
G ENDERED G EOGRAPHIES OF P OWER : E IN GEEIGNE TES A NALYSEMODELL? Angesichts der Erfahrungen mit meinen malaysischen bildungsmigrierenden Gesprächspartnerinnen in Singapur erweist sich das Modell nach Mahler und Pessar für geschlechterfokussierte Migrationsfragen, die im regionalen Kontext eine Rolle spielen, als unzureichend. Denn mit dem Modell können strukturelle und institutionalisierte Praktiken von Migration und zwar besonders diejenigen, die über geschlechterbezogene Prozesse hinausgehen, nicht hinreichend erfasst werden. Der Analyserahmen von Mahler und Pessar verbleibt auf der Ebene der Akteur_innen und entspricht damit dem Paradigma transnationaler Migrationsforschung, strukturelle Praktiken im Sinne von push- und pullFaktoren zugunsten von sozialen Beziehungen der Akteur_innen auf der Mikroebene zu vernachlässigen beziehungsweise gar nicht in den Blick zu nehmen. In Anlehnung an Anthony Giddens, der mit seiner Strukturierungstheorie Struktur und Handeln als wesentlich für ein Verständnis von Gesellschaften erachtet,26 werden in diesem Aufsatz subjektives Handeln und gesellschaftliche Strukturen als analytischer Rahmen zur Erfassung von Geschlecht und Migration begriffen, ohne dabei das eine auf das andere zu reduzieren. Es handelt sich bei gesellschaftlichen Strukturen sowie beim Handeln einzelner Individuen um ineinander verschränkte und gleichsam ausschlaggebende Elemente, die in Wechselwirkung zueinander stehen.27 Strukturen bilden die Grundlage für soziale Handlungspraxen und sind gleichzeitig Ergebnis derselben. Giddens betrachtet gesellschaftli25 | Ebd., S. 446f. 26 | Vgl. Anthony Giddens: The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration. Cambridge 1984. 27 | Ebd., S. 2.
Gendered Geographies of Power
che Strukturen als Regeln und Ressourcen, die ein organisiertes Bündel darstellen und sich schlussendlich in Macht und Herrschaft materialisieren.28 Mit Strukturierung bezeichnet Giddens Verhältnisse, die die gebündelten und organisierten Strukturen transformieren oder aufrechterhalten.29 Die Strukturen werden von sozialen Akteur_innen in ihren alltäglichen Handlungen (re-)produziert, indem sie nach festen Regeln und auf Grundlage ihrer Ressourcen handeln. Der Analyserahmen Gendered Geographies of Power reduziert Struktur zu sehr auf das Handeln. In einer intensiven Diskussion mit Sarah Mahler über Gendered Geographies of Power30 hat sie bekräftigt, dass sie und Patricia Pessar mit dem Teilbereich der social location deutlich machen wollen, dass Herrschaftsverhältnisse immer verkörpert und dadurch subjektiv erfahrbar sind. Herrschaftsverhältnisse seien mit diesem Verständnis in der social location mit eingeschlossen und strukturelle Praktiken müssten deshalb nicht expliziert werden. Mit dieser Sichtweise, die gesellschaftliche Prozesse ausschließlich auf der subjektiven Ebene lokalisiert, wird ein Verständnis von Subjektivierung und Individualisierung gestärkt. Das geäußerte Verständnis geht davon aus, dass jede und jeder Einzelne die Möglichkeit besitze, Machtverhältnisse zu verändern. Zudem vernachlässigt diese Herangehensweise gewachsene Strukturen, Machtzentren und strukturelle Herrschaft. Um die komplexen Zusammenhänge von Geschlecht und Migration im lokalen Kontext Malaysias und Singapurs verstehen zu können, muss meines Erachtens strukturelle Diskriminierung Teil der Analyse werden. Strukturelle Diskriminierung bezeichnet, dass gesellschaftliche Gruppen systematisch diskriminiert werden und sich dies auch in der Struktur der Gesamtgesellschaft widerspiegelt. Strukturelle Diskriminierung basiert auf gewachsenen und dauerhaften Praktiken, die in der Regel formalisiert und institutionalisiert sind. Ich möchte das Modell von Mahler und Pessar um diese strukturellen und institutionalisierten Praktiken, die systematisch Ein- und Ausschlüsse produzieren, erweitern.
28 | Ebd., S. 17-23. 29 | Ebd., S. 18f. 30 | Ich danke Sarah Mahler für die wertvolle Diskussion über ihren Analyserahmen und für ihre Kommentare zu meinen Erweiterungen während ihres Besuchs im Graduiertenkolleg im Januar 2013.
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E RWEITERUNG VON G ENDERED G EOGRAPHIES OF P OWER : D ER B ILDUNGSMIGR ATIONSWEG EINER MAL AYSISCHEN JUNGEN F R AU NACH S INGAPUR Die bisherigen theoretischen Überlegungen dienen als Grundlage, um Mahlers und Pessars Modell mit der Erweiterung um institutionelle Praktiken auf das Fallbeispiel Alice Lam anzuwenden. Die Datenerhebung für dieses Fallbeispiel war Teil der Gesamterhebung für mein Promotionsprojekt,31 die von 2008 bis 2009 während einer multilokalen ethnografischen Feldforschung in Singapur und Malaysia durchgeführt wurde. Die ersten sechs Monate meiner Feldforschung hielt ich mich in Singapur auf, um zehn chinesisch-malaysische Bildungsmigrantinnen intensiv zu begleiten. Mit ihnen verbrachte ich den universitären Alltag in Wohnheimen, Mensen und Hörsälen. Ich interviewte die Bildungsmigrantinnen in Kneipen und Restaurants. Ihre Geschichten und Themen, mit denen sie sich auseinandersetzten, nahm ich als Basis, um gewisse Diskurse und Strukturen der jeweiligen Gesellschaften zu begreifen. Nachdem ich mehrere Monate mit den malaysischen Bildungsmigrantinnen in ihrem Zielland verbracht habe, folgte ich ihren Spuren32 nach Malaysia. Indem ich ihre Wohnorte in Malaysia aufsuchte, erkundete ich ihre Biografien. Damit erlangte ich Zugang zu ihren früheren Lebensumfeldern in ihrer Herkunftsgesellschaft, vor allem in der Hauptstadt Kuala Lumpur. Dort führte ich Gespräche mit ihren Eltern, Großeltern, Brüdern und Schwestern. Teilweise waren die Bildungsmigrantinnen dabei. Darüber hinaus setzte ich mich mit ihren konfliktbehafteten Erfahrungen anhand der Verbindungen von Bildungsmigrationsentscheidungen und ethnischen Identifizierungen auseinander. Die Analyse von ethnischer Zugehörigkeit sowie ethnisch normierter Inund Exklusion ist wichtig, um die Komplexität der Bildungsmigrations31 | Vgl. Viola Thimm: Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Bildungsmigration. Lebensentwürfe und Weiblichkeitsbilder malaysischer Bildungsmigrantinnen in Singapur. Unveröff. Diss., Göttingen 2013. 32 | Diese Spurensuche konzeptualisierte ich im Sinne einer multisited ethnography nach George Marcus (vgl. George Marcus: Ethnography in/of the World System. The Emergence of Multi-Sited Ethnography. In: Annual Review of Anthropology, 24, 1995, S. 95-117).
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entscheidung einer jungen Malaysierin wie Alice Lam zu begreifen. Alice kommt aus einem chinesisch geprägten Elternhaus, in dem Mandarin gesprochen wird.33 Ihr Elternhaus, das sich in einer chinesischen Wohngegend der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur (KL) befindet, war zur Zeit meiner Besuche mit unterschiedlichen chinesischen Symbolen bestückt: Zum Beispiel zierten verschiedene Banner in Rot-Gold, was im chinesischen Kontext ›Glück‹ versinnbildlicht, die Wände des Wohnzimmers. Alice war zur Zeit unserer Gespräche zweiundzwanzig Jahre alt. Ihr nächstjüngerer Bruder studierte Information Technology (IT) in Singapur, ihre jüngste Schwester ging noch zur Schule in Malaysia. Die Mutter arbeitete als Biologielehrerin, der Vater im IT-Bereich. Alice migrierte 2004 als das älteste von drei Kindern von Kuala Lumpur nach Singapur für den höheren Bildungserwerb. Zur Zeit unserer ersten Treffen im Oktober 2008 beendete sie ihren Bachelor in den Lebenswissenschaften/Biologie. Ich verabschiedete sie im April 2009; zu jenem Zeitpunkt war sie PhD-Studentin derselben Disziplin. Sie ging mit achtzehn Jahren in den Stadtstaat, um nach Abschluss ihrer schulischen Lauf bahn auf unterschiedlichen Chinese Independent Schools ein Studium an der südostasiatischen Eliteuniversität, der National University of Singapore (NUS), aufzunehmen, wo sie ein Stipendium bekam. Ihr sprachlicher Hintergrund, ihr Wohnumfeld in Kuala Lumpur und ihre schulische Lauf bahn auf Chinese Independent Schools verweisen auf ihre ethnische Zugehörigkeit zur chinesischen Bevölkerungsgruppe. Als Chinesisch-Malaysierin gehört Alice nicht der größten malaysischen Bevölkerungsgruppe an, den Malaiisch-Malaysier_innen. In Malaysia leben etwa 62 % Malaiisch-Malaysier_innen und andere Bevölkerungsgruppen, die von den malaiisch-malaysischen Regierungseliten mit dem Begriff der bumiputeras (›Kinder der Erde‹) als ›einheimisch‹ klassifiziert werden (Iban, Dayak, Orang Asli und andere). Außerdem leben in Malaysia 23 %
33 | Alle allgemeinen Aussagen über Verhältnisse der Gesprächspartnerinnen, die sich nicht verändern, wie z.B. die Herkunft, die ethnische Klassifizierung oder geschwisterlichen Relationen, werden im Präsens benannt. Alle konkreten Beschreibungen und Aussagen über meine Gesprächspartner_innen werden jedoch in die Formen der Vergangenheitstempora gesetzt. Dadurch werden die Situationen zeitlich kontextualisiert und somit verdeutlicht, dass die Erfahrungen der lokalen Akteur_innen die spezifische Zeit während der Forschung abbilden.
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Chinesisch-Malaysier_innen und 7 % Indisch-Malaysier_innen.34 Diese ethnischen Kategorisierungen werden sowohl staatlich als auch gesamtgesellschaftlich vorgenommen. Sie stellen die Basis gesellschaftspolitischer Bereiche dar, in denen die malaiisch-malaysische Bevölkerung bevorzugt und die chinesisch- sowie indisch-malaysische benachteiligt wird.35 Trotz kultureller Vielfalt ist der Islam als vorgeschriebene Religion der Malaiisch-Malaysier_innen dominant.36 Die ethnisch-religiöse Segregation der Gesellschaft beruht auf nationalen ökonomischen und politischen Interessen, welche seit rassistischen Unruhen im Jahr 1969 die muslimische malaiisch-malaysische Bevölkerung privilegieren.37 Ihren Ausgangspunkt finden diese Entwicklungen in britischen Kolonialpolitiken, die In- und Exklusionen entlang ethnischer, aber auch geschlechts- und klassenspezifischer Linien vor allem mittels eingerichteter Bildungssysteme einführten.38 Unter anderem bedingt durch diese ethnisch-religiös exkludierenden Verhältnisse in Malaysia war Alice Lam für den höheren Bildungserwerb gezielt nach Singapur migriert.
A LICES L AMS B ILDUNGSWEG Alices Bildungslauf bahn lässt sich unter anderem durch familienbiografische Dynamiken erklären, die geschlechtlich codiert waren. ›Geschlecht‹ wurde hier beispielhaft im Sinne der geographic scales nach dem Analysemodell von Mahler und Pessar auf der familiären Ebene verhandelt. 34 | Department of Statistics, Malaysia: Buletin Perangkaan Bulanan. Mac 2008, S. 9. 35 | Vgl. Daniel P. S. Goh et al. (Hg.): Race and Multiculturalism in Malaysia and Singapore. London 2009. 36 | Vgl. Shamsul Amri Baharuddin: The Religions, the Plural, the Secular and the Modern. In: Azmi Aziz/Shamsul Amri Baharuddin (Hg.): Inter-Asia Cultural Studies. Basingstoke 2004, S. 341-356. 37 | Vgl. Kua Kia Soong: May 13. Declassified Documents on the Malaysian Riots of 1969. Kuala Lumpur 2007. 38 | Vgl. Cynthia Joseph: Theorisations of Identity and Difference. Ways of Being Malay, Chinese and Indian Schoolgirls in Malaysian Secondary Schools. 2003, http://arrowprod.lib.monash.edu.au:8080/vital/access/ser vices/Download/ monash:6021/SOURCE2 (Stand: 13.01.2010).
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Alices Mutter und Vater lenkten sie – wenn auch in unterschiedlichen Lebensabschnitten – in ihrer Rolle als ältester Tochter hinsichtlich ihrer ausbildungsbezogenen Entscheidungen. Durch ihre Mutter wurde sie bereits in jungen Jahren in ihren Interessen beeinflusst. V.T.: »So, and was she [your mother] studying?« Alice: »[Ya], Biology (lacht).« V.T.: »(Lache auch) Ah, really? (…)« Alice: »Ya! I think it’s because since I was young; it was the thing she studied so she taught me a lot about Biology to me since young. Like, can you imagine, she is teaching a three years old about red blood cells. Like all the blood cells, all the body system. Ya (lacht), ok! Ya, so I was very early with Biology.« V.T.: »Aha! And did she try the same with your brother and with your sister?« (frage ich lachend) Alice: »Not really!« V.T.: »So why with you?« Alice: »I think I’m the eldest and she’s bored during that time (lacht).« (05.12.2008)
Alice berichtete, wie ihre Mutter sie im Kleinkindalter an Themen der Biologie herangeführt hatte. Ihre Mutter erzählte mir in einem anderen Gespräch ebenfalls von ihrer Beeinflussung Alices hinsichtlich einer naturwissenschaftlichen Schwerpunktsetzung in ihrer Bildungslauf bahn. Nach erfolgreicher Umsetzung dessen in der Schulzeit habe sie ihre älteste Tochter (und die beiden nächstjüngeren Kinder) bei der Studienfachwahl allerdings selbst entscheiden lassen, wie sie mir berichtete: Alices Mutter: »For me, I wanted my children to do Science in the Secondary School. Because I think Maths and Science train up the logical thinking. That was something I want them to build up. And especially in Malaysia, there is trend that most of the students go to Arts stream. 39 So you will find discipline-wise that it’s much better for the Science students than the Arts-students. That’s why. So, after
39 | Ab der secondary school müssen sich alle Schüler_innen in Malaysia entweder für den science stream mit naturwissenschaftlichen oder den arts stream mit geistes- und wirtschaftswissenschaftlichen Fächern entscheiden.
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that, I don’t have any bias on Arts and Science, it’s up to them to choose whatever they want to.« (13.06.2009)
Alices Vater hingegen zeichnete die weiteren Schritte in Alices Biografie stark vor. Alice wollte ursprünglich an der Fakultät für Kunst und Sozialwissenschaften studieren. Ihr Vater drängte sie jedoch dazu, ein Studium an der Fakultät für Naturwissenschaften aufzunehmen. Alices Vater: »[Alice] was all the time in Secondary School, she was a Science student. (…) After that, I think, she is quite, she wanted, probably she wanted to switch to Arts, particularly to finance. I think it’s finance economy. But somehow, maybe it’s my influence or friend’s, then she stay back with Science.« V.T.: »What kind of influence was it?« Alices Vater: »Influence through some kind of talking.« (13.06.2009)
Alice berichtete mir, dass ihr Vater sie im Sinne einer neoliberalen Ausrichtung zu einer Ausbildung gedrängt habe, mit der ihre Arbeitskraft später auf dem Arbeitsmarkt verwertbar sei. In der Familie Lam war es die Mutter, die die Wege der ältesten Tochter indirekt beeinflusste, der Vater gestaltete diese Wege hingegen offen und direkt. Dass in der Familie Lam der Vater den direkten Bildungsauftrag für seine älteste Tochter formulierte, verweist auf seine aktive männliche Rolle und erklärt sich aus dem starken chinesischen – und damit konfuzianisch-patrilinearen – Bezug der Familie. Im konfuzianischen Familienmodell bildet idealtypisch der Vater als das männliche Familienoberhaupt den obersten Part und repräsentiert soziale Stabilität und Einheit.40 Die Mutter stellt dabei idealtypisch die wärmende und unterstützende Kraft dar.41 Diese Rollen entspringen den fünf als grundlegend geltenden Beziehungen des Konfuzianismus (wulun), und zwar denen zwischen Vater und Sohn, Fürst und Untertan, Mann und Frau, älterem und jün-
40 | A. T. Nuyen: Filial Piety as Respect for Tradition. In: Alan K. L. Can/Sor-hoon Tan (Hg.): Filial Piety in Chinese Thought and History. London 2004, S. 203-214, hier S. 209. 41 | Stivens: Becoming Modern in Malaysia, S. 25.
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gerem Bruder sowie Freund und Freund.42 Diese Beziehungen schaffen für Frauen in ihrer Rolle als Tochter, Ehefrau und Witwe ein dreifaches Unterordnungsverhältnis. Dieses soziale Beziehungsmodell wird zwar in vielen chinesischen Familien nicht (mehr) derart hierarchisch praktiziert, die darin implizierten Ansprüche an die Einzelnen formen dennoch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Brüdern und Schwestern, Müttern und Söhnen oder Vätern und Töchtern.43 Die männlich dominante Rolle in der Familie Lam kontrastierte mit der mütterlichen Rolle. Alices Mutter war vordergründig verantwortlich für die Kindererziehung. Die Energien in das Wohl ihrer Kinder zu investieren war für Alices Mutter deshalb von Relevanz, da sie durch ihre Kinder ihre eigenen Wünsche umgesetzt sehen wollte, speziell durch ihre älteste Tochter. Dies wird an den Biografien von Alice und ihrer Mutter deutlich. Alice studierte nicht nur ein Fach, das auch ihre Mutter bereits studiert hatte. Mit ihrer biologischen Forschung als PhD-Studentin setzte Alice auch das um, was sich ihre Mutter für sich selbst wünschte: Ihre Mutter hegte ebenfalls den Wunsch, als Biologin in der Forschung zu arbeiten. Mangels Möglichkeiten arbeitete sie stattdessen als Biologielehrerin. Konfuzianische Werte beeinflussten die Familie Lam nicht nur in den geschlechtlich normierten Rollen von Vater und Mutter. Ein konfuzianischer Grundsatz wird auch im starken Bezug auf eine sehr gute Ausbildung deutlich: Im Konfuzianismus wird Bildung als der Schlüssel zum Erfolg angesehen.44 Alices Vater bestätigte die Bedeutung von Bildung für die chinesische Bevölkerung: »Chinese… They can, you know… they can bear many things, they can bear, you know, just live barely over the… they can eat with not so much joy, but they make sure, their children is well educated. […] [I]t’s a culture built in them. So somehow they save the money, all, all the life-saving to make sure, this money it’s all been served for the generation to study, to get the best, you know. As far as education is concerned.« (13.06.2009) 42 | Hans van Ess: Ist China konfuzianisch? 2003, S. 6., www.chinapolitik.de/ studien/china_analysis/no_23.pdf (Stand 02.08.2010). 43 | Ulf Mellström: Masculinity, Power and Technology. A Malaysian Ethnography. Hampshire 2003, S. 33. 44 | Kristina Göransson: The Binding Tie. Singapur 2010, S. 119.
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Alices Bildungsweg ist somit nicht nur durch familiäre Entscheidungen beeinflusst, sondern auch durch Werte, die aus ihrer ethnischen Zugehörigkeit zur chinesischen Bevölkerungsgruppe hervorgehen. Diese Migrationsmotivation entspricht der social location, wie sie Mahler und Pessar in ihrem Analyserahmen konzeptualisieren.
B ILDUNG UND E THNIZITÄT IN M AL AYSIA Alices Bildungsmigrationsschritt erklärt sich jedoch nicht nur familienbiografisch und aus ihrer gesellschaftlichen Positionierung als Chinesisch-Malaysierin heraus. Er erklärt sich auch durch die nationalstaatlichen Bildungspolitiken in Malaysia und Singapur. In Malaysia ist diese Politik mit Ethnizitätspolitik verbunden. Diese Politik wirkt je nach ethnischer Zugehörigkeit in- oder exkludierend, denn aufgrund der Priorisierung der malaiisch-malaysischen Bevölkerung wird zum Beispiel die Studienplatz- und Stipendienvergabe zugunsten dieser Bevölkerungsgruppe organisiert. Die chinesisch-malaysische Alice Lam hatte aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit nur wenige Chancen auf einen Studienplatz mit Stipendium an einer staatlichen malaysischen Universität, wie ihre Eltern bestätigten: Alices Vater: »Ya, we expected that, that she [Alice] will leave my house, the home. Sooner or later. It was only the question she will go to which university, that’s all. Not local university, not Malaysian university.« Alices Mutter: »Actually, we were trying to tell them [our three children] it’s good if they can go to overseas to study. No matter where, you see. Rather than staying in Malaysia. Because the local university, the government university, there is no chance for us [Chinese] to get in, and then because it’s so politically […], so we wouldn’t like our children to be in that kind of environment also.« (13.06.2009)
Für den tertiären Bildungsweg waren Alices Alternativen, entweder ihre Ausbildung an einer privaten Universität in Malaysia zu absolvieren oder ein Studium im Ausland zu beginnen, zum Beispiel in Singapur. Doch bereits vor der universitären Ausbildung hatten die ethnisch durchzogenen Bildungspolitiken ihren Weg beeinflusst: Alice durchlief die schulische Ausbildung auf den Chinese Independent Schools, die sich explizit
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in Abgrenzung zum staatlichen malaysischen Schulsystem entwickelt haben. Damit bereitete sie sich bereits frühzeitig auf ihr Studium im Ausland vor: »Alice hat einen Schulabschluss, den die malaysische Regierung für ihre staatlichen Universitäten nicht akzeptiere, stattdessen aber die Universitäten in Singapur. Sie fügte mit einem Lachen hinzu, dass sie bereits damals ihre Schule mit diesem spezifischen Abschluss gewählt habe, da sie schon ein Studium im Ausland im Hinterkopf hatte.« (Gedächtnisprotokoll 14.10.2008)
Alice konnte in Malaysia im tertiären Bildungsbereich nur wenige Handlungsmöglichkeiten entfalten. Aufgrund ihrer social location stand ihr kein realistischer Zugang zu den staatlichen malaysischen Universitäten offen. Dieser Ressourcenzugang auf Grundlage der sozialen Positionierung kann mit der power geometry aus dem Modell von Mahler und Pessar erklärt werden. Alice hatte eine Alternative zum staatlichen Universitätssystem, indem sie die Chinese Independent Schools besuchte und dadurch ihre Ausgangsbedingungen erweiterte. Damit setzte sie eigene Handlungsmöglichkeiten (agency) ein. Die Verkörperung der ethnischen Zugehörigkeit, wie sie Mahler und Pessar mit der social location konzeptualisieren, erklärt jedoch noch keine systematischen, strukturellen Ein- und Ausschlussmechanismen. Es deutet sich an, dass die Ressourcen, in diesem Fall das Universitätssystem, explizit in die Analyse miteinbezogen werden müssen: Mit Gendered Geographies of Power können bisher die familiären, geschlechtlich codierten Konstellationen in Bezug auf den Migrationsschritt erfasst werden (geographic scales), die soziale Positionierung (social location) und die Handlungsmöglichkeiten und -unmöglichkeiten (agency). Die Möglichkeiten und Grenzen der Handlungen auf Grundlage der sozialen Positionierung werden aber erst schlüssig, wenn die strukturellen Mechanismen, die auf die soziale Positionierung zielen, explizit mit erörtert werden. Denn erst durch ein Agieren aus der sozialen Positionierung heraus funktioniert die soziale Positionierung als eine Zuweisung der Stellung in der Gesellschaft. Das Agieren steht daher im Wechselverhältnis zu institutionalisierten Praktiken, die Ein- und Ausschlüsse auf Grundlage der sozialen Positionierung und der damit verbundenen Möglichkeit zum Handeln erst produzieren.
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S TRUK TURELLE D ISKRIMINIERUNG IM STA ATLICHEN MAL AYSISCHEN B ILDUNGSSYSTEM Die ethnisch basierten Quoten für die Immatrikulation an den staatlichen malaysischen Universitäten wurden 1971 im Rahmen der sogenannten New Economic Policy (NEP) eingeführt.45 Mit der NEP wurden der malaiisch-malaysischen Bevölkerung46 mehr Chancen im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt eröffnet,47 wodurch sie sozial und ökonomisch gestärkt wurden. Durch die Quoten ist nicht unbedingt die Schulabschlussnote für die Hochschulzugangsberechtigung maßgeblich, sondern in erster Linie die ethnische Zugehörigkeit zur malaiischmalaysischen Bevölkerungsgruppe. Die Auswirkungen lassen sich nicht nur an den entsprechenden Handlungen von Alice Lam ablesen, sondern auch an weitergefassten Zahlen: In den 1970er-Jahren waren quantitativ noch geringfügig mehr Chinesisch-Malaysier_innen als Malaiisch-Malaysier_innen in den Universitäten eingeschrieben, 1985 waren bereits ca. 2,5 mal mehr Malaiisch- als Chinesisch-Malaysier_innen immatrikuliert, während letztere, wie Alice, seither vorwiegend im Ausland studierten.48 Die Quotierungen gelten nicht nur für die Studienplätze, sondern auch für Stipendien. Circa 80 % aller staatlichen Stipendien gingen bis 2008 an Malaiisch-Malaysier_innen. Aufgrund von regelmäßiger, hefti45 | Im Jahr 2002 wurden die Quotierungen offiziell vorübergehend abgeschafft und stattdessen ein sogenannter ›leistungsabhängiger‹ Zugang zu den Universitäten eingeführt (vgl. Molly N. N. Lee: Restructuring Higher Education in Malaysia. Monograph Series No: 4/2004, 14n.5). Praktisch verschärfte sich das ethnizitätsbasierte Mehrheitsverhältnis an den Universitäten jedoch: 69 % der bumiputeras erhielten in jenem Jahr eine Studienplatzzusage im Gegensatz zu zuvor 55 %, von den Chinesisch-Malaysier_innen erhielten 26 % und von den Indisch-Malaysier_innen 5 % die entsprechende Zusage (ebd., S. 58). 46 | Die NEP gilt theoretisch für alle bumiputeras, wobei sie in der Praxis in erster Linie für Malaiisch-Malaysier_innen und nicht für die als ›einheimisch‹ Klassifizierten umgesetzt wird. 47 | Norani Othman: Islamization and Modernization in Malaysia. In: Rick Wilford/Robert L. Miller (Hg.): Women, Ethnicity and Nationalism. London 1998, S. 170-192, hier S. 173. 48 | Terence Chong: Modernization Trends in Southeast Asia. Singapur 2005, S. 50.
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ger Kritik – vor allem seitens der chinesischen Bevölkerung an der diskriminierenden Bildungspolitik – öffnete die Regierung in jenem Jahr die Stipendienvergabe für Nicht-Malai_innen mit 40 %.49 Stipendien, die für ein Studium im Ausland vergeben werden, sind ebenfalls an die ethnische Zugehörigkeit gebunden. Die malaysische Regierung vergibt insbesondere Stipendien für Studien in Japan, den USA, Australien, Russland und Indien – aufgrund der politischen Spannungen allerdings nicht für ein Studium in Singapur, wie mir häufig erklärt wurde. Die Schüler_innen, die im Anschluss an ihre Schulzeit die staatlichen Universitäten in Malaysia besuchen, kommen gemäß der ethnisch exkludierenden Bildungspolitiken vor allem von den staatlichen Schulen beziehungsweise Internaten – nicht von den unabhängigen Schulen, wie den Chinese Independent Schools. Die diskriminierenden, strukturellen Praktiken im Bereich der Bildungspolitik führen bis heute dazu, dass in der schulischen Ausbildung auf die von der chinesischen Bevölkerung entwickelte Gegenstrategie zum staatlichen Ausbildungssystem zurückgegriffen wird.
C HINESE I NDEPENDENT S CHOOLS ALS G EGENSTR ATEGIE ZU STA ATLICHER A USBILDUNG Eine Alternative zum staatlichen Bildungssystem bilden die unabhängigen chinesischen Schulen seit dem 19. Jahrhundert. Sie entstanden im damaligen Malaya (heutiges Festlandmalaysia und Singapur) neben dem britischen, das heißt englisch-sprachigen und christlichen, Schulsystem, das die damalige britische Kolonialregierung eingeführt hatte. Die chinesischen Schulen waren sprachlich, politisch und kulturell an China orientiert. Zu jener Zeit kamen viele Immigrant_innen aus ihrem ›Mutterland‹ direkt nach Südostasien, wobei sie die Vorstellung aufrechterhielten, wieder in ihr Heimatland zu gehen. Somit lag eine Orientierung am Herkunftsland auf der Hand.50 Quantitativ gesehen waren diese Schulen die größten in Malaya.
49 | Syed Husin Ali: Ethnic Relations in Malaysia: Harmony and Conflict. Petaling Jaya 2008, S. xviii. 50 | W. G. Huff: The Economic Growth of Singapore. Cambridge 1994, S. 163f.
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Die chinesischen Schulen waren geschlechtergetrennt organisiert. Im Gegensatz zu den Jungen genossen Mädchen Schulbildung vorerst nur eingeschränkt für die Grundschulzeit. Weiterführende chinesische Schulbildung wurde in Singapur zuerst für Jungen eingeführt.51 Die Briten werteten das chinesische Ausbildungssystem ab, indem sie nur die Abschlüsse der britischen Schulen für Arbeitsanstellungen anerkannten, nicht aber die Abschlüsse der chinesischen Ausbildung.52 Soziale Mobilität war trotz chinesischer Gegenstrategie im Bildungsbereich vor allem für die englischsprachige, christlich ausgebildete, männliche Bevölkerung leichter umsetzbar. Mit ihrer schulischen Lauf bahn im gegenwärtigen Schulsystem der Chinese Independent Schools wies Alice als chinesisch-malaysische Bildungsmigrantin in Singapur einen eher ungewöhnlichen Hintergrund auf. Denn der Großteil der Migrantinnen wird von christlichen und englischsprachigen Frauen gebildet, wenige kommen aus einem chinesisch orientierten Elternhaus mit entsprechender Schulbildung. Die chinesische Ausbildung wird in Singapur bis heute nicht als in dem Maße hochwertig angesehen wie die englischsprachigen Schulen nach britischem und US-amerikanischem Vorbild, in denen ein Abschluss mit ›A-level‹ erreicht werden kann. Aufgrund einer kürzeren schulischen Lauf bahn ist der Abschluss der Chinese Independent Schools zwischen dem weniger hohen ›O-level‹ und dem höchsten ›A-level‹ angesiedelt. Wer mit dem Abschluss der Chinese Independent Schools in Singapur studieren will, muss wie Alice zu den leistungsstärksten Schüler_innen gehören.
B ILDUNGSMIGR ATION IN DAS MERITOKR ATISCHE S INGAPUR Gesellschaftliche Verhältnisse und politische Strategien in Singapur innerhalb der letzten Dekaden führen zu einem Zuzug von Chines_innen
51 | Yen Ching-Hwang: Hokkien Immigrant Society and Modern Chinese Education in British Malaya, 1904-1941. In: Michael W. Charney/Brenda S. A. Yeoh/Tong Chee Kiong (Hg.): Chinese Migrants Abroad. Singapur 2003, S. 114144, hier S. 137. 52 | Tan Yap Kwan/, Chow Hong Kheng/Christine Goh: Examinations in Singapore. Change and Continuity (1891-2007). Singapur 2008, S. 23.
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aus Malaysia. Auch von singapurischer Seite sind institutionelle Praktiken wirkmächtig für Bildungsmigrationswege. Während in Malaysia eine ökonomische Entwicklung verfolgt wird, die mit ethnisch basierter Politik verschränkt ist, zielen die singapurischen Staatspolitiken auf eine Leistungsgesellschaft, die ebenfalls mit ethnisierender Politik verknüpft wird. Seit der Unabhängigkeit 1965 wurde Singapur zu einem Knotenpunkt für Ökonomie, Bildung und Leistung, zu einem »global knowledge hub«.53 Besonders die 1960er- bis 1980er-Jahre in Singapur waren geprägt von ökonomischem Wachstum.54 Wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit ist hier mit der politischen Disziplinierung der Bevölkerung verbunden. »[…] [In Singapore] (racialized) localization is required in the production of disciplined subjects granted uneven cultural rights in flexible ›Asian‹ neoliberal multiculturalism.«55 Die Regierungseliten sprechen der chinesischen Bevölkerung die größten ›kulturellen Fertigkeiten‹ zur Bewältigung sozialer und ökonomischer Aufgaben zu56 und legitimieren die chinesische Vorrangstellung mit der ökonomischen Entwicklung. Die singapurische Regierung hat für die Aufrechterhaltung der sozialen und ökonomischen Standards eine besondere Strategie entwickelt. Sie schafft Anreize für sogenannte foreign talents, das heißt für Menschen aus dem Ausland, die gemessen an Schulnoten und dem Quotienten als intelligent angesehen werden.57 Nach diesen Kriterien wurde auch Alice Lam von der singapurischen Regierung als foreign talent klassifiziert und ihr Umzug in den Stadtstaat durch bildungsspezifische Anreize wie ein Stipendium ermöglicht:
53 | Ann Brooks: Gendered Work in Asian Cities. Burlington 2006, S. 1. 54 | Chong: Modernization Trends, S. 47. 55 | Daniel P. S. Goh/Philip Holden: Introduction. Postcoloniality, Race and Multiculturalism. In: Daniel P. S. Goh et al. (Hg.): Race and Multiculturalism in Malaysia and Singapore. London 2009, S. 1-16, hier S. 10. 56 | Daniel P. S. Goh: Conclusion. Toward a Critical Multiculturalism. In: Goh et al. (Hg.): Race and Multiculturalism, S. 213-218, hier S. 215. 57 | Brenda S. A. Yeoh/Shirlena Huang/Katie Willis: Global Cities, Transnational Flows and Gender Dimensions. Tijdschrift voor economische en sociale Geografie, 91, 2, 2000, S. 147-158, hier S. 150f.
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Alices Vater: »[…] [A]nother attractive point why students go down to Singapore [is the following]: Because down there in Singapore they are, they pay […]. So if you understand Singapore education system, this is how they attract the regional students. You can see why the students go to Singapore. Because is less burden to their parents in terms of financially-wise.« (13.06.2009)
In der Konsequenz dieser Politik graduieren insgesamt gut drei Mal mehr Nicht-Singapurer_innen an singapurischen Universitäten als singapurische Staatsbürger_innen selbst.58 Die foreign talents werden angeworben, indem die singapurischen Schulen Schüler_innen aus anderen südostasiatischen Ländern Regierungsstipendien ab einem Alter von dreizehn Jahren anbieten. Wer nicht in der Schulzeit nach Singapur kommt, hat die Chance, später für eine der drei Universitäten National University of Singapore (NUS), Nanyang Technological University (NTU) und Singapore Management University (SMU) ein Stipendium des ASEAN-59 oder des a-star-Programms zu bekommen. Auch diese Stipendien werden von der Regierung finanziert. Die Schüler_innen und Studierenden werden für die Stipendien im Gegenzug von der Regierung dazu verpflichtet, nach ihrem Bildungsabschluss für das Land zu arbeiten. Die als ›intelligent‹ eingestuften jungen Menschen sollen möglichst lange im Land bleiben, um den staatlich gewünschten Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten. Unmittelbar nach Studienabschluss wird den graduierten Stipendiat_innen deshalb der Status der Permanent Residency (PR) angeboten, an den bestimmte Vorteile geknüpft sind, wie mir Alice erklärte: Alice: »[T]here is still a lot of questions, whether I can apply for permanent residence here. I like to because it’s much more convenient for me, because for us starting in Singapore, once we finished our undergraduate degree, they just invite us for permanent residency. So I need to be graduated and I have to find a job. So now, since I’m graduated I’m eligible for the residency but I haven’t found a job yet. So it depends on whether they count a PhD as a job or not. Ya, it would be really much more convenient for me as a PR [Permanent Resident] here, for example when I apply for phone line deposit. Ya, and like apply for a housing. Ya, it would be 58 | Singapore Department of Statistics: Census of Population 2000 – Advance Data Release 2000, S. 19. 59 | ›ASEAN‹ ist die Abkürzung für die Association of Southeastasian Nations.
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much more easier for me with the permanent residency, since I’m staying here for the next four years!« (15.12. 2008)
Seit 1990 gibt es entsprechend dieser komplexen Strategien verstärkte Bewegungen von Schüler_innen und Studierenden nach Singapur als »oasis of talent«.60 Der singapurische Bildungsbereich ist nicht nur mit der Wirtschaft und mit der Ethnizitätspolitik verwoben, sondern auch mit Geschlechterpolitik. Die seit vierzig Jahren florierende Wirtschaft kann ohne weibliche Arbeitskräfte nicht bestehen. Frauen sind deshalb aufgerufen, zur ökonomischen Entwicklung beizutragen. Für eine hohe Leistungsabgabe sollen sie vor allem als gebildete Frauen partizipieren.61 Mittlerweile ist Singapur das Land mit dem höchsten Anteil an Akademikerinnen und fachlich ausgebildetem weiblichen Personal in Südostasien – gemeinsam mit Hong Kong sogar in ganz Asien.62 Gemäß der Geschlechter- und Ethnizitätspolitik zielt die Rekrutierung der foreign talents besonders auf chinesische Frauen, sodass studierende Chinesinnen wie Alice Lam statistisch gesehen mittlerweile sowohl geschlechter- als auch ethnizitätsbezogen die größte Gruppe ausmachen.63 Die strukturellen Praktiken in Singapur sind für Alice Lam als Chinesisch-Malaysierin attraktiv, während die strukturellen Praktiken in Malaysia den Chinesisch-Malaysier_innen bildungsbezogene Möglichkeiten verwehren.
60 | Huang/Yeoh/Willis: Global Cities, S. 151. 61 | Constance Singam: Introduction. The Singapore Woman and her Roles. In: Audrey Chin/Constance Singam (Hg.): Singapore Women Re-Presented. Singapur 2004, S. 11-17, hier S. 16. 62 | Maila Stivens: Foreword. In: Brooks: Gendered Work. Burlington 2006, S. ix-xi, hier S. ix. 63 | 2010 studierten in Singapur 39.242 Frauen, im Gegensatz zu 31.144 Männern. Von den studierenden Frauen gehörten mit 33.260 84,8 % der chinesischen Bevölkerungsgruppe, im Gegensatz zu 6 % der malaiischen und 7,2 % der indischen Bevölkerungsgruppe (vgl. Singapore Department of Statistics, Census of Population 2010 – Statistical Release 1, S. 89ff., www.singstat.gov.sg/pubn/popn/C2010sr1/ cop2010sr1.pdf [Stand: 28.02.2012]).
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G ESCHLECHT UND B ILDUNGSMIGR ATION — ANALY TISCHE K ONSEQUENZEN Ziel dieses Aufsatzes war es, die lokalen gesellschaftlichen Phänomene, die zu geschlechtlich codierter Bildungsmigration junger Frauen aus Malaysia nach Singapur führen, in ihrer Komplexität zu skizzieren. Dafür wurde das Analysemodell Gendered Geographies of Power herangezogen. Die konkrete Anwendung auf den Fall der chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantin Alice Lam hat gezeigt, dass mit den Elementen geographic scales, social location und agency/power geometry, die das Modell von Gendered Geographies of Power konstituieren, geschlechtlich normierte familienbiografische Entscheidungen für den Bildungsmigrationsweg herausgearbeitet werden können. Ebenso kann mit dem Modell erfasst werden, auf welche Art und Weise die Zugehörigkeit zur chinesischen Bevölkerungsgruppe Möglichkeiten oder Behinderungen im malaysischen und singapurischen Bildungssystem zur Folge haben. Die Anwendung von Gendered Geographies of Power hat allerdings auch Defizite des Modells aufgezeigt. Wie genau und mit welcher Systematik die Bildungssysteme bezüglich In- und Exklusionen aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit organisiert sind und welche strukturellen Dynamiken diese Praktiken für eine Bildungsmigrantin auslösen können, kann mit dem Modell von Mahler und Pessar nicht erfasst werden. Am Beispiel von Alice Lam wurde dargelegt, welche Relevanz strukturelle Praktiken haben und dass das Modell von Mahler und Pessar erweitert werden muss, um Aspekte geschlechtsspezifischer Bildungsmigration analysieren zu können. Abschließend fasse ich die Dimensionen zusammen, die für die Analyse von geschlechtlich codierter Bildungsmigration malaysischer Frauen nach Singapur relevant sind: Erstens sind gesellschaftliche Regelsysteme in Bezug auf Geschlechterhierarchien zu betrachten. Diese können in familiären Geschlechterkonstellationen zum Beispiel dahingehend wirken, wer die Möglichkeit zur Migration erhält. Zweitens muss die Positionierung einzelner Subjekte innerhalb von Differenzsystemen in den Blick gerückt werden. Die gesellschaftlichen Positionierungen beeinflussen drittens, inwieweit das Subjekt Handlungsmöglichkeiten bezüglich Ressourcen und Mobilität in transnationalen Räumen entwickeln kann. Viertens sind institutionelle Praktiken zu analysieren, die Ein- und Ausschlüsse auf Grundlage der sozialen Positionierungen des Subjekts produzieren und in der Konsequenz Migrationswege ermöglichen oder behindern.
Queer Urban Spaces in New Delhi Negotiating Femininity, Masculinity and Thirdness from a kothi perspective Janina Geist
Based on the ethnographic data of kothi-identified Sandy and h/er1 »life world«2, I will concentrate in this article upon two issues: first, on the performance of gender and gender roles; and second, on hierarchies visible in different queer spaces in New Delhi, India.3 For this inquiry, I pose the following questions: Which spatial practices of belonging and ›place claiming‹ do the actors in the various different spaces experience and how are these practices acted out? How do these actors position themselves in processes of demarcation in contrast to other queer individuals such as gay men? I will explore what constitutes as a ›queer space‹ and how these queer spaces impact on their social actors. Particularly in regard to the enabling of gender performance and queerness, I will examine which possibilities they offer in comparison to non-queer spaces. In which ways are these spatial experi1 | In India, people identifying as kothis display a culturally specific effeminate male identity characterized by gender nonconformity. They tend to adopt feminine associated clothes, gestures and behaviour. Kothis refer to themselves by choice mostly in feminine gender pronouns. However, in order to indicate kothis‹ switching gender practices, I am using the pronouns ›h/erself‹, ›h/er‹, and ›s/he‹ in this paper. 2 | The concept of »life world« following Honer (1993) encompasses the perspective with which people who are subjects of anthropological research perceive the fragments of the social world relevant for them (cf. Anne Honer: Lebensweltliche Ethnographie: ein explorativ-interpretativer Forschungsansatz am Beispiel von Heimwerker-Wissen. Wiesbaden 1993). 3 | In the remaining article, ›New Delhi‹ will be abbreviated to ›Delhi‹.
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ences negotiated and narrated by the individual actors? In the first part of the article, I will sketch out my theoretical framework on gender and space before conceptualizing what ›queer‹ and ›queer spaces‹ entail in an Indian context. By providing an insight on the negotiation of gender by queer actors – including gender transgressive practices – based on ethnographic data, the second part of the article discusses their experiences in selected examples of public, private, commercialized and community spaces in New Delhi and sheds light on dynamics of gendered and spatial practices.
F ROM THEORIES ON GENDER AND SPACE TO › GENDERSCAPES ‹ This article is based on an intersectional understanding of space and gender influenced by contemporary postcolonial, poststructuralist and transnational anthropological debates following the ›spatial turn‹ in the social sciences and humanities which led to a critical reconceptualization of space.4 Transnational anthropology examines cultural differences beyond the notion of fixed affiliations or territories and thus allows processual perspectives on spaces or identities as fluid, relational and constructed. It meanwhile has become common sense to expand the anthropological focus beyond the merely local to examine transnational linkages, flows and contestations of global discourses as well. Because of interconnectedness as a characteristic of today’s globalized world, the common understanding of space as a merely geographical or a physical entity effectively loses its meaning: long distances can be overcome with less effort, boundaries seem to lose their importance and translocal/national networks of »imagined communities«5 are emerging and create global discourses.6 Boundaries and spaces have, however, not become redundant, but rath4 | See for example: Ulf Hannerz: Transnational Connections: Culture, People, Places. London/New York et al. 1996; Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis 1996; Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London/New York et al. 1994; Edward W. Soja: Postmodern Geographies – The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London 1989. 5 | Cf. Benedict R. Anderson: Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London 1983. 6 | See for example: Peter Bräunlein/Andrea Lauser (eds.): Ethnologie der Migration. Bremen 1997; Brigitta Hauser-Schäublin/Ulrich Braukämper (eds.): Eth-
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er changed their appearances or are reproduced along new demarcation lines. As Gupta and Ferguson furthermore state, a concept of space is needed that accounts for the asymmetrical power relations that unfold on a local, transnational or global level.7 In this context, spaces are conceptualized as socially and culturally constructed. A relational spatial perspective thus allows to reconsider the relation of structure and action. A space is generated through actions of individuals while at the same time impacting on them, meaning that the structural framing of the action is itself formed by actions. While a ›place‹ denotes a specifically identifiable site, a ›space‹ is produced by the actions of individuals enabling actors to determine ›place-making‹ strategies of belonging within various spatial spheres.8 As perspectival constructs of what Appadurai refers to as ›imagined worlds‹, he describes five dimensions of current global cultural flows as ›scapes‹, such as mediascape, financescape, ideoscape, ethnoscape and technoscape. The suffix ›scape‹ refers to the dynamism of global flows across hitherto impassable boundaries. Today’s world is determined by a tension between sameness and difference as the core of cultural processes.9 Moreover, entangled »in-between-spaces«10 such as the cyberspace can be characterized as arenas where – due to the inherent flexibility – alternative opportunities are provided to actors such as Indian queers to design or negotiate non-mainstream gender identities or sexualities.11 Just as space is understood as constructed by practices of individuals, the same can be said of gender. Judith Butler provides tremendous insights on the discourses of power and gender and has been highly influential on current academic scholarship on these issues, for example by introducing the concept of ›performativity‹. Performativity describes and nologie der Globalisierung. Perspektiven kultureller Verflechtungen. Berlin 2002; Hannerz: Transnational Connections. 7 | Cf. Akhil Gupta/James Ferguson (eds.): Culture, Power, Place: Explorations in Critical Anthropology. Durham, NC 1997. 8 | Cf. Doreen Massey: For Space. London et al. 2005. 9 | Cf. Appadurai: Modernity at Large, 1996. 10 | Cf. Homi K. Bhabha: Culture’s in-Between. In: Stuart Hall/Paul Du Gay (eds.): Questions of Cultural Identity. London 1996, p. 53-60. 11 | Cf. Rahul Mitra/Radhika Gajjala: Queer Blogging in Indian Digital Diasporas: A Dialogic Encounter. In: Journal of Communication Inquiry, 32, 4, 2008, p. 400-423.
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understands gender as an act. Gender is produced and realized via the repetition of acts in the unreachable pursuit of achieving gendered ideals which are expressed and implied through discursive norms. According to Butler, gender is always performative, and socially, culturally and linguistically constituted. As such, she shows how our gendered social expectations actually become embodied, e.g. incorporated into our habits or body parts; therefore social construction encompasses both gender and sex. In other words, bodies that are considered to be naturally male and female are in part due to the social environments. Social roles as well as bodies are thus not natural but societal imagined, normalized, created, shaped and evaluated.12 Faced with different cultures, anthropologists have stated the existence of multiple gender models, of many different ways of negotiating the roles and relations between male and female and individuals who are categorized by their own choice or by society as neither men or woman but in varying categories of a third gender/sex. Furthermore, various anthropological research has demonstrated how societies construct ›man‹ and ›woman‹ differently, assigning to each status, assets and power in a distinctive manner.13 Empirical research within a specific society shows best that what is framed as specifically masculine or feminine or ›third‹ is depending on the context. As globalization picked up speed throughout the 1990s, further works on spatial concepts clarified neglected aspects of gender relations under patriarchal frameworks. Maria do Mar Castro Varela and Nikita Dhawan 12 | Cf.: Judith Butler: Bodies that Matter: On the Discursive Limits of Sex. New York 1993; Judith Butler: Gender trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990. 13 | On ›third‹ gender/sex see for example: Gilbert Herdt (ed.): Third Sex, Third Gender. Beyond Sexual Dimorphism in Culture and History. New York 1994; Serena Nanda: Neither Man nor Woman. The Hijras of India. Belmont 1990; Tom Boellstorff: Playing Back the Nation: Waria, Indonesian Transvestites. In: Cultural Anthropology, 19, 2, 2004, p. 159-195; Evelyn Blackwood/Abha Bhaiya/Saskia Wieringa (eds.): Women’s Sexualities and Masculinities in A Globalizing Asia. New York 2007; Mark Johnson: Beauty and Power: Transgendering and Cultural Transformation in the Southern Philippines. Oxford 1997. On negotiation of gender and gender roles, see for example: Sherry B. Ortner: Making Gender: The Politics and Erotics of Culture. Boston 1997; Radhika Chopra/Caroline Osella/Filippo Osella: South Asian Masculinities. Context of Change, Sites of Continuity. New Delhi 2004.
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argue that, while many postcolonial thinkers emphasize power asymmetries as well as spatial aspects in their theories, it is notable that dynamics of power and gender and space are very often neglected in postcolonial studies.14 Particularly, Doreen Massey in her seminal work on dynamics of space, place and gender adds to academic discourse by describing how spaces are structured, organized and imagined in a gender specific way.15 Drawing on this kind of understanding, I also argue for the necessity of viewing concepts of space and gender/sexuality in relation to each other. The combination of the concepts is pivotal in order to grasp »[…] particular locales that cultures invest with gendered meanings, sites in which sex-differentiated practices occur, or settings that are used strategically to inform identity and produce and reproduce asymmetrical gender relations of power and authority«.16 Adopting Appadurai’s concept of ›scapes‹ as a larger theoretical framework and drawing from Shahani and Krishna,17 I will use the concept of ›genderscape‹ to comprehend the imagined worlds of various heterogeneous queer spaces in Delhi and to assert to the allocation of gender and sexuality forms in fields of asymmetrical power.18 Because of their frictions, overlaps and disjunctures, application of ›scapes‹ will help to mark the countless linkages viable that make up the socio-political worlds of queer individuals in Delhi which stretch into online and offline
14 | Cf. Maria Do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2005. 15 | See for example: Doreen Massey: Space, Place and Gender. Cambridge 1994. 16 | Cf. Setha M. Low/Denise Lawrence- Zúñiga: Locating Culture. In: Setha M. Low/Denise Lawrence- Zúñiga (eds.): The Anthropology of Space and Place: Locating Culture. Malden 2005, p. 7. 17 | Cf. Parmesh Shahani: Gay Bombay. Globalization, Love and (Be)longing in Contemporary India. Los Angeles/London et al. 2008. Sumi Krishna: Genderscapes. Deepening Our Understanding of Gender-Environment Linkages. In: Raka Ray (ed.): Handbook of Gender. New Delhi 2012, p. 494-518. 18 | ›Gender‹ and ›sexuality‹ are theoretically distinct categories; I want to stress, however, that both are intersectionally connected in every day life practices and subject positions of kothi actors. The focus on ›genderscapes‹ thus implies also negotiations around sexuality by actors in these spaces.
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contexts.19 Krishna argues that her concept of ›genderscape‹ encompasses intersectional dynamics of gender, age, place, religion, class and caste. The gender aspect of space cannot easily be measured and mapped, because it is characterized by people’s perceptions and not by physical boundaries. In her relational understanding of space, Krishna demarcates herself from notions of ›container space‹ by stressing that »[…] spaces are not gendered in simple binary terms of inside/outside, private/public, but in complex ways that reflect the social organizations of difference«.20
Q UEER IN I NDIA? In India, the umbrella term ›queer‹ encompasses many different kinds of heterogeneous subgroups, communities and individuals, which are not conform to the heteronormative standard of Indian society,21 such as: lesbians, gays, bisexuals, transgender, transsexuals, hijras and kothis. Kothis 19 | Although a thorough examination of online and offline queer spaces is part of my current dissertation research, the scope of this article only allows to focus on urban offline queer spaces. 20 | Cf. Krishna: Genderscapes, p. 507. 21 | It should be noted that both ›queer‹ and ›community‹ are contested concepts. An adequate discussion is beyond the scope of this article. Drawing from Anderson’s (1983) concept of »imagined community«, I understand community as a concept which is created by the shared imagination of its members. However, so far one cannot speak of an Indian ›queer community‹ which exists for all different subgroups and individuals in Delhi in the same way. Rather, each subgroup usually interacts socially among itself and interaction happens mostly among groups of similar class and socio-economic backgrounds. Nevertheless, particular in regard to socio-political queer events, a shared notion of being part of a larger non-heteronormative ›queer community‹ exists. The use of ›queer‹ is usually taken to mean three things: ›queer‹ as an identity that is similar to, or that goes beyond, those included in the LGBT acronym (covering lesbian, gay, bisexual and trans people); ›queer‹ as a qualifier for a post-structural, post-modern, interdisciplinary and theoretical current leaning on queer theory; and ›queer‹ in a political sense, which can be both a noun or a qualifier, as in queer politics. This understanding of ›queer‹ is also widely used in current academic scholarship on same-sex sexualities in India. Both ›queer‹ and ›community‹ are categories used in an emic way by my interlocutors during fieldwork.
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have a culturally specific effeminate male identity and are characterized by gender nonconformity. Though they are culturally understood as born male, they adopt – depending on the context – a feminine way to dress, gestures and behavior. Thus, framing kothis as »behavioral non-men«,22 ›kothi‹ came to refer to born males who act or identify in some way as ›women‹ or in any effeminate manner, who repeatedly enact a desire to be penetrated by a ›real‹ man. Kothis are looking for strongly male-identified sexual partners and are situated mostly in non-English speaking, middle to low socio-economic backgrounds.23 Drawing from Reddy’s argumentation on hijra identity practices, stating that albeit central axes of sexual and gender identity are constituted around acts of penetration in sexual intercourse and performances of ›women’s work‹, I also argue that kothis should similarly not be viewed just as a sexual or gendered category.24 Further subcategories of queerness, such as ftm and mtf,25 MSM26, top, bottom and versatile27 and others, can be relevant for the attribution of an identity or sexual preference since for example not all males who have sex with males identify as gay. It is noteworthy that these categories are flexible and cannot to be understood in absolute terms. They often incorporate multiple meanings and are appropriated in culturally specific ways. Issues surrounding sexuality generally, but particularly non-normative gender/sexuality expressions, have largely not been given any space to be discussed in public Indian discourse, and were largely invisibilized.28 22 | Cf. Gayatri Reddy: With Respect to Sex. Negotiating Hijra Identity in South India. New Delhi 2006. 23 | Cf. Arvind Narrain/Gautam Bhan (eds.): Because I have a Voice. Queer Politics in India. New Delhi 2005. 24 | Cf. Reddy: With Respect to Sex. 25 | ›Ftm‹: female-to-male transgender & transsexual, ›mtf‹: male-to-female transgender & transsexual. 26 | Males who have sex with males. 27 | ›Top‹, ›bottom‹ or ›versatile‹ are markers referring to sexual positions during sex. Identifying as ›top‹ or ›bottom‹ often correlates with either stereotypical masculine or feminine gender roles. Within kothi social spaces, versatile-oriented individuals are condemned and discriminated against. 28 | Cf. Mary E. John/Janaki Nair: Introduction: A Question of Silence? The Sexual Economies of Modern India. In: Mary E. John/Janaki Nair (eds.): A Question of Silence? The Sexual Economies of Modern India. New Delhi 1998, p. 1-54.
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Until recently discussions on issues of sexuality were strictly linked to issues of gender mostly focusing on women, reproductive health and sexual violence.29 This kind of orientation correlates with larger societal assumptions of heterosexuality as the norm, and the equation of biological born males with masculinity and biological born females with femininity leading to othering, discrimination and non-acceptance for people outside this heteronormative, patriarchal structure.30 Drawing on Rich’s framework of ›compulsory heterosexuality‹, Nivedita Menon argues for the existence of ›compulsory heterosexuality‹ in the Indian context forcing people to conform to heteronormativity.31 ›Heteronormativity‹ can be described as the naturalization and normalization of heterosexual unions and the man/woman binary. It usually involves the acknowledgment that these processes intersect with other normative systems, for example class and race. Menon urges us to recognize that ›normal‹ heterosexuality supports a social system that keeps race, class and gender hierarchies in place.32 However, recent public debates around issues of sex, sexuality and sexual orientations, including litigations and public campaigns for the decriminalization of sex work and same-sex sexual acts, have challenged conventional notions of heteronormative social arrangements in India. Especially the media and television have dislocated sexual and erotic desire from the conventional locations of monogamy, marriage and family.33 Ghosh states,
29 | Differentiated public discussions in India on rape and sexual violence have been limited due to the general taboo of talking about issues of sexuality in public. 30 | Cf. Jaya Sharma/Dipika Nath: Through the Prism of Intersectionality: Same Sex Sexualites in India. In: Geetanjali Misra/Radhika Chandiramani (eds.): Sexuality, Gender and Rights: Exploring Theory and Practice in South and South East Asia. New Delhi 2005, p. 82-97. 31 | Cf. Adrienne Rich: Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence. In: Signs, 5, 4, Summer 1980, p. 631-660; Nivedita Menon: How Natural is Normal? Feminism and Compulsory Heterosexuality. In: Bhan/Narrain (eds.): Because I have a Voice, p. 33-39. 32 | Cf. Nivedita Menon: Outing Heteronormativity: Nation, Citizen, Feminist Disruptions. In: Nivedita Menon (ed.): Sexualities. New Delhi 2007, p. 3-51. 33 | Cf. Shohini Ghosh: Forbidden Love and Passionate Denials: A Dialogue on Domesticities and Queer Intimacy. In: Raka Ray (ed.): Handbook of Gender. New Delhi 2012, p. 428-452.
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»that one of the greatest anxieties of contemporary times is the fear of the queer triggered by the many assaults on heteronormativity«.34
Q UEER URBAN SPACES — Q UEERING URBAN SPACES 35 1989 saw the transformation of India’s ›Nehruvian Consensus‹ of a modern, secular nation with a self-reliant economy to a rapid global integration post the 1990s. Urban space began to emerge as a site of struggle and assertion of ›counter-heteronormativity‹.36 Dubey (2005) shows how five different new kinds of spaces arose during the 1990s, which enabled an explosion of sexual desires in Delhi. The spread of the automobile permitted a mobile but intimate, private space of bodily contact. Cellular phones as well as thirdly audio-visual media and the Internet allowed individuals easier direct communication. As fourth space he identifies the emergence of pubs, discotheques and multiplexes as areas of consumption and unleashing of desires. The market and consumer revolution marks the fifth new space.37 These aspects as well as the fact that Delhi is a city with high amounts of migrants led to an atmosphere of freedom from traditional roles including new possibilities to talk more openly about sex and sexuality or to question dominant heteronormativity.38 The urban setting of Delhi offers queer people a framework to act out their same-sex desires and intimate relationships. Urbanization has socially led to an increase in individuality and privacy. Due to aspects of accessibility, anonymity and infrastructure, Indian queer spaces and groups are more visible in urban spac-
34 | Ibid., p. 434. 35 | ›Queering‹ refers to the process of conquering, creating and (re)claiming spaces for queer purposes. 36 | Cf. Nivedita Menon/Aditya Nigam: Power and Contestation. India since 1989. Hyderabad 2008, p. 128-129. 37 | Cf. Abhay Kumar Dubey: Footpath par Kaamsutra – Nayee Sexy Dilli. In: Sarai-CSDS (ed.): Deewan-e-Sarai 02. New Delhi 2005, p. 115-139. 38 | Cf. Menon/Nigam: Power and Contestation, p. 92.
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es.39 The (temporary) reading down of Section 37740 of the Indian Penal Code in 2009 by Delhi High Court has further contributed in ›queering‹ – creating, claiming and appropriating – of more private, public and commercialized queer spaces. ›Queer urban spaces‹ in Delhi can be framed as a loose conglomeration of sites which constitute a highly heterogeneous field of interaction for queer individuals. Some are less visible than others, some more accessible than others, some subgroup-specific or gender-specific and some in public, in private or in commercialized settings. Drawing on Oswin, I envision ›queer spaces‹ as spaces either occupied by self-identified queers, or by those who defy power and heteronormativity, for example due to their non-conforming gender expression, sexual orientation or choice of living.41 To qualify spaces as ›queer‹ means more than to suggest that ›queer people‹ hang out there. However, it is noteworthy that such an understanding was emphasized by many of my interlocutors as a partial definition of queer spaces. Networks of queer spaces and queer actors in Delhi are to a certain degree connected and overlapping but also highly segmented. The majority of queer spaces do not exist, but have to 39 | Cf. Shivananda Khan: Culture, Sexualities, and Identities: Men Who Have Sex with Men in India. In: Gerard Sullivan/Peter A. Jackson (eds.): Gay and Lesbian Asia. Culture, Identity, Community. New York 2001, p. 99-116. 40 | Section 377 was introduced by the British colonial government in 1860 and states: »Whoever voluntarily has carnal intercourse against the order of nature with any man, woman or animal, shall be punished with imprisonment for life, or with imprisonment of either description for a term which may extend to ten years, and shall also be liable to fine. Explanation. Penetration is sufficient to constitute the carnal intercourse necessary to the offence described in this section.« (Cf. Suparna Bhaskaran: The Politics of Penetration: Section 377 of the Indian Penal Code. In: Ruth Vanita [ed.]: Queering India. Same-Sex Love and Eroticism in Indian Culture and Society. New York 2002, p. 15) Any kind of non-reproductive sexuality was thus declared as ›unnatural‹. Section 377 was routinely and often is still used by authorities to harass and discriminate against queer people. While Delhi High Court decriminalized same-sex acts of consensual adults in private in 2009, in December 2013 the Indian Supreme Court overturned the Delhi High Court judgement and declared same-sex sexual activities illegal again. 41 | Cf. Natalie Oswin: Critical Geographies and the Uses of Sexuality: Deconstructing Queer Space. In: Progressive Human Geography, 32, 1, February 2008, p. 89-103.
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be understood as contested spaces within a larger heteronormative societal structure. These spaces have to be created, fought for and maintained by individual actors through processes of ›queering‹ them. Therefore, queer spaces are often temporary, fleeting spaces that are prone to change or are at risk to stop existing. The loss of queer spaces, particularly in the case of support group spaces, often impacts tremendously on individual queer actors and subgroups; but it is often accompanied by the creation of new spaces, if financial or personnel resources allow it. The usage and accessibility of urban spaces varies for different queer subgroups. Depending on the specific queer spaces, ›othering‹ via demarcations of class, language, gender or sexual orientation happens. By that, the accessibility of the actors in these spaces and their sense of attachment and belonging to them are restricted. In the following paragraphs, I will introduce a few selected queer spaces in more detail, which, based on the empirical narrative of kothi Sandy are important loci of h/er interactions.
C OMMUNIT Y AND PRIVATE SPACE (S): S ITES OF COMPE TITION , CAMAR ADERIE AND SUPPORT I met Sandy in the Milan Center, a drop-in community center for MSM, mtf-transgender, gays, kothis and hijras, which is situated in an affluent middle-class residential area of Lajpat Nagar. The private-funded Naz Foundation42 runs it, aiming to provide a safe community space. Located close to the nearby metro station Lajpat Nagar, several bus stands and an important shopping market, it can be accessed easily by those seeking guidance, support and friendships. After going down a steep, narrow staircase I find myself in a huge basement room with a kitchen on the left side, a big round table in the middle of the room and some couches in the right corner. Next to the right wall is a table with information material on HIV/Aids and safer sex as well as current media coverage on queer topics. Newspaper clippings from the recent Queer Pride Parade in Delhi are 42 | Naz Foundation (India) Trust, a New Delhi based NGO, was founded in 1994 by Anjali Gopalan and is working on HIV/Aids and sexual health. It also focuses on issues of MSM with their Milan programme. The Hindi word naz means ›pride‹. Due to internal issues Naz Foundation discontinued the Milan Project in 2012. Its future remains uncertain.
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dominating the board. Straight ahead are two small office rooms, one for the once-a-week visiting physician and the Milan Center staff who are doing counseling work via phone and in personal sessions. The second room is the office of the coordinator of the project. Via a small staircase from the large entrance room there is an additional sub-space with lots of cushions on the floor and a big TV and DVDs. It is down here on meetings that loud music is played and dance competitions are held. During the weekly ›Humjoli‹ Wednesdays drop-in support group meetings from 2 to 6 pm, the community space is transformed into a beauty salon and make-upparlor, dance stage and catwalk. The people attending predominately have a lower middle class or working class background. The majority of these drop-ins live somewhere in the South Delhi area, whereas other drop-ins from East, North or West Delhi travel long hours by metro or rickshaw to attend these meetings. During the social meetings and get-togethers in the Milan Center, conversations, mainly in Hindi or Farsi, range from fashion, gossiping, make-up advice to experiences about discrimination, about partnerships or, if engaged in sex work, about customers. It was in Milan Center on a ›Humjoli‹ meeting in December 2011 when I got introduced to Sandy. I had observed h/er for a while that day: S/he had been dancing competitively with other kothis and transgenders to boisterous Bollywood classics to win the crowd’s favor, and had outdone the others by receiving the loudest cheers and claps. When we start speaking h/er face is flushed, h/er eye make-up runny and h/er lipstick a bit worn off. S/he instantly speaks English with me and is quite confident about h/er comprehension of it. »You know, didi [sister], unlike the other ones here, I really do come from a higher middle class family. My father was a successful businessman, my mom is a homemaker and my sister works for an embassy and we never lacked anything much. Because of my good English and educational background, I found a good job in an American BPO,43 a call center, in Gurgaon44 and earn much better than my friends here. Although I belong to a slightly higher class than most people here, I like coming here and see my friends. I have been coming here for almost 43 | BPO stands for ›business process outsourcing‹ and refers to the method of subcontracting various business-related operations to a third party. 44 | Gurgaon is the second largest city in the state Haryana and located only 30 km south of Delhi. As a satellite city of Delhi it can be regarded as a suburb and is connected to it via motorways and Delhi metro.
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ten years. The Center is so important to me, it gave me my sense of identity and it is the place where I can safely be who I really am.«45 Sandy, who is thirty years old, wears h/er dyed hair short due to social expectations in h/er job and family and full make-up only in spaces where s/he feels safe like in the Milan Center or at a friend’s place. Kothis transform themselves by gender transgressive practices into what they refer to as their ›true identity‹, as several kothi interlocutors have emphasized. Sandy grew up in Delhi and lives with h/er family in an apartment in South Delhi. Whenever s/he is at home s/he performs h/er social duties as ›son and brother‹. Meeting in a safe and secret space to live out their kothi identities and be with other kothi friends is in stark contrast to kothis‹ roles as husbands or sons in their family environment. In the center, kothis compete with each other over status and who is the most beautiful aurat jaisa (›woman-like‹). They transform themselves by choice into desirable sexual and gendered subjects and emphasize their sexual desirability in competition to other kothis leading to a gender performance mimicking feminine mannerism and gestures. However, at the same time, they show each other camaraderie and support. Kothis construct for themselves an imagined ideal of certain traits of femininity and what it means for them to be or behave ›like a woman‹. Besides the performance of gender, competitive notions to create a desirable effeminate body prevail within the kothi community. One’s status highly depends on one’s alignment of being and ›doing‹ kothi. Kothi communities are very heterogeneous, non-heteronormative subgroups where gradual shifts in gender transgression are taking place. While for some full cross-dressing, including the insertion of fake breast inlays and feminine clothes are a necessity, others are rather discreet by just wearing clear nail polish, skin-tight jeans and tight feminine tops. Kothis competitively imagine themselves through the narrative of ›being the better woman‹ since they, as culturally understood born males, claim to be aware of what and in which way ›men‹ desire sexually. This is further demonstrated by the competition for panthis.46 The notion of penetration 45 | All ethnographic material quoted in the article is based on data accumulated during fieldwork by participant observation, interviewing and casual talks. Pseudonyms are used to protect the identity of interlocutors. 46 | ›Panthi‹ is a label given by kothis to heterosexual-identified men who engage in penetrative same-sex behavior with kothis, hijras and other mtf-transgender or MSMs.
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plays a pivotal part in the construction of masculinity. A male person penetrating another person is considered male and heterosexual, while the penetrated partner – whatever gender – is construed as passive and effeminate.47 While a certain dress code and mannerism can be observed within kothi communities, it is important to state, that ›effeminate‹ markers are not fixed. Moreover, feminine pronouns of kinship and chosen feminine names that correspond with one’s kothi identity are used when referring to other »not-behavioral men«.48 Therefore, most kothis have two names: their given male birth name and their chosen female kothi name. Most of them, due to societal and parental obligations and responsibilities, will not go for gender transitional surgeries and perform certain masculine gender roles according to context. As mentioned, kothis select certain culturally constructed notions of stereotypical femininity, for example by doing ›women’s work‹ and submitting themselves to notions of feminine beauty discourses in a culture-specific context: the ideal of being fair, skinny, doing housework, dancing, stitching, tailoring, crafting as well as wearing feminine connoted physical markers such as earrings, (dyed) middle-long to long hair, nail polish, bangles or make-up. Leaning on Connell and Messerschmidt’s concepts of »hegemonic masculinity« and »emphasized femininity«,49 I want to argue that observing kothi gender performance in the Milan Center indicates that these exhibited feminine traits are hegemonic and are identified by kothis as »true version« of Indian femininity. At first glance, these selected feminine traits seem to draw on an ideal of ›emphasized feminity‹, which supports heteronormativity and normative gender relations. However, through their practices of blurring the boundaries between genders by being able to switch between masculine and feminine gender roles and expectations, kothis simultaneously support as well as subvert the existing normative rules. A couple of days after our first meeting, Sandy invites a friend and me to h/er house for dinner and later to a Saturday night kothi party. »Let’s have a girl’s night out«, s/he calls out. Sandy instructs us how to behave 47 | Cf. Indrani Chatterjee: Alienation, Intimacy and Gender: Problems for a History of Love in South Asia. In: Vanita (ed.): Queering India, p. 61-76; Maya Sharma: Loving Women: Being Lesbian in Unprivileged India. New Delhi 2006. 48 | Cf. Reddy: With Respect to Sex, p. 74-76. 49 | Cf. Robert W. Connell/James W. Messerschmidt: Hegemonic Masculinity: Rethinking the Concept. In: Gender Society, 19, 2005, p. 829-859.
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around h/er in h/er family setting, by only calling h/er by h/er male birth name and introducing ourselves as work colleagues from Gurgaon. I am amazed by the fact that although Sandy is playing h/er role in the family setting so well, there still seem to be so many indicators of h/er effeminacy and cross-dressing in hindsight. Sandy’s nails on h/er left hand are always painted in bright colors, which s/he keeps hidden and closed to a fist the entire time s/he is at home. S/he tells us about the many times s/he has fought with h/er sister about make-up and how s/he is always enjoying applying make-up for h/er mom and sister. I ask h/er where s/he keeps all the feminine kothi clothes and where s/he washes them. »Here only, in my wardrobe and I give it normally for washing to my mom. She never says anything back to me. Only when they are very angry with me for something, then sometimes, very rarely I have been called a kinnear,50 a hijra by my family. But you know, didi, they love me so much, so they don’t want to say anything bad to me. They normally don’t say it out aloud. And I keep me being kothi away from them.« Sandy has become an important financial provider since h/er parents are both old and not working any more. »I would be nothing without my family, but they are also very grateful to me.« After dinner we leave h/er family house and make a quick stop at one of Sandy’s kothi friend’s home, Anita, who lives nearby. At Anita’s place, Sandy starts transforming h/erself into h/er »true nature«, as s/he stresses, and starts putting on make-up, earrings and bangles and changing her clothes. S/he explains that s/he never brings any kothi friends to h/er paternal house, since s/he doesn’t want to disrespect h/er parents. Anita, who has become a close friend to Sandy, moved to Delhi several years ago while h/er family still remains in h/er hometown in Bihar. Since as a bridal dress designer, Anita is financially independent, h/er house is a space where they can meet and talk uninhibited. Although Sandy tries h/er best to convince h/er otherwise, Anita doesn’t want to join the party that night. S/he is depressed since s/he recently lost h/er boyfriend to marriage51 and does not want to continue seeing him in secrecy. Anita emphasizes that it is quite seldom within the kothi community that individual kothis live in50 | My interlocutors referred to ›kinnear‹ as a derogatorily used term of abuse for a transgendered or transsexual person. 51 | ›To lose someone to marriage‹ is a common phrase by kothis implying that they have lost their partners when these partners get married to a woman in a heteronormative way.
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dependently on their own or with their panthi partners away from their families. Reasons for living on their own are, for example, due to the natal family living in a different location away from the individual person and own financial security by the kothi. »The more financially independent I am, the less I am willing to give in to demands of my family. It does give me more autonomy. At least to a certain degree! I can negotiate with them better because I am the main provider for them. They depend on me for money«, claims Anita. However, in Anita’s case, that doesn’t translate into h/er kothi identity being acknowledged or accepted by h/er family. H/er very conservative middle class family continuously pressures h/er to get married to an appropriate woman of their own jāti52 and class. For a while, s/he has contemplated on marrying a good female friend, who knows about h/er being a kothi and wouldn’t mind that part of h/er identity, as s/ he says, but »it could never possibly work because we both are such divas and both too strong-willed and dominant persons to be in a relationship with each other.« Though Anita doesn’t want to join in for the party, s/he gives in to accompany us to Sangeeta, another kothi friend, before the party and wants to start drinking now. Normally, Anita wouldn’t leave the house without at least a small amount of make-up when visiting another kothi friend, but since s/he is feeling so depressed »she has let herself go«, as Sandy says mockingly: »Look at yourself, you should dress up and make yourself beautiful. You are a kothi!« But Anita refuses and remains in h/ er gym pants. After Sandy h/erself has completed h/er transformation – from grey trousers and a ›manly‹ loose shirt without any make-up to a deep V-neck shirt, tight skirt and high heels with colorful make-up and accessories – we finally leave the house at 11 pm. Sangeeta has been having serious fights and issues with h/er panthi partner for several years. The two of them live together in two very small rooms crammed with things. The apartment is not very tidy and lots of furniture and clothes are all over the place. Both of them have already been drinking quite heavily and the atmosphere is tense. We are greeted by Sangeeta who is wearing very tight clothes, which do not fit h/er well any more since s/he has gained a lot of weight. S/he introduces us to h/er »husband« who is casually dressed in boxers and a tank shirt. Sangeeta performs a role as a »dutiful, obedient wife« to a chauvinistic acting panthi partner who commands h/er around 52 | A distinctive social group, community or caste. Rules of endogamy, ascribed social roles and following a particular occupation are typical markers.
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during our entire stay. Sandy has told us on the way in the car that in her opinion, Sangeeta’s panthi is using Sangeeta for her money. Sangeeta apparently brought some considerable own wealth into the relationship and has shared it with h/er »husband«, which has led to several heated arguments between h/er and h/er kothi sisters as well as h/er and h/er panthi. Another point of discussion between Sangeeta and h/er kothi friends is the fact that s/he is »letting herself go too much« – be it with drinking or with not taking enough care of h/er body and its shape. As mentioned above, within kothi spaces and friendship circles, a specific ideal of beauty, femininity and body shape translates into status and hierarchy. This ideal reiterates on both modern and traditional discourses of conventional constructions of heterosexual femininity. However, while discourses of modern middle class career women impact on gender notions of kothis, it is striking that at large kothis derive their sense of femininity from traditional imagined feminine role models, such as the image of the submissive stay-home wife. The principle of staying young, skinny and beautiful however reaches its limits for kothi actors when looking at many biographies of elderly kothis, some of whom have developed a drug abuse problem over time, often lacking financial stability as well as family or community support as they grow older. This pressure to comply with such principles is reflected upon by younger kothis who emphasize that being kothi is largely about living in the present, while anxieties or negative sentiments about the future and what it might entail are quite common. Kothis are confronted with isolation, loneliness and lack of kothi community support when they grow older and comply less with the paradigm of beauty and youth. Older kothis live predominantely double lives: many of them are heteronormatively married to appease their families. They have to constantly navigate their gender roles between being on the one hand a kothi, being a kothi wife to a panthi, being a kothi friend, sister and daughter; and on the other between being husbands, fathers, brothers, uncles and sons within a heterosexual normative setting. Without the recognition of ›desired true kothi identity‹ in the heteronormative contexts of their lives, acknowledgment of their ›kothiness‹ by other kothi peers is therefore crucial to aging kothi interlocutors. Sandy’s family has met h/er panthi partner, Kirthik, whom s/he refers to either as »husband« or »boyfriend« on several occasions. However, whenever s/he has brought Krithik along to h/er paternal home, s/he has introduced him as accha-sa dost (›good friend‹). Sandy suspects that h/er family realizes that he is indeed more important to her
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than s/he is pretending him to be. They have been in a difficult relationship for over five years, which has changed Sandy quite a bit, as s/he claims: »I used to have so much self-esteem and could do whatever I wanted, but now I don’t like the person I have become. I don’t like how I let myself get treated by my boyfriend. I have become so weak. He doesn’t trust me and is very jealous. Sometimes he calls me a hundred times a night and when I don’t instantly pick up, there will be lots of drama and yelling.« Sandy has received quite a bit of criticism by h/er friends for still remaining with Krithik. They broke off and got back together many times. Sometimes Krithik gets very violent and beats Sandy. Violence experienced within kothi-panthi relationships is a common problem, as Shashi from Naz Foundation explains. Whenever Sandy and h/er boyfriend spend time together, which mostly happens at his flat in Noida, they like to »play house«. »You know, didi, in our relationship I usually take the role of the woman, I will do the cleaning, cooking, washing, shopping and decorating. While Krithik provides for me, he gives me a small amount of his monthly pay for my own spending which I mostly spend on make-up and beauty products.« Krithik doesn’t identify as gay, he identifies himself as a heterosexual mard (›male‹). Mard functions as counterpart to the image of the effeminate kothi or ›bottom‹, referring to an overtly masculine male person, displaying his masculinity in a dominant, often chauvinistic way and being the penetrative person in the sexual act (›the top‹). »While Krithik will admit to me in private that he likes gay sex and that he loves me, he wants me to hide my effeminacy and kothiness when we are with heterosexual friends or in homophobic public contexts. But within private spaces, in kothi homes or support spaces like Milan, he likes me to behave like a woman only. I guess it is difficult for him because his sense of being a man is very traditional. He comes from a very traditional family background.« The alignment to and reproduction of stereotypical gender notions within kothi-panthi relationships are quite widespread. A strong necessity to align oneself in either a traditionally framed masculine or feminine role is regarded as ›normal order of things‹ within the wider kothi community. However, power relations and inequalities cannot be translated one-to-one into a traditional gender role binary. Being a kothi and adapting effeminacy for oneself and one’s body does come along with certain privileges of being born into a male body and having been socialized as a male member of Indian society. This entails also the right to claim these privileges and assert them, even if a kothi-identified person
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performs h/er gender identity in an effeminate way in certain contexts and as such is prone to discrimination. Sandy and other kothi interlocutors told me that assertion of ›thirdness‹ or switching between performing a masculine and feminine gender role allows them a certain degree of freedom in regard to their gender expression, albeit with possible negative societal reactions. For instance, as sons or husbands they are able to assert their rights more than their sisters, wives or other female members of the family.53 Parents will usually allow them to go out on their own, even at night, grant them easier access to means of transportation or deciding matters on their own. In India, the sexuality of women is more restricted and regulated than the sexuality of men, as Sharma states that »[…] Indian culture and society have generally viewed the female body as a site for all kinds of action and reaction, but not as a legitimate site for sexual autonomy or personal agency«.54 Srivastava adds that the ideal norm of respectable female sexuality is generally perceived only in regard to being desexualized reproductive bodies.55 Phadke argues that while »[…] women are expected to demonstrate their respectability […] [they] have to be both sexually desirable and sexually virtuous«.56 Through the societal acknowledged concept of masti (›fun‹, ›play‹) which allows young boys and adolescent men the possibility to express same-sex desires to a certain degree without punishment, male bodies are granted more possibilities to express their same-sex desires than their female counterparts – as long as it is not openly acknowledged.57 Narrain explains that due to India being a 53 | This is notwithstanding that there are also some kothis whose wives know of and appreciate the effeminate character of their husbands and them ›doing women’s work‹ at home in camaraderie (as long as it is not publically acknowledged), as few interlocutors emphasized. 54 | Cf. Sharma: Loving Women, p. 1. 55 | Cf. Sanjay Srivastava: Introduction: Semen, History, Desire, and Theory. In: Sanjay Srivastava (ed.): Sexual Sites, Sexual Attitudes. Sexualities, Masculinities and Culture in South Asia. New Delhi 2004, p. 11-48. 56 | Cf. Shilpa Phadke: Some Notes Towards Understanding the Construction of Middle-class Urban Women’s Sexuality in India. In: Geetanjali Misra/Radhika Chandiramani (eds.): Sexuality, Gender and Rights. Exploring Theory and Practice in South and South East Asia. New Delhi 2005, p. 68. 57 | Cf. Akshay Khanna: Us ›Sexuality Types‹: A Critical Engagement with the Postcoloniality of Sexuality. In: Brinda Bose/Subhabrata Bhattarcharyya (eds.):
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»shame culture«, it is socially more relevant which societal role an individual takes on, while same-sex activities are not per se viewed as morally wrong unless they are not made public.58
P UBLIC AND COMMERCIALIZED SPACE (S): S ITES BE T WEEN PLE ASURE AND DANGER Apart from the described social spaces above, close to the Milan Center are a few public spaces, which are favorite hang-out sites for Sandy and h/er friends, especially after nightfall. Regarding queer public spaces in Delhi it is important to distinguish: temporarily created queer social spaces in public such as queer picnics in parks and queer events in queer-friendly institutions like the Attic or Yodakin, community-run centers as well as cultural institutions such as Max Mueller Bhavan/ Goethe-Institute, Alliance Française or British Council,
so-called public ›cruising‹ spaces in hotspots such as parks, toilets, bus stands and so on. These are used by MSMs, gays, kothis, hijras and trans* people and the social encounters are predominantly fleeting and random. Beyond a mere social space for interaction, they are also characterized by high density of sex work and brief encounters with panthis. As such these sites are prone to police harassment against sex workers and can be characterized as sites of both pleasure and danger. While the former social queer spaces such as queer picnics demand organizational effort like the spreading of information through queer mailing lists, SMS or Facebook by some queer actors, groups or CBOs/NGOs, ›cruising‹ spaces are widely known among MSMs, kothis, mtf-transgender and hijras. Whereas the former spaces are predominately used by middle and upper class queers, public ›cruising‹ sites are frequented mostly by those from lower middle class and working class. Sandy states: »You know didi, I sometimes do random sex work in the cruising spots I frequently The Phobic and the Erotic. The Politics of Sexualities in Contemporary India. Calcutta 2007, p. 163-164. 58 | Cf. Arvind Narrain: Queer. ›Despised Sexuality‹, Law and Social Change. Bangalore 2004, p. 45.
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go to. But I don’t depend on the money, it is not required for sustaining my livelihood, I mostly like the thrill and so I do it for mere pleasure and excitement.« Much has been written elsewhere on ›cruising‹ practices and high frequency of sex work of MSM in public spaces such as public toilets, parks and bus stations.59 However, the question of how gender performance of kothis affects effeminate male bodies in public and with which privileges male-to-female gender transgressing individuals can claim certain rights accessing and using these spaces, is still in need of further academic investigation. Male effeminate bodies, equally as female bodies, face violence against them when trying to claim spaces for their own. Since female or effeminate framed bodies experience disadvantages in public space, it becomes clear that public spaces are contested ones. Public urban space in Delhi is generally male-dominated. Dubey remarks that Delhi is »the capital of male homosexuals« [emphasis mine], where after nightfall public cruising spaces become sites of desires.60 Apart from the previously discussed community, public and private kothi social spaces, there are other important sites of interaction: nightclubs and discotheques. I introduce these spaces as an example of commercialized queer urban spaces. They emerged widely in urban cities in South Asia in the beginning of the 1990s.61 The (temporary) reading down of Section 377 from 2009 to 2013 led to an increase and more visibility of commercialized queer spaces in the city. On a weekly basis there are several ›gay‹ or ›queer‹ parties happening which are announced via magazine ads in Time Out Delhi, SMS lists, emails and Facebook invites. The nightclub Peppers (formerly PegsNPints) in Delhi is for example open to queer individuals every Tuesday. Nightclubs and discotheques are used predominately by queer people from socioeconomic affluent backgrounds, who are able to spend at least 500 Rupees62 on entrance fees. In addition, they are ›male‹ or MSM-dominated spaces, as they are appropriated large59 | See for example: Jeremy Seabrook: Love in a Different Climate. Men Who Have Sex with Men in India. New York 1999; Aditya Bondyopadhyay/Vidja Shah: My Body is Not Mine. Stories of Violence and Tales of Hope. Voices From the Kothi Community in India. New Delhi 2007; Khan: Culture, Sexualities, and Identities. 60 | Cf. Dubey: Footpath par Kaamsutra, p. 124. 61 | Cf. Khan: Culture, Sexualities, and Identities; Dubey: Footpath par Kaamsutra. 62 | 500 Indian Rupees is approximately 8 EURO [13.12.2012].
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ly by middle- and upper class gay identified men. Socio-economically less privileged queers often cannot afford to attend these and more importantly often do not identify with the ›gay culture‹ expressed in the nightclub scene. Even though kothis do attend many of the available gay parties in Delhi, they prefer parties, where not mainly gay men but a large number of bisexual and ›straight‹ masculine men attend. Further, physical appearance and choice of dress can determine entry to club, since cross-dressers or people wearing visible markers of effeminacy are often denied entrance and discriminated against, therefore creating an atmosphere of exclusion.63 Lack of own means of transportation and dangers related to public transport at night, social conventions and control by families limit the options for lesbians, bisexual women and ftm-transgender to access those nightclubs. Moreover, experiences of sexual harassment in the nightclubs discourage them to attend these events. Together with Sandy, Sangeeta and h/er panthi, we finally rush off at 1 am to the kothi Saturday night party in an affluent market area of GK-1 in South Delhi. On the tiny dance floor upstairs the room is packed with hundreds of sweaty bodies. Having attended many gay or queer parties in Delhi before, I do notice that in this crowd more effeminate kothis are visible than usually.64 My kothi interlocutors point out various male individuals as panthis. Sandy is excited and happy that »so many bisexual or heterosexual men are here. You know, didi, I also go to gay parties like Peppers in Chanakyapuri. Even though I used to call myself gay when I was in my late teens because this was the only term that I came across 63 | Regulations on dress code and appearance are set by party organizers. Since the parties are organized in various venues which albeit queer-friendly also foster to a straight crowd, the owners however have a strong say in the decision making process of regulations. 64 | When I attended queer parties in Delhi, which are mainly male-dominated spaces, responses from fellow party guests varied tremendously. In gay-dominated parties I usually felt more invisible and less prone to sexual harassment. In occasions with mixed crowds of gay-identified and bisexual inclined men, my ascribed identity as woman became important and I was increasingly read as a potential sex partner. In parties with mainly kothis and mtf-transgender guests, panthi men attending usually identify as straight or bi. In the latter context, I was more often groped and approached with sexual proposals by panthis and posed as a direct competition to my kothi interlocutors.
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until I discovered the identity label kothi through Naz and I could also be labeled gay by others because of my middle class background, I do feel less comfortable in a gay nightclub than here in a kothi party. Of course straight people often identify me as gay, and depending on the context I tell them I am gay because it is easier to make them understand. But being a kothi and belonging to the kothi community means something different to me. Kothis have a different lifestyle than gays.« The term ›kothi‹ is a recent identity category that was constructed in an NGO context influenced by a global HIV/Aids rhetoric as ›traditional‹ identity label and then reiterated by individuals attending NGOs.65 ›Gay‹ in contrast was cast as elite, ›modern‹ category set in opposition to these working-class men identifying with ›traditional‹ labels, who were denied access to the label ›gay‹ by their linguistic and class position (i.e. Hindi and lower class).66 According to Cohen, both academics and activists working in a South Asian context emphasized by the late 1990s that a »Western straight-gay binarism«67 was inappropriate to situations of same-sex desiring males, and suggested the kothi-panthi model as pan-South Asian cultural frame in order to describe male homosociality.68 Although Sandy and h/er kothi friends associate themselves with a larger queer scene by reiterating sentiments such as »we are all different parts of the rainbow«,69 s/he claims that only within kothi spaces and within a kothi social world s/he truly feels a sense of belonging and understanding of h/er ›kothiness‹. This is despite kothis sometimes uttering aspirations to belong in upper and middle class gay social spaces. Even though Sandy attends queer events like queer pride parades or gay parties in affluent farmhouses admiring the ›upper-class vibe‹ of gay social spaces, in h/er every day spatial practices s/he reiterates to h/er kothi identity in solidarity with h/er kothi community and kothi 65 | Cf. Lawrence Cohen: The Kothi Wars: AIDS Cosmopolitanism & the Morality of Classification. In: Vincanne Adams/Stacy Leigh Pigg (eds.): Sex in Development. Science, Sexuality and Morality in a Global Perspective. Durham 2005. pp. 269-303. 66 | Cf. Alok Gupta: Englishpur ki Kothi. Class Dynamics in the Queer Movement in India. In: Bhan/Narrain (eds.): Because I have a Voice, pp. 123-142. Reddy: With Respect to Sex, 2006. 67 | Cf. Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemology of the Closet. Berkeley 1990. 68 | Cf. Cohen: Kothi Wars. 69 | Referring to the internationally used LGBTQ symbol of the rainbow flag.
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sisters. Through h/er hijra guru (›teacher‹), who has chosen to accept h/er as beti (›daughter‹) and for whom s/he is providing supporting services, Sandy’s social interactions predominantly happen within kothi and hijra dominated spaces. Interaction with gay men is limited largely to nightclub experiences or meetings in NGO/CBO spaces. Furthermore, Sandy and h/er friends know little about the everyday life worlds and aspirations of lesbians, bisexual women or ftm-transgender people. Back at the club, the atmosphere is heated up and sexualized. While trying to find some space to dance, we constantly get groped and harassed. My kothi friends react very protectively and instantly form a huge circle around us dancing to avoid further touching and groping by panthis. »Men can be such pigs in Delhi. They just behave like they can do whatever and take whomever they want, whenever they want it«, Sandy says and continues: »when I am cross-dressing or looking effeminate and I am out late at night, I can do that, not like my sister who has to remain at home because it is so dangerous in the public. But most men who are dominating public spaces after dark, they think they can rape me just because I am looking like a woman or wearing women’s clothes.« 70 Although certain male social privileges seem to remain while being kothi, it should be noted that performance of feminine gender expressions is nevertheless accompanied by discrimination and societal disadvantages, for example when wanting to access and use public spaces in Delhi, particularly after dark. Recent public debates addressing the general safety of women in public71 and sexual violence against women in Gurgaon and Delhi relate to this aspect. A gang rape incident on a woman leaving a mall in Gurgaon in March 2012 led to a police statement proposing a curfew on late night working hours for women in general. The Delhi police also suggested that women should not work after 8 pm unless a well-trained security guard accompanies them home.72 This proposition was met with considerable outrage within civil society 70 | Sandy is referring in this context to the stereotypical notion of conventional masculinity, which is however just one masculinity of many. 71 | As such, this applies also to effeminate or cross-dressing males and transgender people who are usually not part of the public media discourse on the matter. 72 | See for example: Shilpy Arora: The Better Half Worse Off. In: Fridaygurgaon.com, 02.11.2012, www.fridaygurgaon.com/news/2360-the-better-half-worse-off.html (Accessed: 14.01.2013); Atir Khan: Safety of women. In: IndiaToday.in,21.03.2012,
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and in particular by women’s rights groups and NGOs. Civil societal protests culminated to a never-before-seen height with initiatives like »claiming back the night« when a 23-year old female student was gang-raped and tortured when going home on a chartered bus on December 16th 2012 in Delhi and subsequently died of internal organ failure.73 As these examples show, feminine bodies are exposed to a vast array of curtailments. Especially in their mobility within the city and in their choices to access spaces whenever and wherever needed, but also in larger societal discourse on how they should behave and where they can and cannot roam around. Although there have been positive changes within the last decade for women in regard to asserting their choices and rights, this struggle is accompanied by a resistance and violence from parts of the population, who are afraid of a possible demise of the status of heterosexual marriage and ›traditional‹ gender roles within Indian society. In Delhi, women face harassment on a daily basis, from catcalls on streets and groping in public transportation to rape. The way in which these actions are usually trivialized as ›eve-teasing‹ shows the deep entrenchment of sexual violence within Indian society. Politicians and police tend to advocate that women are responsible for the assault and therefore, they should adapt their behavior such as not wearing ›provocative‹ clothes or going out at night, if they do not want to be blamed for assaults on them. Moreover, police often refuses to accept complaints by female victims, and families also dissuade victims from coming forward in the belief that it will ruin their reputations.74 Although I am concentrating on an empirical case of a male born person, there is a striking parallel: Sandy is in a way also prone to violence and harassment by mard (›masculine‹) males whenever s/he does not concur to the ›traditional‹ role of masculinity, when s/he is visibly cross-dressed, or is gendered as effeminate and ›womanly‹. Nevertheless, due to Sandy being raised as male and growing up in a male body, Sandy has learned http://m.indiatoday.in/story/gurgaon-safety-of-women-gangrape-nightlife-po lice/1/178794.html (Accessed: 02.01.2013). 73 | Cf. Ashok Sharma: India Gang-Rape Victim’s Body Cremated in New Delhi. In: Huffingtonpost.com, 30.12.2012, www.huffingtonpost.com/2012/12/30/ india-gang-rape-victim-cremated_n_2384725.html (Accessed: 05.01.2013). 74 | Cf. Christiane Brosius: Wem gehört die Nacht in New Delhi? In: FAZ.net, 01.01.2013, w w w.faz.net /ak tuell/feuilleton/vergewalt igungen-in-indien-wem-gehoer tdie-nacht-in-neu-delhi-12010350.html (Accessed: 10.01.2013).
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to assert h/er choices and rights with more vigor in contrast to individuals who have been socialized as women. Sandy is able to access public spaces more freely whereas women’s mobility is curtailed. Apart from that, it is interesting that while kothis and mtf-transpeople continuously stress how their effeminacy and their effeminate gender role performances lead to a loss of social acceptance by taking up a socially less valued gender role – ›the role of a woman‹ – they are still less (or differently) exposed to discrimination than their female counterparts. This could be due to their possibility to switch between performing masculinity or femininity and the experience of a male socialization. Furthermore, while in their narratives kothis solidarize with women within patriarchal normative society by sentiments such as ›we are all sisters who are suffering from men‹, they simultaneously feel in competition to ›ordinary women‹ since they are competing with them for the attention of their panthi male partners, who are often married. In the same logic, kothis such as Sandy refer to themselves as ›better women because we understand men and what they want in a better way because we are biologically male ourselves‹. The situation is further complicated by the behavior of some kothis, who in their ›other‹ life as married husbands and fathers feel the necessity to enact an overtly masculine role behaving like a macho. Albeit kothis enjoy exploring their sexuality, they generally however do not grant their wives or sisters the same choice. Moreover, kothis‹ everyday lives oscillate between desiring for sexual freedom with changing sexual partners or kothi-panthi-relationship models which reiterate heteronormative values and gendered ›heterosexual husband and wife‹ role frames. Their gender performances reiterate on larger societal discourses of womanhood and manhood. The reproduction of gender stereotypes within their gender performance as well as the insistence on appropriate gender and sexual behaviors is common in kothi ›genderscapes‹. Influenced by their surrounding heteronormative context, kothis seldom relate to the life worlds of queer, lesbian, bisexual women or ftms. In terms of moral values, for kothi interlocutors the ideal of marriage and family life prove strong points of reference. On many occasions, a certain ›queerphobia‹ (as well as bi- and transphobia) is expressed. For example, when condemning queer people who choose to live outside of marriage or female same-sex relationships as morally wrong. The evaluation of gay and lesbian same-sex relationships as immoral but defending kothi-panthi relationship models as socially accept-
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able stands in stark contrast to their own wishes of societal and familial acceptance and recognition of their ›kothiness‹.
C ONCLUSION Centering on Sandy and h/er friends, I showed different types of queer social spaces in Delhi and how queer individuals navigate through them influenced by their individual gender performances and socio-economic class background. All spaces are characterized by classed and gendered differences and exclusions, no matter what kind of non-normative practices take place there. The concept of ›genderscapes‹ provides an understanding of how gender categories are grounded but at the same time fluid in everyday life. Gender expression plays a pivotal role in regard to accessibility to these spaces as well as the degree for individual queer actors of being exposed to sexual violence. Accessibility is further constrained by social factors such as class, socio-economic milieu and educational background. In particular class and language (Hindi versus English) function as a barrier in Delhi. This leads to a hierarchization in particular queer spaces. Knowledge of the ›right‹ language opens up or restricts queer spaces for individuals. Queer social spaces, which are dominantly accessed by English-speaking actors, stand in stark contrast to social spaces for Hindi-speaking actors, such as most kothi social spaces of interaction. Therefore, it would be theoretically fruitful to distinguish queer spaces in Delhi according to aspects such as language, class or gender affiliation. To my interlocutors, ›queer‹ in this sense can entail firstly spaces, groups and individuals who are self-identified ›queer‹ or who subscribe to the larger notions of ›queer‹ in a sociopolitical context. These spaces are typically English dominated spaces inhabited largely by middle and upper class actors. Secondly, ›queer‹ in terms of an umbrella category encompasses also such spaces which can be described as subgroup-specific spaces such as LGBT or NGO spaces working on MSM and so on. However, applying the term queer to (L)GBT or MSM spaces is controversial. As interlocutors have further emphasized these varied spaces are mainly linked by the imagination of belonging, diverse as the individual motifs may be, to a larger notion of the rainbow flag. Locally appropriating a globalized international LGBTQ symbol, the rainbow flag has become an important identifier linking the otherwise fragmented socio-political queer spaces in an urban context
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translocally. As Sandy’s experiences demonstrate, queer spaces answer a particular purpose – be it as sites of support, camaraderie, intimacy, love and sexuality, or be it as sites of competition, danger and pleasure, discrimination or preconceived stereotypes. Vast arrays of gendered expressions are at display in queer spaces. Particularly public spaces in Delhi are highly gendered and contested spaces where actors assert their practices of space claiming and doing gender. People who are gendered as overtly effeminate males or women are confronted with a male-dominated public domain, which limits their safety and mobility. Gender transgression, albeit encouraged and allowed in contexts like support spaces, is however viewed with uneasiness and suspicion in the public domain and in larger heteronormative society. Police discrimination particularly exposes actors in cruising spots to violence. In addition, the practice of cruising is a very male specific phenomenon in India. Nevertheless, urban setting allows a more diverse conglomeration of queer spaces due to its vastness and possibilities of remaining invisible. Common to these various, heterogeneous queer spaces is their temporality and transience, since ›queering‹ of spaces, especially public ones, needs constant effort and contestation due to societal discrimination and larger homophobia within heteronormative society. Heteronormativity does have a tremendous impact on the appropriated notions of gender by naturalizing a gender dichotomy between men and women. In heteronormativity, the binary construction of gender relates men and women ›naturally‹ to heterosexuality simultaneously excluding and devaluing non-normative sexual and gender practices. Queer individuals never live outside societal structures, but are embedded in society through various spaces of belonging. Through socialization, family structures, media and mainstream heteronormative society as framework, queer individuals are influenced by heteronormative values and gender notions. In regard to the societal framing of non-masculine males as ›feminine‹, kothis deliberately frame themselves as ›feminine‹ in contrast to the concept of mard or panthi as ›real men‹, and are framed by society as overtly effeminate and as acting out an exaggerated version of femininity. In everyday practices, kothis create their own interpretations of femininity, which reiterates back to societal notions of heterosexual femininity but also exceeds such notions. Therefore, in kothi spaces one can witness a reproduction of multiple stereotypes concerning masculinity and femininity and what it entails to behave ›like a man‹ or ›like a woman‹. But one can also observe a production of femininities in which gender roles are
Queer Urban Spaces in New Delhi
questioned or experimented with by blurring gender lines and gender expressions on purpose. It is however interesting to see in which situations kothis display masculinity or femininity or detach themselves from conventional gender role practices. It would thus be a mistake to view kothi behavior and their gender performances in various queer spaces merely in black and white. Although identity labels play an important aspect as identifier, assigning oneself to a particular identity or choosing individual forms of expressing such labels does go along with exceptions to the rule in everyday practices of queer individuals. Moreover, queer actors refer to their identity as being made up out of various aspects of themselves beyond their mere gender expression or sexual orientation. In line with Lang’s work on intersex people, I propose to view gendered bodies, gender roles and gender identities on a continuum, rather than as binary or tripartite categories.75 The future will show how current contestations on sexual violence addressed by Indian citizens in vast demonstrations, and public debates could lead to more accessibility of public spaces for women and effeminate gendered male individuals. As current public debates indicate a sense of talking about gender relations in Delhi like never before visible in various societal spheres, these larger discussions about gender could lead to changes of gender notions by broadening socially acceptable concepts of masculinity and femininity and providing more options for actors to negotiate these concepts.
75 | Cf. Claudia Lang: Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern. Frankfurt 2006.
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II. Verhandeln
Ehre — Prestige — Profit Handlungsleitende Konzepte bei Eheanbahnungen der Norfolker gentry-Familie Paston Sabrina Funkner
Eheanbahnungen und Eheverhandlungen sind ein beliebtes Thema in den überlieferten Briefen englischer gentry-Familien des 15. Jahrhunderts.1 Als essenzielles Mittel zur Konsolidierung der familiären Position im gesellschaftlichen Raum, zur Etablierung nützlicher Netzwerke sowie zur Akkumulation familiären Vermögens sind die Unterredungen über etwaige eheliche Verbindungen unerlässlich und die Wahl potenzieller Ehepartner bedarf genauer Abwägung.2 Auffallend ist die Häufung von 1 | Editionen: Christine Carpenter (Hg.): Kingsford’s Stonor Letters and Papers. 1290-1483. Cambridge 1996; Joan Kirby (Hg.): The Plumpton Letters and Papers. London 1996; Christine Carpenter (Hg.): The Armburgh Papers. The Brokholes Inheritance in Warwickshire, Hertfordshire and Essex, c. 1417 – c. 1453. Woodbridge 1998; Alison Hanham (Hg.): The Cely Letters. 1472-1488. Oxford 1975; Norman Davis (Hg.): Paston Letters and Papers of the Fifteenth Century. 3 Bde. Oxford 1971-1976, verbesserter ND Oxford u.a. 2004-2005, folgend abgekürzt als PL, Band, Briefnummer. 2 | Grundlegend zu Eheleben, der Eheanbahnung und Eherechtsdiskursen vgl.: Joel T. Rosenthal: Aristocratic Marriage and the English Peerage, 1350-1500. In: Journal of Medieval History, 10, 1964, S. 181-194; Ann S. Haskell: The Paston Women on Marriage in Fifteenth-Century England. In: Viator, 4, 1973, S. 459-471; Michael Schröter, »Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe…«. Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschliessungsvorgänge vom 12. bis 15. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1985; Christopher N. L. Brooke: The Medieval Idea of Marriage. Oxford/New York 1989; Michael M. Sheehan: Marriage, Family, and Law in Medieval Europe. Collected Studies. Toronto u.a. 1996; Rüdiger Schnell: Frauendiskurs,
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Formulierungen innerhalb der archivierten Briefe, die die Eheanbahnungen in engen Zusammenhang zu Besitzakkumulation sowie Ehrkonzepten der aufstrebenden Gesellschaftsgruppe der gentry stellen. So weisen die Autor_innen der Schriftstücke fortwährend auf die Mehrung familiären Prestiges und Profits hin, wenn sie etwa festhalten: »it xall be bothe fore […] worchup and profyt«.3 Die Untersuchung der Eheanbahnungsprozesse, wie sie im Briefkorpus der Norfolker Familie Paston überliefert sind, bildet den Ausgangspunkt, um die Frage nach der Wirkmacht von handlungsleitenden Elementen wie Ehre, Prestige und Profit auf Eheschließungen im Umfeld der spätmittelalterlichen gentry beantworten zu können. Da die Pastons soziale Aufsteiger sind, die ihren Besitz und Reichtum erst im beginnenden 15. Jahrhundert erarbeitet hatten, ist es für sie unerlässlich, weitreichende Netzwerke durch bedachtes Handeln auszubilden und nach lukrativen Heiratsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Es verwundert daher nicht, dass die Mitglieder der Familie Eheanbahnungen häufig in ihren 421 hinterlassenen Briefen thematisieren. Der Ablauf und die Beteiligten solcher Verhandlungen lassen sich somit vielfach rekonstruieren, und es ist möglich, Einblick in den Verlauf spätmittelalterlicher Eheanbahnungsprozesse aus dem Blickwinkel verschiedener Personen zu erhalten. Die im Rahmen von Eheanbahnungen formulierten Vorstellungen von ehrvollem und profitablem Handeln werden untersucht, um herauszufinden, welche Faktoren zur Festigung der sozialen Position innerhalb der Gruppe der gentry aus der Sicht der schreibenden Akteur_innen beitragen. Aufschlussreich ist dabei die Frage, ob und in welcher Weise die Handlungsmöglichkeiten von Personen mit Konstruktionen von gender verbunden sind.4 Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte. Frankfurt a.M. 1998; Isabel Davis/Miriam Müller/Sarah Rees Jones: Love, Marriage, and Family Ties in the Later Middle Ages. Turnhout 2003; Albrecht Classen: Der Liebes- und Ehediskurs vom hohen Mittelalter bis zum frühen 17. Jahrhundert. Münster 2005; Gabriela Signori: Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft. Ehe in der mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt. Frankfurt a.M. 2011. 3 | Zur Standardedition der Paston Letters vgl. Anm. 1, hier PL I, Nr. 19. 4 | Die Briefe bieten sich für derartige Untersuchungen insofern an, da sowohl weibliche als auch männliche Briefschreiber existierten und somit die Möglichkeit gegeben ist, gender-spezifische Handlungsrepertoires sowie deren Grenzen zu
Ehre — Prestige — Profit
Die theoretische Auseinandersetzung mit den Eheanbahnungen erfolgt auf der Basis der Arbeiten Pierre Bourdieus, der mit seinem Modell vom sozialen Raum methodologische Grundlagen schafft, um Gesellschaftsstrukturen zu analysieren. In einem ersten Schritt werden die soziale Gruppe der gentry und deren spezifische Ehrkonzepte untersucht. Zweitens werden die Überlieferungen der Pastons vorgestellt, um drittens die Möglichkeiten darzulegen, die Bourdieus Theorien für die Untersuchung der Briefe dieser Familie bietet. Drei Eheanbahnungen werden analysiert: die langwierigen Eheverhandlungen zur Verheiratung Elizabeth Pastons (1429-1488), die klandestine Eheschließung zwischen Margery Paston (?-ca. 1479) und Richard Calle und die gescheiterten Ehearrangements Sir John Pastons II. (1442-1479).
eruieren. Der Begriff Handlungsrepertoire wird hier im Sinne Gadi Algazis benutzt: »Die Entscheidung zum Begriff ›Repertoire‹ im Gegensatz etwa zu ›code‹ rührt unter anderem gerade daher, daß Repertoire nicht nur die Existenz von Modellen und Regeln suggeriert, sondern auch fertige Elemente (wie ausgearbeitete scripts, standardisierte Sätze), die als Handlungsoptionen funktionieren.« (Gadi Algazi: Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires. In: L’homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, 11, 1, 2000, S. 105-119, Anm. 30) Der Terminus ›gender‹ wird im konstruktivistischen Sinne verwendet und nicht im Sinne der älteren forschungsgeschichtlichen Trennung von ›sex‹ und ›gender‹. Die konstruktivistische Verwendung setzt voraus, dass ›gender‹ als Ordnungskategorie, als strukturierendes Element von Gesellschaften und Machtverhältnissen verstanden wird. Geschlechtsidentitäten werden permanent durch soziale Interaktion mit performativem Charakter hervorgebracht und normative geschlechtsspezifische Denk-, Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster durch Sozialisation internalisiert. Vgl. Joan Wallach Scott: Gender: A Useful Category of Historical Analysis. In: American Historical Review, 5, 1986, S. 1067f.; Carol Hagemann-White: Die Konstruktion des Geschlechts auf frischer Tat ertappt? Methodische Konsequenzen einer theoretischen Einsicht. In: Feministische Studien, 11, 2, 1993, S. 68; Judith Butler: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002, S. 301f.
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E HRE , P RESTIGE UND P ROFIT IN Ü BERLIEFERUNGEN DER ENGLISCHEN GENTRY
Die englische gentry formiert sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts als soziale Gruppe. Trotz unterschiedlicher Einschätzungen besteht innerhalb der Forschung Konsens darüber, dass eines der wichtigsten Kriterien für die Zugehörigkeit zur gentry der Besitz von Ländereien in Form von manors darstellt, also Ländereien, die Herrschaftsrechte mit sich bringen.5 Zur gentry gehören traditionell Großgrundbesitzer, wohlhabende freie Bauern, Teile des niederen Adels sowie Ritter und Schildknappen.6 Seit dem 15. Jahrhundert werden zudem Juristen, Vermögensverwalter sowie gut situierte Händlerfamilien der gentry zugerechnet, und erstmalig bezeichnen sich Vertreter dieser Personengruppen als gentleman und gentlewoman.7 Das aufkommende Selbstverständnis als gentleman oder gentlewoman verweist auf die Entstehung eines spezifischen Lebensstils, der aus Gründen der Distinktion nach außen kommuniziert wird und spezielle Handlungsrepertoires impliziert. Ziel ist es, den eigenen sozialen Status durch andere Personen anerkennen und somit legitimieren zu lassen.8 In den Familienarchiven der gentry sind eine Vielzahl von Dokumenten, unter anderem Briefe, erhalten. Am umfangreichsten überliefert ist das Briefkorpus der Norfolker Familie Paston, das mit über tausend archivierten Schriftstücken zu den größten europäischen Sammlungen des Spätmittelalters gehört. Forschende aus dem anglofonen Raum nutzen die Korrespondenzen, um historische Ereignisse aus dem Blickwinkel geschichtlicher Akteur_innen zu rekonstruieren, den sozialen Stand der gentry genauer darzustellen, Verwandtschaftsbeziehungen unterschiedli5 | Vgl. Helen Castor: Blood and Roses. One Family’s Struggle and Triumph During Englands’s Tumultuous Wars of the Roses. New York 2006, S. 36. 6 | Vgl. Andrew C. Hall: »He Ys A Swyre of Wochyp«. Articulations of Masculinity in the Paston Correspondence. Windsor/Canada 1997, S. 4-6; Raluca Radulescu/ Allison Truelove: Introduction. In: Dies. (Hg.): Gentry Culture in Late Medieval England. Manchester 2005, S. 7-9. 7 | Vgl. Chris Given-Wilson: The English Nobility in the Late Middle Ages. The Fourteenth-Century Political Community. London/New York 1996, S. 69-83. 8 | Vgl. Philippa Maddern: Gentility. In: Radulescu/Truelove (Hg.): Gentry Culture, S. 26.
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cher Ausprägung zu skizzieren und die Position der Frauen dieser Schicht im gesamtgesellschaftlichen Kontext herauszuarbeiten.9 Neben den überwiegenden administrativen Informationen geben die Briefe Einblick in eine Vielzahl weiterer Aspekte des alltäglichen Lebens, wie etwa in Abläufe von Eheanbahnungen, in die Organisation der schulischen sowie universitären Ausbildung der Familienmitglieder, in die Planung von Dienstverhältnissen und in die Besprechung innerfamiliärer Konflikte. Sämtlichen thematisierten Bereichen gemein ist der stete Bezug der Autor_innen zum Erhalt der familiären Ehre, zur Mehrung des Profits und zur Stärkung des Prestiges der Familie. So betont die Historikerin Philippa Maddern erstmals im Jahre 1988, dass das Begriffspaar worship and profit ein Leitmotiv in der Korrespondenz der Paston-Familie sei.10 Der Terminus worship verweist im Mittelenglischen auf Ehre, Prestige und ehrenvolles Handeln,11 weshalb zu seiner Semantik Aspekte gehören können, die man mit ›Ehre‹ und ›Prestige‹ übersetzt. Vor allem die neuzeitliche Zuschreibung des sozial orientierten, nach außen gerichteten Charakters des Terminus ›Prestige‹ steht in großer inhaltlicher Nähe zum Wortinhalt von worship. Worship ist symbolisch aufgeladen, wobei profit auf die Steigerung und Vermehrung des materiellen Besitzes verweist. Das Begriffspaar bildet, Raluca Radulescu zufolge, ein Gegengewicht zu den häufig wiederkehrenden Begriffen prosperity and welfare, verstanden
9 | Vgl. Henry S. Bennett: The Pastons and their England. Studies in an Age of Transition. Cambridge 1922, unv. ND Cambridge 2003; R. H. Britnell: The Pastons and their Norfolk. In: The Agricultural History Review, 36, 1988, S. 132-144; Roger Virgoe: Private Life in the Fifteenth Century: Illustrated Letters of the Paston Family. London 1989; Rowena E. Archer: »How Ladies…Who live on their manors ought to manage their households and estates«. Women as Landholders and administrators in the later middle ages. In: P. J. P. Goldberg (Hg.): Woman is a worthy wight: Women in English society, c. 1200-1500. Stroud 1992, S. 149-181; Frances Gies/Joseph Gies: A Medieval Family. The Pastons of Fifteenth-Century England. New York 1998; Radulescu/Truelove (Hg.): Gentry Culture. 10 | Vgl. Philippa Maddern: Honour Among the Pastons. Gender and Integrity in Fifteenth-Century English Provincial Society. In: Journal of Medieval History, 14, 4, 1988, S. 357-371, hier besonders S. 357. 11 | Vgl. Art. »worship (e n.)«. In: MED online, http://quod.lib.umich.edu/cgi/m/ mec/med-idx?type=id&id=MED53453 (Stand 19.11.2012).
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als Wohlstand und Wohlergehen.12 Beide Wortpaare beziehen sich sowohl auf konkretes materielles Wohlergehen als auch auf symbolische Kapitale, wobei besonders die symbolische Ebene in der Vormoderne eine enorme Wirkkraft besitzt, das Handeln der Personen regulierend beeinflusst und ferner dazu verhilft, die erlangte soziale Position zu bewahren. Maddern betont weiterhin die Abgrenzung gentry-spezifischer Ehrvorstellungen von populären Ehrkonzepten der Ritterlichkeit. So habe der sogenannte chivalric honour den Lebensstil Adliger geprägt und seinen Ausdruck in zeitgenössischer poetischer Literatur13 gefunden, wohingegen die Besonderheit des in den ›Paston Letters‹ postulierten Ehrkonzeptes, des worship, im ehrenvollen Handeln in der Gesellschaft, im angemessenen Umgang mit Freunden, Bediensteten und Lehnspersonen liege. Nicht nur die in höfischen und literarischen Diskursen geprägten ritterlichen Verhaltenskonzepte stärken die Ehre der Familie, sondern vor allem das Prestige innerhalb des näheren sozialen Umfelds ist für den Erhalt und die Mehrung der familiären Reputation essenziell.14 Raluca Radulescu schließt sich Maddern an, indem sie festhält, dass worship als Konzept vor allem Aspekte umfasst, die der Reputation eines Landbesitzers der gentry dienlich sind.15 Sie bekräftigt ebenso, dass die Konnotationen der Begriffe worship und honour sich nicht entsprächen und auf unterschiedliche soziale Felder rekurrieren. Worship, welches den Wortgebrauch der gentry charakterisiere, beziehe sich auf das standesgemäße Benehmen in dieser Schicht, honour auf höfische Verhaltenskodizes.16 Mit der Verwendung der Selbstbezeichnung gentleman/gentlewoman und der Etablierung distinktiver Verhaltenszuschreibungen ist zu begründen, dass die englische gentry als eine ständische Gruppe charakterisiert werden kann, die – im Sinne der bourdieuschen Klassentheorie 12 | Vgl. Raluca Radulescu: The Gentry Context for Malory’s Morte Darthur. Woodbridge 2003, S. 23. 13 | Vgl. zu spätmittelalterlicher höfischer Literatur bspw. die Inventarliste der Bücher Sir John Pastons II.: PL I, Nr. 316. 14 | Vgl. Maddern: Honour among the Pastons, S. 357-359, S. 364. Damit eng verbunden sind die wiederkehrenden auf Familie und Grundherrschaft bezogenen Verhaltensanweisungen verschiedenster Briefautor_innen der Pastons, wie z.B. be a good husband/father/master etc. 15 | Vgl. Radulescu: The Gentry Context, S. 24. 16 | Vgl. ebd., S. 17ff.
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– als »Ensemble von Akteuren mit ähnlicher Stellung […] aller Voraussicht nach ähnliche Dispositionen und Interessen« aufweist und »folglich auch [über] ähnliche Praktiken«17 verfügt. Ebendiese Dispositionen, Interessen und Praktiken, die konstitutiv für einen spezifischen Lebensstil sind, stehen im Fokus der Analyse der Heiratsarrangements. Familiäres Prestige sowie materiellen Profit durch Netzwerke zu erlangen und zu akkumulieren scheint die Ausprägung einer charakteristischen Lebensweise gefördert und die Handlungsrepertoires bei Eheanbahnungen bestimmt zu haben, wie anhand der Briefe der Familie Paston aufgezeigt werden kann.
D IE ›PASTON L E T TERS ‹ (1422-1509) Die aus Norfolk stammenden Pastons zählen zu den sozialen Emporkömmlingen des ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts. Erste Informationen zu den Aufstiegswegen liefert eine heute verschollene Quelle, die im Jahre 1823 in die Einleitung der von John Fenn herausgegebenen Edition der Familiendokumente aufgenommen wurde.18 In der angeblich zeitgenössischen Quelle aus anonymer Feder wird Clement Paston vorgestellt, »a good pleyn husbond«, ein freier Bauer,19 der sein eigenes Land im Dorf Paston – das Namensgeber der Familie war – bewirtschaftete. Der Landbesitzer, so berichtet der Verfasser weiter, heiratete Beatrice Goneld aus Somerton, die im Jahre 1378 den gemeinsamen Sohn William gebar. Clement sandte William zur Schule und musste sich dem Schreiber zufolge zu diesem Zweck oftmals Geld leihen. Nach der schulischen Grundausbildung sei William mit großzügiger Unterstützung seines als Anwalt tätigen Onkels Geffrey Goneld nach London gegangen, um dort eine juristische Ausbildung zu absolvieren. Anschließend habe er 17 | Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Übers. v. Bernd Schwibs. Frankfurt a.M. 1985, S. 12. 18 | Vgl. Original Letters written during the reigns of Henry VI. Edward IV. Edward V. Richard III. and Henry VII. […]. Hg. von mit einem Advertisement von William Frere, Bd. 5, London 1823. 19 | ›Husband‹ bezieht sich hier auf das im mittelenglischen gebräuchliche Nomen ›husbandman‹, das zumeist einen freien Bauern bezeichnete. Vgl. Art. »husbandman«. In: Oxford English Dictionary online, www.oed.com/view/Entry/ 89663?redirectedFrom=husbandman& (Stand 17.09.2012).
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die Ämter eines serjeant und eines Richters bekleidet.20 Dieser Erfolgsweg ermöglicht es William, eine beträchtliche Anzahl von Besitztümern an verschiedenen Örtlichkeiten in Norfolk zu erwirtschaften und – gepaart mit einer geschickten Heiratspolitik – den sozialen Aufstieg seiner Nachkommen einzuleiten. Die überlieferten Schriftstücke der Familie Paston umfassen einen Zeitraum vom Beginn des 15. bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, wobei der Begriff ›Paston Letters‹ üblicherweise die Dokumente aus der Zeit des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts bezeichnet.21 Insgesamt sind circa 930 Aufzeichnungen aus dem 15. Jahrhundert archiviert, von denen 421 Briefe aus der Feder der direkten Familienmitglieder stammen. Bei den restlichen Dokumenten handelt es sich um Briefe von Außenstehenden, um Testamente, Inventarlisten und Memoranda. Bemerkenswert ist, dass von den 421 Briefen der Pastons 138 von Frauen geschrieben wurden und die 107 Briefe Margaret Pastons (ca. 1422-1494) als das größte erhaltene Korpus mittelenglischer Frauenbriefe gelten.22 20 | Vgl. Fenn: Original Letters, S. xlivf. 21 | Vgl. Davis: The Paston Letters, S. xiii. Davis erläutert einleitend (S. xv): »There are in fact several hundred other ›Paston letters‹ in existence, dating from the seventeenth century; but the name has come to be so familiarly used of the medieval group, which form a comparatively independent record of three generations of the family, that it would be inconvenient now to attempt to change the application.« 22 | Den eigentlichen Beginn der in englischer Sprache abgefassten Schreiben der Pastons markiert ein Briefentwurf des Juristen William Paston I. (1378-1444) aus dem Jahr 1425, zugleich einer der ältesten tradierten volkssprachigen Briefe Englands. Die gesicherten Schriftstücke Williams sind nicht an Familienmitglieder gerichtet und erst nach seinem Tod im Jahr 1444 beginnt die Überlieferung der reichhaltigen innerfamiliären Korrespondenz über drei Generationen hinweg lebendig zu werden. Vor allem die Aufbewahrung von Dokumenten, die Informationen zu Besitzverhältnissen, Disputen und Verträgen enthielten, war eine zentrale und notwendige Familienangelegenheit. Dies resultierte aus dem Umstand, dass Schriftstücke mit administrativem Fokus einen juristischen Wert besaßen und als Belege und Beweismittel innerhalb gerichtlicher Prozesse, in denen z.B. die rechtmäßige Eigentümerschaft angefochten wurde, verwendet werden konnten. Demnach war die Archivierung der Dokumente essenziell, um den Besitz und den erlangten familiären Status zu sichern. Vgl. Veronica M. O’Mara: Female Scribal
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K APITAL AKKUMUL ATION UND E HE ANBAHNUNG IM SOZIALEN R AUM Mit Bourdieus Gesellschaftsmodell des sozialen Raums, das soziale Positionierungen in den Blick nimmt, kann die sich im 15. Jahrhundert stärker ausdifferenzierende Schicht der gentry, beziehungsweise die Pastons als Vertreter dieser Gruppe, untersucht werden. Als soziale Emporkömmlinge mit fehlender genealogischer Legitimität zeichnet die Pastons vor allem eine intensive Beschäftigung mit der Konsolidierung familiären Prestiges aus. Bourdieu versteht unter sozialem Raum keinen materiellen Raum, sondern vielmehr einen metaphorischen Raum der Personenpositionierungen in der sozialen Welt, einen Raum relationaler Anordnungen von Akteuren und Akteurinnen oder Gruppen.23 Der soziale Raum setzt sich zum einen aus dem ›Raum der sozialen Lebenslagen‹ und zum anderen aus dem ›Raum der Lebensstile‹ zusammen, die durch die vermittelnde Instanz des Habitus’ in enger Verbindung zueinander stehen. Der Habitus sei, laut Bourdieu, jedem/jeder Akteur_in unbewusst durch Herkunft und Erfahrungswerte einverleibt. Grundwerte, Körperhaltung, Mimiken, Sprechweisen, Geschmack, Moralvorstellungen und Lebensstile, also sämtliche Denk- und Verhaltensstrukturen, kennzeichnen den Habitus eines/einer Akteur_in, weisen ihn/sie einer Gruppe zu, bestimmen Wege, Denken und Handeln.24 Die soziale Lebenslage, verstanden als objektive Lebensbedingungen – sozioökonomische Gegebenheiten und Existenzbedingungen –, führt dabei zu verschiedenen Lebensstilen, konAbility and Scribal Activity in Late Medieval England: The Evidence? In: Leeds Studies in English, 27, 1996, S. 91; Diane Watt: The Paston Women: Selected Letters. Woodbridge 2004, S. 1f.; John Taylor: Letters and Letter Collections in England, 1300-1420. In: Nottingham Medieval Studies, 24, 1980, S. 67-69; Richard Barber: The Pastons. A Family in the Wars of the Roses (First Person Singular). Woodbridge 2004, S. 6; Josephine A. Koster: »I have traveled a good deal in Norfolk«: Reconsidering Women’s Literacy in Late Medieval England. In: Postscript. Journal of the Philological Association of the Carolinas, 24, 2006, S. 28. Vgl. Bourdieu: Sozialer Raum, S. 9f. 23 | Vgl. ebd. 24 | Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilkraft. Frankfurt a.M. 1982, ND Frankfurt a.M. 1987, S. 281-286.
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stitutiven Praktiken und Merkmalen von Akteur_innen, die wiederum auf die Position innerhalb eines spezifischen Feldes des Sozialraums zurückwirken.25 Besonders gut eignet sich die erweiterte Kapitaltheorie Bourdieus, um die vielgestaltigen Tauschprozesse bei den Eheanbahnungen der Familie Paston zu beleuchten. Unterschieden werden die Kapitalarten im Allgemeinen in das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital, die wiederum alle in enger Relation zum symbolischen Kapital stehen.26 Bei den Kapitalen handelt es sich um Ressourcen, die Akteur_innen oder Gruppen zur Verfügung stehen, sei es durch Herkunft oder Werdegang. Sie führen eine Verortung und eine Vorgabe an Handlungsmöglichkeiten in bestimmten Handlungsfeldern herbei, die sich aus der Differenz zu anderen Gruppen oder Akteur_innen ergeben. Ziel jeglichen Handelns innerhalb eines Feldes ist es, die zur Verfügung stehenden Ressourcen zu akkumulieren und dadurch eine Verfestigung und im besten Falle Verbesserung der eigenen sozialen Position zu bewerkstelligen. Ehre ist, laut Bourdieu, eine Ausdrucksform des symbolischen Kapitals.27 Ihm zufolge bildet Heiraten eine der wichtigsten Möglichkeiten, um die Ehre zu vermehren oder im schlechten Falle zu vermindern. Er bezeichnet daher die Heirat als ein Tauschgeschäft in mannigfaltiger Ausprägung, weshalb es notwendig sei, die Tauschgeschäfte in der Gesamtheit der Heiraten der Kinder einer Familie zu betrachten, damit die Rangunterschiede und die Wertigkeit eines Tauschs erfassbar würden. Um einen positiven Ausgang von Eheverhandlungen zu bewirken, werde ferner von Personen die Einhaltung von Regeln sowie der aktive Beweis angemessenen Verhaltens innerhalb der sozialen Gruppe abverlangt.28
25 | Vgl. ebd., S. 211-214. 26 | Vgl. Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1. Hamburg 1992, ND Hamburg 2005, S. 151. 27 | Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1979, S. 335-377. 28 | Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1993, S. 264-287, hier bes. S. 281.
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E HE ANBAHNUNGEN FÜR E LIZ ABE TH PASTON Auskunft über den Verlauf der Eheanbahnungen für Elizabeth Paston geben Briefwechsel, die 1449 einsetzten. Die Eheverhandlungen für die zu jener Zeit etwa Zwanzigjährige führen über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren hinweg nicht zum gewünschten Erfolg. Der erste potenzielle Heiratskandidat ist Stephen Scrope, ein Stiefsohn des im Hundertjährigen Krieg als Heerführer zu Ruhm und Reichtümern gelangten Sir John Fastolfs. Scrope, Witwer und Vater einer verheirateten Tochter, war damals bereits fünfzig Jahre alt und zeitgenössische Quellen beschreiben ihn als äußerlich durch verschiedene Krankheiten schwer entstellt.29 Auf der Suche nach einer geeigneten Ehefrau wendet er sich an seinen Stiefvater, der nach einer möglichen Verbindung Ausschau hält. Da Sir John Fastolf durch seine Nichte Elizabeth Clere, die den Pastons freundschaftlich gesinnt ist, und durch die fernere Verwandtschaft zu Margaret Paston mit dem aufstrebenden Haus verbunden ist, gelangt Elizabeth Paston als geeignete Partnerin für Scrope in die engere Auswahl, und es werden erste Gespräche geführt. Elizabeth Clere, Sir John Fastolf und Scrope bemühen sich fortan darum, das Ehearrangement voranzubringen, und führen die Verhandlungen mit Elizabeths Mutter Agnes Paston (?-1479) und deren ältestem Sohn John I. (1421-1466).30 William Paston, der Vater Elizabeths, ist zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben, sodass die Witwe Agnes als Mutter und ältestes Mitglied der Familie gemeinsam mit dem Haupterben John I. als Repräsentanten der Familie agieren. Da Stephen Scrope über eine ehrenvolle Herkunft und angemessene materielle Mittel verfügt, ist Agnes bemüht, die Verhandlungen zu einem positiven Ende zu bringen, was ihr alleine jedoch nicht gelingen kann. Sie schreibt diesbezüglich an ihren Sohn, dass Scrope keine weiteren Gespräche führen würde, solange John sich nicht mit ihm in
29 | Vgl. Colin Richmond: The Paston Family in the Fifteenth Century. The First Phase. Cambridge 2002, S. 179ff. 30 | Vgl. Jonathan Hughes: Stephen Scrope and the Circle of Sir John Fastolf: Moral and Intellectual Outlooks. In: Christopher Harper-Bill/Ruth Harvey (Hg.): Medieval Knighthood: Papers from the 5 th Strawberry Hill Conference 1990. Woodbridge 1992, S. 111-114.
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London zu Unterredungen träfe.31 Weiterhin benachrichtigt sie John, dass Elizabeth Clere der Ansicht sei, dass es eine Torheit wäre von Scrope abzusehen, es sei denn, es gäbe einen gleichermaßen oder besser geeigneten Partner für Elizabeth, die überdies niemandem je so gewillt gewesen sei wie Scrope.32 Die Aussage zur Gemütshaltung Elizabeth Pastons relativiert sich, wenn wir auf einen Brief Elizabeth Cleres an John I. aus dem Juni des Jahres 1449 blicken, in dem sie auf schwere physische Misshandlungen Elizabeth Pastons durch ihre Mutter Agnes hinweist. Sie berichtet darin, dass Elizabeth der Kontakt zu jeglichen Männern, sei es zu Bediensteten des Haushalts oder auch zum Ehegatten Elizabeth Cleres, untersagt sei. Zudem züchtige Agnes ihre Tochter seit Ostern regelmäßig mit Schlägen, weshalb ihr Kopf an mehreren Stellen gebrochen ist.33 Die hier geschilderten Gewalttaten weisen darauf hin, dass Elizabeth sich der Verbindung mit Scrope verweigert und etwaigen tugendgefährdenden Situationen vorgebeugt werden soll. Letztendlich wird die Eheanbahnung mit dem Witwer noch im selben Jahr aus nicht überlieferten Gründen abgebrochen. Nur kurze Zeit später kommt es erneut zu Gesprächen. Verhandlungspartner im Jahr 1450 ist der bereits Sechzigjährige, vermögende Sir William Oldhall. Agnes schreibt in diesem Kontext an ihren ältesten Sohn John I., dass seine Ehefrau Margaret ihr mitgeteilt habe, dass John sich um Unterredungen mit Oldhall bemühe. Seine Schwester Elizabeth lasse ihm diesbezüglich ausrichten, dass sie die Mühen sehr schätze und ihn bitte, die Verhandlungen zu einem guten Ende zu führen, sodass es ihr zu »worchup and
31 | PL I, Nr. 18: »He had swyche wordys to my cosyn Clere þat lesse þan ٠e made hym good chere and ٠af hym wordys of conforth at London he wolde no more speke of þe matyre«; þ (thorn) – gelesen wie th; ٠ (Yogh) – gelesen wie g/j. 32 | Vgl. ebd.: »My cosyn Clere thynkyth þat it were a foly to forsake hym lesse þan ٠e knew of on owdyre as good ore bettere, and I haue assayde ٠owre sustere and I fonde here neuer so wylly to noon as sche is to hym.« 33 | PL II, Nr. 446: »[Elizabeth] was neuer in so gret sorow as sche is now—a— dayes; for sche may not speke wyth no man, ho so euer come, ne not may se not speke wyth my man ne wyth seruauntes of hir moderys […] And sche hath son Esterne þe most part be betyn onys in þe weke or twyes, and som tyme twyes on o day, and hir hed broken in to or thre places.«
Ehre — Prestige — Profit
profyt«34 gereiche. Agnes benennt in dem Brief explizit, dass eine künftige Verbindung zu Prestige und größtmöglichem Profit der Familie beitragen müsse, deren Herbeiführung durch geschicktes Verhandeln ein männlich konnotierter Aufgabenbereich ist. In diesem Fall liegt die Verantwortung bei dem ältesten Sohn. Die Verhandlungen sind das Mittel, um die Ansprüche der Familie geltend zu machen und den Gesprächspartner vor allem hinsichtlich seines sozialen und ökonomischen Kapitals zu überprüfen, mit dem Ziel größtmöglichen Ertrag zu kumulieren. Elizabeths Ersuchen, ihr Bruder möge ihre Zukunft zugunsten ihres persönlichen worship und profit regeln, veranschaulicht, dass die Absicherung durch ein Eheverhältnis ein weiteres Ziel der Unterredungen ist. Die durch eine Heirat neugewonnenen Netzwerke wirken sich nur dann positiv auf die Position der Familie aus, wenn die eheliche Verbindung für die zu verheiratende Frau ökonomisch profitabel ist und kulturelles Kapital mit sich bringt, das sie nach außen präsentieren kann. Diese Außenwirkung stärkt das familiäre Prestige insgesamt und den Status der Familie im Kreise der gentry, obschon die Braut die Herkunftsfamilie verlässt und unter der Obhut ihres Ehemannes steht. Die genaue Abwägung, mit wem das Tauschgeschäft einer Heirat geschlossen wird, hängt somit von den Ressourcen des Verhandlungspartners ab und setzt primär ein Vorhandensein ausreichend ökonomischen Kapitals voraus, was den Besitz der anderen Kapitalarten impliziert. Auch die Eheanbahnung mit Sir William Oldhall wird abgebrochen, und erst im Jahre 1458 münden weitere Verhandlungen in einer Eheschließung. Während dieser acht Jahre hat Elizabeth immer noch sehr unter der Autorität ihrer Mutter Agnes zu leiden, von deren massiven verbalen Attacken Margaret Paston zu berichten weiß: »For here modere […] hath seche langage to here þat she thynkyth right strange and so þat she is right wery þer—of.«35 Nachdem Elizabeth 1458 endlich mit Sir Robert Poynings, zweitem Sohn eines Barons und zudem Onkel der Gräfin von Northumberland,36 34 | PL I, Nr. 19: »Yor sustere recomaundyt hyr to yow, and thankyt yow hertyly that ye wyll remembyre hyr and lete hyr haue knowleche there—of; and preyt yow that ye wyll do your deuere to bryng it to a good conclusyon, for sche seythe to me that sche trystyt þat ye wyll do so that it xall be bothe fore hyr worchup and profyt.« 35 | PL I, Nr. 145. 36 | Vgl. Percival Hunt: Fifteenth Century England. Pittsburgh 1962, S. 132.
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eine gute Partie findet, verfasst sie einen Brief an ihre Mutter, in dem sie aus der Heirat resultierende finanzielle Verpflichtungen ihrer Herkunftsfamilie gegenüber ihrem Gatten anspricht. Als Elizabeth ebendiesen erstmals in dem Schriftstück erwähnt, spielt sie ironisch darauf an, dass sie ihren ›Meister‹ und ›Geliebten‹ nur so nenne, da Agnes dies von ihr erwarte: »And as for my mayster, my bestbeloved that ye call, and I must nedes call hym so now, for I fynde noon oþer cause, and as I trust to Jesu neuer shall.«37 Agnes’ Einflussnahm e auf den Lebensweg der Tochter tritt hier trotz fehlender Überlieferung deutlich zutage, die hierarchische Struktur vorhandener Handlungsrepertoires der Familienmitglieder wird bekräftigt. Gleichsam nutzt Elizabeth jedoch hier die Möglichkeit sich dem Mittel der Ironie zu bedienen, um ihrer Mutter entgegenzutreten. Aus den vorgestellten Briefen lassen sich vielfältige Informationen gewinnen. John I. erscheint als oberste Verhandlungsinstanz auf der Seite der Familie Paston für Elizabeth Clere und vor allem für Steven Scrope und William Oldhall. Er hat eine Vermittlerrolle inne und verfügt über die Macht, Eheanbahnungen fortzuführen oder nach eigenem Ermessen abzubrechen, wobei seine Mutter Agnes ihm stets als Ratgeberin zur Seite steht. Zudem gehört es zu seinen Aufgaben, die ertragreichste Heiratsmöglichkeit auszukundschaften und den potenziellen Ehemann Elizabeths diesbezüglich zu prüfen. So muss Scrope vor John seine finanzielle Lage offen legen und Auskunft über das zukünftige Erbe seiner verheirateten Tochter geben. Nur unter der Bedingung, dass eine Absicherung Elizabeths in ihrer Witwenzeit gewährleistet wäre, stünde, einem Brief Elizabeth Cleres zufolge, einem Heiratsarrangement nichts im Wege.38 Elizabeth Paston akzeptiert das Agieren ihres Bruders und überlässt es ihm, die prestigeträchtigste Verbindung zu initiieren. Sie nimmt innerhalb der Briefe eine eher passive Rolle ein und stellt die eignen Wünsche hinter den Interessen der Familie zurück.39 Sowohl das familiäre Netzwerk als auch die persönliche soziale Verortung erweisen sich für Elizabeth als wichtig, sodass sie im Jahre 1458 die arrangierte Ehe mit Robert Poynings eingeht.
37 | PL I, Nr. 121. 38 | Vgl. PL II, Nr. 446. 39 | Vgl. Diane Watt: Medieval Women’s Writing: Works By and For Women in England, 1100-1500. Cambridge/Malden 2007, S. 142.
Ehre — Prestige — Profit
Die Akkumulation und Sicherung des Gesamtkapitals ist ein zentrales Vorhaben der Ehearrangements der Familie Paston. Die Bemühungen richten sich darauf, die Position der Haushaltsgemeinschaft innerhalb des sozialen Raums zu stärken. Die für Elizabeth Paston in Frage kommenden Verbindungen zeigen, dass es von großer Bedeutung ist, den materiellen Besitz durch Eheschließungen zu vermehren und die familiäre Reputation durch prestigeträchtige Netzwerkbildung zu erhöhen. Die Erfüllung individueller Interessen spielt eine untergeordnete Rolle. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Misshandlungen Elizabeths, die deutlich aufzeigen, welche sanktionierenden Maßnahmen zur Durchsetzung des Familieninteresses genutzt werden. Agnes’ dominantes Verhalten gegenüber ihrer Tochter verweist auf die Ehre als symbolisches Kapital, denn tugendsames Verhalten schützt die Sexualehre einer gentlewoman, die ein wichtiges Tauschkapital ist.40 Grund für die harte Bestrafung könnte – neben einer Verweigerungshaltung gegenüber dem Ehearrangement – sein, dass Elizabeth zuvor ›unehrenhafte‹ Verbindungen zu Männern unterhalten hatte, die ihre Mutter nun gewaltsam unterbindet, um das familiäre Prestige und etwaige Eheanbahnungen nicht zu gefährden. Agnes’ Agieren hat demnach die didaktische Funktion, ihrer Tochter den Verhaltenskodex einer gentlewoman einzuverleiben und somit einen Verbleib im sozialen Kreis der gentry zu gewährleisten.
M ARGERY PASTONS KL ANDESTINE E HESCHLIESSUNG Aufschlussreich für den Umgang mit ›unehrenhaften‹, nicht arrangierten Verbindungen ist der Fall der beiden Töchter Johns I. und Margarets. Sie unterhalten heimlich Kontakte zu Bediensteten des Haushalts. Die Liaison der jüngeren Tochter Anne zu John Pampyng kann erfolgreich unterbunden werden,41 sodass sie 1477 standesgemäß und zum Vorteil 40 | Vgl. grundlegend die Beiträge in Klaus Schreiner/Gerd Schwerthoff (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1995. 41 | Den Hinweis auf ein Verhältnis zwischen John Pampyng und Anne Paston erhalten wir in einem Brief von John Paston II. an seinen Bruder John III. aus dem Jahre 1473, in welchem er diesen bittet: »But amonge all other thyngys i praye yow beware þat þe olde love off Pampyng renewe natt.« (PL I, Nr. 282)
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der Familie den Juristensohn William Yelverton heiratet, dessen Familie vormals mit den Pastons in langwierigen Disputen um das prestigeträchtige Caister Castle gestritten hatte. Die ältere Tochter Margery tauscht jedoch ohne Zustimmung der Familie einen bindenden Treueschwur – gleich einer Eheschließung ohne Zeugen – mit dem Vermögensverwalter der Pastons Richard Calle aus, was nach Bekanntwerden zu immensen innerfamiliären Spannungen führt. Bereits seit dem vierzehnten Lebensjahr Margerys bemüht sich Margaret Paston, einen geeigneten Ehemann für ihre Tochter zu finden.42 Auf Ratschlag ihres Sohnes Johns III. reist sie mit Margery nach London, um dort sowohl am Kreuz an der Nordtür der St. Pauls Cathedral als auch am Kreuz der Abtei St. Saviour, einen guten Ehemann für Margery zu erbitten.43 Doch trotz der Bemühung um göttlichen Beistand fügt sich die Tochter nicht dem Wunsch ihrer Familie, einen ihrer Stellung als gentlewoman entsprechenden Mann zu ehelichen. Aus einem Brief, den Richard Calle 1469 an Margery überbringen lässt, ist zu erfahren, dass sie ihm bereits 1466 – im Alter von siebzehn Jahren – eigenmächtig den Treueschwur geleistet hatte. Richard hält Margery in dem Schreiben dazu an, ihrer Familie die Wahrheit über ihr mächtiges eheliches Band und die große Liebe, die zwischen ihnen ist, mitzuteilen: »[…] concederyng the gret bonde of matrymonye þat is made be—twixt vs, and also the greete loue þat hath be, and as I truste yet is, be—twixt vs, and on my parte neuer gretter.«44 Die Literaturwissenschaftlerin Ann Haskell bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Familie Paston von vornherein über den Treueschwur informiert gewesen sei, ihn aber ignoriert und Margery zwei Jahre isoliert habe.45 Diese Annahme kann jedoch in den Briefen nicht verifiziert werden. Sicherlich wusste die Familie von der Bindung, da Richard Calle in seinem Brief ausführt, dass Margery Mitgliedern ihrer Familie seine Briefe gezeigt habe. Deswegen habe er ihr zwei Jahre lang nicht geschrieben, denn Margaret hatte seine Briefe seither nicht mehr an Margery überbringen lassen. Der bindende Treueschwur ist in der Korrespondenz jedoch erst seit 1469 thematisiert,
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Vgl. PL I, Nr. 174. Vgl. PL I, Nr. 323. Vgl. PL II, Nr. 861. Vgl. Haskell: The Paston Women, S. 467.
Ehre — Prestige — Profit
sodass davon auszugehen ist, dass das Paar ihn vorher geheim gehalten hatte. Im Mai 1469 erreicht Sir John II. – nach Aussage Johns III. – das Bittgesuch Richard Calles und ihrer wie er schreibt »vngracyous sustyr[s]« Margery, der ehelichen Verbindung zuzustimmen.46 John III. reagiert darauf mit absoluter Abneigung, indem er seinem Bruder mitteilt, dass er Richard niemals seine Zustimmung dazu gebe, dass seine Schwester Kerzen und Senf im Ort Framlingham, in dem Richards Familie Handel in kleinem Stil betreibt, verkaufen müsse.47 Die kurz darauf im Sommer 1469 bekannt werdende heimliche Eheschließung des Paares ruft großes Entsetzen hervor, wie die Worte Johns III. bereits erahnen lassen. Alsbald denken die Pastons über Wege der Trennung nach, da Richard aufgrund seiner sozialen Herkunft einer gentlewoman wie Margery nicht würdig ist. Eine eheliche Verbindung bedeutet den Verlust der Position Margerys im sozialen Raum, der bei Akzeptanz seitens der Pastons auf den Haushalt zurückgewirkt und das mühevoll aufgebaute gesellschaftliche Ansehen, das noch immer fragil ist, gefährdet hätte. Die einzige Möglichkeit, eine Auflösung des Schwurs zu erreichen, sehen die Familienmitglieder in einem direkten Gespräch mit Walter Lyhert, dem Bischof von Norwich, den sie dazu anhalten, die Rechtsgültigkeit des Gelöbnisses zu prüfen, wie Margaret in einem Brief an ihren ältesten Sohn Sir John II. festhält. Da die Ehe als eines der sieben Sakramente eingestuft ist, bedarf die Überprüfung der Legitimität einer kirchlichen Beurteilung, weshalb die Einbeziehung Lyherts unumgänglich ist. Dass die intendierte Auflösung der Verbindung ein höchst schwieriges Unterfangen darstellt, ist den Pastons sicherlich bewusst, denn zu jener Zeit ist ein konsensual abgelegter Treueschwur bindend, weder Zeugen noch eine Zeremonie sind notwendig, um diesem Akt Legitimität zu verleihen.48 So sehen die kirchlichen Regelungen zwei Wege vor, eine Partnerschaft zu begründen, zum einen die sponsalia de futuro, das Verlöbnis,
46 | PL I, Nr. 332. 47 | Vgl. PL I, Nr. 332: »[H]e shold neuer haue my good wyll for to make my sustyr to selle kandyll and mustard in Framlygham.« (Vgl. Castor: Blood and Roses, S. 265) 48 | Vgl. Bennett: Pastons, S. 43.
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und zum anderen die sponsalia de praesenti, die Heirat.49 Die Verlobung wird dabei ebenso wie die Heirat durch eine bestimmte Wortwahl seitens des Paares begründet, die mehr oder weniger rechtskräftig ist.50 Daher ist die Prüfung der genauen Formulierung des Treuegelöbnisses notwendig. Die Formulierung wird im Falle Margerys und Richards Untersuchungsgegenstand des Bischofs von Norwich. Dieser lädt das Paar zu einer separaten Befragung, die bei Nichterscheinen zur Exkommunikation beider geführt hätte. Während der Befragung habe der Bischof, wie Margaret Paston ihrem Sohn detailliert schildert, Margery an ihre Herkunft erinnert und sie auf die Vorteile verwandtschaftlicher Netzwerke hingewiesen.51 Weiterhin habe er ihr vor Augen geführt, zu welch großer Schande und großem Nachteil ihr die Beziehung mit Richard Calle gereiche. Die Bedeutsamkeit sozialen Kapitals für die Verortung Margerys innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung ist hier augenscheinlich. Schließlich weist der Bischof Margery an, ihm die genaue Wortwahl des geleisteten Schwurs mitzuteilen, worauf sie ihm die verwendeten Worte wiedergibt und zugleich bekräftigt, dass sie unabhängig von den Worten, die gesagt wurden, mit ihrem Gewissen gebunden sei. Margaret bittet Walter Lyhert, wie sie in einem Brief an John II. ausführt, keinen Beschluss bezüglich der Legitimität der Eheschließung zu fassen, bis alle Testamentsvollstrecker ihres verstorbenen Gatten Johns I. zusammenkämen, damit sie gemeinsam über Margery entscheiden könnten. Da der Bischof sie zudem über die Aussage Margerys in der Befragung informiert hatte, habe sie veranlasst, die ›ehrlose‹ Tochter aus dem familiären Haushalt zu verstoßen. Sie überlässt es Lyhert, eine geeig49 | Vgl. zu den eherechtlichen Grundlagen Charles Donahue: Law, Marriage, and Society in the Later Middle Ages. Arguments about Marriage in Five Courts. Cambridge 2008. 50 | Vgl. Love, Sex and Marriage in the Middle Ages. A Sourcebook. Hg. von. London/New York 2004, S. 63. 51 | PL I, Nr. 203: »And þe Bysschop seyd to here ryth pleynly, and put here in rememberawns how sche was born, wat kyn and frenddys þat sche had, and xuld haue mo yf sche were rulyd and gydyd aftyre them; and yf sche ded not, wat rebuke and schame and los yt xuld be to here yf sche were not gydyd be them […] sche rehersyd wat sche had seyd, and seyd yf thoo worddys mad yt not suhere, sche seyd boldly þat sche wold make yt suerhere ore þat sche went thens; fore sche sayd sche thowthe in here conschens sche was bownd, wat so euere þe worddys wern.«
Ehre — Prestige — Profit
nete anderweitige Unterbringungsmöglichkeit für sie zu finden. Margery wird in die Dienste des Händlers Roger Best übergeben, der vormals das Amt als sheriff und mayor in Norwich bekleidet hatte. Margaret informiert John II. darüber und ermahnt ihn, sich den Verstoß seiner Schwester aus der Familie nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen, denn sie hätten nur eine »brethele« verloren.52 Der gebrauchte Terminus brethele, der in diesem Kontext mit Hure übersetzt werden kann,53 ist als direkter Verweis auf die Sexualehre, das symbolische Kapital Margerys zu verstehen. Margerys Handeln stellt für die etablierte soziale Position der Familie eine solch große Gefahr dar, dass einzig die Verbannung als geeignetes Mittel erscheint, den Schaden so gering wie möglich zu halten. Der Umstand, dass Margaret – entgegen ihrer Gewohnheit, die Abfassung der Korrespondenzen professionellen Schreibern anzuvertrauen – diesen Brief von ihrem Sohn Edmond fertigen lässt, lässt zudem darauf schließen, dass die schändliche Episode nach Möglichkeit diskret gehandhabt werden soll, um die Beschmutzung der Familienehre nicht unnötig nach außen zu tragen.54 Die Unterbringung einer Tochter in einem anderen Haushalt ist im spätmittelalterlichen England durchaus üblich.55 Die Briefwechsel der Familie Paston zeigen, dass Dienstverhältnisse nur thematisiert und initiiert werden, wenn familiäre Konflikte existieren, die das Prestige der Familie bedrohen. So auch im Fall Margerys, die zur Familie Best nach Norwich gesandt wird, damit ihr unziemliches Verhalten sanktioniert und überwacht sowie eine räumliche Trennung zwischen ihr und Richard geschaffen würde. Bereits im Jahr 1465 sind erste Bemühungen Margarets zu erkennen, Margery entweder in Dienste zu bringen oder eine Heirat zu arrangieren, 52 | PL I, Nr. 203: »I pray ٠ow and requere ٠ow þat ٠e take yt not pensyly, fore I wot wele yt gothe ryth nere ٠owr hart, and so doth yt to myn and to othere; but remembyre ٠ow, and so do I, þat we haue lost of here but a brethele, and set yt þe les to hart.« 53 | Vgl. Karen Cherewatuk: Marriage, Adultery and Inheritance in Malory’s Morte Darthur. Rochester 2006, S. 13. 54 | Vgl. ebd. 55 | Vgl. zu Dienstverhältnissen von Töchtern englischer gentry-Familien: Alison Hanham: Home or Away? Some Problems with daughters. In: The Ricardian, 13, 1985, S. 242-248.
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die zu ihrem »wurchep and profight«56 beitrage. Margaret weist diesbezüglich ihren jüngeren Sohn John III. an, bei der Unterbringung oder Verheiratung seiner Schwester »for [his] owyn wurchep and herys«57 mitzuwirken. Margaret ist aktiv daran beteiligt, das familiäre Prestige zu schützen und überträgt ihrem Sohn die Verantwortung dafür. Doch John III. bewerkstelligt weder eine geeignete Eheverbindung noch ein Dienstverhältnis zu arrangieren. Erneutes Interesse daran, einen Diensthaushalt für Margery zu finden, ergibt sich erst wieder, als der Treueschwur mit Richard Calle bekannt wird und die prekäre Situation durch diese Maßnahme entspannt werden soll.58 Die Unterbringung Margerys im Haushalt Roger Bests führt jedoch nicht zur Trennung des Paares. Richard und Margery heiraten für das gesellschaftliche Umfeld sichtbar im November 1470 in facie ecclesiae. Eine Versöhnung zwischen Margery und ihrer Mutter oder gar eine Anerkennung der klandestin geschlossenen Ehe vonseiten der Pastons scheint niemals stattgefunden zu haben. Auch die aus der Ehe Margerys und Richards entstammenden Kinder haben eine benachteiligte Position inne. Denn Margaret bedenkt in ihrem Testament zwar den Enkelsohn John Calle, aber sie vermacht ihm nur so wenig wie Constance, der illegitimen Tochter ihres Sohnes Sir John II., die im Testament in der Reihenfolge sogar noch vor John Calle aufgeführt wird.59 Die weiteren Kinder des Paares sind nur erbberechtigt, wenn der erstgeborene Sohn John Calle bei Inkrafttreten des Testaments bereits verstorben ist.60 Die Heirat in eine mittellose Händlerfamilie bedeutet für Margery, die aus einer gentry-Familie stammt, den endgültigen Bruch mit der Familie. Wie das Agieren der Familienmitglieder zeigt, wären die Pastons andernfalls Gefahr gelaufen, die eigene Stellung im sozialen Raum einzubüßen. Das familiäre Prestige nach Außen hin zu erhalten ist für die Familie Paston bedeutsamer als das Glück der Tochter, die sich wiederum aktiv gegen die Akkumulation des eigenen und familiären Gesamtkapitals entscheidet und somit ihre gesellschaftliche Position einbüßt. Hervorzuheben ist jedoch, dass die Handlungsoption vorhanden ist, eigenmächtig 56 57 58 59 60
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PL I, Nr. 186. Ebd. Vgl. Castor: Blood and Roses, S. 265f. Vgl. Watt: Medieval Women’s Writing. S. 140. Vgl. PL I, Nr. 230.
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eine Ehe zu schließen, und es somit möglich ist, dem familiären Willen nach eigenem Ermessen zu entfliehen. Für Margery scheinen demnach Fragen der familiären Ehre untergeordnet zu sein. Weder die Kapitalakkumulation ist handlungsleitend noch der Erhalt des sozialen Standes einer gentlewoman.
D IE H EIR ATSBESTREBUNGEN J OHN PASTONS II. Das Beispiel der missglückten Eheanbahnungen des Haupterben der Familie offenbart dessen erweitertes Handlungsrepertoire im Gegensatz zu den Töchtern. John Paston II., der im Jahr 1461 zum Ritter ernannt wird, bleibt bis zu seinem Tod im Jahr 1479 unverheiratet, was sehr unüblich für den ältesten Sohn ist und in seinem Fall keineswegs mit Desinteresse an einer ehelichen Verbindung zusammenhängt. 1468 lernt er auf der Hochzeit Margaret von Yorks in Flandern Anne Haute, eine Cousine der Königin, kennen, mit der er sich im Februar des folgenden Jahres verlobt. Seine Mutter Margaret erfährt durch Dritte von den Absichten ihres Sohnes und reagiert im März 1469 vorerst skeptisch auf die Heiratsbestrebungen. Sie gibt Sir John den Rat, sich weder unbedacht zu binden noch Zusicherungen zu machen, bevor er unangefochten über seinen derzeit noch umkämpften Landbesitz verfügen kann, denn überstürztes Handeln könne zu späterem Bedauern führen, da Eheversprechen eingehalten werden müssen.61 Margaret rekurriert hier auf die prekäre Lage Johns II., der sich 1469 bereits seit geraumer Zeit mit diversen Auseinandersetzungen um die Rechte an verschiedenen Besitztümern konfrontiert sieht. Besonders umkämpft ist Caister Castle, das prestigeträchtigste Objekt der Pastons und zugleich wichtiges kulturelles Kapital für John II., dessen Verteidigung enorme Summen verschlingt. John II., dessen ritterliche Sozialisation am 61 | PL I, Nr. 200: »[…] be right ware that ye bynde not your—self ner make non ensuraunce till ye be suere of a pesibill possession of your londe, for oftyn tyme rape rueth, and whan a man hath mad such a comenaunte he must kepit, he may not chese; there[fore] be not to hasty till your londe be clere.« Zum Ausdruck »oftyn tyme rape rueth« – ›Haste brings regret‹ siehe Norman Davis: The Paston Letters. A Selection in Modern Spelling. Oxford 1963, ND 2008, S. 173, Anm 1; pesibill-peaceable.
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Hofe König Edwards IV. sein Interesse an der höfischen Kultur und Lebensweise gefördert hat, befindet sich somit im Jahre 1469 in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten, die auf die gesamte Familie zurückwirken. Eine unüberlegte Heirat birgt die Gefahr, die ohnehin angespannte ökonomische Lage durch vertraglich festgelegte materielle Verpflichtungen im Falle einer Eheschließung zu verschlechtern. Margaret ist bei der Abfassung ihres Briefes im März noch nicht bekannt, dass die Eheschließung bereits beschlossen war. Erst einen Monat später vernimmt sie Gerüchte über ein etwaiges bindendes Verlöbnis mit Anne. Wiederum setzt sie sich umgehend schriftlich mit ihrem Sohn in Verbindung, ohne jedoch innerhalb des Schreibens Unmut darüber zu äußern, dass John II. sie nicht über die Verlobung informiert habe.62 Vielmehr überlässt sie es ihrem Sohn, eigene Entscheidungen zu treffen, appelliert aber dennoch an ihn, dass ein Verlöbnis vor Gott den gleichen Stellenwert wie eine Heirat habe und er seiner Verlobten daher treu sein müsse. Sie wünscht dem Paar »joy and wurchep to—geder«,63 rät John aber erneut dazu, die Heirat nicht zu überstürzen. Priorität habe die Sicherung seines Landbesitzes und Lebensunterhalts, denn eine Eheschließung sei mit hohen Kosten verbunden und könne ihm sonst leicht zum Nachteil gereichen. Seitens Johns II. ist keine Reaktion auf die Appelle seiner Mutter überliefert. Wir wissen nur, dass seine Kontakte zu Anne in den folgenden Jahren sporadisch bleiben. Es ist davon auszugehen, dass das Heiratsarrangement gezielt von John initiiert wurde, denn verwandtschaftliche Verbindungen zum Königshaus und daraus resultierende Netzwerke hätten sich profitabel auf die finanziellen Krisen des Hauses Paston ausge62 | Ebd.: »I haue non very knowleche of your ensuraunce, but if ye be ensured I pray God send you joy and wurchep to—geder, and so I trost ye shull haue if it be as it is reported of here. And a—nemps God ye arn as gretly bownd to here as ye were maried; and þerfore I charge you vp—on my blissyng that ye be as trew to here as she were maried on—to you in all degrees, and ye shall haue the more grace and the better spede in all othere thynges. Also I wuld þat ye shuld not be to hasty to be maried till ye were more suere of your lyvelode, for ye must remembre what charge ye shall haue, and if ye haue not to mayntene it, it wull be a gret rebuke; and therfore labour that ye may haue releses of the lordes and be in more suerté of your lond or than ye be maried.« 63 | Vgl. PL I, Nr. 201.
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wirkt. Besonders im langwierigen und verlustreichen Kampf um Caister Castle erhofft sich Sir John die Unterstützung des einflussreichen Adels. Seine Intention bei der Ableistung des Eheversprechens liegt daher vermutlich darin, mit der Verbindung ökonomisches und soziales Kapital zu akkumulieren. Durch das ökonomische Kapital kann vor allem seine Position als Landverwalter im Kreise der gentry gefestigt werden, dies wäre dem Prestige der Pastons dienlich gewesen. Den Zugewinn sozialen Kapitals erhofft sich Sir John im Umfeld des Hochadels, denn Anne Haute steht in verwandtschaftlicher Beziehung zu diesen Kreisen. Ob nun der Anspruch der Familie Anne Hautes an Sir John enttäuscht wurde oder umgekehrt, wissen wir nicht, aber die Beziehung endet schließlich mit der Trennung des Paares, die sich aufgrund des bindenden Charakters des öffentlich bekannten Verlöbnisses als überaus schwierig erweist. Das Verlöbnis konstituiert, wie bereits im Falle Margery Pastons und Richard Calles erläutert wurde, eine rechtskräftige Verbindung ähnlich des sakramentalen Charakters der Eheschließung. Um es zu lösen, bedarf es kirchlicher Autorität, und zwar direkt aus Rom. Der kirchliche Dispens ist jedoch äußerst kostspielig: Die von John genutzten Boten, sogenannte »Rome—rennere«,64 wie auch die Auflösung des Heiratsversprechens an sich verursacht ihm enorme Ausgaben. Es dauert zudem weitere vier Jahre, bis die Trennung von Anne Haute 1477 endgültig vollzogen werden kann. Die Verbindung der beiden währte neun Jahre, wobei John II. seit dem Jahr 1473 versuchte, die Verlobung zu lösen.65 Von einer Verbesserung seiner sozialen Position durch die Partnerschaft kann keine Rede sein, vielmehr stellt sie sich als zusätzliche Belastung heraus, die zumindest sein ökonomisches Kapital minimiert. Im Gegensatz zu seiner Schwester kann John II. vollkommen eigenmächtig über ein Ehearrangement entscheiden und die Auswahl der möglichen Gattin hat keinen Einfluss auf seine Position im Familienverband. Diese Freiheit ergibt sich zum einen aus seinem Stand als Erstgeborener und somit als Haupterbe seines Vaters, zum anderen als Resultat familiärer Konflikte seit dem Jahre 1461: John II. hat in fortwährendem Streit mit seinem 1466 verstorbenen Vater John I. gestanden.66 In der Folge wird 64 | PL I, Nr. 282. 65 | Vgl. zur Datierung der Auflösung der Verlobung PL I, Nr. 308. 66 | Vgl. Conor McCarthy: Marriage in Medieval England. Law, Literature and Practice. Woodbridge 2004, S. 88ff.
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Sir John 1465 kurzzeitig aus dem elterlichen Haus verstoßen, was sein Vater mit dem überheblichen, unbesonnenen, nutznießerischen und taktlosen Benehmen seines Sohnes begründet.67 John II. handele entgegen der Verhaltensnormen eines gentleman, sei den Bediensteten ein schlechtes Vorbild und zeige kein Interesse an Verwaltungstätigkeiten. Er benehme sich wie eine Drohne zwischen Bienen, erfahren wir durch seinen Vater, wobei die Bienen arbeiten, um Honig zu sammeln, die Drohne dazu jedoch nicht beitrage und dennoch ihren Teil davon nehme. Die Ehrkonzepte und Verhaltensmaßstäbe der gentlemen, die innerhalb der ›Paston Letters‹ vermittelt werden, stehen dem chivalric honour entgegen. Betragen, das in höfischem Umfeld gebräuchlich ist und das Sir John sich bei seinen langen Aufenthalten am Hofe des Königs oder in dessen Gefolgschaft auf Feldzügen angeeignet hatte, führt bei dem Großgrundbesitzer John I. zu Abwehr, woraus innerfamiliäre Konflikte resultieren. Es kann demnach durchaus vorkommen, dass die Verhaltensnormen von Gesellschaftsgruppen mit unterschiedlichen Positionen im sozialen Raum kollidieren und daraus Unstimmigkeiten entstehen. Doch scheint John II. trotz der Spannungen die Bande zu Anne Haute gezielt mit dem Vorhaben verknüpft zu haben, den familiären Besitz zu sichern und das soziale, ökonomische und symbolische Kapital zu mehren. Da die materiellen und beweglichen Güter Johns II. maßgeblich seine soziale Verortung und damit verbunden das soziale Kapital im Hochadel und der gentry bestimmen, muss er stets wohl überlegt handeln, indem er auf die Interessen seiner Verwandtschaftsgruppe Rücksicht nimmt. Bereits ein Jahr nach der Aufhebung der Verlobung mit Anne Haute erhält John erneut ein Heiratsangebot, wiederum von einer Verwandten der königlichen Familie, deren Name jedoch nicht überliefert ist. Es ist die letzte Nachricht über eine Eheanbahnung des Haupterben, denn Sir John verstirbt kurze Zeit später an der Pest, bevor Verhandlungen bezüglich des Heiratsarrangements stattfinden konnten. Abermals informiert 67 | PL I, Nr. 72: »[…] in his presumptuose and ondiscrete demenyng he gaf bothe me and yow cause of displeasir, and to other of my seruauntes ille exsaumple, and þat also guided hym to all mennes vndirstondyng þat he was wery of bidyng in myn hows, and he not insurid of help in any other place, yet þat grevyth nat me so evill as doth þat I neuir coud fele ner vndirstand hym poletyk ner diligent in helpyng hym—self, but as a drane amonges bees whech labour for gaderyng hony in the feldes and the drane doth nought but takyth his part of it.«
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John seine Mutter Margaret nicht über die Neuigkeiten und sie vernimmt wieder Gerüchte, die sie dazu veranlassen, ihren Sohn erneut darauf hinzuweisen, dass er die Ehe nur in Betracht ziehen solle, wenn seine Güter dadurch gesichert würden. Ansonsten, so schreibt sie, wäre es ihr lieber, er würde niemals im Leben heiraten.68 Margaret bleibt in diesem Brief ihrer Anschauung treu, dass eine Heirat nur angestrebt werden sollte, wenn sie zur Verbesserung der familiären Position im sozialen Raum beitrage und das Gesamtkapital zu vergrößern vermochte. Sie agiert weiterhin in der Funktion einer Ratgeberin, ohne jedoch unmittelbaren Einfluss auf John II. zu haben. Das autonome Handeln des Sohnes ist bereits daran zu erkennen, dass er seine Mutter nie persönlich über die potenziellen Partnerinnen informiert und sie zudem nicht in die Auswahl derselben einbezieht. Anhand der überlieferten Eheanbahnungen Johns II. ist ersichtlich, dass seine Heiratsabsichten stets eng mit dem Status der möglichen Gattin verknüpft sind. Raum für amouröse Erlebnisse bleibt außerhalb einer Ehe, wie mehrfach in den Briefen bezeugt ist.69 So ist ein Brief von Cecily Daune, einer Geliebten Johns, erhalten, in dem sie ihn nicht nur um finanzielle Unterstützung bittet, sondern auch das Gerücht über eine Heirat Sir Johns mit der Tochter der Herzogin von Sommerset anspricht.70 Des Weiteren existiert ein Schriftstück von Constance Reynyforth, der Mutter der unehelichen Tochter Sir Johns II., in welchem sie ihn um ein Treffen ersucht.71 Der Umstand, dass die Briefe beider Frauen überliefert sind und nicht vernichtet wurden, lässt auf deren Bedeutsamkeit schließen. Da Cecily wie auch Constance nicht aus angemessenen sozialen Verhältnissen stammen und somit keinen Nutzen zur Erweiterung jeglichen Kapitals erbringen, kommt eine Eheschließung mit diesen Frauen für John II. nicht in Frage. Die Beziehungen zu standesgemäßen Frauen sind speziell für die Ritter des späten Mittelalters wichtig, denn sie nutzen ebendiese Frauen oder ihre eigene Anziehungskraft auf Frauen dazu, andere Männer derselben sozialen Gruppe zu beeindrucken. Die eigene Position in der ritterlich68 | PL I, Nr. 228: »[…] or ellys by my trowth I had rathere þat ٠e neuer maryd in your lyffe«. 69 | Vgl. bspw. PL II, Nr. 745. 70 | Vgl. PL II, Nr. 753, verfasst zwischen 1463 und 1468. 71 | Vgl. PL II, Nr. 781.
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höfischen Welt wird demnach durch die offen angezeigten Verbindungen zu Frauen gestärkt, womit ihnen die Funktion einer Vermittlerin männlicher Beziehungen zukommt, die zur Mehrung des sozialen Kapitals der adligen Männer beiträgt.72 Deutlich wird am Beispiel Johns II. das Nebeneinander zweier Lebensstile, einerseits die Welt des Ritters und des von der höfischen Welt angetanen John II., der vor allem adlige Frauen zur Stärkung seiner Position nutzt, und andererseits die Welt der gentry, in der John II. seinen Landbesitz sichern muss. Dies verlangt eine Einbindung in das familiäre Netzwerk. So ist es sein Ziel, nach Möglichkeit zur Akkumulation des Gesamtkapitals sowohl im Umfeld des Hochadels als auch im Kreis der ländlichen gentry beizutragen. Aufgrund der differenten Lebensstile führt dies jedoch zu Konflikten, die sein persönliches Prestige zu gefährden vermögen.
Z USAMMENFASSUNG Die beschriebenen Eheanbahnungen der Familie Paston zeigen eine Bandbreite an Verlaufsformen. Deutlich wird, dass die Partnerwahl zumeist den gesamten Haushalt der jeweiligen Familie betrifft und die Handlungsrepertoires der aktiv in die Anbahnungen und Verhandlungen involvierten Akteur_innen je nach Position in der Familienhierarchie variieren. Gender erscheint als eine relevante Kategorie, die jedoch nicht allein Handlungsrepertoires bestimmt, denn Alter und Status innerhalb der Familie sind ebenso wirkmächtige Strukturkategorien, die das Handeln beeinflussen. Entscheidungen für oder gegen eine Heirat ergeben sich aus Interaktionen der Mitglieder einer Verwandtschaftsgruppe, die verschiedene Personen des Haushalts einbindet. So kann beispielsweise John I. im Fall der Eheanbahnung für seine Schwester Elizabeth entscheiden, welche Verhandlungen fortgesetzt werden, doch gibt seine Mutter Agnes stets Ratschläge innerhalb der von ihr überlieferten Briefe. Zudem tauschen sich auch Margaret und Elizabeth bezüglich der Eheverhandlungen und der etwaigen Partner mit Mitgliedern der Haushaltsgemeinschaft aus, wie durch die Briefe zu erfahren ist. Auch bei Margery Pastons klandes72 | Vgl. Ruth Mazo Karras: From Boys to Men. Formations of Masculinity in Late Medieval Europe. Philadelphia 2003, S. 25.
Ehre — Prestige — Profit
tinem Treueversprechen führen Margaret und Agnes – wie auch die von Margaret benannten Testamentsvollstrecker ihres verstorbenen Ehegatten – die Gespräche über mögliche Verfahren der Trennung Margerys und Richards an. Ähnliches ist bei dem gescheiterten Ehearrangement Sir Johns II. feststellbar, der zwar autonome Entscheidungen bezüglich einer potenziellen Partnerin treffen kann, aber ebenso Appelle zum rechten Handeln vonseiten seiner Mutter Margaret erhält, die damit versucht Einfluss zu nehmen. Die Frauen der Familie haben im Allgemeinen weniger Einfluss auf Ehearrangements, agieren jedoch gemäß ihrer Möglichkeiten in den Funktionen einer Ratgeberin oder auch Vermittlerin. Für die aufsteigenden Pastons ist es enorm wichtig, im Hinblick auf eine mögliche Kapitalakkumulation zu agieren, um sich in der Gruppe der gentry positionieren zu können. Daher müssen Heiraten dazu beitragen, den Status des Haushalts zu sichern und nach Möglichkeit auch zu verbessern. Sich in die gentry einzugliedern bedeutet für die Familie auch das gentry-spezifische Ehrkonzept des worship zu internalisieren und immer wieder aufzurufen. Symbolisches Kapital zu erwerben steht somit im Mittelpunkt jeglichen Handelns der Pastons und bedarf besonderen Schutzes. Die Verfahrensweise der Familie mit Margery zeigt auf, wie worship und profit gewahrt werden soll. So erscheint der Verstoß Margerys aus dem Haushalt das einzige Mittel, um die Position der Familie im sozialen Raum und damit verbunden das Prestige in der Gesellschaftsgruppe der gentry zu schützen. Diese drastische Maßnahme ist in vermögenden Familien zu dieser Zeit nicht selten. Die kirchlichen Regelungen, die ein Selbstbestimmungsrecht in der Wahl des Partners vorsahen, stehen den familiären Interessen und Praktiken entgegen, was zu Konflikten führen kann. Durch die Analyse der Briefe unter Zuhilfenahme bourdieuscher Konzepte von Positionierungsprozessen im sozialen Raum, im speziellen der Kapitaltheorie, wurde der intendierte sozioökonomische Charakter von Eheanbahnungen im Umfeld einer spätmittelalterlichen gentryFamilie aufgezeigt. Bemerkenswert sind die Grenzen des Ehrkonzepts, denn entgegengesetztes Handeln ist ebenfalls eine Option, die zumindest die Töchter Margarets und Johns I. nutzen und somit ein dynamisches Moment offenbar wird.
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Kunst als Freiraum? Strategien weiblicher Subjektivierung bei Victoria Benedictsson, Helene Böhlau und Toni Schwabe Jenny Bauer
Im ausgehenden 19. Jahrhundert ersinnen Schriftstellerinnen kaum eine weibliche Romanfigur, die sich nicht der Kunst verschrieben hat. Das Motiv der jungen Frau, die nach alternativen Gestaltungsmöglichkeiten ihres Lebens zu der für sie vorgesehenen Rolle als Ehefrau und Haushaltsvorstand sucht, ist um 1900 – parallel zu den wachsenden Möglichkeiten weiblicher Erwerbstätigkeit – virulent. Die Heldinnen der als ›Frauenromane‹ klassifizierten Literatur träumen dabei keineswegs von einer zu dieser Zeit klassisch ›weiblichen‹ Berufstätigkeit als Sekretärin, Lehrerin oder gar Ärztin – es zieht sie zur Kunst, vornehmlich zur Bildenden Kunst. Kunstschaffen wird in dieser Zeit zum zentralen Symbol weiblicher Subjektivierung. Der Frage, wie es zu dieser Favorisierung kommt, soll im Folgenden anhand des schwedischen Romans Pengar1 [›Geld‹] (1885) von Victoria Benedictsson und der deutschen Romane Der Rangierbahnhof2 (1896) der zu ihrer Zeit prominenten Schriftstellerin Helene Böhlau und Bleib jung, meine Seele!3 (1906) der unbekannt gebliebenen Autorin Toni Schwabe nachgegangen werden.
1 | Ernst Ahlgren (Pseudonym für Victoria Benedictsson): Pengar. In: Ernst Ahlgren: Samlade Skrifter. Bd. 3, Stockholm 1919. (Im Folgenden mit dem Kurztitel Pengar und Seitenangabe im Text nachgewiesen.) 2 | Helene Böhlau: Der Rangierbahnhof. Berlin 1913. (Im Folgenden mit Kurztitel Rangierbahnhof und Seitenangabe im Text nachgewiesen.) 3 | Toni Schwabe: Bleib jung, meine Seele! Berlin 1906. (Im Folgenden mit Kurztitel Bleib jung und Seitenangabe im Text nachgewiesen.)
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Stellt die Kunst für junge Frauen einen Freiraum innerhalb einer ansonsten durch limitierte Handlungsmöglichkeiten gekennzeichneten Gesellschaft dar? Falls ja, wie gestaltet sich dieser Freiraum? Die Rede in räumlichen Metaphern, hier am Beispiel des ›Freiraums‹, scheint für die Verhandlung hierarchisch organisierter Geschlechterverhältnisse besonders geeignet zu sein. Der vorliegende Artikel sucht Verbindungslinien zwischen dieser räumlichen Metapher sowie der Gestaltung und Bewertung von Handlungsräumen im Text, um vor dieser Folie die Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Subjektivierungsstrategien um 1900 aufzuzeigen.
K ULTUR , W EIBLICHKEIT UND LITER ARISCHE M ODERNE Steht weibliches Künstlertum bei den hier vorgestellten Texten im Mittelpunkt des Interesses, so stellt sich die Frage, wie dieses Thema um 1900 derart Zentrum der Aufmerksamkeit geraten konnte. In Deutschland vermehrte sich in den 1880er-Jahren der Ruf nach einer neuen Kunstrichtung, die dem durch die Industrialisierung hervorgegangenen gesellschaftlichen Wandel Rechnung zu tragen vermochte. In den Kontext einer sich aus diesen Umständen entwickelnden naturalistischen Ästhetik gehörten auch lebhafte Diskussionen um die sogenannte ›Frauenfrage‹. Ob und welche Wesenhaftigkeit den als dual entworfenen Geschlechtern inne war, wurde in diesem Zusammenhang zur Disposition gestellt, wobei sich die Diskussion wesentlich stärker auf vermeintliche Eigenarten von Frauen konzentrierte. So konstatiert Karin Tebben, daß sich die Diskussion zur ›Natur der Frau‹, die zur Jahrhundertwende desto heftiger entbrannte, je vehementer die sich formierende Frauenbewegung auf einer Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf bestand, als strategisch relevantes Moment für die Strukturierung des Geschlechterverhältnisses auf allen Ebenen erweist […]. 4
Künstlerisches Schaffen von Frauen wird dabei in besonderem Maße als Überschreitung etablierter Geschlechtergrenzen empfunden. Dies wird 4 | Karin Tebben: Literarische Intimität. Subjektkonstitution und Erzählstruktur in autobiographischen Texten von Frauen. Tübingen, Basel 1997, S. 162.
Kunst als Freiraum?
in der Literatur anhand der geschlechtsspezifisch divergierenden Bearbeitung des Themenfeldes Adoleszenz deutlich, das im Diskurs der Zeit als prägend für die Herausbildung der Künstler_innen-Identität gilt: Geht es in den Texten von Autoren vornehmlich darum, daß der Jugendliche den autoritären Reglementierungen zu trotzen versucht, indem er eine eigene künstlerische Gegenwelt aufbaut, um sich vom Kind zum Erwachsenen, vom (Spieß-) Bürger zum Künstler zu emanzipieren, so wird in vielen Texten von Autorinnen die Adoleszenz als eine Phase thematisiert, in der es kaum darum geht, sich von Autorität zu lösen, sondern sich vielmehr gegen projektive Übergriffe seitens der Erzieher zu behaupten und von bereits internalisierten Vorstellungen zu befreien. 5
Neben ›Geschlecht‹ als struktureller Analysekategorie ist demnach auch die Kategorie ›(Lebens-)Alter‹ zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Kategorie ›Klasse‹ ist anzumerken, dass sich die Diskussionen um weibliche Emanzipation und Künstler_innentum auf eine bestimmte soziale Schicht konzentrierten und dass dieser Umstand sich auch in den vorgestellten Romanen widerspiegelt. Wenn in den Textanalysen von einem Streben nach weiblicher Emanzipation die Rede ist, dann bezieht sich dies vor allem auf Konzepte individueller Selbstverwirklichung. Auch wenn eine thematische Ähnlichkeit zu den politischen Forderungen der unterschiedlichen Flügel der Frauenbewegung unübersehbar ist, ist von einem grundsätzlichen Konsens zwischen Schriftstellerinnen und Frauenrechtler_innen keineswegs auszugehen – teilweise fürchteten die Autorinnen gar, von den Aktivist_innen als Sprachrohr herangezogen zu werden.6 Zwar fand die Veränderung tradierter Rollenbilder Eingang in den Diskurs der literarischen Moderne, dies bedeutet aber keineswegs, dass auch die etablierten, männlich geprägten Kriterien ästhetischer Wertung
5 | Vgl. Ortrud Gutjahr: Unter Innovationsdruck: Autorinnen der literarischen Moderne. In: Waltraud Wende (Hg.): Nora verläßt ihr Puppenheim. Autorinnen des 20. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur ästhetischen Innovation. Stuttgart 2000, S. 3565, hier S. 57. 6 | Vgl. Karin Tebben: Der weibliche Blick auf das Fin de siècle. Schriftstellerinnen zwischen Naturalismus und Expressionismus: Zur Einleitung. In: Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle. Darmstadt 1999, S. 1-47, hier S. 25.
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einer grundsätzlichen Kritik unterzogen wurden.7 Da literarische Wertung Einfluss darauf nimmt, welche Texte als tradierenswert betrachtet werden und damit dem kulturellen Gedächtnis erhalten bleiben, hat diese Entwicklung weitreichende Konsequenzen für die Texte von Autorinnen. So werden deren zur Zeit ihrer Erscheinung teils erfolgreichen Werke allzu bald als ›Tendenzliteratur‹ klassifiziert und als nicht länger lesenswert aussortiert. Die Orientierung an den ästhetischen Maßstäben eines von Männern dominierten Kulturbetriebes hat zudem Auswirkungen auf die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Texten: Indem […] tradierte philologisch-ästhetische Maßstäbe angelegt werden, wird unter der literaturwissenschaftlichen Analyse und Bewertung auch die Ausgrenzung noch einmal sanktioniert, indem die Marginalität, die nach ›philologischen‹ Gesichtspunkten teilweise zu attestieren ist, nochmals festgeschrieben ist. Erst durch kulturwissenschaftliche Analysen kann die Bedeutung der Autorinnen für den Konstitutionsprozeß der Moderne hinreichend analysiert werden. 8
Individualität, Vereinzelung und Subjektzentriertheit gelten als kennzeichnend für die Literatur der Frühen Moderne. Die im wissenschaftlichen Diskurs konstatierte Krise des modernen Subjekts wird von feministischer Seite als einseitig kritisiert. Das moderne Individuum, so der Einwand, wird universalistisch männlich gedacht, während die Konflikte weiblicher literarischer Figuren als gruppenspezifische Problematik klassifiziert werden.9 Parallel dazu werden Frauen in der Forschung zur literarischen Moderne als Akteurinnen im künstlerischen Feld ausgeblendet.10 Finden sich so für das ausgehende 19. Jahrhundert zahlreiche Studien zu Diskursen um die ›Verweiblichung‹ der Kultur11 oder zur Haltung kano-
7 | Gutjahr: Unter Innovationsdruck, S. 57. 8 | Ebd., S. 61f. 9 | Vgl. Hannelore Bublitz: Das Geschlecht der Moderne – Zur Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz. In: Dies. (Hg.): Das Geschlecht der Moderne. Zur Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz. Frankfurt a.M. 1998, S. 26-48, hier S. 36. 10 | Vgl. ebd. und Gutjahr: Unter Innovationsdruck. 11 | Vgl. hier beispielhaft Gisela Brinker-Gabler: Feminismus und Moderne: Brennpunkt 1900. In: Walter Haug/Wilfried Barner (Hg.): Ethische contra ästheti-
Kunst als Freiraum?
nisierter männlicher Autoren im Hinblick auf die ›Frauenfrage‹,12 so legt die vorliegende Studie ihren Fokus auf Strategien weiblicher Subjektivierung in Texten von weniger bekannten Autorinnen. Die schwedische Autorin Victoria Benedictsson (1850-1888), die zu Lebzeiten unter dem männlichen Pseudonym Ernst Ahlgren veröffentlichte, gilt in Skandinavien als eine der bekanntesten Vertreterinnen der am deutschen und französischen Naturalismus orientierten Strömung des ›Modernen Durchbruchs‹. Obwohl Benedictssons Roman Pengar demnach als kanonisiert gelten kann, findet er in der neueren Forschung vergleichsweise wenig Beachtung.13 In Deutschland haben Benedictssons Texte bei einem größeren Lesepublikum kaum Bekanntheit erreicht.14 Helene Böhlau (1846-1940) war zu Lebzeiten eine bekannte und erfolgreiche Autorin. Besonders ihre Romane Der Rangierbahnhof (1896) und Halbtier! (1899) finden im Kontext der Forschung zu weiblicher Autorschaft um 1900 weiterhin Beachtung.15 Toni Schwabe (1877-1951) ist von den drei besprochenen Autorinnen die unbekannteste.16 Den größten literarischen Erfolg hatte Schwabe mit einer Romanreihe zu verschiedenen Lebensstadien Goethes, zudem gründete sie als eine der ersten Frauen in Deutschland einen eigenen Verlag. Schwabes Frühwerk, vor allem der
sche Legitimation von Literatur. Traditionalismus und Modernismus: Kontroversen um den Avantgardismus. Tübingen 1996, S. 228-234. 12 | Vgl. hier beispielhaft Theodore Fiedler: Rilke, Ellen Key und die Frauenfrage um die Jahrhundertwende. In: Peter Demetz/Joachim Storck/Hans-Dieter Zimmermann (Hg.): Rilke – ein europäischer Dichter aus Prag. Würzburg 1998, S. 141-153. 13 | Vgl. Annegret Heitmann: Intermedialität im Durchbruch. Bildkunstreferenzen in der skandinavischen Literatur der frühen Moderne. Freiburg i.Br. 2003, S. 251. 14 | Vgl. Johannes Wanner: Nachwort des Übersetzers. In: Victoria Benedictsson: Geld. Roman. Aus dem Schwedischen von Johannes Wanner. Zug 2003, S. 234-240, hier S. 239f. 15 | Vgl. u.a. Ludmilla Kaloyanova-Slavova: Übergangsgeschöpfe: Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Helene Böhlau und Franziska von Reventlow. New York 1998. 16 | Vgl. zur Übersicht Bernd Hamacher: »Mein Gott warum darf ich nie mein Königreich besitzen«. Toni Schwabe (1870-1955) in Tagebüchern und autobiographischen Skizzen. In: Zeitschrift für Ideengeschichte, 3, 2008, S. 101-114.
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mit Unterstützung von Thomas Mann erschienene17 Debütroman Die Hochzeit der Esther Franzenius (1902) und der 1906 folgende Roman Bleib jung, meine Seele!, dreht sich um Fragen weiblicher Selbstfindung; diese Texte wurden bislang noch nicht in die Diskussion zu weiblicher Autorschaft um die Jahrhundertwende mit einbezogen. Der vorliegende Beitrag widmet sich weniger der Diskussion um den literarischen Wert der vorgestellten Texte oder der Frage, ob für die literarische Moderne eine wie auch immer geartete ›weibliche Ästhetik‹ evoziert werden kann. Vielmehr wird die Auseinandersetzung der Protagonistinnen mit dem Kunstbetrieb als Legitimierungsstrategie weiblicher Berufstätigkeit verstanden. Der Blick zur schwedischen Literatur ist aufschlussreich, da der skandinavische Kulturbetrieb den deutschsprachigen Vertreter_innen der literarischen Moderne als vorbildhaft galt, was die Diskussion der ›Frauenfrage‹ betrifft.18 Doch obwohl das ausgehende 19. Jahrhundert eine Periode des lebhaften intellektuellen Austausches zwischen Deutschland und Skandinavien darstellt, finden sich wenig intertextuelle Bezüge zwischen den Texten deutscher und skandinavischer Autorinnen. Als weibliche Kulturschaffende im deutsch-skandinavischen Kontext treten vor allem die schwedische Reformerin Ellen Key, die deutsch-baltische Autorin Laura Marholm und die deutsch-russische Autorin Lou Andreas-Salomé in Erscheinung. Deren Positionen zu weiblicher Emanzipation werden kontrovers diskutiert.19 Die Identifikation beziehungsweise die Auseinandersetzung mit den skandinavischen Literaturen erfolgte in Deutschland jedoch vornehmlich 17 | Vgl. Heinrich Detering: Das Ewig-Weibliche. Thomas Mann über Toni Schwabe, Gabriele Reuter, Ricarda Huch. In: Thomas-Mann-Jahrbuch, 12, 1999, S. 149169, hier S. 149f. 18 | Vgl. Maria Krysztofiak: Karl Kraus und die skandinavische Moderne. In: Annegret Heitmann/Karin Hoff (Hg.): Ästhetik der skandinavischen Moderne. Bernhard Glienke zum Gedenken. Frankfurt a.M. 1998, S. 327-341. 19 | Vgl. hier stellvertretend Tebben: Fin de siècle; Ebba Witt-Brattström: Aufstieg und Fall der weiblichen Genealogie um 1900. Die feministische Theorie und New-Woman-fiction: Laura Marholm. In: Constanze Gestrich (Hg.): Faszination des Illegitimen. Alterität in Konstruktionen von Genealogie, Herkunft und Ursprünglichkeit in den skandinavischen Literaturen seit 1800. Würzburg 2007, S. 147-159.
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über prominente kanonisierte Autoren. So gilt etwa Henrik Ibsen als Verfasser von Dramen wie Et Dukkehjem [›Nora oder ein Puppenheim‹] (1879) und Hedda Gabler (1890) als Wegbereiter eines neuen Geschlechterverständnisses.20 Die vergleichende Perspektive auf die Romane deutscher und skandinavischer Autorinnen offenbart jedoch thematische Kongruenzen weiblich-bürgerlicher Lebensentwürfe zwischen Vernunftehe, Orientierung(slosigkeit) und Auf bruchsstimmung.
S TANDORTBESTIMMUNGEN IM SPATIAL TURN Wie erwähnt ist die literarische Moderne unter anderem durch den Diskurs über weibliche Identität gekennzeichnet, der sich auch auf außerliterarische Wissensbereiche wie die Naturwissenschaft bezieht. Für die Verwendung der Termini ›weiblich‹ und ›Frau‹ wird im Folgenden die Annahme vorausgesetzt, dass sich einerseits die schreibenden Subjekte performativ innerhalb eines soziokulturell verankerten Zweigeschlechtermodells als ›weiblich‹ beziehungsweise als ›Frauen‹ situiert haben, und andererseits, dass die hier vorgestellten literarischen Figuren innerhalb des genannten Geschlechtersystems in einem Spannungsfeld zwischen Reproduktion und Problematisierung von als weiblich konnotierten gender-Rollen konzipiert werden. Wird dem Narrativ bei der Identitätskonstruktion eine zentrale Funktion zugesprochen,21 so erstaunt es kaum, dass gerade Erzähltexte bei der Verhandlung geschlechtlicher Identität eine besondere Rolle spielen. Literarische Texte repräsentieren gesellschaftliche Machtverhältnisse, sie sind aber an der Hervorbringung symbolischer Repräsentationssysteme auch beteiligt.22 Da Macht beziehungsweise Herrschaft auch den (gesellschaftlichen) Raum strukturieren, wird dieser zum bevorzugten Untersuchungsgegenstand für die Frage, »wie 20 | Vgl. Tebben: Fin de siècle, S. 6. 21 | Per Thomas Andersen: Identitetens geografi. Steder i litteraturen fra Hamsun til Naipaul. Oslo 2006, S. 8. 22 | Vgl. Stefanie Bock: Geographies of Identity: Der literarische Raum und kollektive Identitäten am Beispiel der Inszenierung von Raum und Geschlecht in Sybil Spottiswoodes ›Her Husband’s Country‹. In: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 281-297, hier S. 282.
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das Geschlechterverhältnis in […] Verteilungs-, Kontroll- und Repräsentationssysteme, ihre Aufrechterhaltung und Veränderung eingebunden ist und sie konstituiert«.23 Ein Zusammenhang für die Attraktivität des Bildbezugs bei der narrativen Herstellung von Identität ist darin zu sehen, dass die Malerei traditionell als Domäne des Raumes fungiert. So verweist Jan Engelke auf die »Wirkmächtigkeit der Gattungsunterscheidung von Lessing«,24 nach der die Poesie durch die Zeit und die Malerei durch den Raum konstituiert sei. Eignet sich die Metapher des Freiraums zur Formulierung von Subjektivierungsansprüchen, so wird dieser sowohl im Bildraum als auch im gesellschaftlichen Raum des Kunstbetriebs situiert. In diesem Zusammenhang ist zu erörtern, von welchem Raum die Rede ist. Der durch die Humangeografie inspirierte und kulturwissenschaftlich orientierte spatial turn hat bislang eine große Menge an Forschungsliteratur hervorgebracht, deren kleinster gemeinsamer Nenner ist, dass Raum als soziales beziehungsweise kulturelles Produkt betrachtet wird. In diesem Kontext wird Raum ebenso das Potenzial zugesprochen, den zu Abstraktion neigenden Geistes- und Kulturwissenschaften eine Rückbindung an Materialität zu ermöglichen,25 wie das Vermögen, Räume jenseits materieller Koordinaten zu beschreiben.26 Es macht zugleich die Stärke und die Schwäche der Kategorie Raum aus, dass diese höchst unterschiedliche und teils widersprüchliche Definitionsebenen und Zugangsweisen eröffnet. Die Stärke besteht in der Offenheit und Pluralität dieser Kategorie, die einen Zugang über disziplinäre Grenzen hinweg ermöglicht, problematisch hingegen ist, dass die enorme Quantität der unterschiedlichen Definitionen und Funktionszuschreibungen von Raum eine gemeinsame Diskussionsgrundlage erschwert. 23 | Gudrun Axeli-Knapp: Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung. Wiesbaden 2012, S. 229. 24 | Jan Engelke: Die Räumlichkeit von Texten und die Textualität von Räumen. In: Oliver Kohns/Martin Roussel (Hg.): Einschnitte. Identität in der Moderne. Würzburg 2007, S. 117-135. 25 | Vgl. Sigrid Weigel: Zum »topographical turn«. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, 2, 2002, S. 151-165. 26 | Vgl. Doris Wastl-Walter: Gender-Geographien. Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen. Stuttgart 2010, S. 28.
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Ohne an dieser Stelle tiefer auf die Diskussion über multiple Zugangsmöglichkeiten zu der Definition von Raum als Analysekategorie eingehen zu können, sollen im Folgenden sowohl abstrakte als auch konkrete Raumbegriffe verwendet werden. Es wird davon ausgegangen, dass sowohl die faktuale (also die ›reale‹) als auch die fiktionale (also die erdachte beziehungsweise erzählte) Welt gleichermaßen von konkreten räumlichen Strukturen wie von abstrakten räumlichen Vorstellungen geprägt ist. Jurij M. Lotmans Überlegung, dass Raumdarstellungen in literarischen Texten abstrakte Inhalte versinnbildlichen,27 kann in diesem Kontext für einen Teil der betrachteten Erscheinungsformen von Raum in den zu untersuchenden Texten als Grundlage dienen. So fungieren die in den Romanen eröffneten räumlichen Relationen von Enge und Weite als Synonyme für individuelle Freiheit beziehungsweise Beschränkung. Gleichzeitig finden sich in den vorgestellten Texten auch räumliche Strukturen, die keine materielle Entsprechung aufweisen, wie die Metapher des Freiraums. Mit Blick auf den Kunstbetrieb lässt sich keine eindeutig zuzuordnende Korrespondenz zwischen konkreter Raumgestaltung und abstraktem Inhalt ausmachen. Vielmehr ist der Kunstbetrieb als ein Set von Diskursen und Praktiken zu beschreiben, dem auch bestimmte Orte – etwa das Museum oder das Atelier – zugeordnet sind. Auf eine Bestimmung der Korrelation zwischen abstrakten und materiellen Aspekten speziell nationaler Raumkonstruktion, die für die Betrachtung von Texten unterschiedlicher Philologien von Interesse ist, kann im Folgenden nur am Rande eingegangen werden.
L EBEN AUF DER E INBAHNSTR ASSE : P ENGAR [›G ELD ‹] (1885) Victoria Benedictssons Roman wird in der Literaturgeschichte als typischer Frauenroman der 1880er-Jahre gehandelt,28 der sich, ähnlich wie etwa der Roman Constance Ring (1885) der norwegischen Autorin Amalie Skram, mit der Problematik der Versorgungsehe und der erzwungenen ökonomischen Unselbstständigkeit von Frauen befasst. Skandinavische Schriftstellerinnen folgen dem Appell des zeitgenössischen Literaturbe27 | Vgl. Jurij. M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972. 28 | Vgl. Heitmann: Intermedialität im Durchbruch, S. 251.
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triebs, in ihren Texten aktuelle Probleme zur Debatte zu stellen, indem sie die Konsequenzen zweckorientierter Eheschließungen und moralischer Doppelstandards in Form der als subjektzentriert geltenden Perspektive des Romans thematisieren. Bereits der Titel des Romans (›Geld‹) verweist auf die ökonomischen Rahmenbedingungen, die eine selbstbestimmte Lebensführung von Frauen verhindern, und stellt diese in den Mittelpunkt der Erzählung. Geschildert wird die Entwicklung der Protagonistin Selma, die als Heranwachsende von ihrem Onkel überredet wird, sich mit dem wohlhabenden Pastor Pål Kristerson zu verheiraten, statt der von ihr angestrebten Ausbildung an der Kunsthochschule nachzugehen. Als Ehefrau des Pastors führt Selma ein einsames Leben, ihr Cousin Richard ist ihr einziger ebenbürtiger Gesprächspartner. Lisbeth Larsson charakterisiert Pengar als Desillusionierungsroman, an dem sich zeigt, dass sich die Forderungen des ›Modernen Durchbruchs‹ nach individualistischer Selbstverwirklichung für Frauen schwerlich umsetzen lassen. Selmas finale Diskussion mit Pål, in der die Furcht vor Armut gegen den Wunsch, ihre Ehe zu beenden, noch einmal abgewägt wird, wird als Replik auf Henrik Ibsens ›weltfremden Idealismus‹ verstanden, der in Et Dukkehjem [›Nora oder Ein Puppenheim‹] durch Noras konsequenten Fortgang gestaltet wird.29 Das Thema des Freiraums wird in der Erzählung durch die Schilderung der Schauplätze gestaltet. Der Roman beginnt mit einer Schilderung des Ortes, an dem Selma bei ihrem Onkel lebt: Byen ägde icke mer än en enda gata, om den ens kunde hedras med detta namn, ty den var helt enkelt en mindre väg, utan spår av stenläggning, och oförsvårligt illa hållen (Pengar, S. 5). [Das Dorf besaß nicht mehr als eine einzige Straße, wenn diese überhaupt dem Namen Ehre machen konnte, denn sie war ganz einfach ein kleinerer Weg, ohne die Spur eines Steinpflasters und unverantwortlich schlecht unterhalten.] 30
29 | Lisbeth Larsson: Den tabte utopi. Victoria Benedictsson, Axel Lundegård og det moderne gennembruds fortælling om kvinden. In: Jon Helt Haarder (Hg.): Hvad de andre ikke fortæller. Livet som indsats i og efter det moderne gennembrud. Odense 2008, S. 125-146, hier S. 130. 30 | Auch im Folgenden: Übers. JB.
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Selmas Perspektivlosigkeit wird auf diese Weise durch die Gestaltung des sie umgebenden Raums symbolisiert – als junge, mittellose Frau vom Dorf befindet sie sich buchstäblich auf einer Einbahnstraße. Durch ihre Heirat erhöht sich Selmas sozialer Status, ihre materielle Versorgung drückt sich im Besitz von Kleidern, Schmuck und einem Reitpferd aus. Dennoch fühlt sie sich als Fremde im Haus ihres Ehemanns: Det fanns intet i hela detta stora hus som var hennes eget. Det var hans – hans alltihop! Hon kände sig som en snyltgäst, och när pigan neg, tog henne i hand og sagde: ›God dag, fru!‹, då skämdes hon ordentligt. Vad rättighet hade hon här? [(Ebd. Pengar, S. 106)] [Es gab nichts in diesem ganzen großen Haus, das ihr gehörte. Es war seins, alles seins! Sie fühlte sich wie eine Schmarotzerin, und als das Dienstmädchen knickste, ihre Hand nahm und ›Guten Tag, gnädige Frau!‹ sagte, schämte sie sich gehörig. Welches Recht hatte sie hier?]
Erst einige Jahre nach ihrer Heirat richtet sich Selma in Påls Haus das ein, was Virginia Woolf drei Jahrzehnte später in ihrem berühmten Essay als Basis für die intellektuelle Arbeit von Frauen deklarieren wird: ein eigenes Zimmer. Selmas Cousin Richard bekommt als einziger Zutritt zu ihrer Studierstube: Det var ett stort rum, med två par fönster, endast en dörr och mycket tjocka väggar. Möblerna voro av mörk, opolerad ek, med beklädnad av dunkelgrönt schagg. Allt, från den ogenomträngliga fönsterdraperierna till de mjuka mattorna, tycktes borga för tystnad och ro. Det var ett rum, som kunde väcka avund hos en bokmal. Mitt på golvet stod ett stort bord, överfyllt av böcker och portföljer, kring detsamma sågos tre eller fyra högkarmade stolar i tämligen vårdlös ordning (Ebd., S. 188). [Es war ein großer Raum mit zwei Paar Fenstern, einer einzigen Tür und sehr dicken Wänden. Die Möbel waren aus dunkler, unpolierter Eiche, mit einer Verkleidung aus dunkelgrünem Plüsch. Alles von den undurchsichtigen Fenstervorhängen bis zu den weichen Teppichen schien für Stille und Ruhe zu bürgen. Es war ein Zimmer, das Neid bei jedem Bücherwurm erwecken musste. Mitten auf dem Boden stand ein großer Tisch, überhäuft mit Büchern und Mappen, drum herum waren drei oder vier Stühle mit hohen Lehnen ziemlich unordentlich verteilt.]
Durch die Gestaltung des Raumes wird Bildung, also die Aneignung und Produktion von Wissen, eng mit der Subjektivierung der Protagonistin
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verbunden. Folgt man Michel Foucaults These, dass Macht und Wissen in modernen Gesellschaften eine komplexe Dynamik eingehen,31 so sind Selmas Akte der Selbstbildung nicht nur als Zeitvertreib, sondern vielmehr als Versuch einer Teilhabe an zeitgenössischen Diskursen zu sehen. Dies zeigt sich, wenn sie ihr Wissen in Diskussionen, die sie mit Richard über Medizin, Körper, Sexualität und gesellschaftspolitische Fragen führt, einfließen lässt oder dessen Manuskripte redigiert. Selma wird in Differenz zu Richards Ehefrau Elvira entworfen: Während dieser normative Attribute von Weiblichkeit zugeschrieben werden – Elvira ist hübsch, weinerlich und unambitioniert –, werden Selmas Wissensdurst, ihre Sportlichkeit und ihre unsentimentale Haltung als ›männlich‹ klassifiziert.32 Mit Bezug auf Elviras Mutterschaft legitimiert Selma weibliche Wissensaneignung mit dem Argument, dass deren Bildung auch ihrem Kind zu Gute käme. Die Verknüpfung der Forderung nach weiblicher Selbstverwirklichung mit der Frage nach der reproduktiven ›Zuständigkeit‹ von Frauen erweist sich als typisch für den Geschlechterdiskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Im ›Jahrhundert des Kindes‹ wurde die genuin weibliche (körperliche) Fähigkeit der Empfängnis und Schwangerschaft, des Gebärens und Stillens radikal aufgewertet und auf psychische Elemente ausgedehnt. […] ›Geistige Mütterlichkeit‹ wurde verbunden mit der Vorstellung von zwei kulturellen Sphären und den daraus resultierenden unterschiedlichen kulturellen Aufgaben von Männern und Frauen. 33
Den beengenden Lebensumständen Selmas wird die Kunst entgegengesetzt: Diese scheint den nötigen Freiraum zur erwünschten Selbstverwirklichung zu bieten. Zugleich wird die Hinwendung zur Kunst mit materieller Unterversorgung gleichgesetzt. In diesem Punkt unterliegt der imaginierte Freiraum ökonomischen Beschränkungen. Selmas Ehrfurcht vor dem Kunstbetrieb drückt sich in religiöser Terminologie aus, etwa wenn sie das als Tempel bezeichnete Stockholmer Nationalmuseum 31 | Vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. In: Ders.: Die Hauptwerke. Frankfurt a.M. 2008, S. 1021-1151. 32 | Vgl. Stefanie von Schnurbein: Körperwissen, Ökonomie und Geschlecht. Ernst Ahlgrens/Victoria Benedictssons Roman Geld (1885). In: Zeitschrift für Germanistik, 1, 2008, S. 298-330, hier S. 305. 33 | Tebben: Fin de siècle, S. 34.
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betritt (Pengar, S. 208). Wie Selmas Reise nach Stockholm zeigt, verläuft der Gegensatz zwischen Enge und Freiraum auch anhand der räumlichen Aufteilung zwischen Land beziehungsweise Provinz und Großstadt. Im Nationalmuseum wird Selmas Betrachtung verschiedener Gemälde hervorgehoben. Einzelne Kunstwerke werden detailliert beschrieben: Es handelt sich um die Gemälde Jaktnymf och fauner [›Jagdnymph und Faune‹] (1875) von Julius Kronberg, Epilog (1874) von Gustaf Cederström und Näcken och Ägirs döttrar [›Der Nöck und Ägirs Töchter‹] von Nils Blommér (1850).34 Der Blick auf den Kunstbetrieb bildet den Ausgangs- und den Endpunkt des Romans: Steht dieser zu Beginn für Selmas Hoffnung auf eine berufliche Ausbildung, führt er ihr am Schluss diese verpasste Gelegenheit vor Augen. Im Nationalmuseum beobachtet sie eine junge Künstlerin und ihren Kollegen bei der Arbeit: Han höll på med at kopiera en tavla. Längre bort stod hennes staffleri, men hon hade rest sig från sitt arbete och gått fram till hans. Det var synbarligen just om det de kommit i dispyt. […] Hon talade fort och lågt med sjungande accent […]. Han satt och hörde på henne med ett leende; det var tydligt att han g jorde narr åt anmärkningarna. Men hon var för käck att låta sig bekomma. Hon skrattade med, men fortsatte att tala, ivrigt demonstrerande med skaftet av sin pensel […]. Han satt och såg efter henne, medan hon gick över golvet, en liten smula självsvåldigt och lätt vaggande i höfterna. Så tog han en trasa ur sitt färgskrin och torkade beslutsamt bort något på sin tavla (Pengar, S. 211). [Er war damit beschäftigt, ein Gemälde zu kopieren. Weiter entfernt stand ihre Staffelei, doch sie hatte sich von ihrer Arbeit erhoben und war zu seiner hinübergegangen. Offenbar waren sie über sein Werk in Streit geraten. […] Sie sprach schnell und leise mit einem singenden Akzent […]. Er saß und hörte ihr mit einem Lächeln zu, deutlich machte er sich über ihre Beanstandungen lustig. Doch sie war zu mutig, um sich davon beeindrucken zu lassen. Sie lachte mit, fuhr aber fort zu sprechen und unterstrich ihre Worte eifrig mit dem Pinselschaft […]. Er blieb sitzen und sah ihr nach, während sie über den Boden schritt, ein wenig mutwillig und mit leichtem Schwung in den Hüften. Dann zog er einen Lappen aus seinem Farbkasten und wischte entschlossen etwas von seinem Bild fort.] 34 | Vgl. Heitmann: Intermedialität im Durchbruch, S. 252. Aus komparatistischer Perspektive böte sich eine gesonderte Betrachtung der auf die im Text verwiesenen Bildräume an, die an dieser Stelle jedoch nicht geleistet werden kann.
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In diesem »Stück Wirklichkeit« (ebd., S. 211) begegnet Selma ihrem Jugendideal, das für eine jüngere Generation von Frauen umsetzbar geworden zu sein scheint. Der Akzent der Künstlerin verweist darauf, dass diese ebenfalls nicht aus Stockholm, sondern aus der Provinz stammt. Die fachliche Anerkennung des männlichen Kollegen erkämpft sie sich dank ihres Selbstbewusstseins, sodass dieser ihre Kritik schließlich aufnimmt. Ihre berufliche Tätigkeit mindert die körperliche Attraktivität der jungen Frau offensichtlich nicht – damit wird einem typischen zeitgenössischen Argumentationsmuster widersprochen. Die junge Künstlerin erscheint in dieser Szene als Personifizierung gelungener weiblicher Selbstverwirklichung. Es ist die erneute Konfrontation mit dem Kunstbetrieb, die Selma schließlich bewegt, ihren Mann zu verlassen.35 Dass die Protagonistin daraufhin jedoch nicht ihre ehemals angestrebte Ausbildung zur Künstlerin nachholt, sondern sich auf die Suche nach eine Ausbildungsstelle als Sportlehrerin am Gymnastikinstitut in Deutschland macht, ist als Absage an die Kunst als potenziellem Raum zur Selbstverwirklichung gewertet worden: Ob diese durch die Tatsache erfolgt, dass die Bildkunst es aufgrund ihres distanzierenden Blickes nicht vermag, die Diskrepanz zwischen Subjekt- und Objektstatus aufzuheben,36 oder durch die Beobachtung, dass sich der Kunstbetrieb als Scheinwelt erweist37 – durch Selmas Berufswahl wird ihre Subjektivierung mittels des kreativen Umgangs mit ihrem Körper in den Mittelpunkt gestellt.38 Aufschlussreich ist nicht nur der Wechsel der Art der Berufsvorstellung, sondern auch der geplante Wechsel des Ortes. Während im Diskurs der Zeit häufig den skandinavischen Ländern eine Vorreiterrolle in der Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen zugesprochen wird, scheint in Pengar das deutsche Kaiserreich Selmas körper- und wirklichkeitszentrierter Form der Subjektivierung mehr Raum zu bieten. Dies 35 | Vgl. Schnurbein: Körperwissen, S. 306. 36 | Vgl. Heitmann: Intermedialität im Durchbruch, S. 255. 37 | Vgl. Schnurbein: Körperwissen, S. 306. 38 | Kritisch wird angemerkt, dass Selmas beruflicher Werdegang weniger als Befreiung zu werten ist, sondern diese neue oder auch moderne Form von Selbstverwirklichung durch die Kontrolle des Subjekts über den eigenen Körper eher zum Kern gouvernementaler Politiken in Form selbstregulierender Körperpraktiken gehört. Vgl. ebd.
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mag mit der Popularisierung des Frauensports in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso zusammenhängen wie mit der Auffassung, dass Sport die Bewegungsfreiheit und Selbstständigkeit von Frauen fördere.39 Der anders markierte nationale Raum könnte jedoch auch aus anderem Grund von Interesse sein. Verweise darauf, dass im jeweils anderen nationalen Raum weibliche Selbstverwirklichung ermöglicht wird, erfolgen von beiden Seiten und referieren weniger auf sozialhistorische Gegebenheiten – vielmehr bilden sie ein narratives Muster. Der Blick auf ›andere‹ Nationen scheint zu erfolgen, weil er sich für den Entwurf einer idealisierten Gegenwelt als besonders geeignet erweist. Soziale Geschlechterordnungen werden in diesem Zusammenhang auch anhand national markierter Räume verhandelt.
V ON DER U NORDNUNG (AR) R ANGIERTER E HEN : D ER R ANGIERBAHNHOF (1896) Bei Helene Böhlau steht die Künstler_innenehe im Mittelpunkt der Erzählung. Ausgangspunkt ist dabei der Umzug des biederen Kunstmalers Friedrich Gastelmeier von seinem bayerischen Heimatdorf nach München. Auch in Böhlaus Text erfolgt eine Dichotomisierung zwischen Provinz und Metropole, wobei letztere als Zentrum des Geschehens im Kunstbetrieb markiert wird. Steht in Pengar und Bleib jung, meine Seele! die Perspektive der jeweiligen Protagonistin im Vordergrund, sodass die Standpunkte anderer Figuren eher punktuell mittels interner Fokalisierung oder erlebter Rede zur Sprache kommen, erfolgen in Der Rangierbahnhof häufige Fokalisierungswechsel zwischen den beteiligten Figuren. Auf diese Weise bekommen die Lesenden Einblick in Friedrichs Frauenbild, in dem Weiblichkeit und mütterliche Fürsorge in eins gesetzt werden: Eine Frau muß gemütlich aussehen. Man muß sich bei ihrem Anblick allerlei Angenehmes, Seelenberuhigendes vorstellen können, gut zubereitete Lieblingsspeisen, einen appetitlichen Wäscheschrank, liebevoll sauber gehaltene Betten, 39 | Vgl. Roman Sandgruber: »Frauen in Bewegung«. Verkehr und Emanzipation. In: Lise Fischer/Emil Brix (Hg.): Die Frauen der Wiener Moderne. Wien 1997, S. 53-63.
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ungezählte Gutenachtküsse, die sie ihren Kindern gegeben und von ihnen bekommen hat, so viel Pflege und Liebe, die sie ihr Lebtag ausgeteilt hat, das muß alles so von ihr ausstrahlen […] (Rangierbahnhof, S. 41f.).
Friedrichs Perspektive repräsentiert normative Vorstellungen von Weiblichkeit, deren Konstruktionscharakter an anderer Stelle deutlich hervorgehoben wird: Und nur das ganz junge Weib war für ihn Weib […]. […] Ein fremdes Volk waren ihm alle Weiber gewesen, eine unter ihm stehende Menschenkaste, etwas, was ihn vorderhand gottlob nichts anging, von dem er sich aber Ideale zu machen liebte, an die er selbst nicht recht glaubte. Und das Ideal, das er sich gemacht hatte, pfropfte er allen auf, mit denen er in Berührung kam (Ebd., S. 108f.).
Seine Idealvorstellungen versucht Friedrich auf Olga Kovalski, die Tochter seiner Vermieterin, zu übertragen, auch wenn diese wenig Anlass dazu bietet. Das Vorhaben der Olly genannten Kunstschülerin, Künstlerin zu werden, vergisst er beständig. Olly nutzt Friedrich als männliche Begleitung, um auf einem Faschingsfest die für ihre künstlerische Ausbildung wichtigen Milieustudien vorzunehmen, da ihr als junger unverheirateter Frau nach eigenen Aussagen üblicherweise eine ›geschönte‹ Version des Lebens präsentiert und der Zugang zu ›unschicklichen‹ öffentlichen Räumen untersagt wird. Olly nimmt den Maskenball zum Anlass, um den Konstruktionscharakter sozialer Rollen zu reflektieren: ›[…] Nicht hier ist Maskerade, sondern die ganze Zeit draußen ist Maskerade. Heut sind die Leute, wie ihnen bequem ist und paßt, und das sind erst Bewegungen, was man hier sieht, alles andre ist Marionette‹ (Ebd., S. 104).
Obgleich sich bereits in den ersten Begegnungen der Protagonist_innen ein Interessenskonflikt abzeichnet, macht Friedrich Olly einen Heiratsantrag. Ihre Einwilligung empfindet diese als fremdbestimmte Entscheidung, da sie mit dieser den Wünschen ihrer Familie folgt. Dementsprechend nimmt Olly ihre Hochzeit nicht als freudiges Ereignis, sondern als Abschied von sich selbst wahr: Damals, als Olly in ihrem Mädchenstübchen das Brautkleid ablegte, um sich für die Hochzeitsreise anzukleiden, hatte sie die Thüre hinter sich geschlossen. […]
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Sie faltete die Hände ineinander und sah ihr Spiegelbild an. Das Licht war weich und golden. ›Doch ein herrliches Geschöpf!‹ sagte sie und war im eigenen Anblick ganz versunken. ›Schade – das ist’s – schade.‹ […] Sie liebte ihr Gesicht, ihre Gestalt, ihre Hände. – Es war ihr das alles sympathisch und sie hatte sich dankbar ihrer Schönheit gefreut. Diese Schönheit war ihr Eigentum. […] Wie ein Kunstwerk betrachtete sie sich selbst. Für dieses Gesicht hatte sie in stillen Stunden alles Glück der Erde zusammengeträumt. Ruhm – das war das erste (Ebd., S. 139ff.).
Wie in Pengar wird das eigene Zimmer zum Ausdruck der Persönlichkeit der Protagonistin. Der Lichteinfall und der distanzierende Blick auf die eigene Person weisen darauf hin, dass Ollys Selbstbetrachtung aus dem Blickwinkel der Künstlerin erfolgt. Wie bei Selma wird Ollys Subjektivierung über die Wahrnehmung des Körpers hergestellt, der hier als Kunstwerk inszeniert wird. In dieser tableauartig anmutenden Szene erscheint Olly gleichzeitig als Subjekt und als Objekt des künstlerischen Blicks. Die Frage, warum in literarischen Emanzipationsdiskursen an der Wende zum 20. Jahrhundert die Bildende Kunst zum Ziel der Bestrebungen der Hauptfiguren gemacht wird, lässt sich mit jener Szene aus Böhlaus Roman beantworten: »Die Attraktion des Bildbezugs liegt nämlich nicht in dem vermeintlich deutlicheren Abbildcharakter, seinem mimetischen Effekt, sondern in der Andersartigkeit seines Zeichencharakters, der mit dem Bild evozierten Doppeltheit von Repräsentation und Repräsentiertem.« 40 Bedroht die genannte Doppeltheit die zentrale Stellung universal männlich gedachter Subjektivität, so ermöglicht sie zugleich die Distanzierung vom Objektstatus als Ermächtigungsstrategie weiblicher Subjektivierung. Die in dieser Szene entworfene ideal gesetzte Einheit des Selbst wird durch Ollys Verheiratung bedroht, es ist buchstäblich kein Platz mehr für sie: Während der Zeit ihrer Verlobung hatte sie auch öfter einen Traum gehabt, den sie hin und wieder träumte, immer, wenn ein Besitz sie bedrückte: Räume voll Sachen, voll lauter Sachen und Lumpen. […] Die Lumpenmassen wuchsen um sie her und verbauten ihr Licht und Luft, es wurde enger und enger, sie erdrückten sie (Rangierbahnhof, S. 129). 40 | Heitmann: Intermedialität im Durchbruch, S. 18.
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Die Assoziation eines bürgerlich-weiblichen Lebensentwurfes mit Gefangenschaft wird in verschiedenen Variationen wiederholt, so etwa, wenn die als Hausfrau auf ganzer Linie versagende Olly einen Karpfen kauft und ihn anschließend zurück ins freie Gewässer wirft, anstatt ihn als Weihnachtsessen zuzubereiten. Die Szene erinnert an Bolette Wangels Überlegungen in Henrik Ibsens Drama Fruen fra Havet [›dt. Die Frau vom Meer ›] (1888): Den Karpfen im hauseigenen Teich bleibt dort trotz räumlicher Nähe zum Fjord die Freiheit verwehrt. Ollys Unvermögen, den Haushalt zu organisieren, weckt Friedrichs Missfallen, da für ihn das Weihnachtsfest den Inbegriff häuslicher Gemütlichkeit und weiblicher Fürsorge darstellt. Anhand der Achsen von ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹ vergleicht Friedrich sein Elternhaus mit jenem Ollys. Der titelgebende Rangierbahnhof wird dabei zum Sinnbild häuslicher Unordnung: ›Schon in der Blütenstraße fing’s an. Da rangierten sie und kamen mit nichts zurecht. […] Es war ein ewiges, geistiges Gepolter im Haus, ein ewiges Rasseln und Schnaufen und Würgen, keine Seelenruhe. […] Und […] was ist hier rangiert worden […]! […] Da hat Olly die Teufelsmaschine geheizt und überheizt. Sie wollte ans Ziel, sie mußte auf Leben und Tod!‹ (Ebd., S. 299ff.)
Durch die von Friedrich gesetzten Achsen werden nicht zuletzt gesellschaftliche Ordnungen von ›Anständigkeit‹ und ›Verwahrlosung‹, Bürgertum und Bohème, räumlich organisiert und als geschlechtersegregierte Zuständigkeitsbereiche markiert. Dass Olly die Kunst innerhalb dieses Ordnungsschemas als Freiraum erscheint, wurde bereits gezeigt. Ähnlich wie in Bleib jung, meine Seele! wird das Kunstschaffen mehr als Berufung denn als Beruf charakterisiert. Kunst ist für Olly das Mittel, »Wahrheit« (ebd., S. 120) wahrzunehmen und auszudrücken. Ihre Arbeit, der sie auch nach schwerer Erkrankung nachzugehen versucht, repräsentiert die eigene Lebenssituation: »Auf Ollys Bild sitzt ein Mädchen unter einem Apfelbaum, der hie und da noch blüht. Es ist schon zu Ende mit der Blütenzeit« (ebd., S. 192). Ollys früher Tod und der zuvor auftretende durch die Krankheit verursachte Verlust der Stimme deuten auf ihre marginale Position als Künstlerin hin. Der Arbeitseifer der Protagonistin hat Priorität über alle anderen Bereiche; ihre Verlobungszeit, die Hochzeit, die Flitterwochen und eine frühzeitig endende Schwangerschaft treten in den Hintergrund. Olly wird damit als Gegenfigur zu der um 1900 dominierenden Mutter-
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schaftsideologie entworfen41 – ihre durch die Heirat zu erwartende Reproduktivität empfindet sie als Bedrohung ihrer künstlerischen Arbeit. Der Kunstmaler Friedrich Gastelmeier nimmt eine Gegenposition zu Ollys an Besessenheit grenzendem Arbeitseifer ein: Er bevorzugt persönlichen Komfort und eine »behagliche« (Rangierbahnhof, S. 146) Haltung gegenüber seiner Arbeit. Sein künstlerischer Ehrgeiz erstreckt sich auf das Erstellen von »simplen kleinen Landschaften […], die er immer ungefähr ähnlich wiederholte und für die er immer Abnehmer fand« (ebd., S. 163). Trotz der Versuche Friedrichs, Ollys Arbeit kleinzureden, führt diese zunehmend zu Erfolgen wie der Teilnahme an Ausstellungen oder dem fachlichen Lob des Künstlerkollegen Köppert. Der ansonsten eher indirekte Kontakt zur Künstlerszene ist ähnlich wie bei Selma durch kritiklose, religiös anmutende Verehrung geprägt. Während diese jedoch nie Zugang zu Künstlerkreisen erlangt, erhält Olly Resonanz für ihre Arbeiten. In der Figur Köpperts bekommt Olly einen Gesprächspartner, der sich, anders als Friedrich, als Förderer und Mentor erweist. Beide entwickeln eine platonische Beziehung und eine Arbeitsgemeinschaft, die dem in Pengar entworfenen Ideal einer gleichberechtigten Partnerschaft nahe kommt. Auf die zunächst herablassend-wohlwollende Anerkennung des männlichen Mentors bleibt Ollys Kunstschaffen bis zum Ende des Romans angewiesen.
A UFBRUCH INS U NGE WISSE : B LEIB JUNG , MEINE S EELE! (1906) Im Gegensatz zu Selma tritt Toni Schwabes Protagonistin Helge Ollendorff bereits als Schülerin rebellisch auf: Sie wünscht sich »Freiheit […], damit ich werden kann, wie ich möchte, und tun und lassen kann, was ich will« (Bleib jung, S. 8). Helges Freiheitsstreben orientiert sich am nietzscheanischen Appell nach individueller Selbstentfaltung, den Künstlerinnen um 1900 – ungeachtet misogyner Implikationen in Nietzsches Philosophie – auf ihre eigene Situation übertrugen: »Jedes Individuum ist aufgerufen zu Selbstgestaltung und Selbstentwurf. […] Nichts war ver-
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führerischer, als den Ruf ›Werde, der du bist‹ in ein ›Werde, die du bist‹ umzuwandeln.«42 Die restriktive Rolle geschlechtsspezifischer Erziehung wird in diesem Roman durch Helges verwitwete Mutter verkörpert, mit der diese beständig Kämpfe ausficht. Der Streit der beiden Frauen erweist sich auch als Generationenkonflikt, anhand dessen die schnellen Veränderungen innerhalb der Geschlechterordnung zur Jahrhundertwende ablesbar werden: Die jetzige Jugend war so von Grund auf anders geartet als die zu Mamas Zeit. Mama dachte: Uns lag doch daran, schöne und zarte Hände zu haben – Helge dagegen: schon als Kind mußte sie durchaus einen Werkzeugkasten haben, drum sehen jetzt ihre Hände, obwohl sie fein und schmal in den Knochen sind, so gräßlich nach Zugreifen und Festhalten aus (Bleib jung, S. 42).
Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter lässt sich als eine Art Hassliebe beschreiben, die unter anderem aus der gesellschaftlichen Stellung der Mutter resultiert: Da diese als alleinstehende verwitwete Frau nur über einen sehr begrenzten eigenen Handlungsspielraum verfügt und ihre gesamte Identifikation aus ihrer Mutterrolle zieht, überträgt sie ihre Wünsche und Anliegen auf Helge. Deren Freiheitsstreben und Bildungshunger begegnet sie mit Unverständnis: »Wieso muß ein junges Mädchen Plato lesen? Und Kant, den nicht einmal gelehrte Männer verstehen?« (Ebd., S. 142) Helge, die aussieht wie »ein großer blonder Junge« (ebd., S. 1), fällt nicht nur aufgrund ihres Wunsches nach Selbstbestimmung aus der heteronormativen Geschlechterordnung, sondern auch, weil sie sich in ihre Lehrerin verliebt. Alternative Begehrensstrukturen, die in Pengar in dem Verhältnis zwischen Selma und Elvira angedeutet werden, werden 42 | Renate Berger: »So fängt man erst an, wirklich zu leben …« Zur NietzscheRezeption von Künstlerinnen um die Jahrhundertwende. In: Renate Berger/Anja Herrmann (Hg.): Paris, Paris! Paula Modersohn-Becker und die Künstlerinnen um 1900. Stuttgart 2009, S. 15-37, hier S. 25. Berger spielt hier auf Hedwig Dohms 1894 erschienene Novelle »Werde, die du bist« an. Vgl. zur Rezeption Nietzsches durch deutschsprachige Autorinnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch Gaby Pailer: Schreibe, die du bist. Die Gestaltung ›weiblicher‹ Autorschaft im erzählerischen Werk Hedwig Dohms. Pfaffenweiler 1994.
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in Bleib jung, meine Seele! parallel zu den Werbungen junger Männer um Helge mit gleicher Häufigkeit geschildert. Helges Mutter repräsentiert restriktive gesellschaftliche Normvorstellungen, indem sie alles daran setzt, das Verhältnis von Tochter und Lehrerin zu unterbinden. Dominiert in Pengar und Der Rangierbahnhof die räumliche Gestaltung von Enge, so hinterlässt Bleib jung, meine Seele! den Eindruck von Ortlosigkeit. Helge und ihre Mutter haben keinen festen Wohnsitz, sie leben in verschiedenen Städten und befinden sich im zweiten Teil des Romans beständig auf Reisen. Nur wenige Aufenthaltsorte werden namentlich genannt, sie erscheinen dadurch beliebig und austauschbar. Privaträume wie eine eigene Wohnung oder einzelne Zimmer kommen nicht vor. Die limitierten Entfaltungsmöglichkeiten junger Frauen werden durch die Pastorentochter Jane räumlich versinnbildlicht, welche den Garten ihrer Eltern als Gefängnis beschreibt, das sie von der Außenwelt trennt. Die Dichotomie von Weite und Enge findet sich in der Beschreibung eines Kurortes an der Ostsee: Ist dieser durch Nebel und Stillstand gekennzeichnet, stehen das Meer und der Himmel für »Weite und Raum […] – Sehnsucht und Ungenügen. Glut und Verlangen« (ebd., S. 122). Wie Selma fasst Helge nach ihrer Schulzeit den Wunsch, sich auf einer Kunsthochschule ausbilden zu lassen. Helges Mutter verweigert der Tochter die Erlaubnis zu dieser Ausbildung, da ihr der Gedanke der dort praktizierten Koedukation widerstrebt und der Besuch der Hochschule aus ihrer Sicht kein sicheres Berufsziel garantiert. Stattdessen wird Helge auf einer Kunstgewerbeschule angemeldet. Auch in Bleib jung, meine Seele! ist das Leben der beiden Frauen, die ohne männlichen Versorger nahezu mittellos sind, stark von ökonomischen Erwägungen geprägt. Die Annahme der Mutter, dass die Kunstszene – hier am Beispiel der Münchener Bohème – Begegnungen zwischen den Geschlechtern fördert, die bürgerlichen Moralvorstellungen nicht entsprechen, erweist sich später anhand den Berichten eines jungen Schriftstellers als zutreffend. Anders als Helges Mutter fällt in dessen Schilderungen des Kunstbetriebes die moralische Bewertung neutraler aus, wodurch diesem ein egalitärer Charakter verliehen wird: »Frauen sind dazwischen – zuweilen Geliebte und viel öfter Kameraden. Beide Arten aber haben dieselben Ellenbogenlöcher in den Ärmeln« (ebd., S. 171). Ähnlich wie in Pengar wird postuliert, dass ein Leben unter Künstlern nur besonders durchsetzungsfähigen Frauen vorbehalten ist. Fundamental unterschieden wird im Text zwischen dem Malen als kreativer Kunst und der kunstgewerblichen Ausbildung. So wird das Ma-
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len wie in Böhlaus Der Rangierbahnhof als Leidenschaft dargestellt, deren sich die Protagonistin nicht erwehren kann. Das eigene Schaffen wird – anders etwa als erotische Begegnungen – als entgrenzend und gleichzeitig als Form der Subjektivierung beschrieben. Während der äußere Erfolg in Der Rangierbahnhof Olly die Bestätigung der eigenen Begabung liefert, bewertet Helge diesen vor dem Ziel der Selbstfindung als nebensächlich: »[…] die erste Hauptsache war mir immer, daß ich arbeiten durfte – und allmählich auch ein wenig den Weg finden, mich auszudrücken, wie ich es wünschte […]« (Bleib jung, S. 263). Erhält die Ehrfurcht vor der Kunst in Pengar und in Der Rangierbahnhof einen religiösen Charakter, wird sie in Schwabes Roman mit topografischen Topoi beschrieben. Auf die Bemerkung einer Tante über den schlechten Charakter von Künstlern reagiert Helge mit Zorn und Trotz: Wie wenn einer im fremden Land ist und hört sein Vaterland schmähen. Nie ist er Patriot gewesen – nichts lag ihm ferner, als irgendwelche Vaterlandshudelei – einfach lächerlich wäre er sich damit vorgekommen. Aber jetzt? Da ist so ein Fremder, der lächelt mit leerem Spott über dein Land? Und im Augenblick wird es das schöne, das herrliche, das einzige Land – das Vaterland! (Bleib jung, S. 105)
Der Vergleich zum Patriotismus liegt um 1900, einer Hochzeit nationaler Identifikationsbildung in Mitteleuropa,43 nahe. Helges Heimatlosigkeit ist an einen Zustand des Selbst gebunden. Die auf technische Fertigkeit abzielende kunstgewerbliche Ausbildung wird dem kreativen Prozess des Malens entgegengesetzt. Die Gewerbeschule wird als Ort normierender Anpassung geschildert: Der Wunsch, sich als Künstlerin ausbilden zu lassen, »bedeutet in der Sprache von Zeichenschülerinnen schon etwas ganz Kritisches, denn da ist das Examen das Normale – Kunst dagegen ist Irrsinn« (ebd., S. 50). Wie in den bereits besprochenen Romanen wird die Frage thematisiert, ob Kunst und intime Beziehungen unvereinbar miteinander sind. Helges Liebe zu ihrer Lehrerin scheint nicht von diesem Konflikt berührt 43 | Vgl. Gregor Streim: Literarische Moderne und nationale Identität. Zur Differenzierung von deutscher und österreichischer Moderne in der Publizistik um 1900. In: Michael Böhler/Hans Otto Horch (Hg.): Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Tübingen 2002, S. 231-243.
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zu sein, da letztere ihren Wunsch nach künstlerischer Tätigkeit unterstützt und fördert. Zugleich wird die Möglichkeit einer Beziehung zwischen den beiden Frauen als unrealisierbar verworfen. Im Fall der Männer, mit denen Helge im Verlauf der Handlung Beziehungen eingeht, erweist sich die Frage, ob sie ihrem Kunstschaffen weiter nachgehen darf, als ein grundlegendes Hindernis. Der russische Graf Michael Wronsky, mit dem Helge sich zeitweise verlobt, versichert ihr, dass er ihr im Gegensatz zu den meisten anderen Männern nach der Hochzeit die Ausübung ihrer Kunst nicht verbieten würde. Dennoch schließt sein Frauenbild die Vereinbarkeit von Ehe und Arbeit aus: »[…] eine Frau, die ebenso von ihrer Arbeit spricht wie von ihrer Liebe, […] liebt noch nicht vollkommen […]« (ebd., S. 233). Ist der Jurastudent Michael Wronsky der bürgerlichen Gesellschaft zuzuordnen, so ist Olaf Nielsen, in den sich Helge später verliebt, selbst Künstler. Als Helge jedoch bei dem Maler Detlev Ledebur als Schülerin angenommen wird, reagiert Olaf eifersüchtig auf ihre Arbeit und wünscht sich ebenfalls, dass diese mit ihrer geplanten Heirat endet. In Bezug auf die Frage nach weiblicher Selbstentfaltung unterscheiden sich die Angehörigen der Bohème nicht von den Vertretern des bürgerlichen Lagers: Auch Helges Lehrer Detlev Ledebur verlangt von seiner Schülerin, ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf ihn zu konzentrieren. Um ihn als Mentor nicht zu verlieren, geht Helge ein sexuelles Verhältnis mit dem Maler ein, das ihre Beziehung zu Olaf beendet. Helges Entscheidung wird als Prioritätensetzung zugunsten ihrer künstlerischen Ausbildung dargestellt, mit der Konsequenz des Verlustes nahestehender Personen. Als die Protagonistin feststellt, dass sie ein Kind erwartet, ist sie ganz auf sich gestellt – und empfindet diese Lage gleichermaßen als Bürde wie als Befreiung. Die konflikthafte Beziehung zwischen Helge und ihrer Mutter wird gegen Ende des Romans resümiert. Sie lässt sich als Ausdruck des Fehlens einer weiblichen Genealogie verstehen: Da Helge mit allen Traditionen bricht, riskiert sie die Abwendung der Mutter und damit das Ende familiärer Kontinuität. Erst nach deren Tod wird Helge versöhnlich gestimmt. Durch eine Kindheitserinnerung wird ihr bewusst, dass die Mutter als junge Frau Helges Wunsch nach Freiheit geteilt hat – damit erweist sich das Freiheitsstreben als Kontinuum der weiblichen Generationenfolge. Alter wird als entscheidender Faktor für die Abkehr von den Idealen der Adoleszenz benannt:
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[…] es schien, als wäre Altern nichts als ein verzweifelter Kompromiß der Seele mit allem, was in der Jugendzeit ihr Gegner gewesen war […]. Mußte das sein? Helge dachte: Der Frauen Gebet sollte sein: ›Bleib jung, meine Seele!‹ (Ebd., S. 46)
Obwohl sie im Verlauf der Handlung verschiedenen Frauen begegnet, die das Altern als Prozess der Anpassung bestätigen, endet der Roman mit Helges Entschluss, sich ihre Ideale zu erhalten, um Künstlerin und Mutter zu werden. Postulieren die früher erschienenen Romane Benedictssons und Böhlaus die Unvereinbarkeit von weiblicher Reproduktivität und künstlerischer Produktivität, wird diese mit Schwabes utopischem Schlussbild als aufhebbar deklariert. Gilt jene Unvereinbarkeit als kennzeichnend für die von Frauen verfasste Literatur um 1900,44 so ist das Ende von Bleib jung, meine Seele! als früher Versuch zu werten, ein deutlich verändertes Rollenbild zu entwerfen. Dies zeigt sich einerseits in dem Bemühen, eine Vereinigung der Bereiche Kunst und Leben zu denken, aber auch in der Distanzierung von männlichen Identifikationsfiguren, auf welche die Protagonistinnen Selma und Olly durchgehend angewiesen bleiben. Die in Pengar aufgeworfene Frage nach der Realisierbarkeit eigenständiger weiblicher Lebensentwürfe beziehungsweise nach deren konkreter Gestaltbarkeit wird in Bleib jung, meine Seele! allerdings ausgeblendet – wie Helge ihren Vorsatz in die Tat umsetzen kann, wird hier nicht ausgeführt.
A USBLICK Lebenswelten, die mit Kunst beziehungsweise mit der Bohème assoziiert werden, fungieren als das Andere der bürgerlichen Gesellschaft. Wie aus den vorgestellten Romanen ersichtlich wird, eignen sie sich daher in besonderem Maße als Gegenmodell und als Erprobungsraum sich im Wandel befindlicher Rollenbilder. Es ist allerdings festzuhalten, dass die Kunst in Pengar, Der Rangierbahnhof und Bleib jung, meine Seele! eher zu einem imaginierten Freiraum wird als zu einem faktisch vorhandenen. Weder die Künstlerszene noch die Kunsthochschule werden zu Handlungsräumen, sie bleiben vielmehr Sehnsuchtsorte. Die faktisch vorhandene marginale Position von Frauen im künstlerischen Feld, auf die 44 | Vgl. Tebben: Fin de siècle, S. 30.
Kunst als Freiraum?
in den Texten verwiesen wird, mag hierfür ausschlaggebend sein. Der Wunsch der Protagonistinnen nach Erfolg und äußerer Anerkennung wird – außer in Der Rangierbahnhof – nur punktuell geäußert. Das künstlerische Schaffen wird privatisiert und zum Zweck der Subjektivierung eingesetzt. Dieses Schema kann als defensive Strategie verstanden werden: Der Selbstzweck der künstlerischen Tätigkeit wird im Gegensatz zu ›oberflächlicher‹ Ruhmsucht betont; das Konfliktpotenzial, das durch das Eindringen von Frauen in männliche Domänen wie den Kunstbetrieb entsteht, wird hierdurch entschärft. Gleichzeitig wird damit die Ernsthaftigkeit des Anliegens der Protagonistinnen, sich als Künstlerinnen zu verwirklichen, unterstrichen. In den vorgestellten Romanen wird die Adoleszenz mit restriktiven Rollenerwartungen verknüpft, welche die Möglichkeiten weiblicher Subjektivierung stark begrenzen. Allerdings stehen diese Schilderungen im Bewusstsein einer Zeit des Umbruchs. So deuten die Romane durch Zukunftsbilder an, dass es einer künftigen Generation junger Frauen – etwa Helges Kind in Bleib jung, meine Seele!, das am Schluss des Romans in die Folge weiblicher Genealogie eingereiht wird, oder die Künstlerin, die Selma in Pengar im Museum beobachtet – möglich sein wird, die Ausbildung zu bekommen, die den Protagonistinnen noch verwehrt geblieben ist. Wie die Kunst erweist sich im ausgehenden 19. Jahrhundert damit auch die Zukunft, die »blaue Blume der Modernen«,45 als imaginierter Freiraum.
45 | Leo Berg: Die Romantik der Moderne [1891]. In: Gotthart Wunberg/Stephan Dietrich (Hg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Freiburg i.Br. 1998, S. 139-149, hier S. 142.
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We passed our time very agreeably, and assiduously collected, from heaps of old gazettes, the history of those years, during which we had been banished, as it were, from all the world.1 Georg Forster (A Voyage round the World, 1778) Having nothing new to communicate I should hardly have troubled you with a letter was it not customary for Men to take leave of their friends before they go out of the World, for I can hardly think my self in it so long as I am deprived from having any Connections with the civilized part of it, and this will soon be my case for two years at least. 2 James Cook an John Walker (1772)
In dem Brief James Cooks an seinen Freund John Walker beschreibt der Seefahrer es als einen Brauch für Männer, Abschied zu nehmen, ›before they go out of the world‹. Der dynamische Akt des Heraustretens aus der bekannten, ›zivilisierten‹ Welt und das entbehrungsreiche Sich-Hineinbegeben in einen fremden Kosmos wird als dezidiert männliche Handlung markiert. Ähnlich formuliert der junge Weltreisende Georg Forster, der seinen Vater Johann Reinhold Forster auf Cooks zweiter Weltumsegelung (1772-1775) begleitete, die Reise in die exotische Fremde als eine Verbannung aus der Welt. Auch in bildlichen Zeugnissen der Zeit wird 1 | Georg Forster: A Voyage Round the World in His Britannic Majesty’s Sloop, Resolution, commanded by Capt. James Cook, during the years 1772, 3, 4 and 5. London 1777, Bd. II, S. 549f. 2 | James Cook: The Journals of Captain James Cook on his Voyages of Discovery, Bd. II: The Voyage of the Resolution and Adventure 1772-1775. Hg. von John C. Beaglehole, Cambridge 1961, S. 689.
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Männlichkeit mit der Dynamik von Reisen, dem ›friedlichen‹ Erobern und dem wissenschaftlichen Erforschen fremder Weltteile in Verbindung gebracht. Das Porträt von Joshua Reynolds (Abb. 1) zeigt den jungen Weltreisenden Joseph Banks. Es entstand drei Jahre nach dessen Weltreise von 1768 bis 1771 und inszeniert ihn als das Ideal des weltmännischen Gentlemans. Der prachtvoll gekleidete Banks sitzt zwar auf einem Stuhl, seine Körperhaltung mit der rechten Hand auf der Stuhllehne deutet jedoch an, dass er sich jeden Moment erheben wird. Sein linker Arm ruht auf dem Tisch, auf dem ein Globus, Schreibutensilien, Bücher, Papiere und ein Brief liegen, zu lesen als Insignien seiner klassischen Bildung und Weltgewandtheit. Durch das geöffnete Fenster schweift der Blick der Betrachter_innen in die Ferne auf den Ozean, der auf den jungen Reisenden zu warten scheint. Dieser Eindruck wird durch das lateinische Horaz-Zitat »cras ingens iterabimus aequor« unterstützt, das mit ›morgen sind wir wieder auf hoher See‹ zu übersetzen ist.3 Das Bild entstand noch vor Banks geplanter Teilnahme an der zweiten Weltreise, von der er sich jedoch – aufgrund eines Streits mit der Admiralität wegen der von ihm geforderten Umbauten am Segelschiff Resolution – wütend zurückzog. Es setzt die wissenschaftlich motivierte Abenteuerlust des jungen Mannes in Szene, der sich selbst nicht als einen ›Stubengelehrten‹, sondern als reisenden Naturforscher verstanden sehen wollte.4 Nun ist die geschlechtlich markierte Zuschreibung von räumlichen Dynamiken mit männlichen Eroberungsnarrativen keine Erfindung der Aufklärung und lässt sich bis in die Vormoderne zurückverfolgen. So stellt Sabine Schülting in ihrer Monografie zur wirkmächtigen Land/ Frau-Metaphorik 5 fest: »Seit dem Beginn der Neuzeit wird das Verhältnis des Reisenden zum Raum bzw. des Eroberers zur ›Neuen Welt‹ auf das Geschlechterverhältnis verschoben, womit räumliche Mobilität wie
3 | Horaz: Oden und Epoden. Lateinisch und deutsch. Nach der Übersetzung von Will Richter, überarb. u. mit Anm. versehen von Friedemann Weitz (Edition Antike). Hg. von Thomas Baier, Darmstadt 2010, S. 56f. 4 | Siehe dazu auch Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Ästhetik der Differenz. Texte. Marburg 2010, S. 280. 5 | Annette Kolodny beschreibt diesen Topos als »the-land-is-woman«-Metaphorik (vgl. Annette Kolodny: The Lay of the Land. Metaphor as Experience and History in American Letters. Chapel Hill, NC 1975, S. 150).
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auch Kolonisierung als Funktion der Geschlechterdifferenz naturalisiert werden.«6
Abbildung 1: Joseph Banks Esqr. Painted by Sir Joshua Reynolds. Engraved by William Dickinson. London 1774. © Trustees of the British Museum 6 | Sabine Schülting: Wilde Frauen, fremde Welten. Kolonisierungsgeschichten aus Amerika. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 77.
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Der Nexus zwischen Reisen, Männlichkeit und dem Denken in Differenzkategorien erfuhr mit der zweiten Welle der europäischen Expansion im 18. Jahrhundert eine signifikante Bedeutungsverschiebung, durch die sich die Britischen Entdecker gewissermaßen als Heilsbringer der Menschheit generierten. Dieses Selbstbild nordatlantisch-protestantischer Prägung, das von einem ungebrochenen Fortschrittsoptimismus, dem Glauben an einen steten Wissenszuwachs und der sukzessiven moralischen Verbesserung der Menschheit lebte, ließ sich umso leichter auf der Negativfolie der kolonialen Herrschaft katholisch-südeuropäischer Prägung in Südamerika herauf beschwören, die als irrational, dunkel und grausam diffamiert wurde. In Georg Forsters Vorwort zur Voyage round the World wird der Anspruch ersichtlich, den ›unzivilisierten‹ Völkern der Südsee agrartechnologischen Fortschritt in Form von nützlichen Gerätschaften oder Vieh zu bringen: The introduction of black cattle and sheep on that fertile Island [Tahiti, A.M.], will doubtless increase the happiness of its inhabitants […]. And here I cannot but observe that considering the small expense at which voyages of discovery are carried on, the nation which favours these enterprises is amply repaid by the benefit derived to our fellow-creatures.7
In der mission civilisatrice wurden Güte, Menschenfreundlichkeit, Verantwortungsbewusstsein und väterliche Fürsorge gegenüber ›unzivilisierten Völkern‹ mit einem vernunftgeleiteten Handeln verquickt – ein Ideal, das nach Auffassung der Aufklärer vom bürgerlichen Entdecker Englands verkörpert wurde. Die Disziplinierung der Emotionen, das Konzept der civility, stellte dabei die eigene Fortschrittlichkeit und Modernität vor dem Hintergrund einer sich im Wandel begriffenen imperialen Weltordnung heraus, in der Großbritannien seinen Platz suchte.8 Zur Zeit der CookReisen befand sich das Königreich Großbritannien in einem krisenhaften Zustand: Die amerikanischen Kolonien standen kurz vor der Loslösung vom Mutterland, und mit dem Siebenjährigen Krieg waren herbe terri7 | Forster: A Voyage Round the World, I, S. xvii. 8 | Zum Konzept der civility als Gesellschafts- und Erziehungsprogramm s. ausführlich Margrit Pernau: An ihren Gefühlen sollt Ihr sie erkennen. Eine Verflechtungsgeschichte des britischen Zivilitätsdiskurses (ca. 1750-1860). In: Geschichte und Gesellschaft, 35, 2009, S. 249-281.
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toriale und wirtschaftliche Verluste einhergegangen. Cooks Forschungsexpeditionen schienen also prädestiniert dazu, das imperiale Projekt als vorrangig wissenschaftliche und philanthropische Unternehmung zu rehabilitieren. Innerhalb dieses Kontextes erfuhr das Ideal des aufklärerischen Entdeckers enorme Aufwertung als neue Form von aufgeklärter Männlichkeit, die Wissbegierde mit Entdeckergeist und der Fähigkeit zur Empfindsamkeit kombinierte. Der ›enlightened explorer‹ würde mit Vernunft und Mitgefühl die lokalen Einwohner_innen von der Nützlichkeit des imperialen Projektes überzeugen und seine Höflichkeit und freundschaftliches Gebaren nutzen, um fremdes Land in Besitz zu nehmen.9 Gleichzeitig würde er auf seinen Entdeckungsreisen10 neben der Erforschung der Natur verlässliche anthropologische Daten sammeln, um fremde Völker besser verstehen zu können, dabei jedoch kein sexuelles Begehren gegenüber den exotischen Frauenkörpern zeigen. So begann im Zeitalter der Aufklärung eine verstärkt wissenschaftliche Erforschung der Welt. Die Entdeckungsreisen und ihre minutiösen Berichte sollten fortan im Dienste von Wissenschaft und Welterkenntis stehen.11 Seit den 1730er-Jahren wurden insbesondere von den Seemächten Frankreich und Großbritannien immer wieder Expeditionen ausgeschickt – so Maupertuis‹ Lapplandexpedition und La Condamines Südamerikaexpedition, die beide der Messung der Breiten- und Längengrade des Globus dienten. Mit speziellen Instruktionen und neuen technischen Hilfsmitteln ausgerüstet, sollten die Reisenden die Welt vermessen, kar9 | Vgl. Kathleen Wilson: The Island Race. Englishness, Empire and Gender in the Eighteenth Century. London/New York 2003, S. 171. 10 | Wenn im Folgenden der Begriff ›Entdeckungen‹ in Bezug auf die imperialen Unternehmungen Europas im Pazifik benutzt wird, so soll die Problematik dieses eurozentrischen Begriffes mitgedacht werden. Denn er impliziert, dass die Geschichte dieser Regionen erst mit ihrer ›Entdeckung‹ durch die Europäer begann. Doch lange bevor die Europäer die pazifische Inselwelt seefahrerisch erschlossen, hatten die polynesischen und asiatischen Seefahrer diesen riesigen Meeresraum erobert und besiedelt. 11 | Kant sah im Reisen den Weg zur Welt- und Menschenkenntnis schlechthin: »Zu den Mitteln der Erweiterung der Anthropologie im Umfange gehört das Reisen; sei es auch nur das Lesen der Reisebeschreibung.« (Vgl. Immanuel Kant: Anthropologie. In: Otto Schöndorffer [Hg.]: Immanuel Kants Werke, Bd. 8 [Anthropologie]. Nachdr. der 2. Aufl. [1800], Berlin 1923, S. 4)
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tografieren und nach europäischen Ordnungsvorstellungen klassifizieren. Statt einer gewaltvollen Aneignung fremder Territorien sollte eine friedfertige Eroberung und Erforschung unbeschriebener außereuropäischer Gebiete erfolgen. Die zeitgenössische Auffassung einer fortschrittlichen ›Menschenfreundlichkeit‹ wird insbesondere in den Instructions deutlich, in denen die Britische Admiralität Captain Cook und seiner Schiffscrew Anweisung zu einem angemessenen Verhalten gegenüber den zu ›entdeckenden‹ Völkern gab. So wird Cook in den Secret Additional Instructions vom 30. Juli 1768 ermahnt, sich freundlich gegenüber den Einwohner_innen zu zeigen, um den Erfolg der Entdeckungsfahrt nicht zu gefährden, sich von ihnen aber auch nicht überraschen zu lassen: You are likewise to observe the Genius, Temper, Disposition and Number of the Natives, if there be any and endeavour by all proper means to cultivate a Friendship and Alliance with them, making them presents of such Trifles as they may Value inviting them to Traffick, and Shewing them every kind of Civility and Regard; taking Care however not to suffer yourself to be surprized by them, but to be always upon your guard against any Accidents.12
Die geheimen Instruktionen legen eine Annäherung an die Fremde(n) nahe, die die moralische Integrität des kolonisierenden Subjekts sowie dessen Fähigkeit zu Beherrschung und Selbstkontrolle voraussetzt. In diesem Beitrag möchte ich für den spezifischen historischen Kontext der zweiten Cook-Reise der Frage nachgehen, wie die europäisch-weiße bürgerliche als ›hegemoniale Männlichkeit‹13 konstruiert wurde und wie in Abgrenzung davon marginale beziehungsweise deviante Männlichkeiten verhandelt wurden – und zwar in Bezug auf ein bestimmtes räumlich-imaginäres Gedankenkonstrukt: das Außerhalb der ›zivilisierten‹ 12 | James Cook: The Journals of Captain James Cook on his Voyages of Discovery, Bd. I: The Voyage of the Endeavour 1768-1771. Hg. von John C. Beaglehole. Cambridge 1955, S. cclxxxiii. 13 | Das Konzept der hegemonic masculinity wurde Anfang der 1980er-Jahre von der australischen Soziologin Raewyn Connell entwickelt. Vereinfacht gesagt, versteht Connell hegemoniale Männlichkeit als das zu einer bestimmten Zeit kulturell maßgebliche Deutungsmuster von Männlichkeit, das als Strategie der Abgrenzung und Überlegenheit fungierte. Siehe dazu Raewyn Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. 3. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 97.
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Welt. Unter der Prämisse, dass während der Reise die Grenze zwischen Zivilität und Barbarei ins Wanken geriet und anhand europäischer Moralund Wertvorstellungen neu ausgelotet wurde, werde ich untersuchen, wie die geschlechtlich und sozial markierten Zuschreibungen von ›zivilisiert‹ und ›barbarisch‹ nicht nur auf vermeintliche ›Wilde‹ übertragen, sondern auch innerhalb einer europäischen Gemeinschaft zur Distinktion sozial divergierender Männlichkeiten genutzt wurden.14 Ich konzentriere mich dabei auf die Aushandlungsprozesse von pluralen Männlichkeiten unter den europäischen Reisenden. Dass die Begegnung zwischen Europäern und lokalen Einwohner_innen in der Fremde eine fundamentale Rolle innerhalb des Prozesses der Herausbildung moderner Geschlechter- und Sexualitätsdiskurse spielte, ist von der Forschung verschiedentlich betont worden.15 Allerdings fehlt es noch an Überlegungen, inwiefern sozial divergierende europäische Männlichkeiten an der Formierung des Ideals des weißen, bürgerlichen Mannes als enlightened explorer beteiligt waren. Innerhalb der umfassenden Forschung zu Fremdheit, Alterität und Interkulturalität auf Reisen und in Reiseberichten ist die binneneuropäische Dimension bislang kaum differenziert betrachtet worden. Doch die Kategorien class, ethnicity/nationality und gender wurden nicht nur in transkulturellen Prozessen verhandelt, sondern auch innerhalb einer auf den ersten Blick homogen erscheinenden europäischen Gemeinschaft. Treffend konstatiert bereits Georg Forster den Mangel eines auto-ethnografischen Blicks auf die eigenen Landsleute »Voyages have seldom
14 | Zu den Begrifflichkeiten ›Barbarei‹ und ›Zivilität‹ s. Margrit Pernau: Zivilität und Barbarei – Gefühle als Differenzkriterien. In: Ute Frevert (Hg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt a.M. u.a. 2011, S. 233-262. 15 | Vgl. Ladelle McWorther: Sex, Race and Biopower. A Foucauldian Genealogy. In: Hypertia, 19, 3, Sommer 2004, S. 38-62, die Heterosexismus und die sexuelle Binarität als einen Schlüssel zum Verständnis der verschränkten Mechanismen der Herstellung von race und kolonialer Macht sieht. Grundlegend zum Themenkomplex Geschlecht und Kolonialismus s. Anne McClintock: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest. New York u.a. 1995 sowie Ann Laura Stoler: Race and the Education of Desire. Foucault’s »History of Sexuality« and the Colonial Order of Things. Durham u.a. 1995.
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dropped a hint on the characters of sailors, hastening to describe the inhabitants of distant regions, without knowing their own countrymen.«16
F ORSCHUNGSKONTE X TE Neuere kulturhistorische Forschungen innerhalb der world history haben sich seit den 1990er-Jahren verstärkt mit maritimen Räumen als transnationalen und transkulturellen Transfer- und Verbindungsräumen beschäftigt. Den Grundstein dazu legte Fernand Braudel mit seinen Studien zum Mittelmeerraum zur Zeit Philipps II. Sein geohistorischer Ansatz ist insbesondere seit dem spatial turn und dem verstärkten Interesse an transnationalen und globalen Fragestellungen innerhalb der Geschichtswissenschaft aufgenommen und weiterentwickelt worden. Während Paul Gilroy aus einer kulturhistorischen Perspektive die Rolle des Atlantiks als einen identitätsstiftenden Verbindungsraum afroamerikanischer Prägung (›Black Atlantic‹) beleuchtet, macht Marcus Rediker auf die politische Bedeutung des Atlantiks als Ursprungsort eines sozialkritischen Klassenbewusstseins (›Red Atlantic‹) aufmerksam.17 Auch die Bedeutung von Geschlecht als »a fundamental component of seafaring«18 ist, wie Margaret Creighton und Lisa Norling in ihrer wegweisenden Aufsatzsammlung Iron Men, Wooden Women aus dem Jahr 1996 konstatieren, verstärkt in den Fokus einer Geschichte des Meeres als kultureller Kontaktzone geraten. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie gender kulturell verhandelt wurde und wie das Verständnis kultureller Codierungen von Geschlecht in koloniale Begegnungen hineinwirkte. 16 | Georg Forster: Reply to Mr. Wales’s Remarks, London 1778, S. 27, http:// digital.lb-oldenburg.de/urn/urn:nbn:de:gbv:45:1-1299 (Stand: 14.01.2013). 17 | Mittlerweile sind insbesondere in der angelsächsischen Geschichtswissenschaft einige Studien erschienen, die sich mit der sozio-kulturellen Bedeutung und den unterschiedlichen Funktionen von Ozeanen beschäftigen. Für den pazifischen Raum s. insbes. Greg Dening: Beach Crossings. Voyaging Across Times, Cultures and Self. Melbourne 2004 sowie Nicholas Thomas: Islanders. The Pacific in the Age of Empire, New Haven u.a. 2010. 18 | Iron Men, Wooden Women. Gender and Seafaring in the Atlantic World, 1700-1920 (Gender Relations in the American Experience). Hg. von Margaret S. Creighton/Lisa Norling, Baltimore/London 1996, S. vii.
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Die Analyse von Wechselwirkungen und Verflechtungen zwischen Raum und Geschlecht innerhalb transkultureller beziehungsweise transnationaler Kontexte stellt jedoch nach wie vor ein relativ unbespieltes Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft dar. Gerade in einem globalen Rahmen schien die Kategorie Geschlecht lange Zeit keine Rolle zu spielen und die methodologische Reflexion geschlechtergeschichtlicher Themen setzte in der global history erst seit der Jahrtausendwende ein. Noch 2007 stellt Merry Wiesner-Hanks fest, dass »World history and the history of women, gender, and sexuality have […] seen relatively few interchanges«.19 Sie beschreibt die Kategorien gender und global als zwei Linsen einer revisionistischen Geschichtsschreibung, deren jeweiliger Fokus sich noch zu wenig überkreuzt habe. Ulrike Strasser und Heidi Tinsman sehen die gegenseitige Skepsis beider Forschungsfelder als ein »Kommunikations- und Identifikationsproblem«.20 Während sich die Globalgeschichte vornehmlich mit politischen und wirtschaftlichen Themen auseinandersetze, dominiere in den gender studies eine kulturwissenschaftliche Vorgehensweise. In der positivistischen Cook-Forschung fand die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht lange Zeit kaum Aufmerksamkeit. Erst Historikerinnen wie Kathleen Wilson oder Harriet Guest haben geschlechtergeschichtliche Themen auf die Agenda der Cook-Forschung gesetzt. Sie knüpfen in ihren Reflexionen zur Rolle von Geschlecht als Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Kultur und Gesellschaft auf Weltreisen an die wegweisende Studie Imperial Eyes (1992) von Mary Louise Pratt an. Darin zeigt Pratt die enge Verknüpfung zwischen Naturforschungen und dem Ideal des aufgeklärten Entdeckers auf, »whose imperial eyes passively look out and possess«,21 und entlarvt damit die vermeintliche Objektivität der naturhistorischen Wissensproduktion als einen weißen, männlichen Blick. So untersucht Wilson in ihrer Studie The Island Race (2003) 19 | Merry Wiesner-Hanks: World History and the History of Women, Gender, and Sexuality. In: Journal of World History, 18, 1, März 2007, S. 53-67, hier S. 53. 20 | Ulrike Strasser, Heidi Tinsman: Männerdomänen? – World History trifft Männergeschichte – das Beispiel der Lateinamerikastudien. In: Susanna Burghartz/ Gesine Krüger (Hg.): Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag, 16, 2 (Mimesis, Alterität und Erinnerung). Köln 2008, S. 271-290, hier S. 272. 21 | Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London 1993, S. 7.
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die Entwicklung des modernen englischen Nationalbewusstseins anhand der Cook-Reisen.22 Darin arbeitet sie heraus, wie in dieser Zeit nicht nur das national-kulturelle Konzept der ›Britishness‹ durch Praktiken und Ideologien der Kolonisierung, Missionierung und Sklaverei geschmiedet wurde (forging the nation), sondern auch ›moderne‹ Konstruktionen von Geschlecht mit transnationalen und kolonialen Entwicklungen einhergingen. Ähnlich argumentiert Harriet Guest in ihrer Essaysammlung Empire, Barbarism, and Civilisation (2007), in der sie unter anderem das Zusammenspiel von Wissbegierde (curiosity), Erotik und Exotik in den Südsee-Bildern des Malers William Hodges analysiert und herausstellt, wie über die Wahrnehmung exotischer Männlichkeit bestehende Konzepte europäischer Männlichkeit herausgefordert und verändert wurden. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die von männlichen Akteuren organisierten und durchgeführten Expeditionen in fremde Teile der Welt sowie die Konstituierung bestimmter Männlichkeiten als einen parallelen und sich gegenseitig bedingenden Prozess. In meinem Beitrag werden die Bordtagebücher und Reiseberichte der zweiten Cook-Reise in Hinblick auf die Formierung, Verwerfung und Festigung bestimmter Formen von Männlichkeit analysiert.23 Die Entstehung einer hegemonialen Männlichkeit, hier repräsentiert durch das Ideal des aufgeklärten Reisenden und Naturforschers, wird – so die zentrale These – über die Abgrenzung zu anderen Männlichkeiten, den einfachen Seeleuten an Bord des Schiffes, explizit gemacht.
D AS ›G RASS C OVE -M ASSAKER‹ IN Q UEEN C HARLOT TE S OUND Am 28. Oktober 1774 ereilte die Crew der Resolution das Gerücht von einem Schiffsunglück in der Meerenge zwischen den beiden neuseeländischen
22 | Kathleen Wilson: The Island Race. Englishness, Empire and Gender in the Eighteenth Century. London, New York 2003. 23 | Diese definiere ich als eine Markierung geschlechtlich determinierter und damit als männlich ›lesbarer‹ Körper. Diese geschlechtliche Codierung begreife ich als historisch, diskursiv konstruiert und interdependent mit anderen Kategorien wie z.B. Klasse/Stand, Religion und Ethnizität, die ihrerseits historischem Wandel unterliegen.
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Inseln.24 Cook sorgte sich, dass es sich bei dem verunglückten Schiff um das von der Resolution in einem Sturm getrennte Schwesterschiff Adventure handelte, deren Mannschaft einem Überfall von Maori zum Opfer gefallen sei. In der Tat hatte die Adventure am 17. Dezember 1773 zehn Männer in Grass Cove in Queen Charlotte Sound durch einen Kampf zwischen Seeleuten und Maori verloren. Der Kapitän der Adventure, Tobias Furneaux, hatte einen Teil der Crew unter Leitung des master’s mate (eine Art Unteroffizier) John Rowe an Land geschickt, um wilden Sellerie zu sammeln. Doch die Mannschaft kam nicht zurück und so schickte Furneaux weitere Männer unter Leitung des Leutnants James Burney aus, um nach der Crew zu suchen. Diese kamen des Nachts zurück an Bord »with the melancholy news of her being cut off by the Indians in Grass Cove where they found the Relicks of several and the intrails of five men lying on the beach and in the Canoes they found several baskets of human flesh«25. Über die Gründe für diesen Überfall auf die Crew schweigt sich Furneaux in seinem Logbuch aus. Ausführlicher und detaillierter berichtet Burney in seinem Bordtagebuch von der ungewissen Suche nach den Männern. Nachdem Burney mit seinen Begleitern an der Küste Maoris ausgespäht hatte, landete er an und suchte den Strand nach Hinweisen auf den Verbleib der Matrosen ab. Während der Suche bot einer der Maori den Europäern ein Stück Fleisch an, das diese erst für Hundefleisch hielten. Schnell seien Burney und seine Begleiter jedoch davon überzeugt gewesen, es handele sich um Menschenfleisch; denn bei der weiteren Suche habe man noch einige abgetrennte Hände und neuwertige Schuhe gefunden, die tags zuvor erst an die Mannschaft ausgegeben worden waren. Noch ganz unter dem Eindruck der Geschehnisse notiert Burney in seinem Tagebuch: »Such a shocking scene of Carnage & Barbarity as can never be mentiond or thought of, but with horror.«26 Schockiert zog sich der Suchtrupp zurück, ohne Rache an den ›Kannibalen‹ zu nehmen – vermutlich spielte Angst vor den übermächtig wirkenden Maori-Kriegern und die Gewissheit ihrer Überlegenheit im neuseeländischen Urwald dabei eine große Rolle, denn das Schießpulver war nass und die Schusswaffen damit unwirksam geworden. Während ihres Rückzugs zerstörten die Männer jedoch die am Strand liegenden Kanus der Maoris und feuerten 24 | Vgl. Cook: The Journals of Captain James Cook, II, S. 572. 25 | Zit. n. ebd., S. 744. 26 | Ebd., S. 751.
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blind in die Büsche. Als möglichen Grund für das Massaker macht Burney weniger die vermeintliche Hinterhältigkeit oder Barbarei der ›kannibalischen‹ Neuseeländer aus, sondern vielmehr die Unvorsichtigkeit und das Überlegenheitsgefühl der Matrosen: »It might probably happen from Some quarrel, or the fairness of the Opportunity tempted them; our people being so very incautious & thinking themselves to[o] Secure.«27 Die Geschehnisse von Grass Cove unterschieden sich von anderen mitunter blutigen und tödlichen Auseinandersetzungen zwischen lokalen Bevölkerungsgruppen und der Crew beider Schiffe insofern, als dass hier erstmals ein europäischer Landungstrupp vollständig ausgelöscht und angeblichen Anthropophagen zum Opfer gefallen war.28 Möglicherweise diskutierten James Burney und Georg Forster nach der Ankunft der Resolution, die einige Monate nach der Adventure zurückgekehrt war, im Juli 1774 über den schockierenden Vorfall in Queen Charlotte Sound. Denn der junge Schriftsteller orientiert sich in seiner Voyage round the World (1777) an Burneys Narrativ und dessen Verurteilung von Rowes Verhalten: Mr. Rowe, the unfortunate youth who had the command of this boat, combined with many liberal sentiments the prejudices of a naval education, which induced him to look upon all the natives of the South Sea with contempt, and to assume that kind of right over them, with which the Spaniards, in more barbarous ages, disposed of the lives of the American Indians. 29
In ironischem Tonfall kommentiert Forster das Verhalten Rowes, der seine Jugendlichkeit und ›liberalen‹ Ansichten mit den Vorurteilen einer 27 | Ebd., S. 752. 28 | Für die grundsätzliche Frage, ob es sich bei dem Überfall um Kannibalismus handelte vgl. Gananath Obeyesekere: Cannibal Talk. The Man-Eating Myth and Human Sacrifice in the South Seas. Berkeley 2005, der das Phänomen der Anthropophagie vorrangig als europäischen Mythos deutet. Salmond kritisiert Obeyesekeres Studie als universalistisch und apologetisch: »[T]here is something odd about a study that seeks to defend Pacific Islanders against European prejudice while at the same time dismissing the islanders‹ own accounts and refusing to engage seriously with their ways of life, past and present.« (Anne Salmond: Eating People in the South Sea. Fact or Fantasy? In: Anthropology and Humanism, 32, 1, Juni 2008, S. 95-100, hier S. 99) 29 | Forster: Voyage, II, S. 458.
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Marineausbildung kombiniert habe, durch die er allen Völkern der Südsee mit Verachtung und einem illegitimen Überlegenheitsgefühl begegnet sei.30 Durch den Vergleich mit der spanischen Kolonisierung in Südamerika differenziert Forster in dreifacher Hinsicht zwischen einer fortschrittlich-protestantischen ›Britishness‹, einer als rückständig klassifizierten spanisch-katholischen Kolonialherrschaft früherer Zeiten und einer damit analog gesetzten gegenwärtigen ›barbarischen‹ Männlichkeit der einfachen Seeleute. Rowes Aggression gegenüber der lokalen Bevölkerung habe sich, so Forster weiter, zuvor bereits in der unverhältnismäßigen Bestrafung gezeigt, die er für den Diebstahl eines kleinen Fasses Brandy eingefordert habe.31 Nur das beherzte Eingreifen und das vernünftige Zureden des Leutnants Burney hätte die heftige Reaktion Rowes verhindern können.32 Das Unglück in Grass Cove war demnach, folgt man der Argumentation Forsters, keine Überraschung, sondern vielmehr auf das Verhalten des master’s mate zurückzuführen. Den Auslöser für dessen Aggression und Gewalttätigkeit sieht er in der mangelhaften Erziehung beziehungsweise Ausbildung, die die Matrosen zu gefühlsarmen Mitmenschen mache. Forster kontrastiert diese Form ›devianter‹ Männlichkeit mit der als ideal dargestellten und regulativ wirkenden Männlichkeit Burneys. Das impulsive Verlangen nach Rache und die mangelnde Fähigkeit Rowes zur Disziplinierung seiner Emotionen, das sich in der brutalen Reaktion auf den Diebstahl manifestierte, scheint im Kontext 30 | William Bayly, der Astronom der Adventure, sah die Gründe für Rowes Überlegenheitsgefühl in seinem zu vertrauten Umgang mit den native americans: »Mr. Rowe had been accustomed to Indians in America for many Years having been in America the greatest part of his time, & put too great confidence in them; for had he been more doubtfull of them he might have saved his Life & that of the Crew.« (Zit. n. Cook: The Journals of Captain James Cook, II, S. 752) 31 | Vgl. Forster: Voyage, II, S. 458f. 32 | Von Burney selbst erfahren wir bezüglich dieses Vorfalls: »Jack [sic!] Row would fain have had me seizd one or two of the Zealanders & kept them in our Boat till the Liquor was restored – this I thought dangerous as the Zealanders were too numerous – and all our Empty casks ashore – if Sailors won’t take care of their Grogg, they deserve to lose it.« (James Burney: With Captain James Cook in the Antarctic and Pacific. The Private Journal of James Burney, Second Lieutnant of the Adventure on Cook’s Second Voyage, 1772-1773. Hg. von Beverly Cooper, Canberra 1975, S. 87)
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des Grass Cove Massakers für Forsters negatives Urteil ausschlaggebend gewesen zu sein. In den Reiseberichten und Bordtagebüchern der zweiten Cook-Reise sind das mildtätige Vergeben und der Verzicht auf Rache nach gewalttätigen Zwischenfällen mit der lokalen Bevölkerung zentrale Elemente der britischen civility, die es auch am ›anderen Ende der Welt‹ um jeden Preis aufrecht zu erhalten galt. Niemand verkörperte dieses humanitäre Ideal des gütigen Entdeckers besser als Captain Cook selbst. Dass dieses Ideal gewissermaßen als hegemoniale Männlichkeit funktionierte, das gerade im Licht divergierender Männlichkeiten besonders an Kontouren gewann, zeigt der folgende Auszug aus den Memoiren des Seekadetten John Elliott, der als 13-Jähriger an Bord der Resolution ging. Rückblickend schreibt dieser Jahre später in bewunderndem Ton: [N]o man could be better calculated to gain the confidence of the Savages than Capt. Cook. He was brave, uncommonly Cool, Humane, and Patient. He would land alone unarmed, or lay aside his Arms, and sit down when they threatened with theirs, throwing them Beads, Knives and other little presents, then by degrees advancing nearer, till by patience and forbearance, he gained their friendship and intercourse with them. 33
Diese glorifizierende Charakterisierung Captain Cooks als mutig und zugleich kontrolliert auftretendem Menschenfreund, der anstatt mit Waffen durch Geduld das Vertrauen und die Freundschaft feindseliger Völker gewinnt, liest sich diametral zur Reaktion Rowes und dessen Verhalten gegenüber der lokalen Bevölkerung in Queen Charlotte Sound. Selbstkontrolle und zivilisiertes Verhalten – selbst gegenüber feindlich gesinnten ›Wilden‹ – sowie die Disziplinierung von starken Emotionen kennzeichnen den weißen Entdecker bürgerlicher Prägung. Dass eben dieses Ideal in der bedrohlichen Ferne oft genug nicht aufrecht erhalten werden konnte, zeigt eine Episode auf den Marquesas im April 1774, bei der Captain Cook einen der Insulaner erschoss, um ihn an dem ›Diebstahl‹34 33 | Captain Cook’s Second Voyage. The Journals of Lieutenants Elliott and Pickersgill by John Elliott and Richard Pickersgill. Hg. von Christine Holm, Dover/ New Hampshire 1984, S. 17. 34 | Bei diesen vermeintlichen Diebstählen, die häufig zu heftigen Konflikten zwischen Europäern und lokaler Bevölkerung führten, handelte es sich oftmals um
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einer eisernen Relingstütze zu hindern. Georg Forster nahm den Vorfall zum Anlass, das Verhalten der Entdecker zu reflektieren: The first discoverers and conquerors of America have often, and very deservedly, been stigmatised with cruelty, because they treated the wretched nations of that continent, not as their brethren, but as irrational beasts, whom it was lawful to shoot for diversion; and yet, in our enlightened age, prejudice and rashness have often proved fatal to the inhabitants of the South Sea. 35
Für Georg Forster galten die spanischen conquistadores als grausam, da sie die von ihnen unterworfenen Völker nicht als Menschen, sondern als vernunftlose Bestien behandelten. Doch selbst in diesen aufgeklärten Zeiten hätten laut Forster Vorurteile und unüberlegtes Verhalten fatale Folgen. Trotz der durchaus selbstkritischen Töne spricht der junge Schriftsteller Großbritannien ein grundsätzliches Maß an Zivilisiertheit gegenüber anderen Kolonisatoren zu. Einig waren sich Vater und Sohn Forster, die sich selbst gewissermaßen als ›Repräsentanten‹ der europäischen Zivilisation und als aufgeklärte Entdecker verstanden, dass zwar die gesamte Menschheit über Gefühle verfügte, diese jedoch je nach Grad der Verfeinerung der Sitten und Bräuche der jeweiligen Gesellschaft divergierten: Während die weißen Europäer auf der obersten Stufe der Menschheitsentwicklung zur Kontrolle der Passionen fähig seien, brächen sich die Gefühle bei den weniger fortgeschrittenen Völkern noch Bahn. Seit dem 17. und verstärkt seit dem 18. Jahrhundert hatte die den Gefühlen zugeschriebene Rolle in etlichen Bereichen, wie der Ökonomie und der Politik, aber auch der Moralpsychologie, Kunst und Ästhetik, an BedeuMutproben seitens der jungen Insulaner. Einer der Matrosen, der Kanoniersmaat John Marra, beobachtet in seinem anonym publizierten Reisebericht der zweiten Reise ethnografisch schon sehr genau: »[I]t must be acknowledged that they where [sic!] not wantonly dishonest, but as often as they stole things that were useless to themselves, which frequently happened, they either voluntarily brought them back to their owners, or laid them in places where they must be necessarily found […].« Anonym [John Marra]: Journal of the Resolution’s voyage: in 1772, 1773, 1774, and 1775. On discovery to the southern hemisphere, […] Also a journal of the Adventure’s voyage, in the years 1772, 1773, and 1774. […] Illustrated with a chart, […] and other cuts. London 1775, S. 45f. 35 | Forster: A Voyage round the World, II, S. 12.
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tung gewonnen.36 Am wirkmächtigsten innerhalb dieser Theoretisierung der Gefühle in Bezug auf ›wilde‹ und ›zivilisierte‹ Gesellschaften hatte sich Rousseaus Konstruktion des Menschen im Naturzustand (l’homme naturel) herausgestellt. Der Erfolg des rousseauschen Modells lag unter anderem in seiner Ausdifferenziertheit gegenüber anderen Erklärungsmodellen des ›Edlen Wilden‹ im Sinne Voltaires, Montesquieus oder Turgots. Für Rousseau befanden sich die in exotischen Erdteilen ›entdeckten‹ Menschen keinesfalls in einem paradiesischen Naturzustand, sondern ließen vielmehr bereits unterschiedliche Entwicklungsstadien erkennen. Der Mensch, so die Auffassung Rousseaus, lebte vor seinem Eintritt in die Geschichte und die Gesellschaft in einem Naturzustand: allein, ohne spezialisierte Fähigkeiten, verfeinerte Sitten und hochentwickelte Gesellschaftsstrukturen; auch künstliche Bedürfnisse wie das Streben nach Reichtümern oder Luxus seien ihm fremd. Erst durch das soziale Zusammenleben habe der homme naturel gesellige Gefühle wie beispielsweise moralisches Empfinden oder Mitleid entwickelt. Der ›Haken‹ an dieser Entwicklung sei jedoch, dass mit der voranschreitenden Verfeinerung der Sitten und der zunehmenden Vergesellschaftung des Menschen negative Eigenschaften wie Missgunst oder Prunksucht und eine allgemeine ›Gekünsteltheit‹ einhergingen. So wurde das Ausleben von ›natürlichen‹ Gefühlen beziehungsweise das Unterdrücken selbiger als Indikator des Zivilisationsstandes eines Volkes gewertet, wie aus folgendem Zitat Georg Forsters ersichtlich wird: Our civilized education in general tends to stifle the emotions of our heart; for as we are too often taught to be ashamed of them, we unhappily conquer them by custom. On the contrary, the simple child of nature, who inhabits these islands, gives free course to all his feelings, and glories in his affections towards the fellow-creature. 37
36 | Vgl. dazu Victoria Kahn (Hg.), Politics and the passions, 1500-1850. Princeton u.a. 2006; Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg 2008; Claudia Jarzebowski/Anne Kwaschik (Hg.): Performing Emotions. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Emotion in der Frühen Neuzeit und in der Moderne. Göttingen 2013. 37 | Forster: Voyage, I, S. 417.
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Anders Sparrman, ein schwedischer Naturforscher, der die Forsters auf der zweiten Reise als Assistent begleitete, pflichtet Georg Forster in seinem Reisebericht bei, wenn er die negativen Konsequenzen der Zivilisation betont. Die Abschiedstränen der Bewohner der Insel Raiatea wertet er als »irrefutable proof of their tenderness and humanity, and honours them, although our civilized upbringing frequently demands us to control the most beautiful expressions of emotions as being inimical to decent manliness.«38 Während die ›glücklichen Kinder der Natur‹ ihre Gefühle und Zuneigung ohne Scham zeigten, hätten beim Europäer an der Spitze der Menschheitsentwicklung Brauch und Gewohnheit bereits zur Unterdrückung der Gefühle geführt. Die so wichtige Kontrolle der Gefühle – egal welchen Ursprungs – war, wie aus der Äußerung Sparrmans ersichtlich wird, ein zentraler Bestandteil ehrbarer Männlichkeit, wurde aber gerade innerhalb der Spätaufklärung auch mit Skepsis betrachtet. Forster und Sparrman waren wie viele ihrer Zeitgenossen aus dem aufgeklärten Bürgertum einer zivilisationskritischen Sicht auf die ›gekünstelten‹ europäischen Sitten verpflichtet und idealisierten insbesondere die Völker Polynesiens als kindliche Repräsentanten eines noch in Unschuld verharrenden, glücklichen Menschheitsgeschlechts. So konnten selbst moralisch verwerfliche Handlungen mit der mangelnden Selbstkontrolle und der Macht impulsiver Gefühle legitimiert werden. In Neuseeland beobachtete Georg Forster etwa, wie ein Maori-Mädchen, von dem die europäischen Reisenden annahmen, es sei die Tochter der Familie, einen älteren Mann schlug. In seiner Voyage spekuliert er, es sei am wahrscheinlichsten, »that this secluded family acted in every respect, not according to the customs and regulations of a civil society, but from the impulses of nature, which speak aloud against every degree of oppression.«39 Mithilfe dieses Modells, das Emotionen vor dem Hintergrund der Begegnung mit fremden Völkern in Einklang mit der philanthropischen Auffassung der Aufklärer plausibilisierte, deutet Georg Forster auch den Überfall der Maori auf den europäischen Landungstrupp in Grass Cove: »Revenge has 38 | Anders Sparrman: A Voyage Around the World in the Company of Captain J. Cook and Messrs Forster. In the Years 1772, 1773, 1774 and 1775 Undertaken and Described By Anders Sparrman […], Stockholm 1802. In: Lars Hansen (Hg.): The Linnaeus Apostles: Global Science & Adventure, Bd. 5, London u.a. 2007, S. 439. 39 | Forster, Voyage, I, S. 160.
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always been a strong passion among barbarians, who are less subject to the sway of reason than civilized people, and has stimulated them to a degree of madness which is capable of all kinds of excesses.« 40 Mit Rachegelüsten und starken Leidenschaften wurden im Kontext von Kolonialisierung und Imperialismus ›Barbaren‹ und ›Wilde‹ identifiziert, die fernab der europäischen Zivilisation noch nicht unter dem Einfluss der Vernunft stünden und damit ›natürlicherweise‹ zu Wahn und Exzesshaftigkeit tendierten, so die zeitgenössische Auffassung. Im Umkehrschluss bedeutete dies innerhalb des europäischen Zivilitätsdiskurses jedoch nicht, dass Europäer_innen keine Leidenschaften hätten; nur würden diese eben beherrscht und reguliert werden: The passions are wisely implanted in our breast for our preservation, and revenge, in particular, guards us against the encroachments of others. Savages do not give up the right of retaliating injuries; but civilized societies confer on certain individuals the power and the duty to revenge their wrongs. 41
Moderne staatliche Strukturen leiteten, so die These Georg Forsters, in zivilisierten Gesellschaften starke Passionen und ›natürliche‹ Gefühle – in diesem Kontext Rache – in geregelte Bahnen, etwa durch die Benennung eines Souveräns, dessen Pflicht die Vergeltung von Ungerechtigkeit sei. ›Barbarische‹ Völker hingegen würden ihr Recht auf die Ausübung von Rache nicht aufgeben: »[R]evenge with the savage, was the same thing as justice in a civilized state.«42 Während also die brutale Reaktion der Maori, die – so die Unterstellung – in einem kannibalischen Ritual endete und deren ›exzesshafte‹ Rache aufgrund ihrer entwicklungsbedingten Nähe zum Naturzustand wenngleich nicht legitimiert, so doch zumindest schlüssig erklärt werden konnten, kennzeichnen Brutalität und Kontrollverlust den europäischen Matrosen als Barbaren. Damit bleibt er zwar ein Angehöriger der europäischen Zivilisation, doch die Aufgabe seiner zivilen Errungenschaften in der exotischen Fremde, insbesondere das Handeln ohne Vernunft, rückt ihn in die Nähe von ›Wilden‹. Im Gegensatz zum ›Barbaren‹, bei dem der Hang zu Wahnsinn und Exzess aufgrund seiner noch nicht 40 | Ebd., S. 516. 41 | Ebd., II, S. 466. 42 | Forster: Reply to Mr. Wales’s Remarks, S. 50.
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erreichten Vervollkommnung noch dominiere, halten sich Vernunft und Passion in der idealisierten Figur des europäischen Entdeckers die Waage. Der Matrose hingegen verfehlte für die Forsters aufgrund seiner mangelnden Fähigkeit zu Vernunft und Selbstkontrolle dieses Ideal aufgeklärter Männlichkeit. Zwar gehörten die Matrosen einer zivilisierten Gesellschaft an, so Georg Forster in seiner Voyage, ihre ungezügelten Leidenschaften machten sie dennoch zu unzivilisierten Männern: »Though they are members of a civilized society, they may in some measure be looked upon as a body of uncivilized men, rough, passionate, revengeful, but likewise brave, sincere, and true to each other.«43 Obwohl Forster den Matrosen ein gewisses Maß an Tapferkeit und Aufrichtigkeit zuspricht, ist die Quintessenz seiner Charakterisierung der Seemänner ein genaues Gegenbild des aufgeklärten Entdeckers, der seine durchaus vorhandenen Leidenschaften mit Disziplin und kühler Vernunft kontrolliert und seinen Mitmenschen mit Mitgefühl begegnet.
»… THEIR NATUR AL DISPOSITION FOR SENSUALIT Y«: D IE ›P ROMISKUITÄT‹ DER M ATROSEN UND DIE ›E NTHALTSAMKEIT ‹ DES AUFGEKL ÄRTEN E NTDECKERS Einer der zentralen Aspekte der angeblich ›wesenhaften‹ Brutalität der Matrosen war ihr vermeintlich nie gelöschter Durst nach sexueller Befriedigung. In den Augen der Forsters zeigte sich der Großteil der Matrosen an Bord der Resolution ›immun‹ gegen jegliche Zivilisierungsanstrengung, Manieren und höfliches Verhalten gegenüber Frauen herauszubilden. So schreibt Georg über die sexuellen Beziehungen zwischen Matrosen und Maori-Frauen, die er als ungepflegt betrachtete, es sei erstaunlich »that persons should be found, who could gratify an animal appetite with such loathsome objects, whom a civilized education and national customs should have taught them to hold in abhorrence«.44 Eine zivilisierte Erziehung und nationale Gepflogenheiten hätten es dem Matrosen eigentlich verbieten müssen, Umgang mit den Frauen zu haben. Seine ambivalente Stellung als Mitglied einer Zivilisation, das über keinerlei moralischen Anstand und Vernunft verfüge und stattdessen seinen animalischen In43 | Forster: Voyage, I, S. 536. 44 | Ebd., S. 216.
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stinkten folge, machte den Matrosen in der geteilten Überzeugung der Forsters zu einem hybriden Wesen zwischen Europäer und ›Wildem‹. Die vermeintlichen Analogien zwischen beiden Figuren werden besonders deutlich bei Betrachtung der fehlenden Fähigkeit zur Kontrolle der Emotionen und ›natürlichen‹ Instinkte: beim Wilden sind es unschuldige, ›gute‹ Gefühle, beim Matrosen ungezügelte, ›schlechte‹ Leidenschaften. Ähnlich wie die ›unschuldigen Kinder der Natur‹ lasse der Matrose nach Ansicht der Forsters seiner »natural disposition for sensuality«45 freien Lauf, sobald sich ihm die Möglichkeit biete. Auch Mahine (eigentlich Hitihiti), ein junger Mann von der Insel Raiatea, der die Resolution eine Zeitlang auf ihrer Reise begleitete, sei nicht imstande gewesen, seinen Begierden Einhalt zu gebieten. Schließlich sei er »[s]ensible to pleasure, like all the children of nature«.46 Das Verwerfliche an der exzessiven Sexualität der europäischen Matrosen bestand für den selbsternannten Philanthropen Johann Reinhold Forster vor allem in der unbedachten Verbreitung sexuell ansteckender Krankheiten, deren verheerende Auswirkungen nicht mit dem imperialen Projekt der Weltverbesserung zu vereinbaren waren. In einer langen Passage seines Bordtagebuchs reflektiert Forster über das Übel der venerischen Krankheiten, welche die Europäer nach Neuseeland verschleppt hätten. Er stellt sogar die These auf, es wäre besser gewesen, hätte der Mann, »who first infected the Female on this Isle, immediately after fulfilling his brutal lust, stabbed the object of his temporary passion«47. So wäre einer Nation im Stadium der Kindheit zumindest die zerstörerische Wirkung dieser Krankheit erspart geblieben. Forster selbst inszeniert sich in seinem Tagebuch als das genaue Gegenteil dieser barbarischen Männlichkeit: »I cannot dwell longer on this Idea, my heart is revolted to reflect further on the dreadfull consequences of this brutal action, & I cannot help to shed a tear of compassion for my fellow creatures, who are to become the victims of this brutality.«48 Die Befriedigung sexueller Lust wird hier aufgrund der gesundheitlichen Konsequenzen für die ›unschuldigen‹ Insulaner_innen und ganze Insel-Populationen als ein brutaler und unmenschlicher Akt eingestuft, der das Mitleid Forsters für 45 46 47 48
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Ebd., I, S. 408. Ebd., II, S. 53. Forster: Resolution Journal, II, S. 308. Ebd., S. 308f.
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die Opfer dieser Gewalttat hervorruft. Das inszenierte Tränenvergießen darf an dieser Stelle keinesfalls fehlen, »gehörte es im 18. Jahrhundert noch zum Persönlichkeitsbild eines Gentleman, durch Tränen emotionale Betroffenheit ausdrücken zu können«.49 Über die schriftliche Darstellung des Tränenvergießens werden Emotionen sichtbar gemacht und die Fähigkeit des idealen Entdeckers betont, Mitgefühl gegenüber jeglichen menschlichen Geschöpfen zu empfinden und ihnen trotz oder gerade wegen ihrer ›Unterlegenheit‹ gegenüber den Europäer_innen mit Milde und christlicher Nächstenliebe zu begegnen.50 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine der wenigen Anekdoten von Cook selbst, der in seinem Journal berichtet, wie ihm auf der Insel Nomuka von einer Frau ein Mädchen angeboten wurde. Als er dankend ablehnte habe die Frau ihn ausgelacht und vorgeblich gefragt, »what sort of a man are you thus to refuse the embraces of so fine a young Woman«,51 woraufhin er gewissermaßen die Flucht an Bord des Schiffes angetreten habe, das er zuvor mit einem Frauenverbot belegt hatte, um dem Drängen der Frau, das Mädchen anzunehmen, zu entkommen. Dass Cook diesen Vorfall in seinem Tagebuch festhielt, scheint kein Zufall zu sein, inszenierte er sich doch selbst als einen Entdecker, dessen selbstauferlegte Enthaltsamkeit seine moralische Integrität wahrte. Auch war ihm durchaus bewusst, dass öffentliche Berichte über sexuelle Ausschweifungen kein gutes Licht auf die von ihm geführten Expeditionen warfen. In einem Brief vom 10. Januar 1776 an den Co-Autor der zweiten Reisebeschreibung James Douglas gibt er ihm deutlich zu verstehen, dass er keine Berichterstattung über intime Details in seinem Reisebericht wünscht: With respect to the Armours of my People at Otaheite & other places; I think it will not be necessary to mention them at all, unless it be by way of throwing a light on the Characters, or customs of the People we are then among; and even then I would have it done in such a manner as might be unexeptionable to the readers.
49 | Martina Kessel: Gefühle und Geschichtswissenschaft. In: Rainer Schützeichel (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze. Frankfurt a.M. 2006, S. 29-47, hier S. 33. 50 | Forster: Resolution Journal, II, S. 309. 51 | Cook: The Journals of Captain James Cook, II, S. 444.
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In short my desire is that nothing indecent may appear in the whole book, and you cannot oblige me more than by pointing out whatever may appear to you as such. 52
Sexuelle Ausschweifungen wurden jedoch nicht nur den Matrosen negativ ausgelegt. Auch der Naturforscher der ersten Cook-Reise (1768-1771), der eingangs erwähnte Joseph Banks, wurde nach seiner Rückkehr aufgrund seines intimen Umgangs mit den Insulanerinnen in zahlreichen Satiren als ›sensualist‹ und ›butterfly-catcher‹ verspottet. Seine vermeintliche Liebschaft mit der ›Südseekönigin‹ Oberea (eigentlich Purea, die Frau eines Häuptlings auf Tahiti) gaben Anlass dazu, Banks als einen umtriebigen ›Lüstling‹ darzustellen, dessen Interesse Frauen und Botanik gleichermaßen gegolten habe.53 Laut Kathleen Wilson stellten die Satiren auf Banks und dessen promiskuitives Verhalten eine zeitgenössische Kritik an der effeminierten Aristokratie dar. In der Tat zielten die in den Satiren geäußerten spöttischen Bemerkungen auf dessen Wohlstand als landowner ab, durch den Banks schon in jungen Jahren ein reicher Mann geworden war. Doch diese Kritik an Banks, ihn mit dem zu der Zeit in England beliebten Topos des ›verweiblichten‹ französischen Adels allein gleichzusetzen, greift zu kurz. Denn die Schmähungen gegen Banks richteten sich gleichermaßen gegen sein Fehlverhalten als ehrenhafter Gentleman (er hatte einer gewissen Miss Blosset vor seiner Abreise die Heirat versprochen) und seine mangelnde Fähigkeit, botanische Studien mit Ernsthaftigkeit zu betreiben. Banks‹ intimer Umgang mit den Insulanerinnen war Wasser auf die Mühlen derer, die den botanist gentlemen die Wissenschaftlichkeit ihrer Naturforschungen absprachen. So heißt es
52 | Letters to Dr. Douglas from various persons, relating to the publication of the journal of the second and third voyages 1776-1784, British Library, Eg. 2180,f.3. 53 | In der anonym verfassten Epistle from Oberea, Queen of Otaheite to Joseph Banks, Esq (1773), die erst den Anfang einer ganzen Folge von Satiren auf Banks darstellt, beklagt die sitzen gelassene Oberea das schmähliche Verhalten ihres Liebhabers. Für einen Überblick über den sogenannten ›Oberea-cycle‹ s. http://unitproj.library.ucla.edu/special/cookmenu/cookcheck6.htm (Stand: 14.01.2013). Vgl. zu den soziopolitischen und geschlechtlichen Dimensionen der Satiren David Fausett: Images of the Antipodes in the Eighteenth Century. Study in Stereotyping. Amsterdam u.a. 1995, S. 180f. sowie Patty O’Brien: The Pacific Muse. Exotic Femininity and the Colonial Pacific. Seattle/Wash. u.a. 2006, S. 65.
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in einem Artikel der Septemberausgabe des Town and Country Magazine aus dem Jahr 1773 über Banks: As nature has been his constant study, it cannot be supposed that the most engaging part of it, the fair sex, have escaped his notice; and if we may be suffered to conclude from his amorous descriptions, the females of most countries that he has visited, have undergone every critical inspection by him. 54
Durch die seit Linnés Systema naturæ (1735) hervorgerufene Assoziation zwischen Sexualität und Botanik und die allgemeinere Gleichsetzung von Frauen mit Naturhaftigkeit wurden in den zeitgenössischen Satiren wissenschaftliche Beobachtung mit sexuellem Voyeurismus und männlicher Sexualität in Verbindung gebracht.55 Im Unterschied zu den Matrosen wurde Banks Promiskuität nicht als Brutalität oder barbarisches Vergehen an den unschuldigen Insulanerinnen interpretiert, sondern als Verführungs- und Vergnügungssucht, der die ›willigen‹ Schönheiten nur zu gern erlägen. Sein Interesse an botanischen Studien verkam innerhalb dieser persönlichen Diskreditierungen zu einem unlauteren Mittel und bloßen Vorwand, die weibliche ›Natur‹ zu erkunden. Einige der reisenden Gentlemen und Naturforscher brandmarkten nicht nur das Verhalten der Matrosen, sondern reflektierten selbstkritisch ihre eigenen moralischen Verfehlungen am ›anderen‹ Ende der Welt. Sydney Parkinson, der von Banks engagierte Naturzeichner der ersten CookReise, verstarb zwar noch während der Rückfahrt nach Europa an einem tropischen Fieber, seine Aufzeichnungen wurden jedoch posthum veröffentlicht. Darin merkt er an: Most of our ship’s company procured temporary wives amongst the natives, with whom they occasionally cohabited; an indulgence even many reputed virtuous Eu-
54 | Zit. n. Alan Bewell: »On the Banks of the South Sea«. Botany and Sexual Controversy in the Late Eighteenth Century. In: David Philip Miller/Peter Hanns Reill (Hg.): Visions of Empire. Voyages, Botany, and Representations of Nature. Cambridge 1996, S. 181. 55 | Ausführlich dazu Bewell: Botany and Sexual Controversy, S. 173-193 sowie Janet Browne: Botany in the Boudoir and Garden. The Banksian Context. In: Visions of Empire, S. 153-172.
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ropeans allow themselves, in uncivilized parts of the world, with impunity; as if a change of place altered the moral turpitude of fornication […]. 56
F A ZIT Parkinsons Hinterfragen der eigenen moralischen Verworfenheit in den ›unzivilisierten‹ Teilen der Welt verdeutlicht in zweierlei Hinsicht die Brüchigkeit der aufklärerischen Konzepte von Barbarei und Zivilität: Zum einen hegten die reisenden Gelehrten selbst Zweifel an den eigenen hehren Ansprüchen, die moralische Integrität auch in den ›unzivilisierten‹ Weltteilen wahren zu können. Zum anderen tritt durch Parkinsons Selbstkritik die Konstruiertheit der ›exzessiven‹ Sexualität der Matrosen zu Tage. Denn es gilt festzuhalten, dass sich die Verfasser von Tagebüchern und publizierten Reiseberichten ihr Selbst gewissermaßen ›erschrieben‹, auch oder gerade durch das Schreiben über Andere. Diese waren im Kontext der Cook-Reisen eben nicht nur ethnisch-kulturell Andere, sondern auch sozial divergierende Gruppen eines ähnlichen kulturellen Hintergrunds, nämlich die Matrosen, denen die Verschriftlichung ihrer Reisetagebücher verboten war und die nur in einzelnen Fällen anonym publizierten. Sowohl die hier diskutierten Beschreibungen sexuellaggressiver Seeleute als auch die bruchstückhaft angedeuteten Satiren über Banks und dessen sexuelles Verhalten während der ersten CookReise verorten die normativ erscheinende Männlichkeit des weltreisenden Entdeckers in einem dezidiert bürgerlich-aufklärerischen Kontext. Maßgebliche Prägung erfuhr dieses Ideal im imperialen Kontext durch die philanthropische Haltung der Aufklärer und deren Forderung nach zivilen Verhaltensweisen – selbst in den entlegensten Winkeln der Erde. Wie gezeigt werden konnte, funktionierten die dichotomen Begrifflichkeiten Barbarei und Zivilität nicht allein in Bezug auf die Beschreibung der ›Wilden‹, sondern wurden von den selbsternannten philosophers vor allem dazu genutzt, die Fremdheit und Wildheit des europäischen Matrosen über die Nicht-Beherrschung seiner Impulse vor Augen zu führen. Obwohl die Disziplinierung von Emotionen vor dem Hintergrund des 56 | Sidney Parkinson: Journal of a Voyage Round the World in His Majesty’s Ship Endeavour. In the Years 1768, 1769, 1770, and 1771. Undertaken in Pursuit of Natural Knowledge, at the Desire of the Royal Society […]. London 1771, S. 25.
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homme naturel und der gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommenden Strömung der Empfindsamkeit durchaus kritisch gesehen wurde, war die Kontrolle der Gefühle und das ›zivile‹ Verhalten wichtigstes Merkmal des aufgeklärten Entdeckers. Diese hegemoniale Männlichkeit funktionierte dabei als ein Ideal von ›Mannsein‹, das vor allem im protestantischen Bürgertum Nordeuropas und für den imperialen Kontext seine Wirkmacht entfalten konnte. Sowohl die geschlechtliche Markierung der Matrosen als eine deviante Form von Männlichkeit als auch die Diskreditierung des Aristokraten Banks als ›naturforschender Lüstling‹ deuten im Kontext der Weltreise auf ein sich formierendes bürgerliches Standesbewusstsein hin, das sich in bewusster Abgrenzung zu adligen Schichten, aber eben auch zu proto-proletarischen Unterschichten inszenierte.57 Diese Abgrenzungsbestrebungen seitens der aufgeklärten, bürgerlichen Naturforscher lassen Grenzziehungen erkennen, die eben nicht an institutionalisierte Rahmenbedingungen gebunden waren, sondern vielmehr in dynamischen wie transitorischen Räumen und Settings ausgehandelt wurden. In Bezug auf das Konzept der hegemonialen Männlichkeit lässt sich ferner festhalten, dass bestimmte Elemente der im Kontext der Weltreise als deviant markierten Männlichkeit der Matrosen, vor allem ihre vermeintliche emotionale Härte, aber auch die ihnen zugeschriebene starke Physis, im Laufe des 19. Jahrhunderts teilweise von Männern aus Mittelklasseschichten übernommen wurden. Dies verweist auf die historische Variabilität oder auch »bewegliche Relation«58 hegemonialer beziehungsweise marginaler Männlichkeit. Denn zunächst wurde ein bestimmter Typus ›abgehärteter‹ und physisch starker Männlichkeit insbesondere von arbeitenden Subkulturen geprägt, folgt man der Interpretation Marcus Redikers, der die Matrosen als Vorläufer der proletarischen Lohnarbeiter und einer im Entstehen begriffenen Arbeiterklasse interpretiert. Versteht man hegemoniale Männlichkeit zudem als die von den dominanten gesellschaftlichen und herrschenden Schichten gesetzte Norm und Praxis, 57 | Siehe dazu die Studien von Marcus Rediker, der Seemännern an Bord von Segelschiffen im 18. Jahrhundert als Vorläufer der proletarischen Lohnarbeiter und einer im Entstehen begriffenen Arbeiterklasse interpretiert. Vgl. Marcus Rediker: Between the Devil and the Deep Blue Sea. Merchant Seamen, Pirates, and the Anglo-American Maritime World, 1700-1750. Cambridge u.a. 1987. 58 | Connell: Der gemachte Mann, S. 98.
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so stellt sich die Frage, was dieses Ideal politisch, sozial und kulturell reflektiert. Es erlaubt nicht nur Einsicht in das Selbstverständnis des Bürgertums und dessen moralischen Selbstverpflichtungen in außereuropäischen Zusammenhängen zur Zeit der imperialen Expansion gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Analyse konnte auch aufzeigen, dass die auf dem Meer lebenden, heimatlosen Matrosen als ›a body of uncivilized men‹ eben doch Teil der Gesellschaft auf dem Festland waren und einen zentralen Anteil an der Formierung ›moderner‹ Subjektivierungen in kollektiven Zusammenhängen nahmen. Hinsichtlich der Implikation von Raum und Geschlecht bedeutete dies auch, traditionelle Dichotomien von See und Festland, das »out there« und »in here«59 für die Formierung geschlechtlicher Identitäten konsequent zu überdenken.
59 | Kathleen Wilson: Introduction: Histories, Empires, Modernities. In: Dies. (Hg.): A new Imperial History. Culture, Identity, and Modernity in Britain and the Empire, 1660-1840. Cambridge u.a. 2004, S. 7.
»A Man May Travel Far«
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Eastern European Labour Migration as a Quest for Masculine Self-Assertion in Rose Tremain’s The Road Home (2007) Julia Elena Thiel
[…] Lev chose a window-seat and kept wiping the condensation from the steamedup glass so that he could stare out at his country – at the abandoned farms and silent factories, at the deserted coal depots and lumber yards, at the new highrise flats and the bright, flickering heartbeats of American franchises, at a world slipping and sliding on a precipice between the dark rockface of Communism and the seductive, light-filled void of the liberal market (337).
With the expansion of the European Union in 2004, economic migration within the confederation has gained new actors. That year, ten new member states joined the EU; most of them, the ›accession eight countries‹, are located in Eastern Europe and belong to the former Soviet bloc.2 The United Kingdom has become one of the main destinations for Eastern Europeans in search of employment abroad. Consequently, it is not surprising that this group of migrants »has made a sweeping impact on the 1 | Rose Tremain: The Road Home. London 2007, p. 31; p. 37. »›A Man May Travel Far, but His Heart May Be Slow to Catch Up‹« is the title of the third chapter and a proverb Ahmed, Lev’s first employer, recites. For this text only, parenthetical references will be used throughout this article. 2 | See for example: Barbara Korte: Charting Backgrounds, Questions and Perspectives. In: Barbara Korte/Eva Ulrike Pirker/Sissy Helff (eds.): Facing the East in the West. Images of Eastern Europe in British Literature, Film and Culture. Amsterdam 2010, p. 1-24.
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British economy and its public life, as well as on the British cultural imaginary«.3 This development has received attention in the public and the media, reviving debates about cultural and national identity, integration and citizenship.4 Oliver Lindner even states that the »migrant Other […] has acquired a distinctly new face«5 – that of the Eastern European. Rose Tremain’s The Road Home (2007) is firmly placed in this particular historical context. Widely regarded as a noteworthy example of fiction addressing contemporary Eastern European labour migration, Tremain’s eleventh novel earned her the 2008 Orange Prize for Fiction, one of the most prestigious literary prizes in the UK. In many ways a conventional, if slightly humble ›rags-to-riches‹ story, The Road Home portrays the journey of Lev, a 42 year-old widower from an unspecified Eastern European country who migrates to England in order to earn money to send home to his mother and his five-year-old daughter. The reader accompanies him on the bus journey to London and witnesses the initial problems he has to face, ranging from homelessness and the struggle to find employment to more general difficulties with adjusting to his temporary life in the English metropolis. Lev slowly but steadily manages to find his feet and make a career of sorts. In the end, he can return to the country of origin with enough capital to open a restaurant and start a new life. Critical responses to The Road Home range from favourable reviews which declare it »a finely balanced novel of urgent humanity«6 to more sceptical voices referring to the text as »a work of simplification and sentimentalism«.7 Some literary critics read Tremain’s work with a focus on space by drawing attention to its depiction of »British geographies in 3 | Oliver Lindner: ›East is East and West is Best?‹ – The Eastern European Migrant and the British Contact Zone in Rose Tremain’s The Road Home (2007) and in Marina Lewycka’s Two Caravans (2006). In: Anglia – Zeitschrift für englische Philologie, 127, 3, 2010, p. 459-473. P. 459. 4 | Korte: Charting Backgrounds, p. 2. 5 | Lindner: East is East, p. 460. 6 | Caroline Moore: An Immigrant’s Attempt at a New Life. In: The Telegraph Online, 14.06.2007, www.telegraph.co.uk/culture/books/3665805/An-immigrants-attempt-at-a-new-life.html (Accessed: 15.01.2013). 7 | Józef Jaskulski: Friday Reeducated. Orientalizing the Eastern European other in Rose Tremain’s The Road Home. In: Inter-disciplinary.net, www.inter-disciplinary. net/at-the-interface/diversity-recognition/multiculturalism-conflict-and-belon
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the Eastern European mind«8 or its representation of encounters in ›the British contact zone«9. Moreover, other studies critically explore the novel from a postcolonial perspective; Anna Maria Tomczak focuses on the (often clichéd, Orientalist) way in which the Eastern European country is represented,10 while Józef Jaskulski unravels connections to colonial discourses and types in the text’s depiction of the migrant Other.11 Yet, it has generally been overlooked that gender and especially masculinity plays a crucial role in the novel’s representation of the migration experience. In fact, Lev’s story is explicitly cast as an ill-fated man’s journey to a new sense of self and success, as a man. His transformation is linked to the political and economic transitions his formerly communist home country is undergoing, which have triggered processes of social restructuring. As the text passage quoted at the beginning of this article illustrates, this shift involves the decline of the lumber and coal industry and hence, manual labour, and an economic reorientation towards the demands of the liberal market. A society’s economic system and organisation of labour constitutes an important arena for the formation of gender relations.12 Masculinity as a gender configuration forms an aspect of this larger system of gender relations, since it is created and embedded in it.13 More precisely, gender relations as social structures bring forth masculinities in the plural, which are formed in relation to each other as well as in relation to femininities, and interact in a hierarchical manner. In her famous framework, Raewyn ging/project-archives/3rd/session-9-representations-and-their-impossibilities/ (Accessed: 10.01.2013). 8 | Corina CriĴu: British Geographies in the Eastern European Mind: Rose Tremain’s The Road Home. In: Barbara Korte/Eva Ulrike Pirker/Sissy Helff (eds.): Facing the East in the West, p. 365-380. P. 371. 9 | Lindner: East is East. 10 | Anna Maria Tomczak: Trying to Cross Frontiers of Fortress Europe: Rose Tremain’s Novel The Road Home (2007). In: Jacek Fabiszak/Ewa Urbaniak-Rybicka/Bartosz Wolski (eds.): Crossroads in Literature and Culture. Second Language Learning and Teaching Series. Berlin 2013, p. 451-461. P.454. 11 | Cf. Jaskulski: Friday Reeducated. 12 | Cf. for example: Raewyn Connell: Gender and Power. Society, the Person and Sexual Politics. Oxford 1987. p. 91ff. 13 | Raewyn Connell: Masculinities [1995]. Berkeley/Los Angeles 2005, p. 67.
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Connell distinguishes between hegemonic, complicit, marginalised and subordinate forms of masculinity.14 Hence, masculinities are regarded as »socially constructed, produced, and reproduced rather than as somehow just ›naturally‹ one way or another«,15 and should be viewed as »variable and changing across time (history) and space (culture), within societies, and through life courses and biographies«.16 Consequently, during processes of economic and political transformation a gender order can become unstable, and changes in the gender configurations can follow.17 Likewise, gender inevitably interacts with other social structures, the most commonly noted being race and class. However, on a more global scale »nationality or position in the world order«18 plays a significant role as well. With these considerations in mind, the following analysis draws attention to the way the main protagonist’s struggle with ›being a man‹ is related to his home country’s transition from a communist country to a newly capitalist EU member state. Hence, I first pay attention to the depiction of the protagonist as a man in the context of his native village, and his relationship to two male characters and their masculinities in particular, his father and his best friend Rudi, who can be read as representative of different stages in the political and economic conversion process of the fictional country. Secondly, I explore how the novel stages the protagonist’s time in London as an educational journey that helps him acquire a ›new masculinity‹ and makes a successful return to the newly capitalist country of origin possible. In this context, I also compare and contrast Lev’s migration experience to the story of his female travel companion Lydia in order to highlight an additional layer of the gendered depiction of economic migration in Tremain’s novel. 14 | Cf. Connell: Gender and Power, p. 183ff; Connell: Masculinities, p. 76ff. 15 | Jeff Hearn: The Materiality of Men, Bodies, and Towards the Abolition of ›Men‹. In: Martina Läubli/Sabrina Sahli (eds.): Männlichkeiten denken: Aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Masculinity Studies. Bielefeld 2011, p. 195-217. P. 197. 16 | Hearn: Materiality of Men, p. 197. 17 | See for example: Linda McDowell: The Men and the Boys: Bankers, Burger Makers and Barmen. In: Bettina van Hoven/Kathrin Hörschelmann (eds.): Spaces of Masculinities. Oxon/New York 2005, p. 19-30. 18 | Connell: Masculinities, p. 75.
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»[G] E T TING ON AS A MAN «: 19 E ASTERN E UROPE AN M ASCULINITIES IN TR ANSITION 20 Throughout The Road Home, the protagonist’s gender plays a crucial role in character descriptions and focalisations, which make a number of references to problems and questions connected to being a man. Many passages in the third person narrative give insight into Lev’s thoughts, casting a meaningful light on the life he leaves behind and above all, his problems with fitting in. Early in the narrative, the protagonist’s personality and more particularly, his masculinity, is portrayed as the reason for his struggles: He possessed a vibrant imagination. At the Baryn sawmill he’d been known, derogatorily, as a ›dreamer‹. ›Life is not for dreaming, Lev,‹ his boss had warned. ›Dreaming leads to subversion.‹ But Lev knew that his nature was fragile, easily distracted, easily made joyful or melancholy by the strangest of small things, and that this condition had afflicted his boyhood and his adolescence and had, perhaps, prevented him from getting on as a man. Especially after Marina had gone. […] Other men might have been able to chase this shadow away – with drink, or with young women or with the novelty of making money – but Lev hadn’t even tried (6f., my emphasis).
As this quote shows, Lev is depicted as different from other men; he is described as sensitive, prone to losing himself in thoughts or emotional upheaval – traits which are obviously not in demand in his old environment. His inclination is explicitly connected to problems with »getting on as a man« (6), most specifically not being able to put painful memories of his dead wife behind by means of stereotypical, ›manly‹ activities such as drinking or chasing after women. Indeed, the protagonist loses interest in women and sex completely, and his difficulties in overcoming Marina’s death constitute an important theme in the novel. Clearly, the supposedly 19 | Tremain: The Road Home, p. 6. 20 | Like Daniel Lea and Berthold Schoene, I do not regard masculinity as a ›gender in crisis‹ but rather prefer to speak of masculinity as a ›gender in transition‹. See Daniel Lea/Berthold Schoene: Masculinity in Transition: An Introduction. In: Daniel Lea/Berthold Schoene (eds.): Posting the Male: Masculinities in Post-war and Contemporary British Literature. Amsterdam 2003, p. 7-18.
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›weak‹ attributes the novel ascribes to Lev, such as emotionality and passivity, relate to concepts traditionally linked to women in Western culture, standing in binary opposition to the activity and rationality attributed to men. In this context, the protagonist’s native village, Auror, as a place and a space with a particular economic and social order, is of great significance. The isolated village is depicted as a semi-idyllic, backward place where children »play with the goats and chickens in the dust« (10). As Tomczak points out, »passages of rural simplicity and picturesque views […] are counterbalanced by descriptions of poverty and neglect«,21 creating feelings of benevolent pity and sympathy in the reader while simultaneously distancing her from the reality depicted. Jaskulski similarly notes that Lev’s home appears to be »a country of lumberjacks, unskilled manual laborers, and party members who oppress them. […] it seems as if communism ended in Neverland right along the coming of the new deal of Brussels«.22 These are common stereotypes to be found in Western European representations of the East which emphasize the supposed otherness of the countries and their inhabitants.23 Indeed, the protagonist’s physical and social surroundings appear to exist far away from Western reality in the early twenty-first century, both spatially and temporally. The village’s entire population depends on the nearby lumber yard and sawmill where most men, including Lev and his father, used to work. Consequently, its closure »doomed« (16) the rural area to unemployment and misery. This scenario is of crucial importance with regard to the link between labour and masculinity the novel evokes. While the passage above hints at the fact that Lev’s personality is unsuitable for the manual labour at the sawmill and the social hierarchy attached to it (fear of subversion), the text reveals that he falls into a paralysing state of depression after losing his job. Hence, the man with the »handsome face« (1) is represented as »a character passing through a crisis«,24 but a crisis closely linked to his gender and the changing economic situation in his village. Struck by unemployment, his ›unmanly‹ character traits are revealed to be the reason for his inability to engage with his family and assume responsibility: 21 22 23 24
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Tomczak: Trying to Cross Frontiers, p. 454. Jaskulski: Friday Reeducated, p. 5. Cf. Lindner: East is East, p. 461. CriĴu: British Geographies, p. 367.
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while Lev spends days sitting motionless on the porch, or »in an old grey hammock smoking and staring at the sky« (25), his mother looks after his child, does all of the housework and most importantly, provides the family’s only income, selling jewellery she makes out of old tin. His discontent with this »lamentable« (ibid.) circumstance influences Lev’s decision to migrate to the UK. Tremain’s protagonist feels the need to improve »his self« during his time abroad, to »make amends« and return home »a man of the world« who can »save« (25) his mother and daughter and offer them a better life. Making amends is here first and foremost linked to economic success and the ability to sustain the family in the role of male ›breadwinner‹, alluding to a rather traditional ideal underlying his quest (to be further discussed below). Hence, Lev’s journey to the UK can be read as an attempt to achieve a masculinity more suited to the changing social and economic context in his home country, since it is impossible for him to adopt the models of masculinity which surround him. The novel introduces two examples which function as points of reference for Lev and relate to specific economic and political moments in the history of the fictional country. On the one hand, the protagonist’s father represents the old generation of working-class people who lived in the country’s socialist past and serves as a deterrent example, which influences Lev’s decision to migrate: […] [A]t once he could see him clear as sunlight, sitting on his hard chair at Baryn, with his half-eaten heel of salami, tearing bread with his stained hands, dabbing at his droopy moustache with his kerchief. And he knew that Stefan was part of the reason he was here in London, that he’d have to defy in himself that longing of his father’s to resist change, and he thought: I should be grateful that the sawmill closed, or I’d be exactly where he was, immortal on a chair. I’d be enslaved to a lumberyard until I died, and to the same lunch each day and to the snow falling and drifting, year on year, falling and drifting in the same remote and backward places (29, my emphasis).
As this passage illustrates, the text associates Stefan with images of rural simplicity (the hard chair, tearing the bread), monotony and stagnation, evoking the impression of being frozen in time. In this regard, the link between Stefan and the village Auror, »a place so lonely, so abandoned by time« (344), underscores the peculiarly nostalgic depiction of both place and people as being lost in semi-idyllic isolation. In this context,
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his ›droopy moustache‹ can be read as symbolic for a withering, decaying masculinity that characterises his generation of »superstitious, downtrodden people«,25 stuck in a state of backwardness and regress. Moreover, the quote portrays that the image of Lev’s father is tightly linked to manual labour in the lumberyard, emphasizing that he represents the proletarian workers of the communist era and adding to the impression of rural backwardness. The end of the sawmill symbolises the end of that political and economic era and the proletarian masculinity connected to and produced by it. According to the passage above, this event enables Lev to escape from Stefan’s working-class fate of being »enslaved«, despite the spell of depression that results from it at first. The conflict-laden confrontation with »the haunting presence of his father, an existential model hard to challenge«,26 serves as a recurring motif during Lev’s quest for self-assertion and clearly illustrates that in the changing political and economic reality of post-Soviet times the novel depicts, Stefan’s way of ›being a man‹ is deemed unfit and backwards. On the other hand, the ideal of masculinity the protagonist initially admires most is embodied by his best friend, Rudi, and characterised by decisiveness and impetus. If Stefan serves as a negative example that convinces Lev that change is needed, his best friend functions as a mentor figure who teaches Lev »to embrace […] the idea of perseverance« (114), most expressly so when he takes the depressed widower away from his hammock on a surreal, yet ›masculine‹ adventure trip into a cave in the mountains. Rudi clearly functions as a guide to proper male behaviour for Lev. References to the other man and the question of how he would act in situations the migrant encounters abound especially in the beginning of the text, and passages like the following paint a vivid picture of Rudi and the protagonist’s view of him: Rudi never surrendered to anything, and he wouldn’t have surrendered to the opium of the passing miles. Rudi fought a pitched battle with life through every waking hour. ›Life is just a system‹, Rudi often reminded Lev. ›All that matters is cracking the system.‹ In his sleep, Rudi’s body lay crouched with his fists bunched in front of his chest, like a boxer’s. When he woke, he sprang and kicked away the bedclothes. His wild dark hair gleamed with its own invincible shine. He loved vod25 | Tomczak: Trying to Cross Frontiers, p. 455. 26 | CriĴu: British Geographies, p. 374.
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ka and cinema and football. He dreamed of owning what he called a ›serious car‹. […] He would have resisted (10f., my emphasis).
Above all, the Rudi of Lev’s imagination is one thing in particular: a fighter. This man moves tirelessly through the battle called life, refusing to surrender or let anyone or anything get him down, prepared to fight even in his sleep. While the father figure stands for passive resignation, Lev’s best friend is equated to »a force of nature«, »a lightning bolt«, »a fire that never went out« (247). In each of the many sections which reference the other man, his agility and carelessness are juxtaposed with Lev’s lack thereof, his »pathetic timidity« (21) and passivity. Inventive with regard to business ideas and at ease with his surroundings, Rudi appears to embody a self-assured, unrestrained masculinity adapted to the unstable post-Socialist present of the country in which »[o]nly the resourceful will survive« (16). Lev’s best friend takes action, »untroubled by what the consequences might be« because he »made his own laws« (18). He knows how to bargain and engages in a variety of activities, from grey trading and taxi driving to selling horoscopes, in order to work the corrupt system and make sure he gets his share. However, like the proletarian masculinity Stefan embodies, the image of Rudi appears to be oddly out of date from the reader’s perspective. The many stories featuring Rudi Lev recounts are amusing and appeal to the Western audience precisely because of the other man’s rather simple nature, his boldness and machismo. Most strikingly, Rudi’s pride and joy, his old Chevrolet called the ›Tchevi‹, expresses his attitude that freedom equals having »four wheels under your arse« (36) and associates him with a specific form of consumerism. As Corina Crișu notes, »[i]n a post-communist country, the appearance of such a car is rare, and for Rudi […] possessing it becomes his greatest ambition, a dream that would solve all of his problems«.27 The appeal of the old American car could be read as revealing »the seductive power of a Western lifestyle«;28 however, I would suggest that this Western lifestyle symbolised by the ›Tchevi‹ is represented as outmoded, based on an antiquated capitalist attitude, and quite literally liable to breakdown. The regional and economic transitions to affect the unnamed country call
27 | CriiĴu: British Geographies, p. 375. 28 | Ibid.
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for a change, and eventually make Rudi’s masculinity just as obsolete as the one embodied by Lev’s father. For the central character, both models of masculinity are depicted as either ill-fitting or unreachable. Despite Lev’s admiration for his best friend, this ideal is unapproachable for the sensitive widower due to his sentimental and dreamy nature: But for what was he being crucified? For not loving his father? For not clawing and tearing his way through life, like Rudi? For lying in a grey hammock when sadness got him down? He didn’t know. All he understood was that he had to try to rise up, to get free of his wooden cross, to resume his road (45).
This passage vividly portrays the painful tension that arises from Lev’s rejection of the old order represented by his father and his inability to cope with the new situation like Rudi. In effect, the protagonist is characterized as a man torn between two inadequate blueprints impossible to adopt. Ultimately, ›his road‹ takes Tremain’s hero on his journey to London that forms the main storyline of the novel. Interestingly, the text’s repeated references to Shakespeare’s Hamlet underscore the intensity of the protagonist’s struggle and cast his quest in an even more tragic light.29 Allusions to the famous Shakespearean tragedy are numerous (e.g. 4, 133), and his travel companion Lydia’s remark that »[Lev] may recognise something of [himself] in the character« (184) points to deliberate parallels between him and Hamlet. Apart from the obvious likeness regarding Lev’s attested melancholy and moody nature, this connection is further established by means of Lydia’s comments on the text and its relevance for them as migrants, or ›exiles‹, in particular: ›And I think for us, who are exiles, or whatever you like to call it, this play has very much meaning. You may see this as you read. Because Prince Hamlet, you know,
29 | Lydia gives Lev an annotated copy of the famous tragedy as a Christmas present; after his break-up with Sophie, he turns to the play for diversion, answers and advice. Moreover, the chapter of the novel that depicts Lev hitting rock bottom, both regarding his career and his behaviour, is entitled ›Exeunt all but Hamlet‹.
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he is cast out. Or, rather, he casts himself out, so that he can make things right in the place that he’s left behind.‹ ›Yes?‹ ›Yes. And all the time he is haunted by the past. You will see.‹ (133)
By means of this rather unusual interpretation of Shakespeare’s play, Lev’s migration is framed as serving the purpose of »mak[ing] things right« in his home country. What is more, the link between the two characters seems to suggest that Tremain’s protagonist, like Hamlet, is »caught up in awkward transition between an old order, on the wane yet still unrelentingly influential, and the perplexing freedom and indeterminacy of a new order, palpably there but tragically insubstantial and beyond practical grasp«.30 However, in contrast to the doomed Prince of Denmark whose »new masculinity evaporates in the impossible no-man’s-land between two incompatabilities«,31 the migrant can overcome the break between the demise of the old communist system and the rise of capitalism. In his case, crossing national borders also implies being exposed to the economic system yet to arrive in his native country.
M ASTERING I T : THE PATH TO B ECOMING »A DIFFERENT MAN« 32 According to Corina Crișu, The Road Home is »a novel about an immigrant’s quest from a state of marginality and dependence to self-assertion and independence«.33 However, as established above, the gender aspect is of crucial importance in this context; therefore, I now focus on Lev’s migration experience and read it as a journey to masculine self-assertion that is tightly linked to expanding both knowledge and capital in the metropolis. In this regard, it is significant that his is not the only story of migration depicted in the novel. Sitting next to Lev on the coach to London is Lydia, the female migrant from his country who helps him through countless situations. Yet, even though the reader indirectly traces her path throughout the book, Lydia’s significance is usually overlooked, or she is 30 31 32 33
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Lea/Schoene: Masculinity in Transition, p. 11. Ibid., p. 12. Tremain: The Road Home, p. 178. CriĴu: British Geographies, p. 367.
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simply read as »the moral voice in the novel«.34 To further tease out the gender dimension in The Road Home in support of my argument, I read the insightful depiction of Lev’s travel companion’s migration experience against the backdrop of the central character’s story of ›self-improvement‹. Even though Lev and Lydia originate from the same country, their regional and educational backgrounds as well as their reasons for migrating could not be less alike. While Lev comes from the rural, working-class setting discussed above, Lydia clearly represents an educated, middle-class section of their society, located in urban areas. The class difference is established early on during their journey and figures prominently in all of their interactions, culminating in the catastrophic visit to the Festival Hall.35 Similarly, the two characters’ motivation for and expectations of their work and life in England differ vastly. The male protagonist declares his readiness to do »any work at all« (5) in order to earn enough money to send home to his family. As noted already, his reasons for moving to the UK are of a predominantly economic nature: »He would hold himself apart from other people, find corners and shadows in which to sit and smoke, demonstrate that he didn’t need to belong, that his heart remained in his own country« (2). Clearly, Lev’s aim is not to become part of British society and settle, but to earn money to make a better life in his home country possible. In direct contrast, Lydia’s attitude is notably different. At the age of 39, the former teacher of English travels to London to attend job interviews for positions as a translator. Childless and unattached, her decision to try her luck in the UK results from general discontent with her life in Eastern Europe: I became very tired of the view from my window. Every day, summer and winter, I looked out at the school yard and the high fence and the apartment block beyond, and I began to imagine I would die seeing these things, and I didn’t want this. I expect you understand what I mean? (3)
Feeling that nothing ever changes in her home town Yarbl, Lydia wants to start over; she is »determined to have a life« (97) in a more dynamic environment where she can feel how »life gathered speed« (130). Thus, 34 | Ibid., p. 371. 35 | See for example: Tremain: The Road Home, p. 4f. P. 15. For the disastrous evening in the Festival Hall, see p. 96ff.
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Lydia’s effort to start afresh can be regarded as an attempt to claim her share in the privileges citizens of the Western metropolis can access; the female migrant wants to become part of that society and aspires to settle permanently. Firstly, this contrasting juxtaposition clearly complicates the claim that the main character appears to be »the proto-typical Eastern European migrant«.36 Secondly, the differing contexts for migration result in markedly dissimilar points of departure for the male and female migrant. Lydia has a social network which provides her with temporary accommodation in ›the Paradise of Muswell Hill‹ and helps her find her first job as a translator. Moreover, her educational background allows her to move through urban settings, especially those connected to the cultural life of the city, with relative ease. Lev, in contrast, is initially lost in the unfamiliar space of the metropolis, struggling with mundane things such as the barriers in public toilets. In fact, he is depicted as clueless to such a painful degree that he even has to memorise instructions for using a public phone, »like a poem« (53), and finds himself sleeping rough outside a basement flat on the second day already. Countless incidents create the impression that the handsome man with the leather cap does not only come from a different, backward place but somehow, a different time as well. Hence, he is portrayed as strongly dependent on other characters. Lydia functions as a ›mediator‹37 between him and the new surroundings, earning her the title of »his habitual saviour« (220); the protagonist quite literally lets himself be »steered« and »led« (129) by her. Thus, their interactions are cast in a light resembling a pupil-teacher relationship which has its roots in the class difference between them (cf. 92, 128). However, the more Lev adapts to the situation in England and most importantly, the more his sense of self as a man is ›reactivated‹, the less does he rely on and listen to the woman’s advice. In fact, the process of Lev’s transition goes hand in hand with conflicts between the two characters, and their unequal friendship does not survive until his return home. Hence, this ambivalent relationship between the migrants is indicative of the tensions and contradictions in Lev’s struggle to reclaim a functional, successful male identity. Indeed, as pointed out by other critics, Lev’s time in London in many ways resembles an educational journey, evoking associations with the co36 | Lindner: East is East, p. 462. 37 | See also Jaskulski: Friday Reeducated, p.12.
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lonial civilising mission and partly casting the central character in a role similar to literary figures such as Defoe’s Friday or Kipling’s Mowgli.38 Admittedly though, the London Lev encounters is cast in an ambivalent light. As Lindner notes, the novel clearly employs »the figure of the newcomer to critically examine the state of contemporary British society«.39 Numerous incidents draw attention to a broad range of supposed social problems such as people’s obesity, the decadence and ignorance of the modern art scene, society’s neglect of the old and juvenile crime, to name only a few. Nevertheless, the conclusion that »[t]ransculturation only takes place at the level of material wealth […] whereas a specifically British way of life fails to make an impact on him«40 disregards that Lev’s experiences in the metropolis are portrayed as ›civilising‹ the migrant, thereby providing him with educational and cultural, as well as actual, economic capital.41 Above all, the main character’s experiences in the catering trade are portrayed as making a successful return to his home country possible. Though rejected by the attractive Lev, Lydia ›rescues‹ her fellow countryman by finding him his first real job as kitchen porter at the posh restaurant GK Ashe. It is in this professional environment that Tremain’s hero encounters the male role model to provide him with the means to master his life. His employer, the »Gordon Ramsay-style restaurateur«42 GK Ashe, substitutes Rudi as Lev’s mentor, providing an alternative model more suited to the new economic situation to arise in the Eastern Europe of the novel. After all, the catering trade belongs to the service sector, the most rapidly growing economic sector explicitly connected to contemporary capitalist society, replacing manufacturing as the main source of employment in post-industrial societies.43 Lydia’s comments that Lev can
38 | Tomczak reads Lev’s journey as a civilising mission with regard to his adoption of high-class cuisine, while Jaskulski demonstrates the links between the novel’s representation of the migrant and dominant patterns in colonial discourse. 39 | Lindner: East is East, p. 459. 40 | Ibid., p. 466. 41 | For an introduction to the categories of educational, cultural and economic capital, cf. Pierre Bourdieu: Distinction. A Social Critique of the Judgement of Taste. Oxon 1984. 42 | Jaskulski: Friday Reeducated, p. 7. 43 | Cf. for example: McDowell: The Men and the Boys.
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»learn« (222) important things if only he stays with GK stress the crucial role this connection plays for the protagonist’s future success. The head chef and the microcosm of the professional kitchen are represented in an ambivalent light. Under GK’s regime, »everybody in the kitchen has to be nimble […], fast, and tireless« (65); he is even referred to as a »rude«, »arrogant bastard« (161). The kitchen as a workplace is characterised by a strict hierarchy in which Lev starts at the bottom, in the position of kitchen porter usually staffed by a migrant worker who is interchangeable and simply referred to as »Nurse«. Obviously, this nickname marks the migrant’s role as ›feminised‹ within the professional hierarchy. Despite this degrading practice and harsh working conditions, the text depicts Lev as being in awe of his new professional environment, perfectly content with his »kingdom of the dishwash« (156) and obedient towards his »Chef«. Thanks to his docility, the migrant rises in the professional hierarchy and is given the chance to acquire more skills, above all by watching and copying GK at work (e.g. 161). In his postcolonial reading of the text, Jaskulski refers to Lev’s relationship to GK Ashe in terms of a Hegelian master-slave relationship, using Edward Said’s concept of ›British tutelage‹.44 Indeed, their interactions are characterized by a strong imbalance in power and knowledge, and the head chef »performs the master and commander roles in Lev’s process of self-perfection, teaching him culinary art«.45 With regard to the masculinities embodied by the two characters, GK can be read as representing the hegemonic ideal Lev aspires to; this ideal is tightly linked to the sphere of waged labour and entails differences in class and national background, emphasizing Lev’s subordinate position in relation to GK. The art of cooking Lev learns from GK is significant in this respect. The novel creates a clear distinction between the tasteless, grim »Communist food« (275) people consume in Lev’s country and the amazingly tasty »capitalist food« (329) the widower eagerly studies and learns to appreciate in GK’s kitchen in England. As Tomczak observes: »On a symbolic level, food encapsulates the deep chasm between Western and Eastern Europe, […] in the sense of an established culture and tradition versus a non-existent culture, the culture wiped out by communism or never truly
44 | Jaskulski: Friday Reeducated, p. 3ff. 45 | Ibid., p. 8.
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formed.«46 However, the English food Lev so admires is not equivalent to the average English person’s daily meal; rather, it is associated with the high-class restaurant and therefore also connected to a certain social standing within the Western space, signifying a specific classed context. His stay in the metropolis introduces Lev to this culinary world and provides him with the means to rise socially, in the form of cultural capital. Moreover, the main character’s affair with his co-worker Sophie marks an important turning-point in the trajectory of his quest constructed in the novel. Indeed, the sexual relationship is portrayed as making him overcome his grief for his dead wife, end his state of sexual inactivity and therefore, revive him as a man: It was his heart. Its blood beat in his ears. He was a man and he knew that he had decided, on this Sunday in December, to come alive again. He wanted to run now – this moment, without hesitating – to where she lived. […] He was a man and she’d kissed him and now it was time … (130)
As this quote illustrates, starting the affair is directly linked to the protagonist’s self-perception as a man who makes the decision to take action and »come alive again« (ibid.). This stands in great contrast to the passivity and hesitant indecisiveness he is initially associated with. In the course of the novel, the relationship together with his work at GK Ashe is shown to transform Lev from an »old, sorrowful, anxious man« into »a different man« (178). Embedded in the overall, rather sentimental narrative of Lev’s emotional struggle to put the past behind him and improve his life, the relationship is of a predominantly sexual nature. This aspect establishes a strong link between the central character’s masculinity and his reactivated sexuality and therefore suggests that (heterosexual, penetrative) sexual intercourse plays a crucial role for the construction of masculinity. In this context, references to Lev’s perception of the woman’s »otherness« (106), her being completely unlike his dead wife, evoke the impression that Sophie’s Englishness is of relevance.47 Indeed, well-known tropes of exoticism are evoked in these passages. Moreover, the focus on the affair betrays that Lev’s perception of women is cast in the light of the Madonna/whore binary logic, with Sophie falling into the latter catego46 | Tomczak: Trying to Cross Frontiers, p. 458. 47 | Cf. Lindner: East is East, p. 465.
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ry: »in their scented nights she was as shameless as the whores of Baryn whom Lev and Rudi used to visit long ago« (166). Between the lines, the narrative creates the impression that Lev is a slave to his hormones, driven by his mere maleness. The widower appears to be under Sophie’s spell and has very limited control over his actions because her »scent alone could drive him wild« (150), not to mention the effect »the choke in her voice« (239) has on him. Several incidents are narrated in which he can hardly control his sexual desire and »felt almost violent towards her, capable of pushing her against a wall and fucking her right there in the street, like the desperate adolescent Rudi imagined him to be« (175). This culminates in the shocking and violent rape of Sophie, which simultaneously evokes a link between class-related envy and violence, complicating the claim that Lev is »a good man« (137, 272), something repeatedly stated in the novel.48 However, in the context of the text’s sentimental depiction of the central character’s struggles, this layer of meaning is curiously muted, and the violent assault is hardly mentioned again. In fact, the end of the relationship and his self-inflicted exile in Suffolk mainly serve as a dramatic turn within the narrative, temporarily placing the protagonist »back with the dispossessed« (245) and triggering a moment of crisis and self-doubt. The final stage in the main character’s transformation from a passive person into a man of action soon follows. Significantly, this is directly linked to a crucial step in the transition process his Eastern European home country, and his native village in particular, is undergoing. Seemingly unchanging in its isolation at the time of Lev’s departure, modernity finally approaches Auror during his absence. The growing demand for reliable electricity in the region calls for the building of a dam that will bury the village under water. The end of Auror signals the end of the static backwardness embodied by Lev’s dead father, and the moment when the plans to flood the place are communicated to the clueless population marks the absolute turning-point in The Road Home. Moreover, the event is palpably constructed as the point in time when Lev effectively replaces Rudi, the force of nature, as the man in charge. With regard to the protagonist’s best friend and former role model, sealing Auror’s fate constitutes the death-blow in a longer process of decline. The text depicts him as sliding into a crisis which is clearly linked 48 | For a postcolonial interpretation of the rape scene, see Jaskulski: Friday Reeducated.
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to his sense of being a man under the increasingly uncertain economic conditions in Auror: »[...] Rudi mumbled: ›Men are having a tough time in this century. We just don’t seem to know where we fucking are‹.« (245) In fact, during Lev’s absence, Rudi gradually loses confidence and slowly turns from »a fixer« (263) into a person who requires Lev’s assistance, most of all financially. This development is mirrored by the state of his car. In need of mending from the day of purchase, the ›Tchevi‹ gradually falls into disrepair and only Lev’s financial support can slow that process. Finally, the plans for building the dam transform Rudi as well as his ›Tchevi‹ into a desolate wreck (258ff.). Accordingly, Lev has to take responsibility for his own, his friends’ and family’s fate: »This was what he had to fight: […] the idea of final catastrophe. Because no one back in Auror was fighting any more – not even Rudi. The flame of the fight had to be kept alive by him and him alone.« (260) As foreshadowed by Lydia’s interpretation of Hamlet, it is precisely Lev’s absence from his country that is constructed as qualifying him to lead the ones left behind into a ›brighter future‹ and hence, to ›make things right‹ in the place he left behind. The new situation at home requires »information, money and will« (266) but the inhabitants of Auror remain »at the mercy of a bureaucracy in which lying was still the chosen mode of communication« (174). Inspired by his reading of Shakespeare’s play, Lev uses an amalgam of old and new resources to forge a weapon with which to fight his personal sea of troubles (261), the water that is going to flood his village. Indeed, his »Great Idea« (266) to open a restaurant in Baryn is represented as partly resulting from his unusually lively imagination that was the cause for discontent before, Lydia provides the information about the economic change that will be brought about by the dam and transform Baryn into »quite a prosperous place« (265), and after his return to London Lev relies heavily on GK’s advice that provides him with a blueprint for his vague business idea (279f.). Ultimately, Tremain’s novel rewards its protagonist for knowing his place in the social hierarchy in the UK. Thanks to his complicity, the man who used to work in a lumber yard experiences a miraculous career from waiter to head chef in a retirement home and can return to his native country as the »man of the world« (25) he wanted to become, with more than ten thousand British Pounds of capital which allow him to start his own business and climb the social ladder with relative ease. This success is directly linked to Lev’s adoption of GK Ashe’s attitude. As Jaskulski
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notes, copying his former employer is »covertly judged beneficial for Lev, it seems, as he returns home and – by mimicking GK Ashe’s enterprise – achieves success and ›teaches‹ his family and good friends the good practices of capitalist business«.49 Lev’s imitation of the Englishman is interpreted in terms of mimicry practices, evoking the link to colonial discourses.50 Likewise, Tomczak’s critical reading of the novel as an Orientalist representation of Eastern Europe suggests the interpretation that Lev’s acquisition of cultural capital and the opening of his own restaurant resemble a successful civilising mission to be continued in his home country.51 Both interpretations are convincing with regard to the business idea and the economic system underlying it; however, I argue that precisely because of that, Lev’s masculinity is also portrayed as ›civilised‹. While the reader witnesses a very self-evident and rather fairy-tale like improvement of the protagonist’s situation from leaflet delivery boy to restaurateur, a modest version of the ›rags-to-riches‹ archetype, his female travel companion’s trajectory takes the opposite direction: from »beautiful luck […] to darkness« (131). Initially, her job as a translator for the conductor Pyotor Greszler makes Lydia feel that »Fortune has smiled on [her]« (57) but soon, the former teacher has to stoop to working au pair for »a rich family in Highgate« (127), taking care of her employers’ household and watching their disrespectful children. The kinds of work available to the educated Lydia clearly allude to gender-specific divisions on the labour market and comprise a certain amount of care work; even when working for Greszler, her responsibilities include the mixed blessing of having to make sure her seventy-year old, rather petulant employer does not suffer from constipation when he enters the stage. As au pair, the former teacher shares the same occupation as »many young women from [their] country« (130).52 Lydia is clearly affected by downward social mobility, while the less qualified Lev does not suffer from job-related status loss in Britain; 49 | Jaskulski: Friday Reeducated, p. 9. 50 | Ibid., p. 7. 51 | Tomczak: Trying to Cross Frontiers, p. 458. 52 | It can be argued that this work is not only largely done by women but that some women’s increased access to the labour market creates a care work gap which is filled by other female workers from less privileged social groups or regions, thereby creating a complex dynamic of gendered and classed hierarchies and inequalities. See for example Helma Lutz: Gender Mobil? Geschlecht
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Crişu even argues that »Lev is able to go beyond unsurpassable obstacles and climb the professional and social ladder.«53 Read in this manner, the novel’s representation of the two migrants’ career paths seems to suggest that labour migration from the fictional Eastern European country to the UK can be a rewarding endeavour for unqualified, (male) workers who are willing to take on any kind of work and inevitably opt for the eponymous ›road home‹, to climb their own country’s social ladder.54 Hidden beneath the romanticising cover the narrative creates, The Road Home paints a bleak picture of the female migrant’s prospects which reverse the main protagonist’s »quest from a state of marginality and dependence to self-assertion and independence«.55 The novel’s solution to Lydia’s dilemma has her leave England and accompany her »dear Maestro« Greszler »wherever he goes« (185) as his ›assistant‹/mistress. Even though the narrative evokes familiar patterns of conventional romance stories, this development is suggestive of defeat rather than success. Lydia’s remark that she »shall have a little dignity. Not too much, so that it goes to [her] head« (222), certainly leaves a bitter aftertaste and underscores that she is made to enter a state of dependency and compromise, even if it entails living in expensive hotels and being bought designer blouses and exquisite meals. The »mole-flecked woman« (2) quintessentially »los[es] all [her] pride« and ends up »a kept woman« (186): mobile but not free. While Lev can overcome his crisis, reaffirm his masculinity and become an independent entrepreneur, Lydia depends on a male figure for securing a more acceptable, but compromised livelihood. With reference to one of Connell’s concepts, Lev’s success can be interpreted as ›cashing
und Migration in transnationalen Räumen. In: Helma Lutz (ed.): Gender Mobil? Geschlecht und Migration in transnationalen Räumen. Münster 2009, p. 8-27. 53 | CriĴu: British Geographies, p. 371. 54 | This interpretation is further supported by the stories of two minor characters who also leave the unknown Eastern European country for the UK. Like the protagonist, seventeen-year old Vitas comes from a small village and does not »want a future in England« (161) but rather sees his time abroad as a means to obtain the funds needed to improve his life and social status in his home country (251). By contrast, Lydia’s friend Larissa migrated to the UK after having fallen in love with Tom, a wealthy English psychotherapist. 55 | CriĴu: British Geographies, p. 365.
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in‹ the ›patriarchal dividend‹56 men benefit from, something impossible to achieve for Lydia. However, the question remains whether the new and improved Lev really is a better man. As Jaskulski notes, Lev subordinates his family and friends to his plans and mimics the lifestyle exemplified by GK Ashe.57 Indeed, the decision to keep his »Great Idea« secret from his family and friends until his return reveals that the new Lev, like GK Ashe, »run[s] a tight ship« (75) with one captain only. Keeping the secret is linked to a new sense of being in control that »[gives] him a feeling of power« (266) – power he does not want to share anymore. I would argue that these details reveal a patronising, strikingly patriarchal side to his newly acquired sense of self. In fact, his time abroad severely changes the protagonist’s attitude towards his own country and its people. The social climber comes to think of his former work at the lumber yard as »inhuman […], as though it had been a form of unspoken punishment all along – punishment for the simple crime of being alive in a complicated age« (344). The newly enlightened Lev re-evaluates the fate of his native village, arriving at the conclusion »that it didn’t matter, that Auror was a place so lonely, so abandoned by time, it was right to drown it, right to force its inhabitants to leave behind their dirt roads, their spirit rags, and join the twenty-first-century world« (ibid.). Above all, this change in attitude is mirrored in Lev’s relationship to Rudi. While the other man initially serves as Lev’s guide to ›manly‹ behaviour, Rudi in the end depends on Lev and becomes his employee, dressed in a »new suit […] for his coming role as the face-of-the-place« (355) that Lev buys him. As a result, the novel clearly creates a hierarchy between the different versions of masculinity embodied by Lev’s father, Rudi and GK Ashe. Firstly, they denote different stages on the path from communist backwardness to capitalist participation in the »twenty-first century world« (344). Secondly, these masculinities signify three different positions within the respective social order – from working class labourer to casual jobber to successful entrepreneur and employer. In the end, the 56 | The patriarchal dividend is defined as resulting from »unequal wages, unequal labor force participation, and a highly unequal structure of ownership, as well as cultural and sexual privileging« (see Raewyn Connell, Masculinities and Globalization, In: Men and Masculinities, 1,1, 1998, p. 3-23. P. 11f.). 57 | Jaskulski: Friday Reeducated, p. 9.
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hero is reinstated as the man in charge who reigns over his new kingdom, the restaurant kitchen: In Lev’s kitchen – his adored domain – the gas flames burned an obedient blue, leaped to yellow on sudden, triumphant command, the salamanders glowed and shimmered to violent vulcan red. And the sight of all this rainbow heat could often wake in Lev a feeling of joy as absolute as anything he’d ever felt. Because he’d mastered it. At long last in his life, these roaring, unquantifiable wonders had become obedient to his will (361, my emphasis).
Lev can overcome his crisis and is depicted as finally and quite literally mastering his life. In sum, The Road Home creates a very obvious ›progress narrative‹ – the capitalist masculinity embodied by GK is the one that allows Lev to return home a success and turns him into a man in charge in the »expanding arena of new capitalism« (280) his home country is transforming into thanks to its newly acquired membership in the European Union. By focussing on the connection between labour migration and gender configurations underlying the narrative, this reading combines the analytical categories of gender and space to explore the relational character of the main protagonist’s masculinity, its changing nature and embeddedness in the economic realities of the social spaces in the fictional world. Thus, it uncovers a layer of meaning implicitly present in The Road Home, but hardly made visible in earlier interpretations.
Männlichkeit und Gewaltabstinenz Dynamiken im adoleszenten (Ver)Handlungsraum Mart Busche
Die Jugendlichen sind immer Empörer, und sie verführen auch andere zum Umsturz von Ordnung und Disziplin.1
In der medialen Berichterstattung um jugendliche Gewalt stehen in der Regel dramatisierende Artikel und Bilder zu körperlichen Gewaltexzessen im Fokus. Hierbei ist häufig von Gewalt im öffentlichen Raum die Rede,2 psychische und emotionale Gewalt im gesellschaftlich als ›privat‹ angesehenen Raum werden nur dann in Schlagzeilen verarbeitet, wenn ihre Alltäglichkeit und Unsichtbarkeit durch Ereignisse auf skandalträchtigem Niveau durchkreuzt werden (etwa bei Cybermobbing mit Todesfolge). Es entsteht leicht der Eindruck, jugendliche Gewalt nähme ständig zu und ein Großteil der zumeist männlichen Jugendlichen prügele sich gerne, setze Mitschüler_innen psychisch unter Druck und mache auch nicht halt davor, Erwachsene (zum Beispiel Lehrkräfte) zu schikanieren. Dabei gerät schnell aus dem Blick, dass sich die Mehrheit aller Jugendlichen überwiegend gewaltfrei verhält. Dies lässt sich sowohl aus der polizeili1 | Lilian Rotter: Sex-Appeal und männliche Ohnmacht. Freiburg 1989, S. 89. 2 | Als jüngstes Beispiel kann die Berichterstattung zu Gewalt in U- und S-Bahnhöfen herangezogen werden, aber auch die Ausgabe des Spiegels zum Thema »Mordswut« – Die unheimliche Eskalation der Jugendgewalt (Nr. 18/2.05.2011) oder die ARD-Reportage »Kiffen, Klauen, Zustechen« (Regie: Sebastian Bellwinkel 2013), die auch exemplarisch für zu problematisierende ethnisierende und milieubezogene Zuschreibungen steht, die oft in Berichterstattungen zu Jugendgewalt zu finden sind.
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chen Kriminalstatistik, die vor allem die gut messbaren Gewaltdelikte wie Körperverletzung betrachtet, wie auch aus anderen Erhebungen – etwa aus dem Dunkelfeld – entnehmen.3 Während sich bei der Beschäftigung mit Gewalt zumeist die Frage nach den Gründen in den Vordergrund drängt, wird selten untersucht, wie(so) Jugendliche gewaltfrei sind oder bleiben. Deshalb wird im Folgenden das Phänomen der Gewaltabstinenz betrachtet. ›Gewaltabstinenz‹ bedeutet, dass es zu einer dauerhaften Ablehnung des ›Angebots‹ kommt, Gewalt anzuwenden. Dieses Angebot gründet auf der Annahme, dass es sich bei Gewalt um eine soziale Struktur handelt, die zumindest latent immer vorhanden ist. Jede Person muss sich zu dieser Struktur ins Verhältnis setzen und einen Umgang mit der eigenen Verletzungsoffenheit sowie mit der Verletzungsmacht4 als Modi der menschlichen Vergesellschaftung finden. Von daher ist interpersonaler Gewaltgebrauch beziehungsweise Gewaltabstinenz keine personale Eigenschaft, sondern ein soziales Vermögen, dessen Einsatz von vielen inneren und äußeren Faktoren abhängt. Im Folgenden wird die Konstruktion von Gewaltabstinenz im Zusammenhang mit Geschlecht und jugendlichen Lebensräumen anhand einer Fallstudie beleuchtet. Mithilfe der dokumentarischen Methode5 untersuche 3 | Vgl. Robert Schlack/Heike Hölling: Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen im subjektiven Selbstbericht – Erste Ergebnisse aus dem Kinder und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Berlin 2007, http://edoc.rki.de/oa/articles/ reuPv4KL2czE/PDF/25G5WVP6gV7AU.pdf (Stand: 14.06.2012); Dirk Baier et al.: Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Erster Forschungsbericht. Hannover, www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Veroeffentli chungen/Studie_lf.pdf?__blob=publicationFile, 2009 (Stand: 16.6.2012); Bundesministerium des Innern: Polizeiliche Kriminalstatistik 2010. Berlin 2010, www. bka.de/nn_196810/sid_ A016D488D802FCC3174EDE02C1F11BFE/Shared Docs/Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/ImkKurzbe richte/pks2010ImkKurzbericht.html?__nnn=true (Stand: 13.06.2012); Gerhard Spiess: Jugendkriminalität in Deutschland – zwischen Fakten und Dramatisierung. Kriminalstatistische und kriminologische Befunde. Konstanz 2012, www.uni-kons tanz.de/rtf/gs/G.Spiess-Jugendkriminalitaet-2012.pdf (Stand 13.6.2012). 4 | Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik. Tübingen 1986. 5 | Die dokumentarische Methode hat zum Ziel, unterschiedliche kollektive Orientierungsmuster innerhalb einer Personengruppe mit ähnlichen Erfahrungs-
Männlichkeit und Gewaltabstinenz
ich leitfadengestützte Interviews mit Jugendlichen, die über unterschiedliche Erlebnisse im Zusammenhang mit Gewalt berichten.6 Dabei arbeite ich anhand von Kontrastierungen unterschiedliche kollektive Orientierungsmuster in einer Typologie heraus. Die interviewten Jugendlichen können oft mehreren Orientierungsmustern zugeordnet werden, der hier porträtierte 15-jährige, in einer deutschen Großstadt lebende Lukas weist jedoch größtenteils eine soziale Orientierung und habituelle Praktiken auf, die sich an Egalität orientieren.7 Die Analyse soll zeigen, mit welcher Bedeutung das gewaltabstinente Verhalten vor dem Hintergrund vergeschlechtlichter und verräumlichter Identitätskonstruktionen versehen wird. Gewalt wird in meiner Forschungsarbeit in einem weiten Sinne verstanden. Berücksichtigt werden sowohl interpersonale physische und psychische Gewalt als auch strukturelle Gewalt wie deprivierende Lebensumstände und epistemische Gewalt im Sinne abwertender gesellschaftlicher Wissenspraxen. Ob eine individuelle oder gesellschaftlich opportune Handlung als Gewalt zu verstehen ist, lässt sich jeweils nur durch den Kontext bestimmen. In der dargestellten Fallstudie ist die Art der Benennung durch den Jugendlichen ausschlaggebend. Dabei spielt Gewalt in zweierlei Hinsicht eine Rolle: Ihre Sinngebung entsteht entweder in der konkreten Situation und/oder aus der biografischen Entwicklung heraus.8 räumen (»Millieu«) zu rekonstruieren (vgl. Arnd-Michael Nohl: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden 2009; Ralf Bohnsack/Iris Nentwig-Gesemann/Arnd-Michael Nohl: Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. In: Dies. (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Wiesbaden 2007, S. 9-28). 6 | Das Datenmaterial stammt aus dem Europäischen Daphne-Projekt ›STAMINA – Formation of non-violent behaviour in school and leisure time among youths from violent families‹ (2009-2011, www.stamina-project.eu). Ich nehme derzeit eine Re-Analyse der 30 leitfadengestützten Interviews mit Jugendlichen zwischen vierzehn und sechzehn Jahren vor. Im Folgenden werden oben im Text Interviewpassagen wiedergegeben, bei denen sich in eckigen Klammern ein Verweis auf die Zeilennummern anschließt. Die Originalinterviews sind bei Mart Busche einzusehen. 7 | Andere Jugendliche weisen eher hierarchiebezogene oder effektivitätsbezogene Orientierungen auf. 8 | James Garbarino: Lost Boys. New York 1999, S. 166.
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Im hier präsentierten Fall ›Lukas‹ finden sich beide Momente wieder: Lukas hat in seiner Kindheit väterliche Gewalt gegen sich und die Mutter erlebt; zudem ist er in aktuellen Situationen mit der Möglichkeit selber Gewalt anzuwenden oder zu erleiden konfrontiert. Unter Bezugnahme auf gängige theoretische Erklärungsmuster (Gewalt als Bewerkstelligung, Bewältigung oder Inszenierung von Männlichkeit9) soll hier für den Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt überlegt werden, inwieweit Gewaltabstinenz und Männlichkeitsherstellung im Verhältnis stehen. Damit wird die oft angenommene und generalisierende enge Klammer von Männlichkeit und Gewaltorientierung in der Adoleszenz kritisch hinterfragt und für eine Jugend- und Männlichkeitsforschung plädiert, die männliche Jugendliche nicht in erster Linie als gefährlich und/oder gefährdet konstruiert, sondern subjektbezogene Kontextualisierungen vornimmt. Anhand der Selbstaussagen von Lukas werden exemplarisch individuelle Bewältigungsstrukturen der konkret widerfahrenen Beschädigungen in einem egalitären Orientierungsrahmen nachgezeichnet und gesellschaftliche Ressourcen, Begrenzungen und Behinderungen aufgezeigt.10
D ER ADOLESZENTE M ÖGLICHKEITSR AUM Die Adoleszenz ist als sozial konstruierter Handlungsraum zu verstehen, in dem kulturelle Werte und Praktiken von einer Generation an die nächste weitergegeben werden und in dem Neues entstehen kann.11 Da Adoles9 | Vgl. James W. Messerschmidt: Masculinities and Crime. Critique and Reconceptualization of Theory. Boston 1993; Hans-Volkmar Findeisen/Joachim Kersten: Der Kick um die Ehre. Vom Sinn jugendlicher Gewalt. München 1999; Michael Meuser: Strukturübungen. Peergroups, Risikohandeln und die Aneignung des männlichen Geschlechtshabitus. In: Vera King/Karin Flaake (Hg.): Männliche Adoleszenz. Sozialisation und Bildungsprozesse zwischen Kindheit und Erwachsensein. Frankfurt a.M. 2005, S. 309-323. 10 | Vgl. Roland Anhorn: Jugend – Abweichung – Drogen: Zur Konstruktion eines gesellschaftlichen Problems. In: Frank Bettinger/Cornelia Mansfeld/Mechthild M. Jansen (Hg.): Gefährdete Jugendliche? Jugend, Kriminalität und der Ruf nach Strafe. Opladen 2002, S. 47-74. 11 | Vgl. Vera King: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Opladen 2002, S. 60.
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zenz durch gesellschaftliche Normen, Interessen und Ressourcen strukturiert ist, haben nicht alle Personen in diesem Raum, insbesondere nicht die Adoleszent_innen selbst, die gleichen Nutzungsvoraussetzungen. Komplementär erweist sich daher die Generativität oder generative Haltung und Fähigkeit der Erwachsenengesellschaft darin, dass, ob und in welcher Weise, für welche Gruppen und in welchen Formen sie adoleszente oder jugendkulturelle Räume zur Verfügung stellt – oder aber, in welchem Maße sie direkt oder indirekt den jugendkulturellen adoleszenten Raum selbst zu definieren, zu besetzen und damit einzuengen sucht. Auch in Bezug auf die Potentiale adoleszenter Individuation im adoleszenten jugendkulturellen Raum gilt, dass sie strukturell mit der Generativität verknüpft sind und in Abhängigkeit von den generativen Ressourcen der Gesamtgesellschaft unterschiedlich günstige Voraussetzungen haben.12
Die Forschungsliteratur zu Adoleszenz und Jugend handelt von sozialen, körperlichen sowie psychischen Entwicklungsphasen und von Zusammenhängen zwischen Benachteiligung und Bewältigung von Entwicklungsaufgaben.13 Die Lebenslage der Familie und auftretende Beziehungsunsicherheiten werden als zwei Faktoren genannt, die mit der Ausprägung von Scham, Minderwertigkeitsgefühlen und dem Unvermögen, auf die Anforderungen der Umwelt in zufriedenstellender Weise reagieren zu können, in Verbindung gebracht werden.14 Je eingeschränkter die Lebensräume der Jugendlichen und ihre materiellen Chancen sind, desto weniger haben sie die Möglichkeit sich selber zu entwerfen, auszuprobieren und eine Ich-Stabilität zu entwickeln. Zu diesen Einschränkungen muss auch der eher auf einer symbolischen Ebene liegende ›Abweichungsverdacht‹15 gezählt werden, unter den Jugendliche in Abgrenzung zu schützenswerten Kindern potenziell gesellschaftlich gestellt werden.
12 | Ebd., S. 243. 13 | Vgl. Klaus Hurrelmann/Gudrun Quenzel: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim/München 2012, S. 249. 14 | Ebd., S. 249. 15 | Roland Anhorn: Von der Gefährlichkeit zum Risiko – Zur Genealogie der Lebensphase »Jugend« als soziales Problem. In: Bernd Dollinger/Henning SchmidtSemisch (Hg.): Handbuch Jugendkriminalität, S. 24.
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Der Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Roland Anhorn geht davon aus, dass dies einem gesellschaftlichen Zweck folge: Die Problematisierung der Jugend stellt […] ein wesentliches Medium und (Funktions-)Element in der Herstellung, Legitimation und fortwährenden Selbstvergewisserung von gesellschaftlichen Verhältnissen dar, für die soziale Ungleichheiten und Ausschließungen, Ausbeutung und Diskriminierung konstitutiv sind.16
Es handelt sich dabei um ein spannungsreiches Verhältnis zwischen Generationen, welches eine Konstruktion von ›kommender Generation‹ und ›gehender Generation‹ aufrechterhält, indem die ›gehende‹ Generation die ›Kommenden‹ stets in ihre Schranken weisen will und die kommende Generation diese Schranken immer wieder übertritt oder gar niederreißt. Die adoleszenten Subjekte müssen dabei lernen, dass bestimmte Handlungsweisen tabuisiert und sanktioniert und in dafür vorgesehene Räume verwiesen werden. Beispielsweise findet das Schlafen im elterlichen Bett spätestens in der Jugend sein Ende, Liebesobjekte müssen außerhalb der Familie gefunden werden. Für bestimmte Handlungsweisen steht kein Raum oder stehen nur ›tabuisierte‹ Räume zur Verfügung (beispielsweise zum Konsum von Rauschmitteln). Vera King beschreibt dieses Spannungsfeld zwischen den Generationen anhand des Konzepts des adoleszenten Möglichkeitsraums: Die Adoleszent_innen müssen in einem strukturlogisch kreativen Prozess um Individuierung und Generativität ringen und sind dabei durch die gesellschaftlich dafür zur Verfügung stehenden beziehungsweise gestellten Bedingungen begrenzt.17 Das heißt, dass die psycho-sozialen Aushandlungsprozesse durch gesellschaftliche Institutionen wie Schule oder Familie gerahmt werden.18 Im Übergang zum Erwachsensein werden verschiedene Entwürfe von Geschlecht ausprobiert, verworfen und angeeignet. Dabei sind die Adoleszent_innen aufgefordert, sich zu den gesellschaftlich vorgegebenen Bedingungen kultureller Zweigeschlecht16 | Ebd., S. 23. 17 | Vgl. King: Die Entstehung des Neuen, S. 61 18 | Hier ist anzumerken, dass sich King maßgeblich auf die heterosexuelle Kleinfamilie bezieht. Dies ist vor dem Hintergrund sich ausdifferenzierender Familienmodelle und der Reflexion von heteronormativen Zuschreibungen dringend ergänzungsbedürftig.
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lichkeit und zu heteronormativen Strukturen ins Verhältnis zu setzen. Dies geschieht im Kontext milieu-, herkunfts- und körperbezogener Prägungen und läuft weder widerspruchsfrei ab noch ist eine kohärente und stabile (Geschlechts-)Identität zwangsläufig das Ergebnis.19 Wie dies im Spannungsfeld zwischen Protest und Anpassung beziehungsweise Aneignung geschieht, können nur Beobachtungen im entsprechenden Feld zeigen, die die Sichtweisen der Jugendlichen miteinbeziehen und ihre eigene Bedeutungsgebung berücksichtigen.
G E WALT UND G ESCHLECHT In Bezug auf den hier vorgestellten Jugendlichen und die Frage nach der Klammer von Gewaltabstinenz und Geschlecht sollen zunächst einige theoretische Überlegungen dargestellt und kritisch reflektiert werden. Jungen werden vor allem körperliche, öffentlichkeitswirksame Gewalthandlungen gesellschaftlich eher zugestanden als Mädchen,20 das heißt, dass die Anwendungsweisen von Gewalt oder auch ihr Nichtgebrauch in der Bewertung davon abhängig sind, welches Geschlecht was tut: Wenn zum Beispiel ein Junge gewaltlose Konfliktbearbeitungen wie etwa das Miteinanderreden wählt, kann das von anderen Jugendlichen als »unmännlich« oder »schwul« bewertet werden; wenn hingegen ein Mädchen so handelt, bestätigt es damit die als ihrem Geschlecht angemessen empfundenen Verhaltensweisen. Traditionell fokussiert sich die Forschung auf Begründungsmuster für Gewaltanwendung, nicht für Ablehnung von Gewalt. Die Begründungsmuster für Gewalthandeln sind bei Jungen und 19 | Vgl. Mechthild Bereswill: Expertise Adoleszenz, Devianz und Geschlecht. Sozialwissenschaftliche Befunde und präventionspolitische Perspektiven, für die Enquetekommission »Prävention« des Landtags Nordrhein-Westfalen, 2009. www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_I/I.1/EK/EKALT/14_EK_III/Expertisen/ Bereswill_Expertise.pdf (Stand 06.06.2013), S. 10. Die Adoleszenzprozesse von intergeschlechtlichen und Trans*Personen können aufgrund der eklatanten Forschungslücken in diesem Feld hier nicht aufgeführt werden. 20 | Dies mag vor allem daran liegen, dass Mädchen sichtbare interpersonale Gewaltanwendung grundsätzlich nicht zugestanden wird, andere Formen als körperliche Gewalt vor allem in privatisierten Bereichen zu finden und psychische wie auch strukturelle Gewalt schwerer zu messen sind.
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Mädchen zum größten Teil ähnlich: Es geht um Durchsetzungsstärke, Respekt, Konkurrenz, Autonomie und das Abwehren von Opferpositionen.21 Wie bei den Jungen steht auch bei den gewaltgebrauchenden Mädchen aus ihrer Sicht das Handeln nicht per se im Widerspruch zu ihren Konzepten von Geschlecht, sondern wird – mitunter ambivalent – in ihre Weiblichkeitskonstruktionen integriert.22 In der Geschlechterforschung und -theorie werden der enge Zusammenhang von homosozialen männlichen Räumen und Gewalt und die Bedeutung dieses Zusammenhangs für die Aneignung und Anerkennung von Männlichkeit verschiedentlich betont.23 »Männlichkeit ist nicht einfach Attribut, dass zu einer Identität hinzugefügt wird, sondern eine alltägliche Erfahrung im sozialen Raum.«24 Das heißt beispielsweise, dass Jungen auf andere Jungen Druck ausüben, (verbale) Abwertungspraktiken in Bezug auf Mädchen und Schwule zu vollziehen, um die Zugehörigkeit zur Gruppe herzustellen und zu bekräftigen. Verbale oder psychische Gewalt werden von Erwachsenen selten als Gewalt ernst genommen, deshalb kann das Übergehen solcher Akte als indirekte Unterstützungshandlung wirken. Dies kann zur Folge haben, dass einerseits die agierenden Jungen die Möglichkeit, Gewalthandlungen als legitime Praxen in ihr Handlungsrepertoire aufzunehmen, verstärkt in Betracht ziehen und andererseits bei den Betroffenen die Akzeptanz solch alltägli21 | Vgl. Hans-Volkmar Findeisen/Joachim Kersten: Der Kick um die Ehre, München, S. 36f.; Kirsten Bruhns/Svendy Wittmann: »Ich meine, mit Gewalt kannst du dir Respekt verschaffen.« Mädchen und junge Frauen in gewaltbereiten Jugendgruppen. Opladen 2002, S. 258f.; Mirja Silkenbeumer: Biografische Selbstentwürfe und Weiblichkeitskonzepte aggressiver Mädchen und junger Frauen. Münster 2007, S. 321. 22 | Vgl. Bruhns/Wittman: Mädchen und junge Frauen, S. 186. 23 | Vgl. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. In: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt a.M. 1997, S. 153-217; Michael Meuser: Strukturübungen. Peergroups, Risikohandeln und die Aneignung des männlichen Geschlechtshabitus. In: King/Flaake (Hg.): Männliche Adoleszenz., S. 309-323. 24 | Ingo Bieringer/Edgar Forster: »echtCOOL« – Mit Schülerinnen und Schülern über Männer, Frauen und Gewalt arbeiten. In: Ingo Bieringer/Walter Buchacher/ Edgar Forster (Hg.): Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit. Opladen 2000, S. 16.
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cher Abwertungen als Normalität wächst.25 Michael Meuser26 untersucht unter Rückgriff auf Bourdieu und Connell Praktiken der adoleszenten Männlichkeitsherstellung. Dabei sind diese Felder besonders bedeutsam: Durch Risikoverhalten und die Kommunikation darüber wird die gegenseitige Anerkennung von Männlichkeit hergestellt, im Mit- und Gegeneinanderkämpfen wird die Gleichzeitigkeit von Konkurrenz und Solidarität entwickelt.27 Beides findet unter weitgehendem Ausschluss von Frauen und Weiblichkeit in der homosozialen Gruppe statt. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Strukturprinzipien immer in Reinform anzutreffen sind – weder bei Erwachsenen noch bei Adoleszent_innen –, dennoch ist anzunehmen, dass die männlichen Adoleszenten sich bei der Aneignung eines potenziell männlichen Habitus mit ihnen auseinandersetzen müssen.28 In Bezug auf Gewaltanwendung können hier tabuisierte Gefühle wie Ohnmacht, Trauer und Schmerz oder auch Angst mit Aggressionen abgewendet werden. Damit geht das Antrainieren einer gewissen Körperhärte einher.29 Wenn Gewalt vor allem eine Möglichkeit darstellt, Männlichkeit zu inszenieren30 beziehungsweise ›zu tun‹, und in den ›ernsten Spielen des Wettbewerbs‹ dieser männliche Habitus trainiert und vollendet wird,31 dann ist es fraglich, ob ein ›not doing violence‹ gleichzusetzen ist mit einem ›not doing masculinity‹. Wenn dies so ist, dann stellt sich die Frage, ob Jugendliche auf Männlichkeitskonstruktionen und -beweise verzichten können oder ob sie alternative Handlungsvarianten finden (müs25 | Vgl. Astrid Jacob: Gewalt beginnt dort, wo Grenzen überschritten werden – Auf die Diskriminierung von Mädchen aufmerksam machen. In: Bieringer/Buchacher/Forster (Hg.): Männlichkeit und Gewalt, S. 178. 26 | Vgl. Meuser: Strukturübungen, S. 313ff. 27 | Vgl. ebd., S. 316f. 28 | Für die Adoleszentinnen ist anzunehmen, dass auch sie sich vermehrt mit Facetten vormals männlicher Sozialisation auseinandersetzen müssen, zumindest lassen Anforderungen an modernisierte Weiblichkeiten in der postindustriellen Gesellschaft (z.B. Durchsetzungsvermögen oder sexuelle Autonomie) darauf schließen. 29 | Vgl. Michael Schenk: Jugendgewalt ist männlich. In: Deutsche Jugend, 4, 1993, S. 165-172. 30 | Vgl. Messerschmidt: Masculinities and Crime. 31 | Vgl. Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 203.
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sen), um Männlichkeit ›zu tun‹. Möglicherweise muss das Verhältnis von Gewaltabstinenz und Geschlecht aber auch eher entkoppelt werden und kann nur unter Bezugnahme auf weitere soziale Kategorien näher bestimmt werden. Mit der hier betrachteten Geschichte von ›Lukas‹ wird ein Fall analysiert, in dem Männlichkeit, ›Gewaltwiderfahrnisse‹32 durch den Vater in der Kindheit und eine starke Orientierung auf Gewaltfreiheit in der Adoleszenz bearbeitet werden, in der also auch der biografische Kontext im Sinne begrenzender und ermöglichender Lebensräume einbezogen werden kann. Welche Modi der ›inneren Befriedung‹33 werden sichtbar, (wie) sind sie vergeschlechtlicht und welche Rolle spielen darin adoleszenzbedingte Faktoren?
M E THODISCHE H ER ANGEHENSWEISE UND D ATENMATERIAL Bei der Bearbeitung des Interviews habe ich die drei Themenfelder ›Lebensräume‹, ›Geschlechterkonstruktionen‹ und ›Gewalt und Gewaltabstinenz‹ zunächst getrennt analysiert, um dann Verknüpfungen mit den jeweils anderen Themen herauszuarbeiten. Anders als zum Beispiel in quantitativen Erhebungen können so das implizite Wissen über Handlungspraktiken beschrieben und Überschneidungen und Interdependenzen der Themenfelder in den Blick genommen werden. Durch die Kontrastierung mit anderen Interviews, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, ist deutlich geworden, dass Lukas oft einem egalitären Orientierungsrahmen folgt, der eigenes Gewalthandeln kategorisch ausschließt. Mit welchen adoleszenten Räumen und Aushandlungsprozessen dies in seinen Aussagen verknüpft wird, soll im Folgenden eingegangen werden. 32 | ›Wider‹ im Begriff »Gewaltwiderfahrnis« signalisiert, dass es sich bei Gewalterfahrungen nicht um positive Erlebnisse handelt (vgl. Ludger Jungnitz et al. [Hg.]: Gewalt gegen Männer. Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland. Opladen 2007, S. 22). Die Autoren orientieren sich in der semantischen Auswahl an den Ausführungen von Jan-Philipp Reemstma (1998), der bei der Beschreibung seiner Entführung eindrücklich für den Begriff Gewaltwiderfahrnis plädiert (vgl. Jan-Philipp Reemtsma: Im Keller. Hamburg 1998, S. 45f.). 33 | Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1997, S. 327f.
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Dazu ist es von Nutzen, dass zu dem von mir ausgewerteten Datenmaterial auch sogenannte ›egozentrierte Netzwerkkarten‹ gehören,34 die dazu dienen, die wichtigen Lebensbereiche der Interviewten sowie die Beziehungen zu den darin befindlichen Personen zu dokumentieren (Abb. 1). Die Jugendlichen wurden aufgefordert, sich eine vorliegende Grafik, die aus vier konzentrischen Kreisen besteht, als einen Kuchen vorzustellen und darin ›Kuchenstücke‹ einzuzeichnen, die die für sie wichtigen Lebensbereiche symbolisieren. Die Größe der Stücke gibt Aussage über die Wichtigkeit. Daran anschließend sollten die Jugendlichen die Personen einzeichnen, die in diesen Lebensbereichen für sie von Relevanz sind. Dabei wird die eigene Person in der Mitte des Kuchens positioniert und die weiteren Personen je nach Wichtigkeit nah oder fern. Im Anschluss wurden die Jugendlichen aufgefordert, ihre Beziehung zu den jeweiligen Personen mit einem Minus für eine negative Beziehung, einem Plus für eine positive Beziehung und einem Plusminus für eine indifferente Beziehung zu kennzeichnen. Auf diese ausgefüllte Netzwerkkarte konnte in den folgenden Interviews als Visualisierung bereits benannter Personen rekurriert werden. Darüber hinaus stellt die Netzwerkkarte auch ein eigenes empirisches Material dar, das bei der Analyse von Größenverhältnissen der Tortenstücke, von Abständen zwischen den Personen, ihren Attributierungen sowie bei der Reflexion von Auffälligkeiten wie Doppelnennungen und Auslassungen bereits erste Ergebnisse hervorbringt, welche zur Generierung von Fragen und Hypothesen für die weitere Analyse genutzt werden können. Das Material macht deutlich, dass der Lebensraum – symbolisiert durch die Torte – unterteilt ist in weitere Räume wie Schule, Familie und Freizeit. Es zeigt ebenfalls auf, dass diese Räume gefüllt sind mit sozialen Beziehungen (oder Beziehungen zu Dingen, wie die Frage »Kann ich mein Fahrrad hier rein malen?«, zeigt).
34 | Nach Florian Straus: Egonet QF. Ein Manual zur egozentrierten Netzwerkanalyse für die qualitative Forschung, München 1995. Siehe auch Bettina Hollstein/ Jürgen Pfeffer: Netzwerkkarten als Instrument zur Erhebung egozentrierter Netzwerke. München 2009, www.pfeffer.at/egonet/Hollstein %20Pfeffer.pdf (Stand: 06.06.2013).
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Abbildung 1: Netzwerkkarte Lukas
L UK AS Lukas ist ein 15-jähriger, weißer, deutscher Junge, der auf das Gymnasium in einer ostdeutschen Großstadt geht. Er ist Einzelkind und wohnt mit seiner Mutter und ihrem Freund zusammen. Seine Mutter leitet einen Kindergarten, ihr Freund ist Elektriker.
Lukas und seine Lebensräume Anhand der Netzwerkkarte lassen sich die relevanten Lebensbereiche gut erschließen. Sechs Bereiche sind eingezeichnet, der größte Bereich ist leer, dann folgen ›Musik‹, ›Freunde‹, ›Flugzeuge‹, ›Schule‹ und ›Familie‹. Auffällig ist, dass der größte Bereich frei geblieben ist. Auf die Frage, was dieser Bereich sei, antwortet er mit »nichts«. Weiterhin auffällig ist, dass weder sein leiblicher Vater noch der Freund seiner Mutter im Feld ›Familie‹ eingezeichnet sind. Hier ist auch interessant, dass die Großmutter, die nicht im Nahumfeld wohnt, und nicht die Mutter als nächste Bezugsperson eingezeichnet ist. Auch kommt der Großmutter ein positives Attribut zu, während die Mutter ein Plusminus erhält. Die beste Freundin (›Jenny‹) ist dem Namen nach ein Mädchen. Die eingezeichneten Perso-
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nen im Feld ›Freunde‹ finden sich auch im Feld ›Schule‹ an den gleichen Positionen und mit den gleichen Attributierungen wieder. Im Bereich ›Flugzeuge‹ sind keine Personen eingezeichnet.
Familie Es fällt ins Auge, dass Lukas keine männlichen erwachsenen Bezugspersonen in der Familie jenseits seines Großvaters – und den zeichnet er in den äußersten Ring ein – aufgeführt hat, obwohl zumindest mit dem Freund seiner Mutter eine solche vorhanden wäre. Es drängt sich die Frage nach der Begründung auf. Im Interview wird deutlich, dass der Freund seiner Mutter für Lukas offenbar ein notwendiges Übel darstellt, zu dem er keinen näheren Kontakt wünscht. Er wird von Lukas »Quasi-Stiefvater« genannt, andere Bezeichnungen, die mehr Nähe ausdrücken könnten, lehnt er ab. Er will mit ihm nicht Schwimmen gehen oder anderes unternehmen und findet ihn »bäuerlich«. Dennoch habe sich, so Lukas, seine Situation mit dem Einzug seines »Quasi-Stiefvaters« verbessert, da dieser im Vergleich zu seinem leiblichen Vater nicht trinke und auch nicht aggressiv sei, und die Belästigungen durch den letztgenannten, die er und seine Mutter nach dessen Auszug erdulden mussten, aufgehört haben. Deutlich wird, dass es keine ›Vaterfigur‹ in Lukas’ Leben gibt und dies nicht als Mangel thematisiert wird, welches vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Konstruktionen der ›Normalfamilie‹35 bemerkenswert erscheinen mag. In der Forschungsliteratur lassen sich einige Hinweise darauf finden, dass die vorsätzliche Zurückweisung und das Verlassenwerden durch eine Vaterfigur bei Jungen möglicherweise eine tiefe Scham produziert und eventuell auch Ablehnung gegenüber männlichen Vaterfiguren allgemein erzeugt.36 Philomena Strasser37 thematisiert die 35 | Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend definiert die ›Normalfamilie‹ als »2 Eltern mit ihren leiblichen Kindern« (siehe Rudolf Pettinger/ Heribert Rollik: Familienbildung als Angebot der Jugendhilfe. Rechtliche Grundlagen – familiale Problemlagen – Innovationen. O.O. 2005, www.bmfsfj.de/doku/ Publikationen/familienbildung/4-DFOAF/4-2-veraenderungen-der-aeusserenfamilienformen-pluralisierungsthese-,seite=1.html [Stand: 14.01.2014]). 36 | Vgl. James Garbarino: Lost Boys. 37 | Philomena Strasser: »In meinem Bauch zitterte alles.« Traumatisierung von Kindern bei Gewalt gegen die Mutter. In: Barbara Kavemann/Ulrike Kreyssig
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Leerstelle, die die Enttäuschung durch den Vater in der Identität von Jungen hinterlassen kann. Sie lässt sich durch Allmachtsfantasien füllen, um Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit abzuwehren. Bei Lukas wird an keiner Stelle des Interviews eine solche Orientierung deutlich. Vielmehr thematisiert er seine Angst vor dem gewalttätigen Vater deutlich und ohne Scham. Während in anderen Interviews der Wunsch nach Kontakt zu und Anerkennung durch Vaterfiguren implizit und explizit thematisiert wird, ist dies bei Lukas nicht der Fall. Die Männer in seinem Nahumfeld dienen für ihn nicht zur positiven Identifizierung. Die Beziehung zur Mutter wird für den Zeitraum der Kindheit als sehr eng beschrieben: Die Familie besteht aus Lukas und seiner Mutter, die Wörter ›uns‹ und ›wir‹ tauchen auffällig oft in der Erzählung auf. Der Vater, der gegen beide gewalttätig ist, wird klar ausgeschlossen. Es ist für Lukas bedeutsam, dass seine Mutter und er zusammenbleiben, dass »er [der Vater] weggeht von uns und nicht mehr bei uns lebt« [Interview Lukas, Zeile 114]. Er empfindet die folgende Scheidung als »Erlösung« [Ebd.] und merkt an, dass dies im Vergleich zu anderen Kindern eher eine ungewöhnliche Haltung sei. Die Beziehung zur Mutter hat sich dann aber gewandelt, sodass sie heute für Lukas eher eine ambivalente Figur darstellt. Sie kümmert sich um seine schulischen Leistungen, ist aber für andere Themen nicht seine erste Ansprechpartnerin. An dem Begriff ›bäuerlich‹, mit dem er den Freund seiner Mutter belegt, und seiner eigenen Ausrichtung auf Technik und Feinmotorik (Computer, Flugzeuge, Klavier) sowie einer gewissen Bildungs- und Leistungsorientierung wird deutlich, dass er sich zu seinem ›Quasi-Stiefvater‹ in Konkurrenz setzt, diesen abwertet und als Eindringling in seinen Raum wahrnimmt. Allerdings erkennt er dessen Qualitäten hinsichtlich der Beendigung der Belästigungen durch seinen leiblichen Vater an. Seine Mutter, die für dieses ungewollte Zusammenleben in der Dreierkonstellation verantwortlich ist, kann damit keine eindeutige Verbündete mehr für Lukas sein. Lukas als Verbündeter gegen den gewaltsamen Ehemann wird potenziell durch den neuen Freund ersetzt. Die Veränderung dieser Beziehungskonstellationen kann nicht von adoleszenzspezifischen Konflikten getrennt gesehen werden, da Lukas adoleszenztypisch eine Ablösung von den Elternfiguren – in diesem Fall nur der Mutter – und die dazugehörige Trauerarbeit aufgrund des Verlusts der (Hg.): Handbuch Kinder und häusliche Gewalt. Wiesbaden 2007, S. 53-67, hier S. 60.
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Primärbeziehung leisten muss.38 In der Adoleszenz müssen Liebesobjekte außerhalb der Familie gesucht werden und Objektbeziehungen durch Identifizierungen ersetzt werden; seelische Konflikte der Kindheit werden oft noch einmal wiederholt, bevor sie in Umschreibungen des Bekannten oder neue Entwürfe transferiert werden können.39 Indem Lukas eine halbjährige Liebesbeziehung benennt, die heute eher freundschaftlichen Charakter hat, zeigt sich, dass er mit außerfamiliären Liebesobjekten experimentiert und sich hier inmitten eines Aushandlungsprozesses befindet, bei dem sich die familiären Beziehungen, besonders die zur Mutter, verändern.
Außerfamiliäre Räume Als Hobby gibt Lukas an, sich gerne mit Flugzeugen zu beschäftigen und markiert ›Flugzeuge‹ in der Netzwerkkarte als bedeutsamen Lebensbereich. Dieser beinhaltet den Bezug auf zwei Räume: Einerseits benennt Lukas das Simulieren von Flugsituationen am Computer zu Hause. Unter Rückgriff auf Ressourcen (ein Zimmer, technisches Equipment, Wissen, Zeit) hat sich Lukas eine Art ›Refugium‹ geschaffen: einen Ort, an dem er autonom schalten und walten kann und an dem keine Kontakte zu Familienmitgliedern oder Freund_innen vorgesehen sind. Andererseits thematisiert er den Flughafen als Ort, der ihn schon als kleines Kind fasziniert hat, den er heute gerne besucht und den er sich als späteres Arbeitsfeld vorstellen kann. Beim Fliegen eines Flugzeugs ist der Körper mit vielerlei technischem Equipment verbunden. Für die Steuerung eines Flugzeugs ist ein ausgeprägtes Spezialwissen nötig sowie die Eingebundenheit in ein Netzwerk weiterer menschlicher Funktionsträger_innen. Ein Flugzeug zu steuern ist mit dem Bild der Verantwortungsübernahme verknüpft. Der Körper wird inmitten technischer Gerätschaften platziert und geht eine Symbiose mit ihnen ein; weder Körper noch Instrumente können selbstständig die Maschine zum Abheben bringen. Im Gegensatz zu anderen interviewten männlichen Jugendlichen orientiert sich Lukas nicht Richtung körperbezogene und risikofreudige Hobbys oder Sportarten, vielmehr stehen Technikaffinität und Kontrolle wie auch Selbstwirksamkeit im Vordergrund: Der Computer wie auch das Klavier, von dem 38 | Vgl. Rotter: Sex-Appeal und männliche Ohnmacht, S. 187. 39 | Vgl. Ilka Quindeau: Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud. Stuttgart 2008, S. 85f.
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er angibt, es gut spielen zu können, reagieren auf simplen Tastendruck. Dennoch erfordert es technische Fertigkeiten, Übung und Gespür, um beide Instrumente gut zu beherrschen. Auf einer symbolischen Ebene könnte das Flugzeug als ›stählernes Gehäuse‹ betrachtet werden, das einen umgibt und schützt, mit dem man sich entfernen und auf Distanz zur Welt gehen kann; es symbolisiert aber im Zuge einer durchrationalisierten Gesellschaft auch die Aufgabe individueller Freiheit und Wertvorstellungen.40 Der Bereich der ›Flugzeuge‹ steht damit auch für einen Bereich, in dem eine potenziell arbeitsmarktrelevante Aneignung von Fertigkeiten vorgenommen wird. Eine (frühe) Berufsorientierung ist dabei im Sinne von klaren Plänen für die Zukunft als ein Faktor anzusehen, der für orientierungsgebende Stabilität im Leben gewaltbelasteter Jugendlicher sorgen kann.41 Zugleich wird deutlich, dass Lukas selbstwirksam diesen für sein Leben bedeutungsvollen Raum ›Flugzeuge‹ – von einer frühen Faszination für das Fliegen ausgehend – konstruiert hat, in dem er in Platzierungs- und Aushandlungsprozessen sich selbst und verfügbare Güter auf eine bestimmte Weise angeordnet hat, die das Vorhandensein von ökonomischem und kulturellem Kapitel belegen.
Lukas und die Gewalt(abstinenz) Die letzten gewalthaltigen Situationen in Lukas’ Leben sind vor allem im Kontext von Schule und Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen(gruppen) zu finden und damit spezifisch an die Zeit der Adoleszenz und ihre Institutionen gekoppelt. Lukas hat als Kind sowohl die Schläge seines Vaters gegen seine Mutter beobachtet als auch körperliche Gewalt wie Würgen und Schlagen am eigenen Leib erfahren müssen. Dazu berichtet er von unkontrollierbaren Situationen und der eigenen Ohnmacht, wenn er beispielsweise nachts vom Vater aus dem Bett geholt wurde und der Vater Tische umwarf oder Geschirr zertrümmerte [574-577]. Lukas 40 | Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen 1988, S. 17206, hier S. 203f. 41 | Vgl. Mart Busche/Elli Scambor: Part II – Qualitative Analysis. In: Research Report, STAMINA Research Group. Osnabrück 2011, S. 29-78, www.staminaproject.eu/files/STAMINA_Research_Report_final.pdf, S. 49ff. (Stand: 06.06. 2013).
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beschreibt seine damalige Angst, wenn sein Vater »Terror gemacht« [511] hat, und den früheren Wunsch von zu Hause wegzulaufen, ohne dies jedoch ernsthaft verfolgt zu haben. Er gibt an, dass der Vater Alkoholiker gewesen sei und auch keine Arbeit gehabt habe [517]: Damit eröffnet Lukas einen begründenden Zusammenhang. Er sei »mehr oder minder ständig« gewalthaltigen Situationen ausgesetzt gewesen und unterscheidet Phasen von einer Dauer von circa zwei Monaten, in denen es entweder »schlimm« oder »nicht so schlimm« [566/567] gewesen sei. Phasen der Ruhe oder gar des guten Kontakts erwähnt er nicht. Bis zur Scheidung im Alter von elf Jahren lebt Lukas also in einer Situation potenzieller unkontrollierter Gewaltausbrüche. Für ihn folgt daraus aber nicht, die eigene Opferwerdung und die Erfahrung von Hilflosigkeit mit der Möglichkeit der Gewaltanwendung in bedrohlichen Situationen zu beantworten oder zu bearbeiten. Er scheint auf die »Demonstration kein Opfer zu sein«42 verzichten zu können und gibt auch keine Hinweise darauf, wiederholt Opfer von Gewalt zu werden43 oder internalisierte verletzende Praktiken gegen sich selbst anzuwenden. Wie lassen sich nun Lukas’ Gewaltbelastung und seine gewaltablehnende Haltung einschätzen? Cornelia Helfferich et al. weisen auf die Mehrfachbelastung hin, der Kinder im Kontext des Beobachtens häuslicher Gewalt gegen einen Elternteil, der ausgeübten Gewalt gegen sich selbst, des Alkoholkonsum des Aggressors und einer Trennungssituation,
42 | Vgl. die unter diesem Titel erschienene Forschungsarbeit von Anke Neuber, die in biografischen Fallanalysen den Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt analysiert: Anke Neuber: »Die Demonstration kein Opfer zu sein«. Biographische Fallstudien zu Gewalt und Männlichkeitskonflikten. Baden-Baden 2009. 43 | Carol Hagemann-White und Sabine Bohne nennen mehrere Forschungsarbeiten, die belegen, dass sich die Wahrscheinlichkeit erneuter Gewaltwiderfahrnisse erhöht, wenn bereits einmal Gewalt im sozialen Nahraum erlitten wurde (vgl. Carol Hagemann-White/Sabine Bohne: Versorgungsbedarf und Anforderungen an Professionelle im Gesundheitswesen im Problembereich Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Expertise für die Enquêtekommission »Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in Nordrhein-Westfalen«. Osnabrück 2003, S. 27, www. cahrv.uni-osnabrueck.de/reddot/gewalt_expertise_endfassung2.pdf [Stand: 06.06.2013]).
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die die Gewalt nicht zwangsläufig sofort beendet, ausgesetzt sind.44 Heinz Kindler gibt an, dass Kinder, die Partnergewalt und Misshandlung und/ oder einer elterlichen Suchterkrankung ausgesetzt sind, eher gefährdet sind, sich nicht positiv und unbeeinträchtigt entwickeln zu können, als Kinder, die mit nur einer Belastungsform konfrontiert sind.45 Es stellt sich daran anschließend die Frage, wie Jugendliche, die in der Kindheit mit häuslicher und anderer bedrohlicher Gewalt konfrontiert waren, im späteren Leben mit den eigenen aggressiven Impulsen umgehen. Eine Möglichkeit ist, einen potenziellen Opferstatus durch eigene Gewalttätigkeit abzuwehren, eine andere Möglichkeit besteht darin, sich mit der Angst vor eigenen aggressiven Impulsen nicht auseinandersetzen zu müssen, indem diese sublimiert und unterdrückt werden und möglicherweise zu selbstverletzendem Verhalten führen.46 Jenseits dieser eher problematischen Umgehensweisen besteht aber auch die Möglichkeit, trotz mehrfacher Belastungen resiliente Strategien zu entwickeln und damit den negativen Folgen von Gewalt zu entgehen.47 Dies scheint auch bei Lukas der Fall zu sein, der sich selber nicht als gewalttätig, aber auch nicht als selbstverletzend oder depressiv beschreibt. Lukas’ Situation als Kind ist von hoher Gewaltbelastung gekennzeichnet. Bei der Bearbeitung dieser Situation und ihrer Folgen ist möglicherweise die Unterstützung eines informellen Netzwerks wie die Bindung an Verwandte jenseits der Eltern von Bedeutung. Für Jungen werden in der Forschung neben den Geschwistern die Mutter und die Großeltern als be-
44 | Cornelia Helfferich et al.: Wissenschaftliche Untersuchung zur Situation von Frauen und zur Beratungssituation nach einem Platzverweis bei häuslicher Gewalt. Sozialministerium Baden-Württemberg. Stuttgart 2004. 45 | Vgl. Heinz Kindler: Partnergewalt und Beeinträchtigungen kindlicher Entwicklung: Ein Forschungsüberblick. In: Barbara Kavemann/Ulrike Kreyssig (Hg.): Handbuch Kinder und häusliche Gewalt, S. 36-53, hier S. 42. 46 | Vgl. Marion Wurdrak: Therapeutische Arbeit mit Kindern, die häusliche Gewalt erlebt haben. In: Kavemann/Kreyssig (Hg.): Handbuch Kinder und häusliche Gewalt, S. 249-258, hier S. 256f. 47 | Vgl. Corinna Seith: »Weil sie dann vielleicht etwas Falsches tun« – Zur Rolle von Schule und Verwandten für von häuslicher Gewalt betroffene Kinder aus Sicht von 9 bis 17-Jährigen. In: Kavemann/Kreyssig (Hg.): Handbuch Kinder und häusliche Gewalt, S. 103-123, hier S. 107.
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vorzugte Ansprechpersonen genannt.48 Lukas hat keine Geschwister, in seinen Beschreibungen tauchen in diesem Sinne die Großeltern (Eltern der Mutter), insbesondere die Großmutter, als konstante Beziehungspersonen auf. Im entwicklungsbezogenen Ausgleich gewalttätiger Jungen ist vor allem das erweiterte soziale Umfeld außerhalb der Kernfamilie von Bedeutung:49 Hier wird aggressives oder gewalttätiges Verhalten entweder frühzeitig erkannt und damit umgegangen oder ein frühes gewalttätiges Verhaltensmuster kann sich in einer freundlichen Umgebung entschärfen. Auch die Rolle der Mutter muss einbezogen werden: Aus der Forschung geht hervor, dass es einer hohen Anzahl von Müttern, die Partnergewalt ausgesetzt sind, gelingt, trotz ihrer schwierigen Situation einen angemessenen Erziehungsstil zu verfolgen und weiterhin fürsorglich mit ihren Kindern umzugehen.50 Dies scheint auch bei Lukas der Fall zu sein. Mehrfach thematisiert er die enge Beziehung zu seiner Mutter. Zudem lassen sich Hinweise auf Kontinuität und Konsistenz des Erziehungsstils finden wie etwa das Vorhandensein von Regeln in der Familie: »Meine Mutter hat halt viele Regeln so eigentlich für mich. Aber da ich die halt auch schon kenne, von klein auf, ja … […] [g]ewöhnt man sich dran.« [494499] Deutlich wird einerseits, dass die Regeln wie ein Geschenk von der Mutter an den Sohn gegeben werden und eine gewisse Exklusivität darstellen. Andererseits empfindet Lukas die Regeln als Begrenzung, die er nicht verhandeln kann. Er kann sich nur daran »gewöhnen«, was ihn aktuell, zum Beispiel an der Frage abends länger aufzubleiben, nervt. Die Mutter wird zunehmend zu einer Konfliktpartei, mit der er sich über die bekannten Regeln streiten muss, wenn ihm diese im Verlauf seiner Ablösungsprozesse zu eng werden. Laut einer repräsentativen Prävalenzstudie werden Misshandlungsverhältnisse in Familien selten durch eine Klärung innerhalb der Beziehung der Eltern gelöst, sondern in der Regel durch Beendigung der Beziehung.51 Dies legt nahe, dass die Kinder ihre Mütter als handlungsfähig 48 | Vgl. Seith: »Weil sie dann vielleicht etwas Falsches tun«, S. 114. 49 | Vgl. Garbarino: Lost Boys, S. 92. 50 | Vgl. Kindler: Partnergewalt und Beeinträchtigungen kindlicher Entwicklung, S. 46. 51 | Vgl. Monika Schröttle/Ursula Müller: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit im Leben von Frauen in Deutschland – Anhang. Berlin 2004, S. 45, www.
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und in der Lage erleben, sich aus der gewalttätigen Situation zu befreien. Dies ist auch bei Lukas der Fall, der angibt, dass seine Mutter sich einerseits durch Einschließen oder Wegfahren zu ihren Eltern der Situation entzogen hat, andererseits erlebt er die von seiner Mutter ausgehende Scheidung als positiv, als »Erlösung« [144]. Lukas wollte mit seiner Mutter zusammenbleiben, der Vater sollte weggehen [Ebd.]. Dieser zog tatsächlich aus. Lukas und seine Mutter blieben in der bekannten Wohnung. Wie in anderen ähnlichen Fällen52 endete das Erleben des gewalttätigen Vaters jedoch nicht mit der Scheidung, da dieser noch einige Male zurückkehrt und »Terror macht« [153]. Lukas bringt das Ende dieser Kontaktversuche in Verbindung mit der Tatsache, dass der neue Freund seiner Mutter zwischenzeitlich bei ihnen eingezogen war [152f.]. Auf die Frage nach Mobbingsituationen in der Schule gibt Lukas seine eigene Beteiligung am Mobbing einer Mitschülerin in der Grundschule zu. »Da ich die nicht leiden konnte, hab ich auch mitgemacht, ja.« Aus der aktuellen Situation heraus beurteilt er sein Mittun als »Kinderkacke« [759], was er mit »typisch für Kinder« erläutert [761] und somit normalisiert. Er grenzt sein Verhalten ab von einem Verhalten, das das Schlagen und Beschädigen von Sachen beinhaltet, und relativiert damit die Schwere seiner Handlungen. Dies ist die einzige Situation, in der er eine eigene Beteiligung an Handlungen, die andere Menschen schädigen können, einräumt. Hinsichtlich des eigenen Erfahrens von Mobbingsituationen gibt er an: »Naja, es geht. Also, ja … naja, ich hab halt viele weibliche Freunde auch, und … ja, ziehe mich auch ganz nett an, und das … also, kommt schon mal der Spruch auf, dass ich schwul bin, oder so.« [765-767] Solche Sprüche werden von »irgendwelchen aus Parallelklassen« geäußert, als Ort der Beleidigungen wird die Bushaltestelle genannt. Es handelt sich also um Situationen im Schulkontext. Zwar »jucke« ihn das Beleidigtwerden nicht sonderlich, dennoch nennt er diese Ereignisse beim Thema Mobbing, das zuvor als »regelmäßiges Verspotten oder Ausschließen« definiert wurde. Dies ist ein typisches Beispiel dafür, wie unter Bezugnahme auf die heteronormative Vorstellung auf eine ›richtige‹ Sexualität bmbfsj.de/Forschungsnetz/Forschungsberichte (Stand: 14.06.2012). 52 | Vgl. Barbara Kavemann: Zusammenhänge zwischen Gewalt gegen Frauen und Gewalt gegen Kinder – Der Blick der Forschung. In: Dies./Kreyssig (Hg.): Handbuch Kinder und häusliche Gewalt, S. 13-35, hier S. 23.
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Abwertungsversuche vorgenommen werden. Lukas gibt als Begründung dafür einerseits seine Vergemeinschaftspraktiken mit Mädchen an wie auch seinen Kleidungsstil, der als »nett« und nicht als ›cool‹ oder ›stylisch‹ von ihm bezeichnet wird. Ein ›richtiger‹ Junge, der den Verdacht des Schwulseins nicht aufkommen lassen will, vergemeinschaftet sich also demnach homosozial und zieht sich auch anders an. Der Interviewer vermerkt im Postskript zum Interview ebenfalls, dass Lukas auffallend ›modisch‹ gekleidet ist und ein Tattoo auf dem Oberarm trage.53 Lukas macht deutlich, dass er gängige Vorstellungen vom Junge-Sein bewusst unterläuft und Abwertungen selbstsicher in Kauf nimmt. Sein Umgang mit solchen Anfeindungen besteht laut eigener Aussage darin, sich nicht zu ärgern und darauf zu setzen, dass es »ja irgendwann für die Anderen auch langweilig [wird]« [784f.]. Es wird offenbar, dass er davon ausgeht, dass er den längeren Atem hat und die Situation ›irgendwann‹ aufhört. Dies kann in seiner Erfahrung begründet liegen, dass auch die Gewaltsituationen mit seinem Vater irgendwann aufhörten. Dies heißt aber nicht, dass Lukas dazu bereit ist, passiv solche Situationen zu ertragen. Als Umgang mit solchen Begegnungen oder auch der Androhung körperlicher Gewalt benennt er »weggehen«, »nicht beachten«, »sich an Freunde oder Lehrer wenden« oder auch »reden« und »die Situation beruhigen« [812821, 858-861]. Letzteres schätzt er in Bezug auf bestimmte Gewaltsituationen – »wenn schon Gewalt angewendet wird« [860f.] – jedoch skeptisch ein, weil er annimmt, dass die andere Person für ein Gespräch nicht offen sei [861]. Lukas insistiert, dass er nie Gewalt anwende, auch wenn er verärgert sei [863f.]. Er begründet die Tatsache, dass er keine körperliche Gewalt ausübe, so: »[…] weil ich es da ja in meiner Kindheit erlebt habe, wie es ist, selber Gewalt zu erfahren. Und wenn ich klug bin, dann natürlich nicht so handele.« [876f.] Seine Definition von ›klug‹ liegt darin, dass er findet: »Gewalt an sich ist unterste Schublade.« [881] Er ergänzt: »… also fast wie ein Tier. Von daher ist man immer überlegen, wenn man 53 | Im Essayband Doom Patrols. Streifzüge durch die Postmoderne hebt Steven Shaviro auf die Bedeutung von Tätowierungen ab, die dazu beitrügen, »das Bewusstsein einer Person für Erinnerung zu entwickeln« (vgl. Steven Shaviro: Doom Patrols. Streifzüge durch die Postmoderne. Mannheim 1997, S. 124 [Herv. im Orig.]), und die als »Denkmäler für Vergänglichkeit und Veränderung« stehen (ebd.). Die sich selbst zugefügte Wunde werde mit Lust und Bedeutung besetzt und sei Symbol der selbstwirksamen Verwandlung.
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das nicht einsetzt.« [881f.] Das Wort ›klug‹ impliziert die Affirmation von Bildung, einem scharfen Verstand und Vernunft. Es dient hier als Differenzmarker zu einem Verhalten, dass als tierisch – also nicht menschlich und instinkt- statt vernunftgesteuert – und »unterste Schublade«, in der die potenziell anrüchigen und unschönen Dinge auf bewahrt und verborgen werden, beschrieben wird. Lukas’ Konstruktion von Überlegenheit basiert auf einer apodiktischen Setzung moralisch-guten Handelns, welches körperliche Gewaltanwendung nicht vorsieht. Das heißt, dass das Sich-Wehren als legitimer Grund für Gewalthandeln, welches von vielen Jugendlichen an dieser Stelle im Interview benannt wird, für Lukas nicht gilt und er Umgangsweisen mit Konflikten und Gewaltsituationen angibt, die eher beziehungserhaltend (Reden, die Situation beruhigen) beziehungsweise nicht zerstörerisch für die Beziehung sind (Weggehen). Gleichzeitig sind diese Techniken auch ein Selbstschutz, da Lukas davon ausgeht, dass er »wahrscheinlich auch den Kürzeren ziehen [würde]« [851], wenn er sich in gewalthaltige Situationen begeben würde.54 Bei Lukas wird deutlich, dass er sich in den gewalttätigen Situationen, denen er als Kind ausgesetzt war, anders positioniert hat beziehungsweise aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten, sich zu entziehen oder die Ausbrüche seines Vaters zu verhindern, anders verhalten musste als in Situationen des Schulalltags, für die er sowohl die Möglichkeit des HilfeHolens als auch des Redens und Sich-Entziehens benennt. Es wird durch den Vergleich unterschiedlicher Interviewstellen deutlich, dass Lukas die Techniken seiner Mutter, sich der Gewalt ihres Ehemanns durch Wegfahren und durch Beenden der Beziehung durch Scheidung zu entziehen, als legitime, proaktive Strategien im Umgang mit Konflikten angeeignet hat.
L UK AS UND DIE G ESCHLECHTERPOSITIONIERUNGEN Im qualitativen Fragebogen hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, zwei Aussagen zu ihrem Geschlecht zu machen. Sie sollten sich mit einem Kreuzchen auf einer Skala, die von ›100 % typisches Mädchen‹ zu ›100 % typischer Junge‹ reichte, zu den Fragen des Aussehens und des Gefühls 54 | Die Gründe hierfür sind nicht in der körperlichen Erscheinung begründet: Lukas ist 175 cm groß, 69 kg schwer und seine Figur wird vom Interviewer im Postskript als »athletisch« bezeichnet.
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positionieren. Lukas sieht sich zu fast 100 % als typischer Junge bezüglich des Aussehens, er fühlt sich zu 75 % als typischer Junge. Dies heißt zum einen, dass eine klare Repräsentanz von jugendlicher Männlichkeit angenommen wird. Zum anderen ist eine zwar überwiegende, aber eben nicht vollständige Bezugnahme auf das, was gesellschaftlich in Lukas’ Vorstellung als typisch für einen Jungen gilt, zu konstatieren. Aus dem Interview geht Folgendes hervor: Die von Meuser benannten Bereiche der homosozialen und kompetitiven Praxis zur Herstellung und Vergewisserung von Männlichkeit unterläuft Lukas gemäß seiner eigenen Angaben. Lukas thematisiert nicht, dass er Spaß am körperlich oder anderweitig konkurrierenden Wettstreit hat und scheint riskante Unternehmungen nicht reizvoll zu finden. Stattdessen pflegt er Freundschaften zu Mädchen, ist modebewusst und scheint auf Anerkennung seiner männlichen peers nicht angewiesen zu sein. Carol Hagemann-White55 gibt an, dass Kinder, vor allem Jungen, bis zur Pubertät stärker daran interessiert sind in geschlechtshomogenen Gruppen zu spielen. Je nach sozialer Schichtzugehörigkeit seien diese Praktiken unterschiedlich stark weiblichkeitsverachtend und auf körperliche Aggression ausgerichtet. Als ›typisches Jungenverhalten‹ würden sie markiert, und zwar von Erwachsenen gegebenenfalls sanktioniert, dabei aber als normal empfunden.56 Einerseits erhalten Jungen solche Zurechtweisungen von Erwachsenen wie auch Anerkennung für gute Schulleistungen und sozial verträgliches Verhalten, andererseits zollt die männliche peer group Wertschätzung für stereotypes männliches Verhalten: Es handelt sich also um widersprüchliche Anforderungen. In Bezug auf Lukas lässt sich daran anschließend fragen: Ist die Aneignung von Männlichkeit für ihn überflüssig? Schafft er keine Bewerkstelligung einer gelungenen männlichen Identität? Oder funktioniert seine Aneignung von Männlichkeit als weißer Mittelschichtsjunge, der auf das Gymnasium geht, nicht über kompetitiv-solidarische Auseinandersetzungen mit anderen Jungen – und damit anders als mit den ›ernsten Spielen des Wettbewerbs‹ angenommen? Es wird deutlich, dass Lukas Freude daran hat, ein »relativ guter Schüler« [164] zu sein. Es macht ihm sogar Spaß, zur Schule zu gehen [168]. In den Fächern Chemie und Geschichte, in denen er »auf keinen grünen 55 | Vgl. Carol Hagemann-White: Sozialisation: Weiblich – männlich? Opladen 1984, S. 68. 56 | Vgl. ebd., S. 71.
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Zweig« kommt,57 unternimmt er aber keine größeren Anstrengungen, seine Noten zu verbessern, sondern sieht die Möglichkeit der Fächerabwahl als Lösungsstrategie an. Seine Mutter passt darauf auf, dass er in der Schule gut ist und dass er abends nicht zu lange wegbleibt. Sie setzt einen bestimmten Rahmen, der auch auf Bildungserfolg abzielt. Im Gespräch über die Klassen- und Schulatmosphäre wird deutlich, dass es Konkurrenzverhältnisse hinsichtlich einer Theatergruppe gibt, zu der »besonders intelligente und besonders begabte Menschen hingehen« [173/174], Lukas aber nicht. Auch gebe es in seiner Klasse die ›coolen Jungs‹, zu denen er nicht gehört. ›Cool‹ wird nach der Studie von Steven Frosh et al. in den Äußerungen von Jungen allgemein meistens für ›lässig‹, ›sportlich‹, ›trägt Markenkleidung‹ (die richtige!), ›witzig‹ und je nach Alter auch ›beliebt bei Mädchen‹ verwendet.58 Danach gefragt, ob es besonders beliebte Jungen in der Klasse gibt, gibt Lukas an, dass diese in die Theater-AG gehen. Seiner Schule attestiert er allgemein ein Klima, in dem alle gleichbehandelt werden, nur diese AG wird als sozialer Raum markiert, der mit differenzierender Bedeutung versehen wird. Die Differenz wird aber nicht nur über Männlichkeit in Verknüpfung mit Beliebtheit oder Coolness hergestellt, sondern auch über die Merkmale ›Intelligenz‹ und ›Begabung‹: In der Erzählung klingt ein Status des Auserwähltseins an: »die Theater-AG hat seit jeher den Ruf, dass da halt irgendwie besonders intelligente und besonders begabte Menschen hingehen …« [173f.]. Nur anhand eines leicht geringschätzigen und distanzierenden Tonfalls in der Stimme von Lukas lässt sich erkennen, dass er entweder gerne Zugang zu diesem sozialen Raum hätte oder den Ruf dieser Arbeitsgemeinschaft, etwas Besonderes zu sein, für überzogen hält, sodass seine Nicht-Teilhabe daran keine Abwertung bedeutet. Möglicherweise ist auch beides der Fall. Sicher ist, dass er sich mit der identitär-bedeutsamen Existenz dieses Raumes auseinandersetzen muss und dass Abgrenzungen, die er vornimmt, über die Verknüpfung von ›Jungesein‹ und ›Beliebtsein‹ hergestellt werden sowie über die Kategorien ›Intelligenz‹ und ›Begabung‹. Anhand der 57 | Interessant ist, dass er in Chemie ›drei‹ steht (›befriedigend‹), dies aber trotzdem zu den Problemfächern gezählt wird. Ausschlaggebend dafür scheint zu sein, dass es ihm keinen Spaß bereitet und dass die Lehrerin und er sich nach seiner Einschätzung gegenseitig nicht leiden können. 58 | Vgl. Steven Frosh/Ann Phoenix/Rob Pattman: Young masculinities. Understanding boys in contemporary society. Houndsmill/New York 2002.
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AG wird das Bedürfnis nach geschlechtsbezogener sozialer Anerkennung durch die peers sowie nach einer bildungsbezogenen Anerkennung sichtbar.
Synthese In der jeweiligen Betrachtung der Felder ›Lebensräume‹, ›Gewalt(abstinenz)‹ und ›Geschlecht‹ ist deutlich geworden, dass sich Überschneidungen zu den anderen Feldern ergeben: Hinsichtlich der Betrachtung der Lebensräume wird deutlich, wie diese durch Gewalt strukturiert werden: zum einen anhand der privatisierten Gewalt in der Familie, zum anderen anhand von Mobbingsituationen in der Schule, in die Lukas als ausübendes Kind und als betroffener Jugendlicher involviert war. In beiden Fällen ist Geschlecht ein zentrales Merkmal, einerseits in der Verknüpfung mit dem Täter (der gewalttätige Ehemann und Vater), andererseits durch das Infragestellen von Lukas’ Männlichkeit im Sinne einer heterosexistischen Abwertungspraxis. Der häusliche Raum ist zudem durchzogen von männlicher Konkurrenz, die Lukas mit dem Freund seiner Mutter um einen Platz in der Familie ausfechten muss, sowie der Frage nach gegengeschlechtlicher Identifizierung in Bezug auf seine Mutter. Adoleszenztypische Ablösungsanforderungen können diese Prozesse zusätzlich dynamisieren. Mit der Perspektive auf Gewalt(abstinenz) wird deutlich, dass die Orientierung auf Gewaltfreiheit mit den Widerfahrnissen im Bereich der Familie zusammenhängen: Die eingeübten Haltungen werden auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Das heißt, dass Lukas eine multilokale Strategie der Gewaltabstinenz ausgeprägt hat, die sich auf mehr als einen abgegrenzten Lebensbereich bezieht und einen starken moralischen oder sogar ethischen Wert darstellt. Daraus, dass körperliches Gewaltverhalten als nicht opportun verurteilt und auf stereotype Stärkedemonstrationen oder Beschützer-Posen verzichtet wird, lässt sich nicht automatisch schließen, dass Männlichkeit insgesamt nicht hergestellt wird; sie wird aber zumindest nicht auf diese Weise hergestellt. Die Position der moralischen Überlegenheit deutet darauf hin, dass Abgrenzung und Differenzierung zur eigenen Positionierung sehr wohl nötig sind. Diese erfolgen allerdings nicht über Männlichkeitsanerkennung, sondern über die Präsentation von Vernunft und Erfahrung. Das heißt, es werden das Vermögen zu Reflektion sowie eine Orientierung an einem
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mittelständischen Bildungsideal und einer entsprechenden Vorstellung von Leistung deutlich. Aus der Geschlechterperspektive scheint sich Lukas seiner Männlichkeit sicher zu sein. Er entwirft ein Bild von sich, in das er Bildungsorientierung, Feinmotorik, musisches Interesse sowie die Ablehnung eines männlichen Freundeskreises und andere Faktoren, die nicht einer traditionellen Männlichkeitsvorstellung entsprechen, integriert. Möglicherweise deutet dies darauf hin, dass der Bezug auf Männlichkeit als identitätsstiftendes Merkmal insgesamt, zumindest aber im Fall von Lukas seine Relevanz verliert. Anhand des Fallbeispiels ist deutlich geworden, dass sich eher die Abkehr von traditionellen Männlichkeitsvorstellungen beschreiben lässt und weniger welche Männlichkeitskonzepte stattdessen zum Einsatz kommen. In Bezug auf Gewalt wird ersichtlich, dass das Verlassen gewalttätiger Situationen in Lukas’ Leben eine große Rolle spielt. An vielen Stellen des Interviews zeigt sich, dass Distanznahme eine Strategie für ihn zu sein scheint, die im Sinne einer adoleszenten Handlungsmacht zu verstehen ist.
F A ZIT : M ULTILOK ALE A USHANDLUNGSR ÄUME Die Frage ›Wer bin ich?‹ muss für adoleszente Jugendliche immer wieder neu gestellt und gelöst werden. Die Antworten unterscheiden sich je nach biografischer Situation und räumlichen Kontexten (Familie, Hobbys, Freund_innenschaften, Schule). Die Bedeutung der Räume, etwa von ›Familie‹ oder ›Zuhause‹, variiert dabei entlang der involvierten Personen, der Rahmenbedingungen (zum Beispiel ob Gewalt vorkommt) und der eigenen Handlungsmacht. Mit der Abbildung der relevanten Lebensräume in der Netzwerkkarte, den eingezeichneten Personen und Attributierungen sowie den Inhalten des Interviews können Erkenntnisse über subjektive Qualität und ihre Zusammenhänge gewonnen werden. Eine der zentralen Einsichten, die sich aus diesem Material herausschälen lässt, ist das Vorhandensein unterschiedlicher Räume, in denen Handlungsmacht erlebt wird. Damit sind Räume gemeint, in denen jugendliches Handeln zugelassen beziehungsweise ermöglicht wird. Diese Räume zeichnen sich durch verschiedene Rahmenbedingungen aus: Während der Flugsimulator vor allem für die Auseinandersetzung mit
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dem individuellen Handeln steht, ist das vertraute Gespräch mit der Großmutter eher auf Reziprozität angelegt. Die Strategie der Distanznahme, die in unterschiedlichen Gewaltsituationen angewendet werden kann, zeigt das Vorhandensein von Rückzugsräumen, die aufgesucht werden können. Auch in anderen Interviews wird deutlich, dass die Möglichkeit, sich aus gewalthaltigen oder bedrohlichen Situationen zu entfernen und an einen sicher(er)en Ort zu gehen, von großer Bedeutung für die Ausprägung einer gewaltabstinenten Haltung ist. Dabei stellt die Eingebundenheit in ein soziales Netz eine wichtige Komponente dar, da hier Unterstützung und das Ernstnehmen von Bedürfnissen erfahren werden. Lukas hat trotz väterlicher Gewalt auch die Kontinuität von nahen Bindungen erlebt und damit Schutzräume zur Verfügung gehabt. Weder in öffentlichen noch in privaten Räumen hat Lukas dominante oder gewalttätige Männlichkeitsinszenierungen als erstrebenswert erfahren. Es kann die These formuliert werden, dass seine Gewaltablehnung damit zusammenhängt, dass er sich nicht in homogenen Männergruppen aufgehalten hat, in denen kompetitive Männlichkeitsinzenierungen mit Attraktivität versehen werden konnten. Für diese Räume hat Lukas im Kontext seiner Erfahrungen kein Interesse entwickelt. Lukas erscheint also nicht als einer der lauten ›Empörer‹, wie sie im Eingangszitat als Bild aufgerufen werden. Er erscheint als egalitär orientierter ›Kooperierer‹, für den Gewalt in jeglicher Form negativ konnotiert ist. Vor dem Hintergrund einer relativ guten Ausstattung mit kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital und der Möglichkeit, die schlechten Erfahrungen auf produktive Weise in seinen Entwurf einer adoleszenten Männlichkeit zu integrieren, gehört Lukas zu einer Gruppe von Jugendlichen, die auf zerstörerische Praktiken der Selbstvergewisserung verzichten können. Der Auftrag der Gesellschaft, allen Adoleszent_innen Möglichkeitsräume zur produktiven Bearbeitung ihrer Konflikte zur Verfügung zu stellen, ist noch nicht erfüllt. Wir wissen nicht, wie es Lukas ergangen wäre, wenn er schlechtere Bedingungen vorgefunden hätte, aber es ist deutlich, dass für ihn die Ausprägung seiner auf Gewaltabstinenz orientierten Männlichkeit mit der Möglichkeit zusammenhängt, auf sichere Räume zugreifen zu können, in denen es ihm gut geht.
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III. Verkörpern
Der männliche Blick und die Entortung des Weiblichen? Elliptisches Erzählen in Heinrich von Kleists Die Marquise von O… (1808) und Inka Pareis Die Schattenboxerin (1999) Urania Julia Milevski
Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leib umfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut, zurücktaumelte; bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück.1
In Heinrich von Kleists Marquise von O… stellt die Vergewaltigung der Gräfin Julietta durch einen russischen Offizier, den Grafen von F…, den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte dar, obwohl die Erzählung der Tat vollständig ausgespart bleibt. Lediglich ein Gedankenstrich funktioniert als Platzhalter für das Ereignis. In der Forschung spielt diese kanonisierte Novelle nicht nur aufgrund der Besonderheit des »wohl berühmtesten Gedankenstrich[es] der deutschen Literatur«2 eine herausragende Rolle und wurde bis heute breit rezipiert. Auch hinsichtlich der Verhandlung
1 | Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… München 1961, S. 105f. 2 | Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 2003, S. 43.
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von Vergewaltigung und sexueller respektive sexualisierter3 Gewalt bezieht man sich immer wieder auf Kleists Text, wenn auch verhältnismäßig wenige Arbeiten dieses Ereignis zentral setzen. Tatsächlich ist die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung als Thema der Literatur, beispielsweise durch die Analyse einschlägiger Motive oder Stoffe, noch ein recht wenig bearbeitetes Feld. Im vorliegenden Beitrag soll zunächst ein Überblick über den Forschungsstand zur Vergewaltigungsthematik in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft gegeben werden, um Leerstellen und bestehenden Untersuchungsbedarf deutlich zu machen. Im Anschluss möchte ich den Nutzen einer kulturwissenschaftlich orientierten Erzähltheorie erläutern, die zusätzliche Blickwinkel eröffnen kann. Dazu sollen zwei Texte miteinander verglichen werden, die sich beide durch eine elliptische Konstruktion der Darstellung sexualisierter Gewalt auszeichnen, Kleists Marquise von O… aus dem Jahr 1808 und Inka Pareis Die Schattenboxerin von 1999. Im Mittelpunkt stehen dabei die Vermittlungsstrategien der Texte. Angenommen wird, dass die Geschichte (histoire) einen großen Einfluss auf den sogenannten discours ausübt, auf jene Art und Weise, wie eine Geschichte erzählt wird.4 Der Vergleich solch unterschiedlicher Werke, die in weit auseinanderliegenden Traditionen und Epochen zu verorten sind, soll elliptisches Erzählen als Strategie innerhalb einer Tradi3 | In Bezug auf Vergewaltigung empfiehlt es sich von ›sexualisierter Gewalt‹ zu sprechen. Damit wird im Gegensatz zum Terminus ›sexuelle Gewalt‹ betont, dass es nicht um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse geht, die einem überstarken Triebempfinden entspringen. Vielmehr stehen Unterdrückung und Gewalt im Fokus, ausgeführt durch sexuelle Handlungen. Bei der Bearbeitung literarischer Gewaltfälle jedoch können und müssen beide Bezeichnungen aktiviert werden, um die verschiedenen Legitimationsstrategien zu betonen. Die literaturwissenschaftliche Forschung zur Marquise von O… beispielsweise geht zwar zum Großteil von einem sexuellen Übergriff aus, verwehrt sich jedoch meistens der Auffassung, dem Grafen sei es um Unterdrückung gegangen. Diese Position müsste demnach von sexueller Gewalt sprechen. 4 | Histoire bezeichnet die in einem Text erzählte Geschichte als Gesamtheit aus Figuren und Ereignissen. Im Gegensatz dazu beschreibt discours die Art und Weise, wie diese Geschichte vermittelt wird. Die Begriffe gehen auf Tzvetan Todorov zurück und gelten als Basiskategorien der Narratologie. Vgl. Martinez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 23f.
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tion von Vergewaltigungsnarrationen herausstellen. Besonderes Augenmerk richtet sich hier auf Verknüpfungen von geschlechtlich konnotierter Wahrnehmung und räumlichen Entortungsstrategien als besondere Ausprägung literarischer ›Dynamiken von Raum und Geschlecht‹.
F ORSCHUNGSÜBERBLICK : V ERGE WALTIGUNG IM S PIEGEL DER L ITER ATUR (WISSENSCHAF T) Die deutschsprachige Forschung orientiert sich maßgeblich an der USamerikanischen Auseinandersetzung mit Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt. Nicht verwunderlich erscheint es also, dass an dieser Schnittstelle die erste Arbeit zum Thema entsteht. In ihrer 1998 erschienenen Monografie Sexual Violence in German Culture betont Sabine H. Smith in diesem Zusammenhang das stark verzögerte Einsetzen der deutschen Diskussion.5 Sie selbst begreift Vergewaltigung in ihrer Studie als Konvention im deutschsprachigen Raum, die sich im kulturellen ›Text‹ manifestiere. Entsprechend rückt nicht nur Literatur in den Blick, sondern auch filmisches Material, wie der Spielfilm Deutschland, bleiche Mutter von Helma Sanders-Brahms aus dem Jahr 1980 und Helke Sanders Dokumentation Befreier und Befreite von 1992. Das Korpus besteht trotzdem zum Großteil aus literarischen Texten aus dem Zeitraum 1776 bis 1992, wobei der Schwerpunkt auf vier Werken liegt, unter anderem auf Kleists Marquise von O…6 Smith identifiziert drei Phasen eines antirape-movements, welches sich insbesondere in der literarischen Produktion niederschlägt und damit eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung notwendig macht. Die Übersetzung von Susan Brownmillers Schrift Against Our Will aus dem Jahr 1975 fungiert dabei ihres Erachtens als Initialzündung.7 Während der ersten Phase, im Zuge der zweiten 5 | Vgl. Sabine H. Smith: Sexual Violence in German Culture. Rereading and Rewriting the Tradition. Frankfurt a.M. 1998, S. 19. 6 | Außerdem auf Heinrich Leopold Wagners Die Kindermörderin (1776), Gerhart Hauptmanns Rose Bernd (1903) sowie Arthur Schnitzlers Fräulein Else (1924). 7 | Die Journalistin und Feministin Brownmiller wählte einen dezidiert populärwissenschaftlichen Zugang für ihre ›Geschichte der Vergewaltigung‹. Dies ist vor allem dem Vorhaben geschuldet, Vergewaltigung als Verbrechen allgemeingültig sichtbar zu machen (vgl. Susan Brownmiller: Gegen unseren Willen. Vergewalti-
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Welle der Frauenbewegung, galt Vergewaltigung als das »entscheidende Machtinstrument des Mannes«8 zur Aufrechterhaltung eines patriarchalen Systems. Die veröffentlichten Texte zeichnen sich durch einen besonders militanten und konfrontationsaffinen Ton aus.9 Die zweite Phase, von den späten 1970er-Jahren bis Mitte der 1980er-Jahre, definiert sich vor allem über die Beschäftigung mit inhärenten gesellschaftlichen Machtstrukturen, die den relationalen Charakter einer Vergewaltigung betonen.10 Erst in den späten 1980er-Jahren beginnt eine dritte Phase, die neue Zugänge zu sexualisierter Gewalt erschließt. Hier werden vor allem soziologische, psychologische, philosophische und medizinische Diskurse in den literarischen Blick genommen. Erst 2003 erschien die erste Monografie in deutscher Sprache, die sich mit Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt beschäftigt. Die Literaturund Kulturwissenschaftlerin Christine Künzel legt ihren Fokus hier auf Heinrich von Kleists Marquise von O… und einen realen Rechtsfall, den Berliner ›Gynäkologen-Prozess‹, der von 1984 bis 1986 verhandelt wurde. In der Tradition der law and literature-Bewegung stehend11 untersucht sie gung und Männerherrschaft [1975]. Frankfurt a.M. 1978 [Original: Against Our Will. Men, Women and Rape]). 8 | Ebd., S. 22. 9 | Dies zeigt sich bspw. wie folgt: »Der Weg der männlichen Selbstbehauptung durch sexuelle Dominanz ist ein Irrweg, denn er führt, ob mit ob gegen die Gesetzlichkeit, zum allgemeinen Notzuchtsrecht des Mannes an der Frau. Dem können die Weiber nicht anders als bewaffnet entgegentreten. Wenn die Männer den Krieg mit den Weibern wollen, dann werden sie ihn bekommen. Aber sie werden sich nach Stalingrad zurücksehnen.« (Christa Reinig: Entmannung. Düsseldorf 1976, S. 56) 10 | Vgl. bspw. bei Elfriede Jelinek: »Klemmer stellt sie vor die Wahl: entweder du oder ich. Seine Lösung lautet: ich. Doch in meinem Haß entstehst du neu, tröstet der Mann und sagt laut seine Meinung damit. Indem er ihren von den Armen nur notdürftigst geschützten Kopf leicht malträtiert, wirf er ihr einen harten Brocken zum Kauen hin: Wenn du nicht Opfer wärst, könntest du keins werden.« (Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 272) 11 | Für diesen Hinweis danke ich Solveig Lena Hansen. In ihrem Aufsatz zeigt sie die beiden Strömungen, law in literature und law as literature, auf, die auch in Künzels Studie relevant sind; vgl. Solveig Lena Hansen: Utopische Dynamiken von Staat, Reproduktion und Individuum? Ein Beitrag zur Law and Literature-Debatte.
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zum einen den literarischen Fall der Marquise auf die Schnittstellen und Einflussnahmen des juridischen Diskurses hin, um zum anderen juristische Texte mit Hilfe literaturwissenschaftlicher Vorgehensweisen zu analysieren. Als Herangehensweise wählt sie die sogenannte ›überkreuzende Lektüre‹, »ein Verfahren, das es ermöglichen soll, Schnittstellen im Bereich der Codierung sexueller Gewalt ausfindig und einer ›doppelten‹ bzw. ›gedoppelten‹ Analyse zugänglich zu machen«.12 Interessant ist vor allem das Herausstellen der Vergewaltigung als »Ineinanderfallen von ›Realität‹ und ›Textualität‹, da es sich hier um eine Erfahrung handelt, die sich kaum anders als durch ›Narration‹, sprich durch Text, Bild oder andere Codes vermittelt behaupten kann«.13 Einen sehr viel breiteren Zugang wählt Gesa Dane, die in ihrer 2005 erschienenen Monografie literarische Vergewaltigungsfälle aus dem 17. Jahrhundert bis hin zu einzelnen zeitgenössischen Darstellungen thematisiert. Dabei identifiziert sie besonders die Mythen um die Römerin Lucretia14 sowie Richardsons Clarissa (1748) als paradigmatisch für die literarische Auseinandersetzung mit sexualisierter oder sexueller Gewalt. Mittels eingehender Analysen spezifischer Texte stellt Dane deren rechtskritische Tendenz fest, während sie gesellschaftlich prägende Begrifflichkeiten wie ›Ehre‹ und ›Sittlichkeit‹ konsequent mitdenkt. Bis ins 19. Jahrhundert wird für Vergewaltigungsnarrationen nicht nur die elliptische Darstellung des Aktes diagnostiziert, sondern auch eine Konzentration auf die Perspektive des weiblichen Opfers, die sowohl das Motiv der Täter als auch deren Bestrafung in den Hintergrund rückt.15 In Bezug auf Texte In: Susanne Beck (Hg.): Gehört mein Körper noch mir? Strafgesetzgebung zur Verfügungsbefugnis über den eigenen Körper in den Lebenswissenschaften. BadenBaden 2012, S. 193-214. 12 | Christine Künzel: Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht. Frankfurt a.M./New York 2003, S. 10f. 13 | Ebd., S. 13. 14 | Dane bezieht sich hier weniger auf die Lucretia des Ovid oder Titus Livius als vielmehr auf die Interpretation von Augustinus in De civitate dei (413-426) (vgl. Gesa Dane: »Zeter und Mordio«. Vergewaltigung in Literatur und Recht. Göttingen 2005, S. 273f.). 15 | Zu diesem Schluss gelangt auch Susan Winnett: »Until now the story of rape has almost always been the women’s story: where she was attacked, how she did or did not defend herself, how she did or did not recover from the physical dama-
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des späten 20. Jahrhunderts nimmt sie den Anspruch einer rechtshistorisch geprägten Literaturwissenschaft ein Stück weit zurück, da es Autorinnen wie Karen Duve, Elfriede Jelinek und Leonie Ossowski »weder um Sozial- noch um Rechtskritik, vielmehr um Macht- bzw. Geschlechtermachtanalyse«16 gehe – und kommt so zu einer ähnlichen Folgerung wie Smith. Den vorgestellten Monografien ist gemein, dass sie den juridischen Diskurs als Referenzpunkt für ihre Untersuchung betonen, wenn auch verschieden stark. So gibt Smith einen Überblick über die im Recht verankerten Definitionen und Strafgesetze vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Dane bezieht zusätzlich die Gesetzgebung in der griechischen und römischen Antike sowie jüdisches Recht in ihre Überlegungen zu Vergewaltigung in der Literatur ein. Künzel währenddessen konzentriert sich in Abhängigkeit von ihren beiden ›Fällen‹ auf die rechtlichen Diskurse um 1808 und in den 1980er-Jahren. Der Vorteil des Einbezugs rechtlicher Definitionen liegt auf der Hand, unterliegen diese Formulierungen doch stetig Überarbeitungen und Anpassungen an gesellschaftlich relevante Diskurse. Sie können so durchaus als Institution verstanden werden, von welcher Allgemeingültiges im Hinblick auf das Sprechen von Vergewaltigung in einer bestimmten Zeit abgeleitet werden kann. Allerdings muss dem entgegengesetzt werden, dass sich am Verhältnis von Rechtsprechung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wenig geändert hat: Rechtsdiskurse sind nicht als präexistent zu erachten und stellen lediglich eine Reaktion auf spezifische gesellschaftspolitische Entwicklungen dar – die durchaus stark zeitverzögert erfolgen kann. Daraus folgt, dass nur eingeschränkt und mit höchster Vorsicht von konkreten Gesetzen auf die Lebenswirklichkeit und/oder die literarische Verarbeitung rückgeschlossen werden kann. Speziell in Bezug auf Die Marquise von O… argumentiert Künzel mit Kleists Studium sowie der Nähe von Literatur und Jurisprudenz: Kleists ›Marquise von O…‹ kann vor diesem Hintergrund als literarischer Versuch betrachtet werden, auf mögliche ›blinde Flecken‹ des Rechtssystems – in diesem Fall der gesetzlichen Regelung in Fällen von Notzucht – hinzuweisen und durch ge.« (Susan Winnett: The Marquise’s »O« and the Mad Dash of Narrative. In: Lynn A. Higgins/Brenda R. Silver [Hg.]: Rape and Representation. New York 1991, S. 82) 16 | Dane: »Zeter und Mordio«, S. 258.
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die Formulierung eines Grenzfalls scheinbar unstreitige Positionen wieder streitig werden zu lassen, bzw. das Ungenügende der rechtlichen Lösungsvorschläge zu demonstrieren.17
Die Juxtaposition von Recht und Literatur kann damit kritisches Potenzial entfalten und auf eben dieses hin untersucht werden, auch wenn im Text selbst der juridische Diskurs zu keiner Zeit thematisiert wird. »Aus dem literarischen Rechtsfall wird mithin kein literarischer Kriminal- oder Gerichtsfall«,18 speziell in Bezug auf den Rechtsfall der Vergewaltigung. Die Ansprüche von Sabine Smith, Christine Künzel und Gesa Dane zielen jedoch weniger auf eine Analyse, die die Einflussnahme von literarischen Werken auf beispielsweise den Fortschritt innerhalb des Strafrechts sichtbar macht. Stattdessen beziehen sich ihre Erkenntnisse auf die Erklärung und Überwindung einer sogenannten »rape-culture«.19 Der Bezug auf Rechtsdiskurse macht dabei die Diskrepanz deutlich zwischen den zahlreichen Errungenschaften feministischer Bewegungen und der stagnierenden Rechtswirklichkeit Deutschlands, die sich beispielsweise darin ausdrückt, dass die sexuelle Selbstbestimmung der Ehefrau erst im Mai 1997 ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde.20 In diesem Beitrag möchte ich für die Erweiterung des Blicks auf literarische ›Vergewaltigungsnarrationen‹21 plädieren. Abseits der ausgetretenen Pfade in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft soll es um das kritische Potenzial dieser Texte gehen, das in der anglophonen Literaturwissenschaft bereits in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird: In the twenty-first century, the most urgent task for feminism is to build on the work of late twentieth-century feminism(s) by recognizing the subversive work being done by modern and contemporary writers on the subject of sexual violence.
17 | Künzel: Vergewaltigungslektüren, S. 24. 18 | Dane: »Zeter und Mordio«, S. 13. 19 | Smith: Sexual Violence, S. 309. 20 | Zur Kritik und Etablierung der neuen Artikel 177 und 178 siehe Monika Frommel: Die Reform der Sexualdelikte 1997/98. Eine Bilanz. In: Christine Künzel (Hg.): Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung. Definitionen und Deutungen sexueller Gewalt von der Aufklärung bis heute. Frankfurt a.M./New York 2003, S. 261-278. 21 | Dane: »Zeter und Mordio«, S. 29.
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These reconfigurations of rape narratives are important as feminism(s) attempts to move beyond the victim/perpetrator binary. 22
Die Textstrukturen und Vermittlungsstrategien sogenannter Vergewaltigungsnarrationen müssen auf kritisches Potenzial wie die Verneinung von Opferdiskursen und die Reorganisation von Geschlechterverhältnissen untersucht werden. Besonders die Konzentration auf die Erzählsituation kann dafür meines Erachtens von Belang sein. So sollen hier die erzähltheoretischen Kategorien ›Stimme‹ und ›Fokalisierung‹ in den Blick genommen werden, um literarische Thematisierungen von sexuell inspirierter Gewalt fernab des juridischen Diskurses zu betrachten.
S TIMME UND F OK ALISIERUNG ALS E LEMENTE EINER GENDERSENSIBLEN E RZ ÄHLTE X TANALYSE Gérard Genette vollzog in seiner Erzähltheorie die heuristisch wertvolle Trennung des discours in die hervorbringende Instanz ›Stimme‹ und die wahrnehmende Einstellung ›Fokalisierung‹. Ersteres ist immer an eine Erzählinstanz gebunden, wobei der Autor »zwischen zwei narrativen Einstellungen« wählen kann, »[e]r kann die Geschichte von einer ihrer ›Personen‹ erzählen lassen oder von einem Erzähler, der selbst in dieser Geschichte nicht vorkommt«.23 Weiterhin identifiziert er ›Stimme‹ durch den Zeitpunkt des Erzählens sowie die Stellung der Erzählinstanz zu den Figuren24 und der Diegese als »raumzeitliche[s] Universum der Erzählung«25 selbst. ›Stimme‹ als Terminus spielt sowohl in der feministischen Forschung eine herausragende Rolle als auch in der Narratologie. In ihren 1992 erschienenen Fictions of Authority verbindet Susan S. Lanser die techni22 | Sorcha Gunne/Zoë Brigley Thompson: Introduction. Feminism without Borders: The Potentials and Pitfalls of Re-theorizing Rape. In: Dies. (Hg.): Feminism, Literature and Rape Narratives. Violence and Violation. London/New York 2010, S. 4. 23 | Gérard Genette: Die Erzählung. München 1998, S. 175. 24 | Es wird unterschieden, ob eine Erzählinstanz Figur der eigenen Geschichte ist (homodiegetisch) oder nicht (heterodiegetisch) (vgl. ebd., S. 152f.). 25 | Ebd., S. 313. Ist die Erzählinstanz in der Diegese zu verorten, so spricht man von einem intradiegetischen, andernfalls von einem heterodiegetischen Erzähler (vgl. ebd., S. 162f.).
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schen Implikationen des narratologischen Stimmbegriffs mit einem feministisch geprägten Zugang: When feminists talk about voice, we are usually referring to the behavior of actual or fictional persons and groups who assert woman-centered points of view. Thus feminists may speak of a literary character who refuses patriarchal pressures as ›finding a voice‹ whether or not that voice is presented textually. 26
Unter der Prämisse, die strukturalistisch inspirierte Narratologie um einen feministischen Blickwinkel zu erweitern, versucht Lanser vor allem die weibliche Stimme als »the narrator’s grammatical gender«27 in entsprechenden textuellen Praktiken sichtbar werden zu lassen. Der bloßen Funktion der Stimme als textanalytische Kategorie soll so ein anthropomorpher Gehalt zugestanden werden, der auch in der narratologischen Forschung problematisiert wird – wenn auch selten unter Einbezug feministischer oder gendertheoretischer Implikationen.28 ›Fokalisierung‹ definiert Genette als einen bestimmten ›Modus‹ der Erzählung: »Quel est le personnage dont le point de vue oriente la perspective narrative?«29 Dies kann ganz unterschiedliche Blickwinkel umfassen und operiert nicht zuletzt auch auf Figurenebene. Hier wird unterschieden zwischen einer Nullfokalisierung, die dem auktorialen Erzählen gleichgesetzt werden kann und interner beziehungsweise externer Fokalisierung. Ersteres, auch als ›aktorial‹ bezeichnet, konzentriert sich auf 26 | Susan S. Lanser: Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice. New York 1992, S. 4. 27 | Ebd., S. 6. 28 | Beim Vergleich einzelner Stimm(en)definitionen von Bachtin, Genette und Derrida kommen Daniela Langer und Andreas Blödorn zu folgendem Schluss: »Die metonymischen Implikationen des Begriffs erlauben, ihn zwar einerseits mit Subjektivität und Intentionalität in Verbindung zu bringen, öffnen ihn aber andererseits auch auf die Möglichkeit hin, dass diese Implikationen im Text selbst nicht aufgerufen oder aber sogar dezidiert unterwandert werden, so dass die zu füllende Subjektposition in der Frage ›Wer spricht?‹ auch eine Leerstelle bleiben kann« (Andreas Blödorn/Daniela Langer: Implikationen eines metaphorischen Stimmenbegriffs: Derrida – Bachtin – Genette. In: Dies./Michael Scheffel [Hg.]: Stimme[n] im Text. Berlin/New York 2006, S. 76f.). 29 | Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin 2008, S. 118.
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die Sicht einer Figur. Die Erzählinstanz gibt Eindrücke wieder, die aus der kognitiven Wahrnehmung dieser Figur stammen. Gleichzeitig kann das erzählte (Welt-)Wissen, gespeist aus derselben Figur, ein Hinweis auf die jeweilige Fokalisierungseinstellung sein.30 Die Einstellung der Erzählinstanz (Stimme) und die Ausprägungen der Fokalisierung, die in Methodologien wie Genettes getrennt gedacht wird, kann in einer praktischen Analyse oft schwer geschieden werden. Ausgehend von der Auffassung eines fiktionalen Erzähltextes als spezifische Kommunikationssituation31 plädiert beispielsweise Fotis Jannidis für die Wiedereinführung des ›Erzählers‹ als mentales Modell, das anthropomorph organisiert ist: Das bedeutet nicht, daß der Erzähler stets eine volle Figur ist – da gibt es bekanntlich sehr große Unterschiede –, sondern nur, daß auch bei einem unauffälligen Erzähler die Eigenschaften der Stimme und der Fokalisierung in ein Gesamtbild integriert werden. Die besondere Struktur dieses Erzählerbildes einschließlich der stets vorhandenen Möglichkeit, seine figurale Grundstruktur zu sprengen, ist sicherlich selbst wiederum historisch variabel. 32
Für die Analyse von Vergewaltigungsnarrationen stellen die Kategorien ›Stimme‹ und ›Fokalisierung‹ ausgesprochen wichtige Instrumente dar. So verweist die Beschreibung der Vergewaltigung als »unsägliches Delikt«33 30 | Diese Vermischung von Wissen und Wahrnehmung in Genettes Definition der Fokalisierung ist bereits vielfach kritisiert worden. Eine Stellungnahme auf die Anmerkungen von Mieke Bal ist zu lesen in Genette: Die Erzählung, S. 241f. (vgl. Mieke Bal: Narratologie. Les Instances du Récit: Essais sur la signification narrative dans quatre romans moderns. Paris 1977, S. 21-57). 31 | Vgl. Martinez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 9-19; Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin/New York 2004, S. 15-84. Gegen die Position einer Erzählkommunikation, die auf mündliches Erzählen zurückgeht, vgl. Per Krogh Hansen et al.: Introduction. In: Ders. et al. (Hg.): Strange Voices in Narrative Fiction. Berlin 2011, S. 1-12. 32 | Fotis Jannidis: Wer sagt das? Erzählen mit Stimmverlust. In: Andreas Blödorn/Daniela Langer/Michael Scheffel (Hg.): Stimme(n) im Text, S. 160f. 33 | Kurt Weis: Die Vergewaltigung und ihre Opfer. Eine viktimologische Untersuchung zur gesellschaftlichen Bewertung und individuellen Betroffenheit. Stuttgart 1982, S. 119.
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auch auf die Repräsentation in literarischen Texten und die wichtige Rolle, die der Stimme als Vermittlungsinstanz zugeschrieben wird. Tatsächlich ist das Verstummen des weiblichen Opfers seit Ovids Prokne und Philomela ein konstitutiver Teil der Tradition von Vergewaltigungsnarrationen.34 Mieke Bal bemerkt, mit Bezug auf den Mythos der Lucretia, dass Vergewaltigung nur »as image translated into signs«35 existieren kann und bezieht sich damit nicht nur auf die textuelle, sondern auch auf die künstlerische Repräsentation. Speziell für die zeitgenössische deutsche Literatur stellt Beth Linklater fest, dass die Verschiebung sexualisierter Gewalt auf eine metaphorische, metonymische oder allgemein symbolische Ebene durch die explizite Darstellung sexualisierter Gewalt abgelöst wird, die sie als eine der »ideas of resistance«36 identifiziert. Die Schilderungen durch die narrative Instanz »aim to bring socially repressed taboos to the surface«,37 vermittelt also »das gleichzeitig im Text enthaltene und vorausgesetzte Weltwissen«.38 Jannidis sieht, ähnlich wie auch Mieke Bal vorschlägt, ›Fokalisierung‹ im Gegensatz dazu als eine Art »kognitives Wissen«,39 das vor allem mit der Wahrnehmung der Erzählinstanz und/oder einzelner Figuren der Diegese zusammenhängt. In Bezug auf Vergewaltigungsnarrationen spielt diese Kategorie der Erzähltextanalyse eine zentrale Rolle. »Vision is a mode of speech«,40 stellt Mieke Bal in ihrer Forschung zu sexualisierter Gewalt und Mord in biblischer Literatur fest. Der männliche Blick als hierarchisierendes Instrument wird somit eng verknüpft mit der Stummheit des weiblichen Opfers. Nicht nur muss gefragt werden nach der sprechenden/ sehenden Instanz, auch rückt so in den Fokus des Erkenntnisinteresses, wer stumm bleibt respektive nicht gesehen wird. Angela Koch beispiels34 | Nicht selten wird künstlerischer Ausdruck wie das Weben der zungenlosen Philomela als spezielle Ausdrucksweise des weiblichen Leidens interpretiert (vgl. Beth Linklater: »Philomela’s Revenge«: Challenges to Rape in Recent Writing in German. In: German Life and Letters, 54, 3, Juli 2001, S. 253f.). 35 | Mieke Bal: Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis. New York 1996, S. 230. 36 | Linklater: »Philomela’s Revenge«, S. 253. 37 | Ebd., S. 261. 38 | Jannidis: Wer sagt das?, S. 161. 39 | Ebd. 40 | Mieke Bal: Over Her Dead Body: Vision as Feminist Epistemology. In: Iqbal Kaur (Hg.): Gender and Literature. Delhi 1992, S. 12.
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weise argumentiert für den Film, dass es vergewaltigten Frauen nicht nur an der Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks fehlt. Auch mangelt es an der subjektiven Sichtbarkeit weiblicher Figuren, die sie zu mehr macht als einer zu instrumentalisierenden Projektionsfläche.41
H EINRICH VON K LEISTS M ARQUISE VON O… ALS KL ASSISCHE V ERGE WALTIGUNGSNARR ATION ? Die Novelle Kleists setzt ein mit der Annonce der Marquise von O…, in der sie nach dem Vater ihres ungeborenen Kindes sucht, den sie zu heiraten gedenke. Die Erzählinstanz beschreibt die Marquise als »Dame von vortrefflichem Ruf«, die drei Jahre vorher ihren Ehemann verlor und daraufhin mit ihren beiden Kindern zu den Eltern zurückzog. Anschließend setzt die Erzählung dort ein, wo die Marquise geschwängert wurde – in den Kriegswirren eines Angriffs der russischen Truppen. Der russische Graf von F…, so stellt sich heraus, ist der Vater des Kindes und gibt sich schließlich auf die Annonce hin zu erkennen. Die erste Hochzeit, versprochen durch die Marquise, stellt die formalen Strukturen wieder her. Doch wird schließlich, nach ausgiebiger Buße des Grafen, eine zweite Hochzeit gefeiert, die die Vergebung durch Julietta besiegelt. In ihren Studien bemängelt Christine Künzel in Bezug auf die literaturwissenschaftliche Behandlung der Marquise von O…, dass die Vergewaltigung zwar als ›unerhörte Begebenheit‹ und damit als Kernstück der Novelle beachtet würde, sie jedoch selten über diesen Status hinaus komme. Künzel selbst ordnet den Text »[z]wischen konventioneller und kritischer Vergewaltigungserzählung«42 ein und attestiert Kleist vor allem ein Interesse daran, auf die Streitpunkte und Leerstellen des geltenden Rechtsdiskurses aufmerksam machen zu wollen.43 Auch identifiziert sie 41 | Angela Koch: Das ›unsägliche‹ Verbrechen. Überlegungen zur Tabuisierung von sexueller Gewalt im Spielfilm. In: Ute Fritsch et al. (Hg.): Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht. Bielefeld 2008, S. 195f. 42 | Christine Künzel: Heinrich von Kleists Die Marquise von O…: Anmerkungen zur Repräsentation von Vergewaltigung, Recht und Gerechtigkeit in Literatur und Literaturwissenschaft. In: frauen und recht, 1, 2000. S. 71. 43 | Christine Künzel: Vergewaltigungslektüren, S. 24.
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bestimmte Vorgehensweisen zur Darstellung sexueller und sexualisierter Gewalt: Das betrifft zum einen Techniken der Auslassung, Verschiebung oder Ent-Ortung im Sinne von displacement, Strategien der euphemistischen Benennung bzw. Nicht-Bezeichnung der betreffenden sexuellen Handlung sowie narrative Techniken, die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Figur der Marquise hervorrufen und auf der anderen Seite Verständnis für die männliche ›Täterfigur‹ erzeugen. 44
Die Erzählinstanz in Kleists Marquise von O…, die in Erwähnung der ›narrativen Techniken‹ angedeutet wird, ist in der Sekundärliteratur selten mit Hilfe eines erzähltheoretischen Instrumentariums analysiert worden. Einen Versuch einer solchen Herangehensweise stellt die Ausarbeitung Eva Frickes dar, die von einer »Figur des Erzählers«45 ausgeht, jedoch ohne dies erzähltheoretisch zu problematisieren. Gerade die verschiedenartige Konzeption von (Welt- und kognitivem) Wissen in Bezug auf die Erzählinstanz ist jedoch von besonderer Bedeutung, wenn es um das sogenannte displacement der Vergewaltigung geht. In Kleists Novelle erzählt die Stimme die Geschichte retrospektiv, »[n]ach einer wahren Begebenheit, deren Schauplatz vom Norden nach dem Süden verlegt worden«.46 Die Erzählinstanz ist angeordnet auf einer Ebene über der Geschichte und keine Figur der Diegese, also extradiegetisch-heterodiegetisch. Martinez und Scheffel charakterisieren die Ellipse der Vergewaltigung in Die Marquise von O… als implizite, da ihr genauer Umfang zunächst nicht ermittelt werden kann, ganz »nach dem Muster des Kriminalromans zur Spannungssteigerung«.47 Die Auslassung bestimmter Informationen, wie in diesem Fall die Auslassung des Vorganges der Vergewaltigung zum Zweck der Spannungserzeugung, mag grundsätzlich eine gute Erklärung für die spezifische Konzeption der Novelle sein. Allerdings greift diese Annahme meines Erachtens zu kurz und sollte durch einen genauen Blick auf die Erzählsituation in den einschlägigen Szenen ergänzt werden. So ist die Novelle dominant extern fokalisiert, was 44 | Künzel: Heinrich von Kleists Die Marquise von O…, S. 66. 45 | Eva Fricke: Heinrich von Kleist und die Auflösung der Ordnung. Poetologische Strategien im erzählerischen Werk. Marburg 2010, S. 90. 46 | Kleist: Marquise, S. 104. 47 | Martinez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 43.
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bedeutet, dass die Erzählinstanz vornehmlich eine neutrale Außensicht einnimmt, die nur selten aufgegeben wird. Eine der Stellen, die erste, die eine solche Unterbrechung darstellt, ist die der ausgelassenen Vergewaltigung, welche sich ganz auf die Perspektive des Opfers konzentriert.48 Im Kriegsgefecht, das die Erzählinstanz noch aus einer Art Vogelperspektive beschreibt, auf die Obristin, Julietta und ihre Kinder blickend, werden die Figuren voneinander getrennt. Russische Scharfschützen wollen die Marquise vergewaltigen. Man schleppte sie in den hinteren Schloßhof, wo sie eben, unter den schändlichsten Mißhandlungen zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen, ein russischer Offizier erschien, und die Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren, mit wütenden Hieben zerstreute. Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein. 49
Dieser Satz, der die Dankbarkeit und daraus folgende Verklärung der Marquise offenbart, markiert gleichzeitig den Wechsel zur internen Fokalisierung, der ›Mitsicht‹ der Erzählinstanz, die sich des kognitiven Wissens der Marquise bedient. Als diese bewusstlos niedersinkt, pausiert auch die Wahrnehmung der Erzählinstanz. Der Gedankenstrich fungiert als Platzhalter für die kognitive Leerstelle der Marquise, bedingt durch ihre Ohnmacht. Gesa Danes Ausführungen zur sprachlichen Dezenz, die einer expliziten Darstellung sexualisierter Gewalt entgegenwirkt, mögen durchaus zutreffend sein.50 Doch ist die spezifische Art der Auslassung in Kleists Novelle nicht allein der Spannung oder ästhetischen Normierungen verpflichtet als vielmehr der kritischen Auseinandersetzung mit der Ge-
48 | Auch die Rückkehr der Marquise auf ihr Landgut in V… stellt einen Moment der Einsicht in die Figur der Marquise dar. Oft wird diese Szene als Wendepunkt der Novelle bezeichnet. Hier ist Julietta über fast zwei Seiten hinweg die Fokalisierungsinstanz, während wiedergegeben wird, wie sie sich erholt und den Plan der Suchanzeige entwirft (vgl. Kleist: Marquise, S. 126f.). 49 | Ebd., S. 105. 50 | Mit ›Dezenz‹ benennt sie hier die Grenzen eines ästhetisch-poetologischen Anstands und Taktgefühls, die nicht überschritten werden sollten (vgl. Dane: »Zeter und Mordio«, S. 119f.).
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schichte einer spezifischen Gewalttat.51 Die Perspektive der Marquise als Opfer ist dabei jedoch nicht so zentral wie Dane allgemeingültig für jeden »Falle der Vergewaltigung in der Literatur«52 feststellt. Das bedeutet, dass die Marquise als Figur zwar durchaus einige Male als Fokalisierungsinstanz fungiert und dem Rezipienten eine Innensicht gewährt. Grundsätzlich jedoch ist die Erzählinstanz durch ihre dominant externe Fokalisierung und ihr Zurücktreten hinter der Geschichte mehr objektiver Berichterstatter denn Diskutant einer bestimmten Position innerhalb der Debatte um beispielsweise die Glaubwürdigkeit der Marquise53. Nicht zuletzt durch diese Erzählhaltung verweigert sich Die Marquise von O… den in der Zeit üblichen Verarbeitungen des Topos der Vergewaltigung. Die Novelle kann nicht als Intrige gelten oder als Schwank, sie operiert auch nicht als Liebesgeschichte oder Komödie.54 Kleist konstruiert vielmehr einen Grenzfall der Gewaltausübung. Dessen Aburteilung als Kavaliersdelikt findet ebenso wenig statt wie die letztliche Tötung der Frau. So erdolcht sich Julietta nicht aus Gram wie Lucretia, sondern sah die Unmöglichkeit ein, ihre Familie von ihrer Unschuld zu überzeugen, begriff, daß sie sich darüber trösten müsse, falls sie nicht untergehen wolle, und wenige Tage nur waren nach ihrer Ankunft in V… verflossen, als der Schmerz ganz und gar dem heldenmütigen Vorsatz Platz machte, sich mit Stolz gegen die Anfälle der Welt zu rüsten. 55
Entgegen der Verweise auf den Grafen als kriegerischen Helden, »schön, wie ein junger Gott«, der die Novelle in die Nähe der antiken Vergewaltigungserzählung rückt,56 fungiert dieser keineswegs als »heroische[r]
51 | Vgl. auch Künzel: Vergewaltigungslektüren, S. 24f. 52 | Ebd., S. 13. 53 | Dorrit Cohn diskutiert vor allem die Möglichkeit einer fingierten Ohnmacht der Marquise, die so trotz des sexuellen Kontakts zum Grafen ihre Tugend verteidigen kann (vgl. Dorrit Cohn: Kleist’s »Marquise von O…«: The Problem of Knowledge. In: Monatshefte, 67, 2, 1975. S. 129-144). 54 | Künzel: Vergewaltigungslektüren, S. 53. 55 | Kleist: Marquise, S. 126f. 56 | Eine detaillierte Übersicht bietet Georg Doblhofer: Vergewaltigung in der Antike. Stuttgart 1994.
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Vergewaltiger«.57 Ihm ist die begangene Gewalttat durchaus als solche bewusst, als »nichtswürdige Handlung«.58 Nach der überstürzten Abreise des Grafen erfährt der Obrist von G…, Juliettas Vater, wenig später von dessen Tod. Mit den Worten »Julietta! Diese Kugel rächt dich!«59 sei er auf dem Schlachtfeld gestorben. Umso größer die Überraschung, als der tot geglaubte Graf der Familie einen Besuch abstattet und hier die Marquise, die bereits Symptome einer Schwangerschaft verspürt, um ihre Hand bittet. Die Erzählung seiner Fieberträume ist eine metaphorische Verlagerung der Figurenhandlung. Hier spricht er von einem Schwan, den er als Kind mit Schmutz beworfen habe, der sich daraufhin untertauchend davon entledigt habe und »rein aus der Flut wieder emporgekommen sei«.60 Doch fungiert diese Episode nicht als bloße Trivialisierung der Vergewaltigung.61 Trivial und naiv ist lediglich die daraus hervorgehende Intention des Grafen, der seinen Fehler mit einer Heirat gutzumachen sucht. Die Wiedergabe seines Traumes schafft interpretatorischen Spielraum, wo die neutral angelegte Erzählinstanz die Gefühle und Gedanken der Figuren nicht mitteilt. Die Unschuld der Marquise wird damit ein weiteres Mal unterstrichen, nicht von ihr selbst, sondern durch den Grafen von F… als Täter, und steht damit den Interpretationsansätzen entgegen, die eine einvernehmliche Zusammenkunft proklamieren.62 Das ›unsägliche Verbrechen‹, von der Marquise durch die Ohnmacht als Leerstelle verbleibend und nur durch ihre Schwangerschaft verifiziert, bleibt auch für den Grafen unaussprechlich. Sein Versuch, sich der Marquise zu offenbaren, scheitert. Beim Besuch auf ihrem Gut, wo er den Heiratsantrag ein weiteres Mal wiederholt, erfährt sie, dass er bereits von ihrer Verbannung durch die Eltern und ihrer Schwangerschaft weiß. Da sie weiterhin davon ausgeht, der wahre Vater werde sich auf die Anzeige melden und ihr Gatte werden, verabschiedet sie den Grafen mit den Worten: »Ich will 57 | Brownmiller: Gegen unseren Willen, S. 198. 58 | Kleist: Marquise, S. 112. 59 | Ebd., S. 108. 60 | Ebd., S. 116. 61 | Künzel: Heinrich von Kleists Die Marquise von O…, S. 71. 62 | Um nur einige exemplarisch zu nennen: Diethelm Brüggemann: Kleist. Die Magie. Würzburg 2004, S. 180; Günter Blöcker: Heinrich von Kleist oder: Das absolute Ich. Berlin 1960, S. 178; Michael Moering: Witz und Ironie in der Prosa Heinrich von Kleists. München 1972, S. 258.
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nichts wissen […].«63 Ausgesperrt sieht er ein, dass er den Rückzug antreten muss: »Er fühlte daß der Versuch, sich an ihrem Busen zu erklären, für immer fehlgeschlagen sei, und ritt schrittweis, indem er einen Brief überlegte, den er jetzt zu schreiben verdammt war, nach M… zurück.«64 Erst als er durch den Bruder der Marquise, den Forstmeister, von der Annonce erfährt, eröffnet sich ihm ein neuer Weg, sein Verbrechen doch noch durch eine Heirat zu bereinigen: Der Graf durchlief, indem ihm das Blut ins Gesicht schoß, die Schrift. Ein Wechsel von Gefühlen durchkreuzte ihn. Der Forstmeister fragte, ob er nicht glaube, daß die Person, die die Frau Marquise suche, sich finden werde? – Unzweifelhaft! versetzte der Graf, indessen er mit ganzer Seele über dem Papier lag, und den Sinn desselben gierig verschlang. 65
Die Passage interner Fokalisierung endet mit der Beschreibung seines Zustandes als »völlig ausgesöhnt mit seinem Schicksal.«66 Bei der Betrachtung von ›Stimme‹ und ›Fokalisierung‹ in Kleists Marquise von O… wird klar, dass hier eine überwiegend externe Fokalisierung vorliegt. Einzelne Unterbrechungen aktorialer Natur liefern einen Moment der Innensicht, wie die oben beschriebene Passage. Durch dieses Vorgehen wird, wenn auch in kurzen Schlaglichtern, erkennbar, wie es um das Wissen und die Gefühlslage der Figuren bestellt ist. So ist davon auszugehen, dass die Marquise den Grafen bis zum Ende nicht verdächtigt, sich ihrer habhaft gemacht zu haben. Nicht die Vergewaltigung stürzt die Marquise in Verzweiflung, hat sich doch der unbekannte Vater ihres Kindes lediglich ihres Körpers bemächtigt, nicht ihres Geistes. Sie hat keine Erinnerung an den Vorgang selbst, wodurch sich die erfahrene Grenzüberschreitung nur in der sichtbaren Folge der Schwangerschaft ausdrückt. Erst als diese unumstößlich feststeht, setzt die Viktimisierung Juliettas ein. Harald Feldmann beschreibt für Vergewaltigungen zwei Phasen der Opferwerdung. Die erste erfolgt in direkter Reaktion auf das traumatische Erlebnis. Die zweite gestaltet sich als gesellschaftlich induzierte, »die sich um moralische Probleme, die sich um Stigmatisierung, 63 64 65 66
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Kleist: Marquise, S. 129. Ebd., S. 129f. Ebd., S. 130. Ebd.
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Bestrafung, Isolierung und soziale Kontrolle«67 dreht. Hier spielt Raum eine besondere Rolle, die mit der Konzentration auf ›Stimme‹ und ›Fokalisierung‹ auch für die Marquise von O… herausgearbeitet werden kann. Die Verbannung der Eltern, die nicht an Juliettas Unschuld und Tugend glauben, fungiert nicht nur als Bestrafung, sondern befördert auch ihre räumliche Isolation. Sie flieht, unerlaubterweise mitsamt ihren Kindern, auf ihr Landgut in V…, wo eine Passage interner Fokalisierung ihre Überlegungen und Wahrnehmungen beschreibt: Sie beschloß, sich ganz in ihr Innerstes zurückzuziehen, sich, mit ausschließendem Eifer, der Erziehung ihrer beiden Kinder zu widmen, und des Geschenks, das ihr Gott mit dem dritten gemacht hatte, mit voller mütterlicher Liebe zu pflegen. […] Und so war der Zeitpunkt, da der Graf F… von Neapel wiederkehren sollte [um sie noch einmal um ihre Hand zu bitten], noch nicht abgelaufen, als sie schon völlig mit dem Schicksal, in ewig klösterlicher Eingezogenheit zu leben, vertraut war. 68
Der physisch-räumliche Rückzug von Julietta auf ihren Landsitz in V…, so wird deutlich, geht einher mit dem somatisch-räumlichen, kombiniert als eine Abkehr vom sozialen Leben. Dem unbemerkten und gewaltsamen Eindringen des Grafen in den als offen konzipierten Körperraum der Frau wird sein Eindringen in die Gemächer zu V… gegenübergestellt, »da eine Frau – wie es Kleists Erzählung in erschreckender Weise vorführt – weder als Kontroll- bzw. Autoritätsinstanz von Räumen noch der eigenen Person bzw. des eigenen Körpers wahrgenommen wird«.69 Im Gegensatz zu Danes Feststellung steht nicht die Figur der Marquise, ihr Empfinden und Überleben in Kleists Novelle im Mittelpunkt, während die Motive des Täters unbeachtet bleiben.70 Stattdessen geht es 67 | Edwin Lemert: Der Begriff der sekundären Devianz. In: Klaus Lüdersen/Fritz Sack (Hg.): Seminar: Abweichendes Verhalten I. Die selektiven Normen der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1975, S. 433f., zit.n. Weis: Die Vergewaltigung, S. 28. 68 | Kleist: Marquise, S. 126. 69 | Christine Künzel: »Das gerade wäre der Ort, wo ich am tödlichsten zu verwunden bin!« Sexuelle Gewalt und die Konzeption weiblicher Verletzungsoffenheit. In: Petra Leutner/Ulrike Erichsen (Hg.): Das verortete Geschlecht. Literarische Räume sexueller und kultureller Differenz. Tübingen 2003, S. 71. 70 | Dane: »Zeter und Mordio«, S. 13.
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tatsächlich um einen Grenzfall sexueller Gewalt, der abseits von juristischen Normen verhandelt wird. Der Graf als Täter, als Eindringling in den weiblichen Körperraum, dessen Verfehlung nur ihm bekannt ist, sühnt sein Verbrechen noch bevor die Verurteilung durch die Umwelt eintritt. Erst zum Schluss treten die Marquise und ihre Familie als richtende Instanzen auf. So ist die ›unerhörte Begebenheit‹ nicht allein die durch den Gedankenstrich ausgedrückte Vergewaltigung, sondern die zweite Hochzeit, die nach mindestens eineinhalb Jahren demütiger Zeit der Buße des Grafen und seinem »musterhaften Betragen« 71 stattfindet. Speziell das Ende der Novelle wurde sehr unterschiedlich gedeutet, wurde gar als Beweis dafür gesehen, dass die Marquise und den russischen Grafen von Anfang an eine Liebesbeziehung oder ein erotisches Abenteuer verband. Statt ein eindeutiges Urteil zu fällen, gilt es jedoch, auf die Brüche und Widersprüche hinzuweisen. Die zweite Heirat der Marquise ist demnach nicht als allgemeingültige Wiederherstellung der Ordnung zu lesen. Schließlich wird die Norm, im Sinne einer gesellschaftlichen Akzeptanz des Kindes, bereits im direkten Anschluss an die Offenbarung des Grafen geschaffen, mit der ersten Heirat. Er fing, da sein Gefühl ihm sagte, daß ihm von allen Seiten, um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen, verziehen sei, seine Bewerbung um die Gräfin, seine Gemahlin, von neuem an, erhielt, nach Verlauf eines Jahres, ein zweites Jawort von ihr, und auch eine zweite Hochzeit ward gefeiert, froher, als die erste […].72
Konventionen und deren Überwindung, Normen und Tabus als Darstellung einer »mögliche[n] Neustrukturierung des Geschlechterverhältnisses« 73 sind Themen der Novelle. Das Ende kann damit als Absage an ein gesellschaftliches Modell gelesen werden, das Ehe und Reproduktion analog zu Kriegshandlungen versteht. Die Eroberung im Sturm scheitert, gewalttätige Handlungsmuster werden nicht von Erfolg gekrönt. Stattdessen wird Ehe und die damit verknüpfte Reproduktion als Akt der Würde 71 | Kleist: Marquise, S. 143. 72 | Ebd. 73 | Andrea Gnam: Die Rede über den Körper. Zum Körperdiskurs in Kleists Texten »Die Marquise von O…« und »Über das Marionettentheater«. In: Ludwig Arnold/ Roland Reuss/Peter Staengle (Hg.): Text und Kritik. Sonderband Heinrich von Kleist. München 1993, S. 172.
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und Tugend imaginiert, fußend auf einem Fundament aus gegenseitigem Respekt.
I NK A PAREIS D IE S CHAT TENBOXERIN ALS S TUDIE DES Ü BERLEBENS Die getrennt voneinander untersuchten Kategorien ›Stimme‹ und ›Fokalisierung‹ gewähren hinsichtlich Kleists Novelle neue erzähltheoretische Einblicke. Im Gegensatz zu der Erzählinstanz Kleists, die sich nicht als Figur zu erkennen gibt und einen neutralen Standpunkt vertritt, ist die Erzählinstanz in Inka Pareis Roman Die Schattenboxerin autodiegetisch konzipiert.74 Hell, die Protagonistin der Erzählung, ist gleichzeitig Figur ihrer eigenen Erzählung, die beiden Kategorien sind also sehr eng miteinander verwoben. Franz Stanzel, dessen Methodologie von Erzählperspektiven von Genette weiterentwickelt wurde, spricht von einer Innenperspektive statt von Autodiegese. Nicht zuletzt durch die durchgängige Illusion einer personalen Mitsicht, so betont er, wird die Wahrnehmung von Raum zentral gesetzt.75 Und tatsächlich spielt Raumempfinden als Ausdrucksform psychologischer Begebenheiten eine große Rolle in Die Schattenboxerin. Hell wird in der Nacht des 1. Mai 1989 in einer baufälligen Hütte in der Nähe des Görlitzer Bahnhofs in Berlin von einem obdachlosen französischen Einwanderer vergewaltigt. Mit Erfolg blendet sie das traumatische Erlebnis der gewaltsamen Penetration aus, das auch im Text eine Ellipse bleibt, während die Umstände immer wieder von ihr reflektiert werden. Der narrative Diskurs teilt sich in zwei Erzählstränge, wovon der dominante die erzählte Zeit von etwa einer Woche im Frühjahr 1994 umfasst und immer wieder von Rückblenden durchbrochen wird, beginnend mit dem Tag ihrer Vergewaltigung, über die Anzeige bei der Polizei bis zum 74 | Die Erzählinstanz ist nicht nur intradiegetisch-homodiegetisch, sondern erzählt als Erzählfigur ihre eigene Geschichte (vgl. Martinez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 82f.). 75 | Franz Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 1995, S. 151. Erwähnenswert ist dies, weil die Weiterentwicklung durch Genette zunächst heuristisch äußerst wertvoll ist. Der Nachteil des genetteschen Modells jedoch besteht in der Vernachlässigung von Raum(-wahrnehmung) als Element der Diegese.
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Eintritt in einen Verein für asiatischen Kampfsport. Hells Geschichte ist die einer Überlebenden: »Weiterleben, das muß dieser Schritt sein, mit zusammengebissenen Zähnen, mit vom Hundebiß schmerzender Schulter und schlappender Sandale durch die Kiehlufer-Grünanlagen, und dann der nächste, der übernächste.« 76 Die Überlebensstrategie der Protagonistin scheint die Aufspaltung in zwei Persönlichkeiten zu sein, in die sorglose Dunkel, ihre Nachbarin, die (immer noch) Röcke trägt,77 und die asketisch lebende Kampfsportlerin, die Erzählerin Hell. Das Phänomen der Dissoziation als »Flucht […] auf anderer Ebene« 78 wird im Hinblick auf die Figuren Hell und Dunkel erst allmählich offenbar: in Hells Verzweiflung beispielsweise, als sie feststellt, dass ihre Nachbarin verschwunden ist und damit ein wichtiger, doch beinahe unbekannter Teil ihrer Alltagskonstitution: Einmal, im letzten Frühjahr, stand ich vor ihrer Wohnungstür. Ich suchte die Klinke auf der falschen Seite und hatte dabei das Gefühl, eine vertraute Bewegung seitenverkehrt auszuüben. […] Als sie auf der Schwelle stand, zuckten wir beide zusammen. Seit Jahren leben wir Tür an Tür, nie hatten wir uns so nah gegenübergestanden. Mit dem Gefühl, in einen unkontrollierbaren Spiegel zu sehen, drückte ich ihr die Umschläge in die Hand und lief so schnell wie möglich zurück in meinen Flur.79
Wie anfangs erwähnt, beschreibt Smith die dritte Phase des literarischen anti-rape-movements als beeinflusst durch soziologische, psychologische und philosophische Diskurse. In diesem Kontext kann auch Die Schattenboxerin verortet werden. Als Darstellung einer Überlebensstrategie und mit dem Fokus auf der Überwindung eines Traumas bezieht der Text vor allem psychologische, aber auch soziologische, kriminologische respektive viktimologische Diskurse ein.80 Denn wo Beth Linklater in entsprechenden deutschsprachigen Erzählungen der Jahre 1981 bis 1999 die 76 | Inka Parei: Die Schattenboxerin. Frankfurt a.M. 1999, S. 53. 77 | Nach dem traumatischen Erlebnis sexualisierter Gewalt ändert sich dies: »[…] ich trage schon seit Wochen keine Röcke mehr« (ebd., S. 64). 78 | Re.ACTion: Antisexismus_reloaded. Zum Umgang mit sexualisierter Gewalt – ein Handbuch für die antisexistische Praxis. Münster 2007, S. 38. 79 | Parei: Schattenboxerin, S. 10. 80 | Smith: Sexual Violence, S. 101.
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Tendenz erkennt, nicht nur das weibliche Leiden als Folge der Vergewaltigung in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen und eine dezidierte Opferrolle zurückzuweisen, ist es notwendig, auch Pareis Roman in diese Reihe der Vergewaltigungsnarrationen aufzunehmen.81 So trainiert Hell, nachdem sie Anzeige erstattet hat, jahrelang in einem Kampfsportzentrum. Nach dem Verschwinden Dunkels trifft sie auf deren Jugendfreund Markus März. Der Beutel mit Pfeifen, den Hell aus dem verfallenen Bahnhäuschen am Morgen ihrer Flucht mitgenommen hat, wird von März als Utensil eines alten Freundes erkannt, den er in Berlin treffen will. Auch nach fünf verstrichenen Jahren löst dieser Verweis auf ihren Peiniger eine starke Reaktion aus und lässt in ihr erstmals den Wunsch nach Vergeltung Gestalt annehmen: »Ich krächze. Mein Verstand schreit Zufall, ein blöder, nichtssagender Zufall, aber mir wird immer heißer, Schweißfelder bilden sich am Rücken. […] ›Ich will mitkommen‹.«82 Die Ellipse der Vergewaltigung resultiert hier, ähnlich wie in Kleists Marquise von O…, aus der spezifischen Erzählsituation der internen Fokalisierung. Bei der Rückblende, die visionenartig aus den Ornamenten ihres Pfeifenrauchs entsteht, durchlebt Hell den Tag der Vergewaltigung, während das Ereignis selbst ausgeblendet wird. Die Analepse, die wiedergibt, wie Hell im Bahnhaus gefangen ist, von einem »Zwerg, mit stoppelkurzen, roten Haaren«83 fast unwirsch misshandelt wird, indem er ihr einen Ohrring ausreißt, endet mit dessen direkter Wendung an seine Gefangene: »Ich will dir nichts tun. Ich will nur wissen, ob meine Kleine mich versteht.«84 Erst die übernächste Rückblende setzt am Morgen des 02. Mai 1989 ein, als Hell alleine in ihrem Gefängnis aufwacht und flieht. Im Zuge der Psychologisierung der Erzählung ist diese Auslassung mit der dissoziativen Störung der vergewaltigten Frau zusammenzudenken. So beschreibt Harald Feldmann in seiner psychologischen Studie zur Vergewaltigung die Angaben einiger Probandinnen, das Körpererleben während der Tat vollkommen abgespalten zu haben.85 Die Traumaexpertin 81 | Pareis Roman ist jedoch nicht Teil des Korpus der Untersuchung (vgl. Beth Linklater: »Philomela’s Revenge«, S. 253-271). 82 | Parei: Schattenboxerin, S. 101f. 83 | Ebd., S. 16. 84 | Ebd., S. 17. 85 | Harald Feldmann: Vergewaltigung und ihre psychischen Folgen. Ein Beitrag zur posttraumatischen Belastungsreaktion. Stuttgart 1992, S. 53f.
Der männliche Blick und die Entor tung des Weiblichen?
Michaela Huber führt außerdem aus, wie wichtig der Vorgang der Dissoziation im Hinblick auf das Überleben des Opfers ist.86 Im Unterschied zur Marquise, die die Vergewaltigung nachträglich rekonstruieren muss, ist dieses Nichterinnern des Aktes jedoch Folge des traumatischen Erlebnisses. Trotzdem gestaltet sich die Reaktion darauf ähnlich, als Rückzug der einerseits physisch-räumlich stattfindet – Julietta flüchtet sich auf ihr Gut, Hell in ihre Wohnung, beide unter strikter Vermeidung von Außenkontakten – sowie andererseits psychisch-körperlich, Julietta zieht sich in »ihr Innerstes«87 zurück, während Hell ihre leibliche Isolation in ihre räumliche Erfahrungsweise integriert: An manchen Tagen scheint mein Leben von der Zimmertür bis zur Balkonbrüstung zu reichen, an anderen nur bis zu den Kanten der Matratze. Hin und wieder endet es an der Stelle, wo mein Körper das Ende seiner physischen Ausdehnung erreicht hat. Ich ahne, daß es vielleicht möglich wäre, sich noch weiter zu minimieren, nach Innen hinein, aber an diesem Punkt überfällt mich Angst, und ich stehe auf. 88
Nur langsam ist Hell in der Lage, eine neue Alltagsroutine für sich selbst zu erschaffen, die vor allem von Einsamkeit, Askese und Vorsicht bestimmt ist.89 Dunkel gehört als Nachbarin und Gegenstück ihres Selbst zur Einrichtung des eigenen Lebens, dessen materialer Raum sich über das Wohnhaus hinaus nur noch auf »unsere[n] Straßen um den Rosenthaler Platz und ein paar notwendige Außenkontakte in anderen Bezirken«90 erstreckt. Besonders deutlich wird Hells eingeschränkter 86 | Michaela Huber: Trauma und die Folgen I. Paderborn 2003, S. 53f. 87 | Kleist: Marquise, S. 126. 88 | Parei: Schattenboxerin, S. 88. 89 | Auch hier können Parallelen zur psychologischen Studie gezogen werden: »Bei 57,3 % kann die soziale Anpassung nur als Scheinanpassung bezeichnet werden. Diese Frauen kommen zwar der Alltagsroutine nach, sie sind aber durch Symptome, ängstliche oder mißtrauische Einstellungen oder phobisches Vermeidungsverhalten deutlich gestört und eingeengt. 24 % sind in ihrer sozialen Anpassung schwerer beeinträchtigt, sie können ihre Alltagsaufgaben nur eingeschränkt oder mit Hilfen erfüllen. […] Der alltägliche Lebensstil wird bei 72 % der Patientinnen deutlich von Vermeidungen und Sichabsichern bestimmt. […] 16 % ergreifen Maßnahmen zur Selbstverteidigung.« (Feldmann: Vergewaltigung, S. 59f.) 90 | Parei: Schattenboxerin, S. 8.
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räumlicher Bewegungsradius in einer Vision ›ihres‹ Berlins, das vom Lebensraum zum Angstraum geworden ist, eng verquickt mit dem Erlebnis ihrer Vergewaltigung. Hell findet sich in ihrem Traum auf einer Karte der Stadt wieder, im Zentrum, ungefähr zwischen N12 und T7, und dieses Zentrum löst sich langsam auf. Am Tiergarten, abgegriffen vom vielen Blättern, kleben Krümel einstigen Grüns. […] Am schlimmsten aber ist es um die Gegend rund um das nördliche Neukölln bestellt, denn dort ist ein Loch. Ich weiß, daß ich auf das Loch zurutsche, es jeden Augenblick mit einem durch mein Gewicht verursachten Riß vergrößern und in die dahinterliegende Dunkelheit stürzen könnte. 91
Erst die erneute Konfrontation befördert die tatsächliche Auseinandersetzung mit dem Erlebten. Markus März nimmt sie mit zum Treffen mit seinem Jugendfreund, am Abend in einem Waldstück außerhalb Berlins. Doch statt sich den Männern anzuschließen, versucht sie lediglich die Züge des Mannes zu erspähen, dessen leiblicher Existenz sie sich versichern muss, ist er doch in Erinnerungsbruchstücken und Visionen allgegenwärtig: »März zieht sein Feuerzeug aus der Tasche. Ich schiebe mich seitlich an den Kiefern vorbei. Ich muß den Mann sehen. Wenn das Licht kommt, muß ich sein Gesicht sehen.«92 Ob sie ihn tatsächlich erkennt, bleibt verborgen, doch wendet sich Hell ab, um ihr Leben neu zu ordnen. Sie hört auf Pfeife zu rauchen, ein Symbol für die Aufhebung der Macht über sie, und überwindet schließlich den Bruch mit Dunkel. Ihr alter ego ist die erste, die sie am Morgen nach der schicksalhaften Begegnung trifft. Hell und Dunkel als figurale Facetten eines einzigen Charakters finden endlich auch räumlich zusammen. Hells Plan ist, das baufällige Haus endgültig zu verlassen, und zwar mit Dunkel an ihrer Seite: »Dann will ich Luft holen, Nase und Kinn der Dunkel entgegenstrecken und sie fragen, ob sie eine Mitbewohnerin braucht.«93
91 | Ebd., S. 82f. 92 | Ebd., S. 125. 93 | Ebd., S. 142.
Der männliche Blick und die Entor tung des Weiblichen?
F A ZIT UND A USBLICK Die Forschung zu sexueller beziehungsweise sexualisierter Gewalt als Thema in literarischen Texten ist im deutschsprachigen Raum recht überschaubar. Wie deutlich geworden ist, sind Untersuchungen meist punktuell angelegt, beziehen sich auf einzelne Texte oder Autor_innen, während übergreifende Arbeiten vornehmlich die Verschränkung von literarischem und juridischem Diskurs in den Blick nehmen. Eine umfassende Studie zur deutschen Vergewaltigungsnarration ist noch nicht erschienen. Einflüsse anderer, beispielsweise psychologischer, soziologischer oder kriminologischer (viktimologischer) Diskurse wurden bisher überwiegend peripher betrachtet und sollten mehr in den Fokus des Interesses rücken. Mit einem gendersensiblen erzähltheoretischen Zugang zu Texten, die Vergewaltigung thematisieren, können entsprechende Ambivalenzen, Brüche und Strukturen herausgearbeitet werden. Einflüsse der oben genannten Diskurse können so nicht zuletzt an den Vermittlungsstrategien einzelner Texte erkannt und benannt werden. Ein solcher Zugang ist hier exemplarisch an zwei Erzählungen gezeigt worden, an Heinrich von Kleists Marquise von O… aus dem Jahr 1808 sowie an Inka Pareis Die Schattenboxerin von 1999. Die Entscheidung für zwei so verschiedene Texte, die weder zeitlich noch traditionell in Verbindung stehen, wurde bewusst getroffen. Denn vor allem die Ellipse als Element von Vergewaltigungsnarrationen bedarf zusätzlicher Aufmerksamkeit und soll nicht nur mit den Grenzen einer ästhetischen Dezenz oder Spannungsbögen erklärt werden. Stattdessen soll der Einsatz erzähltheoretischen Instrumentariums die Textstrategien deutlich machen, die die Auslassung des Gewaltaktes, beispielsweise in den Konzeptionen von Kleist und Parei, bedingen. ›Stimme‹ und ›Fokalisierung‹ wurden dabei als wichtige Kategorien benannt. Besonders die Frage ›Wer sieht?‹ als Aufspaltung in die Annahme eines bestimmten Weltwissens neben der vornehmlich kognitiven Wahrnehmung stellte sich als sinngebend heraus. So steht Raum, speziell Körperraum, in enger Verbindung zur (Figuren-) Wahrnehmung in Vergewaltigungsnarrationen. Sequenzen interner Fokalisierung oder die Anlage der Erzählinstanz als autodiegetisch kann also nicht nur mit der Annahme ästhetischer Normierungen erklärt werden, sondern muss als aktive erzähltheoretische Entscheidung gehandelt werden. Aushandlungsvorgänge einzelner Figuren zeigen damit nicht
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nur Einflüsse psychologischer, juridischer oder auch gesellschaftswissenschaftlicher Diskurse, sondern entfalten durch dezidierte Perspektivierungen sozialkritisches Potenzial, die die speziellen Dynamiken von Raum und Geschlecht in Vergewaltigungsnarrationen betonen.
»Da fürchtete Ägypten sich vor Israel« (Ex 1,12) Exegetische Perspektiven auf Diversität am Beispiel der Exodusexposition Nele Spiering
D IE B IBEL ALS L ITER ATUR DER V IELFALT Ein grundlegendes Kennzeichen der Bibel ist ihre Diversität:1 Hebräische, aramäische und griechische Stimmen tragen Gedichte und Novellen vor, es werden Kurzgeschichten und Familiendramen erzählt – neben ausführlichen Genealogien stehen detaillierte Rechtstexte. Ebenso facettenreich wie die Texte sind die Leseweisen, mit welchen ihnen exegetisch begegnet wird: Die unterschiedlichen Gattungen können einer Form- oder Quellenanalyse unterzogen werden; es lassen sich Text-, Überlieferungs-, Redaktions- und Literarkritik üben; eine intertextuelle, narratologische, feministische oder psychoanalytische Schriftenauslegung ist ebenfalls möglich. Auch auf der Ebene der Narration und ihres Entstehungskontextes tritt Diversität als Charakteristikum des Textes hervor, »die theologische Position, das Geschlecht, die sozioökonomische Stellung sind
1 | Siehe hierzu z.B.: Erwin Dirscherl: Der biblische Kanon als Herausforderung. Die Frage nach der Ganzheit und Einheit der Bibel in der Exegese und ihre Bedeutung für die Systematische Theologie. In: Christoph Bizer (Hg.): Bibel und Bibeldidaktik. Neukirchen-Vluyn 2007, S. 51-60; Ilse Müllner: Der eine Kanon und die vielen Stimmen. Ein feministisch-theologischer Entwurf. In: Marlen Bidwell-Steiner/Karin S. Wozonig (Hg.): A canon of our own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies. Innsbruck 2006, S. 42-57.
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[…] Kategorien, die Vielfalt markieren und auch produzieren«.2 Differenzlinien3 wie ›Rasse‹4/Ethnizität, Geschlecht, Körper, Religion und Klasse verweisen nicht nur auf Diversität, sie sind zugleich zentral an der Erzeugung von Ungleichheit(en) beteiligt. Im Folgenden soll untersucht werden, auf welche Weise die genannten Kategorien in der Exposition des Exodusbuches (Ex 1,1-22) wirksam werden. Neben der intersektionalen Perspektive wird in diesem Beitrag ferner ein erzähltheoretischer Textzugang5 gewählt. Dieser folgt der Annahme, dass biblische Erzählungen konstruierte Produkte eines literarischen Schaffensprozesses sind. Mithilfe narratologischer Verfahren und Analysekategorien kann der spezifisch narrative Charakter von erzählender Literatur detailliert herausgearbeitet und kritisch reflektiert werden.6 Das Vorgehen ist heuristisch: Narratologie beschreibt und befragt, sie 2 | Ilse Müllner: Heimat im Plural. Biblische Stimmen zum babylonischen Exil. In: Johanna Rahner/Mirjam Schambeck (Hg.): Zwischen Integration und Ausgrenzung. Migration, religiöse Identität(en) und Bildung – theologisch reflektiert. Berlin/Münster 2011, S. 83-106, hier S. 84. Müllner weist darauf hin, dass die genannten Merkmale nur einige der Kategorien darstellen, die Diversität markieren. 3 | Innerhalb der Intersektionalitätsforschung werden unterschiedliche Begriffe zur Bezeichnung der Diskriminierungskategorien verwendet. Siehe hierzu z.B. Katharina Walgenbach: Intersektionalität – eine Einführung. In: Portal Intersektionalität 2012, http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/schluesseltexte/ walgenbach-einfuehrung/ (Stand: 08.05.2013). 4 | Insbesondere aufgrund der nationalsozialistischen Verbrechen ist der Ausdruck ›Rasse‹ im deutschsprachigen Kontext stark vorbelastet. Da eine Verwendung des Begriffs problematisch erscheint, kommt es oftmals zu spezifischen Schreibweisen. 5 | Die Schrift wird damit primär in ihrer literarischen Gestalt wahrgenommen. Einblicke hierzu liefern: Georg Langenhorst: Theologie und Literatur: Ein Handbuch. Darmstadt 2005; Hans-Peter Schmidt/Daniel Weidner (Hg.): Bibel als Literatur. Paderborn 2008; Helmut Utzschneider/Stefan Ark Nitsche: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung: Eine Methodenlehre zur Auslegung des Alten Testaments. Gütersloh 2008. 6 | Vgl. Vera Nünning/Ansgar Nünning: Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹ Erzähltheorie: Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen. In: Vera Nünning/Angsar Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 1-33, hier S. 4.
»Da fürchtete Ägypten sich vor Israel« (E x 1,12)
sucht nach zuverlässigen Grundlagen und intersubjektiv überprüf baren Kriterien, um Texte zu deuten.7 Da Ex 1,1-22 in das ›Setting‹ 8 der erzählten Welt des Exodusbuches einführt,9 wird im Rahmen der Analyse die narrative Funktion, die den literarischen Räumen bei der Herstellung von In- und Exklusion zukommt, von Interesse sein. Außerdem gilt es zu untersuchen, wie das (Nicht-)Handeln der Figuren und der Erzählstimme in diesem Zusammenhang bewertet werden kann. Unter besonderer Berücksichtigung der Wechselwirkungen von Raum und Geschlecht geht der Text der Frage nach, welchen Einfluss Raum, Figuren und Stimme aufeinander nehmen. Nachdem die Intersektionalitätsforschung vorgestellt- und als potenziell ›neuer‹ Zugang innerhalb der Exegese diskutiert wird, soll am Beispiel von Ex 1,1-22 gezeigt werden, in welcher Weise eine narratologischintersektionale Analyse praktische Anwendung finden kann. Wie es der Erzählung gelingt, nicht Israel sondern Ägypten zu diskreditieren, welche Rolle die Erzählinstanz, die Figuren, die Räume und der (kultur-)historische Hintergrund hierbei spielen, wird im Rahmen der Auslegung besprochen.
7 | Vgl. Silke Lahn/Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart 2008, S. IX. Obschon hier ein synchroner Zugang zum Text gewählt wird, soll die exegetische Arbeit durch kanonisch-intertextuelle Bezüge und kulturgeschichtliches Wissen angereichert werden. Die Kenntnis »[…] der sozialen Normen und Werte der Entstehungszeit eines Werks oder der in ihm dargestellten Handlungszeit« erachtet Wolf Schmid als unerlässlich, um »die Ereignishaftigkeit eines Werks in seiner Zeit und Gesellschaft […]« beurteilen zu können (Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin 2008, S. 20). 8 | Mit Marie-Laure Ryan bildet das ›Setting‹ (der Schauplatz) »the general socio-historico-geographical environment in which the action takes place« (MarieLaure Ryan: Space. In: Peter Hühn et al. [Hg.]: Handbook of Narratology. Berlin 2009, S. 420-433, S. 422). 9 | Vgl. Thomas B. Dozeman: Commentary on Exodus. Michigan/Cambridge (U.K.) 2009, S. 55.
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E XEGESE _
INTERSEK TIONAL
Dass Kategorien wie ›Rasse‹, Klasse, Geschlecht und Körper10 stets ein dynamisches Potenzial innewohnt, bildet eine Kernthese der Intersektionalitätsforschung.11 Gewissermaßen als Antwort auf das Postulat einer global sisterhood, die von einer Egalität aller Frauen und deren Solidarität ausgeht, ist es in den 1990er-Jahren die Ungleichheit zwischen Frauen, die sukzessive in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Ins Zentrum tritt die Erkenntnis, dass die jeweiligen Lebens- und Erfahrungswelten keineswegs identisch sind.12 Insbesondere die Kritik schwarzer Frauen legte die mitunter essentialistische und universalistische Perspektive vieler der geführten Debatten frei und problematisierte diese.13 Die soziale Stellung, der kulturelle Hintergrund, das Alter, die Religion und weitere Merkmale begründen sowohl unterschiedliche sowie ungleiche Bedingungen, unter welchen Frauen leben.14 Die einzelnen Differenzlinien können einander
10 | Im Zentrum dieser Analyse stehen die Wechselwirkungen von ›Rasse‹, Klasse, Geschlecht. Zur Erläuterung der einzelnen Begriffe siehe z.B. Cornelia Klinger: Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht. In: GudrunAxeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und Feministische Kritik II. Münster 2003, S. 14-48. 11 | Geprägt wurde der Begriff ›intersectionality‹ bzw. ›intersectional analysis‹ von der amerikanischen Juristin Kimberlé W. Crenshaw: (1989). Siehe hierzu Kimberlé W. Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: The University of Chicago Legal Forum 1989, Feminism in the Law: Theory, Practice and Criticism, S. 139-168. Das Combahee River Collective, ein Zusammenschluss schwarzer, lesbischer und sozialistischer Feministinnen, hat die Frage der Mehrfachunterdrückung bereits 1977 thematisiert. 12 | Obschon zunächst Frauen das Zentrum der Aufmerksamkeit bilden, ist diese Beobachtung nicht an ein spezifisches Geschlecht gebunden. 13 | Vgl. Elisabeth Tuider/Uwe Sielert: Diversity statt Gender? Die Bedeutung von Gender im erziehungswissenschaftlichen Vielfaltsdiskurs. In: Andrea Qualbrink (Hg.): Geschlechter bilden. Perspektiven für einen genderbewussten Religionsunterricht. Gütersloh 2011, S. 20-38, hier S. 27. 14 | Vgl. Klinger: Ungleichheit in den Verhältnissen, S. 14-17.
»Da fürchtete Ägypten sich vor Israel« (E x 1,12)
verstärken, mindern und verändern, sie treten zudem in verwobener Weise auf.15 Obschon Intersektionalität primär anhand lebensweltlicher Zusammenhänge erforscht wird, kann kategoriale Verwobenheit ebenso in Filmen, Bildern oder Literatur und demgemäß auch in biblischen Texten untersucht werden. Was in der Theorie möglich ist, findet jedoch erst langsam seinen Weg in die Praxis: Die intersektionale Analyse ist im Feld der biblischen Exegese vergleichsweise unbekannt; das Verhältnis der beiden Zugänge kennzeichnet bislang eine Leerstelle.16 Zu kurz greift diese Feststellung allerdings, wenn nur solche Ansätze in den Blick geraten, die terminologisch mit dem Begriff der Intersektionalität operieren. Gerade im Bereich der feministischen respektive gender-sensiblen17 und befreiungstheologischen Exegese sind Vorgehensweisen zu finden, die der
15 | Vgl. Gabriele Winker/Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2010, S. 10. Innerhalb der Intersektionalitätsforschung wird rege über die Frage debattiert, welche Kategorien in den Katalog der Diskriminierungsmerkmale aufgenommen werden sollen und welche Eigenschaften dabei relevant sind. Neben den klassischen ›Drei‹ kommen dabei auch Religion, Körper, Alter oder Behinderung in den Blick – die Liste ließe sich fortführen. Im Jahr 2001 haben Helma Lutz und Norbert Wenning eine Tabelle mit dreizehn Kategorien erstellt; später wurde die Liste um drei zusätzliche Differenzlinien erweitert (vgl. Rudolf Leiprecht/Helma Lutz: Intersektionalität im Klassenzimmer: Ethnizität, Klasse, Geschlecht. In: Rudolf Leiprecht/Anne Kerber [Hg.]: Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Handbuch. Schwalbach 2006, S. 218-234). 16 | Der kürzlich erschienene Sammelband Doing Gender – Doing Religion setzt sich erstmals (im deutschsprachigen Bereich) ausführlich mit Intersektionalität als Zugang der Bibelwissenschaften auseinander. Siehe hierzu Ute E. Eisen/Christine Gerber/Angela Standhartinger: Doing Gender – Doing Religion. Zur Frage nach der Intersektionalität in den Bibelwissenschaften. Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Doing Gender – Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam. Tübingen 2013, S. 1-33. 17 | Über Darstellungen des Weiblichen hinaus lenkt diese den Blick auch auf Bilder von Männlichkeit und neuerdings auf ›queere‹ Motive. Hier ist insbesondere auf theologische Beiträge von Marcella Althaus-Reid zu verweisen (vgl. Marcella Althaus-Reid: The Queer God. London/New York 2003).
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vorgestellten intersektionalen Lesart Rechnung tragen.18 Stellvertretend kann hier zum Beispiel auf den Einwand von Elisabeth Schüssler Fiorenza verwiesen werden: »[…] Ein Ansatz, der Identitäten nur aufzählt oder sammelt, [reicht] nicht aus, weil er nicht in der Lage ist zu begreifen und darzulegen, wie Rasse, Geschlecht, Klasse und nationale Zugehörigkeit sich gegenseitig bedingen und wie sie miteinander verwoben sind.«19 Beide Ansätze, die feministische und die befreiungstheologische Exegese, entsprechen dem Profilbild einer kontextuellen Bibelauslegung. Stärker als andere Interpretationsweisen knüpft diese Form der Exegese an den Rezeptionshorizont der Leser_innen an. Leitend ist die Auffassung, dass die Auslegung eines Textes stets durch »die persönliche, soziale, wirtschaftliche und politische Situation der Rezipienten geprägt ist und sein muss«.20 Während die feministische Exegese21 ihre Aufgabe klassischerweise primär darin sieht, Frauen zu Wort kommen zu lassen, sie sichtbar zu machen und für sie einzutreten,22 geht es der Befreiungstheologie traditionell um die ›Option für die Armen‹.23 Ausgehend von den lateinamerikanischen Basisgemeinden versucht die Befreiungstheologie »[…], Theologie im Kontext von Herrschaft und Unterdrückung als 18 | Siehe hierzu den Aufsatz von Renita J. Weems: »The Hebrew Women Are Not Like the Egyptian Women«. In: Semeia, 59, 1992, S. 25-34. 19 | Elisabeth Schüssler Fiorenza: WeisheitsWege. Eine Einführung in feministische Bibelinterpretation. Stuttgart 2005, S. 250. 20 | Georg Fischer: Wege in die Bibel. Leitfaden zur Auslegung. Stuttgart 2008, S. 52. 21 | Die ersten Weichen für diesen Zugang werden im 19. Jahrhundert gelegt. Feministische Exegese ist dabei weniger als eine eigenständige Methode aufzufassen, sondern eher als ein hermeneutischer Zugang, der auf bereits bestehende Methoden zurückgreift und diese gegebenenfalls modifiziert (vgl. Luise Schottroff/Silvia Schroer/Marie-Theres Wacker: Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen. Darmstadt 1995, S. 61). 22 | Siehe hierzu: Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hg.): Kompendium feministische Bibelauslegung. Gütersloh 1999. 23 | Der Begriff ›Theologie der Befreiung‹ wurde maßgeblich durch die Schrift Teología de la liberación des katholischen Priesters Gustavo Gutierrez geprägt (vgl. Gustavo Gutierrez: Teología de la liberación. Salamanca 1971). Zwischen den beiden skizzierten Forschungsrichtungen hat es immer schon thematische, methodische und nicht zuletzt personelle Überschneidungen gegeben.
»Da fürchtete Ägypten sich vor Israel« (E x 1,12)
Befreiung aus vielfältigen sozialen, kulturellen und religiösen Abhängigkeiten zu betreiben«.24 Obwohl sich im Bereich der feministischen/ gendersensiblen und der befreiungstheologischen Exegese Herangehensweisen finden, die deutlich intersektional gefärbt sind,25 wird die Multiperspektivität auf Kategorien26 von Ungleichheit und besonders dessen detaillierte Beschreibung noch nicht kontinuierlich und konsequent umgesetzt. Texte des Ersten Testaments wie die Reisegeschichten rund um Sarah und Abraham, die Dreieckserzählung von Jakob, Leah und Rahel, die Josefsnovelle oder die Exposition des Exodusbuches zeigen aber, dass Ungleichheit nicht nur durch ein Merkmal entsteht. Der ›verschränkte‹ Blick kann helfen, Korrelationen von Kategorien zu erkennen, sie zu beschreiben und kritisch zu befragen.27 Im Rahmen der Analyse von Ex 1 24 | Patricia Baquero/Thorsten Knauth/Joachim Schroeder: Befreiung als Paradigma in Pädagogik, Theologie und Philosophie. In: Thorsten Knauth/Joachim Schroeder (Hg.): Über Befreiung. Befreiungspädagogik, Befreiungsphilosophie und Befreiungstheologie im Dialog. Münster/New York 1998, S. 11-94, hier S. 35. Eine postkoloniale Exegese setzt sich ebenfalls im besonderen Maße mit Herrschaftsverhältnissen auseinander. Siehe hierzu z.B. Stephen D. Moore/Fernando F. Segovia: Postcolonial biblical criticism: interdisciplinary intersections. London 2005 und Andreas Nehring/Simon Tielisch: Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge. Stuttgart 2013. 25 | Wenn Elisabeth Schüssler-Fiorenzia schließlich von feministischer Theologie als Kyriarchatsforschung spricht, versteht sie darunter vor allem auch eine Analyse, die simultan wirkende und miteinander verflochtene Herrschaftsverhältnisse in den Blick nimmt. 26 | Da die Bildung von Kategorien ihrerseits als eine Praxis der Grenzziehung verstanden werden kann, die in der Gefahr von Festschreibungen steht, ist auch in diesem Zusammenhang Vorsicht geboten. Kategorien verstehe ich dabei als Dimensionen, die nicht im Sinne eines Top-Down-Verfahrens dem Gegenstand übergestülpt, sondern auf Basis theoretischer Einsichten immer wieder neu mit ihm ausgelotet werden. 27 | Die Herausgeber des Sammelbandes Postkoloniale Theologien kritisieren im Hinblick auf kontextuelle Auslegungsverfahren den oftmals unkritischen Umgang mit Identitätsmodellen: »Binäre Oppositionen wie weiß/schwarz, reich/arm, Kolonisierer/Kolonisierte, Männer/Frauen können nicht einfach perpetuiert werden, indem man, wie in der Befreiungstheologie geschehen, mit der Option für
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werden die Merkmale ›Rasse‹/Ethnizität, Klasse, Geschlecht, Körper, Wissen und Religion herangezogen, um die dargestellten Zusammenhänge angesichts ihrer Beziehungshaftigkeit zu erhellen und Strategien der Inklusion und Exklusion transparent zu machen.
I SR AEL IN Ä GYP TEN : E XEGE TISCH — NARR ATOLOGISCH — INTERSEK TIONAL Von der Familie zum Volk 28 1
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Das sind die Namen der israelitischen Familien, die mit Jakob nach Ägypten kamen. Jeder Sippenchef kam mit seinen Leuten: Ruben, Simoen, Levi und Juda Issachar, Sebulon und Benjamin Dan und Naftali, Gad und Ascher. Sie allen stammten von Jakob ab, 70 an der Zahl. Josef war schon vorher in Ägypten. Josef und alle seine Brüder starben, wie jene ganze Generation. Die Israeliten und Israelitinnen waren fruchtbar und breiteten sich aus; sie vermehrten sich und wurden ungeheuer stark. Das Land füllte sich mit ihnen.29
In biblischen Erzählungen treffen wir auf bestimmte Schauplätze, können Distanzen und Nähe zwischen Figuren erkennen und daraus potenzielle soziale, kulturelle oder politische Verhältnisse ableiten.30 Ebenso die Armen die Wertigkeiten einfach umdreht.« (Andreas Nehring/Simon Tielisch: Identität – Hybridität – Diaspora. In: Dies. [Hg.]: Postkoloniale Theologien, S. 145148, hier S. 146) 28 | Die Kapitelüberschriften haben sowohl eine zusammenfassende als auch eine strukturierende Funktion. 29 | Wenn es nicht anders gekennzeichnet ist, wird in diesem Beitrag die Übersetzung nach der BigS (Bibel in gerechter Sprache) verwendet. 30 | Das soziale Verhalten der Akteur_innen (hier der literarischen Figuren) lässt sich ohne eine Rückbindung an die jeweiligen Felder und die Handlungsräume
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wie die Figuren einer Erzählung durch ihr Handeln Einfluss auf den narrativen Raum nehmen, trägt dieser zur Zeichnung und Wahrnehmung der Darsteller_innen bei: Der Raum, welcher der Figur gerade noch Heimat war, kann ihr im nächsten Augenblick fremd sein, ein Nebeneinander verändert sich zur Hierarchie – Grenzen werden neu verlegt und entworfen. Figuren, Handlungen und Raum stehen in einem Verhältnis dynamischer Wechselwirkungen, das seinerseits durch die Erzählstimme gelenkt wird: »Das sind die Namen der israelitischen Familien, die mit Jakob nach Ägypten kamen.« (Ex 1,1) Gleich im ersten Satz der Exposition beantwortet die Erzählstimme drei wichtige Fragen im Horizont des skizzierten Gefüges. Sie gibt sowohl Auskunft über das ›Wer‹ (die Figuren) als auch über das ›Wo‹ (das Setting)31 und schließlich das ›Wie‹ (die Handlung) des plots: Die israelitischen Familien, die von Jakob abstammen, sind nach Ägypten immigriert. Mit Ausnahme von Josef listet die Erzählstimme zunächst die sechs Söhne Leahs, Jakobs erster Frau, dann die Namen der Kinder ihrer Schwester Rahel, Israels zweiter Frau, auf. Neben (Josef) und Benjamin werden zuletzt Dan, Naftali, Gad und Asser, die Söhne der Nebenfrauen Bilha und Silpa, in die rein männliche Genealogie aufgenommen.32 Die Erzelternerzählungen der Genesis, welche die Gründungszusammenhänge der Familiengeschichte nachgezeichnet hatten, nicht hinreichend verstehen (vgl. Regina Becker-Schmidt: Wechselbezüge zwischen Herrschaftsstrukturen und feindseligen Subjektpotenzialen. Überlegungen zu einer interdisziplinären Ungleichheitsforschung. In: Cornelia Klinger/GudrunAxeli Knapp [Hg.]: ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster 2008, S. 112-137, hier S. 114). 31 | Die literarisch dargestellten Schauplätze und Orte können der bekannten Lebenswelt entsprechen (Garten, Wüste, Feld), sie können aber auch mit fiktiven Elementen ausgestattet sein wie etwa das Paradies (vgl. Ilse Müllner: Zeit, Raum, Figuren, Blick. Hermeneutische und methodische Grundlagen der Analyse biblischer Erzähltexte. In: Protokolle zur Bibel, 15, 2006, S. 1-24, hier S. 9). Im Anschluss an Michel De Certeau kann der Ort als die »momentane Konstellation von festen Punkten« verstanden werden. Ein Raum ist dann »ein Ort, mit dem man etwas macht« (Michel de Certeau: Praktiken im Raum. In: Jörg Dünne et al. [Hg.]: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006, S. 343-353, hier S. 345). 32 | Nach dem gleichen Schema erfolgte diese Auflistung bereits in Gen 35,2325 (vgl. Rainer Albertz: Exodus 1-18. Zürich 2012, S. 44).
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werden auf diese Weise mit der Entstehungslegende des Volkes Israel verbunden beziehungsweise in diese überführt.33 Dass die Erzählstimme in dieser Aufzählung ausschließlich Söhne berücksichtigt, ist dabei primär vor dem Hintergrund des patrilinearen Systems zu verstehen, in welchem Männer konstitutiv für das Fortbestehen des Volkes sind.34 »Die Ehefrauen, Töchter und Frauen Josefs und seiner Brüder werden nicht [genannt]. Männliche Pronomen und Verbformen zeigen, wer aus der Sicht der Erzählung bedeutend ist.«35 Obwohl das weibliche Element in der Genealogie zunächst verhüllt bleibt, zeigt die Gegenüberstellung mit Texten wie Gen 35,22b-26, dass das Verzeichnis in seiner Chronologie Bezug zu den Geburten der beiden Hauptfrauen und ihren Mägden nimmt (Leah, Rahel, Bilha und Silpa). Die Übersiedlungsliste von Gen 46, welche ausdrücklich auf emigrierende Frauen rekurriert, verwendet in Vers 8 bereits den Wortlaut, der später die Exoduserzählung einleitet (Ex 1,1). [§¥ §¨©¨\aWährend Ex 1,1, auf den ersten Blick eine genuin männliche Aufzählung darbietet, wirken die eingespielten Intertexte (vgl. Gen 35,22b-26 u. Gen 46,8a) dem Eindruck einer patriarchalen Engführung der Familientradition entgegen.36 Die Namen der zwölf Söhne Israels können damit kontrastierend zu den zwölf Frauen gelesen werden, die in den ersten Kapiteln des Exodus als Retterinnen Israels agieren.37 »Josef und alle seine Brüder starben, wie jene ganze Generation. Die Israeliten und Israelitinnen waren fruchtbar und breiteten sich aus; sie vermehrten sich und wurden ungeheuer stark. Das Land füllte sich mit ihnen.« (Ex 1,6-7) Wie ist es möglich, dass die Familiengeschichte vor diesem Hintergrund fortgesetzt werden kann? Müsste die Todesmitteilung nicht eigentlich das Ende des Volkes und damit ebenso der Erzählung bedeuten?
33 | Vgl. ebd. 34 | Vgl. Naomi Steinberg: Feminist Criticism. In: Thomas B. Dozeman (Hg.): Methods for Exodus. Cambridge/New York 2010, S. 163-192, hier S. 179. 35 | Susanne Scholz: Exodus. Was Befreiung aus »seiner« Sicht bedeutet. In: Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hg.): Kompendium feministische Bibelauslegung. Gütersloh 1999, S. 26-39, hier S. 27. Susanne Scholz geht davon aus, dass in Ex 1 eine androzentrische Erzählstimme spricht. 36 | Vgl. Irmtraud Fischer: Gottesstreiterinnen. Biblische Erzählungen über die Anfänge Israels. Stuttgart 1995, S. 156f. 37 | Ebd., S. 158.
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Die Mehrung der Söhne Israels ist die Erfüllung jenes Segens, den Isaak vom allmächtigen Gott für seinen Sohn Jakob erfleht hatte (Gen 28,3f.), den der allmächtige Gott selbst dem Jakob bei der Gotteserscheinung in Bet-El zugesprochen (Gen 35,11) und den Jakob seinem Sohn Josef in Ägypten in Erinnerung gerufen hat. 38
Wird die wundersame Volkswerdung in einer Linie mit den Segensberichten der Genesis (Gen 17,2; 28,3; 48,4) gelesen, kann die Rückschau der/dem skeptischen Leser_in sowohl in theologischer wie auch in narrativer Perspektive als Erklärungshorizont dienen. In der Prologerzählung erfüllt sich die göttliche Nachkommensverheißung; Jakobs Namensänderung (Gen 35,10)39 ist zum deklarativen Akt geworden: »›Israel‹ ist das Modell der Menschheit; was an ihm geschieht, hat Bedeutung für die ganze Welt. Nicht menschliche Aktivität, sondern die im Gotteswort ergangenen Segensverheißung bewirkt dies.«40 Geprägt durch die Erfahrungen des Exils schenkt die Erzählstimme den zweifelnden Leser_innen die Gewissheit, dass der Gott Israels das Fortbestehen seines Volkes auch in der Fremde garantiert.41 Schon bald wird jedoch erkennbar, dass die zunächst positive Entwicklung enormes Konfliktpotenzial enthält. »Denn in dem Land, das von ihnen angefüllt wird, sind die Israeliten nur ›Fremdlinge‹ […]. Und sie sind nicht nur zahlreich, sondern auch ›stark‹ […].«42 In kanonischer Perspektive43 erfolgen die Einwanderungen nach Ägypten zwar
38 | Erich Zenger: Das Buch Exodus. Düsseldorf 1987, S. 28. 39 | In Gen 35,10 wird Jakob dazu aufgefordert, seinen Namen abzulegen; fortan soll er Israel heißen; im Anschluss daran erfolgt der Mehrungssegen (vgl. Gen 35,11). 40 | Zenger: Das Buch Exodus, S. 30. 41 | Vgl. ebd. 42 | Rolf Rendtorff: Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf. Neukirchen-Vluyn 1999, S. 31. 43 | Die kanonische Lesart zeigt, dass Josef als Sklave nach Ägypten kam (Gen 37). Seine Familie musste ihm dann aufgrund von Hungersnot folgen (Gen 47). Der Referenzpunkt einer kanonischen Lektüre ist nicht der Einzeltext, sondern das Gesamtwerk Bibel, »die Texte werden in Bezug auf andere Texte gelesen« (Georg Steins: Kanonisch lesen. In: Helmut Utzschneider/Erhard Blum [Hg.]: Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments. Stuttgart 2006, S. 45-64, hier S. 59).
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nie gänzlich freiwillig, dennoch wird das Reich am Nil in den Folgejahren zum Lebensmittelpunkt der hebräischen Großfamilie. In Ägypten werden Josef und seine Verwandten nicht bloß geduldet – sondern später sogar herzlich empfangen: »Da sagte Pharao zu Josef: ›Dein Vater und deine Brüder sind zu dir gekommen. Das Land Ägypten es liegt vor dir‹.« (Gen 47,5-6a) Josef44, dem im Zuge seines Staatsamtes eine enorme politische Gestaltmacht obliegt, eröffnet sich die Chance, grundlegenden Einfluss auf das gesellschaftlich-kulturelle Leben zu nehmen. Aufgrund seiner hybriden Identität trägt Josefs Politik zur Herstellung einer kulturellen Kontaktzone45 bei – den Einwanderer prägt die Kindheit in Kanaan ebenso wie das Erwachsenwerden in Ägypten. Schließlich legitimiert Josefs Verbindung mit der Ägypterin Asenat (Gen 46,20) nicht nur exogame Eheschließungen;46 die gemeinsamen Söhne Manasse und Efraim sind mutmaßlich weit tiefer mit dem Land verbunden als es die nüchterne Beschreibung in Gen 46,27 nahelegt.47 »Josef und alle seine Brüder starben.« (Ex 1,6) Auch weil der zweiten Generation der Einwander_innen48 Herkunftsland und Kultur nur noch als Projektion verfügbar sind,49 kann die ursprüngliche Differenz zwischen ägyptischer und hebräischer Kultur in dieser Sphäre oszillieren und Auslöser weiterer Hybriditäten werden.50 Ägypten als Hauptschauplatz dieser Erzählungen wird damit zum transkulturellen Raum.51 44 | Von seinen 110 Lebensjahren verbringt Josef 93 Jahre in Ägypten. 45 | »Gemeint ist ein Ort der Auseinandersetzung in und zwischen Kulturen, in dem Grenzziehungen (z.B. zwischen Eigenem und Fremdem) destabilisiert werden können.« (Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006, S. 205) 46 | Vgl. Fischer: Gottesstreiterinnen, S. 157. 47 | »Die Söhne Josephs aber, die ihm in Ägypten geboren wurden waren zwei Seelen« (Gen 46,27; LUT). Manasse und Efraim sind gleichermaßen israelitischer wie ägyptischer Herkunft – allerdings mit dem Unterschied, dass sie in Ägypten aufwachsen. 48 | Die Hebräer_innen leben seit mehr als einer Generation in Ägypten. 49 | Vgl. Klaus Lösch: Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Lars Allolio-Näcke/Britta Kalscheuer/Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt a.M./New York 2005, S. 26-52, hier S. 36. 50 | Vgl. ebd., S. 35. 51 | Als transkulturell werden solche Prozesse verstanden, in welchen Elemente einer Kultur in eine andere hineingetragen werden und gegebenenfalls mit dieser
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Nach Zeiten der Einigkeit und gegenseitiger Fürsprache vollzieht sich mit der Mehrung Israels jedoch ein entscheidender Bruch im Verhältnis zum Gastgeberland – der Raum der Nähe wird zum Raum der Distanziertheit, Ausgrenzung und Angst. Der angestoßene Wandel, welcher gleichermaßen auf der räumlichen und figuralen Ebene Niederschlag findet beziehungsweise von dort kommt, gibt zuletzt »die organisatorischen Rahmenbedingungen für soziale Praxen vor, welche die herrschende Ordnung […] verändern sollen«:52 »Da setzten sie Aufseher ein, welche Israel durch schwere Zwangsarbeit klein halten sollten.« (Ex 1,11)
D IE F URCHT VOR DEM A NDEREN Abgrenzungsstrategien 8
Da kam in Ägypten ein neuer König an die Regierung, [der Josef nicht kennengelernt hatte]. 9 Der sagte seinen Leuten: »Seht doch, das Volk Israel ist zahlreicher und stärker als wir selbst. 10 Lasst uns klug gegen sie vorgehen, damit sie nicht weiter wachsen und uns eventuell den Krieg erklären, sie sich zu unseren Feinden schlagen, gegen uns kämpfen und dann aus diesem Land auswandern.« 11 Da setzten sie Aufseher ein, welche Israel durch schwere Zwangsarbeit klein halten sollten. Das Volk musste die Vorratsstädte Pitom und Ramses für Pharao bauen.
verschmelzen (vgl. Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung. In: Alois Wierlacher [Hg.]: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. München 2000, S. 327-351). Im Kontrast zu Welsch werden in dieser Analyse außerdem Verfahren der Abgrenzung berücksichtigt. 52 | Becker-Schmidt: Wechselbezüge zwischen Herrschaftsstrukturen und feindseligen Subjektpotenzialen, S. 114. Aus einer genuin narratologischen Perspektive irritiert der Ausdruck ›soziale Praxen‹ an dieser Stelle, so bezieht sich die Aussage narratologisch betrachtet auf das Handeln der Figuren.
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Trotzdem wuchs es und verbreitete sich immer mehr, so sehr sie es auch schikanierten. Da fürchtete Ägypten sich vor Israel. 13 Sie ließen die Nachfahren Jakobs immer härtere Sklavenarbeit tun. 14 Sie vergällten ihnen das Leben damit, dass sie ihnen Schwerstarbeit mit Lehm und Ziegeln sowie sonstiger Plackerei auf dem Feld auferlegten. Unter brutalen Bedingungen mussten sie für Ägypten schuften. Ob es die Mehrung Israels oder der Machtwechsel in Ägypten ist, der die nun einsetzende gesellschaftspolitische Kursänderung bedingt, bleibt offen. Beide Ereignisse, das Bevölkerungswachstum und der Amtsantritt des neuen Königs, werden miteinander verbunden. Um die entscheidende politische Wende vorzubereiten, bricht die Erzählstimme den Narrationsfluss durch einen Zwischenruf auf: »Da kam in Ägypten ein neuer König an die Regierung, der von Josef nichts mehr wusste.« (Ex 1,8) Die Formulierung ›neuer König‹ ist innerhalb der Hebräischen Bibel einmalig;53 im Rahmen der Erzählung kann sie als Ankündigung politischer Veränderungen verstanden werden, die ihrerseits mit der ›Unwissenheitsnotiz‹54 deutbar sind: »Alle Zeitgenossen Josefs, seien es nun Israeliten oder Ägypter, die von seinen Wohltaten noch hätten berichten können, waren ausgestorben.«55 Nimmt die Erzählstimme den König mit ihrer Aussage in Schutz oder verspottet sie ihn? Im Unterschied zu einer eher neutralen Übersetzung, wonach Pharao56 Josef nicht kannte beziehungsweise nicht die Möglichkeit hierzu hatte, tritt in der ebenso gängigen Wiedergabe des Verses das Bild der Unwissenheit expliziter hervor: »Josef, den tüchtigen Verwalter der ägyptischen Lebensmittelvorräte und Retter in den Jahren
53 | Vgl. Georg Fischer/Dominik Markl: Das Buch Exodus. Stuttgart 2009, S. 30. 54 | Aus dem hebräischen Text geht nicht deutlich hervor, ob der König nichts mehr von Josef wusste, oder ob er ihn nicht mehr gekannt hatte. Erich Zenger deutet die Unwissenheit des Königs als bewusste Negierung des Wirkens Josefs in Ägypten (vgl. Zenger: Das Buch Exodus, S. 31). 55 | Albertz: Exodus 1-18, S. 46. 56 | Entsprechend der hebräischen Textgrundlage funktioniert der Ausdruck Pharao in Ex 1,1-22 wie ein Eigenname.
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der Hungersnot (Gen 41), nicht zu kennen, zeugt von fundamentalen Lücken in der Vertrautheit mit der eigenen Geschichte.«57 Hatte die Stimme bislang alle erzählerische Darstellung selbst übernommen, verlässt sie in Vers 9-10 ihre deskriptive Haltung und legt die konkrete Ereigniswerdung des signalisierten Wandels in die Verantwortung der Figuren: »Der [neue König] sagte seinen Leuten: ›Seht doch, das Volk Israel ist zahlreicher und stärker als wir selbst‹.« (Ex 1,9) Erstmals wird Israel auch von Außenstehenden als Volk bezeichnet – was in Vers 7 bereits angedeutet wird, erhält nun seine Bestätigung.58 In der Wahrnehmung des neuen Königs stellt der demografische Wandel allerdings kein positives Ereignis dar, er bildet vielmehr den Auslöser für die einsetzende Gewaltspirale59: »Lasst uns klug gegen sie vorgehen, damit sie nicht weiter wachsen und uns eventuell den Krieg erklären, sie sich zu unseren Feinden schlagen, gegen uns kämpfen und dann aus diesem Land auswandern.« (Ex 1,10) Aus heutiger Perspektive kann eine derartige Rhetorik prototypisch für rassistische Aktivitäten erscheinen, in deren Zusammenhang eine angebliche Wissensgrundlage als eine natürliche deklariert wird.60 So deutet die Erzählstimme weder an, dass das Volk Israel größer oder stärker ist als das ägyptische, noch dass es dagegen rebellieren wird. Der König weist sein Volk an, ›klug‹61 gegen die potenzielle Gefahr vorzugehen und suggeriert damit eine Handlungsmacht seitens der Bevölkerung, die in dieser Form sicherlich nicht vorhanden ist. Seine ›Antipropaganda‹ mutet als ein Versuch an, eine Identität der Abgrenzung zu stiften, die zu kollektivem Denken und Handeln motiviert: »Begehrlichkeit nach Macht, Konkurrenzstreben, Egoismen, sozialer Neid, Xenophobie, Abstiegsängste […] können individuelle und kollektive Aggressivität freisetzen.«62 Mittels 57 | Fischer/Markl: Das Buch Exodus, S. 30. 58 | Vgl. ebd. 59 | Vgl. Barbara Schmitz: Gewalt und Widerstand – Schifra und Pua. Eine Bibelarbeit zu Ex 1,8-22. In: Bettina Eltrop (Hg.): Frauenwiderstand. Stuttgart 2004, S. 21-27, hier S. 21. 60 | Vgl. Winker/Degele: Intersektionalität, S. 48. 61 | Der Ausdruck ›kluges Vorgehen‹ kann einerseits die Unsicherheit des Königs angesichts des ernstzunehmenden Problems anzeigen, er lässt sich anderseits auch als rhetorisches Mittel im Sinne der Demagogie verstehen. 62 | Becker-Schmidt: Wechselbezüge zwischen Herrschaftsstrukturen und feindseligen Subjektpotenzialen, S. 112.
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der Personalpronomen ›wir‹ und ›uns‹ diktiert Pharao seiner Gefolgschaft eine exkludierende Haltung, in deren Folge Ägypten von Israel abgegrenzt wird. Die Hebräer_innen werden nicht weiter inklusiv als Mitmenschen gedacht, ›vor denen Ägypten offen liegt‹ (vgl. Gen 47,5), sondern exklusiv als das beängstigende Fremde, vor dem sich das Land schützen muss. Israel ist dabei nicht a priori fremd, es wird im Diskurs, durch kulturelle Vermittlung und Deutung, erst dazu gemacht:63 Die Zusammenschau zeigt, dass die Differenz, welche zwischen Ägypten und Israel produziert wird, nicht in einem singulären Merkmal aufgeht. Die Ausgrenzung ist durch mehrere miteinander interagierende Faktoren bedingt: Aus einer intersektionalen Perspektive enthüllt das konstruierte Feindbild die drei Interdependenzen Ethnizität – Körper – Klasse64: Die Furcht des Königs, die Hebräer_innen könnten eine Allianz mit Ägyptens Kontrahent_innen eingehen und damit die soziale, politische und ökonomische Macht (Klasse) des Landes schwächen,65 findet ihre Voraussetzung in der rasanten Reproduktion (Körper) Israels (Ethnizität). In diesem Denkmodell ist die Fertilität der Hebräer_innen unmittelbar mit der soziopolitischen Existenz des Volkes verknüpft. Das Wecken der ›Überfremdungsängste‹ und die Instrumentalisierung von Unterschieden zwischen den Bevölkerungsgruppen sind nicht Selbstzweck; sondern der Absicht geschuldet, politische Interessen in den Mantel der Differenz zu kleiden und sie damit zu le63 | Vgl. Corinna Albrecht: Fremdheit als kulturkonstitutive Deutungskategorie: Ein interkultureller Zugang zum ›Fremden‹. In: Gerlinde Baumann (Hg.): Zugänge zum Fremden. Methodisch-hermeneutische Perspektiven zu einem biblischen Thema. Frankfurt a.M. 2012, S. 109-124, hier S. 111f. 64 | Im Rahmen einer materialistischen Bibellektüre wird teilweise auf die marxistische Theorietradition und deren Klassenbegriff rekurriert. Siehe hierzu z.B.: Fernando Belo: Das Markusevangelium materialistisch gelesen. Stuttgart 1980. Mit Rainer Kessler wird im 8. Jahrhundert v. Chr. ein Prozess losgelöst, »den man als Transformation von einer relativ egalitären zu einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft beschreiben kann« (Rainer Kessler: Das Wirtschaftsrecht der Tora. In: Kuno Füssel/Franz Segbers [Hg.]: »…so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit«. Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie. Luzern 1995, S. 78-96, hier S. 78. Wenn literar- und sozialgeschichtliche Befunde in die Analyse integriert werden, kann diese gesellschaftliche Veränderung in der Auslegung Berücksichtigung finden. 65 | Die Möglichkeit, die eigene militärische Stärke durch ein Bündnis mit Israel zu festigen, scheint dem König nicht in den Sinn zu kommen.
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gitimieren:66 Die Demagogie kann nur gelingen, wenn mit der ethnischen Zuweisung besondere Eigenschaften beziehungsweise Zuschreibungen einhergehen. Schließlich erweist sich auch die letzte These des Königs, Israel könne im Anschluss an den Aufstand aus Ägypten fliehen, als manipulative Strategie, die noch dazu als widersprüchlich anmutet: Sollte es nicht gerade der Wunsch des Diktators sein, das Volk, welches Ägypten zu überfremden droht, aus dem Land herauszutreiben? Ist es tatsächlich Pharao, der hier ›spricht‹? Dass die Erzählstimme Pharao die Befürchtung äußern lässt, das Volk Israel würde ›aus dem Land hinaufziehen‹, und »ihm damit die Exodusterminologie in den Mund [legt]«,67 ist gerade vor dem Hintergrund sozialgeschichtlicher Befunde68 als beabsichtigter Effekt zu lesen: However, from a Persian perspective, these scenarios epitomize the real fears that the Persians have of the inhabitants of their Egyptian colony itself. They are anxious that the Egyptians will become more numerous and powerful and that they will make alliances with the enemies of Persia […]. 69
Gleichermaßen kann eine solche Lesart die Frage aufwerfen, ob die Migrationspolitik Ägyptens darüber hinaus als Negativfolie zur ›Toleranzpolitik‹ 70 Persiens zu deuten ist. Will sich die ›Kolonialstimme‹ durch die 66 | Vgl. Winker/Degele: Intersektionalität, S. 48. 67 | Albertz: Exodus 1-18, S. 47. 68 | Während über einen erheblichen Zeitraum drei Redaktionskreise J, E und P im Rahmen der Schriftwerdung konstatiert wurden, stellt sich in der jüngeren Forschung zunehmend eine Praxis ein, die lediglich zwei Quellen, die priesterliche und die nicht-priesterlichen, unterscheidet. Diese Befundlage legt es nahe, die literarische Entstehung der Auszugserzählung in der Zeit des späten Exils (um 540 v. Chr.) bzw. im Frühstadium des Perserreiches anzusiedeln (vgl. Albertz: Exodus 1-18, S. 20). 69 | Gale A. Yee: Postcolonial Biblical Criticism. In: Dozeman (Hg.): Methods for Exodus, S. 193-234, hier S. 216f. 70 | Die häufig postulierte Toleranzpolitik Persiens wird von der Forschung zunehmend angezweifelt. So ist einiges, was in den Quellen als Toleranz anmutet, eher als das Resultat einer propagandistischen und verzerrten Darstellung anzusehen (vgl. Erich Zenger/Christian Frevel: Einleitung in das Alte Testament. Hg. von Christian Frevel. Stuttgart 2012, S. 805).
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Diskreditierung des Rivalen profilieren? Das weitere Vorgehen Ägyptens widerspricht dieser These erst einmal nicht – im Gegenteil, die Erzählung entwirft ein immer grausameres Bild des Landes: »Da setzten sie Aufseher ein, welche Israel durch schwere Zwangsarbeit klein halten sollten. Das Volk musste die Vorratsstädte Pitom und Ramses für Pharao bauen.« (Ex 1,11)71 Wenn der moderne Bevölkerungsstaat in Rekurs auf Foucault eine rassistisch angetriebene ›Biomacht‹ 72 darstellt, die disziplinierend auf die Körper und regulierend auf die Reproduktion der Bevölkerung einwirkt,73 dann wird eine solche Logik auch in der Vorgehensweise des Königs evident: In Gestalt von Sklaverei betreibt Ägypten eine ›Biopolitik‹, die darauf abzielt, das Wachstum des hebräischen Volkes zu verhindern und gleichzeitig ökonomisches Kapital daraus zu gewinnen – »[hard] labor can in fact kill a people«.74 Die ›Biogewalt‹ Ägyptens ist hierbei nicht nur an Ressentiments rassistischer Natur gekoppelt, sie hängt darüber hinaus mit der Essenzialisierung von Klasse und Körper zusammen. Die Herstellung von Ungleichheit kann vor diesem Hintergrund nur im Plural sinnvoll abgebildet werden. Mit Blick auf die Exposition tritt die Relation zur Herrschaftskategorie Klasse 75 gerade dort besonders hervor, wo 71 | Durch die Verwendung des Plurals suggeriert die Erzählstimme, dass die Ägypter_innen den Anweisungen des Königs folgen. 72 | Vgl. Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung: Vorlesung am Collège de France, 1977-1978. Frankfurt a.M. 2004, S. 553. 73 | Vgl. Michel Foucault: Die Hauptwerke. Mit einem Nachwort von Axel Honneth und Martin Saar. Frankfurt a.M. 2008, S. 1134. 74 | Jorge Pixley: Liberation Criticism. In: Dozeman (Hg.): Methods for Exodus, S. 131-162, hier S. 151. 75 | Obschon der Klassenbegriff zur Analyse, Beschreibung und Reflexion des modernen Nationalstaates herangezogen wird, werden die Folgen von Deklassierung, wie sie in der Gegenwart begegnen, auch in der vorliegenden Erzählung evident. Im Anschluss an Gudrun-Axeli Knapp lässt sich die Herrschaftsinstanz Klasse als eine politisch-ökonomische Relationalität verstehen, die grundlegend durch »Positionen am Arbeitsmarkt bzw. das Verhältnis von Arbeit und Kapital [bestimmt ist]« (Gudrun-Axeli Knapp: Verhältnisbestimmungen: Geschlecht, Klasse, Ethnizität in gesellschaftstheoretischer Perspektive. In: Klinger/Knapp [Hg.]: ÜberKreuzungen, S. 138-170, hier S. 147). Gleichwohl, so Knapp, haben aber auch »Begehren, heteronormative Sexualität, Familienstrukturen und das Gebären und Großziehen von Kindern zweifellos klassen-spezifische [sic!] Züge« (ebd.).
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mit ihr eine Deklassierungspraxis einhergeht, im Zuge derer die ›unteren Klassen‹ die körperliche, schwere und monotone Arbeit für die ›oberen Klassen‹ der Gesellschaft ausführen.76 Die Hebräer_innen müssen die Städte Pitom und Ramses bauen,77 also Vorratsspeicher, die nicht ihre Existenz, sondern die der ägyptischen Herr_innen garantieren sollen. Sowohl im Kontext von Klasse als auch angesichts der Kategorie Ethnizität ist es der Aspekt der Arbeit,78 in Ex 1 namentlich in Form von Sklaverei, welcher als Merkmal der Disparität hervortritt. Die Herr-Knecht-Beziehung verwandelt sich nun in eine Herr-Sklave-Beziehung, die aufgrund der persönlich-leiblichen Abhängigkeit noch gravierender erscheint.79 Neben Klasse und Ethnizität markiert der Körper als Voraussetzung für die funktionierende Arbeitskraft die zentrale Dimension »that unveils the complex cultural, economic, political and religious threads […]«.80 Für Israel sind die neuen politischen Verhältnisse nicht nur verbal spürbar; sie werden durch das ›Feld‹ (¨) topografisch81, sozial und physisch wirksam: »Sie vergällten ihnen das Leben damit, dass sie ihnen Schwerstarbeit mit Lehm und Ziegeln sowie sonstiger Plackerei auf dem Feld auferlegten. Unter brutalen Bedingungen mussten sie für Ägypten schuften.« (Ex 1,14) Auf der Mikroebene der Erzählung wird mit dem Feld als ›wilderness‹82 eine Gegendarstellung zum gestalteten und geordneten Kulturraum ›Egypt‹ etabliert. »¨ bezeichnet das kultivierte oder unkultivierte Gebiet außerhalb der menschlichen Siedlungen und bildet damit 76 | Vgl. Klinger: Ungleichheit in den Verhältnissen, S. 27f. 77 | Siehe hierzu Fischer/Markl: Das Buch Exodus, S. 31. 78 | In Vers 14 taucht die hebräische Wurzel für ›arbeiten‹ gleich fünfmal auf. Dazu kommen weitere, dem Wortfeld verwandte Ausdrücke wie ›Lehm‹ oder ›Ziegel‹. 79 | Vgl. Klinger: Ungleichheit in den Verhältnissen, S. 28. 80 | Wanda Deifelt: Hermeneutics of the Body: A Feminist Liberationist Approach*. In: Renate Jost/Klaus Raschzok (Hg.): Gender – Religion – Kultur. Biblische, interreligiöse und ethische Aspekte. Stuttgart 2011, S. 55-66, hier S. 60. 81 | In seinem Aufsatz Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn diskutiert und erläutert Stephan Günzel die Unterschiede zwischen den Raumparadigmen (vgl. Stephan Günzel: Spatial turn – topographical turn – topological turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen. In: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 219-237). 82 | Siehe hierzu Dozeman (Hg.): Methods for Exodus.
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einen Kontrastraum zur Stadt.« 83 In Übereinstimmung mit anderen Erzählungen des Ersten Testaments ist es auch in Ex 1 ¨ (›sadäh‹), welches zum »Tatort des Verbrechens«84 wird. Die mittels dieses Raumes erzeugte Grenze kann in der Binnenlogik der Erzählung zur Festigung kultureller und sozialer Opposition beitragen sowie der Separation zwischen den Völkern dienen. Im Gegensatz zum Feld, welches mit freiem, offenem oder unbewohntem Land übersetzt werden kann, gehen mit dem hebräischen Ausdruck für Ägypten §¥ (›Mitsrayim‹) Konnotationen wie Enge, Begrenztheit oder Bedrängnis,85 kulturgeschichtlich außerdem Zuflucht, Sicherheit und Zivilisation einher.86 Das spatial frame87 ¨ als das Ergebnis kultureller Produktion und Konstruktion wird hier erneut, sowohl durch die vollzogenen Handlungen als auch durch die mit ihm assoziierten Phantasmen88 und intendierten Funktionen hervorgebracht.89 Wenn-
83 | Yvonne Sophie Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld: Raum und Geschlecht im Hohelied. Berlin 2012, S. 327. 84 | Gerhard Wallis: Art. sadäh/saday. In: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament. Stuttgart 1993, S. 716. Sowohl der urgeschichtliche Brudermord (Gen 4) als auch die Auseinandersetzung der Söhne Jakobs (Gen 37,15) tragen sich auf dem Grund dieser Szenerie zu. »Anderseits kann die Abgeschiedenheit des Feldes jedoch auch Gottesnähe bedeuten, wenn sich Isaak zum Beten auf das Feld zurückzieht (Gen 24,63) oder Manoachs Frau dort allein eine Begegnung mit einem Boten Gottes hat (Ri 13,9).« (Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld, S. 330) 85 | Siehe hierzu die hebräische Wurzel §¥ (vgl. Wilhelm Gesenius: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Berlin 2005, S. 726). 86 | Vgl. Heinrich Krauss/Max Küchler: Erzählungen der Bibel III. Das Buch Genesis in literarischer Perspektive. Die Josef-Erzählung. Göttingen 2005, S. 11; Israel Finkelstein/Neil Asher Silberman: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. München 2006, S. 65. 87 | Marie-Laure Ryan beschreibt mit dem Begriff spatial frame das konkrete Umfeld, in welchem Ereignisse stattfinden und die Figuren in Aktion treten (vgl. Ryan: Space, S. 421f.). 88 | Vgl. Michel Foucault: Andere Räume [1976]. In: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1992, S. 34-46, hier S. 37. 89 | Vgl. Peter Wenzel: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier 2004, S. 1-22, hier S. 2.
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gleich ›Achsen der Differenz‹90 mitunter wie statisch erscheinen, kann es auf der Ebene der Machtressourcen zu Verschiebungen kommen, die das Verhalten und die bestehenden Verhältnisse neu regeln: »Da fürchtet sich Ägypten vor Israel.« (Ex 1,12)91
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Der ägyptische König gab eines Tages den hebräischen Hebammen – eine hieß Schifra, die andere Pua – den Befehl: »Wenn ihr den Hebräerinnen bei der Geburt beisteht und am Geschlecht erkennt, dass es ein Junge ist, dann sollt ihr ihn töten; ist es ein Mädchen, lasst es leben.« Aber die Hebammen verehrten Gott und taten nicht das, was der ägyptische König ihnen gesagt hatte. Sie ließen auch die männlichen Kinder am Leben. Da bestellte Pharao die Hebammen zu sich und herrschte sie an: »Warum macht ihr so etwas, lasst die Jungen leben?« Die Hebammen antworteten ihm: »Die Hebräerinnen sind anders als die ägyptischen Frauen. Sie sind stark und gesund. Bevor noch eine Hebamme zu ihnen kommt, haben sie schon geboren.« Deshalb ließ Gott es den Hebammen gut gehen. Und das Volk wuchs und wurde immer stärker. Weil die Hebammen also der Gottheit die Ehre gaben, stärkte sie deren Familien. Pharao auf der anderen Seite wies sein ganzes Volk an: »Jeden neugeborenen Jungen werft in den Nil, alle Mädchen lasst am Leben!«
Obwohl mit Vers 15 ein neuer Spannungsbogen innerhalb der Erzählung einsetzt, bleibt die zu verhandelnde Thematik weitgehend identisch: Wieder ist es die Dezimierung des hebräischen Volkes, die im Mittelpunkt des plots steht; wieder verlässt die Erzählstimme die Ebene der erzählten 90 | Siehe hierzu Knapp/Wetterer (Hg.): Achsen der Differenz. 91 | Dieser Kommentar der Erzählstimme lässt entweder mutmaßen, dass diese Einblick in das Innenleben der Figuren hat oder dass sie sich zumindest das Recht herausgreift, die Gefühlslage der Ägypter_innen zu bestimmen.
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Handlung und bildet die Worte der Figuren stattdessen in der direkten Rede ab. War es zuvor die körperliche Ermüdung, die das Ziel der königlichen ›Biopolitik‹ mehr oder minder von innen heraus herbeiführen sollte, wird diese passive Strategie zugunsten einer unmittelbaren Tötungsmaßnahme geändert. Ausgerechnet zwei Hebammen92 bestimmt Pharao für die Umsetzung des geplanten Genozids. Die Frauen, deren Aufgabe es ist, zum Leben zu verhelfen, werden gezwungen zu töten. Hatte das hebräische Volk93 die Unterdrückung bislang scheinbar tatenlos erduldet,94 sind es nun Schifra und Pua, die für die ›Armen‹ eintreten und Widerstand leisten: »The ›Hebrew midwives‹ refused to obey the king’s orders and their resistance is the beginning of liberation […].«95 Wie kann die Entscheidung des Königs begründet werden; warum wählt er gerade die Hebammen für sein Vorhaben aus? Während aus Versen wie Jer 20,15 oder Hi 3,3 zwar hervorgeht, dass den Vätern die Geburt ihrer Kinder gemeldet wird, sind keine Belege über ihre Anwesenheit beim tatsächlichen Hergang zu finden.96 »[…] Bei der Geburt ist nach der orientalischen Sitte der Vater des Kindes nicht dabei; die Hebamme ist allein – also ohne Zeugen […].«97 Da der Raum der Geburt98 im Zuge dieser Einsichten ausdrücklich für Frauen bestimmt ist, könnte es dieses ›schützende‹ Umfeld sein, wel92 | Im Anschluss an die Exposition ist anzunehmen, dass die Geburtshilfe ein spezifisches Aufgabenfeld darstellt, welches oftmals von religiös qualifizierten Frauen ausgeführt wird (vgl. Ilse Müllner: Hebamme. In. WiBilex 2012, www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/ hebamme-2/ch/85fd49bbbe971a869234bbf39f037493/[Stand: 18.04.2013]). 93 | In Ex 1,15-16 begegnet nun erstmalig der Ausdruck ›Hebräer‹ bzw. ›Hebräerin‹. Im Unterschied zur Bezeichnung ›Israelit_in‹ trägt der Begriff ›Hebräer_in‹ eine soziale Färbung. Die Bezeichnung wird gerade dann verwendet, wenn Israel als »unterdrückte, ausgebeutete und marginalisierte Volksgruppe« (Albertz: Exodus 1-18, S. 50) hervortritt. 94 | Vgl. Scholz: Was Befreiung aus »seiner« Sicht bedeutet, S. 27. 95 | Pixley: Liberation Criticism, S. 149. 96 | Vgl. Katrin Finsterbusch: Geburt (AT). In: WiBilex, 2008, www.bibelwissen schaft.de/nc/wibilex/dasbibellexikon/details/quelle/WIBI/zeichen/g/referenz/ 19062/cache/fdd22cadcf62921fef79bb0ad765c8a8/(Stand: 15.12.2012). 97 | Zenger: Das Buch Exodus, S. 35. 98 | Ebenso wie das Feld markiert der Raum der Geburt ein spatial frame.
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ches Schifra und Pua zum Widerstand bewegt und sie im Weiteren dazu motiviert, die folgenden Informationen weiterzureichen: »Die Hebräerinnen sind anders als die ägyptischen Frauen. Sie sind stark und gesund. Bevor noch eine Hebamme zu ihnen kommt, haben sie schon geboren.« (Ex 1,19) Entlang der Differenzlinien ›Rasse‹/Ethnizität, Körper und Geschlecht erfolgt eine naturalistische Argumentationsweise, in deren Folge die Geburtshelferinnen das ägyptische Volk aufgrund eingeschränkter Vitalität als schwächer abbilden. Weil weder vonseiten des Königs99 noch der Erzählstimme Kritik an den Differenzkategorien hörbar wird, ist es nun Israel, das sich auf Kosten von Ägypten profilieren kann. Mithilfe ihrer vermeintlichen Wissensautorität gelingt es den Hebammen die Pläne des Königs zu durchkreuzen. Die zunächst negativ konnotierte seperate female sphere100, die aller Voraussicht nach den Ausgangspunkt für die Wahl des Königs markiert hatte, bildet nun die Basis für die Überlegenheit der Frauen. Auf Grundlage des Geschlechts generiert die räumliche Grenze eine ingroup101, deren Zugehörigkeit neben Geschlecht und Körper außerdem in der Differenz von Wissen gegenüber der outgroup ausgedrückt wird, welcher der König angehört. »Because of the ambiguous language of the text […], it is unclear wether the two women are themselves Hebrews or midwives to the Hebrews.«102 Im Anschluss an die Übersetzung können die Hebammen nicht ein99 | Mit Rainer Albertz musste sich der König »den beiden Frauen geschlagen geben; er konnte den Sachverhalt nicht nachprüfen, weil die Geburt im alten Israel allein eine Sache der Frauen war, zu der kein Mann Zutritt hatte (Jer 20,15)« (Albertz: Exodus 1-18, S. 51). 100 | Drorah O’Donell Setel diskutiert in women in leadership, einem Teilkapitel ihres Exodusbeitrags, das Auftreten weiblicher Protagonistinnen in Führungsrollen. Sie gelangt zu der Einsicht, dass Frauen zwar als Anführerinnen begegnen, dass diese Position jedoch immer mit spezifischen Einschränkungen einhergeht – beispielhaft nennt sie in diesem Zusammenhang die seperate female sphere (vgl. Drorah O’Donnell Setel: Exodus. In: Carol A. Newsom/Sharon H. Ringe [Hg.]: Women’s Bible Commentary. Louisville (KY) 1998, S. 30-39, hier S. 33). 101 | Im Anschluss an die Infragestellung von Binaritäten ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass diese Gegenüberstellung keinesfalls normativen Anspruch erhebt – die Grenzen zwischen den Gruppen sind grundsätzlich als dynamisch und veränderbar vorauszusetzen. 102 | O’Donnell Setel: Exodus, S. 34.
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deutig einem der beiden Völker, weder Ägypten noch Israel, zugeordnet werden. Während aus logisch-sachlicher Perspektive eine ägyptische Herkunft der Geburtshelferinnen anzunehmen ist, erscheint mit Blick auf die Namen ein hebräischer Hintergrund naheliegender:103 Im Gegensatz zum König wissen wir von den beiden Frauen, dass sie Schifra und Pua genannt werden. Ihre Namen, die in der Regel mit Schönheit und Glanz104 übersetzt werden, »[…] klingen unverfälscht hebräisch«.105 Dass Pharao ebenso wie die anderen Könige im Exodus namenlos bleibt und keinen Titel trägt, könnte hier einerseits zur Profilierung der Geburtshelferinnen beitragen, anderseits eine symbolische Funktion der Machtrepräsentation erfüllen: Mit Pharao etabliert die Erzählstimme eine Figur, die repräsentativ für zeitlose Erfahrungen im Horizont von Herrschaft und Unterdrückung steht. Aufgrund der fehlenden Informationen, die für eine historische Verortung des Königs nötig wären,106 kann dieser als Erinnerungsfigur dienen. Auch angesichts der Annahme einer Textgenese im babylonischen Exil beziehungsweise in der Perserzeit107 gewinnt diese These an Stichhaltigkeit. Im Exil und in der darauffolgenden Phase lebt Israel in einer ständigen Abhängigkeitssituation, die ein autonomes Handeln unmöglich macht. Dass in den exilischen und nachexilischen Texten
103 | Vgl. Albertz: Exodus 1-18, S. 49. 104 | Auf Basis einer Herleitung aus dem Ugaritischen ist die Bedeutung ›Mädchen‹ (pgt) ebenfalls möglich (vgl. Müllner: Hebamme). 105 | Jopie Siebert-Hommes: Die Retterinnen des Retters Israels. Zwölf ›Töchter‹ in Ex 1 und 2. In: Irmtraud Fischer/Mercedes Navarro Puerto/Andrea Taschl-Erber (Hg.): Tora. Stuttgart 2010, S. 276-291, hier S. 281. 106 | Einige Indizien des Textes legen es nahe, die Figur des Pharaos in einen Zusammenhang mit Ramses II (ca. 1303 v. Chr.-1213 v. Chr.) zu bringen. 107 | Mit der Eroberung des Südreiches Juda durch Nebukadnezar (605-562 v. Chr.) im 6. Jahrhundert v. Chr. werden große Teile der judäischen Bevölkerung nach Babylon exiliert. In dieser Lage, die sowohl in individueller als auch in kultureller und politischer Hinsicht als katastrophal wahrgenommen wird, vergewissert sich das Volk in schriftlicher Weise der eigenen Tradition (vgl. Burkard Porzelt: Grundlinien biblischer Didaktik. Bad Heilbrunn 2012, S. 18). In der Perserzeit, in welcher die Erlebnisse und Gefühle der Deportation nach Babylon sicherlich noch lebendig waren, hat dann ein Großteil der Tora seine endgültige Gestalt gefunden (vgl. Zenger/Frevel: Einleitung in das Alte Testament, S. 153).
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Entrüstung anlässlich Israels Unterordnung aufscheint, wäre durchaus denkbar. Obschon im Anschluss an die semitische Ableitung der Namen eine hebräische Herkunft von Schifra und Pua konstatiert werden kann, stellt sich die Frage, ob der König in dieser Angelegenheit auf die Verschwiegenheit und Loyalität der ›fremden‹ Frauen vertraut.108 Dass hebräische Hebammen Zugang zu den Geburtsräumen der Ägypterinnen haben oder aber Gegenteiliges der Fall ist, überzeugt zuletzt nur unter der Voraussetzung, dass die beiden Völker tatsächlich ein reges Miteinander pflegen. Erst aufgrund der hybriden beziehungsweise unklaren Herkunft von Schifra und Pua ist ihr Dienst innerhalb beider Völkergruppen nachvollziehbar.109 Der Raum der Geburt zeigt sich dann nicht nur als ein Raum, dessen Zutritt ausschließlich Frauen vorbehalten ist; er fungiert darüber hinaus als Forum des interkulturellen Dialogs. Selbst- und Fremdrepräsentationen verlieren hier ihren gesicherten Status und werden zum Verhandlungsort zweifacher Alteritätserfahrung.110 Stößt dabei das jeweilige Konstrukt der eigenen Identität auf ein alternatives Denkkonzept, »wird das […] binäre Inklusions-/Exklusionsschema ›Wir versus Sie‹ temporär destabilisiert«.111 Durch die Ambiguität, welche die Leerstelle evoziert, gestattet die Erzählung eine Lesart, die dazu motivieren kann, die Grenzen nationalistischer, ethnischer und geschlechtlicher Engführungen zu überwinden.112
108 | Bibelausgaben wie Septuaginta und Vulgata übersetzen mit einer Genetivverbindung, sie verwenden die Formel ›die Hebammen der Hebräerinnen‹. 109 | Im Zuge der Interpretation werden oftmals Verbindungslinien zu den ägyptischen Göttinnen Isis und Nephtys gezogen. Der Mythos erzählt die Geschichte zweier Hebammen, die vom Gott Ré gesandt werden, um die Geburt des Nachwuchses positiv zu beeinflussen. Im Unterschied zum Exodusprolog heißt es dort allerdings, ›haltet die Kinder am Leben‹ (vgl. Siebert-Hommes: Die Retterinnen des Retters Israel, S. 281). Einige Ausleger_innen kritisieren, dass lediglich zwei Hebammen für eine so große Gruppe verantwortlich sein sollen. Das Problem wird gelöst, indem Schifra und Pua als Vertreterinnen ihrer Zunft betrachtet werden (vgl. Fischer/Markl: Das Buch Exodus, S. 33). 110 | Vgl. Lösch: Begriff und Phänomen der Transdifferenz, S. 35. 111 | Ebd., S. 36. 112 | Vgl. ebd.
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»Wenn ihr den Hebräerinnen bei der Geburt113 beisteht und am Geschlecht erkennt, dass es ein Junge ist, dann sollt ihr ihn töten; ist es ein Mädchen, lasst es leben.« (Ex 1,16)114 Warum dürfen die Töchter am Leben bleiben, wieso müssen die Söhne sterben? Obwohl einige Exeget_innen den Befehl des Königs als fehlerhaft beziehungsweise als Irrtum deuten, kann die geschlechtsbasierte Unterscheidung infolge des Handlungsverlaufs auch als taktisches Kalkül seitens Pharao verstanden werden. Sein Befehl fügt sich zentral in die Linie der oben skizzierten ›Biopolitik‹ ein. »Das Denken in militärischen Kategorien, das Zählen von Soldaten und Waffen, das Protzen mit der eigenen (militärischen) Stärke und Überlegenheit – getarnt als ›Sicherheitsdenken‹ – bestimmt diesen König.«115 Weil die Identität einer Ehefrau im antiken Israel aus der des Ehemanns abgeleitet wird, ist es ebenso denkbar, dass die hebräischen Frauen nach Ägypten einheiraten sollen, um assimiliert zu werden. Die Konsequenz wäre ein nicht-reproduktionsfähiges, männerloses Volk, welches in dieser Gesellschaftsform nicht nur seine Identität, sondern zugleich seine Geltungsmacht verliert. Da ethnische Mehrfachzugehörigkeiten und Hybridisierung in Anlehnung an das traditionelle Bewusstsein um Reinheit und Einheit für gewöhnlich aber tabuisiert sind,116 erscheint diese These
113 | Was hier frei mit Geburt übersetzt wird, kann wörtlich mit ›den beiden Steinen‹ wiedergeben werden. Während einige Ausleger_innen die Bezeichnung als Analogie zu den männlichen Genitalien lesen, liegt es näher, tatsächlich von Steinen bzw. Ziegelsteinen auszugehen, auf welchen die Frauen ihre Kinder kniend gebären (vgl. Albertz: Exodus 1-18, S. 50). Aus einigen alttestamentlichen Texten kann ferner abgeleitet werden, dass die Lebensfähigkeit der Säuglinge durch das Legen auf die Steine überprüft wurde (vgl. Siebert-Hommes: Die Retterinnen des Retters Israel, S. 281). 114 | Der hebräische Text drückt sich an dieser Stelle missverständlich aus, so folgt auf das Substantiv ›Mädchen‹ das Pronomen ›er‹ – Er, dass Mädchen soll leben. Im Anschluss an Fischer/Markl kann diskutiert werden, ob hierbei ein Versprecher seitens des Königs vorliegt, oder aber Hinweise auf mangelnde Sprachkompetenz (vgl. Fischer/Markl: Das Buch Exodus, S. 34). 115 | Elisabeth Ellmenreich: Pua und Schiphra – zwei Frauen im Widerstand. In: Eva Renate Schmidt/Mieke Korenhof-Scharffenorth/Renate Jost (Hg.): Feministisch gelesen. Stuttgart 1988, S. 39-45, hier S. 40. 116 | Vgl. Lösch: Begriff und Phänomen der Transdifferenz, S. 38.
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problematisch.117 Im Zuge der Überfremdungsangst, die wesentlich in der gruppengebundenen Differenzierung zwischen Eigenem und Fremden aufgeht, kann eine Assimilation tendenziell ausgeschlossen werden. Weil die Geburt eines Sohnes den Erhalt des Volkes gewährleistet, ist der Auftrag des Königs eher im Kontext einer religiösen Motivlage zu diskutieren: In der Wahrnehmung Israels werden männliche Nachkommen als Garant des eigenen Fortbestehens betrachtet. Die Geburt eines Sohnes, dem Träger der göttlichen Verheißung, ist für die gesamte Gemeinschaft, insbesondere aber für die Mütter, von essenzieller Bedeutung: Die soziale Stellung einer Frau wird zunächst zwar zentral an ihre Fruchtbarkeit gekoppelt – im Weiteren allerdings unmittelbar an das Geschlecht des Kindes.118 Das Herstellen von Ungleichheit via Körper und Geschlecht ist im Zuge des Verheißungsnarrativs, so scheint es, untrennbar mit der religiösen Sphäre beziehungsweise mit dem Weltbild Israels verknüpft: Durch ihren normativen Charakter tradiert und befiehlt Religion als soziale und dynamische Kategorie119 Denkweisen und Praxen, in deren Zuge die israelitischen Frauen als minderwertig wahrgenommen, vermittelt und behandelt werden. Dass ein solches System Bestand haben kann, lässt sich mutmaßlich auch auf Mechanismen zurückführen, in deren Horizont die Unterdrückten aktiv an der Reproduktion der Pression und
117 | Die Mischehe meint die Ehe zwischen Israelit_innen und Angehörigen fremder Völker. Obschon einige Passagen des Pentateuchs die Endogamie (Ehe innerhalb der Großfamilie/Sippe) bevorzugen, ist die Einstellung der alttestamentlichen Texte angesichts von Mischehen nicht einheitlich (vgl. Oliver Dyma: Ehe [AT]. In: WiBilex, 2010, www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sach wort/anzeigen/details/ehe-at-3/ch/3d6d29b1010bc69c1e5884cbf386c3ee/ #h18 [Stand: 15.05.2013]). 118 | Vgl. Wolfgang Zwickel/Sabine Kersken: Frauenalltag im biblischen Israel. Stuttgart 2005, S. 55. 119 | Religion wird dabei ebenso wie andere soziale Kategorien als dynamisch und veränderbar aufgefasst. Siehe hierzu Ulrike Auga: Geschlecht und Religion als interdependente Kategorien des Wissens. Intersektionalitätsdebatte, Dekonstruktion, Diskursanalyse und die Kritik antiker Texte. In: Eisen/Gerber/Standhartinger (Hg.): Doing Gender – Doing Religion, S. 37-74.
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struktureller Gewalt120 partizipieren. Infolge der virilokalen Eheform121 gehört es zum Alltag des antiken Israels, dass Töchter ihr Elternhaus verlassen und in die Familie des Ehemanns integriert werden. Mit Blick auf die Zukunft und das Alter liegt die Versorgung der Eltern in der Verantwortung der Söhne, die damit eine Art ›Sozialversicherung‹ für Vater und Mutter sind.122 Die patriarchale Gesellschaftsform begegnet in dieser Konsequenz als ein sich selbst erhaltendes System, in dem Frauen durch die Reduzierung auf ihre Reproduktionskraft zentral an der ethnischen, nationalen, ideologischen, ökonomischen, geschlechtsspezifischen, politischen und sozialen Festigung des Volkes teilhaben und darüber definiert werden.123 Biblisches Erzählen ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass detaillierte Beschreibungen die Seltenheit bilden und stattdessen die Handlungen der jeweiligen Figuren im Vordergrund stehen. Auch in der Exposition erhalten die Rezipient_innen wenig Einblick in die emotionale Verfasstheit der Protagonist_innen. »Über die Gefühle der Frauen, etwa ihre Angst oder Motive, erfahren wir nichts.«124 Tatsächlich kann lediglich antizipiert werden, wie die beiden Völker, die Mütter und Väter, die Kinder, die Fronaufseher_innen und der König gedacht und empfunden haben. Während die Erzählstimme die Leser_innen über die Gefühlslage der Figuren weitgehend im Ungewissen lässt, durchbricht sie das ge120 | Der Ausdruck bzw. das Konzept der strukturellen Gewalt wurde von Johan Galtung geprägt. Mit Galtung meint »strukturelle Gewalt die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist« (Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 12). 121 | Virilokal meint, dass die Ehepartner im Haus der Familie bzw. beim Vater des Ehemanns leben. 122 | Vgl. Bernd Biberger: Sohn/Tochter (AT). In: WiBilex 2009.www.bibelwissen schaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwor t/anzeigen/details/sohntochter-at-3/ch/48b78875b632f5f4b6b44fe2945a642f/#h3 (Stand: 20.04. 2013). 123 | Vgl. Yee: Postcolonial Biblical Criticism, S. 219f. 124 | Helen Schüngel-Straumann: Anfänge feministischer Exegese. Gesammelte Beiträge, mit einem orientierenden Nachwort und einer Auswahlbibliographie. Münster 2002, S. 263.
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wohnte Muster zugunsten von Schifra und Pua: »Aber die Hebammen verehrten Gott und taten nicht das, was der ägyptische König ihnen gesagt hatte. Sie ließen auch die männlichen Kinder am Leben.« (Ex 1,17) Im Anschluss an die Erzählstimme markiert die Gottesfurcht der Hebammen das handlungsleitende Motiv, um den Widerstand gegen die königliche beziehungsweise göttliche Herrschaft Ägyptens zu leisten. 125 Auf sehr subversive, wohl aber effiziente Weise, unterwandern Schifra und Pua den Befehl von Pharao. In der gesamten Exoduserzählung bleiben die Geburtshelferinnen damit die einzigen Frauen, die in einer politischen Sphäre agieren und aktiv mit der Obrigkeit in Kontakt treten.126 Ihr Protest deutet dabei nicht nur Kritik an einem Staat an, in dem König und Gottheit(en) in einer Person verkörpert sind, angesichts einer ägyptischen Herkunft kann er ferner als Verleugnung dieser Gesellschaftsform gelesen werden.127 Dass hier ein theologischer Zusammenhang evident wird, ist auch deshalb schlüssig, da auf die Handlung der Hebammen unverzüglich eine göttliche Reaktion folgt: »Deshalb ließ Gott es den Hebammen gut gehen. Und das Volk wuchs und wurde immer stärker. Weil die Hebammen also der Gottheit die Ehre gaben, stärkte sie deren Familien.« (Ex 1,20-21) Das Erstarken des Volkes als Folge des Handelns der Geburtshelferinnen wird von der Erzählstimme theologisch begründet. Es sind nicht die Söhne, die das Fortbestehen Israels gewährleisten, sondern Gott, der hier erstmals als Figur hervortritt.128 Gottes schöpferisches Handeln konterkariert die ›Biopolitik‹ des Königs: »Und das Volk wuchs und wurde immer stärker.« (Ex 1, 20)
125 | Der Pharao agiert nicht nur als politischer Herrscher, sondern zugleich als Repräsentant Gottes auf Erden (vgl. Annette Schellenberg: Der Mensch, das Bild Gottes? Zum Gedanken einer Sonderstellung des Menschen im Alten Testament und in weiteren altorientalischen Quellen. Zürich 2011, S. 335). 126 | Vgl. O’Donell Setel: Exodus, S. 34. 127 | Für das letztgenannte Verständnis spricht mit Blick auf die hebräische Textgrundlage der Ausdruck Elohim, der im Unterschied zur Bezeichnung JHWH nicht auf einen spezifischen Gott referiert, sondern eine beliebige Gottheit meinen kann (vgl. Albertz: Exodus 1-18, S. 51). 128 | Siehe hierzu Fischer/Markl: Das Buch Exodus, S. 34. Da die Erzählstimme bereits vorher erklärt, dass Schifra und Pua gottesfürchtig sind, kann der göttliche Segen darüber hinaus auf die Zuverlässigkeit der Erzählstimme hinweisen.
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Mit dem Volks- respektive Familiensegen gelangt die Erzählung gewissermaßen zu ihrem glücklichen Ausgang: Alle Kinder leben – statt von Pharao bestraft zu werden, erhalten die Hebammen Gottes Zuspruch – das Spiel der Mächte entscheidet sich zugunsten der Hebräer_innen. Wenngleich der Schlusspunkt an dieser Stelle mehr als passend erscheint, auch weil er den exilischen/nachexilischen Adressat_innen Hoffnung spendet,129 kommt die Erzählung hier nicht zu ihrem Ende: »Pharao auf der anderen Seite wies sein ganzes Volk an: ›Jeden neugeborenen Jungen werft in den Nil, alle Mädchen lasst am Leben!’« (Ex 1,22) Infolge des wiederholten Misserfolgs befiehlt der König nun allen Ägypter_innen, die männlichen Säuglinge zu töten. Der ›göttliche‹ Nil,130 welcher in seiner Funktion als Lebensader Ägyptens131 einer der wesentlichen Gründe für die Einwanderung der Hebräer_innen darstellt, wird in sein Gegenteil verkehrt. Statt Fruchtbarkeit zu schenken, wird sie vernichtet – wieder wirken Raum und Figuren zusammen um das ›Setting‹ hervorzubringen. Während der samaritanische Septuagintatext hier die Spezifizierung einfügt, dass die Neugeborenen hebräischer Herkunft sein sollen, verzichtet die masoretische Erzählung auf diesen Hinweis.132 Mit der Anmer-
129 | Vgl. Albertz: Exodus 1-18, S. 51. 130 | In der ägyptischen Schöpfungsvorstellung ist der Nil von tragender Bedeutung. Das jährliche Ansteigen des Flusses verstanden die alten Ägypter_innen als immer wiederkehrendes Zeichen für die Entstehung des Universums. Das Fruchtbarkeit schenkende Wasser, welches als ›Schweiß‹ oder ›Ausfluss des Osiris‹ interpretiert wird, sorgt für die Fruchtbarkeit des ägyptischen Bodens. Als Garant der kosmischen Balance und Wächter der Flut war der Pharao in einem jährlichen kultischen Akt verantwortlich für den Vorgang (vgl. Laetitia Gallet: Der Nil in der ägyptischen Religion. Geschichte von der Quelle des Lebens. In: Welt und Umwelt der Bibel, 1, 2004, S. 4-7, hier S. 6). 131 | Der Nil bildet die Basis der ägyptischen Grundversorgung, er beeinflusst das(land-)wirtschaftliche und soziale Leben, die Rechts- und Kultpraxen. Jahreszeiten und Kalender orientieren sich an den Wasserständen des Flusses (vgl. Fayza Haikal: Wasserbilder in der altägyptischen Literatur. Eine Zivilisation aus dem Fluss. In: Welt und Umwelt der Bibel, 1, 2004, S. 26-29, hier S. 26). 132 | Albertz deutet die fehlende Konkretisierung als Zeichen der Erregung des Königs (vgl. Albertz: Exodus 1-18, S. 52). Fischer und Markl sehen darin ein Indiz für die Unbeherrschtheit von Pharao (vgl. Fischer/Markl: Das Buch Exodus, S. 34).
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kung, dass alle Mädchen am Leben bleiben sollen, gelangt die Exposition an ihr Ende.
S CHLUSS Die Exposition des Exodusbuches führt zurück zum Beginn der Gründungsgeschichte Israels. Nachdem Josef seine Familie nach Ägypten gerufen hat, erfüllt sich hier die göttliche Verheißung: Die Hebräer_innen sind fruchtbar und werden stark; die Familie wächst zu einem Volk heran. Nach einer Phase der Harmonie zwischen Israel und Ägypten setzt mit der zweiten Generation hebräischer Migrant_innen ein gesellschaftspolitischer Wandel ein, in dessen Folge Israel seiner Freiheit beraubt, es physisch und verbal attackiert wird. Während die ›Einwanderungsgeschichte‹ (V.1-7) als Grundlage für die Volkserzählung zunächst in die Vergangenheit zurückblickt, berichtet die zweiteilige ›Unterdrückungsgeschichte‹ (V.8-22) vom Aufstieg eines neuen Königs, von der Angst der Unterlegenheit, von unterschiedlichen Formen des Widerstandes. Alle Maßnahmen, die im Verlauf der Erzählung ergriffen werden, um die ›Bedrohung‹ durch das fremde Volk abzuwenden, scheitern. Trotz Unterdrückung erleben die marginalisierten Hebräer_innen ein rasantes Bevölkerungswachstum – und die vermeintliche Binarität gerät ins Wanken: »Da fürchtete sich Ägypten vor Israel.« (Ex 1,12) Die narratologisch-intersektionale Analyse der Exposition zeigt, dass auch dort, wo Vielfalt in antiken Texten anzutreffen ist, spezifische alteritätsstiftende Strategien hervortreten. Diversität evoziert hierbei insbesondere Fragen nach der Verschränkung von Differenzkategorien, der diskursiven Herstellung von Ungleichheit und ihrer Ereignishaftigkeit133 in der erzählten Welt. Theorien und Arbeitsweisen, die klassischerweise außerhalb des Faches beheimatet sind, können als inspirierende Dialogpartner im exegetischen Gespräch agieren, um Interdependenzen und Dynamiken von Differenzkonstruktionen aufzudecken und ihre narrative Funktion freizulegen.
133 | Siehe hierzu: Schmid: Elemente der Narratologie, S. 11-18.
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Benötigtes Leben Literatur als Medium zur kritischen Auseinandersetzung mit der Lebendorgantransplantation Solveig Lena Hansen
»Ich habe wohl geglaubt, mein Leben ist mein Besitz«, schwafelte ich. »Etwas, über das ich frei verfüge und über das niemand anders etwas zu sagen hat. Aber jetzt denke ich anders. Mir gehört mein Leben überhaupt nicht, es gehört anderen.«1
Im Mittelpunkt von Ninni Holmqvists Roman Die Entbehrlichen (2008) steht die Schriftstellerin Dorrit Wegner, die seit ihrem fünfzigsten Geburtstag zu den ›Entbehrlichen‹ der schwedischen Gesellschaft gehört. ›Entbehrlich‹ sind in diesem Szenario alle Frauen über fünfzig und Männer über sechzig, die alleinstehend und kinderlos sind oder ihre ›Nützlichkeit‹ für die Gesellschaft nicht anderweitig unter Beweis stellen konnten. Sie werden in eine »Reservebankeinheit für biologisches Material« (DE, S. 21) eingewiesen, in der sie sowohl für Humanexperimente als auch für Organspenden bis zu ihrem Tod zur Verfügung stehen müssen. Es kann mehrere Jahre dauern, bis sie zur »Endspende« (DE, S. 101) aufgefordert werden, bei der ihnen die überlebenswichtigen Organe entfernt werden. Die gewonnenen Organe gehen nach dem Prinzip der Nützlichkeit an von der Gesellschaft ›benötigte‹ Personen, wobei die Empfänger_innen nicht wissen, von wem die jeweiligen Organe stammen. Das System, welches Holmqvist in diesem Roman entwirft, ist äußerst ambivalent: Zwang im äußerlichen Sinne (Gewalt) wird nicht ausgeübt, und die ›Einheit‹ ist demokratisch durch Volksabstimmung legitimiert. Dennoch trägt sie deut1 | Ninni Holmqvist: Die Entbehrlichen. München 2008, S. 102. Das schwedische Original, Enhet (schwedisch für ›Einheit‹), stammt aus dem Jahr 2006. Im Folgenden direkt im Text zitiert als DE.
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lich dystopische Züge einer Isolation, aus der es kein Entkommen gibt und in der die Betroffenen durch subtile Machtmechanismen zum Handeln im Sinne einer unbekannten, aber doch deutlich spürbaren Obrigkeit gebracht werden. Obgleich ein solches Transplantationssystem für den schwedischen wie deutschen Kontext derzeit unwahrscheinlich erscheint, provoziert der Roman doch verschiedene ethisch wie politisch relevante Fragen: Ist es legitim, Personen für Forschungsexperimente zu rekrutieren, von deren Ergebnissen sie selbst nicht profitieren? Nach welchen Kriterien verteilen wir knappe Güter wie Organe? Was spricht dafür oder dagegen, Organe nach dem Prinzip der sozialen Nützlichkeit zu verteilen? Welche Bedingungen sind notwendig beziehungsweise hinreichend für eine altruistisch-freiwillige Organspende? Durch die autodiegetische Erzählinstanz, die Ich-Erzählerin des Romans, werden derartige philosophische Fragen mit interner Fokalisierung erzählt, was die oben aufgeworfenen abstrakten Punkte mit einer fiktionalen, persönlichen Lebensgeschichte verknüpft. Damit werden Betroffenheit, emotionale Bindungen und individuelle Beziehungen im Zusammenhang mit ethischen und gesellschaftlichen Aspekten zur Lebendorgantransplantation verhandelt. Eben jene individuellen Beziehungen sind es, die an Dorrits Lebensgeschichte in der ›Einheit‹ hervorstechen. Denn sie trifft dort auf Johannes, mit dem sie zum ersten Mal offen wie ein Liebespaar lebt. Sie wird trotz ihres Alters von ihm schwanger, entscheidet sich, das Kind auszutragen, und kann dadurch weitere neun Monate unbeschadet in der ›Einheit‹ leben. Dorrits Bindung zu ihrem Kind, ist für sie selbst ein Grund, neue Hoffnung zu schöpfen und nicht mehr allein durchs Leben gehen zu müssen; für das System stellt das Kind jedoch nur neues, nützliches Leben dar.2 Dieser situationsbezogene Fürsorgeaspekt von Entscheidungen, der in der Geschichte durch die Schwangerschaft demonstriert wird, ist mit dem Aufkommen der feministischen Ethik in den 1980er-Jahren als Gegensatz zur abstrakten gerechtigkeitsethischen Argumentationsebene betont worden. Prominent vertreten und diskutiert wurden beide Positionen in der sogenannten Kohlberg-Gilligan-Debatte, die beide Argumentationstypen auf eine ›männliche‹ Gerechtigkeitsper2 | So sagt die Leiterin der ›Einheit‹ auf Dorrits Einwand, dass sie durch das Kind nun ein benötigtes Mitglied der Gesellschaft sei, zu ihr: »Nein, Dorrit. Im besten Fall ist dein Kind benötigt. Du bist und bleibst entbehrlich.« (DE, S. 185)
Benötigtes Leben
spektive und eine ›weibliche‹ Fürsorgeperspektive festlegte.3 Im Feld der Medizin diente diese Debatte unter anderem zur Erklärung der gender-disparity-Hypothese im Kontext der Lebendorgantransplantation: gender-disparity meint hier, dass Frauen zwar häufiger als Männer Organe spenden, jedoch auch seltener Organe erhalten.4 Auf Basis der These Gilligans wurde argumentiert, dass dies geschehe, weil Frauen ›fürsorglicher‹ handelten und somit einem traditionellen Rollenbild folgten.5 Im Folgenden werde ich analysieren, inwiefern der Roman Die Entbehrlichen solche ethische Debatten anstoßen und zur Reflexion normativer Prämissen beitragen kann. ›Raum‹ und ›Geschlecht‹ werden dabei als Ordnungskategorien in Holmqvists Geschichte und als Analysekategorien für die ethische Debatte fruchtbar gemacht. Des Weiteren wird untersucht, wie der Roman dazu beitragen kann, derzeitige Abhängigkeiten in der Praxis der Lebendorganspende kritisch zu beleuchten.
L ITER ATUR ALS E THISCHES G EDANKENE XPERIMENT Ähnlich wie in aktuellen Forschungen, die die Parallelen von fiktionalnarrativen Elementen im wissenschaftlichen wie im literarischen Raum betonen,6 wurde in den letzten Jahren auch in der deutschen Debatte die Ähnlichkeit beider Felder hervorgehoben. So schreibt beispielsweise Sigrid Weigel: Einerseits wird die Fiktion als spezifische Ausdrucksform von Literatur und Kunst begriffen und aus dem Horizont einer ernsthaften wissenschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen. Andererseits gehört die Fiktion zum festen Bestand wissenschaftlicher Erkenntnismedien, ist sie doch in Form des Gedankenexperiments
3 | Vgl. Gabriel D. Donleavy: No Man’s Land: Exploring the Space Between Gilligan and Kohlberg. In: Journal of Business Ethics, 80, 4, 2008, S. 807-822. 4 | Vgl. Mona Motakef/Sabine Wöhlke: Ambivalente Praxen der (Re-)Produktion. Fürsorge, Bioökonomie und Geschlecht in der Lebendorganspende. In: Gender, 3, 2013, S. 97f. 5 | Vgl. zu dieser Debatte ausführlich ebd., S. 98f. 6 | Vgl. z.B. die Beiträge in Roman Frigg/Matthew C. Hunter (Hg.): Beyond Mimesis and Convention. Representation in Art and Science. Dordrecht 2010.
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seit den Anfängen systematischer wissenschaftlicher Forschung aus dem Arsenal ihrer Instrumentarien nicht wegzudenken.7
Weigel rekonstruiert in diesem Aufsatz aus historischer Perspektive die Ausgrenzung der Fiktion als Erkenntnismedium aus dem Bereich der ›harten Wissenschaften‹. Dies impliziere ein Verständnis des Fiktionalen als etwas ›Unwissenschaftlichem‹, was historisch zu einer Höherwertung der Naturwissenschaften geführt habe, wenngleich diese ebenfalls fiktionale Modelle verwende.8 Aus synchroner Perspektive wird von anderen Positionen angenommen, Literatur sei eine Erprobung von Argumenten, die den gleichen Status wie philosophische Gedankenexperimente hätten.9 Auch wenn es stimmt, dass philosophische Gedankenexperimente fiktional sind, kann dieser These nur bedingt zugestimmt werden. Denn bei einem philosophischen Gedankenexperiment findet die Darstellung, Beurteilung und Funktionalisierung von Szenarien in ein und demselben Text statt, während der zweite und dritte Schritt bei literarischen Werken in der Regel textextern erbracht wird. Solch ein formaler Unterschied hat weitreichende Implikationen: Literarische Werke unterliegen anderen Distributions- und Funktionsmechanismen als wissenschaftliche Texte. Ein entscheidendes Merkmal besteht in ihrer Polyvalenz und Ästhetik, die sie von wissenschaftlichen Texten unterscheidet.10 Ich gehe deswegen davon aus, dass Literatur nicht dem Gedankenexperiment als solchem gleichgesetzt werden kann. Literatur ist vielmehr ein Szenario zur Vorstellung möglicher Situationen, das uns auffordert, eine Situation
7 | Sigrid Weigel: Das Gedankenexperiment: Nagelprobe auf die facultas fingendi in Wissenschaft und Literatur. In: Thomas Macho/Annette Wunschel (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt a.M. 2004, S. 183. 8 | Vgl. ebd., S. 185. 9 | Vgl. zu diesen Argumenten und ihrer Stichhaltigkeit auch Tobias Klauk: Thought Experiments and Literature. In: Dorothee Birke/Michael Butter/Tilmann Köppe (Hg.): Counterfactual Thinking – Counterfactual Writing. Berlin/New York 2011, S. 30-44. 10 | Vgl. Fotis Jannidis: Polyvalenz – Konvention – Autonomie. In: Ders./Gerhard Lauer/Matías Martinez/Simone Winko (Hg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin/New York 2003, S. 305-328.
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zu bewerten, und dabei zur Reflexion normativer Implikationen dieser Bewertung beitragen kann: Eine Entscheidung darüber, was zu tun gut, ratsam oder richtig ist, hat eine komplexe Struktur (bzw. Vorgeschichte), da normalerweise viele solcher wertenden Einstellungen in sie eingehen. […] Literatur sagt mir meist nicht rundheraus, was ich tun oder wie ich leben soll, sondern sie kann vielmehr verschiedene Elemente eines praktischen Überlegungsprozesses beeinflussen, und es ist dann dieser Überlegungsprozess, der in praktischem Wissen resultiert.11
Die Gegenstände der literarischen Fiktionen sind nach Köppe ›Wissenskandidaten‹, die Leser_innen an faktualen Quellen überprüfen könnten.12 In Anlehnung hieran verstehe ich Literatur wie Utopien und Science Fiction als imaginative ›als ob‹- beziehungsweise ›was wäre wenn‹-Situationen, die ihre Leser_innen mit den Folgen von Technologien für Individuen und Gesellschaften konfrontieren: »Literatur wirft Fragen auf, welche die Medizin nicht zu stellen vermag, Fragen des Zwischenmenschlichen wie des Seins, Fragen, die im medizinischen Alltag in Geschäftigkeit und alltäglicher Routine untergehen.«13 Literatur dient also weniger der Überprüfung von Konsistenz und Kohärenz vorgebrachter Argumente, wie im Falle des klassischen Gedankenexperiments, sondern kann vielmehr als stimulierender, zum Teil auch provozierender Impuls für gesellschaftspolitische und ethische Debatten fungieren.14 Hierfür bilden die Kategorien Raum und Geschlecht eine Grundlage, mit der das kritische Potenzial von Romanen dargelegt werden kann, wie ich im Folgenden zunächst aus methodischer Sicht erläutern werde.
11 | Tilmann Köppe: Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler Werke. Paderborn 2008, S. 171. 12 | Vgl. ebd., S. 157-205. 13 | Bernhard Kathan. Das indiskrete Organ. Organverpflanzungen in literarischen Bearbeitungen. Innsbruck 2008, S. 187. 14 | Diese Funktionen können unter bioethischer Perspektive insbesondere Utopien und Werke der Science Fiction einnehmen, in denen ein alternatives soziales oder zukünftiges Szenario entworfen wird. Sie gilt jedoch nicht notwendigerweise für alle literarischen Texte.
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R AUM UND G ESCHLECHT ALS O RDNUNGSK ATEGORIEN Die räumliche Perspektive erfährt in Bezug auf Literatur eine Dopplung. Nicht nur kann der ›literarische Raum‹ ähnlich wie der ›öffentliche Raum‹ metaphorisch als fiktionaler Bereich des Denk- und Sagbaren verstanden werden, sondern es lassen sich zugleich topografische (physisch-materielle) und topologische (sozial-verhältnismäßige) Strukturen im erzählten Raum selbst analysieren. Insbesondere der Beziehung zwischen beiden Ebenen, der topografischen und der topologischen, trägt die aktuelle Forschung zum Thema ›Raum‹ und die Ausdifferenzierung des spatial turn Rechnung.15 ›Raum‹ wird hier nicht mehr wie im Zuge der kopernikanischen Wende des 18. Jahrhunderts a priori, sprich außerhalb menschlicher Erkenntnis und Vernunft stehend, konzipiert.16 Er wird aber auch nicht vollkommen relational in Abgrenzung zum Containermodell als »(An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten«17 verstanden. Vielmehr lässt sich mit Bezug auf Ansätze der Humangeografie davon ausgehen, dass die geografische Materialität mit dem sozialen Raum in dynamischer Beziehung steht.18 Die Verbindung zwischen beiden Ebenen ist die menschliche Handlung, was dieses Modell für die bioethische Perspektive fruchtbar macht: Denn moralisch relevant und ethisch bewertbar sind genau solche menschlichen Handlungen.19 Geht es nicht mehr um die abstrakt-analytische Ebene räumlicher Ordnungsprinzipien, sondern um ihre konkrete Ausformulierung, lässt 15 | Zu diesen Begriffen vgl. Stephan Günzel: Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen. In: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2003, S. 219-237. 16 | Vgl. Immanuel Kant: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 5 (Schriften zur Metaphysik und Logik 1), Frankfurt a.M. 1968, S. 56-69, Original 1770. 17 | Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a.M. 2002, S. 271. 18 | Vgl. Benno Werlen: Raus aus dem Container. Ein sozialgeographischer Blick auf die aktuelle (Sozial-)Raumdiskussion. In: Ders. (Hg.): Gesellschaftliche Räumlichkeit 2. Konstruktionen geographischer Wirklichkeiten. Stuttgart 2010, S. 254-268. 19 | Vgl. Marcus Düwell: Handlungsreflexive Moralbegründung. In: Ders./Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart/Weimar 2006, S. 152-162.
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sich, wiederum in Anlehnung an humangeografische Ansätze, von Orten sprechen.20 Orte weisen zwar von ihrer grundlegenden Materialität her Elemente auf, die menschliche Handlungen beeinflussen können, werden jedoch erst für Personen relevant, wenn sie als Schauplätze von Handelnden regionalisiert, das heißt mit sozialer Bedeutung versehen werden. Regionalisierung verstehe ich mit Werlen »als eine soziale Definition von physisch-materiellen Kontexten bzw. Schauplätzen in Bezug auf bestimmte Handlungsweisen«.21 Die Grenzen von Regionen können einem solchen humangeografischen Ansatz zufolge auf der geografischen Ebene entweder Markierungen sein, die ›künstlich‹, das heißt durch Menschen gesetzt sind (etwa Grenzpfosten, Mauern, Wachtürme), oder ›natürliche‹ Grenzen wie Berge oder Gewässer. Insbesondere die künstlichen Markierungen stellen symbolische Grenzen für topologische Verhältnisse dar, denn die Gestaltung des Raumes von Menschen für Menschen geht selten ohne die Repräsentation gesellschaftlicher Macht- und Ordnungspraktiken vonstatten.22 Soziale Identitätskategorien wie Alter, Geschlecht, Klasse oder Religion hat Werlen zu Beginn der 1990er-Jahre außer Acht gelassen und deshalb auch Kritik erfahren: An seinem voraussetzungsreichen Handlungsbegriff ist bemängelt worden, dass er zu wenig auf die Strukturiertheit des sozialen Raums eingehe und einzelnen Akteur_innen in idealer Weise Autonomie und einen breiten Handlungshorizont einräume.23 Kritisch ließe sich fragen, ob es bis in die Gegenwart soziale Umstände gibt, die so prägend für die individuellen Akteur_innen sind, dass hier das Erreichen einer Position im sozialen Raum nicht 20 | Peter J. Taylor: Places, Spaces and Macy’s: Place-Space Tensions in the Political Geography of Modernities. In: Progress in Human Geography 31, S. 9-12. 21 | Werlen: Raus aus dem Container, S. 262. Als Bezug dient Werlen hier Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Mit einer Einführung von Hans Joas. Frankfurt a.M./New York 1997. Den Begriff der ›Region‹ verwendet Giddens nicht im geografischen Sinne als materielles Gebiet, das mit seinen Grenzen auf der Karte verzeichnet ist, sondern als Strukturkategorie in Bezug auf menschliches Handeln. 22 | Vgl. Pascal Delhom: Grenzüberschreitungen. Versuch über die Normativität des Raums. In: Thomas Bedorf/Gerhard Unterthurner (Hg.): Zugänge, Ausgänge, Übergänge: Konstitutionsformen des sozialen Raums. Würzburg 2009, S. 83-96. 23 | Zur Kritik an Werlen vgl. Heinz Arnold: Kritik der sozialgeographischen Konzeption von Benno Werlen. In: Geographische Zeitschrift, 86, 3, 1998, S. 135-157.
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nur von persönlichen Handlungen, sondern auch von anderen Faktoren, wie beispielsweise Bildungsstand und Geschlecht geprägt ist. Denn insbesondere für diejeningen, die aufgrund ihres sozialen Hintergrundes als privilegierte Akteur_innen betrachtet werden können, bietet die soziale Position einen großen Handlungsspielraum, mit dem sie den vorstrukturierten sozialen Raum in ihrem Sinne prägen und verändern können. Dass eben diese soziale Positionierung nicht nur die topologische, sondern auch die topografische Ebene des Raums betrifft, ist insbesondere von der feministischen Humangeografie betont worden.24 Denn gerade wenn räumliche Konstellationen als Ausdruck menschlichen Handelns verstanden werden, ist von Interesse, von wem der Raum als Struktur und von wem als Handlungsoption gedacht und genutzt wird. An diesen Gedanken anschließend sind einerseits »[r]äumliche Konstellationen […] unter Rückbezug auf die Handlungsweisen, aus denen sie hervorgegangen sind, zu erklären«25 und andererseits ist der Frage nachzugehen, »welche Handlungsweisen sie ermöglichen (Ermöglichung) und welche sie verhindern (Zwang)«.26 Eine solche ermöglichende Handlungsweise, die konstitutiv für Utopien ist, ist die Kontrolle als »›Durchgangsort‹ von Erkenntnis und Handlung«,27 das heißt die Beobachtung und Reglementierung des sozialen Lebens fiktiver Staaten. Kontrolle, äußerlich nicht nur sichtbar an Grenzübergängen, sondern auch an orwellscher Bildschirmüberwachung oder gar huxleyscher genetischer Determinierung und Züchtung, ist ein Knotenpunkt, an dem sich häufig die Handlungsmacht und das Wissen einiger mit der Handlungsohnmacht und Wissensbegrenzung vieler Protagonist_innen treffen. Auch die materielle Komponente des Raums ist hier sehr entscheidend, da die Architektur in utopischen Staatsentwürfen eine Möglichkeit bietet, soziale Kontrolle auf materielle Grundlagen zu stellen.28 24 | Vgl. dazu einschlägig Doreen B. Massey: Space, Place, and Gender. Minneapolis 1994. 25 | Werlen: Raus aus dem Container, S. 263. 26 | Ebd. 27 | Ebd., S. 267. 28 | Vgl. dazu auch Krishan Kumar: Aspects of the Western Utopian Tradition. In: Jörn Rüsen/Michael Fehr/Thomas W. Rieger (Hg.): Thinking Utopia. Steps into Other Worlds. Oxford/New York 2005, S. 17-31.
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In Holmqvists Roman wird diese Verknüpfung von Materialität und Verhältnissen gleich zu Beginn deutlich – so kommentiert Dorrit ihr Zimmer wie folgt: »Es war komfortabler, als ich es mir vorgestellt hatte.« (DE, S. 6) Die Lebensbedingungen in der ›Einheit‹ haben einen sehr hohen Standard – Informationen gelangen hinein, die Bewohner_innen dürfen Fernsehen und Internet nutzen; ebenso bringen Neuankömmlinge Nachrichten aus der Außenwelt mit, jedoch dürfen keine Nachrichten aus der ›Einheit‹ in die Gesellschaft hinaus versendet werden. Diese Kommunikationsgrenze ist in topografischer wie topologischer Hinsicht relevant: Die materielle Kommunikation ist technisch gesehen nur in eine Richtung durchlässig, was die soziale Kontrolle erst ermöglicht. Letztere wiederum wird dadurch unterstützt, dass die ›Entbehrlichen‹ in völliger Unwissenheit über die Umgebung gelassen werden und dass ihre Suiten keine Fenster haben: »Ich wusste nicht, was jenseits der Wände der ›Einheit‹ war. War es Provinz oder städtische Bebauung? War es die reine Wildnis? Oder ein Industriegebiet? Ich wusste nicht, ob eine der Wände […] nach außen lag […].« (DE, S. 93) Die ansonsten hochwertige materielle Ausstattung der Einzelzimmer steht auf den ersten Blick der gesellschaftlichen Randfunktion der ›Entbehrlichen‹ diametral entgegen – die Zimmer sind komfortabel, sie sind keine Gefängnisse mit schlechten Lebensbedingungen. Doch genau hier wird die Funktionsweise des Systems deutlich: Es zeigt, dass das Leben der Entbehrlichen eben nicht ›entbehrlich‹ ist, sondern benötigt, und deswegen so fürsorglich behandelt wird. Denn obwohl die Gesellschaft ihr Leben aufgrund seiner sozialen ›Nutzlosigkeit‹ in den ersten fünfzig beziehungsweise sechzig Jahren als entbehrlich ansieht, benötigt sie es danach umso mehr. Entbehrlich sind die Personen nur hinsichtlich ihrer Funktionen im sozialen Raum – in ihrer materiell-körperlichen Funktion hingegen sind sie eine erhebliche Stütze des Systems: ›Diejenigen, die das Wachstum und die Demokratie und den Wohlstand sichern, die sind es, denen mein Leben gehört. Ihnen gehört das Leben von uns allen. Und Leben ist Kapital. Ein Kapital, das unter den Bürgern gerecht verteilt werden muss, auf eine Weise, die Reproduktion und Wachstum, Wohlstand und Demokratie begünstigt. Ich selbst bin nur ein Verwalter; ich verwalte meine gesunden Organe. […] Und das Beste, was ich aus dieser Tatsache machen kann, ist, die Situation zu billigen. Sie für sinnvoll zu halten. Sonst kann ich es nicht für sinnvoll halten, dafür zu sterben.‹ (DE, S. 103)
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Aufrechterhalten wird das System auch dadurch, dass den Entbehrlichen ein besonderer Status zugesichert wird und sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl haben, nicht ausgestoßen oder nutzlos zu sein: »Hier kann ich ich selbst sein, auf allen Ebenen, ganz offen, ohne […] verhöhnt zu werden, und ohne zu riskieren, nicht ernst genommen zu werden. Ich werde nicht als Sonderling oder als Ufo oder als lästiges fünftes Rad betrachtet, bei dem die Leute nicht wissen, was sie damit anfangen sollen.« (DE, S. 162) Holmqvist verhandelt hier, auf wessen Kosten eine Gesellschaft funktioniert, wer von ihr ausgeschlossen ist und wie mit ›unnützen‹ Personen umgegangen werden sollte: »Meine alten Freunde draußen in der Gesellschaft, die Eltern geworden waren, hatten mich weiter treffen wollen, […] aber wenn wir uns dann trafen, waren sie distanziert, manchmal herablassend und immer unzugänglich, als wären sie von unsichtbarer Watte umgeben, zumindest in der Zeit, als die Kinder klein waren.« (DE, S. 247) Die topografische Exklusion der Entbehrlichen, sprich ihr materiell begrenzter Handlungsspielraum in der ›Einheit‹, steht für eine topologisch-soziale Exklusion, die schon vor ihrer Einweisung stattgefunden hat. Das ›eingeschlossene‹ Entbehrliche symbolisiert auf der topologischen Ebene das gesellschaftlich ›Ausgeschlossene‹, das sich unter einer raumtheoretischen Perspektive kritisch analysieren lässt. Für die Bioethik öffnet der Roman deshalb die Augen für die Perspektive von Akteur_innen, deren Handlungsspielraum begrenzt ist, und wirft die Frage auf, ob sozial schwachen Akteur_innen in sozialen Räumen, wie beispielsweise dem Gesundheitssystem, eine angemessene Versorgung und Anerkennung zukommt. Zugleich sensibilisiert dieser Roman für die Perspektive individuell Betroffener, für ihre Ängste und Sorgen, die von sozialen und/oder wissenschaftlichen Denkvorstellungen und Normen abweichen können. Anders als die Kategorie des Raums, die als Ordnungs- und Analysekategorie bisher nur eine periphere Rolle für die Bioethik gespielt hat,29 ist die Diskussion um Geschlecht als relevante Kategorie für moralische Entscheidungen in den 1980er- und 1990er-Jahren zumindest in der allgemeinen Moralphilosophie intensiv geführt worden. Auslöser war das prominente Modell der Moralentwicklung des Psychologen Lawrence Kohlberg, das in den 1960er-Jahren durch eine an 72 zehn- bis sechzehn29 | Eine Ausnahme ist Andreas Brenner: Bioethik und Biophänomen. Den Leib zur Sprache bringen. Würzburg 2006, S. 194-230.
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jährigen Jungen durchgeführte Studie entstand. Diese wurde schließlich Anfang der 1980er-Jahre als universelle Theorie formuliert.30 Nach Auswertung der Untersuchung stellte Kohlberg die These auf, dass die Moralentwicklung des Menschen in verschiedene Stadien einzuteilen sei, die das Individuum nacheinander durchlaufe.31 Die Moral des Individuums entwickle sich von einer fremd- zu einer selbstbestimmten. Auf der höchsten – sechsten – Stufe gäbe es eine absolut eigene Vorstellung von dem, was gerechtes Handeln bedeute und wie es umzusetzen sei. Individuen handelten dann gemäß eigener Urteile und Vorgaben, die jedoch für sie allgemein gültig seien, und integrierten so ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit und Verantwortung in ein universelles Moralprinzip, welches sie in Form von moralischen Erwartungen an ihre Mitmenschen herantragen.32 Dies führt nach kohlbergschem Verständnis dazu, dass bei moralischen Dilemmata und der Frage nach dem richtigen Handeln aus der Gerechtigkeitsperspektive heraus argumentiert wird. Das Ziel ist es, dass alle Beteiligten gleich und gerecht behandelt werden, die Orientierung findet an für alle geltenden Rechten und Pflichten statt und die Handlungsbegründung erfolgt abstrakt und rational. Die Psychologin Carol Gilligan warf Kohlberg vor, eine universalistische und einseitige Theorie entworfen zu haben.33 Er habe seine Ergebnisse, zu denen er ausschließlich durch Untersuchungen an Jungen
30 | Zur Entwicklung des Modells wurden den Probanden hypothetische Dilemmata vorgelegt; das heißt sie sollten sich in die Zwangslage einer fiktiven Person hineinversetzen und begründen, warum diese Person auf eine bestimmte Art handeln sollte. 31 | Lawrence Kohlberg: Moralstufen und Moralerwerb. Der kognitiv-entwicklungstheoretische Ansatz. In: Ders. (Hg.): Die Psychologie der Moralentwicklung. Hg. von Wolfgang Althof. Frankfurt a.M. 1995, S. 123-174. Dabei sah Kohlberg es allerdings nicht als zwingend an, dass die letzte Stufe immer erreicht wird. 32 | Die Stufe der Moralität entspricht der klassischen kantischen Konzeption eines autonomen, sich selbst und seine Maximen prüfenden Wesens (vgl. dazu Heiner Bielefeldt: Autonomie. In: Düwell/Hübenthal/Werner (Hg.): Handbuch Ethik, S. 305-308). 33 | Vgl. Carol Gilligan: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau [1982]. München 1996.
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gelangt sei, unreflektiert auch auf Frauen übertragen.34 Die Gegenthese Gilligans lautete, dass Frauen bei der Lösung von Dilemmata nicht aus einer Gerechtigkeits-, sondern aus einer Fürsorgeperspektive argumentierten. Parallel zu Kohlberg ging auch Gilligan von einzelnen Stufen im Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung des Menschen aus. Neu war, dass sie sich mit der Interaktion zwischen Individuen befasste, insbesondere unter dem Aspekt der Verantwortung. Gilligan nahm an, dass Frauen bei der Konfrontation mit moralischen Dilemmata und auch im alltäglichen Leben nicht abstrakt, sondern konkret argumentieren. Es gehe ihnen nicht um die Frage, was wann für wen gerecht sei, sondern wie man handeln solle, damit die Bedürfnisse anderer und das eigene Bedürfnis befriedigt würden und es keine Konflikte gebe. Die Argumentation von Frauen sei somit kontextsensitiv, narrativ und an emotionalen Beziehungen orientiert. Als Material diente Gilligan hauptsächlich eine Untersuchung mit neunundzwanzig schwangeren Frauen, die eine Abtreibung erwogen. Gilligan gelangte zu der These, dass es zwei verschiedene Moralauffassungen gebe, von der die eine Gerechtigkeit und Reziprozität und die andere Fürsorge und Verantwortung impliziere. In einem zweiten Schritt stellte Gilligan die These auf, dass Männer eher der ersten und Frauen eher der zweiten Moralauffassung zuzuordnen seien. Obwohl Gilligan den Frauen eine ›andere Stimme‹ zuspricht, wird das biologische Geschlecht zugleich nicht als hinreichende Bedingung für die Fürsorgeperspektive konzipiert: Dass sie [die andere Stimme] den Frauen gehört, ist ein empirischer Sachverhalt, und ich verfolge ihre Entwicklung überwiegend anhand der Äußerungen von Frauen. Sie ist aber keineswegs ausschließlich an Frauen gebunden. Die Gegensätze zwischen männlichen und weiblichen Stimmen kommen hier zu Wort, um den Unterschied zwischen zwei Denkweisen zu beleuchten und das Augenmerk auf ein Interpretationsproblem zu richten, und nicht, um generalisierende Aussagen über die beiden Geschlechter zu machen. 35
Gilligan wollte zwar explizit keine ›generalisierenden Aussagen‹ über beide Geschlechter machen, sprach jedoch von »den Kategorien weibli34 | Christina Sommer: Fürsorge- und Gerechtigkeitsmoral – eine interpersonelle Perspektive. Göttingen 2003, S. 13ff. 35 | Gilligan: Die andere Stimme, S. 10.
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chen Denkens«,36 einer »mütterlichen Moral«,37 von »der Frau«38 als solcher oder »der bescheidenen Zurückhaltung der konventionellen weiblichen Perspektive«.39 Sie schaffte es also nicht, ohne jeden Essenzialismus zu argumentieren – ein Problem, das beinahe zwangsläufig zu Kritik führen musste. Diese Kritik richtete sich jedoch nicht nur auf die Perpetuierung von Geschlechterzuschreibungen, sondern insbesondere auf Gilligans Methodik: Da ihre Theorie sich vor allem auf die Ergebnisse der Abtreibungsstudie stützte, war der Unterschied zu Kohlbergs Untersuchung, dass es sich um ein reales, nicht um ein hypothetisches Dilemma handelte.40 Erst mit dieser lebensweltlichen Kontextualisierung konnte Gilligan die geschlechtsspezifische Moral implizit auf ein dualistisches Modell zurückführen. Passend zur Konstruktion zweier Geschlechter entwirft sie das Modell von zwei Geschlechtsmoralen, die sich gegenseitig ausschließen. Ein relationales Verständnis der zwei Denkweisen, das von Faktoren wie Betroffenheit oder sozialen Kategorien wie Klasse, Ethnizität oder Religionszugehörigkeit abhängig ist, ist so nicht möglich. Dass Vorstellungen von ›Geschlecht‹ einem traditionellen, das heißt bipolaren, dichotomen und statischen Konzept auch innerhalb der Wissenschaften unterliegen, hat die Dekonstruktion naturalistischer Geschlechtermodelle prominent gezeigt. Mit konstruktivistischen Prämissen wurde zunächst dafür plädiert, das biologische (sex) vom sozialen Geschlecht (gender) zu unterscheiden und nicht ausschließlich von biolo36 | Ebd., S. 89. 37 | Ebd., S. 94. 38 | Ebd., S. 101 und 104. 39 | Ebd., S. 128. 40 | Vgl. die Kritik an Gilligan in Gertrud Nunner-Winkler: Moral und Geschlecht. In: Annette Kämmerer/Agnes Speck (Hg.): Geschlecht und Moral. Heidelberg 1999, S. 14-27. Zusammen mit Rainer Döbert führte Nunner-Winkler eine Studie durch, in der sie Jugendliche zur Abtreibungs- und Wehrdienstthematik befragte. Hierbei argumentierten die Interviewten jeweils bei Betroffenheit aus einer Fürsorge-, bei Nichtbetroffenheit aus einer Gerechtigkeitsperspektive, so dass Nunner-Winkler folgert: »Es ist nicht die Geschlechtszugehörigkeit, die über Kontextsensitivität und Flexibilität der Urteilsbildung entscheidet, sondern die Betroffenheit. Wer von einem Problem selbst betroffen ist, denkt intensiver darüber nach, diskutiert mit anderen und lernt auf diese Weise unterschiedliche Aspekte kennen.« (Ebd., S. 16)
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gischen Tatsachen auf soziale Unterschiede zu schließen.41 Als Weiterentwicklung wurde dann auch die biologische Komponente selbst als Inhalt eines Diskurses verstanden.42 Mit diesem Ansatz wird nun jedwede Annahme einer essenziellen weiblichen Moral, die auf biologischen Unterschieden beruht, obsolet. Für eine kritische Auseinandersetzung mit derartigen Stereotypen sowie mit einem Subjektbegriff, der nur am rational-intentional handelnden Individuum orientiert ist und gesellschaftliche Machtverhältnisse außen vor lässt, braucht es aber nicht zwangsläufig das Argument, dass unser Körper selbst einer sprachlichen Konstruktion unterliegt. Dafür ist die Materialität des Körpers von konkret Betroffenen, die einen Leib haben, welcher schmerzt, krankt und eventuell auch vom Tod bedroht ist, aus angewandt-bioethischer Perspektive nämlich viel zu relevant und präsent. Die wissenschaftstheoretische Diskussion um die Konstruktion beziehungsweise Dekonstruktion von Geschlecht bietet, wie Ellen Kuhlmann ausführt, für die medizinische und angewandte Ethik deshalb zu wenig Anknüpfungspunkte: Butler [koppelt] die Körper vom Prozess ihrer Materialisierung ab. Ihre Versuche, die dualistische Ontologie Geist/Körper zu überwinden, weisen eine erhebliche Schieflage auf: Der ›Geist‹ dominiert nicht länger den Körper, vielmehr wird der Körper erkenntnistheoretisch auf kulturelle Praxen reduziert. Tasten, spüren, fühlen und ein spezifisches Körperwissen haben keinen eigenständigen Platz in ihrem Modell. Mit Blick auf die Dekontextualisierungen und ›Zerlegung‹ des Körpers in den Biowissenschaften bleiben Butlers Vorschläge prekär, da sie keine Referenzpunkte bietet, von denen aus Grenzen der Gestaltbarkeit zu verhandeln wären. 43
Das heißt, dass nicht nur konkrete Handlungsanweisungen, sondern insbesondere die Perspektive der Betroffenen und der Leidenden, wie sie Holmqvists Roman vor Augen führt, aus dem Fokus zu geraten drohen, 41 | Vgl. z.B. Nancy Chodorow: The Reproduction of Mothering. Psychoanalysis and the Sociology of Gender. Berkeley 1978. 42 | Vgl. dazu Judith Butler: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of ›Sex‹. New York/London 1993. 43 | Ellen Kuhlmann: Verhandlungen über den Körper – Biotechnologische Entwicklungen und feministische Perspektiven. In: Sigrid Graumann/Ingrid Schneider (Hg.): Verkörperte Technik – Entkörperte Frau. Biopolitik und Geschlecht. Frankfurt a.M./New York 2003, S. 129.
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wenn eine rein konstruktivistische Perspektive angelegt wird. Um die Dynamiken von räumlich-materieller Positionierung, Krankheit und Geschlecht hinreichend zu analysieren, ist der Leib als materielle Kategorie der individuellen Verortung und Betroffenheit deswegen unumgänglich. Hier ist einerseits aus Sicht feministischer Ansätze, die die Perspektiven und Erfahrung der Betroffenen selbst in den Vordergrund rücken wollen, zu bedenken, dass abstrakte gender-Theorien noch nicht in ein breites Alltagsverständnis übergegangen sind. Aus Sicht einer partizipatorischen Ethik ist genau dieses Alltagsverständnis jedoch notwendig, um Legitimitäts- und Gültigkeitsansprüche geltend zu machen und der Perspektive von Betroffenen, das heißt ihren Problemen, Ängsten und Stärken, gerecht zu werden. Notwendig sind hierfür allerdings sowohl eine Übersetzung der Ergebnisse der gender-Forschung in den medizinischen Diskurs und in die breite Öffentlichkeit als auch eine Anknüpfung sozialkonstruktivistischer Körpertheorien an konkret-leibliche Fragestellungen, insbesondere im Feld der Medizin.44 Romane wie Holmqvists Die Entbehrlichen können dazu beitragen, indem sie eine Perspektive Betroffener entwerfen; ihre Wünsche, Ängste, Abhängigkeiten, aber auch ihre Willensstärke gestalten und Ideale für menschlichen Umgang anbieten. Insbesondere über das Motiv der Reproduktion entwerfen Utopien und Dystopien dabei Szenarien in Bezug auf die Kategorie Geschlecht. Bei Holmqvist beispielsweise sind Machtasymmetrien zwischen den Geschlechtern Vergangenheit: Einige Figuren sind selbstverständlich homosexuell, andere heterosexuell. Für einige trifft keine biologische Geschlechterkategorie zu. In dem alten, zum Erzählzeitpunkt abgeschafften System konnten Männer nach Gesetz »sowohl für die Unterdrückung von Frauen als auch für den ungebührlichen Einsatz männlicher Körperkraft« (DE, 128) belangt werden. Feministische Einstellungen, die kritisch gegenüber der Geburt von Kindern und der klassischen Versorgerehe stehen, haben Dorrits Jugend so sehr dominiert, dass sie eine – interessanterweise räumlich erzählte – Angst vor Abhängigkeit bekommt: Ich wusste nicht genau, was dieses Versorgen war, aber ich war mir sicher, dass es sehr weh tat und dass man daran sterben konnte. In […] großen, öffentlichen Innenräumen wollte ich mich immer in der Nähe der Ausgänge halten, und das Erste, 44 | Vgl. zu dieser Diskussion auch Hilge Landweer: Anthropological, Social, and Moral Limitations of a Multiplicity of Genders. In: Hypatia, 20, 2, S. 27-47.
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wonach ich guckte, […] waren die Notausgänge, die Feuertreppen, die Fluchtwege. Als ich älter wurde und besser verstand, was Mama mit Kindern und Männern und Versorgen und Fallen gemeint hatte, verlor sich meine Angst vor Gedränge und Räumen ein wenig. (DE, S. 27)
Der Roman ist hier also äußerst ambivalent und beleuchtet provokant das Spannungsfeld von Abhängigkeit und Freiheit, von Individuum und Sozialisierung, ohne es letztlich aufzulösen – Dorrit wird als Kind durch eine mütterlich-emanzipierte Prägung davon abgehalten, eine Familie zu gründen, obwohl sie »immer ein starkes Verlangen nach einem solchen Dasein empfunden« (DE, S. 28) hat. Dies führt vor Augen, wie sehr Entscheidungen in frühester Kindheit und Jugend von nahestehenden Personen geprägt sein können, die zwar Gutes im Sinn haben, aber doch am Bedürfnis anderer vorbei agieren.45 Erst als Dorrit sich zu einer selbstständigen Person entwickelt, lässt sie ihr Bedürfnis nach familiärer Nähe und Abhängigkeit zu: »Wie gern hätte ich gewusst, wie es war, einem Kind nahezustehen, zu seinem sozialen Netzwerk zu gehören, sich um eine kleine Verwandte zu kümmern, vom Kind eines Geschwisters, das mit einem spielen will oder bei etwas Hilfe braucht, geweckt zu werden.« (DE, S. 86) Sie würde ihr Kind, so zeigt das obige Zitat, auch lieben und annehmen, wenn es keinen Nutzen für die Gemeinschaft hätte. Der Roman ist damit zugleich ein Plädoyer für eine starke Leiblichkeit und dafür, Entscheidungen nicht nur abstrakt-rational, sondern emotional zu fällen: »Kann ich zwischen Gedanke und Körper wählen, wähle ich Körper. Kann ich zwischen Verstand und Herz wählen, wähle ich Herz.« (DE, S. 130) Gleichzeitig ist der Verstand in Form von Reflexion ebenso präsent, denn ähnlich wie an das bestehende Geschlechtersystem erinnert sich Dorrit auch an die politischen Verhältnisse im Land: Ich erinnere mich an die Debatte und die Volksabstimmung. Ich selbst interessierte mich nicht besonders für Politik und war viel zu jung, um mich mit Begriffen wie ›mittleres Alter‹ identifizieren zu können. Jedes Mal, wenn die Sache zur Sprache kam, […] seufzte ich gelangweilt und blätterte weiter und wechselte den Kanal oder das Gesprächsthema. […] Das Konzept tauchte in unterschiedlichen Formen und Verpackungen auf, und dann war es auf einmal in die Programme von einigen 45 | Vgl. Martha Fineman: The Autonomy Myth. A Theory of Dependency. New York 2004, S. 34-44.
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der größeren und etablierteren Parteien gerutscht, und als die Volksabstimmung schließlich stattfand, hatte sich die öffentliche Meinung gewendet. (DE, S. 25)
Die Rückblenden, in denen Dorrit die kausale Motivation der Geschichte artikuliert, sind insofern ethisch relevant, als dass sie aufrütteln und einen impliziten Appell an Intuition und Urteilsbildung darstellen. Mit Kant ließe sich sagen, dass eine Selbst-Aufklärung im Sinne des ›Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ hier nicht gegeben ist – die Wahl, sich nicht zu informieren, erfolgt ›freiwillig‹; ebenso die Wahl, nicht aufzubegehren. Die entscheidende Frage angesichts des Systems bleibt daher bestehen: Was hindert Dorrit und die anderen Entbehrlichen daran, nicht den ›Ausgang aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ zu wählen? Es sind eine Form der Langeweile und die Priorität eines konsumorientierten Lebensstils: Diese Art von gesellschaftlichen Fragen hatte mit mir ganz einfach nichts zu tun, fand ich, und als ich mitten in der ersten Runde der Debatte durch ein heterosexuelles Missgeschick schwanger wurde, trieb ich ab. Ich war ja jung, ging aufs Gymnasium, wollte reisen, studieren, hier und da ein bisschen jobben, malen, schreiben, tanzen und Spaß haben. Ebenso wenig, wie ich mich als Frau mittleren Alters sehen konnte, konnte ich mich als Mutter sehen. Aber hätte ich gewusst, dass ich mich in dem Augenblick, als ich mich betäuben und auskratzen ließ, um die einzige Chance brachte, Mutter zu werden, wäre es wohl nicht so selbstverständlich gewesen. Hätte ich mir ausrechnen können, was die Zukunft bringen würde, hätte ich die geringste Vorahnung gehabt, hätte ich mein Kind geboren. Zumindest möchte ich gern glauben, dass ich es getan hätte. (Ebd.)
Eine solche Perspektive auf Abtreibung, die noch einmal die von Gilligan benannte Betroffenheit vor Augen führt, kann als Kritik gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen an die Mutterrolle gelesen werden, die hier letztlich ihr Anrecht auf Leben repräsentiert. In dem Glauben, dass ihr Bauch ihr gehört, hat Dorrit sich für einen Lebensweg entschieden, dessen Konsequenzen sie später tragisch spürt. Die Tragik liegt aber nicht darin, dass sie ihre Entscheidung bereut, sondern darin, dass ihre Entscheidung von der Nützlichkeitsgesellschaft, in der sie lebt, nicht anerkannt wird. Reproduktion, so zeigt diese Textstelle, ist ein Knotenpunkt von individuellen Wünschen und gesellschaftlichen Erwartungen. Der Roman führt so einerseits mögliche Konsequenzen von Lebensentscheidungen
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vor Augen und ist andererseits ein Appell gegen Oberflächlichkeit, Bequemlichkeit und alltägliche Abgelenktheit. Er ist ein Aufruf zu Engagement, zu kritischer Aufmerksamkeit, zu ethischer Intuition, auch wenn dadurch Privilegien verschwinden und es viel Mut, Überwindung und Zeit kostet. Dorrit hat diese Intuition und auch Kritikfähigkeit, unterliegt aber trotzdem ihrer Gewohnheit und dem subtilen Druck des Systems. Die stillschweigende Akzeptanz zeigt sich in der ›Einheit‹ erneut: Kein_e Entbehrliche_r protestiert oder flieht. Als ein Pfleger Dorrit eine Plastikkarte und den Code für sämtliche Türen und Ausgänge gibt, was ihr die Flucht ermöglicht hätte, erzählt sie beispielsweise: »An einen Versuch, hier raus-, wegzukommen, zu fliehen, daran hatte ich nicht im Traum gedacht.« (DE, S. 200) Auch hier steht der topografische Raum symbolisch für den topologischen, denn Dorrit und die anderen ›Entbehrlichen‹ – vornehmlich Intellektuelle – denken nicht daran, die Flucht nach vorn anzutreten und ihren zugewiesenen Platz im Raum zu verlassen. So greifen Raum und Status ineinander und werfen die provokante Frage auf, welche Rolle Hochgebildeten und künstlerisch Tätigen, die ihre ›Nützlichkeit‹ nicht unter Beweis stellen, in Gesellschaften zukommen soll. Einzig Elternschaft – insbesondere Mütterlichkeit – ist sozial akzeptiert und unentbehrlich. Der tiefere Sinn des Systems jedoch folgt dabei einem klassischen Fortschrittsnarrativ, wie eine Freundin in der ›Einheit‹ Dorrit vermittelt: »Nur neue Konstellationen werden anerkannt. Menschen, die einen neuen Haushalt gründen und neue Menschen produzieren. […] [A] lles muss sich vorwärts bewegen.« (DE, S. 136) Wofür sich eigentlich ›alles vorwärts bewegen muss‹, erfahren die Leser_innen nie: mit ihrer impliziten Kritik an Kapitalismus und Fortschrittsdenken lässt Holmqvist uns allein, so wie auch Dorrit sich – ganz im Sinne ihrer intellektuellen Rolle als Schriftstellerin – schreibend zurückzieht. Während ihres Aufenthalts in der ›Einheit‹ verfasst sie mehrere Erzählungen. Von Johannes erfährt Dorrit, was mit ihren Werken geschieht: ›Alles wird aufbewahrt und archiviert.‹ ›Wie kannst du dir da so sicher sein?‹ ›[W] eil wir in einer Demokratie leben, denn die Redefreiheit ist einer der Eckpfeiler der Demokratie; ohne die Redefreiheit bricht sie zusammen. Deshalb ist undenkbar, literarische oder künstlerische Werke zu vernichten, weil ihr Inhalt mit den Normen und Wertvorstellungen der Gesellschaft nicht übereinstimmt. Also wird auch das politisch Unbequeme aufbewahrt und archiviert, vermutlich in einem unterirdischen Gang unter der Königlichen Bibliothek in Stockholm.‹ (DE, S. 118f.)
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Auch hier zeigt sich die Überschneidung zwischen Topografie und Topologie: ›Unbequemes‹ wird an einem unterirdischen, das heißt nicht öffentlich zugänglichen, Ort aufbewahrt – die materielle Raumnutzung funktioniert ein weiteres Mal symbolisch für die soziale. Doch dieser besondere Ort (das Archiv) hat für Holmqvists entworfenen sozialen Raum noch eine viel gewichtigere Funktion, wie am am Ende des Romans deutlich wird: Dass ich hier so lange hängengeblieben bin, hat zwei Gründe. Zum einen wollte ich diese Erzählung schreiben – auch wenn sie wahrscheinlich eines der Manuskripte sein wird, die unverzüglich in einem der unterirdischen Gänge unter der Königlichen Bibliothek in Stockholm landen werden. Das heißt, wenn es überhaupt irgendwo landet und nicht zerstört wird. […] Ich habe nur noch ein paar Zeilen vor mir, dann mache ich einen Punkt. Morgen um diese Zeit gehören mein Herz und meine Lungen einer anderen, genauer gesagt, einer Kommunalpolitikerin und Mutter von zwei Kindern. (DE, S. 267f.)
Am obigen Zitat zeigt sich, wie die Verteilung der Organe im Roman legitimiert wird. Privilegiert für den Organempfang ist, wer fürsorglich – mütterlich – ist und so einen Beitrag und eine Leistung für die Gesellschaft erbringt. Das Konzept der Gerechtigkeit wird hier also nicht auf formelle Prinzipien der Gleichheit reduziert, sondern vielmehr materiell und inhaltlich gefüllt. Mütterlichkeit, wie sie noch von Gilligan als eine ›andere Stimme‹ beschrieben wird, wird hier genutzt, um in kritischer Weise ein System vorzuführen, das schonungslos gegenüber denjenigen agiert, die es nicht bedingungslos mittragen wollen oder können. Diese Darstellung provoziert eine Bewertung von Leser_innenseite, die durch das letzte Zitat noch verstärkt wird: Die realen Leser_innen werden hier zu der Vorstellung eingeladen, sie hielten die Kopie eines Buches in der Hand, dessen Original in Stockholm gelagert wird. Sie halten Dorrit Wegener im Prinzip für einen fiktiven, nicht wahrheitsfähigen Gegenstand. Allerdings können sie, ohne dies an einer faktualen Quelle überprüft zu haben, genau genommen gar nicht wissen, ob nicht tatsächlich Manuskripte unter der Königlichen Bibliothek in der schwedischen Hauptstadt gelagert werden und ob nicht eines dieser Manuskripte von einer gewissen Dorrit Wegener stammt. Die »bewegliche, aber heilige Grenze zwischen zwei Welten: zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird«,46 46 | Gérard Genette: Die Erzählung [1966-1972]. München 1998, S. 168f.
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wird hier überschritten, indem ein fiktiver, nicht wahrheitsfähiger Gegenstand – die Erzählung, die Dorrit schreibt – mit einem realen Gegenstand, nämlich der Erzählung, die der Leser in den Händen hält, gleichgesetzt wird. Eben diese Grenzüberschreitung zwischen dem fiktionalen und faktualen Raum ist es, die Holmqvists Roman anschlussfähig für die ethische Debatte macht.
D IE E NTBEHRLICHEN UND IHRE R ELE VANZ FÜR E THISCHE D EBAT TEN UM DIE L EBENDORGANSPENDE Holmqvists Szenario einer Gesellschaft, die den Bedarf an Organen dadurch deckt, dass sie Nützlichkeit als notwendige Bedingung für die Existenz ihrer Mitglieder versteht, steht den realen rechtlichen Bedingungen auf den ersten Blick diametral entgegen. In Deutschland beispielsweise ist durch das Transplantationsgesetz rechtlich vorgegeben, dass eine Lebendorganspende freiwillig erfolgen muss, das heißt, die Person darf hierzu nicht durch psychischen oder physischen Druck gezwungen werden, muss volljährig und einwilligungsfähig sein und zudem über alle eventuellen Nachteile und Risiken der Organspende hinreichend aufgeklärt werden.47 Die freiwillige Entscheidung des_der Spendenden ist durch eine eigens dafür eingerichtete Kommission zu bestätigen, da es sich bei der Lebendorganspende um einen fremdnützigen und nicht medizinisch notwendigen Eingriff bei einem gesunden Menschen handelt, mit dem der_die Arzt_Ärztin sich sonst straf bar machen würde.48 Denn der für die eigene Gesundheit des_der Spendenden unnötige Eingriff ist 47 | Vgl. Silke Schicktanz: Keine leichte Entscheidung – Ethische Aspekte für und wider die Lebendorganspende. In: Sabine Wöhlke/Lutz Doyé (Hg.): Damit du weiterleben kannst. Die geschenkte Niere – Betroffene erzählen. Hannover 2011, S. 166-179. Zu unterscheiden ist die Lebendorganspende von postmortalen Transplantationen, die nach Feststellung des Hirntodes vorgenommen werden. Ich werde mich hier auf die Lebendorganspende und dort hauptsächlich auf das Problemfeld der Freiwilligkeit beschränken. 48 | Dieser Eingriff in einen gesunden Körper ist auch der Grund dafür, dass das deutsche Transplantationsgesetz sowie die policy-Regeln der WHO die Postmortalspende priorisieren, wenngleich auch diese Probleme aufwirft (vgl. dazu Schicktanz: Keine leichte Entscheidung).
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sowohl mit Risiken während der Operation verbunden als auch mit Risiken späterer Erkrankungen, bei denen das gespendete Organ gegebenenfalls selbst benötigt würde.49 Im Sinne der Patientenautonomie lässt sich hier argumentieren, dass bei einer Lebendorganspende ausschließlich der_die jeweilige Spendende selbst entscheidet. Dieser Prozess entspricht damit stärker dem Recht auf Selbstbestimmung als bei der Postmortalspende, bei der die Angehörigen zwar den mutmaßlichen Willen des_der Betroffenen rekonstruieren, er_sie aber nicht mehr direkt gefragt werden kann.50 Die entscheidende Frage ist nun, ob Freiwilligkeit im Kontext der Lebendorganspende tatsächlich immer gegeben ist, da insbesondere in Familien Schuld, Verantwortung und Abhängigkeit eine große Rolle spielen können.51 Doch einzig in diesem familiären Kontext sind Lebendorganspenden in Deutschland bisher zulässig: bei Verwandten oder sich emotional nahestehenden Personen. Die Spender_innen geben ihr Organ zwar ›freiwillig‹, es wird jedoch zugleich davon ausgegangen, dass sie dies mit einer bestimmten Motivation tun, da die Spende eine für sie wichtige Person am Leben erhält, indem sie deren Lebensqualität enorm verbessert.52 Deswegen lässt sich einwenden, dass eine Organspende auch zwischen verwandten oder sich emotional nahestehenden Personen nicht zwangsläufig freiwillig geschieht, sondern mit Druck, Schuldgefühlen, Dankbarkeit oder (Zug-)Zwang einhergehen kann.53 Wenn Abhängigkeit und Freiwilligkeit stärker reflektiert werden, erscheint es gar plausibler, dass reine Freiwilligkeit bei nicht verwandten Spendern sogar – unter bestimmten Bedingungen – wahrscheinlicher 49 | Vgl. Bijan Fateh-Moghadam: Die Einwilligung in die Lebendorganspende. Die Entfaltung des Paternalismusproblems im Horizont differenter Rechtsordnungen am Beispiel Deutschlands und Englands. München 2008, S. 1. 50 | Corinna I. Schutzeichel: Geschenk oder Ware? Das begehrte Gut Organ. Nierentransplantation in einem hochregulierten Markt. Berlin u.a. 2002, S. 23. 51 | Vgl. Merve Winter/Oliver Decker: Gender-Aspekte in der SpenderIn-EmpfängerInbeziehung bei Lebendorganspende. In: Alexandra Manzei/Werner Schneider (Hg.): Transplantationsmedizin: Kulturelles Wissen und Gesellschaftliche Praxis. Münster 2006, S. 225-247. 52 | Vgl. ebd. 53 | Vgl. Schicktanz: Keine leichte Entscheidung, S. 170.
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ist.54 So wird beispielsweise argumentiert, dass die anonyme Lebendspende, wie sie seit einigen Jahren in den USA und den Niederlanden praktiziert wird, Vorteile mit sich bringt, weil es als weniger belastend empfunden wird, einem fremden Menschen ein Organ zu spenden.55 Als Gegenargument lässt sich einwenden, dass vermutlich die wenigsten Menschen aufgrund der oben genannten Risiken bereit wären, anonym und aus rein altruistischen Motiven ein Organ zu spenden. Sie würden dies vermutlich eher aus dem Gefühl tun, ›der Gesellschaft etwas zu schulden‹ – ihre Handlung wäre also Ausdruck des Bedürfnisses, die eigene Nützlichkeit unter Beweis zu stellen.56 Oder sie würden dies, wenn entsprechende Modelle existierten, aus monetären Anreizen tun.57 Gegen die Modelle, die nicht allein auf Freiwilligkeit basieren, wird zumeist mit der Gefahr des Organhandels und der damit einhergehenden Instrumentalisierung menschlichen Lebens argumentiert.58 Ethische Argumente gegen den Organhandel sind sowohl der Schutz des Empfängers als auch die Ausbeutung des Spenders, wenngleich »verdeckter Organhandel«59
54 | Vgl. Thomas Schlich: Transplantation: Geschichte, Medizin, Ethik der Organverpflanzung. München 1998, S. 50. 55 | Vgl. Nicholas R. Brook/Michael L. Nicholson: Non-Directed Live Kidney Donation. In: The Lancet 386, 9533, 2006, S. 346-347. 56 | Dieser Aspekt der anonymen Spende ist erst seit Kurzem in der wissenschaftlichen Diskussion (vgl. Allison Tong et al.: »It was just an unconditional gift.« Self reflections of non-directed living kidney donors. In: Clinical Transplantation, 26, 2012, S. 589-599). Diese Autor_innen führten qualitative Forschung mit anonymen Organspender_innen durch, die als eine Motivation zur Spende das ›gute Gefühl‹ nannten, zum Gemeinwohl beigetragen zu haben. 57 | Vgl. zu dieser Diskussion auch Daniel Kersting: Freiheit zum Organverkauf? Rechtsphilosophische Überlegungen zum Autonomiebegriff in der aktuellen Kommerzialisierungsdebatte. In: Susanne Beck (Hg.): Gehört mein Körper noch mir? Strafgesetzgebung zur Verfügungsbefugnis über den eignen Körper in den Lebenswissenschaften. Würzburg 2012, S. 467-488. 58 | Vgl. Schlich: Transplantation, S. 51. Organhandel meint in diesem Falle nicht regulierte Systeme des Organkaufs und -verkaufs, etwa durch Krankenkassen, sondern lediglich eine unkontrollierte Verteilung nach allen Kriterien des freien Marktes. 59 | Ebd., S. 52.
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auch im bestehenden System nicht völlig ausgeschlossen werden kann.60 Diesbezüglich lässt sich argumentieren, dass die Gefahr der Kommodifizierung und Kommerzialisierung des Körpers besteht, das heißt, dass der menschliche Körper durch finanzielle Entschädigung und Entlohnung zur instrumentalisierten Ware werden könne.61 Wer die liberalistische Position vertritt, dass auch der Verkauf von Organen eine ›freiwillige‹ Handlung darstellt und damit ein Marktmodell legitimiert, übersieht jedoch, dass irreversible Entscheidungen am eigenen Körper, die eher aus Verzweiflung, statt aus sicherem, abgewogenen Entschluss heraus gefällt wurden, komplexe und ethisch problematische Auswirkungen auf die eigene Identität und Personalität haben. […] Dass die meisten Organverkäufer bisher aus extrem armen und desolaten Situationen stammen, zeugt zudem eher davon, dass für viele Menschen der Verkauf von Organen eher eine Not und keine fundierte, freie Entscheidung darstellt. 62
Romane wie Holmqvists Die Entbehrlichen führen solche Nöte vor Augen, indem sie den Fokus auf Lebensgeschichten von Personen lenken, die topografisch oder topologisch ausgegrenzt werden und aus Not ihren Körper oder Teile des Körpers verkaufen.63 So wird auch der Umgang mit derzeit real existierenden ›Entbehrlichen‹ ohne den Bezug zur Lebendorganspende kritisch beleuchtet. Aber auch soziale Abhängigkeiten ohne globalen Zusammenhang zwischen arm und reich werden vorgeführt, indem die Existenz benötigter Figuren wiederum durch Personen legitimiert ist, die von ihnen abhängig sind, nämlich ihre Kinder. Eine Gesellschaft, die diese Personen einbindet und ihr Leben auch unabhängig von ihrer ›Funktionstüchtigkeit‹ wertschätzt, ist die Utopie, für die Holmqvist mit ihrer Dystopie implizit plädiert. Denn Dorrit fordert für sich »ein richtiges Leben mit tiefen und komplexen Beziehungen im Guten wie im Bösen, die nur durch den Tod zu scheiden [sind]« (DE, S. 184) – 60 | Vgl. Ulrich Schroth: Das strafbewehrte Organhandelsverbot des Transplantationsgesetzes. Ein internationales Problem und seine deutsche Lösung. In: Fuat S. Oduncu/Ulrich Schroth/Wilhelm Vossenkuhl (Hg.): Transplantation. Organgewinnung und -allokation. Göttingen 2003, S. 166-188. 61 | Vgl. Schutzeichel: Geschenk oder Ware?, S. 185-188. 62 | Schicktanz: Keine leichte Entscheidung, S. 174. 63 | Vgl. Kersting: Freiheit zum Organverkauf?
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und dabei ist es ihr »ehrlich gesagt, scheißegal, inwieweit dieses Leben würdig oder achtbar [ist] oder die Steuerzahler eine Menge Geld kostet […]« (ebd.). Eine ähnliche Einstellung äußert auch eine alte Freundin von Dorrit »draußen in der Gesellschaft« (DE, S. 182) gegenüber ihrer eigenen Risikoschwangerschaft: ›Es ist ja nicht so, dass ich der Gesellschaft zur Last fallen will. Ich will in jeder Hinsicht benötigt sein, und ich will, dass mein Kind benötigt ist – nicht das ganze Leben am Gesellschaftskörper zehrt. Man will ja ein würdiges Leben leben, nicht wahr? Man will geachtet werden und man will, dass die eigenen Kinder geachtet werden. Aber ich will nun einmal dieses Kind. Es ist ja schließlich entstanden, und es lebt hier drinnen; das muss doch einen Sinn haben. Und gleichgültig, ob es zum Beispiel zu früh geboren wird oder vielleicht blind ist oder eine andere Funktionsbehinderung hat, ist es ja trotzdem ein Kind. Es ist trotzdem ein Mensch. Und wir leben in einer Demokratie; ich habe eigentlich das Recht, mein Kind zu bekommen.‹ (DE, S. 183)
Dorrit selbst bleibt diese Möglichkeit vom System verwehrt; sie darf lediglich zwischen den Möglichkeiten wählen, »den Fötus zur Transplantation zu spenden oder ihn auszutragen und zur Adoption freizugeben« (DE, 184), wobei sie sich nach einigem Ringen für die zweite Option entscheidet. Durch die Entscheidung von Johannes, seine Endspende zu beantragen, ist sie außerdem entmutigt, sich gegen das System aufzulehnen, und beugt sich dem subtilen Druck, obwohl sie sich bewusst ist, dass die Schwangerschaft ihren gesellschaftlichen Status eigentlich ändern müsste. Was der im Roman geschilderten, auf Nützlichkeit basierenden Gesellschaft fehlt, wird sehr deutlich an einem harmlosen, aber frustrierenden Humanexperiment, von dem Johannes Dorrit erzählt: ›Es ist ganz einfach eine Reihe anstrengender Übungen zu Zusammenarbeit, Loyalität und Vertrauen. Ich begreife nicht, was […] dabei heraus kommen soll, wenn sie hier diese Art von Versuchen durchführen. Ich meine, keiner von uns, der dabei ist, versteht das mit dem Vertrauen. Du?‹ Ich lachte auf: ›Nein, ehrlich gesagt versteh ich es auch nicht. Ich habe nie kapiert, warum es so gut sein soll, anderen Menschen vertrauen zu können. In meinen Ohren klingt das nur naiv.‹ […] ›Und Loyalität? Was sagst du dazu? Ist das nicht in Wirklichkeit eine Art Blindheit?‹ ›Oder ein Ausdruck von Abhängigkeit‹, sagte ich. ›Und eine Art Unterlegenheit. Ein
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Ausdruck von untertänigem Respekt. Vielleicht sogar Angst.‹ Johannes seufzte: ›Du solltest uns sehen, wenn wir versuchen, zusammen eine Aufgabe zu lösen. Oder in einer Frage zu einem gemeinsamen Standpunkt zu kommen. Was für ein Geplapper, was für ein Hin und Her, du ahnst es nicht!‹ (DE, S. 82)
Diese Aussage ist nicht nur eine kritische Referenz auf die Bürokratie und das Verharren von Menschen in Gruppen, sondern sie geht noch tiefer: Im Zusammenhang mit den Themen Zuverlässigkeit, Sicherheit und Kommunikation ist sie ein implizites Plädoyer für menschlich loyales und vertrauensvolles Miteinander ohne Abhängigkeiten, in welchem Vertrauen die unausgesprochene, aber doch allgegenwärtige Basis darstellt. Ein transparenter Umgang mit sozialen Abhängigkeiten, wie sie beispielsweise auch in Deutschland vorkommen können, kann helfen, einen Blick auf die Praxis der Lebendorganspende zu erhalten, der kritisch nach den Bedingungen von Freiwilligkeit fragt. Diese sozialen Abhängigkeiten sind bei Unterschieden bezüglich der Entscheidungen von Männern und Frauen deutlich erkennbar, denn nachweislich spenden mehr Frauen Organe, während mehr Männer Organe empfangen.64 Vertreter_innen der These Gilligans fühlen sich bestätigt und argumentieren, dass Frauen die Lebendorganspende aus einer Fürsorgeperspektive betrachten und sich mehr um das Wohl ihrer Angehörigen kümmern.65 Frauen würden sich nicht die Frage stellen, ob es ihre Pflicht sei, ein Organ zu spenden, sondern wie es möglich sei, die emotionale Bindung zu dem_der Bedürftigen aufrechtzuerhalten. Doch wie aktuelle Forschungen betonen, sind die Entscheidungen von Frauen zu spenden nicht nur freiwillige Entscheidungen, sondern Entscheidungen, die von öffentlicher Relevanz sind und durch gesellschaftliche Diskurse beeinflusst werden. Das Bild von fürsorglichen, gebenden und qua Fürsorglichkeit und Reproduktionsfähigkeit ›benötigten‹ Frauen, wie es Holmqvists Roman überzeichnet darstellt, ist ein
64 | Vgl. Motakef/Wöhlke: Ambivalente Praxen der (Re-)Produktion, S. 97f. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass keine medizinischen Gründe ausschlaggebend für die häufigere Spendebereitschaft von Frauen sind, dass Männer also nicht biologisch ungeeigneter sind als Frauen. 65 | Vgl. Biller-Andorno: Gender Imbalance in Living Organ Donation. In: Medicine, Health Care and Philosophy, 5, 2, 2002, S. 199-204.
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gesellschaftliches Stereotyp, das – nicht nur bezogen auf die Praxis der Lebendorganspende – kritischer Reflexion bedarf.66
F A ZIT UND A USBLICK Aufgrund der metafiktionalen Elemente in Die Entbehrlichen ist der Roman für die Reflexion der gegenwärtigen bioethischen Debatte geeignet, da er seine Leser_innen auffordert, sich die fiktionale Erzählung als wahre Aussage vorzustellen und ausgehend von diesem Szenario das ethische Gedankenexperiment des entbehrlichen Lebens durchzuführen. Der Text lädt dazu ein, Referenzen zu realen Ordnungen herzustellen und der Frage nachzugehen, inwiefern in Gesellschaft und Wissenschaft Argumente der Nützlichkeit bereits jetzt vorherrschen. Durch die gewählte autodiegetische Erzählperspektive lassen sich hier insbesondere Parallelen zur Situation von Patient_innen, ihren Abhängigkeiten und Sorgen ziehen. Die Relevanz von Betroffenheit als Kriterium im Umgang mit medizinischen Technologien und moralischen Dilemmata kann so reflektiert werden. Wie gezeigt wurde, genügt es dabei nicht, lediglich eine ›weibliche‹ Fürsorgemoral von einer ›männlichen‹ Gerechtigkeitsperspektive im Hinblick auf die Erklärung empirischer Sachverhalte wie der gender-disparity-Hypothese zu unterscheiden. Vielmehr ist es nötig, sowohl unter Einbeziehung verschiedener sozialer Kategorien als auch unter Berücksichtigung von Betroffenheitsargumenten, nach differenzierteren Erklärungen zu suchen. Die Mikroebene situativer, fürsorglicher Handlungen einzelner Individuen müsste mit der formalen und materiellen Ebene der Gerechtigkeit, sprich mit der Makroebene von Rechten und Pflichten, aber auch Kriterien der Organallokation zusammengedacht werden. Bezogen auf die Lebendorgantransplantation wäre hier also auch zu untersuchen, welche weiteren Faktoren, zum Beispiel sozialer Status oder Bildungsgrad, eine solche Debatte prägen und wie hier Freiwilligkeit gewährleistet werden kann. Holmqvists Roman wirft die Frage auf, ob die Praxis der Spende, wenn sie mit einer Verpflichtung sowie gesellschaftlicher Einflussnahme auf weibliche Rollenvorstellungen einhergeht, eine gerechte und gute Praxis ist. Um der oben genannten Kritik am Essenzialismus einer weiblichen Moral zu entgehen, sollte dabei vor allem berücksich66 | Vgl. Motakef/Wöhlke: Ambivalente Praxen der (Re-)Produktion, S. 99-102.
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tigt werden, wann und warum Menschen aus einer Gerechtigkeits- oder Fürsorgeperspektive argumentieren und in welchen Abhängigkeiten und Bindungen sie stehen. Dass Männer gerechtigkeitstheoretisch argumentieren, ›weil sie Männer sind‹, und Frauen fürsorgebezogen, ›weil sie Frauen sind‹, ist sehr kurz gegriffen und erklärt nicht, welche weiteren Faktoren bei moralischer Handlungsbildung eine Rolle spielen können. Eine solche Perspektive verkürzt Sozialisierung auf geschlechtliche Sozialisierung und Gerechtigkeit auf formal gerechte Verteilung, ohne eine Dynamik von beidem anzuerkennen. Werlens Raummodell, unter Berücksichtigung der daran geübten Kritik, könnte ein Anschlusspunkt sein, um die Frage des ›gerechten‹ sozialen Raums mit denen des ›fürsorglichen‹ – aber auch abhängigen – Individuums zusammenzudenken und dabei differenziert gegenüber essenzialistischen gender-Zuschreibungen zu bleiben. Werden topografische Raumbeschreibungen wiederum als Ausdruck topologischer Verhältnisse verstanden, lassen sich symbolisierende Raumpraxen, mit denen Personen ›am Rande‹ des geografischen und sozialen Raums positioniert sind, kritisch beleuchten. Durch die Kritikfähigkeit und ethische Intuition der Protagonist_innen, vor allem aber durch die Werte der Loyalität, des Vertrauens und der Bindung an Mitmenschen, die nicht der Nützlichkeit, sondern dem Auf und Ab des menschlichen Miteinanders einen Wert zumisst, formuliert Holmqvist hier unter der Oberfläche des dystopischen Szenarios ihre Utopie. Diese wiederum kann eine hilfreiche ethische Orientierung für den_die Einzelnen oder auch für die öffentliche Diskussion bieten.
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Raum, Atmosphäre und verkörperte Differenz Raumbezogene Wahrnehmungsweisen einer anderen Körperlichkeit Marie-Theres Modes
E INLEITENDE Ü BERLEGUNGEN In wissenschaftlichen Zusammenhängen existiert seit einiger Zeit ein großes Interesse an Themen, die in Zusammenhang mit dem Raum stehen. Dieses vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften vorhandene Interesse ist der Grund dafür, dass wir es noch vor kurzem mit einer Raumvergessenheit1 zu tun hatten, heute eher mit einer ›Raumversessenheit‹. Der vielzitierte spatial turn scheint allgegenwärtig. Ebenso groß ist das Interesse einer kulturwissenschaftlich orientierten Auseinandersetzung mit dem Körper, der zunehmend in das Blickfeld wissenschaftlicher Disziplinen rückt, die sich mit soziokulturellen Praktiken beschäftigen. Dies führt dazu, dass mittlerweile vielfach von verkörperten Subjekten und nicht mehr bloß von Subjekten die Rede ist. Die wissenschaftliche Verortung dieses körperbezogenen Interesses findet sich dabei vorrangig innerhalb des body turn und seiner Programmatik wieder.2
1 | Zur Raumvergessenheit insbesondere in der Soziologie vgl. Benno Werlen/ Christian Reutlinger: Sozialgeographie. In: Fabian Kessl et al. (Hg.): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden 2005, S. 49-66, hier S. 50. 2 | Zum Begriff des body turn siehe bspw. Robert Gugutzer: Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung. In: Ders. (Hg.): Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld 2006, S. 9-53.
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Die folgenden Überlegungen gehen der Frage nach, wie sehr unsere Wahrnehmungsweisen und damit einhergehende Bedeutungszuweisungen in Bezug auf Räume und Körper in unmittelbarer Verbindung stehen. In unserer alltagsweltlichen Praxis befinden wir uns in einer Vielzahl von Räumen und begegnen dabei unablässig Menschen und ihren Körpern. Die Wahrnehmung von Räumen trägt dazu bei, wie Menschen, und damit auch ihren Körpern, bestimmte Bedeutungen zugeschrieben werden; ebenso wie in umgekehrter Weise Körper als Teil einer räumlichen Wahrnehmung die jeweiligen Vorstellungen und Aneignungsstrategien von Räumen beeinflussen. Dass Räume – in welcher Form auch immer – Körper ›mitbestimmen‹ und Körper wiederum Räume konstituieren, ist eine in den Kulturwissenschaften mittlerweile gängige Auffassung.3 Die uns täglich begegnenden Verbindungen zwischen Körper- und Raumwahrnehmung sind in vielerlei Hinsicht komplexe und ineinander verzahnte Prozesse. Dabei stellt sich die Frage, wie man diese komplexen gesellschaftlichen Herstellungs- und Wahrnehmungsweisen von Räumen und Körpern, und vor allem von als ›anders‹ wahrgenommenen Körpern angemessen erforschen kann. Warum und wie werden Körper in räumlichen Kontexten mit speziellen Zuschreibungen versehen und beispielsweise als normal oder abweichend klassifiziert? Solche Fragen stellen eine spannende Herausforderung dar, besonders hinsichtlich methodologischer Probleme und Unwägbarkeiten im Rahmen einer raumund körperbezogener Forschung, die es kritisch zu reflektieren gilt. Dieser Text versucht, entlang einer Verknüpfung von empirischen Befunden und raumwissenschaftlichen Theorien den Wahrnehmungsweisen von Raum und Körper nachzugehen und dabei ihre wechselseitige Bezogenheit auszuloten. Dabei soll insbesondere das Phänomen raumbezogener Atmosphäre in den Blick genommen und dessen Bedeutsamkeit
3 | Vgl. dazu den Artikel von Sybille Bauriedl/Katharina Fleischmann/Anke Strüver/Claudia Wucherpfennig: Verkörperte Räume – »verräumte Körper«. Zu einem feministisch-poststrukturalistischen Verständnis der Wechselwirkungen von Körper und Raum. In: Geographica Helvetica, 55, 2000, 2, S. 130-137. Die Ausführungen der überwiegend humangeografisch orientierten Autorinnen bilden eine wichtige Basis für das hier zugrunde liegende Forschungsinteresse, auch wenn diese bisher in der soziologischen Forschung eher weniger Beachtung gefunden haben.
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für eine ›ko-konstitutive‹ Wahrnehmungsweise von Raum und Körper erörtert werden.
D IE A USGANGSSITUATION : E INE E THNOGR AFISCHE S TUDIE IN EINEM H OTEL Basis der folgenden Überlegungen sind Ergebnisse einer ethnografischen Feldstudie, die im Rahmen eines Dissertationsprojekts durchgeführt wurde, welches an der Schnittstelle von raum- und kultursoziologischen Forschungsinteressen angesiedelt ist. Ausgangspunkt der Untersuchung war ein Hotel der sogenannten gehobenen Kategorie, in dem behinderte und nicht behinderte Mitarbeiter_innen in allen relevanten Dienstleistungsbereichen gemeinsam tätig sind. Das Hotel hat in den letzten Jahren aufgrund seines integrativen Konzepts im Bereich der Behindertenhilfe auf sich aufmerksam gemacht und versteht sich selbst als ›besonderer Ort‹. Da in den letzten zehn Jahren die Zahl von Hotels und Gastronomiebetrieben stetig gestiegen ist, die beeinträchtigte Menschen im Rahmen von Fördermaßnahmen oder regulär innerhalb des ›ersten Arbeitsmarktes‹ beschäftigen, war für die durchgeführte Studie auch die Frage relevant, warum und inwiefern gerade diese Arbeitsfelder sich offensichtlich dafür eignen, behinderten Menschen eine Beschäftigung zu offerieren. Nach wie vor gestaltet sich die berufliche Integration von beeinträchtigten und dabei speziell kognitiv beeinträchtigten Menschen in Arbeitsfelder außerhalb spezialisierter Angebote wie beispielsweise Werkstätten für behinderte Menschen als schwierig, obwohl gerade in letzter Zeit die Debatte um die Inklusion behinderter Menschen vor dem Hintergrund der seit 2009 gültigen UN-Konventionen zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Bei den im Hotel beschäftigten Mitarbeiter_innen mit einer Beeinträchtigung handelte es sich überwiegend um Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die oft mit der nicht unproblematischen Formulierung als ›geistig behinderte Menschen‹ bezeichnet werden. Noch immer wird innerhalb des behindertenpädagogischen Diskurses vielfach zwischen Körperbehinderung, geistiger Behinderung und Mehrfachbehinderung unterschieden. Da aber auch die kognitiven Fähigkeiten als an den Körper gebundene und durch ihn zum Ausdruck gebrachte Funktionen aufzufassen sind, wird diese Kategorisierung beziehungsweise dieser
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Versuch, Behinderungsformen zu klassifizieren, zunehmend kritisch gesehen.4 Die Datenerhebung während der Feldphasen erfolgte hauptsächlich durch teilnehmende Beobachtung und die ero-epische Gesprächsführung mit den Mitarbeiter_innen des Hotels. Das gesamte für die Untersuchung herangezogene und ausgewertete Material bestand aus den Protokollen der ero-epischen Gespräche, den Feldprotokollen und Notizen der teilnehmenden Beobachtung, meinem persönlichem Forschungstagebuch und hoteleigenem Werbe- und Prospektmaterial. Als eine wichtige Datenquelle erwiesen sich zudem die Gästebücher des Hotels, die mir als Datenquelle zur Verfügung gestellt wurden und Einträge von Gästen über einen Zeitraum von vier Jahren beinhalten. Die Auswertung des Materials erfolgte in Anlehnung an die Prinzipien der grounded theory und anhand hermeneutischer Analyseverfahren.5 Im Laufe des empirischen Prozesses verdichteten sich die Hinweise auf eine vorhandene Dynamik zwischen der Raumwahrnehmung und der Wahrnehmung von Akteur_ innen mit einer Behinderung. Der räumliche Kontext des Hotels nahm dabei eine wesentliche Rolle für die Wahrnehmung von Körpern ein; insbesondere in Bezug auf die als ›anders‹ empfundene und als behindert wahrgenommene Körperlichkeit. Diesen auftretenden ko-konstitutiven Prozessen in der Wahrnehmung von Körpern und Räumen wurde systematisch nachgegangen, wobei sich die empirischen Untersuchungen schwerpunktmäßig auf die Wahrnehmung von Behinderung durch die nicht behinderten Gäste und Mitarbeiter_innen im Hotel konzentrierten.
4 | Zum Problem bzw. zur komplexen Debatte hinsichtlich einer angemessenen und korrekten Bezeichnung für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen siehe bspw. Georg Theunissen: Lebensweltbezogene Behindertenarbeit und Sozialraumorientierung. Eine Einführung in die Praxis. Freiburg 2012, S. 9-16. Im Text werden von mir die Begriffe ›Beeinträchtigung‹ und ›Behinderung‹ bzw. ›beeinträchtigt‹ und ›behindert‹ verwendet, da diese für die in diesem Text erörterten Perspektiven und Ausgangsfragen anwendbar erscheinen, sodass auf eine weitergehende Begriffsreflexion verzichtet wird. 5 | Zum methodischen Vorgehen mittels des ero-epischen Gesprächs siehe Roland Girtler: Methoden der Feldforschung. Wien 2001, sowie zur Konzeption einer grounded theory Barney G. Glaser/Anselm L. Strauss: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung [1967]. Bern 2005.
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R AUM UND B EHINDERUNG — R AUM UND VERKÖRPERTE D IFFERENZ Mehrheitlich wird heute davon ausgegangen, dass es sich bei solch komplexen gesellschaftlichen Kategorien wie Raum und Behinderung um sozial hergestellte Phänomene handelt, die von Akteur_innen auf unterschiedliche Weise und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen durch soziale Praktiken prozesshaft hergestellt werden. Im Zuge des spatial turn ist eine konstruktivistische Herangehensweise Ausgangsbasis und Programm zugleich für sozialwissenschaftliche Modellierungen des Raums und seiner vielfältigen Aneignungs- und Wahrnehmungsweisen von und durch Akteur_innen. Dabei beziehen sich die Überlegungen sowohl auf den Raum als ein ›konkret-materielles‹ Konstrukt, auf seine materielle Realisierung an Orten, seine Ausgestaltung mit Gegenständen und die anwesenden Menschen als auch auf seine metaphorische Bedeutung. Beide Komponenten, die konkret-materielle und die imaginiert-konstruierte, konstituieren letztlich das, was von Akteur_innen auf verschiedene Art und Weise als Raum wahrgenommen, empfunden und angeeignet wird. Die intensive (Wieder-)Beschäftigung mit Raum hat nicht zuletzt dazu geführt, dass eine Fülle von unterschiedlichen, konkurrierenden und sich einander ähnelnden Konzeptionen und theoriegeleiteten Überlegungen kursieren. Diese Vielfalt unterstreicht die Wichtigkeit der Kategorie ›Raum‹ für die Betrachtung gesellschaftlicher Prozesse, finden diese doch immer in wie auch immer gearteten räumlichen Kontexten statt. Zugleich kann diese Komplexität des Gegenstands auch Unsicherheiten erzeugen. Es stellen sich dabei meines Erachtens folgende wesentliche Fragen, etwa welche Herangehensweisen an den Raum zielführend und bezogen auf das Erkenntnisinteresse gewinnbringend sind, wie raumbezogene Forschung ›funktionieren‹ und dabei gleichzeitig den durch den spatial turn generierten Ansprüchen zum forschungsbezogenen Umgang mit Raum standhalten kann. Wichtig scheint in diesem Zusammenhang, unterschiedliche Konzepte zu Raum als Angebote zu verstehen, die je nach Forschungsinteresse und Fokus nutzbar gemacht werden können und insofern als Möglichkeiten dienen, Raum zu lesen und seine Vielschichtigkeit auszuloten. Letztlich kann erst eine trans- und interdisziplinär ausgerichtete Hinwendung zu Raum weiterführende Anschlüsse ermöglichen. Diese Verzahnungen gilt es sichtbar zu machen und weiterzudenken, auch unter Einbezug bestehender Denkmodelle und Kon-
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zeptionen. Besonders für die Beschäftigung mit Raum sollten dabei die spezifischen ›diskursiven Rückkoppelungseffekte‹ des Gegenstands konsequent mitreflektiert werden. Für meine Überlegungen zu Raum, Atmosphäre und verkörperter Differenz kann das soziologisch begründete und in den letzten Jahren vielbeachtete relationale Raumkonzept von Löw als wegweisendes Modell verstanden werden.6 Es wurde sowohl als theoretischer Rahmen für die im empirischen Prozess generierten Befunde genutzt als auch in der Funktion eines forschungspragmatischen Instruments. Löws Konzeption, hier nur in knapper Form skizziert, versteht Raum als eine relationale, prozesshafte (An-)Ordnung sozialer Güter und Menschen. Dabei unterscheidet sie zwischen zwei verschiedenen Prozessen der Raumkonstitution, erstens dem ›Spacing‹, das sich auf das Errichten, Bauen und Platzieren von sozialen Gütern und Menschen bezieht und das die Positionierung und Platzierung primär symbolischer Markierungen ermöglicht, um Ensembles beziehungsweise Arrangements von Gütern und Menschen kenntlich zu machen. Zur Konstitution von Raum bedarf es aber noch eines weiteren Schritts, der ›Synthese(leistung)‹. In der Synthese als Abstraktionsleistung werden über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst beziehungsweise als ein räumliches Gebilde wahrgenommen.7 Diese Herangehensweise an den Raum und seine vielfältigen gesellschaftlichen Bedeutungsebenen ermöglicht es, Überlegungen zu Behinderung, und – wie an späterer Stelle zu zeigen sein wird – zur Bedeutung von räumlicher Atmosphäre für die Wahrnehmung von Behinderung beziehungsweise einer als behindert oder beeinträchtigt wahrgenommenen Körperlichkeit anzuschließen. Wie der Raum, so wird auch Behinderung aus heutiger Sicht zunehmend als eine soziale Kategorie betrachtet: Auch Behinderung kann als Produkt sozialer Praktiken und Wahrnehmungsweisen aufgefasst werden. Symptomatisch für diese Auffassung ist die umgangssprachliche, des Öfteren verwendete Beschreibung von Behinderung im Sinne von ›man ist nicht behindert, sondern man wird behindert‹. Nicht der Körper, dessen Funktionsweise oder visuelles Erscheinungsbild zunächst von einer Norm und damit von einer Vorstellung, was als nicht behindert 6 | Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a.M. 2001. 7 | Ebd., S. 158f.
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angesehen wird, abweicht, stellt Behinderung dar, sondern die Folgen, die sich aus dieser Abweichung ergeben und Auswirkungen auf die Teilhabe an verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen nach sich ziehen. Bei dieser ›konstruktiven Herstellungsweise‹ von Behinderung stehen unter anderem der Körper und seine Beschaffenheit im Vordergrund. Ein Körper wird als ›anders‹ wahrgenommen und mit diesbezüglichen Eigenschaften in Abgrenzung zu der Vorstellung eines normalen, nicht behinderten Körpers belegt. Vielfach dominieren hier Defizitkonzepte: Es wird angenommen, dass Menschen aufgrund ihres abweichenden Körpers bestimmte Dinge nicht ausführen können – eine Annahme, die sich auf Erlebnisse der Alltagspraxis gründet, in der ein/e Rollstuhlfahrer_in tatsächlich eine Treppe nicht überwinden kann oder ein kognitiv beeinträchtigter Mensch mit Artikulationsschwierigkeiten Probleme im Supermarkt an der Kasse hat. Aus der Forschungsperspektive heraus ergibt sich hier ein Problem: Wenn Behinderung als rein soziale Konstruktion und Zuschreibung definiert wird, besteht die Gefahr, dass die tatsächlichen Probleme und Unwägbarkeiten, die sich im Kontext von körperlicher Beeinträchtigung in Alltagssituationen ergeben, nicht angemessen berücksichtigt werden. Anders gesagt, die Betrachtung von Behinderung als soziale Kategorie darf nicht dazu führen, die tatsächlichen Einschränkungen, die Menschen mit Behinderungen möglicherweise haben, und die damit in Verbindung stehenden Probleme zu marginalisieren. Die im deutschsprachigen Raum noch recht junge Forschungsdisziplin der disability studies hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese mitunter komplex verwobenen Spannungsfelder und Problemlagen in Bezug auf die Kategorie ›Behinderung‹ aus einer multiperspektivischen, interdisziplinären Sichtweise anzugehen. Dabei grenzt sie sich konsequent von herkömmlichen, oftmals medizinisch-rehabilitativ gerahmten Sichtweisen auf Behinderung ab. Man könnte die disability studies auch als ein Forschungsprogramm bezeichnen, das konsequent dazu auffordert, neue und gezielt andere – unter Umständen auch abwegig anmutende – Wege in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Behinderung einzuschlagen.8 Teil dieses innovativen Programms ist es, die eigene Perspektive be8 | Zum Selbstverständnis der disability studies sowie ihren Zielsetzungen und Schwerpunkten siehe insbesondere Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen
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einträchtigter Akteur_innen stärker zu berücksichtigen und konsequent in die wissenschaftliche Auseinandersetzung einzubeziehen. Ein für die vorliegende Untersuchung wichtiger Aspekt der disability studies ist dabei der Blick auf den menschlichen Körper, insbesondere auf den als different wahrgenommenen Körper, und die Auswirkung dieses Blicks für Interaktionspraktiken und soziale Prozesse im weiten Sinne. Körper und die ihnen von Akteur_innen zugeschriebenen Bedeutungen rücken dabei in den Fokus. So konstatieren Anne Waldschmidt und Werner Schneider in ihren Überlegungen zum Forschungsgegenstand der disability studies, dass körperliches Anderssein und verkörperte Differenz weit verbreitete LebensErfahrungen darstellen, deren Erforschung zu Erkenntnissen führt, die nicht nur für die auf Behinderung spezialisierten gesellschaftlichen Teilsysteme und die so genannten Betroffenen, sondern für die allgemeine Gesellschaft und für das Verständnis des Zusammenlebens von Menschen schlechthin relevant sind. 9
Eine derartige Betrachtung von Behinderung fokussiert Akteur_innen als ›verkörperte Subjekte‹ oder als Subjekte mit einer ›verkörperten Differenz‹. Dieser Einbezug des Körpers und seiner materiellen Beschaffenheit stellt eine wichtige Verbindungslinie in der Betrachtung von Raum und Behinderung dar, geht man davon aus, wie eingangs beschrieben, dass Raum und Behinderung gesellschaftlichen ›Herstellungsweisen‹ und damit Konstruktionsprozessen unterliegen, die – im einen wie im anderen Fall – ohne den Körper nicht denkbar wären. Der Einbezug des Körpers respektive des als abweichend wahrgenommenen Körpers stellt für die soziologische Forschung eine sowohl theoretische als auch methodische Herausforderung dar. Die wissenschaftliche Berücksichtigung von Akteur_innen als verkörperte Subjekte vermag in diesem Zusammenhang eine gewisse Unsicherheit hervorzurufen, was unter anderem damit zusammenhängt, dass der Körper als materielles Gebilde und die in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld 2007, ebensowie Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld 2007. 9 | Vgl. Anne Waldschmidt/Werner Schneider: Disability Studies und Soziologie der Behinderung. Kultursoziologische Grenzgänge – eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Disability Studies, S. 9-30, hier S. 13.
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an ihn herangetragenen und mit ihm in Verbindung stehenden Vorstellungen hinsichtlich soziologischer Fragestellungen vielfach außer Acht gelassen wird. Gesa Lindemann bezeichnet dies zugespitzt als die »quasimentalistische Bornierung« der Soziologie, die ihrer Ansicht nach immer noch die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Konstruktion von Körpern und deren Bedeutung für die Konzeption von Sozialität vernachlässigt.10 Anknüpfend an diese Überlegungen scheint es unumgänglich, Akteur_innen als verkörperte Subjekte zu beschreiben, die soziale Phänomene und Gegenstandsbereiche wie Raum und Behinderung wahrnehmen und konstruieren, da sie aufgrund ihrer sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten dazu in der Lage sind; ihr Körper ist Teil des wahrgenommenen Raumgefüges und fungiert als Projektionsfläche und Zielort für Zuschreibungsprozesse. Auch wenn die Formulierung ›verkörpertes Subjekt‹ meines Erachtens etwas artifiziell anmutet, verweist sie konsequent darauf, Körperlichkeit als ein immer mitzudenkendes, nicht übergehbares Phänomen zu behandeln. Nicht nur Bedeutungen von Körperlichkeit im Hinblick auf soziale Prozesse, auch sinnliche Wahrnehmungsvorgänge werden oftmals umgangen, wenn nicht gar ausgespart. Gugutzer und Schneider, die sich intensiv mit dem behinderten Körper und dessen alltagsimmanenter gesellschaftlicher Konstruktion auseinandersetzen, fordern in diesem Zusammenhang auch, »die soziale Relevanz leiblicher Erfahrungen und Wahrnehmungen systematisch in soziologische Theorien aufzunehmen«.11 Gerade Analysen von Raum- und Körperkonzepten müssen diese sinnlichen Fähigkeiten berücksichtigen. So ist in Bezug auf die Kategorie ›Behinderung‹ zu konstatieren, dass der beeinträchtigte Körper in den meisten Fällen visuell wahrgenommen wird. Wahrgenommen wird beispielsweise eine abweichende Form oder auch Haltung von Gliedmaßen, oder es wird angesichts eines vorhandenen Hilfsmittels, wie eines Rollstuhls, registriert, dass es sich um eine Person mit einer ›anderen‹ Körperlichkeit handelt. Anders verhält es sich bei der Wahrnehmung 10 | Vgl. Gesa Lindemann: Die Verkörperung des Sozialen. Theoriekonstruktionen und empirische Forschungsperspektiven. In: Markus Schroer (Hg.): Soziologie des Körpers. Frankfurt a.M. 2005, S. 114-138, hier S. 115. 11 | Vgl. Robert Gugutzer/Werner Schneider: Der behinderte Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung. In: Anne Waldschmidt/ Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, S. 31-54, hier S. 47.
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von Einschränkungen der kognitiv-mentalen Funktionen. Diese nicht unmittelbar visuell wahrnehmbaren Eigenschaften werden häufig erst in Interaktionssituationen bemerkt, wenn eine Person beispielsweise Probleme bei der sprachlichen Artikulation aufweist. Herstellungsweisen von Raum und die in diesem Zusammenhang stattfindende Wahrnehmung von sich in Räumen befindlichen Körpern respektive verkörperten Subjekten bedürfen somit einer konsequenten Berücksichtigung der sinnlichen Wahrnehmung. Ein Begriff, der für die Wahrnehmungsweisen von Körpern und Räumen eine wichtige Rolle einzunehmen scheint, ist die innerhalb räumlicher Wahrnehmung empfundene Atmosphäre, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll.
R ÄUMLICHE A TMOSPHÄRE ALS E LEMENT VON W AHRNEHMUNGSPROZESSEN ›Diese besondere Atmosphäre hier‹, ›die bemerkenswerte atmosphärische Stimmung‹, ›diese dichte Atmosphäre‹ – diese Aussagen hört man häufig, wenn es um die Wahrnehmung von Orten oder Plätzen geht. Die an bestimmten Orten, das heißt in angeeigneten Räumen,12 verspürte Atmosphäre ist ein alltägliches Phänomen. Atmosphäre besitzt dabei eine elementare Bedeutung für die Prozesse der Raumwahrnehmung, Raumherstellung und Raumaneignungsstrategien von Akteur_innen. Dabei ist Atmosphäre13 auch eng mit den in Räumen hervorgerufenen oder veränderten Gefühlen verknüpft. Der analytisch schwer zu präzisierende Begriff der ›räumlichen Atmosphäre‹ bleibt oftmals unscharf und stellt hinsichtlich einer methodisch-methodologischen Herangehensweise und Analyse nach wie vor eine Herausforderung dar. Wie lässt sich räumliche Atmosphäre und speziell die von Akteur_innen in räumlichen Kontexten 12 | Im Sinne von Löws Konzeption sind Orte hier als räumliche Realisierungen an konkreten Orten gemeint, womit der konkrete Ort zum Ziel und Resultat einer räumlichen Platzierungspraxis wird (vgl. Löw: Raumsoziologie, S. 198-203). 13 | In vielen kulturwissenschaftlich orientierten Auseinandersetzungen mit (räumlicher) Atmosphäre wird der Begriff sowohl im Singular als auch im Plural verwendet. Hier wird bewusst der Singular gewählt, da dieser das Vorhandensein unterschiedlicher atmosphärischer Gegebenheiten und Wahrnehmungsweisen einschließt.
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empfundene Atmosphäre rekonstruieren und präzisieren? Für die ethnografische Studie, auf der diese Überlegungen basieren, erwies sich die von den Akteur_innen vor Ort wahrgenommene und empfundene Atmosphäre als ein den gesamten empirischen Prozess prägendes Element im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Raum. Die Begegnungen von beeinträchtigten und nicht beeinträchtigten Menschen innerhalb des Hotels sind somit auch als Begegnungen innerhalb eines dafür vorgesehenen räumlich-atmosphärischen Kontexts zu verstehen. Das Hineingeraten in Atmosphäre und (raum-)atmosphärisch bedingte Befindlichkeiten beschreibt Andreas Rauh als Ingressionserfahrung,14 die vielfach für die Raumwahrnehmung der Akteur_innen innerhalb der Hotelsituation beobachtet werden kann. Sie manifestiert sich besonders deutlich in den schriftlichen Kommentaren der Gäste über den Aufenthalt, wie einige der analysierten Gästebucheintragungen zeigen: Selten hat mich in einem Hotel ein so liebevoller Geist angeweht wie im (Name des Hotels). Hier liegt etwas in der Luft, das mich ganz stark berührt und Hoffnung weckt auf eine Welt, die von diesem zarten, fürsorglichen Miteinander erfüllt ist. Vielen Dank für die angenehme wohltuende Atmosphäre und die zauberhafte Stimmung hier in Ihrem Hause! Eine bemerkenswerte Atmosphäre, die ich noch nirgends in der Welt (und ich war an vielen Orten in vielen Ländern) angetroffen habe! Vielen Dank für den gemütlichen Aufenthalt.
Die hier angeführten Beispiele zeigen die Verbindung der verspürten und wahrgenommenen Atmosphäre mit den durch diese generierten emotionalen Empfindungen. Es handelt sich bei den Eintragungen um die Schilderung von Atmosphären und wahrgenommenen Stimmungen, die durch das Eintreten in die zeitlich und räumlich begrenzte Anwesenheitssituation im Hotel erzeugt werden. Die zitierten Einträge sprechen dabei nicht explizit die Begegnung mit den beeinträchtigten Mitarbeitenden an. Dennoch sind die Begegnungssituationen zwischen den Men14 | Vgl. Andreas Rauh: Versuche zur aisthetischen Atmosphäre. In: Rainer Goetz/Stefan Graupner (Hg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München 2007, S. 123-142.
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schen und die daran geknüpften Wahrnehmungen als konstitutiv für die Raumwahrnehmung und das Erleben von Atmosphäre zu berücksichtigen. Das im ersten Beispiel genannte »etwas in der Luft«, das als Form einer atmosphärischen Wahrnehmung interpretiert werden kann, welches sich offenkundig nur schwer mit Worten beschreiben lässt, wird zum expliziten Verursacher von Empfindungen, indem es »berührt und Hoffnung weckt«. Die nicht näher erläuterte, jedoch durch die Verwendung des Demonstrativpronomens hervorgehobene Rede von »diesem zarten, fürsorglichen Miteinander« lässt die Lesart zu, dass es sich um den erlebten und dabei als positiv aufgefassten gemeinsamen Umgang von behinderten und nicht behinderten Personen vor Ort handelt. Auch das zweite und dritte Beispiel zeigen die Verbindung zwischen der räumlich wahrgenommenen Atmosphäre und der dadurch generierten Befindlichkeit, die als ›gemütlich‹ und ›angenehm‹ beschrieben wird. Im zweiten Beispiel wird außerdem auf die Stimmung15 hingewiesen, die als ›zauberhaft‹ und damit als über die Realität hinausgehend geschildert wird; eine Stimmung, die auf etwas Magisches und Märchenhaftes verweist, das lediglich hier angetroffen werden kann und sich ebenfalls auf das vor Ort erlebte Miteinander und damit auf die Begegnungen zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen bezieht. Im dritten Eintrag wird die Atmosphäre als einmalig auf der Welt vorhanden charakterisiert und als Phänomen empfunden, das sich ausnahmslos auf das Hotel bezieht und somit nicht an anderen Orten wiederholt erfahren werden kann. Ausgehend von diesen Beispielen ist es sinnvoll, Atmosphäre als ein Element räumlicher Wahrnehmung aufzufassen, welches gleichermaßen auch an der Wahrnehmungsweise von in bestimmten Räumen angetrof15 | Die Begriffe ›Stimmung‹ und ›Atmosphäre‹ werden in der forschungsrelevanten Literatur teilweise synonym verwendet. In manchen Zusammenhängen wird Atmosphäre hingegen als das eine Stimmung erst erzeugende Phänomen aufgefasst. Zur Unterscheidung von Stimmung und Atmosphäre vgl. auch Wolfhardt Henckmann: Atmosphäre, Stimmung, Gefühl. In: Rainer Goetz/Stefan Graupner (Hg.): Atmosphäre(n), S. 45-84. Für die diesem Beitrag zugrunde liegende empirische Untersuchung ist eine genaue Begriffsdifferenzierung jedoch nicht weiter notwendig, da sowohl ›Stimmung‹ als auch ›Atmosphäre‹ innerhalb des Datenmaterials sich auf den sinnlich wahrgenommenen Umgebungsraum am Forschungsort beziehen.
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fenen und sich begegnenden Körpern beteiligt ist. Das heißt, bezogen auf die Befunde der Studie, dass die in Räumen wahrgenommene Atmosphäre als ein konstitutiver Faktor daran beteiligt ist, wie und ob man die Körperlichkeit von Akteur_innen als beeinträchtigt oder abweichend wahrnimmt beziehungsweise sie mit diesbezüglichen Bedeutungen versieht. Um diese Überlegungen weiter auszubauen, ist zunächst ein Blick auf das Phänomen Atmosphäre im Kontext einer kultur- und sozialwissenschaftlich orientierten Forschung notwendig. Atmosphäre, genauer die im Kontext räumlicher Wahrnehmung identifizierte Atmosphäre, ist Gegenstand zahlreicher kulturwissenschaftlicher, vorrangig philosophisch motivierter Auseinandersetzungen. Gernot Böhme, der sich in zahlreichen Publikationen intensiv mit Atmosphäre auseinandergesetzt hat, spricht in diesem Zusammenhang auch von »der Zugehörigkeit atmosphärischer Erfahrung zum alltäglichen Lebensgefühl«.16 Akteur_innen seien permanent Atmosphären ausgesetzt, und dieses Ausgesetztsein enthält nicht nur Bedrohung, sondern auch Verheißung. Auf der anderen Seite stellen wir Atmosphären selbst her. Von Seiten der Herstellung von Atmosphären wissen wir in der Tat viel mehr über sie als durch ihre Erfahrung.17
Neben der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen existieren vermehrt interdisziplinär angelegte, insbesondere kultur- und medienwissenschaftlich orientierte Publikationen zu Atmosphäre.18 Die soziologische Vernachlässigung des Gegenstands mag aus der Problema16 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre. München 2006, S. 33. 17 | Ebd., S. 26. 18 | Wichtige Impulse für die Nutzbarmachung und die Konzeption von Atmosphäre als relevantes gesellschaftliches Phänomen geben die Arbeit von Elisabeth Blum: Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der räumlichen Wahrnehmung. Baden 2010, der oben schon genannte, interdisziplinär angelegte Sammelband von Rainer Goetz/Stefan Graupner (Hg.): Atmosphäre(n) sowie die Arbeit von Andreas Rauh: Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen. Bielefeld 2012. Allen geht es um den Versuch, sich dem schwer präzisierbaren Begriff der Atmosphäre zu nähern, dessen Allgegenwärtigkeit in den unterschiedlichsten Kontexten zu untersuchen, und – dies scheint mir besonders wichtig – Anschlüsse für weitergehende Fragestellungen zu generieren. Vor allem Rauh betrachtet dabei
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tik resultieren, wie räumlich erlebte Atmosphäre – eigene und diejenige anderer Personen – empirisch erfasst, plausibel belegt und als Faktor für Handlungsverläufe und soziale Prozesse berücksichtigt werden kann. Identifizieren qualitativ orientierte Forschungsarbeiten ›Atmosphäre‹, so wird diese zwar konstatiert, Aussagen und Hypothesen hinsichtlich ihrer möglichen Auswirkungen und Bedeutungen aber oftmals nur vage formuliert. Es hat den Anschein, als scheue man sich, Atmosphären als ursächliche Faktoren für soziale Sachverhalte in Betracht zu ziehen. Die Erforschung von Atmosphäre scheint für einige Wissensbereiche nach wie vor fragwürdig, fast schon als wäre dies etwas ›Unseriöses‹.19 Einen Erklärungsansatz für diese Unsicherheit liefern etwa Goetz und Graupner, wenn sie davon sprechen, dass die Einwände gegen eine phänomenologisch-kritische oder reflexiv-erkenntnistheoretische Untersuchung des Gegenstandsbereichs Atmosphären nach wie vor von den naturwissenschaftlich geprägten Vorstellungen exakten Benennens diktiert sind, eine die Fachgrenzen überschreitende, kooperierende und sich gegenseitig ergänzende Bearbeitung des Forschungsfeldes also erschwert ist. Atmosphären werden sowohl inhaltlich als auch begrifflich als unscharf und somit einer eingehenden Untersuchung für nicht relevant genug erachtet. 20
Der Humangeograf Katzig bezeichnet das Problem dieser Präzisierungsgrenzen als die »schwierige empirische Handhabbarkeit von Atmosphädie besondere Bedeutung von Atmosphäre für eine empirisch-qualitativ orientierte Forschung. 19 | Es gibt einige Studien, die einen Zusammenhang von (räumlich) erlebter Atmosphäre und der lebensweltlichen Praxis von Akteur_innen und damit auch ihrer Handlungsweisen formulieren, wie beispielsweise die stadtsoziologisch-olfaktorische Untersuchung von Werner Bischoff: Nicht-visuelle Dimensionen des Städtischen. Olfaktorische Wahrnehmung in Frankfurt a.M., dargestellt an zwei Einzelstudien zum Frankfurter Westend und Ostend. Oldenburg 2007, oder die Studie von Doris Krammling-Jöhrens, die Atmosphären im Zusammenhang mit der Lernsituation an einer Schule untersucht: Doris Krammling-Jöhrens: Atmosphäre als Wirklichkeitsebene. Eine ethnographische Studie über die Glocksee-Schule. Diss. Kassel 1997. 20 | Rainer Goetz/Stefan Graupner: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Atmosphäre(n), S. 9-16, hier S. 10.
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ren als nicht materielle Halbdinge«. Er schlägt vor, Atmosphären in Anlehnung an den französischen Soziologen Jean-Paul Thibaud als Medien der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt zu begreifen.21 Thibauds Argumentation folgend ist Atmosphäre weniger als Gegenstand der Wahrnehmung denn als eine Rahmenbedingung für diese zu betrachten.22 Katzig sieht hierin die Möglichkeit, sich dem Phänomen Atmosphäre bezüglich einer pragmatischen Bedeutung zu nähern und seine Auswirkungen auf Handlungsweisen zu untersuchen: »Als Medium oder Vermittelnde beeinflussen sie [Atmosphären] die Art und Weise, wie die Welt und das Subjekt sich in wechselseitiger Beziehung aufeinander herausbilden.«23 An diese Sichtweise schließen die empirischen Befunde meiner Studie an, in der die von Akteur_innen verspürte Atmosphäre als Faktor für die Wahrnehmung von differenter Körperlichkeit berücksichtigt wurde. Atmosphäre ist daran beteiligt, ob und inwiefern wahrgenommene Körper als different, abweichend oder behindert wahrgenommen und eingeordnet werden. Gerade für die Betrachtung von Raum und Körper, also für die ›in Räumen erfahrenen Körper‹ und die ›durch Körper erfahrenen Räume‹, kann Atmosphäre als hilfreiches und aufschlussreiches Konzept gesehen werden. Es geht um die Frage, wie wir anderen Menschen in atmosphärisch-räumlichen Kontexten begegnen, sie empfinden und mit Bedeutsamkeit versehen. Kann Atmosphäre in diesem Zusammenhang als wirkmächtige Funktion berücksichtigt werden? Beeinflusst die von uns wahrgenommene Atmosphäre unsere Interaktionsprozesse und die Konstruktionsweisen unserer Umwelt – im Sinne einer handlungsdeterminierenden Kraft – stärker als bislang angenommen? Die Befunde der Studie weisen deutlich in diese Richtung: Sie belegen Veränderungen und Verschiebungen in der Zuschreibung und Konstruktion eines Körpers als 21 | Vgl. Rainer Katzig: Atmosphären – Konzept für einen nicht repräsentationellen Zugang zum Raum. In: Christian Berndt/Robert Pütz (Hg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Bielefeld 2007, S. 167-188, hier S. 167. 22 | Vgl. Jean-Paul Thibaud: Die sinnliche Umwelt von Städten. Zum Verständnis urbaner Atmosphären. In: Michael Hauskeller (Hg.): Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Baden-Baden 2003, S. 280-297, hier S. 293. 23 | Katzig: Atmosphären, S. 170.
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›behindert‹ und ›different‹, wenn dieser in einem speziellen räumlichen und atmosphärisch aufgeladenen Kontext wahrgenommen wurde.
S OZIOLOGISCHE A NNÄHERUNGEN AN W AHRNEHMUNGS WEISEN VON R AUM , A TMOSPHÄRE UND K ÖRPER Wie kann es sein, dass differente Körperlichkeit in einem arrangierten räumlich-atmosphärischen Kontext, wie ihn ein Hotel generiert, als gar nicht mehr so sonderlich ›anders‹ oder ›different‹ erscheint und wahrgenommen wird? Ändern sich Wahrnehmungsprozesse unter dem Einfluss räumlicher Atmosphäre? Werden Körper durch die atmosphärisch beeinflusste Wahrnehmung verändert konstruiert und erfahren? Trotz der Beobachtungen eines veränderten Wahrnehmungsprozesses von differenter Körperlichkeit im Kontext räumlicher Atmosphären im Rahmen meiner Hotelstudie können diese Fragen nicht eindeutig beantwortet werden. Vielmehr wird dafür plädiert, diese Hinweise als Spuren und Anschlussstellen zu lesen, die für das Verständnis der Zusammenhänge von Raum und Körper als soziale ›Herstellungsmomente‹ genutzt werden können. An dieser Stelle ist es sinnvoll, Atmosphäre an das relationale Raumkonzept Löws rückzubinden. Auf diese Weise kann ein detaillierterer Einblick in Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen von Atmosphäre gewonnen werden. Atmosphäre kann, mit Löw argumentiert, als Element der individuellen Raumwahrnehmung bezeichnet werden. Somit ist sie als ein konstitutiver Bestandteil von raumkonstruktiven Herstellungsprozessen anzusehen, zugleich aber auch als ein die räumliche Wahrnehmung stetig veränderndes und beeinflussendes Element. Der Einfluss dieser individuell empfundenen räumlichen Atmosphäre auf Akteur_innen ist dabei stets dynamisch und prozessual, was gleichermaßen für die durch Atmosphäre erzeugten Befindlichkeiten gilt. Löw beschreibt räumliche Atmosphäre als eine dem Raum eigene Potenzialität, die sich aus der Verbindung der Außenwirkung der platzierten sozialen Güter und Menschen mit der Wahrnehmungsfähigkeit der synthetisierenden und damit raumkonstruierenden Akteur_innen entwickelt.24 Zudem betont sie, dass Atmosphäre in der Lage ist, die Gefühle der raumkonstruierenden Subjekte 24 | Vgl. Löw: Raumsoziologie, S. 204f.
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zu verändern. Inwiefern jene durch räumliche Atmosphären generierten und veränderten Gefühle wiederum einen Einfluss auf den Gesamtprozess räumlicher Wahrnehmung ausüben und sich auf die Sichtweisen und Beurteilungen der platzierten Güter und Menschen auswirken, führt sie jedoch nicht näher aus: Die Außenwirkung sozialer Güter und Menschen [innerhalb der raumkonstruierenden Prozesse, Anm. d. A.] bleiben nicht einfach als verschiedene Wirkungen nebeneinander bestehen, sondern entwickeln im gemeinsamen Arrangement eine eigene Potentialität. In der Zusammenschau verschiedener Außenwirkungen entstehen, so möchte ich zuspitzen, spezifische Atmosphären, die dann aber, was für Wahrnehmungsprozesse allgemein gilt, aktiv aufgegriffen werden müssen. 25
Folgt man dieser Argumentation, so wird deutlich, dass konkret materielle und abgrenzbare Räume in der Form bestimmter Orte in ihrem spezifischen Arrangement aus platzierten Gütern und anwesenden Menschen eine eigenständige und aufgrund ihrer Dinglichkeit vorhandene Ausstrahlungskraft besitzen. Diese tritt jedoch erst als reales Phänomen zutage und entwickelt ihre Wirksamkeit, wenn sie von Individuen sinnlich wahrgenommen und damit aktiv erfasst wird. Räume besitzen somit Atmosphäre als ein ihnen inhärentes, jedoch zugleich passives Phänomen, welches sich erst durch die räumliche Wahrnehmung von Akteur_innen ereignet und Wirkung entfaltet. Löws Bezeichnung von Atmosphäre als einer ›räumlichen Potenzialität‹ unterstreicht dabei den Kann-Charakter von Atmosphäre und kennzeichnet diese als räumliche Möglichkeit. Meines Erachtens lässt sich Atmosphäre auch sinnvoll durch den Begriff der ›räumlichen Information‹ näher beschreiben: Aus dieser Perspektive kann Atmosphäre als Träger von Informationen angesehen werden, deren potenzieller Gehalt ohne die räumlichen Konstruktionsprozesse von Akteur_innen zunächst neutral zu sein scheint. Im Rahmen von Raumherstellungsprozessen und Raumaneignungsversuchen verdichtet sich Atmosphäre jedoch innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung von Akteur_innen zu einer gehaltvollen und spezifischen Information. Diese Informationen, die durch und mit der wahrgenommenen räumlichen Atmosphäre die Akteur_innen erreichen, sind in der Lage Gefühle hervorzurufen, Stimmungslagen zu 25 | Ebd.
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verändern und Befindlichkeiten zu beeinflussen. Somit können räumliche Atmosphäre und ihr spezifischer Informationscharakter auch als Ausgangsbasis für in Räumen entstehende Emotionen gesehen werden. Jede räumliche Wahrnehmung – und im Prinzip erfolgt diese kontinuierlich, wenn auch größtenteils unbewusst, da sich Menschen stets in räumlichen Zusammenhängen befinden und bewegen – steht somit auch in einer Verbindung zu der vorhandenen und verspürten Atmosphäre. Diese Sichtweise impliziert gleichzeitig die Frage, inwiefern Menschen sich gegen die Wahrnehmung einer räumlichen Atmosphäre entscheiden beziehungsweise sich bewusst ihrer Wirkungsweise entziehen können, oder ob sie als wahrnehmende, verkörperte Subjekte grundsätzlich in ihrer Raumwahrnehmung die inhärente Atmosphäre und ihre spezifische Information aufnehmen, diese aber beispielsweise nicht zulassen oder abwehren. Es scheint durchaus möglich, dass Atmosphäre als ein machtvolles Phänomen Wahrnehmungen, Stimmungen und Befindlichkeiten auch gegen den Willen von Akteur_innen hervorrufen kann.26 Menschen sind in der Lage Räume mittels verschiedener Techniken und Objekte auszustatten und damit spezifischen Einfluss auf räumliche Arrangements zu nehmen. Der Versuch, durch eine räumliche Ausgestaltung eine bestimmte Atmosphäre für die raumnutzenden Akteur_innen zu erzielen, ist alltägliche Praxis und Bestandteil in privaten, öffentlichen und ökonomisch geprägten Bereichen. Im Rückgriff auf die löwsche Konzeption von Raum ist Atmosphäre damit auch die Folge einer bewussten Platzierungstechnik, die darauf zielt, Wahrnehmungsweisen zu generieren, welche wiederum spezifische Reaktionen hervorrufen (sollen). Atmosphäre ist in diesem Zusammenhang auch ein planvoll eingesetztes Instrument zur Gestaltung von sozialen Prozessen und Handlungsabläufen. Akteur_innen und ihre Körper besitzen in Bezug auf räumliche Atmosphäre mehrere entscheidende Funktionen: Zum einen erfolgt die Wahrnehmung von Räumen und deren Atmosphäre über die Sinnesorgane. Räume werden visuell, auditiv, taktil und olfaktorisch, ja unter Umständen auch gustatorisch wahrgenommen. Akteur_innen sind als 26 | Als ein Beispiel wäre hier die räumliche Gestaltung und der Einsatz von Musik, Düften oder einer speziellen Beleuchtungstechnik in Kaufhäusern zu nennen, deren Ziel es ist, eine spezifische Atmosphäre zu erzeugen, die potenzielle Kund_ innen zum Kaufen animieren soll.
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verkörperte Subjekte auch als Teil der wahrgenommenen Umgebung und damit Teil der räumlichen Wahrnehmung zu betrachten; Körper sind im Kontext von Raum somit sowohl als wahrnehmende als auch wahrgenommene Elemente zu denken. Zugleich sind Körper in ihrer materiellen Repräsentation auch Träger atmosphärischer Information, indem sie selbst eine wahrnehmbare Außenwirkung haben. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass für eine eingehende Betrachtung von Räumen und Körpern sowie ihre aufeinander bezogenen gesellschaftlichen Konstruktionsweisen und den damit einhergehenden Bedeutungszuschreibungen Atmosphäre als wichtiger einflussnehmender Faktor angesehen werden kann. Der Einbezug von Atmosphäre als analytisch relevante Kategorie vermag den Gegenstandsbereich und die Methodik einer raumbezogenen Forschung produktiv zu erweitern.
R AUM , A TMOSPHÄRE UND VERKÖRPERTE D IFFERENZ . V ERBINDUNGSLINIEN UND A NSCHLÜSSE Im Folgenden sollen die bisherigen Überlegungen zur Kohärenz und zu den Verflechtungen der Wahrnehmungsweisen von Raum, Atmosphäre und verkörperter Differenz noch einmal verdichtet werden. Begegnungen und Interaktionen von Menschen sind immer auch raumbezogene, häufig in dafür eigens arrangierten räumlichen Dimensionen stattfindende Situationen. Menschen finden sich dabei in Räumen wieder, die als atmosphärisch wirkend wahrgenommen werden. Die gegenseitige Wahrnehmung der Akteur_innen aufgrund ihrer gemeinsamen Position an einem konkreten Ort ist dabei immer auch als atmosphärisch beeinflusste Wahrnehmung des jeweils anderen zu verstehen. Die am Ort befindlichen Akteur_innen sind dabei aufgrund ihrer materiellen Körperlichkeit und der durch diese generierten Außenwirkungen produktiv an der Erzeugung der atmosphärischen Wirkung beteiligt, während sie diese gleichzeitig durch entsprechende Sinnesleistungen aufnehmen und verarbeiten. Die Körper von Akteur_innen in Räumen beziehungsweise an konkreten Orten sind damit in Bezug auf die Atmosphäre immer gleichermaßen wahrnehmende und wahrgenommene Elemente. Die Wahrnehmung von Körperlichkeit als eine ›unterschiedliche Körperlichkeit‹ erfolgt somit immer auch vor dem Hintergrund dieser atmosphärischen Informationen, die
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dazu beitragen, wie die andere Person und deren Körperlichkeit wahrgenommen wird. Da räumliche Atmosphäre beziehungsweise ihr Informationscharakter offenkundig in der Lage ist, Gefühle hervorzurufen oder zu verändern, sind auch diese raumbezogenen Gefühle als wirkmächtig und konstitutiv für die Konstruktion einer in Räumen wahrgenommenen Körperlichkeit zu berücksichtigen. Die empirischen Befunde meiner ethnografischen Studie lassen darauf schließen, dass durch die atmosphärischen Außenwirkungen der räumlichen Gegebenheiten und der materiellen Sachverhalte Räume als Räume von unterschiedlicher Qualität wahrgenommen werden. Dies gilt zugleich für die in diesen Räumen wahrgenommenen Körper, die materiell-stofflich erfahrbare Anwesenheit anderer Akteur_innen – im Fall der Studie also Personen mit einer Behinderung beziehungsweise einer erfahrbaren verkörperten Differenz. Der kurze Ausschnitt aus einem Gesprächsprotokoll mit einem Mitarbeiter vermag diesen Umstand zu verdeutlichen: […] und dann erzählte er (Herr M.), dass gerade vorhin mal wieder ein volles Tablett mit Gläsern zu Bruch gegangen ist, weil er (Herr G.) das mal wieder an die Stelle gestellt hätte, wo es eigentlich nicht hinsollte. Aber das wäre hier gar kein Problem, sagte er dann lachend, »da nimmt man ruckzuck den Besen und ab in die Tonne mit den Scherben, macht doch nichts«. Das würde schon mal vorkommen, aber er hätte da die Ruhe weg. (Auszug Protokoll ero-episches Gespräch mit einem Mitarbeiter der Hotels [Herr M.] der von seiner gemeinsamen Arbeit mit Herrn G., einem behinderten Kollegen, berichtet. Dieser war zum Zeitpunkt des Gesprächs nicht anwesend, da er bereits Dienstschluss hatte.)
Dieser kurze Ausschnitt aus einem Gespräch mit einem Mitarbeiter des untersuchten Hotels verdeutlicht exemplarisch, wie das konkrete SichBefinden in diesem räumlichen Kontext, die Anwesenheit in einem für die Wahrnehmung vorinstallierten, institutionell gerahmten ›Hier‹, entscheidenden Einfluss auf die Sichtweise und Beurteilung der beeinträchtigten Mitarbeitenden und ihrer Tätigkeiten ausübt. Der Ausdruck ›hier‹ beziehungsweise die Feststellung des ›Hierseins‹ und somit die raumkonstruktive Wahrnehmung inklusive der diese (mit)konstituierenden Informationen in Form der empfundenen Atmosphären erzeugen einen räumlichen Kontext, in dem es ›kein Problem‹ darstellt, wenn Gläser zu Bruch gehen. Das Beispiel präsentiert eine räumlich bedingte Erfahrung
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des Mitarbeitenden, der dem Missgeschick seines Kollegen mit Ruhe begegnet und den Vorgang in heiterer Gelassenheit schildert. Das beschriebene ›hier‹ des Barkeepers kann als Raum interpretiert werden, in welchem die Fähigkeiten des anderen, aber auch mögliche Handlungseinschränkungen, die aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigung auftreten können, einen Platz bekommen. Innerhalb dieser räumlichen Sichtweise erfährt die körperliche Differenz des Kollegen beziehungsweise die im Kontext dieser Differenz auftretenden möglichen Probleme eine Art Relativierung: Das ›Hier‹ wird zu einem konkreten Ort, an dem etwaige Fehler, Missgeschicke oder andere, von der normalen Arbeitssituation abweichende Handlungsverläufe des beeinträchtigten Kollegen als nichts Besonderes, nichts Außergewöhnliches, sondern als Teil der Situation und als Teil des speziellen räumlichen Kontexts aufgefasst werden. Die Analyseergebnisse deuten darauf hin, dass der atmosphärische Raum und seine wahrgenommenen ›Informationen‹ in der aktuellen Raumwahrnehmungssituation Sichtweisen und Deutungen der nicht behinderten Anwesenden in Bezug auf die hier qua ihrer verkörperten Differenz als ›behindert‹ bezeichneten Mitarbeiter_innen des Hotels verändern. Der atmosphärische Raum und seine Informationen können gesellschaftliche Codes, Zeichen und Symbole in den Fokus der Aufmerksamkeit ziehen, sie hervorheben oder als unbedeutend erscheinen lassen. Der beeinträchtigte, defizitäre Körper wird im Rahmen der raumatmosphärischen Wahrnehmung verändert wahrgenommen. Die mit dem Begriff ›Behinderung‹ einhergehende Auffassung von differenter Körperlichkeit als defizitär und die damit verbundenen Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Wissenskriterien erweisen sich als modifiziert. Anders gesagt, scheint der atmosphärische Raum funktional auf soziale Praktiken zu wirken, mit denen Akteur_innen jemanden als beeinträchtigt beziehungsweise körperlich different ›herstellen‹. In diesem Zusammenhang ist der atmosphärische Raum auch als ein von Akteur_innen ›herstellbares‹ und damit zweckgerichtet einsetzbares Inszenierungsinstrument aufzufassen. Der atmosphärische Raum kann damit als Element einer Platzierungspraxis wirken, deren Ziel die Veränderung und Neugestaltung (herkömmlicher) Wahrnehmungsund Rezeptionspraktiken ist. Der atmosphärische Raum entwickelt die Funktion eines ›Katalysators‹, der in der Lage ist, raumbezogene Wahrnehmungsprozesse und die mit diesen einhergehenden Zuschreibungs-
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praktiken zielgerichtet in Gang zu setzen, zu verändern und zu beeinflussen. Behinderung als soziale Kategorie und Wahrnehmungsfolge einer als different konstatierten Körperlichkeit kann somit auch im Zusammenhang von räumlichen Anordnungs- und Platzierungsweisen betrachtet werden: Dabei sind Akteur_innen und ihre Körper, unabhängig davon, ob es sich um differente oder um eine nicht different empfundene Körperlichkeit handelt, ›Elemente‹ einer raumbezogenen Wahrnehmung, die immer auch unter dem Einfluss atmosphärischer Wirkungsweisen steht. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, Herstellungsweisen, Wahrnehmungsmuster und Zuschreibungsprozesse in Bezug auf Räume und Körper als ineinander verschränkte und sich gegenseitig bedingende Prozesse zu verstehen. Der Atmosphäre als Element räumlicher Wahrnehmung und einer zielgerichteten Praxis in der Herstellung von Räumen kommt in diesen Prozessen eine Bedeutung zu, die bei der Beschäftigung mit der Verschränkung sozialer Herstellungsweisen von Räumen und Körpern vielfach noch eine marginale Rolle spielt. Die Erforschung von raumbezogener Atmosphäre und von deren Potenzial einer ›sozialen Wirkmächtigkeit‹ kann sich gerade in Bezug auf die Herstellungsweisen und Handlungsvollzüge alltäglicher soziokultureller Praktiken als äußerst lohnend erweisen und forschungsrelevante Anknüpfungspunkte eröffnen. ›Behinderung‹ als soziale Kategorie und als Wahrnehmungsweise steht dabei in einem engen Zusammenhang mit den Zuschreibungspraktiken an Körper in räumlichen Kontexten, in denen Akteur_innen und ihre Körper sowohl platzierende als auch platzierte Elemente sind. Die empirischen Befunde zu einer wechselseitigen Bezogenheit von räumlicher Wahrnehmung und der Zuschreibung von bestimmten Bedeutungen und Eigenschaften an Subjekte und ihre Körper mögen einen Beitrag dazu leisten, dem Thema Behinderung als einer komplexen gesellschaftlichen Konstruktion aus raumtheoretischer Perspektive zu begegnen. Gleichsam generieren die Befunde dabei auch weiterführende Hypothesen in der Form von ›Denkangeboten‹ in Bezug auf die Kategorie Geschlecht und deren Einbettung in räumliche Kontexte. Auch wenn an dieser Stelle kein sozialwissenschaftlich begründeter Vergleich und eine Gegenüberstellung der Kategorien Behinderung und Geschlecht und die an sie geknüpften Wissenschaftsdiskurse erfolgen kann, stellt sich die Frage, inwiefern auch Geschlecht und ›vergeschlechtlichte‹ Körper in Abhängigkeit zu räumlichen Erfahrungsweisen hergestellt und konstruiert
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werden.27 Sowohl Geschlecht als auch Behinderung können unter Einbezug auf die in räumlichen Kontexten wahrgenommene Körperlichkeit und dem Körper als materiell-stoffliche Gegebenheit als raumbezogene Phänomene gedacht werden, an die Bedeutungen und Eigenschaften herangetragen werden: Die Kategorien gender und disability sind in diesem Zusammenhang als Differenz markierende und codierende Kategorien und Dimensionen aufzufassen, die im Rückgriff auf die wahrgenommene Materialität des Körpers in spezifischen räumlichen Kontexten konstruiert und gebildet werden. Die räumliche Wahrnehmung von Akteur_innen kann diesbezüglich als ein konstitutiv-ordnendes Element für diese ›Herstellungsprozesse‹ angesehen werden. Die Annahme, dass räumliche Kontexte und die der räumlichen Wahrnehmung inhärente atmosphärische Wirkung diese in gesellschaftlichen Diskursen und Praktiken eingelagerten Differenzkonstruktionen beeinflussen, verstärken oder modifizieren, bedarf dabei der weitergehenden interdisziplinären Erforschung; auch unter Einbezug des bisher wenig berücksichtigten Themas der Funktions- und Bedeutungsweise räumlich bedingter Atmosphäre. Eine für die zukünftige Forschung in diesem Bereich besonders prominente Frage ist meines Erachtens, inwiefern sich im Sinne eines Diskurses des ›doing difference‹ Raumwahrnehmungsprozesse sowie der Körper und seine materielle Beschaffenheit in einer dynamischen Wechselseitigkeit zueinander verhalten.
27 | Für eine kompakte Darstellung der verschiedenen und teilweise divergierenden Perspektiven soziologischer Diskurse zu Körper und Geschlecht vgl. Julia Reuter: Geschlecht und Körper. Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bielefeld 2011.
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Verbotene Postkarten aus Rio de Janeiro Diskursive und räumliche Praktiken im Milieu des Sextourismus in Copacabana Johanna Neuhauser
Kurz vor Silvester 2011, das wie jedes Jahr als kulturelles und touristisches Großereignis der Stadt Rio de Janeiro gefeiert wurde, führte die Polizei einen Neujahrsputz der besonderen Art durch. Im Jahr 2005 war ein Gesetz erlassen worden, das die Produktion und den Verkauf von Postkarten verbietet, auf denen Frauen in knapper Badebekleidung vor berühmten Sehenswürdigkeiten zu sehen sind. Man kennt sie gut, diese Bilder von Rio de Janeiro, auf denen neben den ausgestreckten Armen des Cristo Redendor oder dem weitläufigen Strand von Copacabana auch die Rückenansichten von braungebrannten Frauen in Bikinis zu sehen sind. Der nationalweit ausgestrahlte Fernsehsender Rede Record berichtete ausführlich von der Polizeiaktion, in der Männer in Uniform besagte Postkarten in Kiosken, Tabak- und Zeitschriftenläden sowie Souvenirgeschäften im Stadtteil von Copacabana konfiszierten.1 Am beliebtesten, so der Reporter, seien die Ansichtskarten bei ausländischen Touristen. Was als harmlose Postkarte erscheine, verberge in Wahrheit das Interesse einer mächtigen Industrie, welche die Nation Brasilien ›beflecke‹, berichtet Rede Record weiter. Das Land sei bekannt für seinen Sextourismus, der tausende Frauen ausbeute und nun ein ›Fall für die Polizei‹ geworden sei.
1 | Siehe Rede Record: »Polícia Civil faz operação em bancas de jornal na zona sul (RJ) contra turismo sexual«, 27.12.2011, http://videos.r7.com/policia-civil-fazoperacao-em-bancas-de-jornal-na-zona-sul-rj-contra-turismo-sexual/idmedia/ 4efa412ae4b032e2979e92cf.html (Stand: 05.01.2012).
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Ziel des Artikels ist es nicht, dem Wahrheitsgehalt dieser Aussagen nachzugehen, sondern den Zusammenhang von medialer Berichterstattung, Polizeiaktionen und politischen Interessen darzulegen, durch den das ›Problem des Sextourismus‹ erst konstruiert wird. Die Untersuchung ausgewählter Berichte und Videos zum Thema2 wird durch die Analyse empirischen Materials ergänzt, das im Milieu des Sextourismus in Rio de Janeiro erhoben wurde.3 In der Verschränkung von Diskursanalyse und ethnografischer Forschung werden die Aussagen zu den medial vermittelten Polizeiereignissen der von mir interviewten Frauen der medialen Berichterstattung zum Phänomen des Sextourismus in Brasilien gegenübergestellt und das Zusammenwirken von diskursiven und räumlichen Praktiken in der Konstitution von Raumpolitiken untersucht. Ich gehe im Folgenden von einer foucaultschen Konzeption von Diskursen aus, nach der sich diese immer über Ausschlüsse und Differenzen zum Nicht-Sagbaren konstituieren. Michel Foucault sieht es als Aufgabe der Diskursforschung zu fragen, »wie [es] kommt […], daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle«.4 Diskurse und das durch sie generierte Wissen implizieren daher immer Machtverhältnisse, die Foucault mit der Doppelstruktur von savoir-pouvoir fasst.5 Machtverhältnisse können nicht losgelöst von sozialen Akteur_innen analysiert werden, da sie nur in ihrem praktischen Handeln realisiert und aktualisiert werden. Die Diskurstheorie bedarf daher einer handlungstheoretischen Erweiterung, die das Verhältnis von 2 | Das Korpus meiner Diskursanalyse umfasst den Zeitraum von 2006 bis 2013. Es fokussiert Medienberichte von Globo, dem größten Medienkonzern Brasiliens, enthält aber auch Artikel der Zeitung Folha, der Nachrichtenagentur Agencia Brasil sowie Beiträge weiterer Agenturen und einschlägige Internetseiten. 3 | Die ethnografische Feldforschung in Rio de Janeiro fand von Oktober 2011 bis April 2012 statt. Nach einer ersten Phase der teilnehmenden Beobachtung führte ich Interviews mit insgesamt fünfzehn Prostituierten und weitere Gespräche sowie Interviews mit fünf Aktivistinnen der politischen Bewegung der Sexarbeiterinnen in Brasilien. 4 | Michel Foucault: Archäologie des Wissens. In: Ders.: Die Hauptwerke. Mit einem Nachwort von Axel Honneth und Martin Saar. Frankfurt a.M., 2008, S. 471700, hier S. 501. 5 | Vgl. Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden 2011, S. 128.
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Diskursen und sozialen – und hier besonders räumlichen – Praktiken als dialektische Wechselbeziehung begreift.6 Durch diskursive Klassifikationen werden außerdem bestimmte Subjektpositionen geschaffen, die den Individuen zugewiesen werden. In meiner Untersuchung stellt sich dabei die Frage, inwiefern sich die Sexarbeiterinnen mit den im Diskurs erzeugten Subjektpositionen identifizieren und/oder eigensinnige Erzählungen etablieren.
R EPR ÄSENTATIONEN VON N ATION UND G ESCHLECHT Wenn im beschriebenen Fernsehbeitrag von Rio Record davon die Rede ist, dass der Sextourismus in Rio de Janeiro die Nation ›beflecke‹, so wird der politische Hintergrund des Ereignisses deutlich. Das Verbot der Postkarten diene dazu, so der Staatssekretär für Tourismus, ein Image zu korrigieren, das über viele Jahrzehnte über Rio de Janeiro im Speziellen und Brasilien im Allgemeinen verbreitet wurde.7 Das vom Staat beauftragte Unternehmen für Tourismus EMBRATUR 8 hatte in internationalen Werbekampagnen von den 1970er- bis in die 1990er-Jahre ein Bild von Brasilien geprägt, in dem tropische Strände und kulturelle Festivitäten wie der Karneval mit attraktiven Frauenkörpern verknüpft wurden. Das ›Produkt Brasilien‹ versprach eine Mischung aus Exotik und Erotik, in der biblische Bilder des verlorenen Paradieses bemüht wurden, wie sie schon im 16. Jahrhundert die Kolonialherrn und Entdecker in ihren Reiseberichten für die Beschreibung der Neuen Welt verwendeten.9 Zu Beginn des 21. 6 | Vgl. Norman Fairclough, Ruth Wodak: Critical Discourse Analysis. In: Teun Adrianus van Dijk/Shoshana Blum-Kulka/Anita Pomerantz (Hg.): Discourse as Social Interaction. London u.a. 1997, S. 206-230. 7 | Sérgio de Almeida, nach Agência Rio de Notícias »Postais do Rio não podem mais exibir mulheres em trajes sumários«, 18.11.2005, www.agenciario.com.br/ materia.asp?cod=3515&codEdit=8 (Stand: 15.03.2012). 8 | Empresa Brasileira do Turismo. 9 | In den Reiseberichten wird nach Sabine Schülting eine europäische Vision der Neuen Welt entworfen, »in der sich die Vorstellung vom (fremden) Raum und vom weiblichen Körper überlagern« (Sabine Schülting: Wilde Frauen, fremde Welten. Kolonisierungsgeschichten aus Amerika. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 46).
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Jahrhunderts vollzog sich dann ein radikaler Wandel in der Politik des Tourismus, der 2003 in der Gründung des Ministeriums für Tourismus mündete. Dieses gab fortan die Richtlinien vor, während sich EMBRATUR lediglich auf das Marketing der touristischen Produkte und Dienstleistungen konzentrierte. Damit wurde eine Neuorientierung des internationalen Images Brasiliens eingeleitet, in der erotisierende Stereotype durch die Betonung der Modernität des Landes ersetzt werden sollten.10 Patrícia Servilha, Direktorin des neuen Marketingprogramms, fasst dies wie folgt zusammen: Als wir begannen den Plan zu realisieren, war es von Anfang an ein Ziel, dieses Bild [der brasilianischen Frau] zu transformieren. […] Dabei geht es nicht nur darum, dieses, sondern auch das Bild von Brasilien als ein Entwicklungsland zu transformieren, mit dem Bild von Casa Grande & Senzala zu brechen […] und ein Land der EMBRAER [nationales Luftfahrtunternehmen], des Erdöls, der Jugend, der Universitäten, der Forschungsinstitute, des Sports – letztendlich der Konstruktion eines neuen Modells – zu zeigen.11
In dem Zitat wird ein Zusammenhang zwischen einem sexualisierten Frauenbild und der Repräsentation Brasiliens als Entwicklungsland hergestellt. Mit der Erwähnung von Casa Grande & Senzala [›Herrenhaus und Sklavenhütte‹], Titel des 1930 erschienenen, paradigmatischen Werks von Gilberto Freyre, das die sozialen und ›rassischen‹ Beziehungen in der Kolonialzeit Brasiliens zum Thema hat, rekurriert Servilha auf das koloniale Erbe des Landes, das nun durch das Entwicklungsversprechen von Erdöl, Bildung, Kultur und Sport überwunden werden solle. Mariana Gomes zufolge werden trotz dieses Bestrebens, eine moderne Nation zu repräsentieren, in touristischen Selbstpräsentationen des Landes aber weiterhin Bilder aufgerufen, die an den kolonialen Entwurf des Paradieses erinnern. Es werde zwar die Sexualisierung der brasilianischen Frau verworfen, im selben Zug aber die romantisierende Idee der harmonischen
10 | Vgl. Mariana Gomes: A Imagem do Brasil no Exterior e o Turismo: A Operacio-nalização do Plano Aquarela em Portugal. In: Rosa dos Ventos, 4, 4, 2012, S. 507-514. 11 | Zitiert nach Gomes: A Imagem do Brasil, S. 514, Übersetzung J.N.
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Rassenmischung (miscigenação)12 fortgeschrieben.13 Auch in der Diskursanalyse aktueller Medienberichte konnte festgestellt werden, dass zwar die Repräsentation einer exotisch-erotischen Nation angeprangert und für Sextourismus und Kinderprostitution verantwortlich gemacht wird. Jedoch sendet vor allem die Bildfolge der Videos andere Signale, indem tropische Naturaufnahmen und Bilder von Frauen in Bikinis direkt hintereinander geschnitten sind. Durch die Montage der Sequenzen von tropischen Landschaften mit denen von Frauenkörpern wird eine Analogie hergestellt, die in der Konstruktion der Nation von zentraler Bedeutung ist. Auf einer symbolischen Ebene weist dies nach Rada Ivecovic darauf hin, dass Frauen »nicht, wie die Männer, Mitglieder der Nation, sondern die Nation selbst sind«.14 Die Konstruktion der Nation bedürfe der Objektivierung der Frau, über die sich die Identität des männlichen Staatsbürgers konstituiere. So beruhe »die ›reine‹ Nation […] noch vor jeder anderen politischen oder historischen Dimension auf der Kontrolle der Frauen«.15 Die im Diskurs um Sextourismus immer wieder benutzten Begriffe der ›Befleckung‹ oder ›Beschmutzung‹ verweisen auf die Konstruktion einer nationalen Identität, die »durchtränkt [ist] von der Vorstellung der Reinheit […] und am Gegenpol von der Vorstellung der Besudelung, der Unterwanderung durch eine andere Nation«.16 In ihrer Funktion der Repräsentation der nationalen Gemeinschaft unterliegen Frauen strengeren Verhaltensauflagen als Männer, die als soziale Normen dem Idealbild 12 | Das Narrativ einer friedlichen Mischung der indigenen oder schwarzen Bevölkerung mit den weißen Kolonialherrn fungierte als Gründungsmythos des Estado Novo von Getúlio Vargas (1937-1945). Es stand im Dienst der Konstruktion einer nationalen Identität, in der die mestiçagem (Mestizentum) entgegen etablierter Rassentheorien als positive Entwicklung umgedeutet wurde. Freyre stellte damit eine Repräsentation der brasilianischen Nation bereit, in der trotz beziehungsweise gerade in ihrer kulturellen Heterogenität eine Einheit konstruiert und Differenzen entlang Geschlecht, Klasse und Hautfarbe bewusst ausgeblendet wurden (vgl. Sérgio Costa: Vom Nordatlantik zum ›Black Atlantic‹. Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik. Bielefeld 2007, S. 153). 13 | Vgl. Gomes: A Imagem do Brasil, S. 519. 14 | Rada Ivecovic: Geschlechterdifferenz und nationale Differenz. In: Chantal Mouffe (Hg.): Feministische Perspektiven. Wien 2001, S. 142. 15 | Ivecovic: Geschlechterdifferenz und nationale Differenz, S. 142. 16 | Ebd.
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von Mütterlichkeit – im Sinne einer ›Mutter der Nation‹ – folgen. Nira Yuval-Davis konstatiert: The ›burden of representation‹ on women of the collectivity’s identity and future destiny has also brought about the construction of women as the beares of collectivity’s honour. […] Women, in their ›proper‹ behaviour, their ›proper‹ clothing, embody the line which signifies the collectivity’s boundaries.17
Das Deutungsmuster von Frauen als Trägerinnen nationaler Ehre nimmt in Auseinandersetzungen über Prostitution eine besondere Bedeutung ein und tritt auch im Diskurs über den Sextourismus zutage. Die Häufigkeit, mit der das ›Problem des Sextourismus‹ in den Schlagzeilen der wichtigsten brasilianischen Medien auftaucht, ist mit der Organisation der großen internationalen Sportereignisse in Brasilien18 verknüpft, auf die immer wieder Bezug genommen wird und die für die Repräsentation der Nation einen hohen Stellenwert besitzen.
I NNENANSICHTEN DES R OTLICHTMILIEUS IN C OPACABANA Wenn im Fernsehbericht des Senders Rede Record Sextourismus als ein ›Fall für die Polizei‹ bezeichnet wird, darf nicht unerwähnt bleiben, dass es laut brasilianischem Gesetz legal ist, selbstständig der Prostitution nachzugehen.19 Dass Sextourismus trotzdem oft zur Angelegenheit der Polizei wird, verdeutlichen neben dem Fernsehbeitrag zum Verbot der Postkarten zwei weitere Medienberichte, in deren Zentrum die Veranda Bar 20 in Copacabana steht, in welcher ausländische Touristen mit brasilianischen Frauen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, zusammentreffen. Die Veranda Bar war in meiner Feldforschung der wichtigste Ort, 17 | Nira Yuval-Davis: Gender & Nation. London u.a. 1997, S. 45-46. 18 | Sowohl die Fußballweltmeisterschaft 2014 als auch die Olympischen Spiele 2016 finden in Brasilien statt. 19 | Gesetzlich untersagt ist es hingegen, in abhängigen Arbeitsverhältnissen tätig zu sein, wie dies zum Beispiel in Bordellen der Fall ist. Diese sind in Brasilien jedoch weit verbreitet, gewähren durch ihre Illegalität aber keine Sicherung von Arbeitnehmer_innenrechten. 20 | Der Name der Bar wurde geändert.
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um Kontakte zu den in der Prostitution tätigen Frauen zu knüpfen und Forschungsbeziehungen aufzubauen. Bevor ich näher auf die Polizeiaktionen und Medienberichte rund um die Bar eingehe, möchte ich diese deshalb anhand meines ethnografischen Materials beschreiben. Nach der Schließung der international bekannten Großraumdiskothek Help im Jahr 2010 – auf die ich noch eingehen werde – wurde die Veranda Bar zum wichtigsten Ort des Rotlichtmilieus für Touristen in Rio de Janeiro. Die Kontaktbar für heterosexuelle Prostitution befindet sich wie das ehemalige Lokal Help entlang der Avenida Atlântica in Copacabana, an der sie sich vom nebenan liegenden Straßen- und Transvestitenstrich abgrenzt. Viele der von mir befragten Prostituierten beklagten den Verlust des berühmten Clubs Help, der von seiner Größe – er fasste bis zu sechshundert Personen und besaß den größten Dancefloor Rios – die kleine Veranda Bar um ein Vielfaches übertraf.21 Zudem bemerkten die interviewten Frauen, dass in der geschlossenen und nur gegen Eintrittsgebühr betretbaren Großraumdiskothek Help eine größere Anonymität der prostitutiven Tätigkeit als in der offenen und frei zugänglichen Veranda Bar gewährleistet gewesen sei. Das Vorhandensein von ausreichend Servicepersonal und Sicherheitsbediensteten machte die Diskothek Help verglichen mit anderen Lokalen des Rotlichtsmilieus in Copacabana zu einem relativ sicheren Ort für Prostituierte und Touristen. Der große Andrang neuer Besucher_innen nach ihrer Schließung überforderte die Kapazitäten der Veranda Bar, was zu geringeren Service- und Sicherheitsstandards führte.22 Das äußere Erscheinungsbild der Bar lässt im Vergleich zu anderen Lokalen und gängigen Vorstellungen vom Rotlichtmilieu wenig auf das prostitutive Geschehen schließen. Die Außenbeleuchtung ist unauffällig und auch die Inneneinrichtung ähnelt anderen Bars und Restaurants in Copacabana. Dieses Erscheinungsbild korrespondiert mit einer von meinen Gesprächspartnerinnen häufig geäußerten und in den Interviews festgehaltenen Ansicht, es handle sich um eine ›normale‹ Bar, die für jede/n frei zugänglich sei. Die fehlenden Zugangsbeschränkungen – insbesondere die fehlende Eintrittsgebühr – wurden von den interviewten 21 | Vgl. Thaddeus Blanchette/Johanna Neuhauser/Ana Paula Silva/Kerstin Tiefenbacher: Help-less. Reconfigurations in the Commercial Sexscape of Rio de Janeiro. In: Marta Dubel/Anita Kaluza (Hg.): Sex Work(s). Wien 2014. 22 | Vgl. ebd.
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Frauen meist positiv hervorgehoben. Auf der anderen Seite führt eben diese Offenheit der Bar auch zu einer größeren Sichtbarkeit der prostitutiven Tätigkeit für Außenstehende. Die meisten meiner Gesprächs- und Interviewpartnerinnen bekennen sich nicht (öffentlich) zu ihrer Sexarbeit, die selbst vor Familienmitgliedern, Freund_innen und Bekannten verheimlicht wird. Die Angst, in der offenen Bar entdeckt oder erkannt zu werden, kann nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Stigmatisierung des Berufsfelds gesehen werden. Die Geheimhaltung der Sexarbeit kann demnach auch als eine Strategie gesehen werden, sich einer fixierten Subjektposition als Prostituierte und der damit verbundenen Diskriminierung zu entziehen. Trotz der negativen Aspekte äußerten meine Interviewpartnerinnen, dass sie nach der Schließung der Diskothek Help keine bessere Alternative zur Veranda Bar als Arbeitsplatz gefunden hätten. Elisa meint dazu: All jene, die im Help arbeiteten, hatten keine andere Option als jetzt in der Veranda Bar zu arbeiten. Es gibt keinen anderen Ort, um zu arbeiten. Einige sind in die Thermen gegangen. Aber ich mag es nicht, in Thermen zu arbeiten […]. Wenn ich in der Veranda Bar arbeite, ist das Geld meines, ich teile es mit niemandem. In den Thermen muss ich das Geld teilen. […] Ich akzeptiere das nicht […]. Wer gearbeitet hat, war ich.
Der letzte Aspekt, den Elisa, die seit fünfzehn Jahren in Rio als Prostituierte arbeitet, anmerkt, ist von besonderer Bedeutung. Wie im ehemaligen Help besteht kein Arbeitsverhältnis zwischen dem Lokalinhaber und den Frauen. Im Gegensatz zur Prostitution in Bordellen oder Thermen sind die Sexarbeiterinnen daher frei ihre Kunden zu wählen, das Angebot an (sexuellen) Dienstleistungen festzulegen, die Arbeitsstunden zu bestimmen und die Preise zu verhandeln, ohne einen Teil ihres Einkommens an Dritte wie Bordellbesitzer oder Zuhälter abgeben zu müssen. Im Vergleich zur Straße gelten Lokale wie die Veranda Bar unter den Sexarbeiterinnen auch als Anbahnungsorte, an denen sie weitgehend vor (gewalttätigen) Übergriffen geschützt sind. Eine meiner Interviewpartnerinnen, die seit ihrem Einstieg in die Prostitution in Copacabana tätig ist, erzählt davon, nicht nur die Schließung des größten Clubs Help, sondern auch die Verdrängung von Prostituierten aus vielen kleineren Bars und Restaurants erlebt zu haben:
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Alle diese Restaurants hier am Strand wurden zuvor von Prostituierten aufgesucht. […] Dann haben sie viele Pflanzen rundherum platziert, sodass die Prostituierten dort nicht stehenbleiben, hineinsehen und mit den Kunden in Kontakt treten. Danach haben sie begonnen, Sicherheitsbedienstete zu engagieren. So sagt der Sicherheitsbedienstete: ›Nein, […] es ist dir nicht erlaubt hier zu arbeiten.‹ […] Die Frauen gehen hin und versuchen dort zu arbeiten, aber sie lassen sie nicht mehr. Deshalb gibt es jetzt nur noch diese Bar [Veranda Bar].
Aus diesen und anderen Erzählungen meiner Gesprächs- und Interviewpartnerinnen kann gefolgert werden, dass der Platzverweis von Sexarbeiterinnen in Copacabana zu einer gängigen Alltagspraxis wurde. Dies hat verschiedene Gründe, zum Beispiel die Abnahme von ausländischen Touristen, die sexuelle Dienstleistungen nachfragen, was die durch Sextourismus zu erzielenden Profite – beispielsweise von Bar- und Restaurantbesitzer_innen – einschränkt.23 Im Folgenden werde ich am Beispiel der Veranda Bar aber vor allem die Verschränkung von medialen und politischen Interessen in den Blick nehmen.
D IE VERANDA -B AR IM F OKUS MEDIALER B ERICHTERSTAT TUNG Im Mittelpunkt der hier durchgeführten Medienanalyse stehen zwei Nachrichtenbeiträge der großen nationalen Fernsehsender Globo und Rede Record, in denen die Veranda Bar mit Kinderprostitution, Drogenhandel, Diebstahl und anderen kriminellen Aktivitäten in Verbindung gebracht wird. Bevor ich auf die Berichte eingehe, möchte ich kurz die Bedeutung der Nachrichtensendungen und ihre wichtigsten Merkmale skizzieren. Das Jornal Nacional der größten Medienagentur Globo besteht seit 1969 und ist die meistgesehene Nachrichtensendung des Landes. Sie hat Vorbildcharakter für alle weiteren Nachrichtenformate Brasiliens und ist maßgebliche Referenz für das Genre Telejornal.24 Dies ist auf das 23 | Die Abnahme der Sextouristen in Rio de Janeiro kann mit der Eurokrise in Verbindung gebracht werden, die durch die gesunkene Kaufkraft der Ausländer den Aufenthalt in Brasilien verteuerte (vgl. Blanchette et al.: Reconfigurations in the Commercial Sexscape). 24 | Vgl. Itania Gomes: Modo de Endereçamento no Telejornalismo do Horário
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Primat des Senders Globo in der brasilianischen Medienlandschaft zurückzuführen. Globo bestimmt maßgeblich mit, welche Themen auf der nationalen Agenda stehen, und verfolgt einen Diskurs, der – trotz der partiellen Öffnung für alternative Perspektiven in den letzten Jahren – nach wie vor in einer politisch konservativen Tradition steht.25 Das Jornal von Rede Record nimmt gegenwärtig den zweiten Platz im nationalen Ranking der Einschaltquoten ein und bereitet dem Jornal Nacional damit vermehrt Konkurrenz.26 War der Sender Rede Record lange Zeit relativ unbekannt, gewann er seit seiner Übernahme durch den Gründer der evangelikalen Freikirche Igreja Universal do Reino de Deus27 1990 zunehmend an Bedeutung. Das Nachrichtenformat von Rede Record nimmt insbesondere in Bezug auf Sexualitäts- und Geschlechterfragen eine konservative Haltung ein. In seiner inhaltlichen und formalen Konzeption orientiert es Nobre Brasileiro: o Jornal Nacional, da Rede Globo de Televisão. 2005, www. portcom.intercom.org.br/pdfs/7427721774277210377262160514023548609 0.pdf (Stand: 01.04.2012). 25 | Globo stellte während der Diktatur (1964-1985) als erster landesweit ausgestrahlter Fernsehsender das zentrale Sprachrohr des autoritären Regimes und Instrument der nationalen Integration dar. Seit der demokratischen Transition ist der Medienkonzern unabhängig, führt seine Rolle als politischer Akteur aber fort – beispielsweise mit der Unterstützung oder Delegitimierung von Präsidentschaftskandidaten. In den Amtszeiten von Lula und Rousseff herrschten zwar immer wieder Spannungen zwischen dem Medienkonzern und den sozialdemokratischen Regierungen, eine Zuspitzung des Konflikts zwischen Staat und Medien fand anders als in Venezuela, Argentinien, Bolivien und Ecuador aber nicht statt (vgl. Carlos da Silva: Medien und Medienpolitik in Brasilien. In: Dana Fontaine/Thomas Stehnken [Hg.]: Das politische System Brasiliens. Wiesbaden 2012). 26 | Vgl. Fernanda Ferreira: As representações dos indivíduos anônimos no telejornalismo brasileiro. Um estudo comparative entre o Jornal Nacional e a Jornal da Record. Brasília 2007, S. 84. 27 | Diese ist Teil der neupfingstlichen Bewegung (Neopentekostalismus), die in den 1970er-Jahren vor allem von US-amerikanischen Missionaren in Brasilien verbreitet wurde und eine große Anhänger_innenschaft besitzt. Die evangelikalen Freikirchen versuchten in den letzten Jahrzehnten verstärkt durch den Besitz von Radio- und Fernsehsendern an medialem und politischem Einfluss zu gewinnen (vgl. Maria Machado: Religião, Cultura e Política. In: Religião e Sociedade, 32, 2, 2012, S. 34-35).
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sich stark am Jornal Nacional, weshalb die hier angeführten Merkmale für beide Formate gelten. Charakteristisch für die Berichterstattung des Genres Telejornal ist die Verknüpfung spezifischer Themenfelder und Sprecher_innenpositionen28 mit bestimmten Örtlichkeiten. So wird beispielsweise die Favela meist zum Schauplatz von Reportagen, in denen es um den Kampf von Einsatzkräften der Polizei gegen Drogenkartelle oder andere Formen der Kriminalität und um die (Wieder-)Herstellung von Ordnung geht. Ein weiteres Merkmal der Nachrichtensendung ist die Polarisierung der Dargestellten in positive und negative Akteur_innen.29 In Beiträgen, in denen über kriminelle Ereignisse berichtet wird, kommt diese in der Unterscheidung von Täter- und Opferseite besonders deutlich zum Ausdruck. Expert_innen und Journalist_innen nehmen als dritte Gruppe eine Außenperspektive und überlegene Sprecher_innenposition ein. Berichten und urteilen diese in Interviews oder der eingespielten Tonspur meist von woanders über die Vorfälle – beispielsweise aus dem Studio oder dem Polizeikommissariat –, werden die Schauplätze krimineller Ereignisse und die Täter_innen vor Ort von der Kamera aufgespürt und vorgeführt.30 Diese Polarisierung von Akteur_innen, die in ihrer unterschiedlichen Verortung einen Ausdruck findet, kann am Beispiel des analysierten Berichts von Globo verdeutlicht werden. Während der Prostitutionsstandort als ›kriminelles Universum‹ mittels versteckter Kamera ins Bild gebracht wird, nehmen (männliche) Reporter und Polizisten die Funktion der Aufklärer des Verbrechens ein. Die Rolle der Medien als watchdogs ist im investigativen Journalismus weit verbreitet und stellt nicht nur in Brasilien eine wichtige Legitimierungsfunktion des Genres dar. Bemerkenswert erscheint am brasilianischen Beispiel aber die enge Verflechtung von Medien und Polizei in dieser Funktion, auf die ich in der Analyse der Fernsehbeiträge über die Veranda Bar näher eingehen werde. Ich verfolge dabei einen wissenssoziologischen Ansatz, in dem nicht die subjektiven Bedeutungszuschreibungen oder der interaktive Umgang der Rezipient_innen mit dem Medium, sondern das filmische Produkt 28 | Sprecher_innenpositionen als »Orte des legitimen Sprechens innerhalb von Diskursen« (Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse, S. 223) verweisen auf die institutionelle Einbindung von Akteur_innen. 29 | Vgl. Itania Gomes: Modo de Endereçamento no Telejornalismo. 30 | Vgl. ebd.
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und seine gesellschaftliche Bedeutung im Mittelpunkt stehen.31 Erst in einem zweiten Schritt verschränke ich die Erkenntnisse der Videoanalyse mit qualitativem Interviewmaterial aus meiner Feldforschung. Der Fokus der filmischen Untersuchung liegt auf der Handlung, die durch die Wahl des Themas, des Ortes, der Kulissen, des sozialen settings sowie der Montage des Filmmaterials konstruiert wird. Unter Montage verstehe ich mit Mikos die »Verkettung von Bildern, durch die Bedeutungen entstehen, die in den Bildern selbst nicht enthalten sind«.32 Dahinter steht die Annahme, dass es sich beim filmischen Produkt – ganz gleich, ob ein fiktiver Kinofilm oder ein Nachrichtenjournal – um ein medial erzeugtes Konstrukt handelt. Die Analyse des filmischen Materials gibt demnach weniger Aufschluss über die soziale Realität an sich als über die Konstruktionen dieser seitens der Bild- und Filmproduzent_innen.33 In der dokumentarischen Film- und Videointerpretation nach Bohnsack, deren ich mich in der Interpretation der Beiträge bediene, erlauben es die filmischen Produkte daher auch, Rückschlüsse auf den Habitus der Filmproduzent_innen zu ziehen.34 Dieser unterscheidet sich in vielen Fällen vom Habitus der abgebildeten Bildproduzent_innen, das heißt von den Personen, welche die Kamera in den Blick nimmt. Da sich die Verständigung über das Medium Bild als eine weitgehend vorreflexive und implizite unterhalb der begrifflichen Explizierbarkeit vollzieht, stellen filmische Produkte vor allem auf atheoretische Wissensbestände ab.35 Von der Frage, was in den Beiträgen zum Thema gemacht wird, soll zur Frage, wie dieses dargestellt wird – das heißt dem modus operandi des filmischen Produkts –, gelangt werden.36 Methodischer Ausgangspunkt meiner Analyse bildet daher die bildliche Ebene, die in einem ersten Schritt als eine vom Text unabhängige Sinnebene erfasst wurde. Es wurden einzelne Fotogramme 31 | Vgl. Jo Reichertz: Wissenssoziologische Verfahren der Bildinterpretation. In: Lothar Mikos/Claudia Wegener (Hg.): Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch. Konstanz 2005, S. 141-152, hier S. 142. 32 | Lothar Mikos: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart 2003, S. 107. 33 | Vgl. Reichertz: Wissenssoziologische Verfahren der Bildinterpretation, S. 143. 34 | Vgl. Ralf Bohnsack: Qualitative Bild- und Videointerpretation. Die dokumentarische Methode. Stuttgart 2011, S. 31. 35 | Vgl. ebd., S. 29. 36 | Vgl. ebd., S. 30.
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sowie Sequenzen untersucht, die aufgrund ihrer Repräsentativität für den Gesamtbeitrag ausgewählt wurden. Erst in einem zweiten Schritt wurde das dramaturgische Zusammenspiel von Bild, Text und Ton untersucht. Der Bericht des Jornal Nacional37 lässt eine thematische Zweiteilung erkennen, die sich auch auf der Bildebene widerspiegelt. Ein Reporter, der vom Schauplatz aus berichtet, leitet von der Thematik der Kinderprostitution auf die des Drogenhandels über. Das verbindende Stichwort stellt das des Verbrechens dar, dessen Hort – so macht dies auch die Positionierung des Reporters vor dem Lokal deutlich – die Veranda Bar sei. Doch zum eigentlichen Drehort wird die Bar, die als das Zentrum der Prostitution von Copacabana vorgestellt wird, nur zu Beginn des Beitrags, als mittels versteckter Kamera ausländische Touristen gefilmt werden. Die Gesichter sind unkenntlich gemacht und aufgrund der verdeckten Kamera und der Nachtaufnahmen ist der Beitrag auch sonst oft von schlechter Bildqualität. Ein Tourist gibt in gebrochenem Portugiesisch seine deutsche Nationalität bekannt und ein Italiener offenbart mit starkem Akzent: »Ich liebe brasilianische Frauen.« Ausführlicher zu Wort kommen die Ausländer nicht und die Stimme aus dem Off gibt zu bedenken, viele der Prostituierten hier seien noch Mädchen. Die nächste Sequenz findet außerhalb der Bar statt, wo zwei Schwestern befragt werden. »Wie alt bist du?«, fragt der Mann hinter der versteckten Kamera. »17«, gesteht eine der beiden und erzählt, wie sie durch die Fälschung ihres Personalausweises der Polizei Volljährigkeit vortäuscht. Die Schwestern stellen auch das Bindeglied zwischen dem ersten und dem zweiten Thema des Beitrags dar, indem sie den Kameramann zum Drogenhändler auf der anderen Seite außerhalb der Bar führen. Der Drogenhändler – ein schwarzer Mann, der Dosenbier verkauft – gibt den verdeckt ermittelnden Reportern, die vorgeben Kokain erwerben zu wollen, offen über seine illegalen Aktivitäten Auskunft. Sein Portugiesisch ist mit vielen kolloquialen Ausdrücken gespickt, weshalb seine Aussagen, wie die der Touristen, untertitelt sind. In der darauffolgenden Sequenz sind Polizeiwagen sichtbar, die mit rotblinkendem Licht vorfahren. Der Chef der Polizeieinheit von Copacabana spricht danach im Kommissariat über die Schwierigkeit die Drogendealer zu fassen. Der 37 | Siehe Globo: »Imagens mostram flagrantes de prostituição infantil e tráfico de drogas em Copacabana«, 26.4.2012, http://globotv.globo.com/rede-globo/ jornal-nacional/t/edicoes/v/imagens-mostram-flagrantes-de-prostituicaoinfantil-e-trafico-de-drogas-em-copacabana/1921895/ (Stand: 30.04.2012).
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Beitrag endet mit der Stellungnahme eines Abgeordneten, der verspricht, einen Antrag auf Aufhebung der Konzession der Bar einzubringen, was die Verbrechen eindämmen und der Region mehr Frieden bringen würde. Im Studio informiert die Moderatorin des Jornal Nacional nachträglich, dass die Polizei nun drei verdächtigte Drogendealer neben der Bar fassen konnte, die im Bericht gezeigt wurden. Der Beitrag folgt dem oben beschriebenen Skript des Jornal Nacional in der Strategie Opfer und Täter_innen zu identifizieren. Die Gegenüberstellung von Touristen und minderjährigen Prostituierten suggeriert eine mögliche Gesetzesübertretung der Ausländer durch das Delikt der Kinderprostitution und charakterisiert sie so als potenzielle Täter. Die Passivität der Prostituierten, die als naive, minderjährige Mädchen dargestellt werden, wird nur durch die Erzählung von der Fälschung ihrer Ausweise durchbrochen. Durch die Wortwahl ›Mädchen‹ und ›Kinderprostitution‹ werden die Prostituierten – trotz ihres Alters von 17 Jahren – als Kinder charakterisiert. In dieser Infantilisierung kommt eine Objektivierung beziehungsweise Viktimisierung zum Ausdruck. Kinder werden in einer hegemonialen Repräsentation als passive, abhängige und sexuell unschuldige Individuen konstruiert, die nicht zur Verantwortung gezogen werden können.38 Da die Sexarbeit dadurch keine Entscheidung der Dargestellten mehr sein kann, werden diese zum Objekt – hier sowohl der Sextouristen als auch der Drogendealer, die, dem Beitrag zufolge, die Mädchen benützten, um Kontakt zu ausländischen Kunden zu erhalten. Der schwarze Drogendealer wird durch seine Sprache sowie durch seinen Kleidungsstil, das heißt seinen gesamten Habitus, als Krimineller der Favela typisiert. In der Gegenüberstellung mit dem weißen Reporter, der ihn befragt, wird er über die Differenz von Hautfarbe und Klasse zum sozial Anderen gemacht. Das othering39 der Touristen, die wie der Drogen38 | Vgl. Julia Davidson: Children in the Global Sex Trade. Cambridge 2005, S. 44. 39 | Der Begriff wurde maßgeblich von Gayatri Spivak geprägt, um den Prozess zu benennen, durch den der imperiale Diskurs das Andere konstruiert. Lister begreift othering als »process of differentiation and demarcation, by which the line is drawn between ›us‹ and ›them‹ – between the more and the less powerful – and through which social distance is established and maintained« (Ruth Lister: Poverty. Key Concepts. Cambridge 2004, S. 101). Othering kann als diskursiver Prozess gesehen werden, der insbesondere marginalisierten Gruppen Subjekt-
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dealer kein ›richtiges‹ Portugiesisch sprechen, erfolgt über ihre ausländische Nationalität, durch die sie im Beitrag charakterisiert werden. Alle im Video durch die versteckte Kamera gefilmten Personen vereint ein naives Verhalten, mit dem sie sich den Reportern preisgeben und in deren Falle tappen, das heißt von der Kamera entlarvt werden. Werden die Identität der (männlichen) Experten in Untertiteln angegeben und ihre Redebeiträge in voller Länge gesendet, bleiben Prostituierte, Touristen und Drogendealer gesichtslos und kommen kaum zu Wort. Ihre Antworten auf die Fragen des Reporters fungieren lediglich als Selbstentblößungen und -anklagen, durch die das Verbrechen aufgeklärt wird. Beide Szenen – die der Kinderprostitution wie diejenige des Drogenhandels – finden zwar außerhalb der Bar statt, sie umkreisen diese aber, um sie schließlich als eigentliches Ziel der medialen sowie polizeilichen Aktion zu überführen und an die Verantwortung der Politik zu appellieren, den kriminellen Machenschaften im Rotlichtmilieu in Copacabana ein Ende zu setzen. Ich werde nun den Bericht von Rede Record 40 beschreiben, bevor ich in einer komparativen Analyse Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Berichte herausarbeite. Der Beitrag handelt von einer Polizeirazzia, bei der die Frauen in der Bar auf den Besitz illegaler Substanzen durchsucht wurden. Hintergrund des Ereignisses – so der Bericht – sei die Anzeige von ausländischen Touristen gewesen, die Prostituierte beschuldigten, sie nach der Beigabe von Schlafmitteln in ihre Drinks bestohlen zu haben. Die Bar wird in der ersten Sequenz von außen gezeigt, ihr Name wird nicht offengelegt, aber ihr Standort in Copacabana benannt. Die Stimme aus dem Off bezeichnet die Bar als Treffpunkt von Prostituierten mit ausländischen Touristen. Sieben Verdächtige seien von der Polizei dort vorläufig festgenommen worden. Die Polizisten werden beim Betreten der Bar gefilmt. Es entsteht der Eindruck, das Kamerateam sei ihnen dicht auf den Fersen. Von außen dringt es in das Innere der Bar vor. Die Frauen, die an der Bar sitzen, drehen sich in schnellen Bewegungen von der Kamera weg und weichen damit, so kann dies interpretiert werden, dem positionen zuschreibt, die als stereotype und essenzialistische Repräsentationen die hegemoniale Sichtweise prägen. 40 | Siehe Rede Record: »Polícia do Rio realiza operação para coibir crimes contra turistas«, 25.11.2011, http://noticias.r7.com/rio-de-janeiro/noticias/policiado-rio-realiza-operacao-para-coibir-crimes-contra-turistas-20111125.html (Stand: 18.05.2012).
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Blick des Fernsehpublikums aus. Vom Inneren des Barbereichs führt die Kamera dann wieder nach draußen. Die Frauen laufen ins Freie. Es wird nicht klar, ob sie vor dem Blick der Kamera oder der Polizei flüchten. Die Kamera fängt die Frauen fast nur von hinten oder von der Seite ein. Sie halten die Arme vor das Gesicht. Eine Frau wird von der Polizei festgehalten, woraufhin der Kamerablick frontal auf sie gerichtet ist, im Vordergrund sind die Schultern der Polizisten zu sehen. Am Ende des Beitrags dominieren Polizeiwagen das Bild, eine Frau wird von den Polizisten mit festem Griff an den Händen gefasst und weggeführt. Nachträglich wird darüber informiert, dass die verdächtigten Frauen wieder freigelassen worden seien. Im Gegensatz zum Beitrag von Globo spürt die Kamera von Rede Record das kriminelle Geschehen nicht verdeckt, sondern durch ein offenes Vordringen in die Bar auf. Es erscheint mehr als Aufwühlen und Aufmischen des Geschehens denn als ein Einschleichen und Untermischen. In beiden Berichten ist die Einstellungsgröße der Kamera meistens auf Augenhöhe. Während aber bei Rede Record die Aufnahmen eher einer Verfolgungsjagd gleichen und die Frauen der Kamera weitgehend ausweichen können, rücken sie bei Globo durch die verdeckten Aufnahmen deutlicher ins Bild. Die formalen Unterschiede der Beiträge korrespondieren auch mit einer inhaltlichen Differenz: Stellt Globo die Prostituierten als Kinder und daher Opfer dar, porträtiert sie Record als Verdächtige und daher potenzielle Kriminelle. Werden die Touristen im Beitrag von Globo mit dem Delikt der Kinderprostitution in Verbindung gebracht, erscheinen sie im zweiten Bericht als Opfer von Diebstählen. Gemeinsam ist den Beiträgen der Fokus auf die Veranda Bar als Hort krimineller Ereignisse, die von den Medien und der Polizei gemeinsam aufgedeckt werden. Erscheint im Bericht von Rede Record die Polizei als Vorreiterin in der Durchsuchung und Festnahme der Frauen, die nur medial begleitet werden, wird die Rolle der Aufklärung des Verbrechens im Jornal Nacional von den Journalist_innen selbst übernommen. Nicht die Kamera folgt den Polizisten, sondern die Polizei agiert, nachdem Globo die kriminellen Ereignisse medial aufgedeckt hat. Die Medien übernehmen so – über ihre eigentliche Rolle der Berichterstattung hinaus – die Funktion der Polizei, während diese nur die von den Journalist_innen geleistete Arbeit zu exekutieren scheint. Diese Rollenteilung führt nicht zum Konflikt zwischen dem Medienkonzern und der Polizei. Stattdessen wird im Beitrag eine enge Zusammenarbeit in der Aufdeckung und
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Überführung krimineller Aktivität suggeriert. Durch ihre investigative Arbeit – so der im Video hervorgerufene Eindruck – helfe der Fernsehsender der Polizei, ihre Schwierigkeiten, die Drogenhändler zu fassen, in den Griff zu bekommen. In beiden Beiträgen kennzeichnen das Erscheinen der Polizeiwagen sowie das rotblinkende Licht die Bar – mit ihrem ansonsten eher neutralen Erscheinungsbild – als kriminelles (Rotlicht-)Milieu. Dadurch wird filmisch ein Raum erzeugt, der – wie die Beschreibung der Veranda Bar oben verdeutlicht – dem ethnografisch erforschten und von den Interviewten erzählten Raum entgegensteht. Beide Beiträge verweisen auf die Zusammenarbeit von Polizei und Medien im othering von Prostitution. Kriminalisierung und Viktimisierung der Prostituierten stellen dabei keine Gegensätze, sondern nur die zwei Seiten derselben Medaille dar, um die Veranda Bar als Ort der Immoralität zu repräsentieren. Denn »im Reden über Kriminalität verständigt sich die Gesellschaft – über die Moralisierung von ›Abweichung‹ – auf soziale Ordnung und die in ihr eingelassenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse«.41 Mediale Konstruktionen von Devianz sind niemals monolithisch – wie das Wechselspiel von Täter- und Opfernarrativen zeigt –, sondern befinden sich in einem Kontinuum von Inklusion und Exklusion, das immer wieder neu verhandelt wird.42 Gemeinsam ist den medialen Repräsentationen die Konstruktion eines Kollektivs, mit dem das Fernsehpublikum angerufen und insbesondere im Jornal Nacional als nationale Gemeinschaft konstituiert wird.43 Die Partikularität dieses Kollektivs wird jedoch auf der bildlichen sowie textlichen Ebene der Beiträge sichtbar. Denn indem in den Repräsentationen Prostituierte, Touristen und Drogendealer entlang von Kategorien 41 | Johannes Stehr: Narrationsanalyse von Moralgeschichten. In: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 3, 1, 2002, www.qualita tive-research.net/index.php/fqs/article/view/882/1922 (Stand: 04.01.2013). 42 | Vgl. Chris Greer/Yvonne Jewkes: Extremes of Otherness: Media Images of Social Exclusion. In: Social Justice 32, 1, 2005, S. 20-22. 43 | Ich beziehe mich hier auf Althussers Konzeption der Interpellation, nach der die Ideologie die Individuen als Subjekte anruft (vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/ Berlin, 1977, S. 142). In diesem Fall geht die Anrufung von einer nationalstaatlichen Ideologie aus, welche die Fernsehzuschauer_innen zu staatsbürgerlichen Subjekten macht.
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wie Geschlecht, Nationalität, Klasse und Hautfarbe als kollektive Andere konstituiert werden, offenbart sich das Eigene der Bildproduzent_innen als Habitus der weißen Mittel- und Oberschicht. Durch die Dominanz des männlichen Sprechers ist die Position des Kommentierens und Analysierens außerdem männlich besetzt.
U MK ÄMPF TER R AUM IN C OPACABANA — V ERSCHR ÄNKUNGEN VON D ISKURSANALYSE UND E THNOGR AFIE Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die filmischen Raumkonstruktionen der Medienberichte mit Raumpolitiken verbunden sind, die darauf abzielen, Prostitution aus repräsentativen Stadtteilen zu verdrängen. Hierfür bediene ich mich vor allem den Aussagen der qualitativen Interviews, welche die medialen Repräsentationen hinterfragen. Da das zuletzt analysierte diskursive Ereignis während meiner Feldforschung in Rio de Janeiro stattfand, hatte ich die Gelegenheit, die bei der Polizeirazzia anwesenden Frauen nach ihren Erfahrungen zu fragen. Einige berichteten mir in den Interviews über das Ereignis. So zum Beispiel Elisa:44 Die Polizei ist gemeinsam mit der Presse gekommen. […] Sie begannen alle zu filmen, fast hätten sie mich auch gefilmt. Es ist gut, dass mein Gesicht nicht erschienen ist. Aber sie haben viele Frauen gefilmt, die nichts mit dem Vorfall zu tun hatten. […] So sind die Medien, sie wollen hohe Einschaltquoten im Fernsehen […]. Ich finde das nicht richtig, denn ich denke, das ist eine Missachtung von uns. Denn wir sind genauso Menschen, wir haben auch Familien, wir haben Kinder. Wenn ich nichts Falsches getan habe, warum sollen sie dann mein Gesicht im Fernsehen zeigen?
Die Erzählung meiner Interviewpartnerin zeigt exemplarisch auf, wie die mediale Polizeiaktion von den betroffenen Frauen erlebt wurde. Kommen diese in den Medienberichten nicht zu Wort, soll hier ihren Wahrnehmungen, die von mir in Feldprotokollen und Interviews erhoben wurden, Raum gegeben werden. Die Aussage, die Polizei sei gemeinsam mit der 44 | Dieser und alle folgenden Namen der Interviewten wurden geändert.
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Presse gekommen, entspricht der Analyse des Berichts, in der die Verschränkung von polizeilicher Praxis und medialem Diskurs dargestellt wurde. Die Angst der am Abend der Aufnahmen anwesenden Frauen bestand nicht nur darin, als Prostituierte sichtbar gemacht, sondern auch mit Straftaten wie dem Besitz illegaler Substanzen oder Diebstahl in Verbindung gebracht zu werden. Das Medienereignis wurde als Missachtung der Privatsphäre erlebt. Die dadurch vollzogene Veröffentlichung ist im prostitutiven Milieu, das auf ein hohes Maß an Diskretion angewiesen ist, von besonderer Brisanz. Mit der Aussage, nichts Falsches getan zu haben, rekurriert Elisa auf den legalen Status selbstständiger Prostitution. Warum sollte sie öffentlich mit Straftaten in Verbindung gebracht werden, die sie nicht begangen hat, lautet die Frage der Sexarbeiterin. Damit referiert sie kritisch auf das Vorgehen der Medien, welche nicht nur in der Rolle der watchdogs, das heißt der Wächter, sondern auch in der Rolle der Ankläger agieren. In der filmischen Vorführung werden Verdächtige noch vor einer polizeilichen Festnahme an den Pranger gestellt, indem – die Formulierung Elisas aufgreifend – ihr Gesicht gezeigt wird. Die Medien nehmen dadurch eine Rolle ein, die ihnen aufgrund ihrer fehlenden demokratischen Legitimierung rechtlich nicht zusteht. In Überwachen und Strafen macht Michel Foucault auf den Zusammenhang von Wissensordnungen, Diskursen und Machtpraktiken aufmerksam. Die moderne Disziplinarmacht entfaltet nach Foucault ihre Wirkung, »indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt«.45 Die Einzelnen müssten »im Scheinwerferlicht stehen damit der Zugriff der Macht gesichert bleibt«.46 Diese würden vermehrt aus der Menge herausgelöst und besonders dann zur Zielscheibe der Macht, wenn sie von der Norm abwichen und korrigiert werden müssten.47 Die Überwachten könnten nie sicher sein, ob und wann sie beobachtet würden und stünden somit unter fortwährender
45 | Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1994, S. 241. 46 | Ebd. 47 | Vgl. Philipp Eigenmann/Markus Rieger-Ladich: Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. In: Benjamin Jörissen/Jörg Zirfas (Hg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden 2010, S. 223-239, hier S. 229.
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Bedrohung.48 Denn »die Wirkung der Überwachung ist permanent, auch wenn ihre Durchführung sporadisch ist«.49 Überträgt man die foucaultsche Analyse moderner Überwachungs- und Disziplinierungstechniken auf die geschilderten Medienereignisse, ergeben sich aufschlussreiche Parallelen. Die permanente Unsicherheit meiner Gesprächs- und Interviewpartnerinnen, welche die Sichtbarmachung ihrer gesellschaftlich stigmatisierten Tätigkeit befürchten, wird durch die Medialisierung im Allgemeinen und durch Techniken wie die der versteckten Kamera im Besonderen maßgeblich vorangetrieben. In der Kontrolle des Rotlichtmilieus in Copacabana wird die Öffentlichkeit 50 nicht länger außen vor gelassen, sondern durch die mediale Durchlässigkeit in die Disziplinierung der devianten Subjekte – Sextouristen, Prostituierte oder Drogendealer – einbezogen. Diese Disziplinierung erfolgt jedoch nicht, wie Foucault suggeriert, in der sukzessiven Auflösung von Machtzentren, sondern – wie das Zusammenspiel von Polizei- und Medienarbeit zeigt – nur in ihrer Einbeziehung. Wenn im Beitrag von Globo der Chef der Polizeieinheit von Copacabana sowie ein Abgeordneter, der die Aufhebung der Konzession der Bar fordert, zu Wort kommen, wird die Interdependenz von politischen und medialen Interessen deutlich. Diese spielte auch 2010 in der Schließung der international als Zentrum des Sextourismus bekannten Großraumdiskothek Help eine prominente Rolle. Rosa erinnert sich daran wie folgt: Es ist schlecht, wenn es so anfängt. Sogleich wird sie [Veranda Bar] geschlossen werden. Denn bei Help war es genauso: Es beginnt die Aufmerksamkeit der Medien anzuziehen. Der Bürgermeister und der Gouverneur wollen – aufgrund dieser Geschichte der Olympischen Spiele und der Weltmeisterschaft – Copacabana reinigen. Deshalb wird das hier das nächste sein, das sie schließen werden.
Rosas Interpretation der Ereignisse zieht eine eindeutige Parallele zwischen medialer Aufmerksamkeit und politischen Interessen in Hinblick 48 | Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 241. 49 | Ebd., S. 258. 50 | Im Sinn von Publizität wird Öffentlichkeit hier »als allgemein zugänglicher Diskussions- und Handlungsraum verstanden, der sich von öffentlichen Plätzen bis hin zur Öffentlichkeit der Massenmedien erstreckt« (Jeffrey Wimmer: [Gegen-] Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft. Wiesbaden 2007, S. 33).
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auf die zukünftigen touristischen Sportereignisse in Brasilien. Diese Interessensgemeinschaft werde – ahnt sie, basierend auf ihrer Erfahrung der Schließung des Clubs Help – zu Raumpraktiken führen, die darauf abzielten, Lokale wie die Veranda Bar zu schließen, um Copacabana zu ›reinigen‹. Copacabana als einer der wichtigsten touristischen Stadtteile von Rio de Janeiro ist für die Repräsentation nach außen von großer Bedeutung – und dabei ist Prostitution kein Aushängeschild. Die Schließung von Lokalen und die damit einhergehende Verdrängung von Sexarbeiterinnen aus repräsentativen Stadtvierteln sind herkömmliche politische Praktiken im Umgang mit Prostitution. Die räumliche Kontrolle von Prostitution – analysierte bereits Sueann Caulfield in ihrer Studie zum späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – folgte zwar keiner einheitlichen Regulationspolitik, war aber schon damals mit dem Anliegen verbunden, nach außen eine moderne Nation zu repräsentieren, die auf der weißen, bürgerlichen Gesellschaftsnorm beruhte. Die fehlenden politischen Richtlinien zur Kontrolle von Prostitution brachte die Polizei immer wieder dazu, außerrechtliche Strategien einzuschlagen, um Prostitution in weniger sichtbare und begehrte Stadtteile zu verlagern.51 Auch heute wird in Brasilien keine offizielle Politik der Kontrolle verfolgt,52 sondern Prostitution solange geduldet, wie sie innerhalb der Grenzen relativer Unsichtbarkeit verbleibt. Im Milieu des Sextourismus ist selbstständige Sexarbeit die am meisten verbreitete und – sofern sie nicht in privaten Wohnungen stattfindet – eine im Vergleich zur Bordellprostitution legale, aber auch relativ sichtbare Form. Da die Lokale der Anbahnung öffentlich und frei zugänglich sind, formiert sich in vielen Fällen eine Art informelle Sekundärökonomie in deren direktem Umfeld. Der 51 | Sueann Caulfield: The Birth of Mangue. Race, Nation and the Politics of Prostitution in Rio de Janeiro, 1850-1942. In: Daniel Balderston/Donna Guy (Hg.): Sex and Sexuality in Latin America. An Interdisciplinary Reader. New York 1997, S. 86. 52 | Gerade die lose Gesetzgebung in Bezug auf Prostitution überlässt nach Marlene Rodrigues der Polizei einen relativ großen Spielraum in ihrer Auslegung und dem Vorgehen im Rotlichtmilieu – was unter anderem immer wieder zu gesetzlich nicht gestützten Festnahmen von Prostituierten führte (vgl. Marlene Rodrigues: O Sistema de Justiça Criminal e a Prostituição no Brasil Contemporâneo: administração de conflitos, discriminação e exclusão. In: Sociedade e Estado, 19, 1, 2004, S. 164-166).
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mediale Fokus war im Bericht von Globo auf ebendiese Umgebung der Veranda Bar und nicht wie vorgegeben auf das Lokal selbst gerichtet. Denn aufgrund der Legalität der selbstständigen Prostitution von Erwachsenen bedarf es Politiken, die nicht diese, sondern die sie begleitenden kriminellen Aktivitäten zum Anlass nehmen. Die mediale Berichterstattung bietet hierfür ein besonders geeignetes Instrument, um öffentliche Aufregung zu provozieren. Die Formulierung, die Politiker zielten darauf ab, Copacabana zu ›reinigen‹, die Rosa zur Beschreibung der Raumpolitiken in Copacabana benutzt, stellt eine Parallele zum Begriff der ›Befleckung‹ her, der – wie im Bericht zum Verbot der Postkarten deutlich wurde – im Diskurs über Sextourismus immer wieder aufgerufen wird. Wie erarbeitet wurde, steht diese Begrifflichkeit im Zusammenhang mit der Repräsentation von Nation, die geschlechtlich konnotiert ist. Die Figur der Prostituierten nimmt dabei seit jeher eine wichtige Funktion ein. Nach Phil Hubbard wird seit dem 19. Jahrhundert in den urbanen Zentren der Körper der Prostituierten – insbesondere der Straßenprostituierten – symbolisch mit Schmutz und Unordnung assoziiert.53 Die disziplinierende Einteilung in anständige und gefallene Frauen trägt ebenso wie das Unbehagen mit dem sexualisierten, weiblichen Körper im urbanen Raum zur Konstitution der Prostituierten als sozial und körperlich Andere bei. Denn wie Hubbard erklärt: The female prostitute thus remains an emblematic ›other‹ figure, symbolically important as a metaphor of urban and sexual disorder in the postmodern city, and, as such remains subject to an evolving range of measures designed to socially and spatially differentiate her from sexually respectable citizens. 54
Der Zusammenhang von Raum und Sexualität im Diskurs über Prostitution kommt nach Hubbard auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Prostituierten als out of place zum Ausdruck.55 Sexarbeit wird gemeinhin mit Orten wie dem Rotlichtmilieu oder der Straße verbunden. Das verweist auf die Verschränkung devianter Körper- und Räumlichkeit in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Prostitution. Über53 | Vgl. Phil Hubbard: Sex and the City. Geographies of Prostitution in the Urban West. Aldershot 1999, S. 81. 54 | Ebd., S. 99. 55 | Vgl. ebd., S. 80.
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schreitet diese die Grenzen der ihr zugeschriebenen Lokalität, muss sie wie Schmutz beseitigt werden. Die Formulierung out of place rekurriert außerdem auf das bürgerliche Geschlechterverhältnis, in dem Frauen als Ehefrauen der private Raum und damit einhergehend eine bestimmte, disziplinierte Form von Weiblichkeit und Sexualität zugeschrieben wird. Die Prostituierte fordert demnach hegemoniale Geschlechternormen sowie die männliche Vorherrschaft im öffentlichen Raum heraus. Daran schließt die Formulierung ›von der Straße holen‹ an, die zwar als Rettung repräsentiert wird, aber vielmehr das Unsichtbarmachen von Prostitution und devianter Sexualität zum Ziel hat.56 In den medialen Repräsentationen und polizeilichen Praktiken geht es aber nicht nur um die Repression devianter Sexualität und die Aufrechterhaltung von Geschlechternormen. Es teilt sich darin ebenfalls »der Wunsch mit, den öffentlichen Raum der Straße von den Inszenierungen jener gesellschaftlichen Gruppe freizukämpfen, die als bildungsfern und sozial niedrigstehend stigmatisiert werden«.57 Wie schon in der Analyse des Videomaterials deutlich wurde, verschränken sich hier Konstruktionen von Geschlecht mit Repräsentationen von Klasse und Hautfarbe. Die Raumpolitiken folgen zudem keiner einheitlichen Logik, im Kampf um prostitutive Räumlichkeit in Copacabana überlagern sich vielmehr unterschiedliche Interessen. Trotz dieser Heterogenität zeigt die Erfahrung der in der Prostitution Tätigen, dass es eine Interessensgemeinschaft der Akteur_innen in der Verdrängung von Prostitution aus repräsentativen Stadtteilen gibt, die mit der Planung der internationalen Sportereignisse verbunden ist. Dazu Glória: Sie wollen die Häuser der Prostitution schließen. Das Help haben sie schon geschlossen. Sie sagen, dass sie 2014 auch dort [Veranda Bar] schließen wollen. Sie wollen Schluss damit machen, um ein besseres Brasilien zu zeigen […]. Also wollen sie ein falsches Bild zeigen. Sehr viele Dinge erscheinen nicht in den Medien. Die Realität erscheint nicht. Sie wollen sie verstecken. […] Sie wollen alles schließen, sie wollen mit der Prostitution Schluss machen. So wird es schlimmer werden, denn wohin werden all diese Frauen gehen?
56 | Vgl. Martina Löw/Renate Ruhne: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt. Berlin 2011, S. 78f. 57 | Ebd., S. 85.
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Glória knüpft an die im ersten Teil analysierte Neuorientierung des Tourismuskonzepts an, durch die ein über Jahrzehnte gepflegtes Image Brasiliens korrigiert werden soll. Mit der Frage, wohin die Frauen gehen werden, macht sie deutlich, dass es letztendlich um die Verdrängung von in der Sexarbeit tätigen Frauen aus dem öffentlichen Raum geht. Sie verweist damit auf eine Leerstelle im gegenwärtigen brasilianischen Mediendiskurs: Prostituierte werden – wie anhand der Fernsehbeiträge exemplarisch gezeigt – als Opfer oder als Täterinnen, als Kinder oder Kriminelle, aber nicht als Arbeiterinnen repräsentiert.58 Dabei geht es mir nicht darum, diese Leerstelle mit einer neuen Subjektposition zu füllen oder ein ›widerständisches Subjekt‹ zu konstruieren, sondern die Auslassungen und Verzerrungen im Diskurs aufzuzeigen, die gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse reflektieren. Die Analyse der Interviews zeigt, dass sich die Frauen nicht mit den im Diskurs konstruierten Subjektpositionen identifizieren. Das entspricht einer wissenssoziologischen Lesart, in der »die diskursiv vorgestellten Subjektpositionen von den tatsächlichen Deutungs- und Handlungspraktiken der in komplexe Erfahrungen und Situationen eingebundenen Akteure des Alltags«59 unterschieden werden. Mit Hall kann argumentiert werden, dass ein wirkungsvolles Vernähen zwischen Subjekt und Subjektposition nur dann geschieht, wenn
58 | Diese Leerstelle wird auch in den politischen Auseinandersetzungen mit dem Thema Menschenhandel deutlich, die mit dem hier analysierten Diskurs über Sextourismus eng verknüpft sind. Paul Amar konstatiert diesbezüglich: »The moralization and sexualization of the campaign against human trafficking draw from both international and particularly Brazilian narratives of race, gender, and urban agency. Women become defined as an intersection of vulnerabilities and dishonours, naturalized by skin color or social position, rather than as bearers of rights and privileges.« (Paul Amar: Operation Princess in Rio de Janeiro: Policing ›Sex Trafficking‹, Strengthening Worker Citizenship, and the Urban Geopolitics of Security in Brazil. In: Security Dialogue, 40, 4-5, 2009, S. 513-541, hier S. 519) Auf die Verschränkung der Diskurse zu Sextourismus und Menschenhandel konnte hier nicht eingegangen werden, diese ist in meiner Dissertation aber von zentraler Bedeutung. 59 | Reiner Keller: Der menschliche Faktor. In: Ders./Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Wiesbaden 2012, S. 69-107, hier S. 92f.
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das Subjekt in die Position investiert60 – was hier augenscheinlich nicht der Fall ist. Diese Erkenntnis bedeutet jedoch nicht, dass der mediale Diskurs keine Wirkung auf die Subjekte erzielt. Im Gegenteil, verstärkt doch die diskursiv vermittelte und erzeugte Stigmatisierung des Berufsfelds die Angst der Frauen als Prostituierte identifiziert zu werden. Nicht zuletzt aufgrund von Repräsentationen der Sexarbeit, die diese mit Kinderprostitution, Drogenhandel und anderen kriminellen Aktivitäten verbinden, suchen sich die Frauen einer fixierten Subjektposition als Prostituierte zu entziehen. Daraus könnte geschlossen werden, dass zwar keine Identifikation, aber eine negative Abgrenzung stattfindet, die auf die diskursiven Subjektpositionen rekurriert. Das Zusammenspiel von medialem Diskurs und polizeilichen Praktiken in den Raumpolitiken wird von meinen Interviewpartnerinnen kritisch hinterfragt. Aus dieser eigensinnigen Deutungsmacht darf jedoch nicht vorschnell auf Handlungsmacht geschlossen werden. Denn die Verdrängung von Prostitution aus relativ sicheren und privilegierten Stadteilen im Zentrum in marginalisierte Regionen in der Peripherie Rio de Janeiros führt zur Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse selbstständiger Sexarbeiterinnen. Es ist außerdem zu vermuten, dass sich aufgrund der Raumpolitiken viele in die geschlossene Prostitution zurückziehen werden, die zwar aufgrund ihrer Diskretion den Polizeikontrollen weniger stark ausgesetzt ist, in der die Frauen aufgrund der illegalen abhängigen Arbeitsverhältnisse aber einer verstärkten Ausbeutung durch Dritte ausgesetzt sind. In jedem Fall wird Prostitution aus dem Feld des Sichtbaren in das des Unsichtbaren verdrängt, um über die Differenzkategorien von Geschlecht, Klasse und Hautfarbe ein Bild der Nation zu zeichnen, in dem Prostitution das ausgeschlossene Andere darstellt.
C ONCLUSIO Die Repräsentation Brasiliens als exotisch-erotische Nation wird im aktuellen Mediendiskurs als Triebfeder des Sextourismus dargestellt. Die politische Abkehr von einem lange Zeit verfolgten Tourismuskonzept kommt nicht zuletzt im Verbot von Postkarten mit Frauen in knappen Bikinis zum Ausdruck. Copacabana als bekanntestes Motiv dieser touristischen 60 | Vgl. Stuart Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation. Hamburg 2004, S. 173.
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Ansichten wird als Zentrum des internationalen Sextourismus gehandelt und rückt dadurch vermehrt in den Fokus medialer Berichterstattung. In diesem Beitrag habe ich die Verschränkung von Medien- und Polizeiarbeit in der Konstitution devianter Räumlichkeit untersucht, in deren Fokus die Veranda Bar stand, die zugleich der wichtigste Ort meiner Feldforschung war. Die medialen und räumlichen Praktiken wurden von den interviewten Prostituierten als eine öffentliche Zurschaustellung wahrgenommen, die durch die diskursive Assoziation von Prostitution mit Kriminalität mit einer (moralischen) Verurteilung einhergeht. Dass es dabei nicht nur um Sexarbeit und die Aufrechterhaltung von normativer Geschlechtlichkeit und Sexualität geht, zeigt die Darstellung anderer, als deviant markierter Akteure wie der Touristen oder der Drogendealer. Es wird ein medialer Raum gezeichnet, der über die Differenzkategorien von Geschlecht, Klasse, Hautfarbe und Nationalität zum sozialen Anderen gemacht wird. Diese Anders-Setzung bleibt nicht auf der diskursiven Ebene stehen. Die Strategie der medialen Sichtbarmachung der devianten Individuen – die mit Foucault als moderne Disziplinartechnik analysiert werden kann – zielt (paradoxerweise) auf ihre räumliche Unsichtbarkeit. Die Subjekte sind in den analysierten Medienbeiträgen aber nur sekundär das Ziel der Politik. Primär findet ein Kampf um den urbanen Raum statt. In diesem bedarf die mediale Berichterstattung der räumlichen und institutionellen Praktiken der Polizei und politischer Entscheidungsträger_innen, welche im Gegenzug auf die medialen Repräsentationen angewiesen sind. An diesem Beispiel wird die produktive Macht von Diskursen deutlich, die über die Ebene medialer Berichterstattung hinaus Einfluss auf konkrete Praktiken und Subjekte nehmen. Das Beispiel zeigt aber auch, dass mediale Repräsentationen immer mit gesellschaftlichen Interessen und der Handlungsmacht institutioneller Akteur_innen verbunden sind, die Diskurse erst in konkreten Raumpolitiken wirksam werden lassen.
Autor_innen
Jenny Bauer, M.A., Lehrbeauftragte im Fach Germanistik (Universität Kassel). Dissertationsprojekt: »Zur Interdependenz von Raumproduktion und Geschlechterdiskurs in der literarischen Moderne Deutschlands und Skandinaviens – Einflüsse, Brüche, Überschneidungen«. Von 2010-2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg »Dynamiken von Raum und Geschlecht« (Universität Kassel). Studium der Komparatistik, Skandinavistik und Gender Studies (Universitäten Göttingen/ Lund). Ausgewählte Publikationen: Toni Schwabe: Die Hochzeit der Esther Franzenius. Mit einem Nachwort hg. v. Jenny Bauer. Hamburg: Igel Verlag 2013. Gem. m. Claudia Gremler u. Niels Penke (Hg.): Heimat, Räume, Bilder. Komparatistische Perspektiven auf Herkunftsnarrative. Essen: Ch. A Bachmann Verlag (im Erscheinen). Mart Busche hat in Marburg und Berlin Politikwissenschaft studiert und koordiniert derzeit das Verbundprojekt »Safer Places – für einen achtsamen Umgang in Jugendverbänden, Jugendzentren und Jugendhäusern« (BMBF-gefördert, 2013-2016) an der Universität Kassel (Soziologie der Diversität) und promoviert dort zum Thema »Gewaltabstinenz im Kontext jugendlicher Lebensräume«. Mart Busche hat zuvor bei Dissens e.V. (Berlin) verschiedene EU-Projekte im Bereich »Intersektionalität und Gewalt« durchgeführt und war in der politischen Jugendbildung tätig. Aktuelle Veröffentlichung: Herausgabe Sozialmagazin 0304/2014 »Queerfeldein durch die Soziale Arbeit« (zusammen mit Elisabeth Tuider); Beltz Juventa, Weinheim.
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Veror ten — Verhandeln — Verkörpern
Sabrina Funkner, M.A., seit 2011 Doktorandin am DFG-Graduiertenkolleg 1599 »Dynamiken von Raum und Geschlecht: entdecken – erobern – erfinden – erzählen«, Promotionsprojekt: »Konstruktionen von Geschlechter-Räumen in spätmittelalterlichen Briefkorrespondenzen der englischen Gentry«, 2005-2010 Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Kassel. Janina Geist hat Ethnologie, Indologie und Politik an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert und promoviert seit Oktober 2010 an der Georg-August Universität am DFG Graduiertenkolleg 1599 »Dynamiken von Raum und Geschlecht« zu Aushandlungen über Geschlechtlichkeit durch queere, indische Akteure in online und offline Räumen. Ihre Schwerpunkte sind Soziale Bewegungen, Aktivismus, (nicht-heteronormative) Gender und Sexualität, Süd-Asien und Neue Medien/Cyberspace. Solveig Lena Hansen M.A. ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen, an dem sie bereits seit 2007 tätig ist. Sie promoviert interdisziplinär im Fach Bioethik zur Verhandlung des sogenannten ›reproduktiven Klonens‹ in Deutschland und England. Sie war von Oktober 2013 bis Februar 2014 Research Fellow am Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society (IAS-STS) in Graz (Österreich) sowie von Oktober 2010 bis Dezember 2013 Doktorandin im DFG-Graduiertenkolleg »Dynamiken von Raum und Geschlecht«. Solveig Lena Hansen studierte von 2005-2010 Komparatistik, Skandinavistik und Geschlechterforschung in Göttingen und Uppsala (Schweden). Ihre weiteren Forschungsschwerpunkte sind: Literarische Verhandlung der Organtransplantation, Bioethik und Recht im kulturellen Kontext, Fiktionstheorie sowie Gender und Medizin. Sonja Lehmann, zur Zeit Stipendiatin der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen, Arbeit an einer Dissertation über Lyrik von Dichterinnen der südasiatischen Diaspora in Großbritannien, von Oktober 2010 – September 2013 Kollegiatin im DFG Graduiertenkolleg ›Dynamiken von Raum und Geschlecht‹, Magisterabschluss 2010 an der GeorgAugust-Universität Göttingen, 2002-2010 Studium der Fächer Englische und Lateinische Philologie in Göttingen und Berkeley.
Autor_innen
Anne Mariss, seit April 2014 Postdoc am DFG-Graduiertenkolleg 1662 »Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800-1800)« an der Universität Tübingen/wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Prof. Renate Dürr (Universität Tübingen), Dissertation: »The Great Storehouse of Nature«. Wissensräume und Praktiken der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert. Von Oktober 2010 bis September 2013 Stipendiatin am DFG-Graduiertenkolleg 1599 »Dynamiken von Raum und Geschlecht« an der Universität Kassel, September 2010: Master-Abschluss, von 2008 bis 2010: Master-Studium der Geschichte Westeuropas an der Universität Kassel, Interdisziplinäres Studienprogramm Frauen- und Geschlechterforschung, von 2004-2008 Bachelor-Studium der Romanistik und der Geschichte an der Universität Osnabrück, aktuelle Veröffentlichung: »›very curious and romantick views‹. Natur und Naturwahrnehmung in der Antarktik auf der zweiten Cook-Expedition (1772-75)«, in: Lenz-Jahrbuch: Literatur – Kultur – Medien (1750-1800), hg. von Nikola Roßbach, Ariane Martin und Mathias Luserke, S. 113-140. Urania Julia Milevski, ist Stipendiatin der Universitätsgesellschaft Kassel e.V. und beendet derzeit ihre Dissertation mit dem Titel: »Stimme(n) und Räume der Gewalt. Erzähltheoretische Zugänge zu sexualisierter Gewalt in deutschen Romanen der Gegenwart (1980-2000)« unter der Betreuung von Prof. Dr. Nikola Roßbach (Kassel) und Prof. Dr. Stefan Neuhaus (Koblenz). Sie studierte Germanistik, Soziologie und Politikwissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt. 2009 erwarb sie den Titel der Magistra Artium mit einer Arbeit über die Stimmkonzepte der feministischen Narratologie. Es folgte ein Promotionsstipendium der Universität Vechta und 2010 die Aufnahme im DFG-Graduiertenkolleg 1599 »Dynamiken von Raum und Geschlecht« der Universitäten Kassel und Göttingen. 2013 erschien ihr Aufsatz »Die Herrin des Blicks. Strategien der Repräsentation von Raum und Geschlecht in Jelineks und Hanekes/ Die Klavierspielerin/» im von Veronika Schuchter und Gerhard Scholz herausgegebenen Sammelband »Ultima Ratio? Räume und Zeiten der Gewalt« bei Königshausen & Neumann in Würzburg.
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Veror ten — Verhandeln — Verkörpern
Marie-Theres Modes, M.A. Dozentin für Soziologie an der HephataAkademie für soziale Berufe in Schwalmstadt. Studium der Soziologie, Sprach- und Literaturwissenschaft und Kunsthistorik an der Georg-August Universität Göttingen. Derzeit laufendes Promotionsprojekt zu Wahrnehmungsweisen von Raum und Behinderung am Fachbereich Sozialwesen im Bereich Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur bei Frau Prof. Dr. Mechthild Bereswill, Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre: Soziologie der Behinderung, Disability Studies, raumsoziologische Theorien, Methoden qualitativer Sozialforschung. Johanna Neuhauser, assoziiertes Mitglied am Promotionskolleg »Global Social Policies and Governance« an der Universität Kassel, bis Oktober 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg »Dynamiken von Raum und Geschlecht« mit einem Forschungsprojekt zum Thema Sextourismus in Brasilien. Davor hat Johanna Neuhauser an der Universität Wien Internationale Entwicklung und Lateinamerikastudien studiert. 2013 ist u.a. im Nomos-Verlag erscheinen: »Prostitution statt Niedriglohn? Strategien sozialer Mobilität vor dem Hintergrund des geschlechtsspezifischen Arbeitsmarkts in Brasilien«. In: Hans-Jürgen Burchardt/Elisabeth Tuider (Hg.): »Frauen (und) Macht in Lateinamerika«, Studien zu Lateinamerika, Nomos-Verlag, Baden-Baden. Babette Reicherdt, M.A., Historiker_in; Lehrbeauftragte_r Freie Universität Berlin und Universität Kassel; Dissertationsprojekt: »Begehren nach Gemeinschaft. Praxeologische Perspektiven auf Raum und Geschlecht in Nonnenklöstern der Reformationszeit«; 2010-2013 wissenschaftliche Mitarbeiter_in im DFG-Graduiertenkolleg »Dynamiken von Raum und Geschlecht« der Universitäten Kassel und Göttingen; 2010 M.A. Geschichte und Neuere deutsche Literatur, Freie Universität Berlin und HumboldtUniversität zu Berlin. Nele Spiering hat an der Universität Kassel das Lehramt für Haupt- und Realschulen mit den Fächern Deutsch und Evangelische Religion studiert. Das Studium (2007-2011) hat sie mit der Ersten Staatsprüfung abgeschlossen. Seit Februar 2012 ist Nele Spiering Doktorandin am DFG-Graduiertenkolleg 1599 »Dynamiken von Raum und Geschlecht: entdecken – erobern – erfinden – erzählen« der Universitäten Kassel und Göttin-
Autor_innen
gen. Arbeitstitel des Dissertationsprojektes: »Migration und Geschlecht in alttestamentlichen Erzählungen. Eine Untersuchung im Spannungsfeld von biblischer Narratologie und empirischer Didaktik.« Forschungsschwerpunkte: Biblische Narratologie, Empirische Leseforschung, Intersektionalität, Kontextuelle Bibelauslegung, Religionspädagogik der Vielfalt. Julia Elena Thiel ist derzeit Stipendiatin der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) und promoviert in der Anglistischen Literatur-und Kulturwissenschaft zum Thema »The Crisis of What? Masculinities and the Economy in Contemporary Anglophone Fiction« an der Georg-August-Universität Göttingen. Von 2010 bis 2013 war sie Kollegiatin am DFG Graduiertenkolleg »Dynamiken von Raum und Geschlecht«. Sie studierte in Göttingen und Liverpool Biologie und Englisch für das Gymnasiale Lehramt und erlangte 2010 das Erste Staatsexamen. Viola Thimm, Postdoktorandin am Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg mit dem Projekt »Malaysia und die Arabische Halbinsel: geschlechtsspezifische Mobilität und religiös-basierte Modernität«. Vorher Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg 1599 »Dynamiken von Raum und Geschlecht« der Universität Göttingen. Im August 2013 Promotion an der Universität Göttingen Dissertationsschrift: »Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Bildungsmigration: Lebensentwürfe und Weiblichkeitsbilder malaysischer Bildungsmigrantinnen in Singapur«. Studium der Ethnologie, Geschlechterforschung und Romanischen Philologie (Spanisch) an der Universität Göttingen. Aktuelle Veröffentlichung, gemeinsam mit Mayurakshi Chaudhuri und Sarah J. Mahler: »Gendered Geographies of Power: Their Value for Analyzing Gender across Transnational Spaces«. In: Julia Gruhlich/Birgit Riegraf (eds.): Transnational Spaces and Gender. Münster: Westfälisches Dampfboot (forthcoming).
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